Thomas Mann im Anderen: Seine biographierenden Essay-Bilder 9783110734508, 9783110738841

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Thomas Mann im Anderen: Seine biographierenden Essay-Bilder
 9783110734508, 9783110738841

Table of contents :
Inhaltsübersicht
Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung
I Zu Lebzeiten des Nachrufs. Thomas Manns ‚kleine Formen‘
II Sich selbst ins Bild rücken und es beim Wort nehmen
III Das Ich im Bild vom Anderen. Goethe-Spiegelungen
IV Der Andere im Ich: Wagner – Schopenhauer – Hitler
V Biographie als Fiktion. Das Beispiel Serenus Zeitblom
VI Lebens-Werk-Maße oder: Der Fall Dostojewskis und Nietzsches
VII Randfiguren ins Zentrum rücken
VIII Späte Trias: Kleist – Tschechow – Schiller
IX Der König zwischen den Brüdern: Der Fall Friedrichs II von Preußen, betrachtet von Thomas und Heinrich Mann
X Thomas Mann als (tatsächlicher?) Leser von hauseigenen Biographien (Klaus Manns Tschaikowsky und Golo Manns Friedrich von Gentz)
Offener Schluss: Vergebliche Liebesmüh. Thomas Manns ungeschriebener Essay über Shakespeare
Verzeichnis der benutzen Quellen

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Rüdiger Görner Thomas Mann im Anderen

Rüdiger Görner

Thomas Mann im Anderen  Seine biographierenden Essay-Bilder

ISBN ISBN 978-3-11-073884-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073450-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073456-0 Library of Congress Control Number: 2023943560 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Los Angeles Daily News. Creative Commons Attribution 4.0 International license. Fotografie grafisch bearbeitet. Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsübersicht Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung  1 I

Zu Lebzeiten des Nachrufs. Thomas Manns ‚kleine Formen‘  9 Lob der Gegensätze – mit Goethe  9 Mit Bilse außer sich  10 Die Beispiele Jakob Wassermann und Bruno Frank  13 Bruderzwist im Hause Mann oder: Heinrich Mann als quasi biographischer Gegenstand  16 Die Sache mit Carl Viktor Mann  21

II

Sich selbst ins Bild rücken und es beim Wort nehmen  25 Filmischer Vorspann als Medienreflexion  25 Psycho-ästhetische Medialitäten  28 Was ein Medium ist  33 Psychophysik, Ideoplastik oder: Mediale Konstruktionen als poetologische Allegorese  42

III Das Ich im Bild vom Anderen. Goethe-Spiegelungen  46 Vorblick  46 Vor-Bildungen mit Goethe  47 Ein-Bilden in Goethe  53 Erotisches Zwischenspiel mit Goethes Ulrike  58 Nach-Bildungen durch und aus Goethe  59 IV Der Andere im Ich: Wagner – Schopenhauer – Hitler  64 Leben als Musikdrama  64 Denkwege  68 Eigenes im Anderen durchschauen – Sigmund Freud zum Beispiel  72 V

Biographie als Fiktion. Das Beispiel Serenus Zeitblom  78 Der Biograph Serenus Zeitblom  80 Prekäre Konstellationen: Klaus Mann über André Gide mit unerwartetem Rückkoppelungseffekt  87

VI Lebens-Werk-Maße oder: Der Fall Dostojewskis und Nietzsches  90 VII Randfiguren ins Zentrum rücken  100

VI  Inhaltsübersicht

VIII Späte Trias: Kleist – Tschechow – Schiller  109 Kleist, „aufs Geratewohl“  109 Zeilen, „mit tiefer Sympathie geschrieben“: Versuch über Tschechow  114 Eine letzte „schwere Stunde“: der „Versuch über Schiller“  119 IX Der König zwischen den Brüdern: Der Fall Friedrichs II von Preußen, betrachtet von Thomas und Heinrich Mann  126 Sondierungen  127 Zugänge zu einem ‚inkommensurablen‘ Stoff  129 Die Sache selbst  131 Auslassungen  133 Wesentlichkeiten oder: Wie sagt man was?  135 Heinrich Mann, der unwahrscheinliche (?) Friedrich-Biograph  140 X

Thomas Mann als (tatsächlicher?) Leser von hauseigenen Biographien (Klaus Manns Tschaikowsky und Golo Manns Friedrich von Gentz)  146 Der väterliche „Anblätterer“  147 Anderer Widerhall auf die Symphonie Pathétique  149 Golo über Gentz  151

Offener Schluss: Vergebliche Liebesmüh. Thomas Manns ungeschriebener Essay über Shakespeare  155 Verzeichnis der benutzen Quellen  164 I Quellentexte  164 II Sekundärliteratur  166

Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung Literaturagenturen, Kritiker und Verlage sind sich in ihrer Einschätzung einig: auch und gerade im digitalen Zeitalter verlangt eine unverändert identifikationsbedürftige Leserschaft nach Biographien, nach Lebensbeschreibungen wirklicher Personen, die als Orientierungsgrößen in der Welt des Postfaktischen gelten können.1 Doch gerade im Umgang mit den Fakten des zu beschreibenden Lebens, ihrer Recherche und Anordnung, den zahllosen nicht dokumentier- und verifizierbaren Leerstellen im Leben liegt die wohl größte Herausforderung für den Biographen. Gewöhnlich füllt man sie mit erzählten Wahrscheinlichkeitsvermutungen, gewonnen aus Ableitungen von (vermeintlich) gesicherten Informationen. Dabei kann man auf dem Standpunkt stehen, dass jede Biographie eine Fiktion ist und man daher lieber von einer ‚Biografiktion‘ sprechen sollte. Das aber bedeutet, dass man das Verfassen von Biographien im Grunde gleich Schriftstellern überlassen sollte, die etwas vom Handwerk des Erzählens verstehen. Folgerichtigerweise hat der renommierte Pariser Verlag Buchet/Chastel eine Buchreihe gegründet, „Les Auteurs de ma vie“, in der sich ‚Biographien‘ unter anderem von Stefan Zweig über Tolstoi, Paul Valéry über Descartes, Marie-Hélène Lafon über Flaubert und Julia Kristeva über Dostojewski finden. Thomas Mann ist mit seinem (schein-)biographischen Essay über Schopenhauer vertreten und sieht sich auf diese Weise zum Biographen erklärt. Das mag überraschen, verfehlt ist dies jedoch nicht, wenn man bedenkt, dass ein Gutteil seines bedeutenden essayistischen Werkes in gewisser, hier näher zu klärender Weise biographischer Natur ist; in seinem novellistischen Schaffen kommt ohnedies der Biografiktion eine maßgebliche Bedeutung zu. Biographisches Schreiben erfordert sympathetische Distanz zum Gegenstand. Es ist ein Subjekt als Objekt, das durch das Biographiert-Werden wiederum in seinem Subjektcharakter zur Darstellung kommt. Biographie zeigt, wie einer zu dem wurde, was er war, und damit das Subjekt in seinem Werden, das durch die Biographie in die Zeit des Biographen ragt und sich in ihr weiterschreibt. Das Biographieren kann problematisch, sogar tragische Züge annehmen, wenn der Abstand zum Biographierten schwindet und das Identifikatorische überhandnimmt. Man 1 Einen grundlegenden Forschungsüberblick bietet der Band von Günter Blamberger / Rüdiger Görner / Adrian Robanus (Hrsg.), Biography – A Play? Poetologische Experimente mit einer Gattung ohne Poetik. Paderborn/Leiden/Boston 2020. Wesentlich auch der Überblicksaufsatz von Hans Erich Bödeker, Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand. In: Ders. (Hrsg.), Biographie schreiben. Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft Bd. 18. Göttingen 2003, S. 9–64. https://doi.org/10.1515/9783110734508-001

2 

Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung

nehme den Fall Norman Sherrys, des Verfassers einer dreibändigen autorisierten Biographie von Graham Greene. Die Arbeit an dieser Lebensdarstellung kostete Sherry drei Jahrzehnte seines Lebens und das aufgrund von Forschungen, die obsessiven Charakter annahmen. Er ging und schrieb buchstäblich in Greenes Fußtapfen rund um die Welt, was ihn zwei Ehen kostete, eine in Panama ruinierte Darmflora, in Liberia sein Gehör, als ein Krimineller den Lauf einer Pistole ins Ohr des Greene-Forschers schob, und im Kongo hatte er ursprünglich eine LepraKolonie aufsuchen wollen, weil der weitaus robustere Greene das auch getan hatte. Dahinter verbarg sich offenbar Sherrys paradoxes Verlangen, durch seine biographische Arbeit selbst auf mimetische Art authentisch zu werden. Die Biographie von Biographen hat bekanntlich ihren eigenen Reiz, der ja im Falle selbst vielfach biographierter literarischer Biographen wie Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger oder Jakob Wassermann leicht ausgekostet werden kann. Verhält es sich damit ähnlich im Fall von Thomas Mann? Zu lernen ist im zeitlichen Umfeld der soeben genannten literarischen Biographen von Virginia Woolf, die als ‚Biographin‘ zweimal in Erscheinung trat – mit ihrer ‚Biographie‘ von Elizabeth Barrett Brownings Hund Flush und mit ihrer Biografiktion Orlando. Als Tochter des Privatgelehrten Leslie Stephen, des Herausgebers der enzyklopädisch angelegten National Biography, wuchs sie in einer Atmosphäre auf, in der Diskurse über das Biographische zur Tagesordnung gehörten. Spätestens in ihrem Essay The New Biography (1927) verabschiedete sie die Vorstellung einer chronologisch-faktischen Darstellungsweise zugunsten ihrer später oft zitierten Regenbogen-und-Granit-Analogie: And if we think of truth as something of granite-like solidity, and of personality as something of rainbow-like intangibility and reflect that the aim of biography is to weld these two into one seamless whole, we shall admit that the problem is a stiff one and that we need not wonder if biographers have for the most part failed to solve it.2

Daraus ergab sich für Woolf eine neuartige Gleichheit oder Gleichberechtigung zwischen Biographen und Biographierten, was Richard Holmes zufolge dazu führt, dass Biographien mit zunehmendem Alter des Biographen autobiographischer werden. Der bedeutende englische Biograph Michael Holroyd baute in seinen Überlegungen zur Biographik gleichfalls auf Woolf auf, wenn er befand:

2 In: Virginia Woolf, Collected Essays. Vol. IV. London 1967, S. 229.

Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung



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I dislike very much hearing history or biography being called nonfiction. To begin with it is so negative, so unattractive and also not completely true. Do we call poetry non-prose, or novels non-factual literature? We do not.3

Nun handelt es sich bei Holroyd um einen Biographen und Romanschriftsteller, der mit seinem Roman A Dog’s Life (2014) an Woolfs Hundenovelle Flush anknüpfte.4 Auf seine Art der Biographik hatte dieser fiktive Ansatz durchaus Einfluss, wie diese Stelle aus seiner Lebensbeschreibung des Literaten (und Biographen!) Lytton Strachey belegt. Es ist die Szene, in der sich Dora Carrington nach dem Tod ihres geliebten Lytton das Leben nimmt: First she removed her favourite rug so that it should not be spoilt by the blood, and laid down another inferior rug in its place … Finally she pulled the trigger. Nothing happened. She had forgotten to release the safety catch. Now she did so.5

So genau konnte es der Biograph Holroyd nicht wissen, wohl aber der Schriftsteller in ihm; der „Geist der [biographischen] Erzählung“, um es in leichter Abwandlung des berühmten Wortes aus Thomas Manns Roman Der Erwählte zu sagen, war offenbar zugegen. Und bei ihm, Thomas Mann, stellen sich diese Fragen und Sachverhalte in noch konturenreicheren Formen. Sie werden eingehend zu untersuchen sein. „Chamisso’s Biographie liegt poetisch beschlossen in dem schönen Gedicht, das einen gefühlvollen König zu Tränen rührte und das ‚Schloß Boncourt‘ überschrieben ist.“ (IX, 39) Dieser Satz Thomas Manns aus seinem Versuch über Adalbert von Chamisso von 1911, jenem Jahr also, in dem er an der finalen Episode im Leben seines künstlerischen ‚Leistungsethikers‘ Gustav von Aschenbach schrieb, kommt im Verhältnis Thomas Manns zum Biographischen leitmotivischer Wert zu. Denn mit dem Essay über Chamisso – es begleitete eine Neuausgabe von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte – verhält es sich wie mit zahlreichen seiner weiteren Versuche über Künstler: Indem er über ihr Werk handelte, ließ er darin ihr Leben sich kristallisieren. So folgt denn auf sein Wort über Chamissos Gedicht ein thematisch ausgerichteter Lebensabriss. Und das Hauptthema lautet: Ein Nichtdeutscher bringt es zu Höchstleistungen in deutscher Dichtung und Prosa. 3 Zit. nach: Ruth Scurr, Figures in the carpet. What is the purpose of biography? In: The Times Literary Supplement v. 14. September 2018, S. 11. 4 Vgl. Angus Nicholls, A Most European Dog: Reflections on Virginia Woolf’s Flush. In: Kaltërina Latifi (Hrsg.), Der gute Europäer. Grenzgänge zwischen Sprachen, Künsten und Kulturen. Festschrift für Rüdiger Görner. Heidelberg 2022, S. 97–112. 5 Zit. nach: Ebd.

4  Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung

Scheinbar beiläufig führte Thomas Mann mit zeitkritischer Absicht ein Seitenthema ein. Nachdem er konstatiert hatte, dass Chamisso „ganz im Herzen ein Deutscher“ geworden sei, erfolgt der Seitenhieb auf das Denken in seiner, Thomas Manns Zeit um 1910. Dass dieses sich zu dessen Lebzeiten noch weiter ins Verbrecherische steigern würde, war noch nicht wirklich vorstellbar: Wir Heutigen, die wir weniger an das ‚Herz‘ als vielmehr an Rasse und Blut glauben und diesen Glauben vielleicht bis zum Aberglauben übertreiben, mögen hier zum Zweifel neigen; und in der Tat wäre heute, unter dem Druck einer allgemeinen Devotion vor der bindenden Macht des Blutes, der Fall Chamisso auch subjektiv kaum möglich. (IX, 42)6

Das bedeutet, Thomas Mann wollte mit diesem ausführlichen Hinweis auf das Leben im Werk Chamissos, das von Wanderschaft und Heimatsuche geprägt war, ein Denkmal gegen den herrschenden Zeitgeist setzen. Überhaupt spielt das Biographische in den großen (und kleineren) Versuchen Thomas Manns eine dominante Rolle. Im erzählerischen Hauptwerk findet sich die ‚Biographie‘ nicht minder prominent – sei es in Gestalt der Biographie einer Familie (Buddenbrooks) oder den erzählten Lebenswegen des biblischen Joseph, des Erwählten, des Tonsetzers Adrian Leverkühn, gewissermaßen ummantelt von den Fragment gebliebenen biographischen Zugängen zur Hochstaplerfigur des Felix Krull. Auch wenn wir es hier nicht mit Biographien in einem klassischen Sinn zu tun haben, so hätte es doch seinen Reiz, uns diesen Werken auch mit den Einsichten der avancierten Biographieforschung zu nähern. Thomas Mann, selbst früh schon Gegenstand biographischer Arbeiten,7 zierte sich etwas gespielt, wenn es um das Begründen von Selbstdarstellung ging („Vielleicht liebe ich mein Leben nicht genug, um zum Autobiographen zu taugen“, XI, 302), geizte aber keineswegs mit Auskünften zur eigenen Person; in den Gesammelten Werken (XI) umfassen sie immerhin über siebenhundert Seiten. Seinem Bruder Heinrich gegenüber äußerte Thomas Mann im November 1913 die Absicht, „noch einmal ein großes und getreues Lebensbuch zu schreiben“, eine Art „Fortsetzung der Buddenbrooks“ freilich und keine im eigentlichen Sinne Autobiographie, aber doch als eine „Geschichte von uns fünf Geschwistern“. Ausgerechnet

6 Sofern nicht anders angegeben werden alle Zitate mit Band- und Seitenzahl nach folgender Ausgabe nachgewiesen: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt am Main 1990. 7 Vgl. u. a. Martin Havenstein, Thomas Mann. Der Dichter und Schriftsteller. Berlin 1927; Carl Helbling, Die Gestalt des Dichters in der neueren Dichtung. Eine Studie über Thomas Mann. Berlin 1922; Ferdinand Lion, Thomas Mann. Leben und Werk. Zürich 1947; Viktor Mann, Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann. Konstanz 1949; Hans Mayer, Thomas Mann. Werk und Entwicklung. Berlin 1950; Charles Neider (Hrsg.), The Stature of Thomas Mann. New York 1947.

Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung



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Letzteres sollte dann auf eine recht eigenwillige, aber keineswegs nutzlose Art der jüngste Bruder, Carl Viktor, unter dem Titel Wir waren fünf verfassen; aber das Erscheinen dieses Buches in einem kleinen Konstanzer Verlag (1949) erlebte der in der Familie eher vernachlässigte Bruder nicht mehr. Darüber später noch etwas mehr. Zu den Charakteristika von Thomas Manns biographischen Essays über Andere gehörten jedoch offene oder verkappte Selbstbezüge, die im Verhältnis zu Goethe und Nietzsche früh herausgearbeitet wurden, in unserem Zusammenhang jedoch neue Aufmerksamkeit verdienen. So haben Ernst Cassirer und Bernhard Blume das Spezifische dieses Goethe-Bildes etwa am Beispiel von Lotte in Weimar untersucht, wobei zeitgenössische Gegenstimmen nicht auf sich warten ließen.8 (Vergleichbares zu Thomas Manns Nähe zu Wagner ließ seinerzeit noch auf sich warten.) Das Leben – Thomas Mann wollte es in keinem Fall ‚beschreiben‘, sondern immer ‚erzählen‘, wobei er dazu neigte, den Bezug zum Biographischen abzuwerten, aber nur, um ihm dann in der Folge erzählend breiten Raum zu gewähren. Was für Chamisso galt, traf auch für Theodor Storm (1930) zu: „Die Einzelheiten von Storms Biographie sind in jedem Konversationslexikon zu finden. Ich begnüge mich damit, das Bild seines Wesens, das ich hier angelegt, durch einige weitere Züge zu vervollständigen.“ (IX, 258) Zeichnen und erzählen, das war ihm eins, das Konturieren und Schraffieren eines dichterischen Charakters, einer fiktiven oder wirklichen Künstlerpersönlichkeit. Es ging ihm darum, bereit zu sein für das Ausbreiten eines Erzählbereichs, in dem eine Gestalt Wortkonturen gewinnt – quasi als Ersatz visueller Porträts. Dabei verfügt aber das geschriebene Porträt über den Vorzug, mehr in Bewegung zu sein, facettenreicher ‚zeichnen‘ zu können als es die Momentaufnahme des gemalten oder photographierten Porträts vermag. Die Gesichtszüge des Porträtierten werden in ihrer erzählten Fassung gewissermaßen zu Diskurslinien, an denen entlang ein zwangsläufig jedoch eher weniger als vollständiger biographischer Entwurf erzählbar wird. Was hier nachfolgend erreicht werden soll? Ein anderes Verstehen von Thomas Manns erzählten Eigenwegen ins Leben der Anderen und Einblicke in die seinen auf die Art, wie er die ‚Wege‘ (sich und uns) eröffnete. Lässt sich etwas in diesem Werk identifizieren, das einer Poetik der Biografiktion nahekäme? Und wie

8 Ernst Cassirer, Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über ‚Lotte in Weimar‘. In: Germanic Review 20 (1945), S. 166–94; Bernhard Blume, Thomas Mann und Goethe. Berlin 1949; Richard Haag, Thomas Manns ‚Lotte in Weimar‘ – eine Bereicherung unseres Goethe-Bildes? Kiel 1949. Zu Nietzsche vgl. an frühen Arbeiten: Gerhard Jacob, Thomas Mann und Nietzsche. Zum Problem der Décadence. Phil. Diss. Leipzig 1926.

6  Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung

verhält sie sich zum Phänomen der Selbstdarstellung Thomas Manns, die ja über seine schriftlichen autobiographischen Zeugnisse weit hinausgeht und bildliche Medien extensiv nutzte?9 Schrieb Thomas Mann, wenn er über andere schrieb, auch oder womöglich in erster Linie über sich selbst? Es ist ein Phänomen, das dieser Schriftsteller nicht vom 19. Jahrhundert übernommen hat. Ein biographischer Essay Fontanes über, sagen wir, Heinrich von Kleist ist weder überliefert noch denkbar; nichts Vergleichbares von Gottfried Keller über Ulrich Bräker; nichts Verwandtes von Annette von Droste-Hülshoff über – Sophie von La Roche. Im 20. Jahrhundert gehört dieses Verfahren, Rechenschaft über sich und sein eigenes Schreiben aus der Perspektive eines Anderen abzulegen, zu dem, was man von einem Schriftsteller von Rang erwartete. Aber warum? Weil er es von sich selbst forderte, um sich zu vergewissern, wo er sich in der Überfülle der Traditionen und Vorgänger verorten konnte; um der Leserschaft zu signalisieren, wie er sich dem Anderen gegenüber verhält und wie viel von diesem Anderen in ihm ist. Denn eine Erkenntnis hatte sich durchgesetzt: Man muss viel in Anderen suchen, um sich selbst zu finden, muss Vieles bei Anderen finden, um sich selbst (neu) zu erfinden. Thomas Mann führte dies auf ungewöhnlich intensive Art vor. Sie ‚exemplarisch‘ zu nennen verbietet sich; denn wer hätte diesem Beispiel folgen können? Vergleichbar allenfalls, wenn wir an Autoren wie Stefan Zweig und Ricarda Huch denken. Diese biographierende Tendenz hatte sich unter Schriftstellern dann auch wieder verloren, natürlich aber nicht der Versuch, das Leben einer erfundenen Figur zu entwerfen – worüber schriebe man denn sonst, wenn nicht über einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Zeit? Gewiss, Peter Weiss erfand das biographische Dokumentarstück, Peter Härtling näherte sich erzählend Hölderlin und Schubert an, Günter Grass schrieb über Grimmelshausen und Siegfried Lenz über Theodor Storm; aber das war weit entfernt von jener Schar illustrer Vorgänger, die Thomas Mann um sich versammelte und / oder als Künstler erfand. Man sagt seither, der Künstlerroman sei tot, und dann kam Ulrike Draesner mit ihrem biographischen Roman über das Exil des Bild- und Sprachkünstlers Kurt Schwitters, der mit experimentellen Erzählmitteln das späte Leiden und Schaffen dieses Dada-Meisters plastisch werden ließ. Was Thomas Mann anbetrifft, so wird hier zu fragen sein, wie sich die biographierende Essayistik zu seiner Biografiktion verhält, wie sie sich gegenseitig beein-

9 Vgl. dazu ausführlich: Rüdiger Görner / Kaltërina Latifi, Thomas Mann. Ein Schriftsteller setzt sich in Szene. Darmstadt 2021; dazu auch: Katrin Bedenig, „Es kommt darauf an, den Leuten sein Profil einzuprägen …“. Thomas Mann als Dichterdarsteller. In: Robert Leucht / Magnus Wieland (Hrsg.), Dichterdarsteller. Fallstudien zur biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert. Göttingen 2016, S. 63–90.

Erzählte Eigenwege ins Leben der Anderen: Worte zur Einführung



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flussten – sofern nachweisbar. Dabei spielt das ungebrochene Interesse, das man Thomas Mann wie der „Familie Mann“ als einem literarischen Unternehmen mit unbeschränkter Haftung fürs Eigene weiterhin entgegenbringt, keine geringe Rolle.10 Denn es ist ein dezidiert biographisches Interesse, das wir an die Mitglieder dieser Familie herantragen – bietet doch jedes einzelne Stoff für (mindestens) eine romanhafte Biographie, eine Familie, die gewissermaßen die Buddenbrooks ihres Patriarchen lebend fortgeschrieben hat. Dass Thomas Mann für das im engeren Sinne Biographische konsequent und ausschließlich den Essay als Form gewählt hatte, bedeutet auch, dass er jede Biographie allenfalls nur als einen ‚Versuch‘ über ein gelebtes Leben für vorstellbar hielt. Essays bestehen aus in Bewegung versetzten Gedanken, zeigen deren Eigenbewegung, setzen sich aus Reflexionen zusammen. Ins Biographische übertragen, verweisen sie auf das Mosaikhafte, aus denen Lebensbeschreibungen nun einmal bestehen. Aber im Essay erlaubt sich ihr Verfasser ein jeweiliges Nachdenken über diese Mosaiksteine; man könnte auch von Intonationen einzelner Phrasen der oft gebrochenen Lebensmelodien sprechen und von ihren mehr oder weniger lang nachhallenden Echos. Denn ‚das Leben‘ besteht nun einmal aus Intermezzos, Bagatellen, Improvisationen. Im Essay sind diese gelebten Klangelemente leichter hörbar zu machen; es lässt sich auf sie sprachlich anspielen, ohne sie im Einzelnen ausführen zu müssen, wie es der erzählte Lebensroman verlangt. Ganz offenbar kam dieses Verfahren Thomas Mann entgegen, wenn er sich mit geschichtlich verbürgten Leben beschäftigte, sie in sprachliche Denkbilder fasste, um sie ansatzweise erzählerisch wieder zu verlebendigen, anschaulich zu machen. Denn das Fassen eines Lebens in einigen ausgewählten Bildern dient ja nur dazu, es fasslich zu machen, sein Erfassen in der Lektüre zu ermöglichen. In einer fast beiläufigen Bemerkung nannte Max Frisch zu Beginn seiner Tagebuchaufzeichnungen für das Jahr 1948 Thomas Manns Essayistik „kostümiert“.11 Er sagt uns aber nicht womit und als was. ‚Kostümiert‘ – damit er, Thomas Mann, sich selbst bis zur Kenntlichkeit durch das Schreiben über Andere entstellen konnte? Lassen wir diese Vermutung zumindest im Raum stehen. Wie ein Leben Literatur generiert, wie das Literarische Lebensbilder entwirft, die ihrerseits zu Spiegeln für die Urheber werden können, das steht in dieser Untersuchung in Rede. Sie baut auf meine beiden Studien zu Thomas Mann auf, vorgelegt unter den Titeln Thomas Mann. Der Zauber des Letzten (2005) und Thomas Manns erzählte Welt. Studien zu einem Verfahren (2018), sowie auf der gemeinsam 10 Vgl. etwa Tilmann Lahme / Holger Pils / Kerstin Klein (Hrsg.), Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt. Frankfurt am Main 2016. 11 Max Frisch, Die Tagebücher 1946–1949 und 1966–1971. In einem Band. Hamburg/München/ Frankfurt am Main 1978, S. 214.

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mit Kaltërina Latifi erarbeiteten Darstellung von Thomas Manns Selbstinszenierung (Thomas Mann. Ein Schriftsteller setzt sich in Szene, 2021). Zudem erbrachten die Vorbereitungen zur Third Thomas Mann Lecture an der ETH in Zürich (2019), die ich zum Thema „Thomas Mann und die visuelle Medialität“ gehalten habe, sowie die Fellows Lecture am Internationalen Kolleg Morphomata der Universität Köln (2020) über „Goethe-Spiegelungen bei Thomas Mann“ die Möglichkeit, Thesen zu dem zu erproben, was ich als das „Ich im Bild vom Anderen“ bezeichnet und als Thomas Manns Sich-selbst-ins-Bild-Rücken aufgezeigt habe. Damit sind auch zwei leitmotivartige Gedanken genannt, die für dieses Buch konstitutiv geworden sind und unter jeweils anderen Vorzeichen, sprich: Gegenständen biographischen Erzählens – ob als Fiktion oder im Essay – ihre weitere Ausprägung finden. Thomas Manns Wahl seiner biografiktionalen Gegenstände – oder umgekehrt: jene Gegenstände, die ihn für ihre Biografiktionalisierung gewählt hatten – trug mit zu ihrer Kanonisierung bei und gleichzeitig zu seiner Selbstkanonisierung. Auch das ist hier zu reflektieren. Dieses „Ich im Bild vom Anderen“ zeigt Thomas Mann denn auch als einen verkappten Autobiographen; denn bei allem, was sich über Thomas Manns Goethe-Selbstbezug sagen lässt – einer autobiographischen Entsprechung zu Dichtung und Wahrheit hat er sich verwehrt. So umfangreich, so stattlich der Band mit seinen gesammelten Selbstaussagen auch ist12 – der Verlag beließ ihn listigerweise ohne Namen des Herausgebers, um so den Anschein zu erwecken, Thomas Mann selbst habe ihn so zusammengestellt –, an das Verfassen einer Autobiographie hat Thomas Mann nach allem, was sich sagen lässt, nie ernsthaft gedacht. Seine biographisierenden Essays gelten demnach meist auserwählten Stellvertretern seiner selbst. Für sie alle gilt Michelangelos Vers, mit dem Thomas Mann seinen späten Versuch über die Erotik dieses Künstlers beschließt: „Nel vostro fiato son le mie parole. (In Eurem Atem bildet sich mein Wort.“ (IX, 793)

12 Thomas Mann, Über mich selbst. Autobiographische Schriften. Frankfurt am Main 1994.

I Zu Lebzeiten des Nachrufs. Thomas Manns ‚kleine Formen‘ Künstlerisches Schaffen, sofern es einen Unterschied zum Üblichen machen und ins Außergewöhnliche ausgreifen will, muss sich selbst auf Unterschiede verstehen, muss mit dem Differenten arbeiten (können). Durch die Erfahrung oder Konstruktion von Gegensätzlichkeiten lässt sich am ehesten lernen, mit dem Differenten umzugehen; denn der Gegensatz ist der elementare Grund für Differenz. Mit dem Werk Thomas Manns verbinden wir gewöhnlich keine ‚kleinen Formen‘, nicht zu verwechseln übrigens mit Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris an Franz Kafka entwickeltem und erprobtem Plädoyer „für eine kleine Literatur“, die von den scheinbar kleinen Gesten wie dem Heben und Senken des Kopfes und einer „deterritorialisierten“ (Minderheiten-)Sprache ausgeht.13 Das episch ausgreifende Erzählen passt nun einmal eher ins Bild vom ‚Großschriftsteller‘, der sich mit Kleinigkeiten nicht abgibt. Aber das täuscht. Thomas Mann war für Vorworte, Geburtstagsadressen, Nachrufe, Miszellen jeder Art zu haben; und vor allem in den 1910er und 1920er Jahren ließ er kaum eine der damals so beliebten ‚Rundfragen‘ aus. Man kann darin Gegengewichte zu seinen Großerzählungen sehen, aber auch Erprobungen von (auto-) biographischen Kleinformaten, oft übersehene Marginalien, ästhetische Figurationen des Kleinen anhand zumeist großer Themen. Zuweilen boten sie Anlass zu grundsätzlichen ästhetisch-politischen Überlegungen und (Selbst-)Positionierungen, dann wieder nur zu nicht selten launisch wirkenden Reflexionen zum Zeitgeschehen, buchrezensierenden Stellungnahmen, allemal Versuche, den „Forderungen des Tags“ im Sinne Goethes zu genügen, dem nichts zu gering schien, um es in größeren Zusammenhängen zu sehen und zu würdigen. Daran hatte sich auch Thomas Mann von Anfang an gehalten. Gesammelt finden sich dergleichen Texte meist unter dem etwas verschämt klingenden Titel „Nachträge“, wobei sie das Gesamtwerk geradezu durchsetzen, wenn nicht durchwirken.

Lob der Gegensätze – mit Goethe Goethe ist genannt, und was im dritten Kapitel ausführlicher dargestellt werden soll, lässt sich bereits hier durch einen Miszellen-Verweis auf ihn aufzeigen: dieses durch Goethe über Sich-selbst-Sprechen. Gemeint ist Thomas Manns „Ansprache 13 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burkhart Kroeber. Frankfurt am Main 1976, S. 8 ff. sowie S. 24–39, bes. S. 27. https://doi.org/10.1515/9783110734508-002

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I Zu Lebzeiten des Nachrufs. Thomas Manns ‚kleine Formen‘

bei der Einweihung des erweiterten Goethe-Museums in Frankfurt am Main“ im Goethe-Jahr 1932, verbunden mit der Betrachtung „Contrastes de Goethe“, die im gleichen Zusammenhang steht. Vor allem die Ausführungen zu den „Gegensätzen bei Goethe“ illustrieren die einführende Bemerkung: Das Exzeptionelle Goethes, das Thomas Mann mittelbar auch auf sich selbst bezieht, erklärt sich für den Festredner zu Goethes hundertstem Todestag erst aus der Wertung des Gegensätzlichen in seiner ‚Natur‘. „Goethe hat selbst gesagt, daß er gefährliche Möglichkeiten in sich berge, die weit über das hinausgingen, was wir von ihm wissen. Er wurde von dynamischen Kräften geplagt, die ihn dazu brachten, sich selbst mit allem, was ihn umgab, zu vernichten.“ Gerade deshalb, so folgert Thomas Mann, habe er „danach gestrebt, das Edle, Geordnete und Harmonische zu erreichen“ (XIII, 319) – und eben das auf eine Weise, die aus dieser Erfahrung des Gegensatzes eine Unterschiedlichkeit zu den anderen auf besondere Weise werden ließ. Diesbezüglich würde man heute in unserer allzu funktional-bemüht gewordenen Begrifflichkeit von Goethes ‚Alleinstellungsmerkmal‘ sprechen, das Thomas Mann benannt hatte. Übrigens sprach er von „dynamischen Kräften“ und betont nicht vom „Dämonischen“ in Goethe. Wir werden noch Gelegenheit haben, Thomas Manns Unwilligkeit diesem Wort gegenüber zu bedenken. Er konstatiert die „Dualität des deutschen und des europäischen Elementes“ in Goethe, das er gleichfalls zu synthetisieren versuchte wie auch „Größe und Urbanität, die feurigste Naturkraft und die höchste Zivilisation“. (XIII, 320) Und noch einen „Gegensatz“ benannte er, jenen „zwischen der Intimität von Goethe’s Gesamtwesen und der weltgewinnenden Expansivität seines Genies, seiner Wirkung ist ungeheuer und einmalig.“ (X, 330)

Mit Bilse außer sich Immer diese Suche nach Schlüsseln – zu im Grunde offenen Türen, damit wir sie für uns nochmals öffnen können; zum Werk eines Künstlers, damit wir uns in seiner Entschlüsselung üben. Ein seltsames Wort übrigens: entschlüsseln – meint es doch eigentlich: einem Etwas die Schlüssel nehmen, aber wohl: nachdem man dieses Etwas geöffnet hat, um es nicht mehr neu zu verschließen. Geht man daran, ein Werk zu entschlüsseln, dann unter der Vorgabe, dass es eine Chiffre sei und damit im besten Fall dekodierbar. Mit dem Schlüssel sieht sich eine ganze literarische Teilgattung bezeichnet, der roman à clef oder Schlüsselroman – das Englische kennt dafür keine eigene Bezeichnung –, eine Verhältnisbestimmung zwischen gelebter ‚Wirklichkeit‘ und Fiktion, ein biografistisches Who is Who? als Deutungsersatz. Erschlossen sollen auf diese Weise die lebensweltlichen Identitäten von erzählten Figuren werden. Schon bald nach Erscheinen von Thomas Manns Familienverfallsroman Buddenbrooks legten emsige und vor allem Lübeck-kundige

Mit Bilse außer sich



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Leser Namenslisten an, um die erfundenen Personen im Roman des abtrünnigen Bürgersohnes mit dem Einwohnerverzeichnis der Hansestadt Lübeck zu vergleichen. Und Thomas Mann selbst legte Rechenschaft ab über sein Verfahren in seinem programmatischen Essay und frühem Kernstück seiner Erzählpoetik Bilse und ich (1906 – vier Jahre später bereits in 4. Auflage!). Im Vorfeld dieses Essays ließ er seine Leser unmissverständlich wissen: „Ich habe, als ich ‚Buddenbrooks‘ schrieb, mit vollem Bewußtsein auf die Wirklichkeiten geblickt, nach denen ich, aus Eigenstem hinzufügend, meine Arbeit gestaltete, und wenn ich wegen Beleidigung verklagt worden wäre, so hätte ich eine Ausflucht wie die von der Unbewußtheit als unwürdig verschmäht.“14 Mit Bezug auf den Fall Bilse, gemeint war Fritz Oswald Bilse, der unter dem Pseudonym Fritz von der Kyrburg den „Schlüsselroman“ Aus einer kleinen Garnison (1903) veröffentlicht hatte, geriet Thomas Mann 1906 vermeintlich beinahe – außer sich, aber nur zum Schein und wie zum ironisch-ernsten Spiel unter sein Niveau. Denn er hob es sogleich wieder auf, erhob es zu einem souveränen Akt von Kritik, ohnedies unterstrichen durch seinen Verweis auf den „50. Todestage Heinrich Heine’s“. (X, 11) Thomas Mann sah seine Buddenbrooks seitens der Staatsanwaltschaft zum „Bilse-Roman“ degradiert, als seinem Roman, von dem sich Lübecker Bürger brüskiert, ‚enthüllt‘ fühlten, der Prozess gemacht werden sollte wie drei Jahre zuvor Bilse vor einem Militärgericht in Metz. Die Umstände sind hinreichend erforscht,15 aber es lohnt nach wie vor, sich der poetologischen Bedeutung dieser Rechtfertigungsschrift Thomas Manns zu versichern, immerhin der einzige Text, den er ein „Manifest“ und – mit deutlich lutherischem Anklang – ein „Sendschreiben“ genannt hat. Denn darin finden sich wesentliche Aussagen zum (biographischen) Kunst-und-Leben-Problem, die für ihn bekanntlich leitmotivisch blieben. Bilse und ich ist ein Plädoyer für das Auffinden von Stoffen und ihre Literarisierung, wobei bereits dieses Auffinden als Teil des literarischen Prozesses gelten

14 Zu den Hintergründen vgl. u. a. Heinrich Detering, Lübeck und die letzten Dinge. Eine Skandalgeschichte von und mit Thomas Mann. In: Thomas Mann. Ein Klassiker der Moderne. Fünf Vorträge zur Würdigung des Dichters aus Anlaß seines 125. Geburtstages. Dößel 2001, S. 27–43. Zitat, S. 39. 15 Reinhard Reissmüller, „Aus einer kleinen Garnison“. Der Roman des Leutnants Bilse aus dem Jahre 1903. Aktuelle Wirkung und späte Folgen einer frühen Wilhelminismus-Kritik. In: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Neue Folge Band X, 1982, S. 272–294, S. 273 f. Dort auch Ausführliches zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte des Buches. Siehe außerdem: Hartwig Stein, Der Bilse-Skandal von 1903. Zu Bild und Zerrbild des preußischen Leutnants im späten Kaiserreich. In: Karl Christian Führer / Karen Hagemann / Birthe Kundrus (Hrsg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert. Für Klaus Saul zum 65. Geburtstag. Münster 2004, S. 259–278.

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darf. Dass Thomas Mann hierbei neben Turgenjew vor allem Shakespeare als Kronzeugen aufruft, soll am Ende dieser Studie eigens thematisiert werden. Hier sei mehr die Rede von dem, was Thomas Mann die „Beseelung“ nennt, in seiner Definition die „Durchdringung und Erfüllung des Stoffes mit dem, was des Dichters ist“ (X, 15), die verwandelnde Aneignung also. In einem neuen definitorischen Anlauf nennt Thomas Mann dann die „Beseelung“ die „subjektive Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit“. (X, 16) Und damit ist der eigentliche Schlüsselbegriff genannt: der Umgang des Künstlers mit ‚Wirklichkeit‘. Er verweist darauf, dass seine biographische Lebenswirklichkeit, als er seinen Lübeck-Roman schrieb, in Rom war, in der „Via Torre Argentina trenta quattro“; dabei mochte er auf den Umstand zumindest mittelbar angespielt haben, dass auch Richard Wagner die größten Teile dieser sehr deutschen Oper, Die Meistersinger von Nürnberg, in Italien komponiert hatte. In Rom hatte „meine Vaterstadt nicht viel Realität für mich, man kann es mir glauben, ich war von ihrer Existenz nicht sehr überzeugt.“ (X, 15) Er erschrieb sich ihre Wirklichkeit, schrieb sie ein in seine römische Lebensrealität. (Die räumliche Nähe des Bruders Heinrich, einer unmittelbaren ‚Lübecker‘ Gegenwart, bleibt bezeichnenderweise unerwähnt.) Wogegen sich Thomas Mann dann wendet, ist das Vereindeutigen von Identität durch Identifikation seitens der Leserschaft, sie will genau wissen: „Das ist Der, ist Die.“ Demgegenüber die Position des Künstlers: Er „beseelt und vertieft die Maske mit anderem, Eigenem, benutzt sie zur Darstellung eines Problems, das ihr vielleicht ganz fremd ist, und Situationen, Handlungen ergeben sich, die dem Urbild wahrscheinlich völlig fernliegen.“ (X, 17) Diese Aussage bezeichnet genau jenen Schnitt- oder Kreuzungspunkt, wo die eigene Biographie auf jene des literarischen Charakters trifft. Zudem wendet sich Thomas Mann gegen das Vorurteil gegenüber Dichtern, dass sie ein feindseliges Verhältnis zur Wirklichkeit unterhielten. „Beobachtende Erkenntnis und kritische Prägnanz des Ausdrucks“ seien es, die dieses Verhältnis in Wahrheit kennzeichnen. (X, 18) Hierher gehört dann auch die glückliche Formulierung von Nietzsche als einem „Erkenntnis-Lyriker“ (X, 18), die Thomas Mann durch die Paarung „tief erkennen und schön gestalten“ präzisiert. (X, 19) Doch damit nicht genug. Mit dieser Paarung lässt er es nicht bewenden, weiß er doch, dass der treffende Ausdruck „verletzen“ kann. (Hölderlin sprach vom „tödtlichfaktischen“ des Wortes.) Und das rührt vom „Schmerz des Erkennens und Gestaltens“ her. Zweifelhaft, ob Thomas Mann damals das Wort des Soldatenkönigs, Friedrich Wilhelm I, gekannt hat, das dieser unter seine Bilder setzte; denn es hätte exakt jene Bedeutung getroffen, die Thomas Mann diesem „Schmerz des Erkennens“ verliehen hat: „in tormentis pinxit“, gemalt in Schmerzen. Was folgt, ist das Einbekenntnis, dass künstlerisches Schaffen ohne „innere Unabhängigkeit, Ungebundenheit und Einsamkeit“ nicht möglich sei. Überraschend, dass Thomas Mann in diesem Zusammenhang das Wort eines namenlos

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genannten „Dichters und Denkers“ zitiert: „Der Künstler, der nicht sein ganzes Selbst preisgibt, ist ein unnützer Knecht.“ Es stammt von Friedrich Schlegel und findet sich in den Fragmentarischen Sammlungen und Ideen von 1797/98, Aphorismus 113. Doch nun die „vertiefende“, auf sein Selbst bezogene, von Schopenhauer beeinflusste Interpretation Thomas Manns, die in ihrer radikalen Subjektivität überrascht: „Das ist unsterblich wahr. Wie aber kann ich mein ganzes Selbst preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist? Meine Vorstellung, mein Erlebnis, mein Traum, mein Schmerz?“ Darauf der Tonwechsel tatsächlich in die Rhetorik des „Sendschreibens“: „Nicht von euch ist die Rede, gar niemals, seid des nun getröstet, sondern von mir, von mir …“ (X, 22, Hervorh. i. Org.) Diese finale Aufwallung illustriert, dass Thomas Mann sich im Sinne Friedrich Schlegels tatsächlich „ganz preisgeben“ wollte – zumindest für die Dauer dieses pamphlethaften Essays; denn ansonsten – spätestens nach seiner Heirat mit Katja Pringsheim – fand Selbstpreisgabe nur unter Vorbehalten und in Form künstlerisch motivierter Drahtseilakte statt. In der Bilse-Schrift jedenfalls sah das Ich sich herausgefordert, durch die gleichgeordnete Zuordnung zu einem Bilse spürbar beleidigt, da diesem „Vorstellung“, „Erlebnis“ und „Traum“ als ästhetisierbare Qualitäten, so impliziert Thomas Mann, fremd seien. Die Verhältnisproblematik von Kunst und Leben, die sich Thomas Mann früh stellte, bedingte auch seine Einschätzung dessen, was ‚Biographie‘ bedeuten könne, und weshalb er zögerlich mit diesem Genre umging. In der Biographie kam die Ambition des Biographen bewusst und programmatisch ungeschützter, wenn auch illusionär zum Tragen, das wirklichkeitsunmittelbare Leben des Biographierten porträthaft abzubilden – unter weitgehendem Verzicht auf die Kreuzungspunkte „Vorstellung“, „Traum“ und „Erlebnis“.

Die Beispiele Jakob Wassermann und Bruno Frank Greifen wir nun zwei Beispiele auf, die zu Thomas Manns ‚kleinen Texten‘ gehören und die das ‚Problem Biographie‘ explizit und implizit thematisieren. Es handelt sich um befreundete Autoren, denen er Würdigungen und Nachrufe widmete, wobei der Erfolgsautor Jakob Wassermann deswegen einen für uns besonders interessanten Sonderfall darstellt, weil sich Thomas Mann aus Anlass einer von Wassermanns Witwe, Martha Karlweis, verfassten Biographie über den verstorbenen Freund äußert. Thomas Manns „Geleitwort“ von 1935 geht von der These aus, Wassermanns Leben – er starb am 1. Januar 1934 – sei „selbst ein Wassermannscher Roman […]“ gewesen, wobei er – für ein ‚Geleitwort‘ zweideutig genug – hinzufüg-

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te: „[…] mit allen pathetischen ‚Verstrickungen‘ eines solchen, an denen man Geschmack finden mochte oder nicht – er selbst mußte wohl Geschmack daran finden, da es sein Leben war, bis er freilich, vierzehn Tage vor seinem Tode, im Zürcher ‚Baur au Lac‘ zu mir sagte: ‚Ich mag nicht mehr.‘“ (XIII, 835) Mit der These, Wassermann habe sein Leben romanhaft gelebt, behauptete Thomas Mann, der Virtuose der Selbstcamouflage, das für ihn Untypische: die Identität von Kunst und Leben. Und das wiederum bedeutete, dass für ihn die Biographie der Witwe auch an den Stellen als Werkkommentar galt, an denen sie nicht vom Werk ihres Mannes handelte. Und wieder tastet sich Thomas Mann bis zu dem vor, was man – mit Stefan Zweig – dämonische Triebkräfte in dieser Biographie nennen könnte, aber erneut, ohne das Wort zu gebrauchen: „Es war, als ob das dunkle Grundprinzip seiner Existenz, seines Charakters oder Schicksals […] dem außerordentlichen Erzählertalent, die harmonische Auswirkung nicht gestattete. […] Not, Sorge und Bedrängnis herrschten am Ende wieder, wo, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, Wohlstand und Behagen hätten herrschen müssen […].“ (XIII, 836) Diesen „Lebensroman“, der den Weg dieses Schriftstellers „als Deutscher und Jude“ beschreibt, wie Wassermann seine im Gegensatz zu seinen Romanen und Biographien knapp gefasste Autobiographie nannte (1921), bezeichnete seine Witwe als „märtyrerhaft“, und Thomas Mann ergänzt mit einer identifikatorischen Geste: „Man muß nicht Jude sein, um diese Erfahrung zu machen, und nur solche machen sie nicht, die gar keine Schriftsteller sind, sondern nur schreiben.“ (XIII, 836) Was Biographie zu leisten hat, benennt Thomas Mann durch das, was er an der Lebensbeschreibung von Karlweis für idealtypisch hält: „Unser Buch verfolgt nicht sowohl diese äußere Lebenslinie [von Wassermann, R. G.] als vor allem die innere, deren Lauf nicht weniger bewegt ist: die Bahn eines Künstlergeistes von tiefem Ernst und hohen Aspirationen, der früh gewohnt war, sich, wenn auch mit leidender Demut, am Größten zu messen. […] ich habe immer den fassungslosen Schmerz mitempfunden, den man ihm zufügte, indem man ihm seinen Ernst, seine Wahrheit nicht glaubte und seine große Kunstgeschicklichkeit (als ob ein Künstler nicht geschickt sein dürfte) im Lichte der Scharlatanerie und der Fälschung sah.“ Womit Thomas Mann auf die nazistischen Verleumdungskampagnen gegen Wassermann anspielte, die zu seinem Ausschluss aus der Preußischen Akademie der Künste führte. Dieser „innere Weg“ geleitete ihn, dieses in Thomas Manns Worten „träumerische und barocke, ungeheuere [sic] assimilationsfähige und schnell mit großer literarischer Sicherheit und Würde auftretende Erzählertalent“, „aus einem chaotischen Seelendunkel“ zur Form und „Gestalt“, ein „Erreichen des Artistischen aus Veredelungsdrang“. (XIII, 837) Dabei interessierte Thomas Mann an dieser Biographie vor allem das eine Hauptthema Wassermanns: das Jüdischsein in nicht-jüdischer Umgebung, das Problem der Assimilation.

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Thomas Manns Äußerungen zu Bruno Frank, die eine biographische Annäherung zumindest skizzieren, komplementieren – vom Ansatz her – jene über Wassermann. In diesem Fall jedoch setzt sich diese ‚Annäherung‘ aus drei Textstücken zusammen: dem Vorwort zu dessen Cervantes-Roman (1944), der „Trauerrede“ auf Bruno Frank (1945) und der „Ansprache bei der öffentlichen Gedenkfeier für Bruno Frank“ (1945). Hier bedarf es keiner neuerlichen Aufarbeitung dieser intensiven Freundschaft zweier ungleicher Schriftsteller und Nachbarn in München-Bogenhausen und Pacific Palisades.16 Thomas Mann nannte das „Freundnachbarlichkeit“. (XIII, 867) Und die These Thomas Manns, dass es nicht auf eine lückenlose Biographie ankomme, um Frank zu würdigen, sondern dass es genügen könne, „Fragmente der Lebensspur dieses liebenswerten Mannes“ aufleuchten zu lassen – „im Lichte der Freundschaft, der Sympathie“ (XIII, 867) –, ist durch die staunenswerte Bruno Frank-Biographie von Sascha Kirchner eindrucksvoll widerlegt worden.17 Bei Thomas Mann könnte man eher von einem Liebäugeln mit Biographie sprechen, was bei seinen Traueransprachen für den verstorbenen Freund auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass er, gebeten, einen Text von Frank zu seinem Gedächtnis zu lesen, dessen Geschichte Die Monduhr mit der Begründung auswählte, auf ihr liege ein „besonderer biographischer Akzent […]: sie stammt von 1933 und ist das Erste, was Bruno Frank im Exil geschrieben hat.“ (XIII, 866) Er hätte auch den Essay „Lüge als Staatsprinzip“ lesen können, den Frank für Thomas Manns geplante Broschürenreihe gegen den Nazismus geschrieben hatte und die (bislang leider) unveröffentlicht geblieben ist.18 „Die Monduhr“ handelt vom Weg eines Deutschen in die marokkanische Fremde, wobei die zeitliche Hauptorientierung der Stand des Mondes ist. Dieser Weg ins Andere mochte Thomas Mann beim Vorlesen an seinen Tod in Venedig erinnert haben. Diese Gedenkfeier fand übrigens im „Living Room“ im Hause Mann statt, wobei sich Thomas Mann zuvor offenbar eingehend mit „Bruno Franks Schriften für die Vorlesung“ beschäftigt hatte. (Tb v. 8. VIII. 1945). Für Thomas Manns Verhältnis zum Biographischen aufschlussreich ist sein Vorwort – er schrieb eher Vor- als Nachworte, was etwas über seine gewünschte

16 Sascha Kirchner, „Wie froh ich bin, Ihr Zeitgenosse zu sein.“ Thomas Mann und Bruno Frank – eine Lebensfreundschaft. In: Miriam Albracht (Hrsg.), Düsseldorfer Beiträge zur Thomas MannForschung, Band 1. Düsseldorf 2011, S. 55–79. 17 Sascha Kirchner, Der Bürger als Künstler. Bruno Frank (1887–1945) – Leben und Werk. Düsseldorf 2009. 18 https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%BCge_als_Staatsprinzip (aufgerufen am 3. Dezember 2022). Vgl. auch den selten genug vorzüglichen, informativen Wikipedia-Eintrag zu Bruno Frank: https://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Frank#Frank_1939.1

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Selbstpositionierung im Verhältnis zu dem jeweiligen Werk aussagt – zu Bruno Franks Cervantes, der erstmals in Amsterdam bei Querido 1934 erschienen war. Er zieht eine Parallele zu seiner eigenen Auseinandersetzung mit Cervantes Hauptbuch, dem Don Quijote, im nämlichen Jahr: „Die psychologischen Wurzeln von Franks Roman liegen eben dort, wo diejenigen meiner Beschäftigung mit dem spanischen Weltbuch lagen.“ (XIII, 445) Nur liegt eben hier auch der Unterschied in ihrer jeweiligen Zugangsweise. Befasste sich Thomas Mann mit diesem „spanischen Weltbuch“, „gestaltet er [Bruno Frank] das Leben, aus dem es schließlich, als späte, unerwartete, gesegnet-unwillkürliche Frucht erwuchs, den Menschen, der dies grausam umgetriebene, versuchende, bangende, enttäuschungsvolle Leben führt“. (XIII, 445) Das Leben – zuweilen hat es den Anschein, als sei Thomas Mann davon ausgegangen, dass Lebenswege durch eine Anhäufung von Adjektiven charakterisierbar seien. Bruno Frank habe die Lebensjahre von Cervantes „der Länge und Quere nach“ durchlaufen. „Immer wieder“, so zitiert er aus dem Roman des Freundes, „kam er dieselben Straßen, der Ritter schien sich selbst entgegenzureiten wie ein Gespenst.“ (XIII, 445) Franks Cervantes, ein Illusionist, dem Philipp der Zweite als „Gegen-Illusionär“ mit seiner „tückischen Vornehmheit“ gegenübersteht, hält Thomas Mann für das „vielleicht Beste des Buches“. Diese Figur mit „ihrem leisen Mördertum, ihrer hoffnungslos großartigen Bigotterie abstoßend und faszinierend lebendig gemacht“. (XIII, 446) Thomas Mann imponierte an diesem biographischen Roman, dass Bruno Frank seinen Cervantes als einen Don Quijote des Lebens aufgefasst und dargestellt hatte.

Bruderzwist im Hause Mann oder: Heinrich Mann als quasi biographischer Gegenstand Leben, das aus der Kunst spricht: „‚Ich bin geworden, wie ich bin‘, sagte er endlich, und seine Stimme klang bewegt, ‚weil ich nicht werden wollte wie du. Wenn ich dich innerlich gemieden habe, so geschah es, weil ich mich vor dir hüten muß, weil dein Sein und Wesen eine Gefahr für mich ist … ich spreche die Wahrheit.‘“ (I, 580) Also sprach Thomas Buddenbrook zu seinem „liederlichen“ Bruder Christian, während ihre Mutter nebenan im Sterben lag. Es ist die letzte große, seitens Thomas Buddenbrooks an Beleidigungen reiche Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Antipoden, ausgelöst durch Christians Forderung, ausbezahlt zu werden, damit er seine moralisch zweifelhafte Geliebte heiraten und deren Kinder adoptieren kann. Thomas B. nennt das: „uns mit einer Kurtisane zu verschwägern“. (I, 581)

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Thomas Buddenbrooks Selbsterkenntnis schließt die Ahnung ein, dass er etwas von des Bruders verwerflichem „Sein und Wesen“ auch in sich haben könnte. Verhielten sich die Dinge nicht spiegelbildlich auch in der überaus gespannten Beziehung zwischen Thomas und Heinrich Mann, in jener zwischen deren Vater, Thomas Johann Heinrich, und seinem Bruder Friedrich ohnedies? Kaum eine Bruderbeziehung in der Literatur ist ausführlicher behandelt worden als diese, in den dramatischen Etappen ihrer Entwicklung eingelassen in die Erzählung von Thomas Manns Biographie vielleicht am bündigsten von Hermann Kurzke, der trefflich Thomas Manns Leben als ein gelebtes „Kunstwerk“ verstanden hat;19 grundlegend durch Hans Wysling in seiner großen Einführung zu seiner Edition des Briefwechsels der beiden Brüder.20 Wiederum kann hier nur ein punktueller Aspekt besprochen werden: der biographische Charakter von Thomas Manns Äußerungen über seinen um vier Jahre älteren Bruder. Vom Literarischen her gesehen, ließe sich die These vertreten, dass Thomas Mann – anders als Heinrich – geradezu unaufhörlich Bruder-Texte geschrieben habe, für die sein Verhältnis zu Heinrich und dessen jeweiliger Entwicklungsstand die entsprechende Vorlage geliefert hatte. Was jedoch die unmittelbaren Aussagen der Brüder zueinander angeht, gefasst in Texten aus unmittelbaren Anlässen rezensierender oder geburtstäglicher Art, so sind sie rein zahlenmäßig nahezu gleich verteilt.21 Für unsere Zwecke mag ein Blick auf die im engeren Sinne biographisch orientierten offiziellen Aussagen Thomas Manns über seinen Bruder Heinrich genügen, entstanden zu einer Zeit (ab 1931), als der jüngere den älteren Bruder in seiner literarischen Weltgeltung bereits überflügelt hatte. Dass der Gesamtzusammenhang dieses Verhältnisses angemessen am ehesten in einer Doppelbiographie gewürdigt werden kann, hat Helmut Koopmann eindrucksvoll unter Beweis gestellt.22 Thomas Mann scheint ähnlicher Meinung gewesen sein, verfasste er doch selbst eine solche in fiktiver Form, nämlich als Roman der Brüder Prinz Albrecht (Heinrich) und Prinz Klaus Heinrich (Thomas) im scheinaristokratischen Ambiente eines von bürgerlich-ausländischen Millionen abhängigen Duodezfürstentums, genannt Königliche Hoheit. Diese Verfallsgeschichte aristokratischen Bewusstseins bietet in ihrem Kern das Psychogramm einer Bruderbeziehung, erzählerisch mitten in ihr Leben gegriffen. Beginnen wir nun, den Rahmen enger gefasst, mit Thomas Manns Ansprache zum siebzigsten Geburtstag Heinrich Manns im Jahre 1941. Sie fällt dadurch auf, dass Thomas Mann ausführlich nicht über Heinrich Mann sprach. Der Bruder, sei-

19 Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 1999. 20 Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel 1900–1949. Hrsg. v. Hans Wysling. Frankfurt am Main 1995, S. 7–54. 21 Vgl. die Dokumentation in Wyslings Edition des Briefwechsels, ebd., S. 357–418. 22 Helmut Koopmann, Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder. München 2005.

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ne Biographie, sein Werk, sie dienen ihm selbst in dieser Feierstunde als Anlass für weit über den zu Ehrenden hinausgehende Überlegungen von der Art: „Wo die Heimat zur Fremde wird, da wird die Fremde zur Heimat“ oder: „Was wir dem Unfug des totalen Staates entgegenstellen, ist der totale Mensch“. (XIII, 852 f.) Etwas verkappte Selbstkritik durfte einfließen, bevor er dann aber zu Nietzsche und nicht zu seinem Bruder übergeht: „Das Problem der Humanität als Einheit, das Politische, mit umfasst von der Frage des Menschen: das war es, wovon der bürgerliche Geist in Deutschland nichts wusste“ – ihn, Thomas Mann, bis 1918 eingeschlossen. Erst in den letzten Abschnitten seiner Ansprache konnte sich Thomas Mann zu diesem Bekenntnis durchringen: „Du, lieber Heinrich, hast diese neue Situation des Geistes früher geschaut und erfaßt, als wohl wir alle; du hast das Wort ‚Demokratie‘ gesprochen, als wir alle noch wenig damit anzufangen wußten, und […]“ – das vorige Argument nach zweieinhalb Druckseiten über Nietzsche wieder aufnehmend – „[…] die Totalität des Menschlichen, die das Politische einschließt, in Werken verkündet, die vornehmste Kunst und Prophetie sind in einem“ (XIII, 856). Und er nennt Professor Unrat und die Kleine Stadt als Werke einer solchen Prophetie, daraus die unüberhörbar ironische Folgerung ziehend: „Wenn Genie Vorwegnahme ist, Vorgesicht, die leidenschaftliche Gestaltung kommender Dinge, dann trägt dein Werk den Stempel des Genialen, und über seine Schönheitswagnisse hinaus ist es ein moralisches Phänomen.“ (XIII, 856) Danach ist nur noch im kurzen Schlusspassus von Heinrich Mann die Rede mit der Pointe, dass sein Professor Unrat „das Ende eines Tyrannen“ beschrieben und damit den ‚Unrat Hitler‘ vorweggenommen habe. Am Leben – auch dem des Bruders – interessiert Thomas Mann das Exemplarische in Gestalt von rhetorisch einsetzbaren Pointen. Überhaupt lässt sich die Struktur dieses Textes als etwas rhetorisch ausgesprochen geschickt Angelegtes kennzeichnen: Den größten Teil des Textes spricht er über den anwesenden Bruder als sei er abwesend, um dann alles Gesagte, ja programmatisch Ausgeführte zuletzt auf ihn zu beziehen. Nicht dass es außergewöhnlich wäre, von sich selbst zu sprechen, wenn man von anderen handelt. Auch im Kapitel „Mein Bruder“ seines Erinnerungswerks Ein Zeitalter wird besichtigt (1945), Heinrich Manns Gegenstück zu Stefan Zweigs Die Welt von Gestern, spricht er mindestens so viel über sich selbst wie über den Bruder Thomas. Eine seiner Thesen: „Zu leben lehren ist die Absicht der Literatur, der Theologie und Medizin“ hätte auch Thomas Mann gelten gelassen, wie auch die Bemerkung des Bruders, dass er bei der Arbeit an den Buddenbrooks noch

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„mit sich selbst unbekannt“ gewesen sei.23 Und dieses Schreibend-sich-selbst-leben-Lehren trifft gerade auf die biographischen Ansätze zu, von denen Thomas Mann seine essayistischen Würdigungen und thematischen Exkurse durchwirken lässt. Auch deswegen ist seine „Ansprache an den Bruder“, gehalten anlässlich einer Feier zu dessen sechzigstem Geburtstag vor der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin, wesentlich, weil sie von einer spezifischen thematischen Akzentuierung ausgeht, nämlich dem „Beruf des deutschen Schriftstellers in unserer Zeit“ (1931), und gleichzeitig zugunsten des Versuches, das Brüderliche zu bestimmen, von dieser Thematik – Bedeutung des Schriftstellerseins heute – absieht. Umgang mit dem Ererbten und Unererbten, Einwirkung und Umgestaltung des Bildes, das sich die Welt von einem nationalen Charakter gemacht hat durch die Leistung des Schriftstellers, die – von Heinrich Mann, wie sein Bruder eingesteht, früher als Notwendigkeit begriffene – „organisch-untrennbare Verbindung von Kunst und Kritik“, diese gewichtigen Themen verblassen dann letztlich doch vor einem Bild, das der gemeinsamen Bruder-Biographie aus ihrer römischen Zeit entstammt und das Thomas Mann symbolisch genug erinnert: Heinrich habe „während vieler Wochen täglich am Tisch“ mit der Zeichenfeder „an einer endlosen Bilderfolge gestrichelt, das wir ‚das Lebenswerk‘ nannten und deren eigentlicher Titel ‚Die soziale Ordnung‘ lautete.“24 Was von dieser Ansprache folglich in Erinnerung bleibt, ist dieses bemerkenswerte biographisch-gestalterische Phänomen: Wirklich stellten diese Blätter, die wir zum langen Fries und dicker Rolle zusammenklebten, die menschliche Gesellschaft in allen ihren Typen und Gruppen dar, vom Kaiser und Papst bis zum Lumpenproletarier und Bettler – es war nichts ausgelassen aus diesem trionfo sozialer Stufung, wir hatten Zeit und amüsierten uns wie wir konnten. Aber zweierlei deutete sich spielerisch und vorläufig an in diesem übermütig-geduldigen Jugendzeitvertreib: Im Format der Sinn für das große Unternehmen, das Monument, das Standardwerk, die Riesenkomposition, das große Geduldsopfer – dieser Sinn, der unserem Jahrhundert, dem neunzehnten, dem Jahrhundert des Nibelungenringes und der Rougon-Macquart angehört, und der sich in deinen Romantrilogien bewährt.25

Gemeinsam also hatten sich die Brüder, nach Auskunft Thomas Mann, ihr eigentliches literarisches Schaffen buchstäblich vorgezeichnet, hatten ihre künftigen Perspektiven dimensioniert, vermutlich aber, wenn man die Zeichnungen beider aus der Frühzeit vergegenwärtigt, in karikierender, satirisierender Form. Dieses brüderlich gezeichnete Sozialpanorama, ein gefertigtes Rollenwerk in jedem Sinne – Thomas Mann stellte es nahezu bedenkenlos in die Traditionslinie des Wagner’-

23 In: Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel, S. 408 u. 404. 24 In: Ebd., S. 385. 25 Ebd., S. 386.

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schen Rings und der sozialen Romanzyklen eines Zola, wieder seine und des Bruders Traditionspräferenzen zusammenbringend. Und Thomas Manns Interpretation dieses für zwei junge Männer aus Lübeck im damaligen Rom doch etwas ungewöhnlichen Zeitvertreibs, offenbar Begleitwerk zu den Buddenbrooks, schraubt sich noch ein paar Drehungen höher, dabei Heinrichs Interessen genau im Blick und die seinen wie im Spiegel betrachtend: Und zweitens, im Thema, der eingedeutscht-romanische Gesellschaftsgeist, der dein Wesen bestimmt, die sozialkritisch-politische Leidenschaft und Empfindlichkeit, die dir qualvoll den Blick schärfte für deutsche Übelstände, welche einem noch rein kulturell gesinnten, musikalisch-metaphysischen Deutschland nicht wie dir auf den Nägeln brannten, dir aber das Werk voll patriotischer Bitternis und Hellsicht, den Roman vom deutschen Untertan eingab.26

Im Grund unerheblich, ob Thomas Mann damit den damaligen Sachverhalt wirklich traf – Heinrich wird später die Inspiration für den Untertan auf eine Szene verlegen, die er Unter den Linden beobachtete, als er in einem Café saß und der Kaiser vorbeiritt und alle Gäste ihre Nasen an den Scheiben plattdrückten, wobei gleichzeitig ein Proletarier des Cafés verwiesen wurde, weil er nicht schicklich genug gekleidet war für dieses stuckaturüberhangene vornehme Interieur –27, wesentlich ist, dass er in diesen Rollenzeichnungen die eigenen künftigen Rollen der Schriftsteller-Brüder Mann verteilt sah. Und mit dem „rein kulturell gesinnten, musikalisch-metaphysischen Deutschland“ meinte er unzweifelhaft sich selbst. Dem Anlass von 1931 die Ehre, aber dass Thomas Mann sich hier mit dem Ausmalen dieser römischen Episode eine spektakuläre Überinterpretation einer biographischen Facette leistete, dessen muss er sich selbst bewusst gewesen sein. Aber er nahm diese Überzeichnung in Kauf, damit er demonstrativ veranschaulichen konnte, was beiden Brüderlichkeit bedeutete, auch wenn dies später zu einer jeweiligen Rollenprosa ganz eigener Art führen sollte. Mit Erwägungen und vier Definitionen dessen, was „Brüder sein“ heißt, beginnt diese Ansprache; dabei ist die vierte und letzte Definition jene, die am vorläufigen Ende dieser „Papierrolle“ zum Tragen kam und ihr bis zur Entfremdung, Verfeindung hin gespanntes Verhältnis auf eine neue, versöhnlichere Basis stellte, auf der sie bereits zwei Jahre später ihre Emigration, ihr Exil bestehen konnten: Brüder sein „heißt: in Stunden besonders pointierter und unter dem kindlichen Gesichtspunkt unglaubwürdiger Verwirklichung sich aus dem Einzeldasein wieder zueinanderfinden, sich lächelnd

26 Ebd., S. 386. 27 Zit. in: ebd., S. 409 (in: Ein Zeitalter wird besichtigt).

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anblicken und, wenn nicht mit dem Munde, so doch mit den Augen zueinander sagen: ‚Wer hätte es gedacht.‘“.28

Die Sache mit Carl Viktor Mann Im „Jahrhundertroman“ Die Manns von Heinrich Breloer und Horst Königstein ebenso wie in den meisten Biographien über die Angehörigen dieser Jahrhundertfamilie führt der jüngste der drei Brüder, Carl Viktor Mann (1890–1949), wenn überhaupt, dann nur ein Schattendasein. Das entspricht der Art, wie ‚man‘ in dieser Familie mit ihm Umgang pflegte. Ihr Aushängeschild war er gewiss nicht, eher ein Wendehals wie er im Buche steht, hier aber doch von Interesse, weil ausgerechnet Viktor Mann, auch Vikko genannt, jenes Vorhaben auf seine Weise ausführte, das Thomas Mann in besagtem Brief an Heinrich vom November 1913 erwähnte, „die Geschichte von uns fünf Geschwistern“ zu schreiben. Wir waren fünf belegt, was (auto-)biographische Legendenbildung bedeutet. Golo Mann ist zuzustimmen, wenn er behauptet, dass darin die Beschreibung der „armen, törichten Mama“, Julia Mann, „ihr Scheitern am Altern, ihr unstetes Herumziehen und sich auf dem Land Verbergen“ zu den „geglücktesten Seiten des Buches“ zählt, „das auch allerlei Verschönerungen und frohe Erfindungen enthält.“29 Auch über Onkel Viktors Wendehalserei findet sich bei Golo Mann eine treffliche Beschreibung: „Im Begriff, zu den neuen Herren [den Nationalsozialisten in Bayern, d.Verf.] überzugehen, mußte er die alten verachten, so gut es ihm gelang. […] Man mußte sich der Vorteile, die nun zu gewinnen waren, guten Gewissens erfreuen können. In der Bayerischen Handelsbank als Diplomlandwirt tätig, dort noch nicht einmal Prokurist, stieg Onkel Viktor nun rasch zum Direktor auf und vertauschte seine bescheidene Wohnung in München-Ost mit einer ungleich eleganteren in Schwabing; ein Aufstieg, welchen er dem Auszug seiner jüdischen Kollegen verdankte.“30 Man kann Manfred Flügge zustimmen, wenn er befindet, Viktor Mann, dem er immerhin ein kleines Kapitel in seinem Zeitbild Das Jahrhundert der Manns zubilligt, sei eine „sonderbare Randexistenz in der Familiensaga“ der Manns gewesen.31

28 Ebd., S. 378. 29 Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt am Main 1986, S. 91. 30 Ebd., S. 510 f. 31 Manfred Flügge, Das Jahrhundert der Manns. 2. Aufl. Berlin 2015, S. 275.

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Vikko selbst formulierte eine Spur schärfer und nannte sich „einen harmlosen Außenseiter der suspekten Sippe.“32 Als Diplomlandwirt mit Schwerpunkt ‚Milchwirtschaft‘ hatte sich Viktor Mann 1919 Verdienste bei der Milchversorgung Münchens erworben, „war in beiden Weltkriegen Soldat, im NS-Regime sogar Parteimitglied, Angehöriger des NS-Kraftwagenkorps, Gruppenführer in der Arbeitsfront.“33 Nach dem Krieg nannte er sich einen „Mitgetriebenen“, alternativ zu „Mitläufer“, sah sich aber mit (unbegründeten) Vorwürfen konfrontiert, französische Zwangsarbeiter misshandelt zu haben.34 Viktor erhielt ab Oktober 1945 Care-Pakete aus Los Angeles, für die Katia Mann sorgte; man fragte „nicht nach seinem Verhalten in der NS-Zeit.“35 Im Juli 1947 fand dann eine Wiederbegegnung in Zürich mit Thomas Mann statt. Den ältesten Bruder, Heinrich, sah Vikko nicht mehr, riet ihm aber bemerkenswerterweise zur Übersiedlung in die sowjetische Zone. Thomas Mann spricht im Tagebuch von „Lügen, Vernebelung, erdrückende[r] Umarmung“ mit Blick auf Vikko und notierte zudem im Tagebuch (24.7. 1947): „Unheimlichkeit Vikkos, krank aussehend, unklar belastend, erregt, über-liebevoll.“ Die Herzkrankheit, der Vikko eineinhalb Jahre später erliegen sollte, war ihm offenbar ins Gesicht geschrieben, womöglich verschärft durch seine Verschleierungs-, Verdrängungs- und Wendehalsmanöver. Nein, literarisch unbegabt war Vikko Mann nicht. Das belegt sein erhebliches erzählerisches Vermögen, das in seinem mehrschichtigen biographischen Versuch Wir waren fünf deutlich zum Vorschein kommt. Es kam ja auch nicht von ungefähr, dass Thomas Mann den um fünfzehn Jahre jüngeren Bruder 1923 für seine Arbeit an einem Stummfilmmanuskript Tristan und Isolde zur Mitarbeit heranzog.36 Und es ist doch nicht nur die Sterbeszene der Mutter, die Viktor Mann stilistisch auf bemerkenswerte Art meisterte; auch seine Einschätzung der beiden großen Brüder lässt aufhorchen: „Schon als ganz junger Mensch hatte ich gefühlt, daß jeder der beiden in des anderen Werk – so verschieden es von dem seinigen war – doch die gleiche Wurzel spürte. Und so wußte ich jetzt [im August 1914, d.Verf.], daß die Auseinandersetzung fern von allem Persönlichen um Entwicklungen ging, viel mehr mit Liebe als mit Haß zu tun hatte und weit eher der Streit von Gefühlen in einer Seele war als der Kampf zweier feindlicher Individuen. […] Sie sagten ihre

32 Zit. nach ebd., S. 275. 33 Ebd., S. 272. 34 Ebd., S. 275. 35 Ebd., S. 272. 36 Alexander Blödorn / Friedhelm Marx (Hrsg.), Thomas Mann Handbuch. Leben – Werke – Wirkung. Stuttgart 2015, S. 257 (Art. ‚Neue Medien‘ v. Miriam Albracht). (Auf das Handbuch wird im Weiteren verwiesen als TMHb.)

Die Sache mit Carl Viktor Mann



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Wahrheiten und hielten sich dabei einander fern.“37 Diesen Streit im Hause Mann wertete Viktor durchaus nicht unzutreffend als Beispiel dafür, dass politische Ansichten Familien spalten können. In verschärfter Form sollte dies sich spätestens 1933 wiederholen, nur dass er sich dann als „Mitgetriebener“ – aber auch etwas als ein politisch gewordener Felix Krull – im fragilen Verbund der Brüder Mann ausgrenzte. Doch in der kritischen Phase von 1914 vermochte Viktor die Rolle eines zeitweiligen Vermittlers zwischen den beiden politisch entfremdeten, wenn nicht gar verfeindeten Brüdern zu übernehmen. Es ist daher folgerichtig, wenn Hanjo Kersting in seiner Dokumentation des „deutschen Bruderzwists“ Bemerkungen von Viktor als Zwischentexte einfügte.38 Es ist, als hätte Viktor Mann ein Leben lang gewartet, sein schriftstellerisches Talent aufgespart, um Wir waren fünf schreiben zu können. Zudem hatte er auch sein Rednertalent entdeckt, wurde vor allem in der französischen Besatzungszone – ausgerechnet dort, bedenkt man die zuvor genannten Vorwürfe – und im Rundfunk zu Vorträgen eingeladen, um über seine Familie zu sprechen; es bot ihm die Grundlage für sein späteres Buch, dessen Erscheinen er, wie erwähnt, nicht mehr erlebte. Man hat sie – mit Golo Mann – zurecht gewürdigt, die Sterbeszene der Mutter in Viktors Worten: „Das Zimmer lag im Obergeschoß des Gasthofes […]. Es war sauber, aber mit häßlichen Möbeln eingerichtet […]. Mama lag hochgebettet und lächelte mich aus verfallenem Gesicht froh an. ‚Na, alter Peter, da bist du ja‘, sagte sie langsam und mit ganz veränderter Stimme. […] Mama hatte immer rasch und in reinem Hochdeutsch mit leicht lübeckschem Tonfall gesprochen, und jetzt sprach sie langsam, in viel dunklerer Färbung, mit stark rollenden R-Lauten. Es war –, ja, so klang es, wenn Spanier oder Portugiesen Deutsch sprachen. Portugiesen, also auch Brasilianer. Maria da Silva [die Mutter von Julia Mann, d. Verf.] hatte vielleicht manchmal so zu ihrem deutschen Gatten gesprochen, und wohl auch die kleine Dodo, als sie im nebeligen Norden Deutsch lernte. Und nun, beim Sterben, war der Klang von ‚drüben‘, vom bunten Sonnenland, wieder da.“39 Zu erzählen verstand Viktor Mann. Seine Erinnerung ließ er biographierend sprechen, und dort, wo es ihm an Wille zur Recherche fehlte, ließ er seiner ‚Vorstellungskraft‘ wenn nicht freien, so doch kontrolliert-anschaulichen Lauf. Hatte Viktor Mann dem ältesten Bruder geraten, nach Ost-Berlin überzusiedeln, so riet er dem zweitältesten von einer Rückkehr nach Deutschland ab. In einem Brief an Agnes E. Meyer vom November 1945 zitiert Thomas Mann seinen jün37 Viktor Mann, Wir waren fünf. Konstanz 1949, S. 408. 38 Heinrich und Thomas Mann. Ein deutscher Bruderzwist. Aus den Quellen dokumentiert von Hani Kersting. Göttingen 2003. 39 Ebd., S. 346.

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geren Bruder wie folgt: „Man möchte bei uns jetzt, dass Du mit Glanz und Gloria einziehst, Dich an die Spitze einer neu-deutschen geistigen Bewegung stellst und vor allem alles milderst, was mit denazification zu tun hat. Nach 2 Monaten wärst Du zermürbt und auf beiden Seiten anrüchig. Schon jetzt missbraucht Dich die Flüsterpropaganda, indem sie unters Volk streut, Du habest irgend eine ‚Milderungseingabe‘ gemacht. Erfolgt keine Milderung, so bist Du schuld.“40 Ein erstaunlicher Kommentar für einen recht aktiven Mitläufer von einst, der selbst seine Nöte mit der Denazifizierung hatte und Grund, auf ‚mildernde Umstände‘ zu hoffen. Thomas Mann kommentierte dieses Urteil seines Bruders in besagtem Brief mit den Worten: „Er ist der Schlichteste von uns, aber auch nicht auf den Kopf gefallen.“41 Angesichts der Existenz dieses „Mitgetriebenen“ in der Familie Mann hätte man von Thomas Mann wohl doch eine etwas differenzierendere „Milderung“ in seinem Urteil über die „Innere Emigration“ erwarten können.

40 Thomas Mann / Agnes E. Meyer, Briefwechsel. Hrsg. v. Hans Rudolf Vaget. Frankfurt am Main 1992, S. 646 (Br. v. 4. November 1945). 41 Ebd.

II Sich selbst ins Bild rücken und es beim Wort nehmen Thomas Mann und die visuelle Medialität Bevor Thomas Manns Verhältnis zum Anderen im essayistisch-biographierenden Medium zur Diskussion steht, soll nachfolgend seine Selbstbeziehung am Beispiel seines Umgangs mit visuellen Phänomenen und ihrer Versprachlichung untersucht werden. Zu befragen ist hierbei auch – etwa am Extrembeispiel des Okkulten in seiner essayistisch-erzählerischen Reflexion – das Problem des Selbstbilds an sich. Somit geht es dabei um autobiographische Momente und Erfahrungen mit den Reaktionsweisen des eigenen Selbst.

Filmischer Vorspann als Medienreflexion Mit Feiern zum 200. Geburtstag Gotthold Ephraim Lessings begann – auch für Thomas Mann – das Jahr 1929. Es endete mit der bis dahin größten Finanzkatastrophe, ausgelöst durch den Börsenkrach an der New Yorker Wall Street, und in Stockholm mit der Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn, den in seiner Zeit versiertesten Sprachkünstler deutscher Zunge. Pünktlich zu Lessings Geburtstag hatte Thomas Mann dem Berliner Tageblatt einen Essay Zu Lessings Gedächtnis abgeliefert (X, 250–256) und im Rotary Club München eine Miszelle zu Lessings kritischem Luthertum vorgetragen und ihn darin als einen unbedingten Vertreter des „Itzt“, des Gegenwärtigen, Geistig-Lebendigen vorgestellt, der – ganz im Sinne der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches – sich dagegen verwahrt habe, den „Buchstaben der Historie“ das Lebensgegenwärtige „erschlagen“ zu lassen. (XIII, 316) Aus der unmittelbaren Gegenwart in die Zukunft zu sprechen, in eine künftige Zeit, das hatte für Thomas Mann in jenem Jahr auch eine mediale Komponente gewonnen. Ohnehin war dieses merkwürdige Zeitverhältnis erst durch ein neues Vermittlungsmedium für ihn akut geworden und leitete sich inhaltlich sogar unmittelbar von Lessing ab. Denn seine erste, knapp vierminütige Tonfilmaufzeichnung galt „Worten zum Gedächtnis Lessings“. Thomas Mann vor laufender Kamera zu unbedingter Jetztzeit, konserviert für eine spätere Vorführung, ein Umstand, den er beim Sprechen eingangs betont reflektiert. Dieses neue Medium, dem er sich da aussetze, befördere Zeittäuschung.

https://doi.org/10.1515/9783110734508-003

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II Sich selbst ins Bild rücken und es beim Wort nehmen

Man sehe sich diese Aufzeichnung an, die erste bekannte Tonfilmaufnahme mit einem deutschen Schriftsteller:42 Nach einem kaum hörbaren Vorgeplänkel in Sachen Regie, Thomas Mann gibt sich noch eine Spur angespannt, setzt er zum freien Sprechen an; man vermutet eine geprobte Improvisation. Umschweifendes gehört hierbei zur Sache. „Da ich hier sprechen soll“, so beginnt er, das Sollen betonend, das Wollen ist impliziert. Denn die Situation, in der er sich hier im Studio befindet, habe Reiz und „Eigentümlichkeit“, wobei er das Ü geradezu parodistisch überspitzt. Überraschend sei diese Situation, vermittelt durch die Berlin-Dahlemer Lessing-Hochschule, einen anspruchsvollen Weiterbildungsverein, dem zu jener Zeit der Psychologe Ludwig Lewin vorstand und zu dessen Gastdozenten Vieles, was Rang und Namen in Literatur, Wissenschaft und darstellender Kunst hatte, gehörte – von Thomas Mann bis Albert Einstein, Theodor Heuß, Max Liebermann, Lise Meitner, Tilla Durieux und Mary Wigman ebenso wie vor dem Ersten Weltkrieg die prominente Frauenrechtlerin Helene Stöcker. Lessingscher Geist wehte demnach selbst im Studio eines neuen Mediums, das sich der Aufklärung durch Bildung verschreiben wollte – aus Thomas Manns Sicht bedeutete das: in Lessings Namen, wobei er wie nebenbei, causeurhaft-analytisch gestimmt, auch Aufklärung über dieses neue Medium bietet. Ein Relikt der alten Zeit bleibt nahezu verdeckt bei dieser Aufnahme gleichfalls präsent: der photoatelierhaft wirkende Stuhl, auf dem Thomas Mann sitzt, der renaissancehaft anmutet und dem Lübecker Ratssaal entnommen sein könnte. Thomas Mann selbst, so souverän, wie man einem neuen Medium gegenüber nur sein kann, mit gesteiftem blütenweißem Einstecktuch, breitem, sorgfältig gestutztem Schnurrbart und betont glatt gekämmtem und gescheiteltem Haar, durchaus nicht steif sitzend, sondern bewegungsaktiv, gleichsam von der neuen Mediensituation bewegt, und sich, einleitend zum Schein improvisierend, an einen in Frankfurt kurz nach dem Krieg gehaltenen Rundfunkvortrag erinnernd, über dessen Inhalt er sich nicht weiter äußert, aber dafür einen Medienvergleich anstrengt: Rundfunk- und Tonfilmaufnahme versucht er zueinander in Beziehung zu setzen. Das Damals im Frankfurter Studio wiederhole sich nun vor der Kamera, so meint er. Und damals habe er zum ersten Mal erlebt, was es bedeute – dabei öffnet er, Selbstentspannung andeutend, sein Anzugsjackett, die Weste wird sichtbar, und es blitzt kurze Zeit die Uhrenkette auf –, vor einem unsichtbaren Publikum, ohne dessen physische Präsenz zu sprechen. „Weit über die Welt verstreut“, aber eben doch präsent zum Zeitpunkt der Rede. Aber hier handelte es sich um eine Aufzeichnung; nunmehr sei das Publikum nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich vom Sprecher getrennt. Die Medienreflexion, das für ihn Besondere dieser Si-

42 https://www.youtube.com/watch?v=47neW–DWEY (aufgerufen am 4. Januar 2023).

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tuation, scheint in dieser Phase überhandzunehmen. Vergessen ist für den Augenblick, dass es eigentlich um Lessing geht. Thomas Mann spricht jetzt eher über ‚Ich und das neue Medium‘, betreibt also Aufklärung über diese ungewohnte mediale Praxis. Thomas Manns Souveränität mit diesem brandneuen Medium erstaunt, und es hat den Anschein, als spiele er mit ihm; jedenfalls fühlt er sich vor der Kamera sichtlich wohl; die Körperbewegungen, das immer wieder erkennbare Wiegen des Oberkörpers, das Sich-Zurücklehnen, ja das Zurückwerfen des Kopfes signalisieren Souveränität im Umgang mit diesem Sprechen in die Zukunft, zu einem „zukünftigen Publikum, in die Zeit hinein“. Die zuweilen eingesetzten lässigen Handgesten sprechen zudem für das Empfinden einer gewissen beiläufigen Selbstverständlichkeit, mit der er sich hier vor der Kamera äußert. Was er beim Nachdenken über diese Situation empfindet, sei etwas „Phantastisches“, ja – man möchte ergänzen: für einen literarischen Großbürger „Exzentrisches“, ihm auch medial eine Sonderstellung Schaffendes. Erst jetzt, nach über drei Minuten der vierminütigen Aufnahme, kommt Thomas Mann explizit auf Lessing zu sprechen, wobei er auf seine „gestrige“ Berliner Akademierede verweist, um einige „Episoden“ daraus zu wiederholen. Wiederum ist die Körperbewegung bezeichnend. Bereits wie ein Routinier vor der Kamera wechselt er zwischen entspannter Haltung und einem leichten, Vertraulichkeit mit dem zukünftig sehend-hörenden Publikum suggerierenden oder erheischenden Nach-vorne-Beugen, wenn er davon spricht, dass es ihm doch verstattet sei, etwas aus dieser Rede auch in diesem Medium zum Besten zu geben. Das gestern Gesagte wird ins Studio-Heute transponiert, um dort in die Zukunft projiziert zu werden. Er, ein Bajazzo des Geistes im Kostüm des Bürgers, setzt galant, um nicht zu sagen: leicht theatralisch seine Lesebrille auf. Dabei macht er mit seiner linken Hand eine würdigende Geste, mit der er deutlich die Qualität des Begriffs des ‚Klassischen‘ hervorhebt und sich zudem bei der wiederholten Nennung des ‚Klassischen‘ eigens erneut zurechtsetzt, als habe er dieses Zusammenspiel von Begriff und Geste zuvor einstudiert. Er will diesen Begriff des Klassischen von seiner lebensfernen Staubtrockenheit, wie ihn die Schulästhetik verstehen will, befreien. Stattdessen solle man ihm, dem Klassischen, neuen Charakter verleihen, ihn durch unser Handeln „bedingen“, also ihn neu begründen und mit entsprechenden ‚Dingen‘ versehen, etwa mit diesem neuen Medium, durch das er seine Überlegungen vermittelte, das sich aber auch seiner Person bediene. Bei diesem Endhöhepunkt der Tonfilmaufzeichnung nimmt Thomas Mann ostentativ wieder seine Brille ab. Die Geste ist eindeutig: Gesagt ist, was zu sagen war. Das künftige Publikum mag damit getrost verfahren, wie es beliebt.

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Psycho-ästhetische Medialitäten Schreiben, literarisches Schreiben bedeutet ein von Narzissmen nie ganz freies Sich-Abarbeiten am Eigenen, am Selbst. Das Selbst sei hier als reflektierter Ich-Bezug verstanden. Gerade in der kritischen Selbstdarstellung gewinnt dieser Ich-Bezug auch dann eine gestaltende und damit ästhetische Dimension, wenn diese um Abstand zum eigenen Ich bemüht ist. Literarisch hat diesen Abstand wohl am konsequentesten Kafka verwirklicht; nicht umsonst hat man ihn als einen „Solipsisten ohne ipse“, also ohne Selbst, charakterisiert.43 Selbstdarstellung als eine Form situativer Autobiographie in Ausschnitten meint, ein Bild oder mehrere Bilder von sich selbst entwerfen. Ob diesen Bemühungen vorausgeht, dass wir uns von anderen ein Bild machen, oder ob dieser Selbstbildentwurf erst dann geschieht, wenn wir eine gewisse Übung darin haben, uns von uns selbst ein Bild zu machen, ist letztlich eine Veranlagungssache. Schriftsteller können kaum anders, als solche Bilder von sich – mehr oder minder verdeckt – zu skizzieren. Diese Bezeichnung für einen Beruf, der immer auch innere Berufung ist, leitet sich wohl daraus ab, dass Schreibende von ihrer „Schrift“, also dem Geschriebenen, ‚gestellt‘ werden, so wie ein Täter gestellt wird, überführt einer an sich selbst oder Anderen verübten Tat. Diese ‚Tat‘ besteht aus dem Bild, durch welches das eigene oder andere Ich fixiert wird. Das Bild, die Aufnahme, das geschriebene oder gemalte Porträt ist der festgestellte Augenblick, nur schwer nachträglich korrigierbar. Entspricht man aber diesem Bild – im Leben, im Werk? Bemüht man sich darum, ihm, diesem Entwurf vom eigenen Selbst, wirklich zu genügen? Daraus kann sich ein Lebensprogramm ergeben. Friedrich Nietzsches berühmtes Diktum aus Ecce homo abwandelnd, wäre zu sagen: Wie man wird, was man laut des Bildes zu sein scheint. Oder sind solche – oft gestellten, sorgfältig vorbereiteten – Momentaufnahmen nichts als bildliche Etappen, die einen Augenblick auf einem Lebensweg dokumentieren? Im Zeitalter des Selfies wirken dergleichen Überlegungen scheinbar überflüssig; rückt der passionierte Selfist sich doch beständig ins Bild, um sich daraufhin in die Welt zu posten mit Hilfe der vermeintlich ‚sozialen‘ Medien. Dieser Trend zur Persönlichkeitsmomentaufnahme, die jedoch weit entfernt ist von einem Persönlichkeitsbild im eigentlichen Sinne, hat etwas gemein mit dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, Selbstbestätigung in einer Welt der Vermassung. Nach dem Motto: Seht her, auch ich in Arkadien oder Shanghai oder schlicht: Hoppla, ich lebe.

43 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 1951. Erste Auflage dieser Ausgabe Frankfurt am Main 2001, S. 430.

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Anders verhielten sich die Bildnachrichten vom Selbst zu einer Zeit, als das Porträtieren vermittels diverser Techniken und Ausdrucksformen noch erheblichen Aufwand bedeutete, einer künstlerischen – oder mit kommerzieller Absicht eher kunsthandwerklichen Anstrengung. Denn die Porträtphotographie erfährt nach 1900 angesichts der aufkommenden harschen Kritik an einer überladenen Atelierästhetik eine markante Veränderung. Ihren Ausgang nimmt diese kritische Auseinandersetzung mit Bruno Meyers Studie über Die bildenden und reproduzierenden Künste im 19. Jahrhundert von 1901. In ihrem Gefolge und damit im unmittelbaren Wahrnehmungshorizont Thomas Manns gewinnt das ästhetische Urteil Kontur, etwa bei Willi Warstat, Fritz Mattheis-Masuren und Josef Maria Eder, die gestellte Photographie sei „Lüge“ und damit ein Verfallssymptom.44 Da fügt es sich zweifelsfrei ins Bild, wenn in einem solchen Zeitklima gerade der junge Verfasser eines Romans mit dem Untertitel: „Verfall einer Familie“ mit dem Phänomen ‚Porträtphotographie‘ – buchstäblich am eigenen Leib erprobt – interessierten Umgang pflegt und beinahe Aufnahme um Aufnahme jeweils eine eigene kleine Selbstdarstellungsästhetik eingefordert zu haben schien. Sie beinhaltete eine Verlagerung vom Atelier des Photographen in die häusliche Umgebung, namentlich ins Arbeitszimmer, wobei die frühen Aufnahmen Thomas Manns am Schreibtisch die atelierhafte Stilisierung der Positur und der mit ihr identischen Schaffensgeste geradezu emphatisch wahrten. Er sollte diese Haltung auch später noch beibehalten, als er sich wieder zu Atelieraufnahmen bereit erklärte, wenn man etwa an die bekannten Aufnahmen denkt, die der bedeutende armenisch-kanadische Photographen Yousuf Karsh von Thomas Mann gemacht hat. Alle diese Aufnahmen zeigen Thomas Mann als parodierenden Repräsentanten seines Selbst im ästhetisierten spätbürgerlichen Zeitalter. Aber es geht hier weniger um diese Seite des Medienbezugs bei Thomas Mann, sondern um sein Interesse an einer anderen Art Medium, nicht minder ein Erbstück oder Ausläufer aus dem photographisch bewussten 19. Jahrhundert; hatte es sich doch zur optisch-mysteriösen Leidenschaft gemacht, spirituelle Phänomene auf Silbernitratpapier oder später Glasplatten einzufangen und abzubilden. Versichern wir uns jedoch vor dem Blick auf Thomas Manns oft geschmähten Text Okkulte Erlebnisse noch eines weiteren Aspekts von seinem Verhältnis zu den selbstbezogenen Lichtmedien, der wiederum Rückschlüsse auf sein Interesse an diesen okkulten Bildphänomenen zulässt. Er gehörte ja, wie angedeutet, noch einer Zeit an, die es dem unter Mühen Porträtierten zwingend erscheinen ließ, das eigene Bild – so häufig es in seinem Fall schon aufgenommen wurde – nicht nur ernst, sondern regelrecht beim Wort zu nehmen. Das Verbildlichte kommentie44 Ich verdanke diese Hinweise dem Würzburger Kunsthistoriker Eckhard Leuschner, der diese im Rahmen einer Tagung zu Carl Albert Dauthendey im November 2019 vorgetragen hat.

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rend wieder zu verwörtlichen und das Wörtliche in seiner Bildqualität zu begreifen, zählt damit zu den Verfahren der literarischen Moderne, die auch mit Thomas Manns Sprachkünstlertum verbunden sind. Selbst bis in zahlreiche Tagebucheintragungen hinein bestätigt sich dieser Sachverhalt. Als er Ende Juni 1939 in Amsterdam die van Gogh-Sammlung sieht, notiert Thomas Mann: „[…] eindrucksvoller Überblick. Der düstertintige Beginn, der Durchbruch des Lichtes. Das Selbstportrait, sehr wahnsinnig, Tücke der Augen. Leidenschaftliches Bild, Kornfeld mit dunkelblauem Himmel und Krähen.“ (Tb 4, 427) Um die Lichtqualität zu treffen, bemüht der Betrachter eine dafür agglutinierte Adjektivkreation („düstertintig“), wobei er eigens die „Tücke der Augen“ des selbstporträtierten van Gogh hervorhebt, die aber auch auf das Tückische des eigenen Sehens rückwirken kann. Eben das heißt, das ins Bild Gerückte wörtlich zu nehmen. Bleiben wir beim Tückischen und bei einer Selbstaussage Thomas Manns, die vorführt, wie die Sicht auf das Selbst in Selbstkritik umschlägt – und das vor einem entschieden bildbezogenen Hintergrund: Zuviel gelitten, zuviel gegafft und mich entzückt. Mich zuviel von der Welt am Narrenseil führen lassen. Wäre alles besser nicht gewesen? Es war …. Warum schreibe ich dies alles? Um es noch rechtzeitig vor meinem Tode zu vernichten? Oder wünsche, daß die Welt mich kenne? Ich glaube, sie weiß, unter Kennern, ohnedies mehr von mir, als sie mir zugibt. –45

In diesem ‚Entzücken‘ des fünfundsiebzigjährigen Thomas Mann wirkte noch die Begegnung mit einem gewissen Kellner im Zürcher Waldhaus Dolder nach, jetzt im August 1950, bereits wieder zurück in den Vereinigten Staaten, doch eher wie auf Abruf, genauer: in Chicago, notiert einen Tag nach dem Besuch der Ausstellung in der Yale Library, die ihm galt, wie stets mit Pressekonferenz und „photographischen Aufnahmen“, einem Gespräch mit Thornton Wilder, viel versprechende, aber wenig haltende Absprachen mit dem Film-Agenten Saul C. Colin, Unterhaltungen über Luigi Zampas Film Anni difficili, die Verhältnisse in einem sizilianischen Dorf unter Mussolini schildernd, ebenso wie den selbstbehaupteten Antifaschismus gestandener Mussolini-Anhänger nach dem Ende des Krieges, ein Film, dessen amerikanische Version der junge Arthur Miller eingerichtet hatte. Colin wollte von Thomas Mann ein schriftliches Wort über diesen Film, „natürlich“, wie der mediengeplagte Schriftsteller vermerkte. Dabei waren dessen Gedanken und „wundes Herz“ mehr bei Michelangelos Sonetten und ihrem magischen Vers „In vostro fiato son le mie parole“ – in eurem Atem bildet sich mein Wort, das verfängliche Leitmotiv in Thomas Manns letzten Lebensjahren, gerade auch dann wieder, wenn, wie er selbstironisch notiert, „selbstverständlich meine Augen auf

45 Thomas Mann, Tagebücher 1949–1950. Hrsg. v. Inge Jens. Frankfurt am Main 1991, S. 255.

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einen Adonis in der Badehose“ fielen, „vollkommen schön, sogar die Gesichtszüge.“46 Da baumelte es wieder vor ihm, dieses „Narrenseil“, das ihn von Zeit zu Zeit nasführte und der Welt vorführte. Wünschte er denn wirklich, dass die Welt ihn „kenne“? Der Aufwand, den die Medien mit ihm vor allem im Vorfeld und nach seiner Übersiedelung in die Vereinigten Staaten 1938 trieben, entsprach im Grunde durchaus dem, was er – bei allen gelegentlichen Irritationen mit Photographen und Journalisten – von den Medien erwartete: Sicherung seiner weltweiten Präsenz. Dass „die Welt“ mehr von ihm wusste, als von irgendeinem anderen Zeitgenossen, Albert Einstein ausgenommen, mehr zumindest, als sie ihm eingestand, man glaubt Thomas Mann seine Vermutung gerne. Er versah sie im Tagebuch mit drei Gedankenstrichen, die etwas von verlängerten Auslassungszeichen haben, als wollten sie einen kleinen graphischen Echoraum für das soeben sich selbst Eingeräumte bilden. ‚Kennen‘, das meint aber auch – und das Zitat spielt darauf an: sich ehrlich eingestehen, dass man eine Person oder einen Sachverhalt kennt und diese Kenntnis mit Täuschungsabsichten nicht leugnet. Zum ‚Kennen‘ gehört nicht minder das ‚Verkennen‘, Usurpiert-Werden oder die Verfälschung. Wenige Tage nach Thomas Manns teils skeptischer, teils verhalten zuversichtlicher Selbstreflexion, wieder zurück in Pacific Palisades, erweist sich für ihn das potentiell Brandgefährliche medialer Präsenz im Kalten Krieg: „Zeitungsausschnitt mit Bild, wie ich angeblich in Paris die Deklaration Pour l’interdiction de l’arme atomique unterschreibe. Fälschung mit vorjähriger Photographie. Schwierig, sich dazu zu verhalten.“47 Es handelte sich um den im März 1950 verfassten Stockholmer Appell zur Ächtung der Atombombe.48 Offiziell hatte Thomas Mann seine Unterschriftsleistung bis dahin nicht dementiert; brieflich jedoch äußerte er sich betont kritisch über den Umstand, dass ihm dieses Anliegen „als eine über-parteiliche, nicht kommunistisch determinierte Aktion zugunsten des internationalen Friedens dargestellt“ worden sei. Dass Sowjetkommunisten hinter diesem Appell standen, wurde ihm offenbar erst später bewusst. Diese nämlich hätten, so Thomas Mann weiter, eine sehr unangenehme und verderbte Art, sich zu tarnen, ihre Zwecke in allgemein demokratische Sprechwendungen zu kleiden, gegen ‚die eigentlich nichts zu sagen ist‘ und so, man kann wohl sagen: durch Betrug, Gutwillige, an deren Namen ihnen gelegen ist, ihren

46 Ebd. 47 Ebd., S. 260. (Eintrag v. 1.IX.1950) 48 Vgl. Lawrence S. Wittner, One World or None. A history of the world nuclear disarmament movement through 1953. Stanford 1993.

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machtpolitischen Zielen dienstbar zu machen. Ich finde diese Taktik höchst widerwärtig und sehe wohl, daß ich meine Vorsicht noch steigern muß.49

Dieser Appell war eine der Aktionen, die sich von dem 1948 gegründeten „Weltkongreß der Intellektuellen zur Verteidigung des Friedens“ herleitete, dem übrigens auch dezidierte Nicht-Kommunisten wie Julian Huxley, A. G. P. Taylor, Julien Benda und Max Frisch als Delegierte angehörten. In den Zeiten der Kommunistenhetze Joseph McCarthys waren dergleichen Missverständnisse potentiell auch für einen Thomas Mann existenzbedrohend.50 Im Vergleich dazu war dann vier Jahre später ein ärgerlicher langer und „elend verklatschter Artikel über mich und meine Familie“ im Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine harmlose Bagatelle.51 Am Ende des Medienlebens von Thomas Mann standen Filmaufnahmen zum 80. Geburtstag. Weitere „Television- und Bandaufnahmen-Wünsche“ lehnte er zunächst ab, las aber dennoch Tonio Kröger für den Nordwestdeutschen Rundfunk ein, vermerkt einen sehr schlechten Nervenzustand, verwirft die Schiller-Rede bei ihrer Endredaktion für den Druck als „armselig“, gesteht, er sei „ihrer überdrüssig“, wobei er ursprünglich doch gemeint hatte, mit diesem Versuch „ein für allemal die Forderungen, die man beständig an mich stellt“, wirklich erfüllt zu haben52, und notiert unter dem Datum des 23.IV.1955 sogar: „Affaire des Stuttgarter FernsehGeburtstagsfilms, über den, anständig gemeint, wie er ist, ich mich fast so sehr erbitterte, und den wir doch noch werden vonstatten gehen lassen.“53 Sieben Tage später findet sich das zweiköpfige Reportageteam doch in Kilchberg ein, und die Dinge gestalten sich angenehmer als gedacht: „Bewegungsaufnahmen am Schreibtisch und mit K. im Garten. Schlußwort in der Bibliothek. Nahm zusammen eine Stunde. Viele Bilder für den halbstündigen Film haben sich noch gefunden von den Eltern, von mir in allen Lebensaltern und reizende von Frido in Amalfi Drive als Baby und mit drei, vier Jahren. –54“ Der letzte ernüchterte Tagebucheintrag in Sachen Film erfolgt dann am 25. VI. 1955: „Gestern führte man uns in der Stadt den Fernseh-Film meines Lebens vor. Achselzucken, gemischt mit etwas Rührung. Diese überwog bei K., und E.s Kritik kränkte sie.“55

49 Zit. in: Thomas Mann, Tagebücher 1949–1950, Kommentar zum Eintrag v. 1.9.1950, S. 587. (Brief an János Görki v. 12. Juni 1950, nachgewiesen in Reg. III, 50/262.) 50 Vgl. Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952. Frankfurt am Main 2011, S. 376–414. 51 In: Thomas Mann, Tagebücher 1953–1955. Hrsg. v. Inge Jens. Frankfurt am Main 1995, S. 299. Es handelte sich um die Ausgabe Nr. 52 v. 22.12.1954, S. 32–45. 52 Ebd., S. 305 (Eintrag v. 1.I.1955). 53 Ebd., S. 339. 54 Ebd., S. 341. 55 Ebd., S. 350.

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Es war das letzte schriftlich niedergelegte, einmal mehr ambivalente Wort Thomas Manns zum Thema Film, den er, wie aus seinen fünf zwischen 1923 und 1955 verfassten Essays über dieses Medium hervorgeht, einerseits in „heiterer Passion“ geradezu liebte, andererseits sogar „verachtete“. Als ein in der Forschungsgeschichte zu Leben und Werk Thomas Manns verhältnismäßig spät herausgearbeiteter Hauptaspekt erfreut sich das Thema ‚Intermedialität‘ ungebrochener Beliebtheit; und gerade Thomas Manns zwiespältiges Verhältnis zum Film darf mittlerweile als hinreichend erforscht gelten, namentlich von Katrin Bedenig-Stein und Peter Zander.56 Einen Sonderfall bildet Thomas Manns Einstellung zur amerikanischen Filmszene und zu Hollywood im Besonderen, deren Vertreter er nur halb im Scherz mit dem Etikett „Movie-Gesindel“ versah; auch hier scheint das Wesentliche von Hans Rudolf Vaget gesagt.57 Nur gilt es sich zu verdeutlichen, dass sich Thomas Mann immer wieder für filmisches Arbeiten interessiert hat, sprich: für die filmische Umsetzung einiger seiner Stoffe, vor allem des Joseph in Ägypten. Dass er im Hinblick auf seinen Joseph sogar Walt Disneys Zeichentrickfilme für „anziehend“ hielt, ungeachtet ihrer hübschen Stillosigkeit, mag anhaltend verwundern, gehörte aber noch zu jener „heiteren Passion“ beim häufigen Gang in die „Filmhäuser“, die bis in die Stummfilmzeit zurückreicht.58 Anders als Rilkes Protagonist fragmentierter Welterfahrung in der Moderne, Malte Laurids Brigge, musste Thomas Manns Felix Krull das Sehen nicht lernen. Die „Gabe des Schauens“ war ihm „verliehen“. Wie Lynkeus der Türmer in Goethes Faust II war Krull „Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt“. Vaget hat treffend diese „Gabe des Schauens“ ohne Abstriche auf den Kinogänger Thomas Mann übertragen.59

Was ein Medium ist Voyeur war Thomas Mann fraglos, ohne jedoch zum Voyeuristen zu werden; denn auf die Gesamtschau kam es ihm an, weniger auf die Schlüssellochperspektive. Das schloss die Betrachtung des einzelnen Phänomens natürlich ein, ging aber nicht auf Kosten des bildlichen oder anschaulichen Zusammenhangs. Erzählend ließ sich beides verbinden, wie ja ohnedies der Roman – nicht nur im Verständnis

56 Vgl. die Überblicksartikel von Miriam Albracht, Meine Ansicht über den Film (1928) sowie über die Neuen Medien in: TMHb, S. 192 u. S. 257–258 sowie Bernd Hamacher, Neue Forschungsansätze: Intertextualität/Intermedialität. In: Ebd., S. 347–352. 57 Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner, S. 349–375. 58 Ebd., S. 354. 59 Ebd., S. 364.

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Thomas Manns – als das integrierende Medium schlechthin galt. Am Rande der alliterierenden Tautologie bewegt sich, wer die Erzählkunst als „Metamedium“ bezeichnet, „das die anderen Medien medialisiert“.60 Unbestritten freilich ist, dass der Roman als Intermedium von Wahrnehmung und Phantasie, Analyse und Vorstellung wirken kann. Der Roman ist die Form des Intermedialen schlechthin, da er – ganz im Sinne der frühromantischen Erzähltheorie eines Friedrich Schlegel – Imaginations- und Reflexionsorgan in einem ist. Innovationen generiert, sprich: erzählt der Roman quasi aus sich heraus. Es wäre nicht weiter von Belang, wollte man nun auf dieser gut eingeschliffenen Schiene der Untersuchung intermedialer Phänomene bei Thomas Mann einfach weiterfahren, noch einmal das Grammophon in seiner Werkfunktionalität bedenken, das musikalische Erzählen zudem, die Bildlichkeit der Sprache Thomas Manns des Weiteren, die anschaulich bleibt und dabei beinahe ohne Ekphrasis auskommt. Wir wollen anders vorgehen, im Themenzusammenhang des VisuellIntermedialen oder, genauer gefasst, der Deutungsdauer im Medienwechsel und damit dem Sinn eines Textes auf die Spur kommend, der Thomas Mann offenbar wichtig geblieben ist, 1924 gleich zweimal veröffentlicht, als Beitrag in der Neuen Rundschau und als Buchausgabe, dann in den Gesammelten Werken in Einzelausgaben 1925 und unverändert wieder in Altes und Neues, der „kleinen Prosa aus fünf Jahrzehnten“, 1953. Die Rede ist von seinem Essay-Bericht Okkulte Erlebnisse, von der Forschung eher gemieden und wenn behandelt dann allenfalls im Hinblick auf den Zauberberg61, ein erzählend berichtendes Essay – und damit an sich schon ein mediales mixtum compositum im Bereich der literarischen Gattungsmedien –, von Thomas Mann selbst mit gespielter Verschämtheit eingeführt. Das Thema errege, so meint er süffisant, „geringschätziges Befremden“; man könne es als „schrullenhaft, abwegig“, gar „ehrlos“ verwerfen, zumal vor einem kritischen Publikum, so Thomas Mann in seiner eröffnenden captatio modestiae. Diese „Erlebnisse“ im Hause des notorischen Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, eines Schwabinger Spezialisten für Nervenkrankheiten und Sexual-Pathologe dazu, er nannte sie eine Verführung fort von dem, was mir obliegt, zu Dingen, die mich nichts angehen sollten, die aber gleichwohl auf meine Phantasie und auf meinen Intellekt einen so scharfen, fuselartigen Reiz ausüben (fuselartig im Vergleich mit dem Sein des Geistes und der Gesittung), daß ich wohl verstehe, wie man ihnen lasterhafterweise verfallen und über einer monoma-

60 Rolf J. Goebel, Medienkonkurrenz und literarische Selbstlegitimierung bei Thomas Mann. In: Uta Degner / Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Bielefeld 2010, S. 41–56, hier S. 52 f. 61 Vgl. den Eintrag von Marianne Wünsch im TMHb, S. 189-–90. Dies., Okkultismus im Kontext von Thomas Manns Zauberberg. In: TMJb 24 (2011), S. 85–103.

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nischen, närrisch-müßigen Vertiefung in sie der sittlichen Oberwelt auf immer verlorengehen kann. (X, 136)

Das Okkulte als schlecht vergorener Bacchantismus – so mag man diese „Erlebnisse“ begreifen, und was dann folgt, wäre entsprechend leicht abzutun als ein in seinem Werk seltenes Beispiel für eine Verirrung. Lässt man sich aber auf diesen Text ein, dem drei Berichte über okkultistische Sitzungen um die Jahreswende 1922/23 präludieren, dann erweist er sich als ein komplexes Gebilde von einem erheblichen poetologischen Aussagewert. Und als poetologischer Entwurf verstanden, ist diesem Text sogar Grundlegendes über das Phänomen des am Optischen orientierten Intermedialen abzugewinnen, wobei sein Ausgangspunkt naturgemäß die ursprüngliche Bedeutung von ‚Medium‘ ist: Ort und Körper der Vermittlung von Grenzerfahrungen, die sich zwischen Sinn und Widersinn, Erklärbarem und Verwunderung bewegen. Hinzu kommt ein Weiteres. Diese eher ungewöhnliche Interpretation des Wortes ‚visuelle Medialität‘ ließe sich als abwegig abtun, fiele nicht ihre verhaltens-, ja ideologiekritische Bedeutung mit ins Gewicht. Zudem nimmt sie vorweg – und das um über zweieinhalb Jahrzehnte –, womit Theodor W. Adorno seine Minima Moralia von 1951 beschließen sollte, nämlich mit ausführlichen Thesen und Reflexionen „gegen den Okkultismus“. So wichtig waren sie ihm, dass sie darin das umfangreichste Einzelnotat mit sechs größeren Abschnitten bilden. Drei Thesen seien daraus hervorgehoben, die dem Kern von Thomas Manns erzählerisch gebotener Medien- und damit Kulturkritik analytisch entsprechen: „Geist“, so Adorno, „dissoziiert sich in Geister und büßt darüber die Fähigkeit ein zu erkennen, daß es jene nicht gibt.“ Und weiter im Wissen um die im Zeitalter des Totalitarismus inszenierte Menschheitskatastrophe: „Jene kleinen Weisen, die vor der Kristallkugel ihre Klienten terrorisieren, sind Spielzeugmodelle der großen, die das Schicksal der Menschheit in Händen halten.“ Sowie schließlich eine These, die uns zum erzählerischen Ansatz Thomas Manns zurückführt: „Okkultismus ist eine Reflexbewegung auf die Subjektivierung allen Sinnes, das Komplement zur Verdinglichung“.62 Im autobiographischen Erzählessay Okkulte Erlebnisse nun wirken nicht definierte Kräfte auf dieses „alle Sinne“ subjektivierende Körpermedium und lassen es als Experimentarium erscheinen, das nicht der Verifizierung oder Falsifizierung von Hypothesen gilt, sondern einzig und allein der Veranschaulichung, dass

62 Alle Zitate in: Theodor W. Adorno, Minima Moralia, S. 462, 464 u. 465. Zur Kritik an Adorno, vgl. u. a. Julian Bauer, Zelle, Wellen, Systeme. Eine Genealogie systemischen Denkens, 1880–1980. Tübingen 2016, S. 108–111 („Parapsychologie. Zu nützlichen Irrtümern und systemischen Denkansätzen der Geisteswissenschaften. Ist Okkultismus die Metaphysik der ‚dummen Kerle‘?“)

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das Wunderliche scheinorganische Formen annehmen kann.63 Verschwiegen sei nicht, dass Thomas Mann ein Exemplar der 1924 in Leipzig hergestellten Luxusausgabe der Okkulten Erlebnisse auch 1952 noch für Wert hielt, mit einer übertrieben exaltierten Widmung der in Beverly Hills gestrandeten einstigen Wiener Operettendiva Fritzi Massary zusammen mit einem „seidenen Reise-Schlafrock“ zum Geburtstag zu überreichen. (Tb 20./21.III.1952). In inhaltlich gewichtigerem Zusammenhang hatte Thomas Mann dann genau zwei Jahre später Anlass, sich nochmals der Okkulten Erlebnisse zu erinnern – neben der Vorbereitung des Essaybandes Altes und Neues vor allem die Auseinandersetzung mit Aldous Huxleys Lob des Mescalin, veröffentlicht unter dem Titel The Doors of Perception. Wenngleich ihn die Vorstellung von „Bewußtseinsveränderungen im toxischen Rausch“, über die er in der Zeitschrift Neue Wissenschaft gelesen hatte, befremdete und er die Ästhetisierung des Mescalin-Rausches für „bedenklich“ hielt, eingedenk seines „schlechten Gewissens, weil ich abends ein bißchen Seconal oder Phanodorm nehme, um besser zu schlafen“. Wie zu erwähnen er nicht versäumte, setzte er sich augenscheinlich intensiv kritisch mit Huxley auseinander; als Äußerstes auf diesem Gebiet verwies er auf seinen halb reportagehaften, halb literarisierten Erzählessay Okkulte Erlebnisse, den er für „ziemlich weit ‚links‘“ angesiedelt hielt, im Sinne von tolerant-progressiv.64 Eines ist dieser Text in jedem Fall: selbst ein Art Intermedium, steht er doch, wie angedeutet, zwischen diversen Prosagenres. Nun mag es manchen unter uns befremdlich erscheinen, das Phänomen und Problem der medialen Selbstdarstellung bei Thomas Mann mit seiner Erfahrung des Okkulten in Verbindung zu bringen, so nachdrücklich diese ‚Erlebnisse‘ ihn auch beschäftigt haben. Es heißt unsere Ausführungen hierzu nicht ungebührlich mit Theorie zu überfrachten, wenn wir eine grundsätzliche Überlegung der Frage nach dem Medium vorausschicken. Als die ästhetische Theorie in Gestalt der literarischen Praxis die dem sogenannten Realismus zugeordnete Repräsentationskunst zu verwerfen und durch eine an der Impression, Expression und symbolischen Verdichtung orientierte Schreibweise abzulösen begann, brach sich eine andere Form der Repräsentation Bahn, eben die mediale Selbstdarstellung des Künstlers. Konsens ist längst, dass Thomas Manns Werke mit dem Begriff des (Post-)Realismus nicht hinreichend zu fassen sind. Das Spiel mit der Wirklichkeit des eigenen Ichs trat an dessen Stelle in diversen Akten vorgetäuschter authentischer Rollenspiele, sei es als „letzter Bürger“, Statthalter kulturkonservativer Wer63 Vgl. zum Kontext u. a. Gísli Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkulte Modernität bei Rainer Maria Rilke. Würzburg 2009; darin vor allem das Kapitel 5.3: „Exkurs über Thomas Manns ‚Okkulte Erlebnisse‘ bei Schrenck-Notzing“, S. 136–143. 64 Zit. nach dem Kommentar von Inge Jens in: Thomas Mann, Tagebücher 1953–1955, S. 583 f.

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te, Herold demokratischen Bewusstseins mit romantischen Anklängen, wissenschaftskundiger Erzähler, Remythisierer oder Repräsentant Goethes in barbarischer Zeit. Auch sein Interesse an okkulten Zuständen, das bis in den Zauberberg deutliche Spuren hinterlassen hatte, gehört in dieses Register eines Experimentierens mit Ausdrucksformen. Dieses Interesse brachte ihn bis an den Rand des Surrealen, ohne dass ihm daraus ein vertieftes Interesse an den ästhetischen Verfahren des Surrealismus erwachsen wäre. So weit schrieb die von fremder losgelöster Hand geführte Kreide bei ihm denn doch nicht. Es fällt entsprechend auf, dass zur Darstellung der „okkulten Erlebnisse“ keine „écriture automatique“ gehört; das erzählende Ich bleibt auch unter dem Eindruck des Spukhaften dominant, gibt das Heft nicht aus der Hand, stellt Souveränität unter Beweis. Dieses Ich ist fiktiv und auch nicht, kann als Maske Thomas Manns gelten und als authentisch erlebende Person. Es ist eine Szene wie im Theater: Das Ich als Zuschauer, involviert in das, was sich vor seinen Augen auf dunkler Bühne abspielt, und zugleich dazu auf Distanz gehend. Der Raum, in dem sich Okkultes ereignet oder ereignen soll, gleicht einer Dunkelkammer, in der sich buchstäblich unvermutete Bilder wie Photographien entwickeln, wobei sie auch ihrerseits, wie bereits bemerkt, Gegenstand von Aufnahmen wurden. Okkultismus sei experimentell gewordene Metaphysik, befindet Thomas Mann in seinen theoretischen Überlegungen, die er auffälligerweise der Erzählung seiner einschlägigen Münchener Erlebnisse im Hause von Schrenck-Notzing vorschaltete. Sie laufen auf eine – man glaubt: augenzwinkernde – Apologie des Okkulten hinaus, weil es, so seine These, der exakten Naturwissenschaft durchaus gut anstehe, sich über jene Berührungspunkte mit dem Meta-Physischen Rechenschaft abzulegen. Dem Medium schreibt er sogar eine prinzipielle Bedeutung zu; sie erscheint ihm als eine Art Lehre: Denn im Mediumismus und Somnambulismus, der Quelle der okkulten Phänomene, mischt sich das Geheimnis des organischen Lebens mit den übersinnlichen Geheimnissen, und diese Mischung ist trüb. Hier nämlich handelt es sich nicht länger um Geist, Niveau, Geschmack, um nichts in Kühnheit Schönes; hier ist Natur im Spiel, und das ist ein unreines, skurriles, boshaftes und dämonisch-zweideutiges Element […]. (X, 139; m. Hervorh.)

Das Okkulte als „Mediumismus“ grenzt Thomas Mann freilich von intellektueller Metaphysik ebenso ab wie von einer sich selbst transzendierenden Kunst; Beispiel für Ersteres ist ihm Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung, wogegen Wagners Tristan und Isolde für ihn das opus metaphysicum schlechthin darstellte. Er grenzt beide Zugänge zum Metaphysischen vom Okkultismus ab, den SchrenckNotzing durch Untersuchungen zum Phänomen der Materialisation okkulter Vorgänge angereichert oder – je nach Standpunkt – in weiteren Verruf gebracht hatte. Aufschlussreich nun ist die historisch begründete differenzierte Wahrnehmung

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von Schrenck-Notzings Thesen, auf die Thomas Mann verweist. Der Weltkrieg hatte einen „soviel Ungeahntes hinnehmen, so krasse Dinge“ erleben lassen, so Thomas Mann, dass nach 1918 okkulten Phänomenen deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde – wie übrigens auch im Angelsächsischen, in den Vereinigten Staaten zumal, und in Frankreich, wo Schrenck-Notzing bereitwilliger rezipiert wurde, ein Umstand, den Thomas Mann durchaus skeptisch sah. Ob Telepathie, Wahrtraum oder Zweites Gesicht – für den Schriftsteller und Kulturkritiker Thomas Mann war das Okkulte allein schon deswegen von Interesse, weil es zum Problembereich der ‚zweiten Wirklichkeit‘ gehört, die mit der Kunst eine zumindest mittelbare Verwandtschaft pflegt. Nun ist es für unseren Themenzusammenhang von besonderer Bedeutung, dass er seinen novellistischen Essay, die eigentlichen „Erlebnisse“ betreffend, mit einer dezidiert visuell ausgerichteten Konstellation beginnt. Ein namenloser „Herr, Künstler, Maler, Zeichner, von einem humoristischen Blatt beauftragt, meine Karikatur zu zeichnen“, erweist sich, wenn nicht als Medium, so doch als Mittler zwischen der Welt des Schriftstellers und jener Schrenck-Notzings. Bezeichnend nun ist der Umstand, dass das Gespräch zwischen Thomas Mann – oder sagen wir auch hier vorsichtiger: dem Ich der Okkulten Erlebnisse – und dem Karikaturisten überhaupt auf den „Herrn von Schrenck-Notzing“ kam, während er „mir eine schiefe Nase zeichnete“ und überhaupt mich „mit dem Stift verspottete“ (X, 143). Es ist der Karikaturist, der Bescheid weiß über das, was im Hause von Schrenck-Notzing vorgeht und dass dort ein „neues Medium“ zugange sei, „ein junger Mensch, ein halber Knabe, Willi S. mit Namen, Zahntechniker seines Zeichens und dabei ein physikalischer Tausendsassa, mit dem Schrenck ganz tolle Erscheinungen zeitige.“ (X, 143) Das bedeutet zum einen, dass das okkulte Medium seinerseits ein Mehrfachtalent sei; zum anderen spricht diese Ausgangskonstellation dafür, dass wir das Folgende auch unter den Voraussetzungen des Karikaturistischen, also des ironisch bis satirisch Verzerrten zu sehen haben. Gerade weil dieser „Tausendsassa“ sich in der Physik auskenne, soll seine paraphysikalische Vermittlungsleistung an Glaubwürdigkeit gewinnen. Das Ich des Textes fährt nun gemeinsam mit dem Satiriker mit der Tram zur Séance, wo sich die „naturwissenschaftlich-medizinischen“ Teilnehmer mit den „laienhaft-geistigen“ der Schwabinger Bohème die Waage halten. Dieses Ich versteht sich als ein „positiver Skeptiker“, das gekommen war, „um zu sehen, […] was zu sehen sein würde“ – etwas „zwischen Betrug und Wirklichkeit“, vielleicht „eine Art Naturbetrug, die ebensogut als Realität anzusprechen“ wäre. (alle Zitate X, 145) Der positive Skeptizismus des essayisierenden Ich-Erzählers führt ihn ohnedies zu der Annahme, dass „Betrug und Wirklichkeit“ – trotz aller nuancierenden Zwischenstufen – womöglich zusammenfallen und „eins waren“. Wie auch immer, visuelle Phänomene spielen hier die Hauptrolle, das Sehen des gewöhnlich Unsichtbaren, die wechselnden Per-

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spektiven auf das Medium und die vom Medium generierten Perspektivismen. Auffällig auch der Vergleich der Örtlichkeit des okkulten Geschehens mit der Künstlichkeit eines „photographischen Ateliers“, einem Ort, der, wie erwähnt, für den Selbstdarstellungsdrang Thomas Manns in jener Zeit gleichfalls an kritischer Bedeutung gewonnen hatte. Was sagt der Text damit aus? Dass die Porträtaufnahme in gewisser Hinsicht mit dem Bild eines okkulten Phantomphänomens vergleichbar sei? Dass die Plausibilität, im Porträt den wahren Charakter abgebildet zu haben, nicht minder trügerisch sei als der Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt eines Phantombildes oder einer gestellten Atelieraufnahme? Im ersten der drei dem Erzählessay vorausgehenden Berichte, offenbar unmittelbar nach dem Erlebnis okkulter Sitzungen entstanden, finden sich zwei Elemente vermerkt, die in der Erzählung deutlich abgeschwächt in Erscheinung treten: Einmal die „Rotdunkelheit“ (X, 153), gewissermaßen das Rotlichtmilieu, das den „kontrollierten Trancezustand des Mediums“ fördert, und sodann der Verweis auf das Erschütternde im Medium, das die plötzliche Verbindung von Organischem und Mystischem bewirkt habe, einem „Gebärakt“ (X, 153) und einer Erektion gleich. Von „psychophysischer Energie“ und „Arbeit“ ist hierbei im Bericht die Rede (X, 169), in der Erzählung sogar unüberhörbar kritisch von einer „psychischen“ Abrichtung des Mediums durch den Veranstalter Schrenck-Notzing. Die sexuellen Konnotationen sind in der Erzählung auf ein den Trance-Zustand signalisierendes „Krampfzittern“ (X, 150) reduziert. Die Betonung der Versatilität und Variabilität (in) der medialen Erfahrung und ihrer primär visuellen Komponenten liest sich wie ein Vorgriff auf unser pluralistisches Verständnis von Inter-Medialität, das übrigens bei Samuel Taylor Coleridge und dessen Begriff des „intermedium“ seinen Ursprung hat. Für Coleridge bezeichnet das „intermedium“ das allegorische Erzählen.65 Und es wird auch im Hinblick auf Thomas Manns Okkultes Erlebnis zu fragen sein, inwiefern hier visuell-allegorische Intentionen beim Gestalten dieses Textes mitwirkten beziehungsweise erkennbar sind. In der Essayerzählung erfahren wir im Gegensatz zu den drei Berichten, dass das Medium „unaufhörlich“ nach Musik verlange, was offenbar „Stimmungsbedürfnis“ und „Produktionsbedingung“ sei, gleich ob sie durch eine Handharmonika erzeugt und vermittelt sei oder durch eine Spieldose, also durch betont primitive musikalische Medien. Hinzu kommt der Befund, dass während der Trance das Medium Willi S. sich in „zwei symbolische Personen“ spaltete, „eine männliche 65 Vgl. dazu u. a.: Volker Roloff, Intermedialität als neues Forschungsparadigma der Allgemeinen Literaturwissenschaft. In: Carsten Zelle (Hrsg.), Allgemeine Literaturwissenschaft. Konturen und Profile des Pluralismus. Opladen 1999, S. 115–127; hier: S. 120.

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und eine weibliche“, Erwin und Minna mit Namen. Damit sind nun nicht nur die Versuchsanordnung und die atmosphärischen Voraussetzungen für okkultistische Hervorbringungen gegeben und benannt, sondern für künstlerische Produktion überhaupt. Übrigens gebot der Ernst der Sache offenbar dann doch, dass der begleitende Satiriker oder Karikaturist seine die ganze Situation ironisierende Funktion einbüßte und für den verbleibenden Großteil der essayistischen Erzählung verschwindet. Bevor hier des Weiteren noch das Problem der ästhetischen Funktion von Okkulte Erlebnisse aufzuwerfen ist, steht die Antwort des Ich-Erzählers auf die Frage „Was habe ich denn nun also gesehen?“ in Rede. Er hatte sich immerhin „unbestochene Augen“ zugeschrieben und damit einen unvoreingenommenen und unverfälschten Blick auf die für den bloßen Verstand ‚unerhörten Begebenheiten‘. Gesehen hatte dieses Ich das Paradoxe schlechthin, das in sich Widersprüchliche, letztlich mit der Ratio Unvereinbare. Somit sah es, dass es etwas neben der Ratio geben müsse, gleichberechtigt mit dieser, aber diametral anders geartet, ein Arsenal, ja Medium von Phänomenen, in dem sich zumeist die Kunst der Ambiguität des Visuellen bedient. Der Erzähler erläutert: Das Wesen der geschilderten Erscheinungen bringt es mit sich, daß auch dem, der mit Augen sah, der Gedanke an Betrug, besonders nachträglich, sich immer wieder aufdrängt; und immer wieder wird er durch das Zeugnis der Sinne, durch die Besinnung auf seine ausgemachte Unmöglichkeit widerlegt und ausgeschaltet. (X, 166)

Das, was das Medium an „Erscheinungen“ hervorgerufen hat, erweist sich als Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung; ihr „Zeugnis“ ist notwendig mehrgestaltig und letztlich Ausgangspunkt für inter-mediales Gestalten in der heutigen Bedeutung des Wortes. Denn bei der Intermedialität und ästhetischen Hybridisierung handelt es sich, wie bekannt, primär um sinnlich begründete Funktionen mit einer entsprechenden Wirkungsweise. Wahrnehmungskritische Vernunfturteile tendieren dagegen eher zu kategorisierendem oder schematisierendem Vorgehen. Um zu vermitteln, was der nicht länger von seinem Begleiter karikierte oder satirisierte Erzähler das Medium an Ungeheuerlichkeiten vermitteln sah, bemüht er sich nun um eine eigenständige Begriffsbildung, die ihnen gerecht werden soll. Das Naheliegende formuliert er zuerst und bezeichnet das Gesehene als eine „okkulte Gaukelei des organischen Lebens“, ein Etwas „zwischen Betrug und Wirklichkeit“. Eine alternative Bezeichnung zur „okkulten Gaukelei“ (X, 167) bietet er auch an und spricht– unglücklich genug, wenn man an die spätere Verwendung des Begriffs im nazistischen Vokabular denkt – von: „untermenschlich-tiefverworrenen Komplexen“ (X, 167), die „zugleich primitiv und kompliziert“ (X, 167) seien. Im folgenden Abschnitt bedient er sich des „technischen Vokabulars“ der Wissen-

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schaft, spricht von „telekinetischen Phänomenen“ (X, 169), „okkulten Naturphänomenen der Materialisation“ und von der „transitorischen Organisation von Energie außerhalb des medialen Organismus, der Exteriorisation.“ (X, 167) Das sich selbst aufhebende Taschentuch, der erscheinende Armstumpf, das Schwingen der Tischglocke, das scheinbar ursachenlose Bedienen einer Schreibmaschine, sie gehen, so der erzählende Essayist, vom „exteriorisierten Medium selber“ aus. Was nun folgt, gleicht einer Parodie wissenschaftlichen Erklärens mit pseudo-rationalen Sprachmitteln: Ganz unbelehrterweise und auf eigene Hand habe ich mir die telekinetischen Vorgänge als magisch objektivierte Traumvorstellungen des Mediums gedeutet. Die gelehrte Literatur gibt mir Recht, indem sie mit einer ehrfurchtgebietenden Häufung von Kunstausdrücken erklärt, die Idee des Phänomens, lebendig im somnambulen Unterbewußtsein, mit dem sich übrigens dasjenige der sonst Anwesenden vermische, werde mit Hilfe psychophysischer Energie „durch eine biopsychische Projektion ektoplastisch auf eine gewisse Entfernung hin umgesetzt und ausgeprägt, das heißt objektiviert.“ (X, 169)

Der hier betriebene Begriffsaufwand ist beträchtlich; sein Erklärungswert jedoch begrenzt, wenn überhaupt vorhanden. Um so erstaunlicher der Abspann, der Schlussabschnitt, der mit einem emphatischen „Nein“ einsetzt, eine Verneinung freilich, die eine Bejahung enthält – ganz im Sinne der Ambivalenzen dieser ‚okkulten Erlebnisse‘. Zunächst verkündet der Ich-Erzähler, das Haus von SchrenckNotzing nicht mehr aufzusuchen, denn: „Ich liebe das, was ich die sittliche Ordnung nannte, ich liebe das menschliche Gedicht [sic], den klaren und humanen Gedanken. Ich verabscheue die Hirnverrenkung und den geistigen Pfuhl.“ (X, 171) Dann erfolgt die Abschwächung: Das eine oder andere Mal würde er sich doch noch mal zu Schrenck-Notzing begeben, um dann zu präzisieren: „zwei- oder dreimal, nicht öfter“. Er mochte dieses Okkulte eben doch noch einmal sehen, dabei einsehen, dass es zu nichts führe „und mir das Ganze für immerdar aus dem Sinne schlagen“. Die weitere Eingrenzung und der Selbstwiderspruch folgen auf dem Fuße: „Ich will auch nicht zwei- oder dreimal noch dorthin gehen, sondern nur einmal, nur noch ein einziges Mal, und dann nie wieder.“ (X, 171) Man begreift an dieser Stelle, weshalb Thomas Mann Jahre später gerade diese Schrift im Zusammenhang mit der Mescalin-Verherrlichung durch Huxley in den Sinn kommen sollte, denn im Grund beschreibt sein Erzähler hier den Beginn einer Abhängigkeit. Die „okkulten Erlebnisse“ haben das Zeug, zur Droge zu werden. Geschildert wird der scheiternde Versuch einer Entwöhnung. Er, der mit dem Begriff der Gaukelei glaubte, die mit eigenen Augen gesehenen okkulten Phänomene benannt und damit gebannt zu haben, gaukelt nun sich selbst etwas vor. Denn abschließend befindet er:

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Ich will nichts weiter, als einmal noch das Taschentuch vor meinen Augen ins Rotlicht aufsteigen sehen. Das ist mir ins Blut gegangen, ich kann’s nicht vergessen. Noch einmal möchte ich, gereckten Halses, die Magennerven angerührt von Absurdität, das Unmögliche sehen, das dennoch – geschieht. (X, 171)

Nach den letzten Zitaten fragt man mit dem Ich-Erzählessayisten weniger: „Was habe ich denn nun also gesehen?“ Eher lautet die Frage: Hat er sich versehen – in der Bedeutung von ‚falsch gesehen‘ und ‚sich versehen‘ mit einer angemessenen Begrifflichkeit nämlich, um dieser Erfahrungen, dem eigentlichen Sehen und dem davon Abhängig-Werden, gerecht zu werden? Dieses „Noch-einmal-Versuchen-Wollen“ oder es sich erfolglos verbieten, es nimmt die Situation vorweg, in der sich der Erzähler in Mario und der Zauberer befindet, als er sich fragt, weshalb er diesem zweifelhaften Zauberei-Schauspiel, einer magischen „Demonstration der Willensentziehung und -aufnötigung“, weiter zuschaut (VIII, 696), sich ihm und dieser „trunkenen Auflösung der kritischen Widerstände“ gegen das Dargebotene (VIII, 700) wieder und wieder glaubt, aussetzen zu müssen. Beschrieben wird hierbei im Grunde eine Suchterfahrung, ein SüchtigWerden nach dem so ganz Anderen, das man aber doch auch zur eigenen Verblüffung, wenn nicht gar Befremden als etwas wahrnimmt, das in einem Resonanz findet.

Psychophysik, Ideoplastik oder: Mediale Konstruktionen als poetologische Allegorese Das Visuelle beim Wort nehmen – das bedeutet zu fragen: Was haben wir verstanden, wenn wir begreifen, was es ist, das dieses Ich „denn nun gesehen“ hat? Es dürfte einen besonderen Grund gehabt haben, dass Thomas Mann gerade diese abseitige bis abstruse Erfahrung mehrgestaltig aufarbeitete – eben in Form dreier Berichte und der späteren Essayerzählung – und dass er sie zuletzt noch in seine große geistige Bilanz, den Essayband Altes und Neues, aufnahm. Es ist nämlich durchaus vorstellbar und sogar wahrscheinlich, dass ihm erst im Nachhinein – wenn überhaupt – bewusst wurde, wie enthüllend er den künstlerischen Arbeitsprozess durch die Beschreibung dieser dunklen Phänomene dargestellt hatte. Mit Okkulte Erlebnisse war ihm nämlich mehr als nur eine Luxusgabe für verblichene Operettendiven gelungen, eben nichts weniger als eine veritable poetologische Allegorese. Ihre Konturen und ihren Gehalt zu klären, das sei nun noch versucht. Denn indem diese Texte den Grenzbereich von pararationalen Phänomenen und unverhofften Einflüssen verhandeln, thematisieren sie das Problem der Inspiration wie den Prozess des künstlerischen Schaffens selbst und gleichzeitig eine

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zeittypische gesellschaftliche Praxis, die den politischen Irrationalismus fahrlässig ideologisierte. Zwar ist das in Okkulte Erlebnisse geschilderte Medium keineswegs mit ‚dem Künstler‘ gleichzusetzen, schon deswegen nicht, weil es während der geschilderten Vorgänge passiv bleibt. Seine ‚Leistung‘ besteht im Anziehen psychophysikalischer Kräfte, die dann bestimmte optische Wirkungen zeitigen. Im künstlerischen Akt dagegen finden allseitige Aktivierungen diverser werkorientierter Potenziale statt. „Gaukelei“, „Trug“ und „Zweideutigkeit“ erweisen sich dabei als Formfunktionen. Das „Ideoplastische“, das in der Séance – durch das Medium vermittelt – buchstäblich figuriert, erweist sich im künstlerischen Schaffensprozess als gestaltete und damit ästhetisch wirksame ‚zweite Wirklichkeit‘, eben jene des Kunstwerks. Wenn sich das Taschentuch im Rotlicht wie von unsichtbarer Hand hebt oder einzelne Gliedmaßen ohne organischen Zusammenhang sichtbar werden, dann beschreibt Thomas Manns halb enthusiasmierter, halb skeptisierter Erzähler hier einen Vorgang, dem im Kunstwerk die evokative Imaginativität bestimmter Bilder entspricht. Wenn im Kapitel „Erfüllung“ in Königliche Hoheit, Thomas Manns anachronistischem „Lustspiel“ oder Kunstspiel in Prosa,66 der Erzähler zu berichten weiß: „Damals schwebte alles in der Luft, und niemand dachte etwas zu Ende“, dann ist damit ein Zustand bezeichnet, der einem Vakuum gleicht, in dem sich Phantome jeder Art bilden können. Bei Thomas Mann kann sich dies auch in diskursiven Zusammenhängen zutragen. In den Betrachtungen eines Unpolitischen erinnert er („Einkehr“) seine juvenile Lektüre von Schopenhauers „Zaubertrank“ einer Metaphysik, deren „tiefstes Wesen Erotik“ sei, Die Welt als Wille und Vorstellung, und das „tagelang hingestreckt auf ein sonderbar geformtes Langfauteuil oder Kanapee“. Wesentlich hierbei ist, dass „zwei Schritte von meinem Kanapee“ das „anschwellende Manuskript“ der Buddenbrooks lag, Zeugnis künstlerischer Produktion also, kein Phantom und schon gar kein von selbst aufsteigendes Taschentuch im Vakuum meta- oder paraphysischer Spekulation war, sondern das greifbare Bild von „Last, Würde, Heimat und Segen jenes seltsamen Jünglingsalters“. Das eine verschleift sich mit dem anderen, eine quasi-erotische Erfahrung für den Schriftsteller, nicht in der Scheinwelt des Rotlichts, aber verbunden mit der „geistigen Quelle der Tristan-Musik“ Wagners. Was hier Blüten treibt, aber keine solchen des Stils, ist die Imagination. Und was den Schaffensprozess angeht, so sind diverse Analogien zu Thomas Manns eigenem Verfahren unüberseh- und unüberhörbar. Da ist die den medialen Akt begleitende Präsenz der Musik, die Aufspaltung des Mediums in weibliche und 66 Brief an Kurt Martens v. 7.III.1910. In: Thomas Mann, Briefe an Kurt Martens II: 1908–1935. Hrsg. v. Hans Wysling unter Mitwirkung von Thomas Sprecher. Thomas Mann Jahrbuch 4 (1991), S. 185–260, hier: S. 190.

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männliche Komponenten, was von einer inhärenten Androgynität dieses Mediums, der Medien überhaupt und eben des Künstlers an sich zeugt. Auch dass der satirische Künstler und Karikaturist im Laufe der Erzählung verschwindet, deutet darauf hin, dass er in den essayistischen Erzähler eingegangen, ja in ihm aufgegangen ist, wobei offenbar das Satirische in ihm zum subtil Ironischen mutierte. Und genau diese Ironie kommt am Ende zum Vorschein, als der Erzähler, wie gesehen, mit sich verhandelt, ob überhaupt und wenn ja, wie oft er zum Ort des okkulten Geschehens zurückkehren soll. Doch dieses okkulte Erleben beschreibt demnach verdeckt eine durch und durch ästhetische, aber missbrauchsanfällige Erfahrung. Dazu gehört nicht minder, dass das dem Raum des Geschehens angegliederte Laboratorium, in dem das Okkulte wissenschaftlich verifiziert werden soll, einem photographischen Atelier gleicht, einem Ort eines zweifelhaften, in Verruf geratenen Kunstmediums also, mit dem Thomas Mann hinreichend in eigener Selbstdarstellungssache vertraut war. Denn sein Interesse am Porträt, ob gezeichnet, gemalt oder photographiert, machte für ihn auch aus seinem Selbst eine visuell-ästhetische Erfahrung.67 Die von ihm bekannt gewordenen Porträtaufnahmen haben etwas von einer Biographie in Photographien. Eine solche AufnahmeInszenierung integrierte er sogar in seinen „Roman über einen Roman“, Die Entstehung des Doktor Faustus. Sein Bericht über diesen Ablichtungsvorgang ist zu bedeutsam, um ihn hier nicht vollständig zu zitieren, es handelt sich um Aufnahmen, die der kanadische Meisterphotograph Yousuf Karsh in Pacific Palisades von ihm machte: Mit großem Apparat, der wiederholt Kurzschluß verursachte, arbeitete er beinahe zwei Stunden lang mit mir an einer Serie von Aufnahmen, von denen einige an glücklich abgefangener ‚Ähnlichkeit‘ und plastischer Lichtwirkung wirklich das Vollendetste darstellen, was ich nicht nur von eigenen Bildern, sondern überhaupt je gesehen habe. Nur schade, daß ich gerade damals als Modell in so schlechter Form war und die sonst unvergleichlichen Porträts eine Bläßlichkeit der Züge und spitze ‚Vergeistigung‘ zeigen, die wenig Authentisches hat. (XI, 252)

Unmittelbar darauf der medial-funktionale Kontrast: „Photographische Experimente eindringlicherer Art, Röntgen-Aufnahmen meiner Lunge, hatten einen ‚Schatten‘ irgendwo an diesem Organ zum Vorschein gebracht, von dem der Doktor meinte, daß man gut täte, ihn weiter zu beobachten.“ (XI, 252 f.) Übrigens begegnete die „spitze Vergeistigung“ auch in der „Nachschrift“ Serenus Zeitbloms zu seiner Biographie von Adrian Leverkühn, Doktor Faustus. Darin vergleicht Zeitblom das „verschmälerte Gesicht“ seines im Sterben liegenden Freundes mit einem Gemälde von Greco. Er kommentiert: „Welch ein höhnisches 67 Vgl. Görner / Latifi, Thomas Mann.

Psychophysik, Ideoplastik oder: Mediale Konstruktionen als poetologische Allegorese



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Spiel der Natur, so möchte man sagen, daß sie das Bild höchster Vergeistigung erzeugen mag dort, wo der Geist entwichen ist“. (VI, 675) Was hier vorliegt, ist ein subtiler Paradigmen-, Szenen- und Medienwechsel: eine Rückübertragung Thomas Manns der Schilderung von Leverkühns Physiognomie des Leidens auf sich selbst, ahnungsvoll als ein Todeszeichen gedeutet, wobei dem Photographen Greco’sche Meisterschaft in seinem Medium implizit zugeschrieben wird – ein eindrucksvoller Fall von inneren Beziehungsverhältnissen zwischen Werk und Urheber.

III Das Ich im Bild vom Anderen. Goethe-Spiegelungen „Ich habe Thomas Manns Über den Wassern Schweben nie gemocht. Ein Goethe ist er nicht.“ Joseph Roth an Stefan Zweig am 31. August 1933

Vorblick Zur (bild-)künstlerischen Praxis gehört der Umgang mit Spiegeln. Diese Darstellung in Form eines spiegelerzeugten Bildes im Bild kann für eine solche Praxis allegorischen Wert beanspruchen:

Abb.: Wilhelm Bendz, Ein junger Künstler (Ditlev Blunck), eine Skizze in einem Spiegel betrachtend (1826)

Was ein Künstler im Spiegel prüfend sieht: sich und sein Werk, in dieser Reihenfolge; er als kunstschaffendes Subjekt wirkt prominenter als sein Gegenstand, der marginalisiert erscheint, zudem noch in melancholisch-emblematische TotenkopfNähe gerückt. Im Prinzip ist diese prüfende Spiegelung ein unter Künstlern nicht unübliches Verfahren, geeignet, um festzustellen, ob die Gleichgewichtung der Bildmotive erreicht wurde. Hier jedoch bestätigt es die Dezentrierung des vom gespiegelten Künstler gemalten Objekts. Dieses perspektivenreiche Gemälde nun behttps://doi.org/10.1515/9783110734508-004

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steht in ikonologischer Hinsicht aus einer zentralen Darstellungsfolge: Auf der nach dem Schaffensakt leeren Staffelei hängt noch die verhältnismäßig große Vorlage-Skizze, die dem kleinen Porträtgemälde zugrunde liegt; der Spiegel verschafft der Szene eine zusätzliche Dimensionierung. Wer hier im Mittelpunkt sein soll, darüber lässt diese Bildkomposition keinerlei Zweifel: der Künstler, er spiegelt sich, um reflektiert – also mittelbar – sich dem Blick des Betrachters zu stellen. Es ist ein optisches Experiment oder Spiel, das für die Selbstprüfung des Geschaffenen ohne Notwendigkeit ist. Bei diesem Gemälde, das ikonographisch vorwegnimmt, wovon nachfolgend in literarisch-analogem Zusammenhang die Rede sein soll, handelt es sich um eine 1826 entstandene Arbeit des dänischen Künstlers Wilhelm Bendz mit dem Titel Ein junger Künstler (Ditlev Blunck), eine Skizze in einem Spiegel betrachtend (1826). Im kulturgeschichtlichen Kontext ließe es sich als Bildparodie auf die romantische Reflexionsobsession werten; als Sinnbild ästhetischer Selbstdeutung und -Projektion weist es auf den modernen Künstler-Habitus voraus. Zu exemplifizieren ist dieses Phänomen nachfolgend am Beispiel des wiederholten, wenn nicht gar vielfachen Spiegelns Thomas Manns in Goethe.

Vor-Bildungen mit Goethe Im Phänomen der „wiederholten Spiegelungen“, einem der Entoptik entlehnten Symbol, sah Goethe ein Prinzip veranschaulicht, das sich im Hinblick auf die persönliche Erinnerung ebenso anwenden ließ wie auf Erscheinungen „in der Geschichte der Künste und Wissenschaften“. Ihre Musen, Kalliope und Klio, visualisieren sich somit unter dem Matronat Mnemosynes im Farbenspiel aufeinander bezogener Spiegelungen. Neun Folgerungen zieht Goethe in seiner Schrift zu den „wiederholten Spiegelungen“ analog zu den neun Musen aus diesem von ihm selbst ausführlich beschriebenen optischen Sachverhalt. Es besagt, dass in durchsichtigen Körpern durch Spiegelungen im Wechsel Farben sichtbar werden. Wie sonst nur im Bezug auf die ‚Urpflanze‘ in der Morphologie sah Goethe in diesem Spiegelungsvorgang und seiner Illusionserzeugung ein Phänomen von universellsymbolischer Bedeutung. Zwei dieser Folgerungen haben für unser Thema des sich primär in und an Goethe spiegelnden Thomas Mann weitreichende Bedeutung: 1. „(4) Dieses Nachbild strahlt nach allen Seiten in die Welt aus, und ein schönes, edles Gemüt mag an dieser Erscheinung, als wäre sie Wirklichkeit, sich entzücken und empfängt davon einen tiefen Eindruck.“

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2.

III Das Ich im Bild vom Anderen. Goethe-Spiegelungen

„(5) Hieraus entfaltet sich ein Trieb, alles, was von Vergangenheit noch herauszuzaubern wäre, zu verwirklichen.“68

Goethes Reflexion liegt eine autobiographische Erfahrung zugrunde, die ihm gewissermaßen zugetragen wurde, und zwar von einem gewissen August Ferdinand Naeke, klassischer Philologie und Rhetor an der Universität Bonn, der im Herbst 1822 eine „Wallfahrt nach Sessenheim“ im Elsass unternahm, auf den Spuren Goethes und Friederike Brions und damit auch auf jenen des Jakob Reinhold Michael Lenz. Darüber hatte er ein Memorial verfasst, das er Goethe zuschickte, worauf dieser Ende Januar 1823 mit besagten Reflexionen zu den „wiederholten Spiegelungen“ reagierte. Varnhagen von Ense, der emsigste biographische Publizist der späten Romantik und des Vormärz, sollte diesen Text Naekes dann 1840, zwei Jahre nach dessen Tod, als Zeugnis eines besonders gelungenen biographischen Fragments herausgeben.69 Goethe erinnert durch diesen Text-Spiegel seine Sessenheimer Idylle neu, holt sie in seine Gegenwart zurück, reflektiert sie in seiner gleichfalls spiegelhaften Erinnerung und gewinnt ihr damit schillernde Färbungen ab, die das „Nachbild“ dieser Zeit gleichsam kolorieren. Bezeichnend ist, dass er mit dem Ausdruck ‚etwas aus der Vergangenheit herauszaubern‘ das Illusionäre oder doch nur bedingt Reale dieses spiegelnden Vorgangs betont, dabei aber auf dessen symbolischer Bedeutung für weitere, das eigene Erleben transzendierende Kontexte beharrt. Das wiederum gehört zu dem Sich-selbst-Symbolisch-Werden, das Goethes Spätzeit prägen sollte. So unterschiedlich auch die Voraussetzungen waren, Thomas Manns Bedürfnis nach Selbstspiegelung erwies sich in mancher Hinsicht als verwandt mit Goethes optisch-poetischem Verfahren wiederholten Spiegelns. Bei Thomas Mann zeigte sich bereits früh eine eigentümliche Aufstellung solcher Spiegel. Die in ihm überdeutlich angelegte narzisstische Prägung verlagerte er wiederholend auf andere literarische Größen, an denen er Maß nahm und in denen er Wahlverwandte zu erkennen glaubte oder sie zu solchen erklärte. Das hatte mit seinem Anspruch auf Deutungshoheit zu tun, was seine Sicht dieser Anderen anging und durch sie mittelbar auf sich selbst. Thomas Mann erklärte sich sozusagen sein Selbst durch die Art, wie er mit diesen Wahlverwandten umging. Die Summe seiner essayisti-

68 In: J. W. v. Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12: Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen. Hrsg. v. Erich Trunz. München 1988, S. 322–323, hier: S. 232 (= HA XII, 232). 69 August Ferdinand Naeke, Wallfahrt nach Sessenheim. Hrsg. von Karl August Varnhagen v. Ense. Berlin 1840. Neuausgabe unter dem Titel: Wallfahrt nach Sessenheim. Die ersten Nachforschungen über das Liebesidyll von Goethe und Friederike. Hrsg. und eingeleitet von Klaus H. Fischer. Schutterwald/Baden 2008.

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schen Porträts, so die These dieser Überlegungen, ergab einen erheblichen Teil seines Selbstbildes. Hier liegt denn auch ein maßgeblicher Unterschied zu Goethes Verfahren. Große Porträtessays von Goethes Hand gibt es nicht – mit Ausnahme seiner Arbeit über Winckelmann. Sein Vermögen, literarisch zu porträtieren, verwandte er auf sich selbst; es kam Dichtung und Wahrheit zugute. Und so wie er mit Dichtung und Wahrheit im deutschsprachigen Umfeld die paradigmatische Autobiographie schlechthin vorgelegt hatte – analog zu dem Bildungsroman, nämlich Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre –, präsentierte Thomas Mann die großen Musterfälle porträthafter Essayistik. Dieses Sich-im-Anderen-Sehen und -Erkennen, dieser Vorgang einer mittelbaren Spiegelung, die gleichzeitig der Selbstprojektion diente, führte Thomas Mann konsistent durch seine variantenreichen Goethe-Porträts vor. Sie beginnen mit seinem Doppelporträt Goethe und Tolstoi (1921), konkretisieren sich in seinem Versuch über Die Wahlverwandtschaften (1925), demonstrieren Goethes weltliterarische Mission, die auch zu der seinen geworden war, in der „An die japanische Jugend“ gerichteten „Goethe-Studie“ (1932), feierten ihn in politikästhetischer Absicht in den zwei großen Versuchen im Goethe-Gedenkjahr 1932 als Repräsentanten des bürgerlichen Zeitalters sowie seine „Laufbahn als Schriftsteller“ (beide 1932), formulierten im amerikanischen Exil vorstudienhafte Gedanken zu Goethes Faust (1939), die dann Eingang in seinen Roman Doktor Faustus fanden, nahmen 1941 zu Goethes Werther Stellung, warteten ein Jahr nach der Veröffentlichung von Doktor Faustus mit einer Phantasie über Goethe auf (1948), bedienten in einem neuerlichen Goethe-Jahr in Fortsetzung der Überlegungen zu Goethes Verhältnis zum bürgerlichen Zeitalter den Zeitgeist in dem Vortrag Goethe und die Demokratie (1949), hinzu kommen gewichtige Miszellen, ein Rückblick auf seine Goethereise von 1932, im selben Jahr in Paris vorgetragene Ausführungen zu Gegensätzen bei Goethe, nebst der Ansprache im Goethejahr 1949. Und mitten aus diesem reflektierenden Porträtierungsbedürfnis ragt der Roman Lotte in Weimar (1939), das wohl raffinierteste Beispiel für Thomas Manns erzählerische Porträtierkunst. Dabei bleibt noch eine weitere bedeutende Goethe-Verwandlung unberücksichtigt: jene im Tod in Venedig, handelt es sich doch bei Gustav von Aschenbach um eine erzählerisch transmutierende Fusion des letztmalig liebenden Goethe mit Gustav Mahler und ihm, Thomas Mann, selbst. Wie so oft bei Thomas Mann verraten die kleineren Texte wesentliche atmosphärische Details, so die insgesamt etwas betuliche, unverhüllt selbstzentrierte Rede vor den Münchener Rotariern, mit der er Bilanz seiner Auftritte im GoetheJahr 1932 zog. Sie ist nur wegen zweier Details erwähnenswert, die aber ins Gewicht fallen. Bevor er in Berlin vor der Preußischen Akademie der Künste am Pariser Platz seinen Vortrag über Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters

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hält, wird er zu Filmaufnahmen gebeten. Er äußert sich darüber so: „Die Aufnahme war nicht sehr angenehm. Man wird da zwischen zwei riesige Jupiter-Lampen eingekeilt, die ziemlich heizen. Doch soll die Aufnahme gut geworden sein. Ich habe sie im Phöbuspalast gesehen.“ Und nun der entscheidende Satz zum Thema Selbstrepräsentation: „Es ist ein sonderbarer und unheimlicher Eindruck sich selbst objektiviert vor sich zu sehen. Dieses Gefühl restloser Verantwortlichkeit für eine im Objektiven vorhandene Erscheinung hat etwas Krankhaftes und etwas Quälendes. Ich möchte diesen Eindruck gar nicht sehr oft haben.“ (XIII, 70) Sich selbst objektiviert vor sich zu sehen – damit war ihm scheinbar nicht geheuer. Es ist die Festlegung durch das filmische Medium, das ihn irritiert, das festgestellte Bild, auch wenn es läuft, eben der nicht mehr korrigierbare Eindruck von sich selbst; verantwortlich zu sein für die Art, wie man erscheint, sich buchstäblich ins Bild setzt, das habe etwas Peinigendes, so behauptet er zumindest in dieser Reminiszenz vor erlauchtem Münchener Publikum. Und noch ein Weiteres, etwas ganz anders Geartetes kommt ihm auf dieser Goethereise Monate vor der Machtergreifung „sonderbar und unheimlich“ vor, und zwar in Weimar: „Ganz eigenartig berührte die Vermischung von Hitlerismus und Goethe. Weimar ist ja eine Zentrale des Hitlertums. Überall konnte man das Bild von Hitler usw. in nationalsozialistischen Zeitungen ausgestellt sehen. Der Typus des jungen Menschen, der unbestimmt entschlossen durch die Stadt schritt und sich mit dem römischen Gruß begrüßte, beherrscht die Stadt.“ (XIII, 71) Verhexte und verteufelte sieben Jahre später wird Thomas Mann gleichzeitig das bis dahin Hitler am schonungslosesten entlarvende Porträt schaffen – in Gestalt seines Essays Bruder Hitler70 – und gleichzeitig letzte Hand an seinen Goethe-Roman Lotte in Weimar legen. „Vielleicht liebe ich mein Leben nicht genug, um zum Autobiographen zu taugen“, resümierte Thomas Mann in seinem im Jahr 1950 an der Universität Chicago gehaltenen Vortrag Meine Zeit.71 Dabei hielt er sich mit Stellungnahmen zur eigenen Person keineswegs zurück, ließ kaum eine Einladung verstreichen, sich an gerade in den Zwanziger Jahren beliebten Zeitungsumfragen zu beteiligen, und bei allen möglichen Gelegenheiten Auskunft über sich zu erteilen. Das Ergebnis füllt einen stattlichen Band mit Äußerungen unterschiedlichen Umfangs Über mich selbst.72 Die Entsprechung dazu findet sich in Thomas Manns intensivem Interesse

70 Vgl. dazu u. a. Rüdiger Görner, Thomas Mann, Der Zauber des Letzten. Düsseldorf/Zürich 2005, bes. das Kapitel: „Das Letzte? Satan als ‚Bruder‘ – eine peinliche Verwandtschaft“, S. 77–90. 71 Thomas Mann, Über mich selbst, S. 5. 72 Ebd.

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daran, sich photographisch ins Bild zu setzen oder setzen zu lassen, ein ganz wesentlicher, bislang weitgehend übersehener Teil seiner Selbstdarstellung.73 Dieses Selbst, das er im Tagebuch phasenweise bis zur Parodie des Allzu-Alltäglichen protokolliert, projiziert er schon früh mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit ins Andere, womit der fiktive Andere gemeint ist, Wahlverwandte, die er erzählend ins künstlerische Leben ruft, oder Projektionen auf andere Autoren, die er als Wahlverwandte erkennt, ob in der Prosaskizze Vision (1893), der Erzählung Der Bajazzo (1897), ob in Tonio Kröger (1903) oder in der biographischen SchillerPhantasie Schwere Stunde (1905). Das schon für den frühen Thomas Mann Selbstverständliche dieses produktiven Vorgangs setzte bereits ein Selbst-Verstehen voraus oder zumindest ein Zu-ihm-Unterwegssein. In einer Miszelle noch aus der Vor-Buddenbrooks-Zeit, „Kritik und Schaffen“ (1896), knüpfte der junge Thomas Mann an die aus der Ästhetik der Frühromantik bekannten These an, dass Kritik ihrerseits künstlerisch zu sein habe; aber er führt diesen Gedanken noch weiter, indem er behauptet, „der moderne Begriff des Kritikers“ falle mit dem des Schauspielers und des Interpreten zusammen. Kritiker gingen in der von ihnen erörterten Künstlerpersönlichkeit auf; sie verschwänden in ihr, lösten sich in ihr auf, würden dadurch „ein anderer“ oder spielten diese Persönlichkeit. (XIII, 521) Anverwandlung als Mittel des Verstehens, der Kritiker als „Verwandlungskünstler“ – dies befähige ihn, „die Welt eine Zeitlang mit den Augen dieser Persönlichkeit“ zu sehen, deren Werk er kritisiert, bis hin zu seiner Fähigkeit, die „Psychologie“ des ‚eigentlichen‘ in Rede stehenden Künstlers zu liefern. Was Thomas Mann hier als Kritik am Kritiker und dessen Verfahrensweise meint, wurde jedoch zunehmend auch Teil seiner eigenen Arbeitsweise, musterfallhaft vorgeführt in der Novelle Schwere Stunde, die einen Moment der Schaffenskrise im Leben Schillers – in einer Nacht des Jahres 1796 während der Arbeit am Wallenstein – in Gestalt eines inneren Monologs, man könnte treffender sagen: einer erzählten Selbst- und Schaffensreflexion darstellt. Schon in dieser Novelle ist Goethe präsent, wenn auch nur im Hintergrund, namenlos wie auch der innere Er-Monologist. Für ihn ist Goethe „der andere, der dort, in Weimar, den er mit sehnsüchtiger Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst …“. (VIII, 372) Thomas Mann wiederum, der kritische Künstler, projiziert sich in beide – in das durch ihn anwesende Er Schillers und in den seinem Kunstwillen gemäß abwesenden 73 Dazu jetzt: Görner / Latifi, Thomas Mann; Heinrich Detering, Der Litterat. Inszenierung stigmatisierter Autorschaft im Frühwerk Thomas Manns. In: Michael Ansel / Hans-Edwin Friedrich / Gerhard Lauer (Hrsg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin/New York 2019, S. 191–206; Bedenig, Thomas Mann als Dichterdarsteller.

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Goethe, ein erzählerisches Verfahren, das er in großem Stil in Lotte in Weimar entfalten wird. Diese Selbstprojektion ins Andere oder ins unvermutete Gegenüber hatte bei Thomas Mann mitten im Ersten Weltkrieg eine besonders überraschende Dimension angenommen, als er nämlich im Herbst 1916 in der Berliner Sezession aus seinem Fragment Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull las. Die dann unter dem Titel „Entwicklungsroman“ in der Vossischen Zeitung am 4. 11. 1916 veröffentlichte Einführung zu dieser Lesung hätte den Zensor auf den Plan rufen können. Bedenkt man, dass dieser Text mitten in der Arbeit an den Betrachtungen eines Unpolitischen entstanden ist, dann erstaunt die Argumentation Thomas Manns umso mehr. Denn sie trägt die Züge einer Selbstkritik – eben auch teilweise an dem, was er in den Betrachtungen zu entwickeln im Begriff war. Soweit bekannt, hat die Forschung bislang keine Beziehung hergestellt zwischen den Bekenntnissen und den Betrachtungen. Sie sollte es tun; denn der Zusammenhang zwischen der autobiographischen Fiktionalisierung eines Hochstaplers und den Reflexionen eines an der Heimatfront des Schreibtisches mit kulturkonservativen Überzeugungen pokernden Künstlers gewinnt vor dem Zeithorizont des Jahres 1916 und dem Auftritt des selbsterklärten Oberbürgers unter den Künstlern in der Avantgarde-Szene der Berliner Sezession einen eigentümlichen bis spannungsvollen Reiz. Die eherne Tradition des Bildungs- und Entwicklungsromans, die Thomas Mann zwar mit der deutschen Lesart des Humanitätsbegriffs identifiziert, lässt er in der „Autobiographie eines Schwindlers“ aufgehen, wobei er die „tieferen Gründe dieser Konzeption“ in den politischen Zuständen eben auch im Deutschland des Jahres 1916 sucht und unzweideutig hinzufügt: „Die Zeit ist es, die uns so denken läßt.“ (XI, 701) Und noch deutlicher: „Was Wunder nun, wenn […] die ursprünglich nationale Form der deutschen Prosa-Epopöe, der individualistische deutsche Bildungsroman, der Zersetzung anheimfiele“, und zwar durch das, was er „Intellektualismus“ nennt, den er als ‚westlich-zivilisatorisch‘ in den Betrachtungen eines Unpolitischen geißelt, in der bekennenden, also geständigen Autobiographie seines Hochstaplers und Hoteldiebes jedoch selbst vorführt. Und damit gesteht er, „alle Kunst im Parodischen“ wurzeln und sie wieder ins Parodistische wachsen zu sehen. (XI, 703) Auch wenn Felix Krull kein Goethe-Roman ist, an die Konzeption von Dichtung und Wahrheit knüpft er unmittelbar an, indem er ein (selbst-)betrügerisches Leben als gedichtete Wahrheit über die Zwangsläufigkeit des Parodistischen als einer zivilisatorischen Kulturform darstellt. Dass dieser Stoff in seiner überdeutlich narzisstischen Prägung Thomas Manns Schaffen geradezu überwölben konnte,74

74 Dazu weiterhin grundlegend: Hans Wysling, Narzissmus und illusionäre Existenzform: zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1990.

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und zwar von 1905 bis 1953, zeugt von seiner charakteristischen Bedeutung für das Selbstverständnis dieses Autors.

Ein-Bilden in Goethe Jener zuvor zitierte Satz, mit dem Thomas Mann seine Reminiszenzen Meine Zeit 1950 eingeleitet hatte: „Vielleicht liebe ich mein Leben nicht genug, um zum Autobiographen zu taugen“, fand seine Vorprägung im Essay Goethe und Tolstoi von 1921: „Liebe zu sich selbst ist auch der Anfang aller Autobiographie“ und der Anfang eines „romanhaften Lebens“. (IX, 69) Seine versuchte Objektivierung vollzieht sich dann im Vortrag Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters: „Ich kann von Goethe nicht anders sprechen als mit Liebe, das heißt: aus einer Intimität, deren Anstößigkeit durch den lebendigsten Sinn fürs Inkommensurable gemildert wird.“ (IX, 297) Diese scheinbescheidene Relativierung einer geradezu intimen Identifikation mit Goethe begründet Thomas Mann zunächst mit herkunftsbedingter Wahlverwandtschaft. Sie sei ihm aufgegangen, so versichert er, als er „zum erstenmal durch Goethe’s Elternhaus am Hirschgraben zu Frankfurt“ gegangen sei. Was sich da an Einsicht in ihm gebildet habe, begründet, weshalb er sein Ich in jenem Goethes glaubte spiegeln, versenken oder aufgehen lassen zu können. Man versichere sich zunächst des Gesamtzusammenhangs dieses Bekenntnisses. Thomas Mann stilisiert den Besuch im Haus am Frankfurter Hirschgraben zu einem Urerlebnis, wobei er das Urhafte auch sogleich anspricht: Diese Treppen und Zimmer waren mir nach Stil, Stimmung, Atmosphäre urbekannt. Es war die ‚Herkunft‘, wie sie im Buche, im Buch meines Lebens steht, und zugleich der Anfang des Ungeheueren. Ich war ‚zu Hause‘ und dennoch ein scheuer und später Gast in der Ursprungssphäre des Genius. Heimat und Größe berührten sich. Das Patrizisch-Bürgerliche, museal geworden und Gegenstand leise auftretender Pietät, als Wiege des Heros; das Würdig-Wohlanständige […] und ins Weltstrenge gewachsen: ich sah es an, ich atmete es ein, und der Widerstreit von Vertrautheit und Ehrfurcht in meiner Brust löste sich in das Gefühl, worin Demut und Selbstbejahung eines sind: in lächelnde Liebe. (IX, 297)

Dieses Ich inhaliert geradezu die Atmosphäre an diesem Urort des „Patrizisch-Bürgerlichen“, also eines bildungsgehobenen Kulturbewusstseins, das ihn in Lübeck selbst geprägt hat. Selbstbescheidung und Selbstbejahung gingen dort ein spannungsvolles Wechselverhältnis ein, wodurch der nächste Schritt der Identifikation dieses Ichs mit Goethe vorbereitet ist: Nur aus der eignen Substanz und dem eignen Sein, aus einer gewissen familiären Erfahrung also, der kindlich-stolzen Verbundenheit des ‚Anch’ io sono pittore‘, weiß meinesgleichen

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von Goethe zu reden – und warum ein Wiedererkennen, ein Recht auf Zutraulichkeit verleugnen, das weit ins Überpersönliche, ins Nationale reicht! (IX, 297 f.)

Man ermesse die inhaltliche Spannweite dieses Satzes: Das Eigene reklamiert ein „Recht“ auf Nähe zum Inkommensurablen namens Goethe, ja es kann gar nicht anders, als in dieser Nähe auch sich selbst zu finden. Und dann dieses „Anch’ io sono pittore“, das Correggio zugeschriebene Wort beim Anblick von Raffaels Ekstase der heiligen Cäcilie,75 diese etwas trotzige Behauptung einer eigenen Qualität beim Wahrnehmen des Sublimen, aber auch eine Entsprechung zu jenem zweideutigen Et ego in arcadia – dieses Auch-Ich präfiguriert einen Anspruch, der – mit Hans Blumenberg gesprochen – als Form und damit „Präfigurat“ zur „Selbstaufrichtung“ und zum „Selbstvergleich“ führt.76 Hinzu kommt hier noch eine Selbstüberschreitung: das „Recht auf Zutraulichkeit“, also intimer geistiger und lebensweltlicher Nähe zu Goethe, wie sie Thomas Mann in seiner Rede vorzuführen gedenkt, sei von national-kultureller Bedeutung, eben weil diese Art des Zugangs bereits das Abstrahieren vom Eigenen („ins Überpersönliche“) enthalte. An Goethe demonstriert Thomas Mann den „humanen Zauber“, der dem „idealistischen Individualismus“ als dem Kern des „deutschen Kulturbegriffs“ eigne; beim Autor des Wilhelm Meister und der Wahlverwandtschaften bestehe er in einer eigentümlichen psychologischen Verbindung von autobiographischer Selbstausbildung und Selbsterfüllung mit dem Erziehungsgedanken, und zwar so, daß die Erziehungsidee Brücke und Übergang bildet aus der Welt des persönlich Innermenschlichen in die Welt des Sozialen. (IX, 298)

Dies sei nun der „engste Gesichtswinkel“, so Thomas Mann, „unter dem man seine Gestalt visieren mag.“ Der Weitwinkel des Blicks auf Goethe erfasse dann aber vor allem das „Mythusbildende“ an und in ihm, wie man überhaupt Thomas Manns anverwandelnde, selbstprojizierende Auseinandersetzung mit Goethe als Arbeit an (s)einem Mythos durchaus im Sinne Blumenbergs deuten kann, jedoch mit einer bezeichnenden Rückkoppelung, die Blumenberg so nicht vorsieht oder reflektiert: Aus Thomas Manns Arbeit am Goethe-Mythus wurde die Arbeit an der Selbstmythisierung. Denn wenn er Goethe mit der Bemerkung zitiert, dass er nichts dazu sagen könne, wenn die einen ihn lobten, die anderen tadelten, weil das eben sein Ich sei, „worüber anderen das Urteil zusteht“, dann meint Thomas Mann als öffentlich exponierter Schriftsteller damit auch sich selbst.

75 Arthur C. Danto, Encounters & reflections: art in the historical present. Berkeley 1997, S. 94. 76 Hans Blumenberg, Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Hrsg. v. Angus Nicholls u. Felix Heidenreich. Berlin 2014, S. 9.

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Aus dem Wechselbezug zu Goethe ergab sich für Thomas Mann auch eine formästhetische Qualität. So verwendet er eine längere Passage seiner Ausführungen zu Goethes bürgerlicher Repräsentanz auf das, was Goethe selbst die bewundernswerte Pädagogik seines Vaters genannt hat.77 Bekanntlich finden sich bei Goethe ebenso wie bei Thomas Mann nur wenige fragmentarische Arbeiten; man geht nicht fehl, gerade darin einen entscheidenden Differenzpunkt zwischen Goethe und den frühen Romantikern zu identifizieren, so zahlreich auch sonst ihre zu oft ignorierten motivischen Überlagerungen sind. Thomas Mann nun verwendet auffallend viel Raum für die Begründung der Aversion Goethes gegen das Fragmentarisch-Unfertige. Dabei bezieht er sich auf eine Stelle im 6. Buch des zweiten Teils von Dichtung und Wahrheit; darin erzählt Goethe von einem „weiteren Konflikt“ zwischen Vater und Sohn, weil es Letzterem nahezu unmöglich gewesen sei, etwas Gesehenes als eine „ganz ausgefüllte Zeichnung“ wiederzugeben: „und wie hätte ich denn ein Ganzes leisten sollen, das ich wohl mit Augen sah, aber nicht begriff, und wie ein Einzelnes, das ich zwar kannte, aber dem zu folgen ich weder Fertigkeit noch Geduld hatte.“78 Hinzu kommt, dass Goethe erinnert, wie es ihm gleichfalls unmöglich gewesen sei, „bei meinen Zeichnungen ein gutes, weißes, völlig reines Papier zu gebrauchen; graue veraltete, ja schon von einer Seite beschriebene Blätter reizten mich am meisten, eben als wenn meine Unfähigkeit sich vor dem Prüfstein eines weißen Grundes gefürchtet hätte.“79 Es verlangte ihn offenbar nach bereits benutztem Material als Arbeitsgrundlage, um daraus für seine eigene Zeichnung Nutzen zu ziehen. Die angedeutete ‚Moral‘ lautet: Blätter sind immer schon irgendwie ‚beschrieben‘, weisen Vorprägungen auf – eine aufschlussreiche Relativierung der Genie-Ästhetik, die von einem Schaffen ex nihilo ausgeht. Bemerkenswert hierbei ist die Reflexion der Materialität, eine übrigens auch Thomas Mann keineswegs fremde Eigenart, wenn man allein an seine zahllosen Tagebuch-Hinweise auf die Art des verwendeten Papiers denkt. Was den jungen Goethe angeht, so kam nun die väterliche Pädagogik zum Tragen: Der Vater „fragte wohlwollend nach meinen Versuchen, und zog Linien um jede unvollkommene Skizze: er wollte mich dadurch zur Vollständigkeit und Ausführlichkeit nötigen; die unregelmäßigen Blätter schnitt er zurechte, und machte damit den Anfang zu einer Sammlung, in der er sich dereinst der Fortschritte seines Sohnes freuen wollte.“80 So weit die von Thomas Mann gemeinte Stelle in Dichtung und Wahrheit. Was nun macht er daraus in seinem Vortrag? Einen ausführlich begründeten, in seiner Argumentation geradezu an Max Weber erinnernden 77 78 79 80

In: Goethe, Werke HA IX, 225 f. Ebd., S. 225. Ebd. Ebd., S. 226.

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„produktionsethischen Befehl des Fertigmachens“. Im Zusammenhang liest sich das so: Die einmal begonnene gemeinsame Lektüre eines Buches mußte beendet werden, auch wenn sie sich als noch so langweilig erwies; und so bestand er in allen Stücken hartnäckig auf das Beenden des einmal Begonnenen, selbst wenn nicht nur das Unbequeme, sondern auch Unnütze des Unternehmens sich klar herausstellte. Er duldete nicht, daß Wolfgang zeichnerische Versuche in skizzenhafter Unfertigkeit liegen ließ, er zog eigenhändig Rahmenlinien um das Angelegte, um dadurch den jungen Menschen zur Vollständigkeit und Ausführlichkeit zu nötigen. (IX, 305)

Danach fällt dann das Wort vom „produktionsethischen Befehl des Fertigmachens“, das dieses Extrapolieren aus Andeutungen Goethes gewissermaßen krönt. Gerade dieses „Fertigmachen“, Abschließen, Vollenden-Können wollte sich Thomas Mann zu eigen machen, was ihm ja selbst mit seinem Felix Krull gelang, dessen in sich geschlossener erster Teil im Grund keinen zweiten oder wenn, dann unzählige Fortsetzungen fordert. In Goethes Sterbemonat, der sich 1932 zum hundertsten Mal jährte, wartete Thomas Mann, wie erwähnt, gleich mit zwei bedeutenden Texten auf. Waren seine Ausführungen zu Goethes bürgerlicher Repräsentanz für die Berliner Akademie gedacht, trug er wenige Tage später, am 21. März, also einen Tag vor dem eigentlichen Todestag, in Weimar seine Überlegungen zu Goethe’s Laufbahn als Schriftsteller vor; eine Laufbahn, in die er, Thomas Mann, selbst einschwenkte, weil er Verwandtes (frühen Ruhm nebst Anfeindungen, nebst der Goethe freilich erspart gebliebenen Bruderrivalität) erlebt hatte, und eine Zielvorstellung, die, wenn es so weit war, er selbst zu erleben hoffte, festgehalten in der schlichtesten Feststellung des Textes und dessen kürzestem Satz: „Goethe starb schreibend.“ (IX, 333) Auch hier maßvolle Ausführlichkeit in der erzählenden Darstellung: Er lag auf dem Deckbett schließlich, und dort schrieb er weiter. Wie es schien, war es zu wiederholten Malen dasselbe, was der Sterbende unsichtbar aufzeichnete, man sah, daß er genaue Interpunktionszeichen setzte, und glaubte einen und den anderen Buchstaben zu erkennen. Dann fingen die Finger an, blau zu werden, sie kamen zum Stillstand, und als man ihm den Schirm von den Augen nahm, waren sie schon gebrochen. (IX, 333)

Das genaue, auf die Schriftzeichen achtende Schreiben mit sichtbarer Hand, aber in unsichtbarer Schrift, dieses subtile Paradoxon führt Thomas Mann genau aus, gönnt sich kein Auslassungszeichen für den Augenblick des Goethe’schen SichAushauchens. Auch dies eine Gemeinsamkeit: Goethe schätzte Auslassungszeichen nicht, und Thomas Mann hatte nahezu alle Auslassungszeichen auf zwei Stücke seiner frühen Prosa, Vision und Der Tod, konzentriert, wobei gerade die diaristisch gestaltete Prosa Der Tod (1897) bereits jenes, soll man sagen: kontrollierte Sterben

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thematisiert, das ihm dann auch selbst vergönnt sein sollte. Überhaupt Goethes Schreibweise: Thomas Mann pries sie mit überdeutlichem Hinweis auf seine eigene in seiner dritten Goethe-Studie des Jahres 1932, gedacht für junge japanische Leser: Zutreffend bis zur Erheiterung – das mag überhaupt die richtige Kennzeichnung von Goethe’s Schreibweise und Stilkunst sein, der jede Verstiegenheit, jeder pathetische Überschwang fremd ist und die dennoch immer zum Äußersten geht, sich auf einer mittleren Linie mit diskreter Kühnheit, meisterlicher Gewagtheit und unfehlbarer künstlerischer Sicherheit dahinbewegt […], die klarste Mischung von Eros und Logos […]. (IX, 295)

Von „rhythmischem, […] vernünftigem Zauber“ spricht Thomas Mann fernerhin und damit genau von dem, was ihm in seiner erzählerischen Stilistik, sprich: Sprachbehandlung wichtig war. Kontrastieren wir diese Ausführungen nun mit seiner Ansprache im Goethejahr 1949, dann fällt eines auf: Sie kann mit einem Plädoyer für Selbsterweiterung im Namen Goethes schließen, weil er über weite Strecken in dieser Rede ausschließlich über sich sprach, über seine Empfindungen als ein auf Zeit zurückkehrender Emigrant. Und wieder ist es der eigene Sprachstil, der ihm einleitend ein Wort wert ist: „Gefaßtheit und Gesetztheit des Erzählers, ein episches Phlegma, oder auch ein Sinn für Humor, der sich durch langen Aufenthalt in angelsächsischer Lebenssphäre eher noch verstärkt hat.“ (XI, 481 f.) Was Thomas Mann nun – im Juli und August 1949 in Frankfurt am Main und in Weimar – aus Goethe destilliert, genauer: für sich selbst ableitet und beansprucht, lässt sich in vier inhaltlich deutlich differenten Punkten fassen: 1) zum Repräsentanten des ganzen, also transzonalen Deutschlands zu werden, 2) den Willen zum Vollenden, 3) die Symbolleistung des Kunstschaffens und 4) die Ironie des Schauens erfassen. Im Schauen sieht Thomas Mann das Äquivalent zur Dialektik in der Philosophie, worunter er den „geöffneten Blick für die Widersprüche“ versteht, „für das Böse im Guten, die Verderbnis der Idee durch ihre Verwirklichung, die fundamentale Tragik des Menschenlebens.“ (XI, 494) Wenn dieser Blick auf Spiegel fällt, dann ist damit auch die Lebensproblematik Thomas Manns gemeint, die mühsame Verschleierung seiner eigenen Nöte, das unbedingte Aufrecht-Erhalten-Wollen der Fassade, was bekanntlich auch ein Thema für Goethe war. Wofür Thomas Mann freilich nicht zu haben war: für jene Art der schauspielerhaften Goethe-Mimikry, wie sie zum Beispiel Gerhart Hauptmann durch das Betonen seiner äußeren Goethe-ähnlichen Erscheinung betrieb.

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Erotisches Zwischenspiel mit Goethes Ulrike Als Thomas Mann Mitte Juni 1945 der stickigen Hitze New York zehn Tage lang entkam, um sich an einem „Kurort ohne Kur“, in Mountain House am Lake Mohonk, Ulster County, das ihn an die Schweiz erinnerte, etwas zu erholen, bemerkte er sie, eine Sechzehnjährige. Sie bot immerhin eine attraktive Abwechslung zu den im überfüllten Zug nach Lake Mohonk wahrgenommenen „anziehenden Gesichtern junger Navie-men und soldier boys“ [sic!].81 Die Mutter liest den Zauberberg, man freundet sich an, wobei sie es „sehr aufregte, neben mir zu sitzen. Zärtliches Gefühl.“ Er liest in Alfred Einsteins Mozart-Biographie, von der später noch zu reden sein wird, und notiert einen Tag später: „Die kleine Cynthia in roter Jacke, lieblich.“82 Als dann auch schon wieder die Abreise bevorsteht, folgt die Schlusspointe: „Die kleine Cynthia, nur von Weitem. Mit ihrem Vater im Lift. Andeutung Ulrikens.“83 Sie hießen ‚Sperry‘ mit Nachnamen, was Thomas Mann wohl des etwas ‚sperrigen‘ Namensklanges wegen nicht vermerkt, und der Vater war ein Geschäftsmann aus Connecticut. Das war er dann, der unverhoffte Goethe-Moment, der Vergleich Cynthias mit Ulrike von Levetzow, des Olympiers später Liebe, aber eben nur als „Andeutung“; schließlich stand Ehefrau Katja neben ihm, und es mochte sie erstaunt haben, dass er einmal nicht jungen Männern diskret nachschaute. Immerhin, wieder zurück im St. Regis Hotel in New York erinnert er die Schlussszene ausführlicher: „Die Kleine, mit den Eltern in der Entfernung, zur Verabschiedung. Herzliche Freude. ‚It was always so pleasant to look at you.‘ – ‚Oh – really??‘ Versteckte sich bei der Abfahrt u. schaute, ob ich nach ihr sähe. Werde sie nicht vergessen.“84 Hans Blumenberg, der sich dieser Episode, sie ausdeutend, annahm, spricht von einer „Andeutung Ulrikes“ und zitiert aus einem Brief Thomas Manns an Kuno Fiedler, in dem der leicht von Amor Berührte dieses ‚Erlebnis‘ wie von höherer Hand arrangiert deutet, „zur lächelnden Befriedigung meines Sinnes fürs Mythische“, der „lipstick-Engel mit schiefen Augen“.85 Als Thomas Mann dann seine oft allzu glühende Verehrerin und Mäzenatin, Agnes E. Meyer, im Hotel aufsuchte, notiert er: „Ich verschwieg ihr entschlossen die unvergleichlich bevorzugte kleine Cynthia“.86 Blumenberg vermerkt, dass die Begegnung nicht für eine Entsprechung zur Marienbader Elegie ausgereicht habe.

81 Thomas Mann, Tagebücher 1944–1.4.1946. Hrsg. v. Inge Jens. Frankfurt am Main 1986, S. 215 f. 82 Ebd., S. 218. Eintrag vom 22.VI.1945. 83 Ebd. Eintrag vom 24.VI.1945. 84 Ebd., S. 218 f. 85 Hans Blumenberg, Repräsentant mit Sinn fürs Mythische. Texte aus dem Nachlaß: Thomas Mann in seinen Tagebüchern. In: Neue Rundschau 109 (1998), Heft 1, S. 9–29, hier: S. 23. 86 Thomas Mann, Tagebücher 1944–1946, S. 219. Eintrag vom 25.VI.1945.

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Aber es reichte für einen Traum von prägnanter Deutlichkeit, einen knappen Monat später wieder zurück in Pacific Palisades: „Gestern träumte mir, ich sei auf irgendeine Weise verlobt mit einem jungen Weibe, das mir große Zärtlichkeit einflößte. Sie machte mir auch ein Geschenk, aus rotem u. weißem Stoff, das, glaube ich, ein Liegestuhl war. Dies war wohl eine Anspielung auf mein ehrwürdiges Alter. Meine Gefühle waren glücklich und etwas ängstlich.“ Es war Thomas Mann bewusst, dass sich in diesem Traum die Cynthia-Episode mit der Begegnung mit einem „reizenden jungen Studenten“ am Vortage verband und seinem „Entzücktsei[n] von ihm“ – oder gar um eine Nachwirkung der von seinem Arzt verschriebenen Hormon-Kur. Die produktive Folge, da einen im Zweifel ohnehin nur die Arbeit wieder zur Besinnung bringt: „Klarer Tag. Trank Kaffee auf der Terrasse und schrieb leicht den Aufsatz über Dostojewski zu Ende.“87 Dabei wiederholte er zum Schluss den Titel: „Dostojewski mit Maßen“. Denn nur solche maßvollen Dosierungen – Thomas Mann hatte es soeben wieder einmal erfahren – schaffen Klarheit, in Gefühlsdingen wie Fragen der Literatur.

Nach-Bildungen durch und aus Goethe Mit den beiden Goethe-Reden des Jahres 1932 wie überhaupt mit allen essayistischen Texten zu Goethe hatte Thomas Mann das Prinzip der ‚wiederholten Spiegelungen‘ auf seine Art des Umgangs mit diesem Dichter übertragen. Indem Goethe und er selbst zum Gegenstand solcher ‚Spiegelungen‘ wurden, konnte er ihnen ein betont buntes prosahaftes Farbenspiel abgewinnen. Gleiches gelang Thomas Mann nicht einmal in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Richard Wagner oder mit anderen zeitweisen Identifikationsfiguren – von Platen bis zum „alten Fontane“, von Schiller bis Theodor Storm. Natürlich stellt sich bei einem so ausgeprägten multiplen Identifikationsbedürfnis auf Seiten Thomas Manns die Frage, ob es von einem hohen Selbstwertgefühl zeugt oder, im Gegenteil, von Unsicherheit und einem latenten Orientierungsverlangen, gar selbstvergewissernden Rollenspielen und der Genugtuung darüber, dass man sie ihm abnahm und ihn für glaubwürdig in diesen Rollen befand. Fragen, die hier nur anzudeuten sind. In jedem Fall hat die Entscheidung für diesen oder jenen Anderen, ihn dann als identifikationsfähige Figuration des eigenen Selbst essayistisch zu entwerfen, etwas von einer geglückten oder verfehlten Partnerwahl. Von der Form her objektivierbar ist dieser Vorgang bei Thomas Mann neben den gestaltungsästhetischen Ableitungen vom Werk Richard Wagners (Vorliebe für das ‚Leitmotiv‘ sowie die

87 Ebd., S. 229 f. Eintrag v. 20.VII.1945.

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III Das Ich im Bild vom Anderen. Goethe-Spiegelungen

Bedeutung des Tetralogischen etwa in der Entsprechung der Ring-Tetralogie zur Joseph-Tetralogie) am ehesten in seinem Versuch über Michelangelos Sonette (1950), die er als Sprachskulpturen begreift, in die des Künstlers erotisches Verlangen ebenso einging, wie ein solches von ihnen ausgeht. Die „Verliebtheit in das Bild“ sah Thomas Mann hier ebenso walten wie den „schroffen Abgrund zwischen Aug’ und Seele“ gähnen. (IX, 787) In essayistischer Hinsicht erweisen sich diese letzten Jahre als Versuche, bereits lange erprobte und neue Projektionsfiguren wieder oder erstmals aufzuspüren. Da kommt überraschend George Bernhard Shaw zu Ehren (1951), Gerhart Hauptmann verweist er posthum auf die Plätze (1952), der „alte Fontane“ (1954) sieht sich noch einmal in seiner erzählerischen Kunstfertigkeit aufgerufen, ein Bekenntnis zum zumindest syntaktisch wahlverwandten Kleist als Erzähler (1954) – dem Dichter der Penthesilea dagegen entzog er seine Sympathie88 –, Tschechow sieht sich in den Kanon der „heiligen russischen Literatur“ neben Tolstoi und Dostojewski gehoben, wobei der Thomas Mann am nächsten stehende Turgenjew (1954) wohl gerade deswegen übergangen wird, um dann zuletzt im Buchstärke erreichenden Versuch über Schiller (1955) die große Jugendliebe einzuholen. Anders gesagt: Noch in diesen Projektionen und Identifikationsfigurationen gelingt Thomas Mann ein geradezu klassisches Vollenden und Abrunden, das nur in einer Form aufbricht, jähe Abgründe erkennen lässt, eben jene „Kluft“ zwischen „Aug’ und Seele“, die nicht mehr nur gähnte, sondern klaffend schmerzte: im Tagebuch. Was hierbei auch auffällt: Thomas Manns bemühte Romantikabstinenz – im Bereich seiner Selbstidentifikationen die evidenteste Art der vollzogenen GoetheNachfolge. Er führte diese Enthaltung von romantischer Sentimentalität im Umgang mit dem Außergewöhnlichen auch in seinem Roman Lotte in Weimar vor, der neben anderem die romantische Salonkultur dekonstruiert. Denn die Szenen des Romans verweigern sich der Darstellung von Geselligkeit. Eine Abfolge von Einzelbesuchen meldet sich bei der verwitweten Hofrätin Charlotte Kestner, Goethes großer Werther-Liebe aus seiner Wetzlarer Zeit, die sich in Weimar eingefunden hat, um Goethe noch einmal wiederzusehen. In Thomas Manns Prosaregie erfolgt der Auftritt der eigentlichen Hauptperson erst nach sechs langen Kapiteln89 – an sich bereits die Parodie eines beliebten dramatischen Effekts, den Schiller im Wallenstein für die moderne Bühne erstmals wirkungsvoll umgesetzt hatte. Was

88 Thomas Mann, Tagebücher 1953–1955, S. 296: „Den Tag nach der Penthesilea völlig entnervt von dem heillosen, mir nach seinem ganzen Vorwurf widerwärtigen Stück.“ (Eintrag v. 12. XII.1954) 89 Vgl. hierzu bes. Hinrich Siefken, Goethe ‚spricht‘. Gedanken zum siebenten Kapitel des Romans Lotte in Weimar. In: Eckrad Heftrich / Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling. Frankfurt am Main 1991, S. 224–248.

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diese Kapitel bieten, sind perspektivische Ansichten von Goethe, mehr oder weniger monologische Annäherungen eines Diskurses über ihn, eine Vielfalt seines Charakters behauptend, die auch einen Hinweis darauf gibt, dass auch ihr Autor, Thomas Mann, diese vielfältigen Sichtweisen auf seine eigene Person beanspruchte, wie nicht zuletzt die diversen Blickwinkel der Porträtaufnahmen belegen, die von ihm überliefert sind.90 Für unseren Themenbereich nun erweist sich die Episode im zweiten Kapitel als besonders signifikant. Es handelt sich um den Auftritt der „zeichnenden Reisenden“, der Irin mit dem wenig irischen Namen Miss Rose Cuzzle, die eine Berühmtheit nach der anderen im Schnellverfahren zeichnet, von Skizzen bestimmter Geistesorte, wie dem Geburtshaus Kants in Königsberg, durchsetzt. Sie ist die Vorläuferin des Photojournalisten oder genauer: des Paparazzo. Ihre Skizzenmappe ist ihr „Jagdbuch“ (II, 400), Blatt um Blatt eine Trophäe. Das nächste der Opfer dieser bruchteilgebildeten Enthusiastin ist nun Charlotte Kestner, von der sie sich dann auch einen Zugang zu Goethe erhofft und über ihn zur Frau von Stein. Hierbei ergibt sich nun der exemplarische Fall des Sich-ein-Bild-vom-Anderen-Machens, dem ja ohnedies der gesamte Roman gilt. Das Problem, was Identität bedeutet, verwirft Charlotte: „Ich habe durchaus keine Zeit für Identitäten“, lässt sie das Hotelfaktotum Mager wissen, als dieser Charlotte Kestner – mitten in ihrem Skizziert-Werden – die Ankunft von Friedrich Wilhelm Riemer meldet, Goethes allwissendem Sekretär. Ohnedies befindet die Kestner, dass ihr Porträt sie allenfalls „annäherungsweise“ getroffen habe. Riemer hat dafür sogleich das passende Zitat aus Goethes Faust parat, zwei Zeilen aus dem Intermezzo „Walpurgisnachttraum“, gesprochen vom „nordischen Künstler“: „Was ich ergreife, das ist heut / Fürwahr nur skizzenweise“. (II, 406)91 Der Vielfalt der Perspektiven und Sichtweisen auf eine Persönlichkeit entspricht Riemers These, dass sich über das „zweideutige Wesen“ des Menschen, also auch über Goethe, nur zweideutig reden lasse. (II, 408) Ein vielgestaltiger Proteus sei er; in ihm werde die „Identität von All und Nichts“ Ereignis, bestehend „aus der Sphäre der absoluten Kunst und der umfassenden Ironie.“ (II, 445) In einer Hinsicht aber hat Riemer Eindeutiges zu bieten, in der Beurteilung von Goethes Sprache, die im Wesentlichen mit der Auffassung Thomas Manns zu Goethes Sprachkunst übereinstimmt, wie wir sie aus den Goethe-Reden des Jahres 1932 bereits kennen. Thomas Mann projiziert damit auch sein Sprachideal auf Riemer und Goethe, genauer gesagt: die Art und Weise, in der er seine eigene Sprache sieht: Es sei eine Sprache „auf einer mittleren Linie, mit Gesetztheit, mit vollkom-

90 Dazu ausführlich Görner / Latifi, Thomas Mann. 91 Goethe, Werke, HA III, 134 (V. 4275 f.)

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III Das Ich im Bild vom Anderen. Goethe-Spiegelungen

mener Artigkeit, ihre Kühnheit ist discret, ihre Gewagtheit meisterlich, ihr poetischer Takt unfehlbar.“ (II, 437 f.) Gleiches gelte für Goethes Diktion: Es ist da alles in mittlerer Stimmlage und Stärke gesprochen, mäßig durchaus, durchaus prosaisch, aber das ist der wunderlich übermütigste Prosaism, welchen die Welt gesehen: neuschaffen Wort hat lächelnd verwunschenen Sinn, ins Heiter-Geisterhafte wallt es hinüber, goldig zugleich […] – aufs angenehmste gebunden, moduliert aufs gefälligste, voll kindlich klugen Zaubers, trägt es sich vor in gesitteter Verwegenheit. (II, 438)

Aussagen zu Goethes Vortragsweise sind vergleichsweise selten, auch wenn sie die Phantasie zu beflügeln verstand.92 Hört man freilich Aufnahmen von Thomas Manns Vortragsweise, dann finden sich in dieser fiktiven Charakterisierung der Stimme Goethes durch Riemer recht genaue Merkmale von Thomas Manns eigener Stimme. Dem entspricht dann auch, dass das siebente Kapitel, das eigentliche Goethe-Kapitel im Roman Lotte in Weimar, kein bildliches oder pikturales Erzählporträt liefert93, sondern ein erzähltes Hörbild seines Sprechens. Wir hören lesend Abschnitte eines inneren Goethe-Monologs, der in sich ebenso perspektivenreich ist wie die Ansichten von Thomas Manns Selbst in jenen Goethes, ob in der Prosa ausgeführt oder nur wie in den Porträts der Miss Cuzzle skizzenhaft präsentiert. Man möchte daher in diesen Goethe-Monologen von einer Logographie sprechen, die uns seinen Charakter näherbringen soll. Goethe monologisiert im siebenten Kapitel in einem Zustand permanenter Selbstreflexion, die aber seinen Gast geradezu ausblendet, wobei er gleichzeitig betont, die „Lebenswiederholung“ feiern zu können – als eine existentielle Variante der „wiederholten Spiegelungen“. Aber Thomas Manns Goethe sieht (wie er selber später am Beispiel seiner Arbeit am Felix Krull) werkbezogen, auch wenn jetzt seine Lotte von einst vor ihm sitzt: den West-östlichen Divan und Werther sieht er nun als „Geschwister“ im Geist der Werke, „dasselbe auf ungleichen Stufen, [als, R. G.] Steigerung“, eben eine durch das Schaffen „geläuterte Lebenswiederholung“ (II, 648). Sein Goethe erkennt auch, dass die Besten immer im Exil gelebt haben (II, 665), gefolgt von der prekären Selbsterkenntnis: „Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können.“ (II, 682) Geschrieben im unmittelbaren Umfeld jenes Essays, in dem sich Thomas Mann fragte, ob es im künstlerisch-formrhetorischen Schaffen nicht hochnotpeinliche, ja fatale Ähnlichkeiten

92 Vgl. Salomo Friedländer (Mynona), Goethe spricht in den Phonographen. In: Schwarz-WeißRot. Leipzig 1916. 93 Dazu: Annette Grötler, Pikturales Erzählen. Thomas Mann und die bildende Kunst. Beiträge zur neueren Literaturgeschichte Bd. 404. Heidelberg 2019.

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zu dem gebe, was Hitler der Welt vorführe.94 Doch Thomas Manns Goethe und überdeutlich der Urheber dieses Goethe-Bildes selber lenkt dieses Problem des ‚Verbrechens‘ um auf das Intim-Geistige. Es äußert sich dann in dem Schlüsselsatz in Selbsterkenntnisversuchen dieses fiktiven Goethe, den Thomas Mann im Exil 1938/39 in eine unabweisbare wahlverwandtschaftliche Wirklichkeit ruft: „Die Verführung durchs eigene Geschlecht möchte als Phänomen der Rache und höhnender Vergeltung anzusehen sein für selbstgeübte Verführung – des Narkissos Betörung ist sie ewig durch das Spiegelbild seiner selbst.“ (II, 682) Mit „Lust und Entsetzen“ habe er, Thomas Manns Goethe, das bedacht, woraus ein „productives Grauen“ geworden sei; damit nahm Thomas Mann ein Empfinden vorweg, das ihn zuletzt heimsuchen sollte, dieses Grauen vor allem, die, wie es im Tagebuch heißt, „Scham“, wenn sich ein Stoff nicht bilden will.95 So hat denn die Narziss-Figur das letzte mythosbestimmte und zugleich eminent wirklichkeitsproblematische BildWort in jenem Wechselspiel von Identifikation und Selbstdistanzierung, in lebenslangen Versuchen Thomas Manns über Goethe, Versuchungen im produktiven Sinne, Spiegelbilder des Eigenen im dann doch unerreichbar Anderen – wieder und wieder neu gefasst in den Wechselrahmen der Werke.

94 Vgl. dazu das Kapitel: Das Letzte? Satan als ‚Bruder‘ – Eine peinliche Verwandtschaft. In: Görner, Thomas Mann, S. 77–90. 95 Thomas Mann, Tagebücher 1953–1955, S. 348 (Eintrag v. 15.VI.1955 – er bezieht sich auf Thomas Manns letztes Vorhaben, ein Drama zum Thema „Luthers Hochzeit“).

IV Der Andere im Ich: Wagner – Schopenhauer – Hitler Leben als Musikdrama „Ist Produktivität als Lebensspur und schöne Beiläufigkeit zu fassen oder als die Form, der primäre Ausdruck des Willens selbst?“, fragt Thomas Mann in seinem Kurzessay Ibsen und Wagner (1928). So knapp er auch ausgefallen war, in mancherlei Hinsicht war er ein Probelauf zu dem Großessay, der als Vortrag konzipiert war: Leiden und Größe Richard Wagners (1933), und das deshalb, weil Thomas Mann bei beiden einen primären „Werkinstinkt“ identifizierte (X, 228), in Ibsens Bildhauer Arnold Rubek im Abschiedsstück Wenn wir Toten erwachen sogar einen „Werkmenschen“, dessen „Liebeserklärung an das Leben“ zu spät komme. Ibsens „dramatischen Epilog“ – er las ihn in der von Julius Elias und Paul Schlenther besorgten „Volksausgabe“, die S. Fischer 1910 herausbrachte – verstand Thomas Mann als Entsprechung zu Wagners Parsifal; beide nannte er „Abschiedsweihespiele“ und „zeleste Greisenwerke großer Ehrgeiziger in ihrer majestätisch-sklerotischen Müdigkeit, dem Schon-mechanisch-gewordenen-Sein all ihrer Mittel, dem Spätgepräge von Resümee, Rückschau, Selbstzitat, Auflösung.“ (X, 228). ‚Spiele‘ fürwahr, Parsifal als ein solches so von Wagner benannt, bei Ibsen ein Motiv, das am Ende des zweiten Aktes zwischen Bildhauer Rubek und seiner toten/auferstandenen Geliebten Irene ausdrücklich Thema wird, Günter Eichs vermeintlich letzte Worte vorwegnehmend: „So laß uns denn weiter spielen!“, worauf die durch einen „Bach“ (Styx) von dem Künstler getrennte geliebte Wiedergängerin sagt: „Ja, spielen, spielen, – nichts als spielen.“96 Das eigene skulpturenhafte Auftreten Ibsens, das Verschleiern seiner Biographie, dessen Ausmaß erst in unserer Zeit ganz erkennbar geworden ist,97 dieses Aufgehen und Sich-Verbergen im Werk hat Thomas Mann in seiner essayistischen Skizze mit dem Verweis auf den „Werkmenschen“ durchaus angedeutet. Es dürfte ein Grund mehr dafür gewesen sein, keinen Großessay über den verehrten norwegischen Dramatiker zu verfassen; diese Aufgabe war bei George Bernhard Shaw besser aufgehoben.98 Und selbst auf Thomas Manns ureigenem Terrain, Leben

96 In: Hendrik Ibsen, Sämtliche Werke. Volksausgabe in fünf Bänden. Hrsg. v. Julius Elias und Paul Schlenther. Bd. V. Berlin 1910, S. 535. 97 Vgl. Robert Ferguson, Henrik. Ibsen. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Michael Schmidt. München 1998. 98 Vgl. George Bernhard Shaw, The Quintessence of Ibsenism (1891). In: Ders., Major Critical Essays. With an Introduction by Michael Holroyd. Harmondsworth 1986, S. 23–173. https://doi.org/10.1515/9783110734508-005

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und Werk Richard Wagners, hatte Shaw eine bemerkenswerte Vorlage geliefert in Gestalt seines „Commentary on the Niblung’s Ring“ The Perfect Wagnerite (1898),99 die noch in Thomas Manns Versuch Richard Wagner und der ‚Ring des Nibelungen‘ (1937) konzeptionell und stilbildend gewirkt haben dürfte. Es war eben kein Zufall, dass sich Thomas Mann bei später Gelegenheit würdigend zu Shaw äußern sollte (1951). Anders als Ibsen hatte Wagner seine Biographie geradezu ‚ausgestellt‘. An Wagner ließ sich für ihn erproben, was es auf sich hatte mit der vielbemühten Diskrepanz von Kunst und Leben, dem Hauptthema Thomas Manns seit den Tagen von Tonio Kröger. „Leiden und Größe“, diese Paarung hatte so Unwiderstehliches, dass sie auch den Titel für Thomas Manns bekanntesten Essayband abgeben sollte, wobei dann Richard Wagner zu einem der „Meister“ wurde, die, wie Thomas Mann meinte, ihre Größe erlitten und in ihrem Leiden Größe gezeigt hatten. Unter den biographischen Arbeiten, die für Thomas Mann in Sachen Wagner zur Hauptanregung wurden, gehörte in erster Linie Paul Bekkers Darstellung Wagner. Das Leben im Werke (1924),100 das bereits im Titel jenen Zugang zu bedeutenden „Meistern“ signalisierte, den Thomas Mann bevorzugte: gelebter Werkinstinkt, Kunst, durchzogen von „Lebensspuren“ und Entäußerungen ästhetischen Willens. Unter den zahlreichen Lesespuren, die sich in Manns Exemplar von Bekkers umfangreichem Werk finden, fällt neben anderen die Hervorhebung eines Passus auf, in dem der Musikkritiker auf den Ausdruck des „Rein-Menschlichen“ in Wagners Werk rekurriert. Der Mensch gilt ihm – laut Bekker – als ein „sensualistisches Wesen“. Dieses „Menschliche“ sei „in Wahrheit das rein Gefühlsmäßige, die schrankenlose Hingabe an den Affekt des Augenblicks“.101 Thomas Manns Ansatz ist zunächst anderer Art, da er Wagner zu Beginn seines Versuchs als einen Repräsentanten seiner Zeit, aber auch als einen Gestalter von Zeit vorstellt. Es handelt sich somit um einen biographierenden Zugang vom Typus: ‚der Künstler in seiner Zeit‘. Mehr noch: Es geht Thomas Mann um „Leiden und Größe“ eines Zeitalters, des 19. Jahrhunderts, wobei er einen Kunstgriff anwendet, der bereits auf der ersten Seite seiner Überlegungen staunen lässt: In Ana-

99 Ebd., S. 177–307. 100 Paul Bekker, Wagner. Das Leben im Werke. Berlin/Leipzig 1924. Ein Exemplar befindet sich ebenso in Thomas Manns Nachlassbibliothek wie Bekkers Beethoven (1912) und: Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen (1926). (Eine vollständig erschlossene, wenngleich aufgrund urheberrechtlicher Bestimmungen teilweise nur bedingt aufrufbare Liste der digitalisierten Bände bietet das Thomas Mann-Archiv in der ETH-Zürich: https://nb-web.tma. ethz.ch/digbib/home 101 Bekker, Wagner, S. 250.

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IV Der Andere im Ich: Wagner – Schopenhauer – Hitler

logie zu einem der zeittypischen, ja für das 19. Jahrhundert paradigmatischen Romane, Turgenjews Väter und Söhne (1860), ohnedies einem seiner bevorzugten Vorgänger, wie er in seinem Versuch über Theodor Storm (1930) durchblicken ließ, nennt er sein und seiner Zeitgenossen Verhalten gegenüber jenem Jahrhundert das von Söhnen zu ihren Vätern. Nähme man diese Analogie noch wörtlicher, dann bedeutete dies: das 20. Jahrhundert setzt wie der junge Basarow auf ‚Nihilismus‘. So porträtiert Thomas Mann eingangs mehr die Zeit Wagners, entwirft ein Zeit-Bild, das aus intellektuellen Rückblicken besteht. Das Jahrhundert Wagners, es tritt auf dieser ersten Seite wie eine Persönlichkeit in Erscheinung, zu der wir „uns“ mit Thomas Mann verhalten, und zwar so: „Wir zucken die Achseln über seinen Glauben sowohl, der ein Glaube an Ideen war, wie über seinen Unglauben, das heißt seinen melancholischen Relativismus. Seine liberale Anhänglichkeit an Vernunft und Fortschritt scheint uns belächelnswert, sein Materialismus allzu kompakt, sein monistischer Weltenträtselungsdünkel außerordentlich seicht.“ (IX, 363) Von diesem Hintergrund nun hebt sich ein weiterer, anders gelagerter ‚Charakterzug‘ jener Zeit ab, der den Blick auf den Hauptgegenstand der Betrachtung umlenkt: „Und doch wurde sein wissenschaftlicher Stolz kompensiert, ja überwogen von seinem Pessimismus, seiner musikalischen Nacht- und Todverbundenheit, die es wahrscheinlich einmal stärker kennzeichnen wird als alles andere.“ Und doch befinden wir uns noch nicht ganz bei Wagner, denn das wollte gesagt sein: Damit, mit diesem „Pessimismus“ hängt paradoxerweise „ein Zug und Wille zusammen zum großen Format, zum Standardwerk, zum Monumentalen und grandios Massenhaften – verbunden, merkwürdig genug, mit einer Verliebtheit in das ganz Kleine und Minutiöse, das seelische Detail.“ (IX, 363 f.) Thomas Mann porträtiert hier die Zeit in ihrem Widerspruch, aus dem sich dann ein Phänomen wie jenes Richard Wagners annähernd erklären lässt, eben weil er Widersprüche dieser Art zu Bestandteilen seines Lebens und Werkes machen sollte. Gerade in dieser Hinsicht spricht, wer über Wagner handelt, über das 19. Jahrhundert; und wer über diese Zeitspanne handelt, spricht von ihm. Im Grunde betrachtet Thomas Mann ‚den Anderen‘ vorzugsweise im Verhältnis zu sich selbst – das Beispiel ‚Goethe‘ hat dies zur Genüge erwiesen – und/oder im Vergleich mit einem weiteren ‚Anderen‘, was auch dann geschieht, wenn der Titel davon nichts verrät. So ergeben sich die wichtigsten Einsichten zu Theodor Storm aus der Gegenüberstellung zu Turgenjew und die frühe psycho-biographische Skizze, Schillers Schwere Stunde, gewinnt durch das dunkel gehaltene Gegenüber ‚Goethe‘ an Tiefenschärfe. Und bei Wagner? Für Thomas Mann ließ sich – zumindest in diesem Versuch – kein eigentliches Gegenüber ausfindig machen. Die kontrastive Methode seines Darstellens fand keinen Ansatzpunkt. Einen solchen

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erwägt Thomas Mann nur im Rückblick auf seinen Versuch in Gestalt von Franz Liszt: „Die europäische Geistigkeit Liszts gegen das deutsche Wachstum Wagners aus dem Kleinbürgerlichen.“ (Tb, 1.IX.1933) Doch bei Lichte besehen verhalten sich die Dinge anders; denn schließlich entstammte ja auch Liszt nicht gerade großbürgerlichen Verhältnissen. Und dann Cosima, die „Liszttochter, geistig mondän und nicht-deutsch (um nicht zu sagen ‚undeutsch‘) von Geburt, trägt einerseits katholisch-weihrauchhaftes in die Wagner-Sphäre hinein, inspiriert oder schreibt selbst aber auch die antisemitischen und deutschnationalistischen Artikel des späten Wagner in den Bayreuther Blättern.“ Diese Einschätzung ergab sich nach einem Spaziergang mit Franz Wilhelm Beidler in Sanary-sur-mer,102 angereichert durch diesen Kommentar zu Wagners abtrünnigem jungen Freund: „Dazu der aus Pfarrhaus, Humanismus, Professorentum durch Krankheit ins Europäisch-Deutschfeindliche genial ausgeartete Nietzsche.“ (Tb, 1.IX.1933) Nicht die Richtigkeit oder Verzerrtheit dieser Einschätzung steht hier in Rede, sondern Thomas Manns, des Epikers Kunst des Kurzporträts, das als Biographie-Ersatz mit wenigen Wortfederstrichen eine Persönlichkeit zu zeichnen versteht. „Leiden und Größe“ bedürfen der Vergleichswerte, um sie ermessen und einschätzen zu können. Im Versuch über Wagner war es nicht Liszt, sondern wie im Falle Goethes (1921) Tolstoi, den Thomas Mann benennt, um das Kolossale des Kunstanspruchs des Komponisten vergleichend zu konturieren. Es ist dieser Doppelblick, die perspektivierende Optik auf Leben und Werk, die diesen Versuch auszeichnet, wie überhaupt Thomas Mann augenscheinlich einen ausgeprägten Sinn für Doppelbiographien hatte. Seine Arbeit über Wagner, als Vortrag konzipiert, zunächst in München, danach u. a. in Bern und Amsterdam gehalten, aber als monographisch-biographische Studie ausgearbeitet, ist in zehn größere, nicht nummerierte, nur durch Leerzeilen, keineswegs durch Zwischenüberschriften indizierte Abschnitte aufgeteilt. Diese Leerzeilen oder Atem- und Überdenkpausen sehen sich fallweise wirkungsvoll rhetorisch überbrückt. Nachdem Thomas Mann in den Abschnitten zwei bis vier das Besondere von Wagners Werk Schritt für Schritt kenntlich gemacht und das Hauptmotiv dieses einzigartigen Schaffens bezeichnet hat, nämlich die Verbindung von Musik mit „Psychologie und Mythus“ (IX, 368), und nachdem er das „Zaubervolle“, „Wunderweltliche“, „Meisterhafte“ im Werk dieses auch im Leben „leidenschaftlichen Theatralikers“ (IX, 374) herausgestellt hat, demontiert er diese Charakteristika mit einem Satz, der den umfangreichen vierten Abschnitt in

102 Franz Wilhelm Beidler, Cosima Wagner. Ein Porträt. Richard Wagners erster Enkel: Ausgewählte Schriften und Briefwechsel mit Thomas Mann. Hrsg. u. erläutert von Dieter Borchmeyer. Würzburg 2011.

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IV Der Andere im Ich: Wagner – Schopenhauer – Hitler

Gestalt einer drastischen Antiklimax abschließt: „Nun denn, das Genie Richard Wagners setzt sich aus lauter Dilettantismen zusammen.“ (IX, 381) Dies wiederum ist ein Urteil, das Thomas Mann von Paul Bekker übernommen hat, der es seinerseits zitiert als ein Verdikt der Kritikerwelt und „ernster, musikeigner Künstler“, das zunächst auf Carl Maria von Weber gemünzt war und dann auf Wagner übertragen wurde.103 Bekker bringt dieses Urteil in Verbindung mit „der an sich richtigen Erkenntnis, daß die Musik hier nicht mehr reiner Klang ist, sondern durchsetzt bleibt: von Vorstellungen, die aus anderen Gebieten kommen und dadurch den eigengesetzlichen Organismus des musikalischen Formgewebes stören.“104 Thomas Mann wiederum überbrückt die folgende Leerzeile, indem er dieses Verdikt am Anfang des nächsten Abschnitts sogleich wieder aufnimmt, aber rhetorisch umwertet: „Aber aus was für welchen!“ – gemeint sind die schein-pejorativen „Dilettantismen“. Eine Kunst sei aus ihnen entstanden, die selbst „Unmusikalische zur Musik überredet“. (IX, 381) Es geht Thomas Mann nicht um den ‚Mehrwert‘ (in) dieser Musik, sondern um ihre Anderswertigkeit. Er zeigt, wie diese sich aus einem Konzipieren entwickelte, das mit regelrechter Lebensplanung zusammenhing. Thomas Mann belegt dies mit einem biographischen Zeugnis aus dem Jahre 1862, einem Brief an den Dirigenten Hans von Bülow, in dem Wagner Parsifal als sein letztes Werk benennt – „rund zwanzig Jahre bevor er zur Ausführung kommt“. (IX, 386) Im sechsten Abschnitt verweist er auf die (vorrangig psychosomatisch bedingte) Krankheitsbiographie Wagners, das Sich-Einrichten „in pedantischer Ordnung und eleganten Behaglichkeit“ großbürgerlichen Zuschnitts nebst protestantisch anmutendem Arbeitsethos. Thomas Manns süffisanter Kommentar hat jedoch auch etwas Selbstentlarvendes: „Man weiß nicht, was bürgerlicher anmutet: die Luxusliebe oder daß ein Vormittag ohne Arbeit so ganz unerträglich erscheint.“ (IX, 412) Denn das ist auch genau die Lebenserfahrung und Bewusstseinshaltung, die Thomas Mann zeitlebens an den Tag legte.

Denkwege Den Anderen im Selbst aufzufinden, sei es gewollt, sei es zur eigenen Überraschung, das ist das Privileg des essayistisch vorgehenden Biographen. Von seiner Grundsympathie für diesen Anderen ist auszugehen, einen Gegenpol wählt man sich seltener. Wie aber dieser Abschnitt erweisen wird, unternahm genau das Thomas Mann, und zwar unmittelbar nach seinem philosophischsten Essay, nur mit 103 Bekker, Wagner, S. 13 104 Ebd.

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einem Nachnamen betitelt, bei ihm, von Chamisso nebst Dürer und Tolstoi abgesehen, eher die Ausnahme. Mit den beiden Letztgenannten bildet Schopenhauer im Jahr 1928 eine personale Trias. Diese bloßen Nachnamen haben etwas von einer unvermittelten Anrufung, und was Schopenhauer betrifft, lässt sich durch aus davon sprechen, dass Thomas Mann dessen Denken geradezu herbeirufen wollte. Ein biographischer Essay ist Schopenhauer nicht, und doch gehört er wesentlich zu jenen Texten, die hier zu untersuchen sind. Denn es handelt sich um die Lebensbeschreibung eines Denkens, das Leben eines Gedankens, der Philosophiegeschichte machte, nein, nicht im Sinne eines bloßen Nach-Lebens, sondern der lebendigen Gegenwart dieses Denkens, das sich, so der Eindruck, der bei der Lektüre dieses Versuchs entsteht, Schopenhauer als seinen Vermittler ausgesucht hatte. Die grammatische Zeitstufe, die Thomas Mann für diese Charakterstudie eines Gedankens wählt, ist wie bereits bei den anderen personenbezogenen Essays das Präsens. Man scheut sich, es „historisch“ zu nennen, geht es dem Verfasser doch offenkundig um die unbedingte Vergegenwärtigung dieser Denkvorgänge, ja die Begehbarkeit dieser Denkwege im Hier und Heute. Man kann geradezu behaupten, Thomas Mann habe dem ‚eigentlichen‘ biographischen Stoff und seinem Reiz, den das Leben Schopenhauers bietet, widerstanden, entstammte doch auch der Philosoph dem Handels- und Kontormilieu einer Freien Stadt (Danzig), zu schweigen von der frühen Ausrichtung des jungen Schopenhauer auf Goethe.105 Er streift dieses Thema nur, gibt darüber eher in einer Art Beschreibungsraffer Auskunft, und das erst im letzten Drittel des umfänglichen Essays: „Man braucht nur sein Leben anzusehen: seine hanseatisch-kaufmännische Herkunft, die Seßhaftigkeit des stets mit altmodischer Eleganz gekleideten älteren Herren in Frankfurt am Main, die kantisch-pedantische Unwandelbarkeit und Pünktlichkeit seines Tageslaufes: seine behutsame Gesundheitspflege auf Grund guter physiologischer Kenntnisse“. (IX, 567) Mit Ausnahme der „Seßhaftigkeit“ dürfte man erneut unschwer Ähnlichkeiten mit dem Verfasser des Essays erkennen. In einem fiktiven Zusammenhang hatte Thomas Mann den Umgang mit Schopenhauer an prominenter Stelle bereits erprobt, als er seinen Senator Thomas Buddenbrook in Die Welt als Wille und Vorstellung lesen ließ, insbesondere das Kapitel „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“, eine katalysatorische Teilepisode aus Buddenbrooks letzter Lebensphase und damit ein Aspekt von dessen ‚Biographie‘. (I, 654–655) Im Essay nun spricht Thomas Mann von Schopenhauers Hauptwerk als einem „Geistesroman“ und damit von einer Überblendung von Erzählen und Philosophieren. Tatsächlich greift 105 Vgl. zur Biographie z. B. Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2001.

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er denn auch nur ein im strengeren Sinne biographisches Datum aus dem Leben Schopenhauers heraus, nämlich sein Verhalten im Jahre 1848, als er „dem Offizier, der von seiner Wohnung aus die Barrikaden-Männer rekognoszierte, ostentativ seinen ‚doppelten Operngucker‘“ gab, „damit er besser auf sie schießen lassen könnte.“ (IX, 566) Auf diese Weise zeigte Thomas Mann einen Denker, der gleichzeitig seiner Zeit voraus war und ihr weit hinterherhinkte. Wiederholt zeigt sich Thomas Mann bemüht, Schopenhauer als ein lebendes Paradoxon, einen misanthropischen Humanisten vorzustellen. Er siedelt ihn zwischen Goethe und Nietzsche an, weil er ihn „‚moderner‘, leidender, schwieriger als Goethe“ sieht, „aber viel ‚klassischer‘, robuster, gesunder als Nietzsche, – woraus man ersehen mag, daß Optimismus und Pessimismus, Bejahung oder Verneinung des Lebens nichts mit Gesundheit und Krankheit zu tun haben.“ (IX, 576 f.) Ein weiteres biographisches Datum streift Thomas Mann, wenn er Schopenhauers Studienzeit in Göttingen (1809–1811) benennt, aber nur deswegen, weil damit der Denkzeitraum benannt ist, in dem sich des angehenden Philosophen Auseinandersetzung mit Platon und Kant bündelt, auch wenn er Kants kategorische Prinzipien aufstellende Ethik ablehnte. Man könnte auch sagen: Für Schopenhauer kreuzten sich, laut Thomas Mann, die Denkwege der Antike und Moderne, der erkenntnispoetisch vorgetragenen und der erkenntniskritisch wirksamen Philosophien. Den Weg nun, den Schopenhauers eigenes Denken nach diesem Zeitraum nimmt, führte ihnen geradewegs zum Willen als einer triebbetonten Auffassung vom Leben. Was Thomas Mann zudem anführt, seine spätere „indische Legende“ Die vertauschten Köpfe gewissermaßen vorbereitend, war Schopenhauers Einbindung indischen Denkens in den Platon-Kant-Zusammenhang, wie dieser sie bereits 1816 in einer Notiz bekundete: „Ich gestehe übrigens, daß ich nicht glaube, daß meine Lehre je hätte entstehen können, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten.“106 Es ist das „Tat twam asi“ („Dies bist du“) als vedantische Entsprechung zum gnothi seauton und nosce te ipsum, das jedoch eine fordernde Selbsterkenntnis implizierte, ohne den leicht resignativen Unterton des Brahmanen-Leitspruchs. Was Thomas Mann in seinem Essay besonders interessiert, ist der „Wille“ als der „letzte und nicht weiter reduzierbare Urgrund des Seins“ (IX, 537), von ihm verstanden als ein „Will[e] zum Leben“; und es ist das ‚Leben‘ eben dieses Gedankens, das er in seinem Essay aufzuzeichnen beabsichtigte. Gerade am Beispiel seines Zugangs zu Schopenhauer zeigt sich Thomas Manns Ambivalenz dem Biographischen gegenüber: Einerseits spürt man sein Bedürfnis, wenigstens etwas vom Leben dieses Philosophen mitzuteilen, ihm nachzuspüren und mit ihm dem Phä106 Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß. Hrsg. v. Arthur Hübscher. Bde I–V. Frankfurt am Main 1966 ff., hier: Bd. I, S. 422.

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nomen, wie aus diesem eher gewöhnlichen Leben dieses außergewöhnliche Werk entstehen konnte. Andererseits scheut Thomas Mann die ‚Einmischung‘ in das Leben Schopenhauers, die biographische Aufzeichnungen unweigerlich mit sich bringen. Denn der Biograph will dem Anderen dessen Leben nicht allein überlassen. Hier hat es aber eher den Anschein, als habe Thomas Mann vom gelebten Leben Schopenhauers abstrahieren wollen, weil er davon ausging, dass der Philosoph es mit seinem eigenen Leben selbst so gehalten habe: vom Eigenen Abstand nehmen, um über das Leben allgemein etwas sagen zu können. Was er im Schopenhauer-Essay „Wille zum Leben“ nennt, hieß zu Anfang seiner Karriere als Erzähler „Wille zum Glück“, so der Titel einer Erzählung gleichen Titels (1896). Darin ist das Durchhaltevermögen eines herzkranken jungen Künstlers Thema, der so lange lebt, bis der großbürgerliche Patriarch von Stein in die Verehelichung seiner Tochter mit diesem todkranken Porträtisten nach einer Wartezeit von über fünf Jahren einwilligt. Aber „am Morgen nach der Hochzeitsnacht“ ist er verstorben. „Es mußte so sein. War es nicht der Wille, der Wille zum Glück allein, mit dem er so lange den Tod bezwungen hatte? Er mußte sterben, ohne Kampf und Widerstand sterben, als seinem Willen zum Glück Genüge geschehen war; er hatte keinen Vorwand mehr, zu leben.“ (VIII, 61) Das klingt beinahe wie reiner Schopenhauer, beinahe, denn bei Schopenhauer ist nicht von einem „Willen zum Glück“ die Rede – ‚Glück‘ wäre eher die Überwindung des Willens, eine „buddhistisch-asketische Willensumkehr“, von der Thomas Mann in seinem Lebensabriß (1930) gesprochen hatte. (XI, 111) Im Umkreis der Erzählung Der Wille zum Glück findet sich zudem ein Eintrag in seinen Notizbüchern, der auf Balzac verweist: „Der Wille – ein Fluidum, das nach Belieben Alles, sogar die absoluten Gesetze der Natur modifizieren kann.“107 Übrigens dürfte er in Schillers Demetrius-Fragment eine vergleichbare Konstellation gefunden haben, wo der betrügerische Titelheld konstatiert: „Wo nur der Wille frei: da ist dem Herzen /Kein Glück versagt, denn selbst das Herz lernt schweigen.“108 Im Schopenhauer-Essay ging es Thomas Mann nunmehr weniger um das „erotisch-einheitsmythische Element dieser Philosophie“, um das es ihm als angehender Schriftsteller zu tun war (XI, 111), als vielmehr um die ‚Biographie‘ dieses Willensgedankens, seinen Ursprung und seine Ausprägung im Leben von Schopenhauers Denken. Im Lebensabriß hatte er betont, dass eine ‚asketisch‘ ausgerichtete Philosophie sehr wohl

107 In: Thomas Mann, Notizbücher. Edition in zwei Bänden: Notizbücher 1–6. Hrsg. v. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin. Frankfurt am Main 1991, S. 49. 108 In: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Dritter Band. Hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 6. Aufl. Darmstadt 1980, S. 95.

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auch ihr Gegenteil inspirieren kann, nämlich die Welt von Wagners Tristan, eine Welt musikalischer Vorstellung, in der sich der Wille sinnlich auflöst.

Eigenes im Anderen durchschauen – Sigmund Freud zum Beispiel Im Essay Bruder Hitler (1939) – er schien als Doppelporträt angelegt – äußerte Thomas Mann den „stillen Verdacht“, er, der Unmensch, dessen Namen er im Essay auszusprechen peinlichst vermeidet, habe mit seinem „Marsch auf eine gewisse Hauptstadt“, gemeint ist Wien, im Grunde seines „wahren und eigentlichen Feindes, – dem Philosophen und Entlarver der Neurose, dem großen Ernüchterer, dem Bescheidwisser und Bescheidgeber“, dessen Namen er hier auch nicht nennt, habhaft werden wollen. (XII, 850) Man kann in der Verwendung des Wortes „Bescheidwisser“ für Freud eine leichte Abschätzigkeit wahrnehmen, aber der hyperbelhaften Behauptung, Hitler habe den Triumph seines Willens zur absoluten Macht gerade durch die Einverleibung der Schaltzentrale der Psychoanalyse feiern wollen, lässt sich einiges abgewinnen. Bruder Hitler führte in jedem Fall eine vehemente Kritik am ‚Prinzip Wille‘ vor – ob als Wille zur Macht verstanden oder als politisch korrumpierter Wille zur Kunst. In keinem anderen Essay hat Thomas Mann Kritik am Anderen so kompromisslos in Selbstkritik überführt; man könnte behaupten, er habe quasi psychoanalytisch die Motivation in seinem biographischen Widerpart auf sich selbst bezogen, auch wenn dies seinen „Haß“ auf dieses „verhängnisvolle Geschöpf“ (XII, 846) nicht in Selbsthass umschlagen ließ. Doch immerhin bekennt er: „[…] besser, aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Haß ist das Sich-wieder-Erkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten, möge sie auch die moralische Gefahr mit sich bringen, das Neinsagen zu verlernen.“ (XII, 849) Heiterer? Was sind nun die Merkmale dieses in Hitler „verhunzten“ Künstlertums, in dem sich Thomas Mann eben auch wiedererkennt? Sie ergeben eine peinliche Liste: die „Unersättlichkeit des Kompensations- und Selbstverherrlichungstriebes, die Ruhelosigkeit, das Nie-sich-Genüge-Tun, das Vergessen der Erfolge, ihr rasches Sich-Abnutzen für das Selbstbewußtsein, die Leere und Langeweile, das Nichtigkeitsgefühl, sobald nichts anzustellen und die Welt nicht in Atem zu halten ist, der schlaflose Zwang zum Immer-wieder-sich-neu-beweisenMüssen …“. (XII, 849) Bereits zu Beginn seines Versuchs hatte Thomas Mann diesen „Er“ als jemanden bezeichnet, der beständig über das „Nichts“ siegen wolle, um seine eigene Nichtigkeit zu verdrängen. Damit implizierte Thomas Mann, dass gerade die Psychoanalyse diesen Blick auf „eine Erscheinungsform des Künstlertums“ im Phänomen Hitler ermöglicht

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habe. (XII, 848, m. Hervorh.)109 Bedenkt man dazu noch die totale Indienststellung, wenn nicht Mobilisierung der Medien, deren Wirkungsweise er zu diesem Zeitpunkt ja längst erfasst hatte, dann überrascht sein Urteil „Wagnerisch, auf der Stufe der Verhunzung“ nicht (XII, 848), wohl dagegen eine weitere Relativierung des Psychoanalytischen. Im Essay geht sie der Bezeichnung von Freud als „Bescheidwisser“ voraus. Ausgerechnet den Tod in Venedig nennt Thomas Mann, der „manches von Absage an den Psychologismus der Zeit“ wisse, „von einer neuen Entschlossenheit und Vereinfachung der Seele“. (XII, 850) Zugegeben, „Psychologismus“ ist nicht gleichzusetzen mit „Psychoanalyse“, eher wiederum mit ihrer „Verhunzung“ zur Modeerscheinung. Aber gerade der Tod in Venedig führt ja die Auflösung von Entschlossenheit vor, das Wechselspiel von Mythos und Psychologie – und das in einer ‚neuen‘ Komplexität und eben keineswegs „Vereinfachung“. Es bleibt im Dunkeln, was Thomas Mann damit wirklich meinte, wobei jedoch schlicht zu konstatieren ist: Er argumentiert in eigener Sache schaffensbiographisch, wobei er Hitler einen Werde- oder Entwicklungsgang geradezu abspricht – übrigens auch ein massenpsychologisches Vermögen, worüber der Hitlerismus wie alle ideologischen Totalitarismen in einem Übermaß verfügte. „Auf jeden Fall bin ich dagegen“, so Thomas Mann gegen Ende seines Bruder Hitler-Essays, „daß man sich durch ein solches Vorkommnis [d. h. Hitler, d.Verf.] das Genie überhaupt, das Phänomen des großen Mannes verleiden läßt.“ (XII, 851) Und diese ‚drei Großen‘ in seiner Essayistik der dreißiger Jahre waren Wagner, Schopenhauer und Freud, ihr Wille zum Lebenswerk; daher bedeutete für Thomas Mann deren Biographie in erster Linie eine Opusgraphie und umgekehrt. Dieses Interesse am Werkleben entspricht durchaus dem, was man „innovative Formen“ der Biographik genannt hat.110 Am Beispiel von Freuds Moses-Studie hat Ilse Grubrich-Simitis einen ausdrücklich als „biographisch“ bezeichneten Essay vorgelegt, dessen Leitfrage „Hat Moses gelebt?“ mit identifikatorischen Hinweisen auf Freuds späte Biographie ‚belegt‘ wird.111 Man hat zudem Bruder Hitler in Verwandtschaft zu Freuds letzter Veröffentlichung, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), gesehen und Thomas Manns Moses-Novelle Das Gesetz (1943) – als Werk genau zwischen dem Abschluss der Josephs-Tetralogie

109 Dazu inzwischen grundlegend: Wolfram Pyta, Hitler: Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. Berlin 2015. Für eine betont kritische Auseinandersetzung mit dieser Studie vgl. Verena Wirtz, Rezension zu: Pyta, Wolfram: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. München 2015. ISBN 978-3-8275-0058-8, In: H-Soz-Kult, 29.01.2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23366. 110 Bödeker, Biographie, S. 11. 111 Ilse Grubrich-Simitis, Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein biographischer Essay. Die Sigmund-Freud-Vorlesungen. Frankfurt am Main 1991.

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und dem Beginn der Arbeit am Doktor Faustus stehend – als erzählerischen Vollzug von Freuds Moses-Schrift gedeutet und als einen „Aufruf zum Widerstand“ gegen die Apokalypse der Kultur.112 Was beide Auseinandersetzungen mit dem Moses-Stoff kennzeichnet, ist der Rückgriff auf den Mythos, aus dem sie wiederum einen bestimmten Typus gewinnen. Das dient weniger einer kulturpsychologisch verstandenen Analyse113 des Materials, eher dagegen der Identifikation – bei Mann und (überraschenderweise) Freud mit primär erzählerischen Mitteln. Unter diesen Voraussetzungen sind auch die Aussagen Thomas Manns über Freud zu werten, namentlich die beiden grundlegenden Essays Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929) sowie Freud und die Zukunft (1936), die als ein Text deutbar sind.114 Darin sieht Thomas Mann in Freud einen ‚romantischen Aufklärer‘– und das „Revolutionäre“ in einem „paradoxen und nach logischer Üblichkeit verkehrten Sinn“. Freud arbeite „im Sinne des großen Zurück ins Nächtige, Heilig-Ursprüngliche, Lebensträchtig-Vorbewußte, in den mythisch-historisch-romantischen Mutterschoß.“ (35) Für Mann ist Freud der Archäologe des Willens, ein Wiener Geistesbürger unterwegs zum Chthonischen und Dämonischen. Mit seiner Entdeckung des Es habe er sich auf den Weg in den analysierbaren Mythos begeben, wie überhaupt für Mann die Psychoanalyse Mythos und Typus zusammenbringt, Subjekt und Objekt sich auf neuartige Weise begegnen lassen. (69) Das Besondere an diesem Versuch über Freud, als ausgreifendes Essay konzipiert, aber als Festvortrag gehalten, liegt in der Art, wie Thomas Mann selbst sein „Objekt“ aufgreift und werkautobiographisch überblendet, mehr über sich spricht, weil er erzählen will, „wie tief und eigentümlich vorbereitet“ er durch „entscheidende Bildungseindrücke“ seiner Jugend „auf die von Freud kommenden Erkenntnisse“ war. (74) Damit meinte er seine frühe Beschäftigung mit Schopenhauer ebenso wie mit Novalis und Nietzsche, die Freud, anfänglich und noch längere Zeit scheinbar ohne deren Kenntnis, so vermutet Mann, durch seine Analytik der Psyche gewissermaßen eingeholt habe. Bemerkenswert an Manns Text ist zudem, dass er mitten in seinem Versuch über Freud auf das Problem des Biographischen zu sprechen kommt und das anhand der Studie „Zur Psychologie älterer Biogra112 Uwe Wolff, Poetische Imagination vom Anfang und Ende der Kultur. Moses als Kulturstifter im Werk von Thomas Mann und Sigmund Freud. In: Neue Züricher Zeitung v. 21. April 1989. Fernausgabe Nr. 91, S. 41–42. 113 Dass die Kulturanalyse schlecht beraten wäre, mit Typologien zu arbeiten, zeigt – neben Hans Blumenberg – vor allem Mieke Bal, Kulturanalyse. Hrsg. v. Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Frankfurt am Main 2002. 114 Alle nachfolgenden Textnachweise nach folgender Ausgabe: Thomas Mann, Freud und die Psychoanalyse. Reden, Briefe, Notizen, Betrachtungen. Hrsg. v. Bernd Urban. Frankfurt am Main 1991.

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phik“, die ihm ihr Verfasser, „ein Wiener Gelehrter aus der Schule Freuds“, gemeint ist Ernst Kris, zugeschickt hatte.115 Biographische Theorie hatte in jener Zeit ohnedies Konjunktur. Georg Misch hatte nach dem Erbe Wilhelm Diltheys und seiner Auffassung vom „deutenden Erleben“ für die Biographik gefragt.116 Siegfried Kracauer hatte die „Gesellschaftsbiographie“ der, wie er meinte, veralteten Darstellung von Persönlichkeiten auf der Grundlage der „Geschlossenheit der alten Romanform“ gegenübergestellt, womit Emil Ludwig, Stefan Zweig und der von Thomas Mann durchaus geschätzte Dmitri S. Mereschkowski gemeint waren.117 Kracauer selbst hatte dieses neue Modell des Biographierens am Beispiel von Jacques Offenbach vorgelegt, wobei er bereits im Vorwort betonte, diese Künstlerbiographie sei in Wahrheit eine „Lebensbeschreibung“ von Paris.118 In diesen Zusammenhang gehört auch Thomas Manns auf Lübeck und seine Ursprünge gemünztes Wort von der „geistigen Lebensform“ (1929), worin er behauptete, das Geistige präge das Leben, gebe ihm ‚Gestalt‘ – ein weiteres Modewort der damaligen Zeit –, wobei umgekehrt auch das Leben in seiner jeweiligen Umgebung das Geistige beeinflusse. Dass es zum Phänomen des Lebens gehört, aus Zusammensetzungen zu bestehen, Momenten des Wiedererkennens und Phasen diverser Identifikationen, benannte Thomas Mann mit dem Begriff des „Zitathaften“.119 Dies nun bringt uns zurück zu den Ausführungen von Ernst Kris, deren Darstellung durch Thomas Mann im Freud-Vortrag wesentlich für sein Verständnis vom Biographischen – gerade auch in erzählter Form – ist. Die „ältere Künstlerbiographie“, also etwa bei Giorgio Vasari, arbeitete mit „Formelgut“ konventioneller Provenienz, mit „feststehenden, schematisch-typischen Zügen und Vorgängen“, so Thomas Mann über Kris, um dem jeweilig in Rede stehenden Künstler Legitimität zu verschaffen. Nicht die Kunstwerke, sondern die Lebensabschnitte, die gelebten Stationen eines Werdegangs, die durchlaufene Ausbildung oder Schulung durch bedeutende Lehrer etc. hätten dem angehenden Künstler Glaubwürdigkeit verschafft, eben so, „wie es immer war“. Thomas Mann kommentiert: „Denn dem Menschen ist am Wiedererkennen gelegen; er möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typische im Individuellen.“ Geradezu dankbar greift er Kris’ For115 Ernst Kris, Zur Psychologie älterer Biographik. In: Imago 22 (1936), S. 257–274. 116 Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Leipzig/Berlin 1931. 117 Siegried Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform (1930). In: Ders., Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main 1970, S. 75–80. 118 Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Amsterdam 1937). Frankfurt am Main 1994, S. 9 f. 119 Dazu eingehend: Jan Assmann, Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung. In: Thomas Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 133–158, zur Freud-Rede bes. S. 136–138.

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mel von der „gelebten Vita“ auf, die das Leben als „Nachfolge, als ein In-SpurenGehen, als Identifikation“ begreift. Und er fragt weiter, was denn nun dem Künstler wie jedem Biographierten eigentlich von diesem „Formelgut“ gehöre, was sein Eigenes sei, wie sich das Typische zum Individuellen verhalte. Sein abschließender Befund lautet: „Das Leben ist tatsächlich eine Mischung von formelhaften und individuellen Elementen, ein Ineinander, bei dem das Individuelle gleichsam nur über das Formelhaft-Unpersönliche hinausragt.“ (alle Zitate, S. 82) Und dementsprechend habe auch eine – erzählte – Biographie, wie die seines (biblischen) Joseph, auszusehen. Schließen wir dieses Kapitel mit einem Deutungshinweis. Wie im Vorgriff auf ein überraschendes Argument im 1936 noch nicht einmal ansatzweise konzipierten Essay Bruder Hitler (1939) betont Thomas Mann gegen Ende seiner Freud-Rede das Phänomen der „Bescheidenheit“, das er im Urheber der Psychoanalyse wirken sah. Die „weltverändernde“, wie er schreibt, „analytische Einsicht“ habe „heiteren Argwohn“ und einen „entlarvenden Verdacht, die Verstecktheiten und Machenschaften der Seele betreffend“, in die Welt gesetzt. Dieser „Verdacht“ nun infiltriere das Leben, untergrabe dessen „rohe Naivität“, nehme ihm das „Pathos der Unwissenheit“, indem er zum „understatement“ tendiere. Dieses wiederum drücke sich in „Bescheidenheit“ aus, wobei er die etymologische These nachliefert, dass diese von „Bescheid wissen“ komme. Daraus wiederum ergibt sich jene hoffnungsvolle Zukunftsvorstellung, die im Titel des Vortrags mitschwingt: „Bescheidenheit aus Bescheid wissen – nehmen wir an, daß das die Grundstimmung der heiter ernüchterten Friedenswelt sein wird, die mit herbeizuführen die Wissenschaft vom Unbewußten berufen sein mag.“ (alle Zitate, S. 91) Im geradezu verwegen (selbst-)analytischen Bruder Hitler-Essay nun sollte Thomas Mann, wie erwähnt, die nicht minder verwegene These vertreten, Hitlers „Marsch auf eine gewisse Hauptstadt“ (Wien, im März 1938) habe in Wahrheit „seinem wahren und eigentlichen Feinde, – dem Philosophen und Entlarver der Neurose, dem großen Ernüchterer, dem Bescheidwisser und Bescheidgeber selbst über das ‚Genie‘“ gegolten. (XII, 850 f.) Nun haftet gemeinhin der Bezeichnung „Bescheidwisser“ etwas leicht Pejoratives an, ein Eindruck, den der Rückgriff auf Thomas Manns Wortverwendung im Freud-Essay jedoch entkräftet. Freud ist der, welcher bescheiden Bescheid weiß und damit für den größenwahnsinnigen Auftrumpfer Hitler ein umso ärgerlicherer Gegner sein muss. Man mag nun einen entscheidenden Schritt weitergehen und behaupten: die ihrerseits analytisch-literarische Auseinandersetzung mit Freuds Werken hatte Thomas Mann dazu befähigt, diesen eigenwilligen Zugang zu Hitler zu finden. Er bestätigt Freud in dessen Auffassung, dass „fiktive Spuren“ „jeder Selbstreflexion

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eingeschrieben“ seien.120 Dass jene bedeutenden Erstlingswerke, die den Namen ihrer Verfasser machten, Buddenbrooks und Die Traumdeutung, beide im Jahre 1900 erschienen, mag dabei als biographisch-symbolisches Datum „buchenswert“ erscheinen, zumal sich beide bereits eines Verfahrens bedienten, das mit Jan Assmann „kaleidoskopisches Zitieren“ als eine besondere Form „kultureller Erinnerungsarbeit“121 genannt zu werden verdient. Was ist damit gemeint? Eine Zitier- und damit Kompositionsweise, die nicht lineares Argumentieren oder Erzählen fördert, sondern ein mehrschichtiges Nebeneinander von Wahrnehmungen und Reflexionen abbildet. Sofern dieses Vorgehen eine ‚biographische‘ Komponente enthält, dann in diesem Sinn: Die Lebensaufzeichnung (Bio-Graphie) versucht dem oft gleichzeitig oder kaum zeitversetzt sich vollziehenden Aufnehmen von Eindrücken und Stoffen gerecht zu werden. Man könnte hierbei von geschichteten Reihen oder Reihungsschichtungen sprechen, die sich jedoch aufgrund der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel und grammatischen Strukturen, die im Grunde nur Abfolgen erlauben, nicht verwirklichen lassen. Der bloße Versuch einer solchen schichtenden sprachlichen Darstellung ginge unweigerlich auf Kosten der Verständlichkeit.

120 Stefana Sabin, Ein Verwandter der Dichter. Freud und die Literatur. In: Neue Zürcher Zeitung v. 6. Mai 2006. 121 Zit. nach: Ebd.

V Biographie als Fiktion. Das Beispiel Serenus Zeitblom Erzählend Leben erfinden, darin liegt der Urimpuls von Autorschaft. Der Fiktion Authentizität abgewinnen, das begründet ihren Anspruch, es mit der gelebten Wirklichkeit aufnehmen zu können. Sich auf ein – oder das eigene – Ich erzählend zubewegen, damit verbrieft sich der Autor Glaubwürdigkeit. Zur Moderne gehört die Einsicht Rimbauds, dass das Ich ein Anderer sei. Aber gleichermaßen trifft seit Nietzsches Ecce homo zu, dass das Ich ein Recht darauf geltend macht, anders zu sein: „Ich bin zum Beispiel durchaus kein Popanz, kein Moral-Ungeheuer, – ich bin sogar eine Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat.“122 Und gerade deswegen kann Nietzsche dann für sich in Anspruch nehmen, sich in seinem vierundvierzigsten Jahr sein Leben zu erzählen123 und den Leser durch die Veröffentlichung dieser Selbst-Erzählung ins Vertrauen zu ziehen. Nicht dass sich eine solche Art Erzählung von selbst erzählte. Sie sucht ihre Formen; beim frühen Thomas Mann gehört zu dieser Suche das Auffinden oder Prägen von beziehungsreichen Namen oder Typen: Friedemann, Mindernickel, Tonio Kröger oder der namenlos gewordene Bajazzo, der in der Erstfassung „Walter Weiler“ hieß; es handelt sich bei „Bajazzo“ eben vorrangig um eine Charakterbezeichnung, die ihm sein gleichfalls namenloser Vater in kritischer Absicht zugeschrieben hatte. Gemeint ist damit ein Schausteller in eigener Sache. ‚Fiktion‘ bedeutet im Fall biographischen Erzählens das Sich-in-einen-Anderen-Versetzen-Können, wobei der Autor Phänomene seines Eigenen in diesen Prozess einbringt und sie dadurch transformiert. Dieses an einer Person und nicht an einer – abstrakten – Sache orientierte Erzählen, wie beim frühen Thomas Mann mit den Themen „Gefallen“, „Enttäuschung“ oder „Wille zum Glück“ geschehen, kommt einer mittelbaren Arbeit am eigenen Selbst gleich. So verkörpert der „Bajazzo“ mit seiner Angst vor dem Scheitern, seinem Lebensekel, der Sorge, mittelmäßig zu werden und Dilettant zu bleiben, eine alter ego-Figur Thomas Manns124, ebenso subtil wie drastisch gezeichnet, beinahe satirehaft für den Simplicissimus reif, auch wenn sie dann in der Neuen Deutschen Rundschau (1897) erschien. In der Novelle sieht sich das Erzähler-Ich in der Aufführung der Oper Margarethe (Faust, 1859) von Charles Gounod, aber auszuschließen ist nicht, dass Thomas

122 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Bd. 6 (=KSA 6). Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, S. 257. 123 Ebd., S. 263. 124 Vgl. u. a., Hermann Kurzke, Thomas Mann, S. 68–69. https://doi.org/10.1515/9783110734508-006

V Biographie als Fiktion. Das Beispiel Serenus Zeitblom



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Mann während seines Italienaufenthalts 1896/97 noch gleichsam ein Echo von Ruggero Leoncavallos veristischer Oper I Pagliacci (Der Bajazzo) mitbekam, die Arturo Toscanini 1892 im Mailänder Teatro dal Verme uraufgeführt hatte. Seine Titeländerung (von ‚Walter Weiler‘ zu „Bajazzo“) mochte dadurch beeinflusst worden sein. Aber Prinzipielles befasste ihn in Rom, wie aus einem Brief an Otto Grautoff vom 21. Juli 1897 hervorgeht: Seit einiger Zeit ist es mir, als hätte ich die Ellenbogen frei bekommen, als hätte ich Mittel und Wege gefunden, mich auszusprechen, auszudrücken, mich künstlerisch auszuleben, und während ich früher eines Tagebuchs bedurfte, um, nur fürs Kämmerlein, mich zu erleichtern, finde ich jetzt novellistische, öffentlichkeitsfähige Formen und Masken, um meine Liebe, meinen Haß, mein Mitleid, meine Verachtung, meinen Stolz, meinen Hohn und meine Anklagen – von mir zu geben.125

In diesen Bemerkungen bahnte sich ein Durchbruch an – hin zu einer Kunst der literarischen Darstellung eigener Dispositionen. Fiktion als transponierte Autobiographie? Zumindest teilweise. Der Bajazzo wurde zum Probelauf in Sachen fiktional verfremdeter Selbstdarstellung. In diesem Zitat zeichnet sich bereits ab, was Thomas Mann, wie bereits gesehen, wiederholt als seinen Vorbehalt gegenüber einer Autobiographie geltend machen sollte: Das unverstellt Selbstentblößende lag ihm nicht. Für seine „Öffentlichkeitsfähigkeit“ bedurfte er der „Masken“, Erzählfiguren, die zu seinen Gefühlsdelegierten werden konnten. In ihnen spaltete sich die eigene Persönlichkeit auf, zeigte multiple Präsenz. Dass sein „Bajazzo“ alias Walter Weiler ungefähr fünf Jahre älter ist als der Autor zum Zeitpunkt der Niederschrift, fällt dabei kaum ins Gewicht, auch nicht, dass er die Vaterfigur dominanter, robuster darstellt, als dies Thomas Manns eigener Vater gewesen ist. Inwieweit die (Luxus-)Plagen des jungen Bajazzo, wie Überdruss, Lebensekel, Langeweile, genuin jenen des jungen Verfassers entsprachen oder durch die Lektüre russischer und französischer Autoren angelesen waren, bleibe ebenso dahingestellt. Wichtig dagegen sind die Disposition zum „Widerstreite“ im Inneren, der väterliche Vorwurf, ein „Bajazzo“ zu sein – eine gehobene Variante eines ‚Taugenichts‘-Daseins, der Wille zum Glück, die wachsende Selbsterkenntnis und das eigenartige Gefühl, sich selbst zu imitieren. Bereits in der „Bajazzo“-Novelle zeichnet sich ab, was für die fiktionalisierten Lebensbeschreibungen bis in die Großepik der Joseph-Tetralogie, des Doktor Faustus, des Erwählten und Felix Krull gültig bleiben wird: Die biographischen Fiktionen verdanken sich Thomas Manns prinzipiellem Unwillen, eine Autobiographie zu verfassen, bei gleichzeitiger Einsicht in die Notwendigkeit, Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Gerade dieser 125 In: Thomas Mann, Briefe I: 1889–1913. GKA 21. Ausgewählt und herausgegeben von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini. Frankfurt am Main 2002, S. 95 f. (Hervorh. i. Org.).

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V Biographie als Fiktion. Das Beispiel Serenus Zeitblom

Zusammenhang verstärkte sich während seiner Zeit in den Vereinigten Staaten, die als Exil zu verstehen er sich sträubte, wie er sich selbst auch nur ungern als Emigrant zu sehen bereit war, eine Einstellung, die er übrigens mit Stefan Zweig teilte. Doch kam es für Thomas Mann nicht in Frage, das Verfassen einer autobiographisch angelegten ‚Welt von Gestern‘ auch nur zu erwägen. Und der Grund dafür bestand in seiner Fähigkeit, das Autobiographische in eine Art selbstentfremdendes Erzählen zu transformieren. Mustergültig gelang ihm dies mit Doktor Faustus.

Der Biograph Serenus Zeitblom Im nicht nur biographisch, sondern auch poetologisch aufschlussreichen Briefwechsel mit Agnes E. Meyer vermeldet Thomas Mann erstmals am 21. Juni 1943 den vorläufigen Arbeitstitel seines neuen Romanvorhabens: „Doktor Faust / Das seltsame Leben Adrian Leverkühns erzählt von einem Freunde“.126 Diesen ‚Freund‘ des Komponisten Leverkühn nennt er einen „durchaus rational-humanistisch gesinnten Referenten“. Ihn versteht Thomas Mann als ein „Medium“, wodurch der Stoff „die Durchheiterung“ erfahre, die er benötige – und, wie er hinzufügt: „ich auch“.127 Die erste Charakterisierung dieses „Referenten“ liest sich dann so: „Der Schreibende (er schreibt jetzt, 1943, in Deutschland) ist ein von den Nazis pensionierter Oberlehrer und heisst Dr. phil. Serenus Zeitblom.“128 Aus dem Referenten ist bereits ein Schreibender geworden, der sich kraft seiner anstehenden Arbeit Biograph nennen kann. In der Forschung führt er jedoch eher ein unverdientes Schattendasein.129 Diese Biographie ist somit vor allem eines: Erzählung, dargestellt als ein Freundesbeweis. Bemerkenswert daran ist zweierlei. Nur als eine Erzählung schien Thomas Mann biographische Arbeit vorstellbar. Und weiter und gravierender: Dieser fiktive Erzähler-Biograph, der eine ihrerseits fiktive Lebensgeschichte erarbeiten wird, ist aufgrund seiner Lebensumstände der ‚Inneren Emigration‘ zu126 Thomas Mann / Agnes E. Meyer, Briefwechsel, S. 493. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Zu den wenigen Arbeiten, die sich ausschließlich Zeitblom widmen, gehört Osman Durrani, The Tearful Teacher: The Role of Serenus Zeitblom in Thomas Mann’s ‚Doktor Faustus‘. In: The Modern Language Review 80 (1985) 3, S. 652–658 sowie: Stephen Joy, Melancholy Echo and the Case of Serenus Zeitblom. Cambridge University Press. Online publication 2013. https://www.cambridge.org/core/books/abs/sadness-and-melancholy-in-germanlanguage-literature-and-culture/melancholy-echo-and-the-case-of-serenus-zeitblom/ACCE82D304C597E8FF1F65BA9C6DD8E1 (aufgerufen am 09.09.2023).

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zurechnen. Damit gehört er zu jener Gruppe von Schaffenden, deren Werke Thomas Mann schon bald radikal abqualifizieren sollte. Die Arbeit am Doktor Faustus verschränkt sich für Thomas Mann wiederholt mit dem Problem des Autobiographischen, dann zum Beispiel, als er über einen möglichen Gegenstand für seinen Vortrag an der Library of Congress nachdenkt. Es kommt ihm „These eleven years“ als Titel in den Sinn, und er kommentiert: „Also eine Art von Autobiographie über den Zeitraum 1933–1944.“130 In dieser Phase liest er (erneut) Nietzsches Ecce homo und notiert: „Welche Titelwahl bei dem grausigen Übermut des Buches!“131 Desgleichen beschäftigt ihn T. S. Eliots Four Quartets, in denen er zutreffend eine lyrische Umsetzung von Beethovens (späten) Quartetten erkennt132, wobei er sich fragt, ob er ihnen sprachlich gewachsen sei. Dennoch fällt er ein bemerkenswertes Urteil: Die Quartets zeigten ihm, dass „Poesie und höhere Prosa einander immer näher kommen und ineinander aufgehen werden.“133 Dem entspricht seine gewachsene Vorliebe für Streichquartette; nichts „Ansprechenderes als die geistige Conversation der vier Instrumente.“134 Zudem liest er Aldous Huxleys soeben erschienenen Roman Time Must Have a Stop, die zwielichtige Lebensgeschichte eines jungen hedonistisch veranlagten Poeten, Sebastian Barnack, im faschistischen Italien. In Die Entstehung des Doktor Faustus spricht Mann mit Bezug auf Time Must Have a Stop von einer „kecken Spitzenleistung des heutigen Romans ohne Zweifel“. (XI, 209) Dabei hätte ihn Huxleys Roman eher auf eine Fortsetzung des Felix Krull denn auf das Faustus-Projekt einstimmen können, hat doch auch Huxleys Protagonist etwas von einem Hochstapler, der seine frühreife Erotomanie entdeckt. Als sich in der Selbstwahrnehmung Thomas Manns der Eindruck des Sich-Historisch-Werdens verstärkte und schließlich zur Gewissheit verfestigte, ließ auch seine Skepsis gegenüber autobiographischen Exkursen nach. Aber über eine wirkliche Autobiographie konnte er sich dennoch nicht mit sich selbst verständigen. Eine solche autobiographische Einschaltung erfolgte, als sein amerikanischer Verleger Knopf eine einbändige Gesamtausgabe der Joseph-Tetralogie vorbereitete und er diese mit einem Blick auf sich selbst bevorworten sollte. Er nannte diese autobiographische Vorrede schlicht „Sechzehn Jahre“, in der jedoch von persönlicher Emotionalität wenig zu spüren war; eher ging es ihm um die objektive Zeitspanne der Arbeit, sechzehn Jahre eben, und was sich in diesem Zeitraum ereignet hatte. Die Tendenz zur Objektivierung des Erzählerischen betonte er, indem er

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Thomas Mann / Agnes E. Meyer, Briefwechsel, S. 584. Thomas Mann, Tagebücher 1944–1946, S. 101 (Eintrag v. 14. IX. 44). Thomas Mann / Agnes E. Meyer, Briefwechsel, S. 492 (Br. v. 21. VI. 43). Ebd. Ebd., S. 578 (Br. v. 5. Aug. 44).

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den „Geist der Erzählung“, eine Vorwegnahme der Einführung in den Roman Der Erwählte, als einen „bis zur Abstraktion ungebundenen Geist“ bezeichnete, „dessen Mittel die Sprache an sich und als solche, die Sprache selbst ist, welche sich absolut setzt und schließlich nicht viel nach Idiomen und sprachlichen Landesgöttern noch fragt.“ (XI, 680) Als uneingeschränkt „autobiographisch“ bezeichnet er seinen „Bericht über die Entstehungsgeschichte“ des Doktor Faustus „in den Jahren 1943–46 mit allen persönlichen und weltgeschichtlichen Ereignissen, die die Arbeit begleiteten.“ Zudem soll dieser „Roman eines Romans hübsch bunt“ werden, wie er seiner „lieben Freundin“, Agnes E. Meyer, mitteilt.135 Er nennt diesen „Roman eines Romans“ denn auch schon einmal seine „Memoiren“, zumindest für den besagten Zeitraum von „1943 bis 46“.136 Aber indem er sie als einen Roman über einen Roman bezeichnet, werden auch sie zu einer „höheren Prosa“ und damit zur Fiktion, verbunden mit dem ungebrochen künstlerischen Anspruch selbst beim Abfassen eines (vermeintlich) autobiographischen Textes. Dabei agiert er dann als ein Serenus Zeitblom in eigener Sache. Indem er sich diesen seinen Lebensabschnitt erzählt, entfernt er sich jedoch auch nicht prinzipiell von Nietzsches Vorgabe im Ecce homo, sich sein Leben zu erzählen, so entschieden er auch dessen exaltiert autobiographischen Ansatz verwirft. Nach eigener Auskunft – und das versteht sich nicht als eine bloße Bescheidenheitsfloskel – kann Zeitbloms Biographie seines dämonisch-genialischen Komponistenfreundes nur eine „vorläufige“ sein. Zwar verfügt er über klassische Bildung, die er seit 1910 als Gymnasiallehrer in Kaisersaschern bis zu seiner Zwangspensionierung durch die nationalsozialistischen Behörden pädagogisch umzusetzen verstand; zwar spielt er die „Viola d’amore“ und betätigte sich sogar als zeitweiser Librettist für Leverkühn, aber als Biograph und Erzähler ist Zeitblom völlig unerfahren. Diese seine große „Erzählung“ des Lebens „des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn“ ist Freundesdienst und in jedem Fall sein erstes bedeutendes Werk. Das besagt: Zeitblom wuchs mit seiner Arbeit und diese mit ihrem Gegenstand. In jedem Fall sieht er sich zu Anfang genötigt, seine eigene Biographie denkbar knapp mitzuteilen: ein Apothekersohn, aufgewachsen als Angehöriger einer verschwindend kleinen katholischen Minderheit im überwältigend protestantischen Regierungsbezirk Merseburg, im fiktiven Kaisersaschern an der Saale, damit aber eingeübt ins innere Emigrieren. Zeitblom bedient sich als fiktiver Biograph Leverkühns autobiographischer Einschaltungen, etwa durch Kommentare zum Zeitgeschehen, ob zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs oder zu den letzten Phasen des Dritten Reichs. Seinem Na135 Ebd., S. 710 (Br. v. 6. Sept. 48). 136 Ebd., S. 712 (Br. v. 9. Okt. 48).

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men wird er damit insofern gerecht, als er „heitere Zeitblüten“, aber eben auch Zeitblüten des Bösen ins zunehmend tragische Lebensgeschehen seines Komponistenfreundes einflicht und damit dem Genüge leistet, was Thomas Mann ursprünglich, wie zitiert, die „Durchheiterung“ des Ganzen genannt hat. Bei seiner Gönnerin, Agnes E. Meyer, jedenfalls hatte er mit diesem Durchheitern Erfolg, denn sie schreibt ihm, nach der Lektüre der in Halle spielenden Kapitel (XII–XIII) habe sie sich „müde gelacht“, „erheitert durch diese ironische Behandlung des Herrn Schleppfuss“.137 Was Zeitblom angeht, gehört zu seinen autobiographischen Einschaltungen ein Mindestmaß an Selbstreflexion, ja an Selbstvergewisserung, was seine Aufgabe, seine ‚Mission‘ betrifft. Diese Funktion hat zum Beispiel der erste Teil des Kapitels XIV, der auch Aufschlussreiches über die Struktur dieser Biographie aus der Sicht des Biographen Zeitblom bietet. Die „theologische Luft“ in Halle, angereichert durch die eigensinnige Behandlung theologischer Fragen durch die Dozenten Kumpf und Schleppfuss, sei ihm, Zeitblom, nicht bekommen, so lesen wir. Er habe seinem Freund zuliebe, den theologische Probleme umtrieben, sich dieser Atmosphäre ausgesetzt, sei bei ihm in Halle geblieben, um „auf ihn achtzuhaben – denn das erschien mir immer höchst notwendig, wenn auch zwecklos.“ Und er folgert: „Eine eigentümlich schmerzliche Bewußtseinsmischung, die ich da ausdrücke: von Dringlichkeit und Zwecklosigkeit“. (VI, 150) Man darf ergänzen: so zweideutig wie die „Lehrerfigur“ Schleppfuss selbst. (VI, 133) Zeitblom, der sich nun als „Schriftsteller“ bezeichnet, hält sich länger bei der Frage auf, ob die Hallenser Studienjahre nicht in einem Kapitel, dem XIII., hätten stehen sollen. Nur aus „Rücksicht auf den Leser, welcher immer nach Ruhepunkten, Zäsuren und Neubeginn ausschaut“, habe er diese Aufteilung in mehrere Kapitel vorgenommen – entgegen seiner „Gewissensmeinung“. (VI, 150) Das bedeutet in diesem Fall: der Stoff bedingt die Form, er geht jedoch nicht in ihr auf, was einer von Thomas Mann geäußerten Sorge über diesen seinen Roman entspricht. Wichtiger aber ist hier, dass Zeitblom in Halle bereits den Eindruck hatte, es werde ihm eines Tages zur Aufgabe, „von den Eindrücken seiner [Leverkühns, R. G.] Jugend biographische Rechenschaft abzulegen.“ (VI, 150) Zeitblom erinnert somit 1943 seine damalige Vorahnung, zum Biographen seines Freundes Leverkühn berufen zu sein. Man mag einwenden, es sei unwahrscheinlich, dass Zeitblom mit dieser Genauigkeit dann Gespräche erinnert, die sich zwischen Leverkühn und seinen Mitstudenten bei einer Zusammenkunft der „christlichen Verbindung ‚Winfried‘“ ergaben. (VI, 151–170) Authentischer, glaubwürdiger wäre es gewesen, wenn sich Zeitblom mehrfach gefragt hätte, ob er sich richtig erinnere, seinen

137 Ebd., S. 695 (Br. v. 26. Feb. 1948).

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Zweifeln über den Hergang der Leverkühnschen Entwicklung mehr Raum gegeben hätte. Denn wenn der ästhetische Hauptgegenstand dieser Biographie, die Musik, nach der oft zitierten Formel „die Zweideutigkeit als System“ ist (VI, 66), dann trifft dies auch auf ein Erinnern zu, das ein systematisches Biographieren vorgibt. In jedem Fall beeindruckt, wie sich Zeitbloms ästhetisches Urteilsvermögen entwickelt, das es ihm erlaubt, die Kompositionen seines Freundes wertend zu beschreiben und sie in dessen Lebenszusammenhang (dar-)zu stellen. Die betonte, von der Anlage her zwangsläufig gegebene Nähe zwischen Biograph und Biographiertem führt in manchen Kapiteln zu einer Konvergenz beider Lebenserfahrungen. Zeitweise gewinnt der Leser den Eindruck, dass Zeitbloms Leben nur zu einer nennenswerten, genauer: ihm selbst nennenswert erscheinenden Biographie durch ihre Koppelung mit jener Leverkühns wird. Zeitblom braucht die Arbeit an der Biographie seines Freundes, um die Trostlosigkeit seines Lebens unter den Vorzeichen des nationalsozialistischen Niedergangs seines Landes zu überstehen. Diese seine Arbeit ist ihrerseits „Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit“ (VI, 651), um Zeitbloms paradoxe Einsicht über Leverkühns finales KlageWerk, Dr. Fausti Weheklag, auf seine eigene Arbeit umzuwidmen. In Zeitbloms Leiden an den Zuständen im nationalsozialistischen Deutschland spiegelt sich das leidensschwere Ecce homo-Dasein seines Freundes – bei gesteigerter kompositorischer Produktivität und Intensität. Doch erweist sich eben auch Zeitbloms Leiden als immens produktiv – in Gestalt seiner Biographie Leverkühns. Diese biographische Konstellation erbringt – im Fall Leverkühns: erbrachte – einen schaffenden Leidensdruck, dem Thomas Mann aber auch eine ihm unbedingt notwendig erscheinende „Durchheiterung des düsteren Stoffes“ abzugewinnen versuchte, wie er in seinem „Roman eines Romans“, Die Entstehung des Doktor Faustus, betonte. (XI, 164) Im vierten Abschnitt dieser Erzählung über eine Fiktion, aus einer Fusion von Autobiographie und erzählter Poetik bestehend,138 erklärt sich Thomas Mann etwas näher über Zeitblom. Wir erfahren, diese Kunstfigur war im ursprünglichen „Drei-Zeilen-Plan“ zum Faustus aus dem Jahr 1901 nicht vorgesehen. Wir erfahren nichts darüber, wann und warum der Gedanke entstanden ist, „das Medium des ‚Freundes‘ zwischen mich und den Gegenstand zu schalten, also das Leben Adrian Leverkühns nicht selbst zu erzählen, sondern es erzählen zu lassen“. (XI, 164) Durch die Entscheidung, es zu tun, sei nun kein Roman entstanden, sondern „eine Biographie mit allen Charakteristiken einer solchen“ (ebd.). Gehen wir dem, was Thomas Mann nach eigener Auskunft dazu bewogen hat, diesen Kunstgriff vorzunehmen, noch etwas genauer nach. Die frühe Arbeit an 138 Vgl. Rüdiger Görner, Die Entstehung des Doktor Faustus. Thomas Mann’s Narrated Poetics. The Ida Herz Lecture 1999. In: Publications of the English Goethe Society 70 (2000)1, S. 46–55.

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der „parodistischen Autobiographie Felix Krulls“ habe daran mitgewirkt, also das Experimentieren mit der Form der Biographie. (ebd.) Dann nennt Thomas Mann drei Faktoren, die offenbar den Ausschlag für die Einbeziehung eines Zeitblom als expliziten Erzähler gegeben hatten. Da war erstens die von ihm für notwendig erachtete Maßnahme, „das Dämonische [Leverkühns, R. G.] durch ein exemplarisch undämonisches Mittel [Studienrat Zeitblom, R. G.] gehen zu lassen, eine humanistisch fromme und schlichte, liebend verschreckte Seelen mit seiner Darstellung zu beauftragen“, was „an sich eine komische Idee“ war, „entlastend gewissermaßen, denn es erlaubte mir, die Erregung durch alles Direkte, Persönliche, Bekenntnishafte, das der unheimlichen Konzeption zugrunde lag, ins Indirekte zu schieben und sie in der Verwirrung, dem Händezittern jener bangen Seele travestierend sich malen zu lassen.“ (ebd.) Auffallend hier ist die Verlagerung ins Distanzierende bei unmittelbar wirkender Expressivität des Geschilderten. Das erzählende „Medium“, Zeitblom, bekennt sich zu seiner Betroffenheit, die der im Hintergrund Regie führende Autor, Thomas Mann, wirkungsbewusst wie stets, instrumentalisiert. Zweitens habe Thomas Mann durch die „Einschaltung des Narrators“ die Möglichkeit gewonnen, „die Erzählung auf doppelter Zeitebene spielen zu lassen, die Erlebnisse, welche den Schreibenden erschüttern, während er schreibt, polyphon mit denen zu verschränken, von denen er berichtet“. Noch deutlicher gesagt: „also daß sich das Zittern seiner Hand aus den Vibrationen ferner Bombeneinschläge und aus inneren Schrecknissen zweideutig und auch wieder eindeutig erklärt.“ (XI, 164 f.) Das Spiel mit Eindeutigkeiten reizte offenbar. Und schließlich, drittens, gewinne die Biographie an „eigentümlicher Wirklichkeit“, weil Zeitblom zum gleichen Zeitpunkt wie Thomas Mann mit der Niederschrift seiner Biographie Leverkühn beginnt. Doch das ist ein eher äußerliches Argument, und Thomas Mann lieferte denn auch umgehend eine weitaus komplexere, auch syntaktisch bewusst vielschichtigere Begründung nach, ausgehend von seinem Zauberwort „Kunstgriff“, den er wie folgt erklärt: […] das spielende Bemühen um die genaue und bis zum Vexatorischen gehende Realisierung von etwas Fiktivem, der Biographie und dem Hervorbringen Leverkühns, ist, von einer anderen aber eine nie gekannte, in ihrer phantastischen Mechanik mich dauernd bestürzenden Rücksichtslosigkeit im Aufmontieren von faktischen, historischen, persönlichen, ja literarischen Gegebenheiten, so daß, kaum anders als in den ‚Panoramen‘, die man in meiner Kindheit zeigte, das handgreiflich Reale ins perspektivisch Gemalte und Illusionäre schwer unterscheidbar übergeht. (XI, 165, m. Hervorh.)

So distanziert sich Thomas Mann selbst von jenem Verfahren, das er seinen „Narrator“ als verbindendes „Medium“ anwenden lässt und das dessen Biographie Leverkühns strukturiert. Nicht umsonst hatte er in der Inkubationszeit, die zum Dok-

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tor Faustus führte, E. T. A. Hoffmanns Kater Murr gelesen, dieses sublime Spiel mit Erzählformen, vorzugsweise nachts, nebst einer Studie über „das Kunstspiel bei Haydn“ mit dem Vermerk: „die Heiterkeit im Sinne des Jenseits von Scherz und Ernst“, ja sogar der „Realitätsüberwindung“. (XI, 159) Darin spricht sich wiederum das Seltsamste aus: Einerseits möchte Thomas Mann ein „eigentümlich Wirkliches“ mit seinem delegierenden Erzählverfahren erreichen, andererseits ist es ihm um „Realitätsüberwindung“ zu tun – um Kretzschmars Wort über die Musik abzuwandeln, Zweideutigkeit als narratives ‚System‘. So wichtig war Thomas Mann dieses mit dem Problem ‚Montage‘ verbundene Wechselspiel von Faszination und Widerwille, dass er es im selben Abschnitt nochmals variierend wiederholte, um mit einem weiteren Paradoxon zu enden: Diese mich selbst fortwährend befremdende, ja bedenklich anmutende Montage-Technik gehört geradezu zur Konzeption, zur ‚Idee‘ des Buches, sie hat zu tun mit einer seltsamen und lizenziösen seelischen Lockerung, aus der es hervorgegangen, seiner übertragenen und auch wieder baren Direktheit, seinem Charakter als Geheimwerk und Lebensbeichte, der die Vorstellung seines öffentlichen Daseins überhaupt von mir fernhielt, solange ich daran schrieb. (XI, 165, m. Hervorh.)

So stringent, so ‚streng‘ Leverkühns eigene Kompositionsweise ist und wirkt, so „seltsam“ und „lizenziös“, so „locker“ will Thomas Mann seinen angeblichen Nicht-Roman, weil Biographie sehen, über deren „Entstehung“ er jedoch ausdrücklich einen „Roman“ schreibt. Die Form der Montage unterstützt das ‚Moderne‘ von Zeitbloms Werk, dessen „zitternde Hand“ Thomas Mann beim Schreiben geführt hat. Denn Zeitblom wirkt ja nicht unbedingt als ein Modernist, dem die Montage näherstünde als das zusammenhängend aus sich heraus Erzählte. Im „Roman eines Romans“ lässt Thomas Mann sein „Medium“ Serenus Zeitblom nach diesem vierten Abschnitt weitgehend verschwinden. Es ist, als habe er diesen Metaroman nicht nur gebraucht, um seinem „Helfer“, Theodor W. Adorno, Arnold Schönberg und einer Vielzahl von Quellen, Gesprächen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Im und durch den „Roman eines Romans“ bekräftigte Thomas Mann zudem das Offensichtliche, seine Autorschaft, die er gewissermaßen von Zeitblom zurücknimmt. Dieser „Roman eines Romans“ liefert seinerseits dessen fiktionalisierte Biographie, nur dass hierbei kein Zeitblom mehr nötig ist, da Thomas Mann demonstrativ das Wort ergreift und keinen ‚Mittler‘ mehr benötigt. Bis heute ist es die Ausnahme geblieben, dass ein einzelnes Werk seine eigene Biographie erhält oder die dazugehörige Gattung durch ein weiteres Beispiel eben dieser Gattung zur (Selbst-) Reflexion angehalten wird. In der Literatur der Gegenwart wäre hierbei an Ian Sansom zu denken, der 2019 die „Biographie eines Gedichts“ vorgelegt hat, und

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zwar zu W. H. Audens September 1, 1939.139 Ansonsten hat diese Art der Gattungsreflexion aus der Binnenperspektive der jeweiligen Sprachform kaum Schule gemacht.

Prekäre Konstellationen: Klaus Mann über André Gide mit unerwartetem Rückkoppelungseffekt In seiner Biographie André Gide und die Krise des modernen Denkens (1943), die erschien, als Thomas Mann mit der Arbeit am Faustus begann, stellte Klaus Mann die Frage in den Raum, was Gide unter einem Roman verstanden habe. Was ihn zu dieser Frage veranlasste, war Gides Behauptung, erst seine Prosa Les FauxMonnayeurs (1926) sei ein wirklicher Roman, nicht aber die zuvor erschienenen Les Caves du Vatican, auch L’Immoraliste und La Porte étroite. Das bedeutet, erst als Gide sich scheinbar traditionelleren Erzählmodellen genähert und diese für sein eigenes Schreiben fruchtbar gemacht hatte, glaubte er sich berechtigt, seinen Roman als einen solchen zu bezeichnen. Klaus Mann korrigierte treffend: einen ‚Roman‘ habe Gide dann geschaffen, als es ihm gelungen sei, sein Erzählen in der Form zu musikalisieren; denn plausibel erkennt er in Les Faux-Monnayeurs eine groß angelegte Fuge, in der die „zahlreichen Handlungen“ von einer „erfahrenen und taktvoll-sicheren Hand“ ineinander verwoben wurden.140 Klaus Mann zitiert in seiner biographisch-monographischen Studie über Gide eine Äußerung von E. M. Forster aus dessen Schrift Aspects of the Novel: „Ein Romancier, der zu viel Interesse an seiner eigenen Methode verrät, kann niemals mehr sein als – interessant“.141 Sollte das – gewissermaßen als antizipierende Kritik – auch für Thomas Manns „Roman eines Romans“ gelten? Soll man es zudem erstaunlich nennen, dass Klaus Mann die durchaus vorhandenen Beziehungen Gides zu seinem Vater nicht erwähnte, nicht wenigstens den Umstand, dass Gide die französische Ausgabe von Thomas Manns Essaysammlung Achtung Europa (1935) bevorwortet hatte (Avertissement à l’Europe, 1937), die unter anderem den „Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn“ enthielt, nachdem ihm diese die Ehrendoktorwürde aberkannt hatte? Doch nicht das war es, was für Thomas Mann die Gide-Biographie seines Ältesten zum Problem hatte werden lassen. Vielmehr kam es beinahe zum Bruch zwi139 Ian Sansom, September 1, 1939. London 2019. 140 Klaus Mann, André Gide und die Krise des modernen Denkens. München 1966, S. 229. (Erstmals in englischer Sprache unter dem Titel André Gide: And the Crisis of Modern Thought erschienen. Die deutsche Fassung hatte Klaus Mann selbst hergestellt.) 141 Ebd., S. 227.

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schen Thomas Mann und Agnes E. Meyer aufgrund von Klaus Manns kritischen Bemerkungen zu Meyers Vor-Thomas-Mann-Freund, Paul Claudel, seines Zeichens erzkatholischer Schriftsteller und bis 1940 französischer Botschafter in Washington. Der Streitpunkt bezog sich auf einen Halbsatz in Klaus Manns Studie über Gide, der besagt: „[…] ihm [Claudel, R. G.] war jeder Diktator (einschließlich Franco) recht, solange er oft genug zur Messe ging.“142 Aufgebläht wurde diese Bemerkung durch den Leserbrief einer Dozentin am Smith College in Northampton, Massachusetts, veröffentlicht am 29. April 1943 in der New York Herald Tribune. Darin behauptete sie, Klaus Mann habe ihren Freund, Paul Claudel, des Faschismus bezichtigt, weil er Katholik sei. Lieber solle der Sohn das antidemokratische Vorleben seines Vaters durchforsten, bevor er Vorwürfe dieser Art erhebe.143 Agnes Meyer übernahm offenbar diese Vorwürfe ungeprüft und hielt sie Thomas Mann vor, ihn absurderweise für Ansichten seines Sohnes verantwortlich machend. Tatsache ist jedoch, dass Klaus Mann nur ganze siebenmal Claudel in seiner Gide-Studie erwähnte und das in durchaus fairer, ja anerkennender Weise. Für Thomas Mann wurde daraus die „Meyer-Affäre“; das Tagebuch vermerkt den Eingang eines „empörend dummen Briefes der Meyer, den [ich] nicht in übereilter Weise zu beantworten gedenke.“144 In seiner Erwiderung verhehlte er seine Verbitterung darüber nicht, dass seine „verehrte Freundin“ tatsächlich glaubte, ihn zur Rechenschaft in dieser „Klaus-Gide-Claudel Angelegenheit“ ziehen zu müssen. In der ‚Biographie‘ dieser einzigartigen Freundschaft zwischen Thomas Mann und Agnes E. Meyer war damit der dramatische Höhe- und Tiefpunkt erreicht. Auch wenn sie ihm danach schrieb: „Die Streiterei zwischen uns muss aufhören, Tonio“ – sie hatte die Neigung, Thomas Mann nach dessen Tonio Kröger zu nennen –, dieser biographische Einschnitt war zu drastisch gewesen, als dass sich das frühere implizite Vertrauensverhältnis wieder hätte einstellen können. Immerhin versagte sie es sich, ihn danach als ‚Joseph‘ oder ‚Serenus‘ anzusprechen. Diese Episode lehrte alle Beteiligten zumindest eines: Biographien über Lebende haben etwas Gefährliches, solange man sie nicht vollständig erfindet wie Thomas Mann den Biographen Serenus Zeitblom und dessen biographischen Gegenstand, den von Unheil umwölkten und produktiv durchdrungenen Komponisten Adrian Leverkühn. Im so oft beargwöhnten Verhältnis zwischen Vater und Sohn wird man eines Thomas Mann zubilligen können: er war der deutlich Erfindungskühnere von beiden. Und nur so konnte Thomas Mann auch als ‚Biograph‘ ganz und gar Künstler bleiben, der allen-

142 Ebd., S. 345. 143 Brief vollständig zitiert in: Thomas Mann /Agnes E. Meyer, Briefwechsel, S. 969 (Fn. 5) 144 Thomas Mann, Tagebücher 1940–1943. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1982, S. 577 (Eintrag v. 19. V. 1943).

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falls durch einen essayistischen „Roman“ über diese Romanbiographie des Doktor Faustus und ihre Entstehung Rechenschaft abzulegen bereit war.

VI Lebens-Werk-Maße oder: Der Fall Dostojewskis und Nietzsches „Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist. / Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe / Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maß, / Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden, / Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann.“145 Hölderlins Feststellung in seiner Elegie Brod und Wein hatte für Thomas Mann eine durchaus leitmotivische Bedeutung, gerade auch was seine eigene Lebensführung anbetraf. Man kann dies als bürgerliche Form ‚maßvollen Verhaltens‘ verstehen, als im Sinne Mörikes „holdes Bescheiden“, das in einer wie auch immer beschaffenen „Mitte“ liege. Doch das „eigene Maß“ kann ebenso in extremem Verhalten bestehen. Ist einem ein solches „beschieden“, dann ist das die entscheidende Maßgabe für das eigene Leben. Vordergründig gesehen, bezog Thomas Mann dieses „mit Maßen“ auf die Einladung der Dial Press, eine Ausgabe mit Dostojewskis „kürzeren Romanen“ einzuleiten. Er nannte dies eine „verlegerische Mäßigung“. Welches ‚Maß‘ legt man an, um einen nach allgemeinem Verständnis ‚Maßlosen‘ wie Dostojewski zu erfassen? Die ‚Methode Mann‘ bewährt sich auch hier. Gesucht wird ein Geistesverwandter, ein Wahlgeschwister, ein ‚Bruder‘ Dostojewskis; in diesem Fall könnte man sagen: Mann hatte ihn gefunden, bevor er gesucht hatte, genauer gesagt: er drängte sich ihm unmittelbar auf: Nietzsche. Obgleich sein Dostojewski-Essay seiner Nietzsche-Studie um knapp zwei Jahre vorausgeht, bildet Nietzsche, zumal seine Krankheit, die Voraussetzung für seine Gedanken zu Dostojewski, die einmal mehr um die Frage kreisen, ob und wie er biographisch darstellbar sei. Wenn darstellbar, dann in Form einer Krankengeschichte, das stand offenbar von Beginn an fest. Das Tagebuch vermerkt unter dem Datum des 2. Juli 1945, auf der zwei Tage und drei Nächte langen Zugreise von Chicago nach Los Angeles, eine intensive Beschäftigung mit den „kleinen“ Romanen Dostojewskis, vor allem mit den Erniedrigten und Onkelchens Traum. Zusammen mit Aussagen über den Spieler, Doppelgänger, Ein Totenhaus und die Memoiren aus einem Kellerloch finden sie im Essay, den Thomas Mann dann im Wesentlichen in zehn Tagen auffallend „leicht“ niederschreibt, nur auf den letzten Seiten Erwähnung.146

145 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Bd. 1: Gedichte. Frankfurt am Main 1992, S. 287 („Brot und Wein“, V. 43–46). 146 Thomas Mann, Tagebücher 1944–1.4. 1946, S. 222, danach diverse Verweise S. 225–230. Das erhebliche Honorar von tausend Dollar, eine Forderung, die Dial zu seiner Überraschung angenommen hatte (ebd., S. 215). wird er dann für Maler-Renovierungsarbeiten in Pacific Palisades https://doi.org/10.1515/9783110734508-007

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Die Vertrautheit mit dem Werk Dostojewskis gehörte zu seiner geistigen Biographie,147 deswegen fiel ihm die Arbeit so leicht; er nennt sie „fließend“ (Tb. v. 11. VII.45), wobei er sie mit einer wichtigen Einlassung beginnt. Es sei „merkwürdig genug“, dass sein „Schriftsteller-Leben“ ausführliche Studien über Goethe und Tolstoi erbracht habe. „Über zwei andere Bildungserlebnisse, denen ich nicht weniger schuldig bin, die mindestens ebenso tief meine Jugend erschütterten, und die zu erneuern und zu vertiefen meine höheren Jahre nicht müde geworden sind, habe ich nie zusammenhängend geschrieben: über Nietzsche nicht und nicht über Dostojewski.“ (IX, 656) Den Nietzsche-Aufsatz, „den Freunde oft von mir gefordert haben“, sei er bislang schuldig geblieben. Dass er sich nunmehr zunächst Dostojewskis annahm – man könnte sagen: Gelegenheit schafft Arbeitsantriebe. Danach ergab sich nahezu von selbst, dass das nächste Vorhaben – unter dem Schirm der Arbeit am Doktor Faustus – Nietzsche zu gelten hatte. Warum aber diese lebenslange „Scheu“, sich im Falle von beiden essayistisch festzulegen? Thomas Mann bezeichnete sie als eine „tiefe, mystische, zum Schweigen anhaltende Scheu […] vor der religiösen Größe der Verfluchten, vor dem Genie als Krankheit und der Krankheit als Genie, vor dem Typus des Heimgesuchten und Besessenen, in welchem der Heilige und der Verbrecher eins werden …“. (IX, 657, Hervorh. i. Org.) Was dann folgt, darf auch als einen Probelauf für seinen Nietzsche-Essay angesehen werden, zumal oft mehr von dem „trunkenen Migräniker von Sils Maria“ die Rede ist als von Dostojewski. Seine Prämisse ist die Feststellung, beide seien – bei allen Unterschieden – „Brüder im Geiste und über alles Mittelmaß ins Tragisch-Groteske hinaussteigende Schicksalsgenossen“ gewesen. (IX, 658) Ein Hauptunterschied bestand in Dostojewskis Scheu vor Selbstentäußerungen. Ein Satz wie dieser, den Thomas Mann zitiert, wäre von Nietzsche nicht denkbar gewesen, auch wenn Dostojewski öffentlich weitaus ‚sichtbarer‘ gewesen war als der Denker in Einsamkeit: „Ich fürchte mich entsetzlich, daß man mich sehen, mir begegnen, mich erkennen könnte.“ Die Art von beider Krankheit bedeutete einen weiteren Unterschied: Dostojewskis Epilepsie darf im landläufigen Verständnis die Aura des ‚Heiligen‘, Auserwählten beanspruchen; das Gegenteil trifft für Nietzsches venerische Erkrankung zu. In Thomas Manns Darstellung bildet dieses Phänomen ein erstes Hauptmotiv, wobei er Dostojewskis authentische Krankheitserfahrung mit der Aussage seiner wichtigsten Protagonisten, darunter Kirillow in den Dämonen, und damit Biographie und Fiktion gleichsetzt. Der „Fallsucht“ seien aufzuwenden haben (ebd., S. 233), was er buchhalterisch vermerkt – von Interesse angesichts der Betonung von Dostojewskis Geldbeschaffungsversuchen. 147 Zum Vergleich der Verfahrensweisen beider Schriftsteller vgl. bes. Dragan Stojanović, Dostojewski und Thomas Mann lesen. Von der Notwendigkeit und Fragwürdigkeit des Deutens. Frankfurt am Main/Bern/New York 1987.

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zwei Charakteristika eigen: „das unvergleichliche Gefühl des Entzückens, der inneren Erleuchtung, der Harmonie, der höchsten Wonne, das für einige Augenblicke dem mit einem unartikulierten, nicht mehr menschlichen Schrei einsetzenden Krampfanfall vorgeht, – und der Zustand furchtbarer Depression und tiefen Grames, der geistigen Zerrüttung und Öde, der ihm folgt.“ (IX, 660) Thomas Mann bietet daraufhin seine eigene, von Freud nicht unbeeinflusste Auffassung zur Pathogenese der Epilepsie. Sie habe „unverkennbar“ ihre Wurzeln „im Sexuellen und ist eine wilde und explosive Erscheinungsform seiner Dynamik, ein versetzter und transfigurierter Geschlechtsakt, eine mystische Ausschweifung“, gefolgt von irrationalen Schuldgefühlen. (IX, 661) Hätte Thomas Mann sich je auf ein ausführliches Buchprojekt zu Dostojewski eingelassen, wie er am Ende seines Versuchs ironisch verlauten lässt (IX, 674), dann hätte er vermutlich diese drastischen, mit epileptischen Anfällen verbundenen Plötzlichkeitserfahrungen mit den auffallend vielen Plötzlichkeitsmomenten in Dostojewskis Werk in Verbindung gebracht, am augenfälligsten in dessen erstem, keineswegs ‚kleinem‘ Roman, Podrostok, eigentlich ‚der Heranwachsende‘, übersetzt zumeist als Der Jüngling und zuletzt als Ein grüner Junge.148 Diese Plötzlichkeiten hemmen den Erzählfluss, sollen ihn auch unterbrechen, da Dostojewski hier mit einer geradezu postmodern-kaleidoskopartigen Erzählweise experimentierte. Das bedeutet: Dieser große Epiker der (geschundenen) russischen Seele wagte 1875 ein ästhetisches Experiment sondergleichen.149 Wenn biographische Evidenzen fehlen, dann bleibt die Vorstellungskraft, die Thomas Mann denn auch umgehend einsetzt, wenn er einen neuerlichen Vergleich zwischen den beiden „Brüdern im Geiste“ anstrengt: „Nietzsche’s Krankheit war nicht die Fallsucht, obgleich man sich den Verfasser des ‚Zarathustra‘ und des ‚Antichrist‘ sehr wohl als Epileptiker vorstellen kann.“ Und darauf lässt er eine Diagnose folgen, die seine Argumentation im Essay Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung zumindest teilweise vorwegnimmt: Unter dem naturalistisch-medizinischen Gesichtswinkel angeschaut, einer freilich sehr beschränkten Perspektive, ist Nietzsche’s geistige Entwicklung nichts anderes als die Geschichte einer paralytischen Enthemmung und Entartung, – das heißt des Hinaufgetriebenwerdens aus hochbegabter Normalität in eisige und groteske Sphären tödlicher Erkenntnis und moralischer Vereinsamung, einem entsetzlichen und verbrecherischen Grade des Wissens, für den der zarte und gütige, in jedem Sinn auf Schonung angewiesene Mann gar nicht geboren, sondern zu dem er, wie Hamlet, nur berufen war. (IX, 663)

148 Fjodor Dostojewski, Ein grüner Junge. Roman. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich 2006. 149 Vgl. Felix Philipp Ingold, Glanzvolle Premiere. Zu Dostojewskis Roman „Podrostok“ in Neuübersetzung. In: Neue Zürcher Zeitung v. 17./18. Februar 2007 (Fernausgabe Nr. 40), S. 69.

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Man könnte Thomas Manns Ansatz im Dostojewski-Essay eine vergleichende Pathographie nennen, die zunächst die Krankheitssymptome der „Brüder“ abarbeitet und daraus Schlüsse zieht, bevor er zu weiteren biographischen und werkbezogenen Befunden vorstößt. Diese Pathographie spiegelt sich auch darin, dass er einen Satz („Krankheit – vor allen Dingen kommt es ja darauf an, wer krank, wer wahnsinnig, wer epileptisch oder paralytisch ist: ein Durchschnittsdummkopf, bei dem die Krankheit des geistigen und kulturellen Aspektes freilich entbehrt, – oder ein Nietzsche, ein Dostojewski“) nahezu wörtlich in seinen Nietzsche-Essay übernimmt (IX, 666 u. 687). Zu diesem Vergleich gehört dann auch die Einsicht, dass die „ewige Wiederkunft“-Idee Nietzsches sich auch bei Dostojewski finde, und zwar im Teufelsgespräch Iwan Karamasows, und er zitiert: Aber unsere jetzige Erde hat sich vielleicht selber billionenmal wiederholt; nun, sie ward altersschwach, sie vereiste, sprang entzwei, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elemente, wiederum war da das Wasser ‚über dem Festen‘, darauf wiederum der Komet, wiederum die Sonne, wiederum aus der Sinne die Erde – diese Entwicklung wiederholt sich ja vielleicht schon unendlich oft, und alles auf eine und dieselbe Weise bis zum kleinsten Strichelchen […]. (IX, 665, Hervorh. i. Org.)

Thomas Mann geht sogar so weit, die „ewige Wiederkunft“ für eine „Lesefrucht“ Nietzsches zu halten, „eine unbewußte euphorisch gefärbte Erinnerung an Dostojewski“. (ebd.) Dieses mehrfach wiederholte ‚wiederum‘ wäre die entgegensetzende Entsprechung zu den Plötzlichkeiten, die andere Stellen in Dostojewskis Romanen geradezu punktieren. In Thomas Manns Essay nun findet sich eine Plötzlichkeit im Leben Dostojewskis wirkungsvoll wiederholt; diese Wiederholung konditioniert, wenn man so will, die Struktur dieses Textes. Es ist jener Moment, als der achtundzwanzigjährige Dostojewski „am Exekutionspfahl“ steht, dem „Tod ins Auge“ sieht und „im letzten Augenblick“ die Begnadigung zu vierjähriger Zwangsarbeit in Sibirien erfolgte. (IX, 660) Diese existentielle Ausprägung von „Plötzlichkeit“, so spekuliert Thomas Mann wohl zurecht, habe die epileptische Disposition des ungerechtfertigt Angeklagten dramatisch verstärkt, ein Einschnitt, auf den Mann erneut zu sprechen kommt, als es abschließend um die Einschätzung der „kleinen Romane“ geht. (Hier läge ein Vergleich mit Stefan Zweigs Zugang zu Dostojewski nahe, der zahlreiche Ähnlichkeiten im thematischen Zugang aufweist – etwa in den Sternstunden der Menschheit (1927) gerade jene Szene am Rande des Todes, die Begnadigung vor dem Augenblick seiner Hinrichtung („Heroischer Augenblick“), aber auch bereits im Dostojewski-Teil der Trilogie Kampf mit dem Dämon von 1925. Es genügt hier jedoch auf den stilistischen Unterschied hinzuweisen: Zweig bemühte sich weitaus mehr als Thomas Mann um ein anschauliches Nachempfinden der emotionalen Situation Dostojewskis.)

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Wichtiger als diese Einschätzung ist die Erkenntnis, dass Dostojewski mit Heinrich Heine von der Unmöglichkeit einer der „Wahrheit entsprechenden Selbstbiographie“ überzeugt gewesen sei. Rousseau, so der Erzähler in den Memoiren aus einem Kellerloch, habe aus purer Eitelkeit „Selbstverleumdung“ vor seinem Lesepublikum betrieben, er dagegen schreibe für sich allein und wende sich nur zum Schein an den Leser. Thomas Mann nennt dies treffend eine „Fiktion in der Fiktion“, da Dostojewski sich ganz bewusst an ein Publikum gewandt habe mit seinen physischen und psychischen Schmerzen, die man ohnedies nicht voneinander trennen sollte. Kaum ein größerer (ob offen oder verkappt auto-)biographisch angelegter Essay Thomas Manns kommt ohne explizite Verweise auf Nietzsche aus; nicht selten können sie die Form eines Exkurses annehmen. So auch bereits im ersten Drittel des Versuchs über Freud und die Zukunft. Nachdem er festgestellt hat, dass Freud ursprünglich nicht mit Nietzsches Werken vertraut gewesen sei, behauptet er sogleich, „die leidend-moralistisch gestimmte Liebe zur Wahrheit als Psychologie“ verdanke sich der „hohen Schule Nietzsches“.150 Bei Nietzsche wie bei Freud werde der Erkennende und der Psychologe eins. Unter anderem nennt er als gemeinsame Kennzeichen deren „Wissensmut“ und „Wissensmelancholie“ (besonders ausgeprägt bei Nietzsche, dem er Hamlethaftigkeit bescheinigt), aber auch „Selbstkennertum“, ja „Selbsthenkertum“,151 wiederum bezogen auf Nietzsche, der sich im übertragenen Sinne selbst zu richten verstanden habe, sprich: er hat seine Lebensdenkwelt sich ‚zugerichtet‘. Neben den Sinn für psychologische Erkenntnis sei es Nietzsches „Sinn für die Krankheit“ gewesen, der auf die Psychoanalyse vorausweise. Krankheit als „Erkenntnismittel“ werde schon bei Nietzsche psychologisch verstanden. Ohne Krankheitserfahrung könne es kein „tieferes Wissen“ geben, so Thomas Mann,152 ein Argument, das ihm deswegen so wichtig ist, weil er es im Hinblick auf die „Tiefenpsychologie“ Freuds formuliert und damit auf jenen Bereich, den er mit den „Urgründen der Menschenseele“ und der aus dem Vorspann zum Joseph bekannten „Brunnentiefe der Zeiten“ verbindet, „wo der Mythus zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet.“153 Man beachte die Syntax: Der Mythos ist es, der aktiv wird, indem er die „Urformen des Lebens“ schafft. Nicht im Mythos werden sie laut Thomas Mann geprägt, sondern er prägt sie selbst. Der Mythos ist der Schöpfer, Gestalter, der Formende.

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Zit nach: Thomas Mann, Freud und die Psychoanalyse, S. 71 (Hervorh. i. Org.). Ebd. Ebd., S. 72. Ebd., S. 83.

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Diese Argumentation verdeutlicht ein Hauptanliegen, das Thomas Mann mit Nietzsche verband: das unabweisbar biographische Bedingungsgefüge von Nietzsches Denken lässt Aussagen über seine Philosophie wie Kommentare zu dessen Lebenserfahrung aussehen. Die vermeintliche „Hamlethaftigkeit“ steht auch am Anfang von Thomas Manns grundlegendem Versuch über Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung; und es fehlte nicht viel, da hätte er eine Begegnung Ophelias mit Nietzsche imaginiert. „The mould of form“ hätte sie ihn genannt, mutmaßt er, und ohnedies: „O, what a noble mind is here o’erthrown!“ Seltsam, wie Mann den Ausdruck „the mould of form“ übersetzt, nämlich mit „der Bildung Muster“; im Grunde ist ihre weitere Bezeichnung für Hamlet („The glass of fashion and the mould of form“, III.1; v. 156) eine „Gußform“ („mould“) für alle Formen des Lebens oder Zeichen dafür, dass er selbst bereits zum Mythos geworden ist. Als „Auge, Zunge und Schwert“ sei es des „Höflings, Soldaten und Gelehrten“, als der „Beobachtete aller Beobachter“ bedeutet sein Fall in den Wahnsinn das Ende des Sinns von Menschsein. Thomas Mann deutet Nietzsche jedoch als einen Musterfall von Bildung und als deren ideale Form von „ungeheuerer, das Europäische resumierender, kultureller Fülle und Komplexität“. (IX, 675) Der zweite Argumentationsschritt Thomas Manns führt zu folgender These: Nietzsche sei sich seiner Selbstinszenierung als „großer Liebhaber der Maske“ in seinem „tragischen Lebensschauspiel“ vollauf bewusst gewesen, wobei er von seiner Veranlagung und Konstitution her eigentlich nicht für ein solches Leben geschaffen war. „Tiefste, kälteste Einsamkeit“ wurde zu seinem Los, ihm, der seine Sache auf „edle Freundschaft“ gestellt hatte. (IX, 676) Thomas Mann spricht sogar von der „Einsamkeit des Verbrechers“, die über Nietzsche verhängt worden sei – und das in einem besonderen Sinne, der einen an einen Passus aus Also sprach Zarathustra erinnert, wo dieser behauptet, die ach so „Guten“ und (Selbst-)„Gerechten“, sie hassen den „Schaffenden: den, der Tafeln bricht und alte Werthe, den Brecher – den heissen sie Verbrecher“.154 Das ist nicht der „bleiche“, von Dostojewskis Raskolnikow abgeleitete Übeltäter, sondern der durch sein Zer- oder Aufbrechen der Traditionen schöpferisch Tätige. Als Thomas Mann daran ging, im noch unmittelbaren Nachhall der bis dahin unerhörtesten Zivilisationsvernichtung, die von Nietzsches Ursprungsland ausgegangen war, das Problem, das dieser „Sprachkünstler, Denker, Psycholog“ darstellte, zu resümieren, konnte er nicht umhin, zumindest teilbiographisch zu argumentieren. Er spricht von der „unwahrscheinlichen Abenteuerlichkeit seiner Lebenskurve“ (IX, 676), die ihren Anfang „in mitteldeutscher Ländlichkeit“ 1844 154 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Bd. 4 (= KSA 4). Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, S. 266.

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genommen hatte, „vier Jahre vor dem Versuch einer bürgerlichen Revolution in Deutschland“. Thomas Mann verweist auf Nietzsches klerikalen Hintergrund, die hofmännische Art seines Vaters als Prinzessinnenerzieher in preußischen Diensten. Entsprechend betont er – wohl etwas zu stark – den bei Nietzsches heimischen „Sinn für aristokratische Formen, Sittenstrenge, Ehrgefühl, peinliche Ordnungsliebe“ (ebd.). Was ihn an dieser frühen Entwicklung Nietzsches interessiert, ist der völlige Gegensatz zu dem, was danach als „Getriebenwerden ins Weglose“ folgt. Der kleine Friedrich N. gilt im „kirchenfrommen und royalistischen“ Naumburg als „notorischer Musterknabe“, ein Etikett, das auch noch dem Bonner und Leipziger Studenten anhaften wird, bevor dann das „Sich-Versteigen in tödliche Höhen“ des Geistes beginnt, der Absprung in ein Etwas, das sich als ein Nichts hätte erweisen können, ihn aber zu ungeahnten Gedanken- und Sprachleistungen katapultieren wird. Charakteristisch für Thomas Manns quasi-biographisches Verfahren ist nun, dass er diese verschlungenen Lebenskurven auf ein Grundphänomen zurückführt, eigentlich mit Nietzsches eigenem Denkverfahren verwandt, zuletzt zu einer prima causa vorzudringen, dem einen Prinzip, etwa der kunst-erklärenden mythischen Kulturdichotomie „apollinisch – dionysisch“ oder dem „Willen zur Macht“. Für Thomas Mann ist dieses Eine bei Nietzsche das Phänomen ‚Krankheit‘, die luetischen Infektionen der Jahre 1865 und 1866, ein Hauptmotiv im Doktor Faustus, im Essay anekdotisch aufbereitet, das „Trauma“, das zu dessen Selbstkasteiung geführt habe und schließlich zum – eine unübertreffliche Wortprägung – „Martertod am Kreuz des Gedankens.“ (IX, 678) Dieses Sprachbild Thomas Manns hat sein Vorbild in einer These Zarathustras, jener philosophischen Dichtung Nietzsches, mit der er im Laufe seines Versuchs so hart ins Gericht gehen wird. Zarathustra behauptet nämlich, dass die „Pharisäer“ und sich für gut haltenden Philister denjenigen „kreuzigen“, den wirklich „Schaffenden“, der „neue Werthe auf neue Tafeln schreibt“, wobei sie damit auch alle „Menschen-Zukunft“ kreuzigten. (KSA 4, 266) Thomas Mann traf mit seiner These, Krankheit als Trauma, durchaus den Kern von Nietzsches denkphysiologischer Befindlichkeit, die er ungeschützt in Ecce homo vollends preisgibt, wenn er Klima und Stoffwechsel als philosophisch bedenkenswert ausgibt und einräumt, dass ein „ununterbrochner dreitätiger GehirnSchmerz sammt mühseligem Schleimerbrechen“ in ihm eine „Dialektiker-Klarheit“ befördert habe (KSA 6, 265), was ihn zu der Behauptung führt: „Die Krankheit brachte mich erst zur Vernunft. –“ (KSA 6, 283) Einerseits wusste Nietzsche über sich wie keiner Bescheid, andererseits, so Thomas Mann, habe Nietzsche „in voller Naivität die beseligende Kehrseite seines Leidens“ verherrlicht. Ja, er spricht sogar von einer „Dissimulation des Wissens“ seitens Nietzsches über den Ursprung seiner Krankheit. (IX, 681)

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Doch damit begnügt sich Thomas Mann nicht bei seiner gedankenbiographischen Skizze Nietzsches. Denn er identifiziert neben dem einen Lebensprinzip, der Krankheit, eine zweite Grundkonstante, die Kultur, die Nietzsche mit dem Leben „fast gleichgesetzt“ habe. ‚Kultur‘ definiert Mann entsprechend als „Vornehmheit des Lebens“ und als ihre Voraussetzungen „Kunst und Instinkt“. (IX, 685) Dabei aber nennt er „Nietzsches Geschichte“ gleichzeitig auch die „Verfallsgeschichte dieses Gedankens“. (ebd.) Nietzsches Kulturanalyse, die damit einer Selbstanalyse gleichkommt, lebt von der Dissoziierung im Erkennen. Mann zeigt, wie dabei das Erkennen des Lebens die Krankheit zu einem, wie man sagen möchte, Dissoziativ macht, einem Enzym oder Lebensgärungsstoff. Aus dem selbsterklärten Entlarver der Dekadenz wurde so ein Entlarvter, dessen Krankheit immer offener zutage trat. So gesehen, bedeutet Biographie im Falle Nietzsches für Thomas Mann eine Kulturographie, eine kritische Darstellung des Zusammenhangs von Leben und Kultur, wobei Mann am Primat des Lebens festhielt; denn ohne Leben gibt es weder etwas zu erkennen noch zu kultivieren. Nietzsche hatte nach diesem Verständnis die jeweiligen Lebensgeschichten geschrieben – jene der Tragödie, der Moralbegriffe und als Verfallsgeschichte jene des Christentums und seiner eigenen Person. Mit Bezügen ‚zum Leben‘ verfährt Thomas Mann auch bei Nietzsche betont selektiv. Konkrete biographische Einzelverweise (der Bezug zu Nietzsches Vater zum Beispiel) wechseln ab mit summarischen Kommentaren, die jedoch stets eine pointierte Aussage enthalten, dann etwa, wenn er Nietzsches Leiden an seiner eigenen Konzeption von Kultur benennt: „Sein Leben war Rausch und Leiden – eine hochkünstlerische Verfassung, mythologisch gesprochen die Vereinigung des Dionysos mit dem Gekreuzigten.“ (IX, 692) Thomas Mann erweckt den Anschein, als habe Nietzsche von einer These zur anderen gelebt, scheint er doch zeigen zu wollen, wie er das Denken erlebte im Sinne von ‚erarbeitete‘. Dabei kommt es dann zu Thesensätzen wie diesem: „Sein [Nietzsches] ‚Immoralismus‘ ist also die Selbstaufhebung der Moral aus Wahrhaftigkeit.“ (IX, 693) Zu Thomas Manns Verfahrensweise gehört jedoch, dass er gerade solche Zuspitzungen auch nutzt, um sie umzukehren, in diesem Fall, sich gegen Nietzsche zu wenden, wenn er diesem vorwirft, „Leben und Moral“ als Gegensätze behandelt zu haben, wogegen doch der „wahre Gegensatz“ im Leben jener von „Ethik und Ästhetik“ sei; hier verrät er den Kierkegaard-Leser. Doch schützte diese Einsicht Thomas Mann nicht vor einer bedenklichen – Fehlleistung. Keine zwei Jahre nach Kriegsende, kaum, dass das ganze Ausmaß des Holocaust erkennbar geworden war, begnügt sich Thomas Mann im Nietzsche-Essay, dessen Ferne zu „allem Rassen-Antisemitismus“ betonend, mit diesem – vorsichtig gesagt … betulichen – Satz, der belegen soll, wie unrichtig Nietzsche gehandelt habe, „Leben“ und „Moral“ zu trennen: „Nun, die Juden haben

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sich, dank ihrer Moralität, als gute und ausharrende Kinder des Lebens erwiesen.“ (IX, 697) Selbst kritische Einsicht, so möchte man sagen, schützt vor Torheit nicht, der man hier sogar, wollte man Thomas Mann übel, durchaus Zynismus unterstellen könnte.155 Eine „Einschaltung“, wie Thomas Mann Exkurse zu nennen pflegte, zum Kapitalverbrechen an den europäischen Juden wäre durchaus am Platze gewesen, zumal er dann eine solche „Einschaltung“ zum Thema ‚Fragwürdigkeit des Pazifismus‘ vornimmt, um Nietzsches exzessiv eingesetzte Kriegsmetapher zu begründen. Pazifismus könne, so Thomas Mann, sich auf die Situation von 1938 und die Appeasement-Politik gegenüber Hitler beziehend, eine „lügenhafte und niederträchtige Sache sein“. (IX, 699) Hier stehen nun nicht weitere Aussagen Thomas Manns zu Nietzsches Denkinhalten in Rede, sondern weiterhin allein der Umgang mit diesem Leben Nietzsches in besagter Studie, die zunächst gleichfalls als Vortrag konzipiert war und gerade durch ihre mündliche Form Lebensunmittelbarkeit demonstrieren wollte. Da konnte eine ironische Volte nicht ausbleiben, und sie erfolgt in der Einleitung des Schlussteils mit folgender These: Nietzsche habe sein Leben lang den „theoretischen Menschen“ in seiner Lebensferne kritisiert, doch sei er, Nietzsche, so Thomas Mann, eben gerade ein solcher „theoretischer Mensch“ in Reinkultur gewesen. Er habe sein Denken gelebt, genauer: das Leben sei in diesem Denken quasi aufgegangen; denn „in Wahrheit“ sei es „ohne Beziehung zum Leben“ gewesen. Was Nietzsche gelebt habe, sei „ästhetischer Theoretizismus“ gewesen – also auch dessen Betonung der physiologischen Prozesse als einer der Voraussetzungen für dieses Philosophieren. Hier nun setzte Thomas Manns eigentliche Kritik Nietzsches „im Lichte unserer Erfahrung“ an, im Rückblick somit auf die „fürchterliche Geschichte, in der das bis zur Unkenntlichkeit politisierte ‚Leben‘“ die Kontrolle über sich selbst durch das Geistige verloren hatte. Ein ästhetisch geführtes Leben könne den Problemen nicht mehr gerecht werden, „deren Lösung uns obliegt“. (IX, 711) An dieser Stelle schlägt die Kritik an Nietzsche auch in eine unausgesprochene Selbstkritik um, die noch deutlicher wird, wenn wir den ein Jahr zuvor verfassten Bericht über meinen Bruder mit heranziehen. Wie bereits im ersten Kapitel dieser Studie erwähnt, gehörte es zu den schmerzhaften autobiographischen Einsichten Thomas Manns, dass sein Bruder, Heinrich, weitaus früher als er in Fragen der Politik rich-

155 Vgl. zu diesem thematischen Komplex Manfred Dierks / Ruprecht Wimmer (Hrsg.), Thomas Mann und das Judentum. Die Vorträge des Berliner Kolloquiums der Deutschen Thomas MannGesellschaft. Frankfurt am Main 2004; Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. München 2006, bes. das Kapitel „Juden“, S. 206–233. Diese besagte Stelle im Nietzsche-Essay findet sich darin jedoch nicht eigens behandelt.

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tiger lag: „Wer war der gesellschaftskritische Seher und Bildner?“ – zu ergänzen wäre: von uns beiden? „Wer hat den ‚Untertan‘ geschrieben und wer in Deutschland die Demokratie verkündet, zu einer Zeit, als andere [wie er, Thomas Mann selbst, d. Verf.] sich in der melancholischen Verteidigung protestantisch-romantisch-antipolitischer deutscher Geistesbürgerlichkeit gefielen?“ (XI, 479) Über dieser Selbstkritik steht jedoch das Prinzip, das Thomas Mann von Nietzsche widerspruchslos übernehmen konnte: die Krankheit als Erkenntnisquelle, eine Lebensbegleitung Nietzsches, wie sie Thomas (und Heinrich) Mann erspart blieb. Man wird in diesem Zusammenhang das halbbewusste Lungenkrebsleiden nicht nennen wollen, das die Arbeit am Doktor Faustus begleitete, unterbrach, aber in Thomas Mann den Willen zur Fortsetzung noch während der operativen Behandlung stärkte. Denn es war nun einmal eine andere Art der Erkrankung als jene, die er als Erkenntnisquelle Nietzsches identifiziert hatte.

VII Randfiguren ins Zentrum rücken Nicht alle Randfiguren sind Außenseiter, zumeist eher Grenzgänger und damit Bewohner der Zwischenräume, ob geistig, sozial oder geographisch verstanden.156 Gemeinhin verbindet man Thomas Mann nicht mit der Bemühung, solche Randfiguren zu zentrieren, ihnen Aufmerksamkeit157 zu verschaffen. Eben dieses Bild gilt es vor allem für die Zwanziger Jahre erheblich zu korrigieren. In einigen Fällen handelt es sich dabei um frühverstorbene Schriftsteller, denen Mann durch Voroder Nachworte zu Auswahlausgaben ihrer Werke posthum Aufmerksamkeit sichern wollte. Er hatte das Problem randständiger Literatur aber auch in einem übergeordneten Zusammenhang reflektiert, und zwar in Beantwortung einer Rundfrage der Neuen Zürcher Zeitung vom 4. April 1926: „Verkannte Dichter unter uns?“ Er eröffnet seine Antwort mit begriffsspielenden, deutlich ironisch eingefärbten Gegenfragen: „Verkannte lebende Dichter, was heißt das? Meinen Sie: Zu Unrecht unbekannte Dichter? Oder zu Unrecht bekannte? Oder bekannte, die man verkennt? Denn die unbekannten laufen ja wenigstens nicht Gefahr, verkannt zu werden.“ (X, 881) Diese Fragen beantworten, bedeutet, sich auf eine „fragwürdige Metaphysik“ von Anerkennung, Wirkung, ja Ruhm einzulassen, die Thomas Mann mit der Behauptung umreißt: Einem Jeden falle das zu, was „er im tiefsten begehrt“; und mit Schopenhauer ergänzt er, es sei der Wille, der nicht nur „die Welt“, sondern auch das Sein konstituiere. Vielsagend ist, dass er dieses Phänomen keineswegs nur auf kaum oder gar nicht bekannte deutschsprachige Schriftsteller bezieht, sondern es in einen transnationalen Rahmen stellt, etwa wenn er Edmond Jaloux und die amerikanische Szenerie des Ludwig Lewisohn mit einbezieht. Eingehender setzt er sich freilich mit auch geographisch randständigen deutschsprachigen Autoren auseinander, etwa mit dem Baltendeutschen Erich von Mendelssohn und dem mährischen Schriftsteller Hermann Ungar. Thomas Mann verstand es, zu loben – auch mit linker Hand dieses und jenes Gefälligkeitsurteil zu formulieren, was den so ganz anders veranlagten Robert Musil irritierte. Zu den Nachlassnotizen Musils, in denen sich auch die Frage findet, ob Thomas Mann und Richard Strauss „nicht beide Manieristen“ gewesen seien,158 gehört auch die folgende Einlassung: „Daß er [Th. Mann] so viele Schriftsteller lo-

156 Vgl. dazu u. a. Rüdiger Görner, Grenzgänger. Dichter und Denker im Dazwischen. Tübingen 1996. 157 Vgl. Erich Kleinschmidt, Philologie der Aufmerksamkeit. Vorträge in der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. Köln 2014. 158 In: Robert Musil, Gesammelte Werke. Bd. II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 832. https://doi.org/10.1515/9783110734508-008

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ben kann, nicht bloß mag, hängt mit seinem Erfolg in der Zeit zusammen; denn die Zeit liebt, nebeneinander, ja auch die meisten von ihnen.“ Musil selbst bezeichnet sich dazu als das „extreme Gegenteil“.159 Nun wäre dieses Urteil über Thomas Manns Urteilsbereitschaft und allzu deutlich ausgeprägte Urteilswilligkeit dahingehend zu korrigieren, das selbst noch das flüchtigste Wort über einen Zeitgenossen Wesentliches über seine eigene Disposition verrät. Immer dann jedoch, wenn er zu – auch nur ansatzweisen – biographischen Hinweisen ansetzt und damit auch kunstbegründende Lebensspuren aufzeigt, spielen identifikatorische Aspekte in seine Bewertungen eines Schriftstellers hinein. Bekanntlich kommt es unter Komponisten und bildenden Künstlern vor, dass diese Aussagen über ihre genrekongruenten Zeitgenossen vermeiden; weniger so unter Schriftstellern, schon gar nicht bei Thomas Mann. So willig er war, Autoren seiner Zeit zu würdigen – nicht selten jedoch enthielt sein Lob eine Spitze oder zumindest eine betont zweideutig gemeinte Wertung, was Musil offenbar nicht bemerkte. Wenn er etwas über Adolf von Hatzfelds Roman Die Lemminge befindet: „Das dichterische Geheimnis des Buches ist beschlossen in anderthalb Seiten, die auch räumlich in seiner Mitte stehen und zugleich die Erklärung seines sonderbaren Titels geben“ (X, 630), dann kann das zum einen bedeuten: das Geraffte der erzählerischen Komposition ist löblich, oder zum anderen: der Roman ermangelt Komplexität. Vergleichbar zweideutig fällt das Urteil über Ludwig Lewisohns Roman Der Fall Herbert Crump aus, wenn Thomas Mann schreibt, es handele sich dabei um ein „Romandokument des Lebens […] als Ehehölle“, und hinzufügt: „damit ist der grauenhafte und empörende Gegenstand des Buches erschöpfend bestimmt.“ (X, 701) Noch deutlicher zweideutig, wenn es in Manns (immerhin eigens verfasstem) Vorwort zu diesem Roman heißt, man merke ihm „die Bereitwilligkeit, sich zugunsten seiner dokumentarischen Stärke als Kunstwerk weitgehend preiszugeben“, an. (X, 701) Doch die schärfste Spitze behielt er seinem Sohn Klaus vor, als er dessen Roman Der Vulkan in einem Brief (vom 22. Juli 1939) würdigte, der dann 1956 in eine für Vater und Sohn posthume Ausgabe dieses Romans Aufnahme fand: „Sie haben Dich ja lange nicht für voll genommen, ein Söhnchen in Dir gesehen und einen Windbeutel, ich konnt’ es nicht ändern. Aber es ist nun wohl nicht mehr zu bestreiten, daß Du mehr kannst als die meisten – daher meine Genugtuung beim Lesen, und die anderen Empfindungen hatten auch ihren guten Grund.“ (X, 767) Und damit nicht genug. Klaus bekommt am Ende der Briefkritik noch das zu hören: „Ein Erbe bist Du schon auch, der sich, wenn man will, in ein gemachtes Bett legen durfte. Aber schließlich, zu erben muß man verstehen, erben, das ist am Ende Kultur.“ (X, 769)

159 Ebd., S. 853.

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Wo nun bleibt bei diesen Mann’schen Betrachtungen literarischer Randfiguren das Biographische? Es tritt immer dann in Erscheinung, wenn sie zu einer Würdigung werden wollen oder sollen. Kritik, verbunden mit Biographie, ergibt Gesamtcharakterisierung, könnte man verkürzt sagen. Sie wirkt dann umso nachdrücklicher, wenn der zu Porträtierende mit Manns eigener Biographie verbunden war oder sich verbinden ließ. Ein Musterbeispiel hierfür liefert das Vorwort zu Hermann Ungars Nachlassband Colberts Reise und andere Erzählungen, das Thomas Mann in Nidden im Sommer 1930 verfasste. (X, 734–740) Seine eigene ‚Biographie‘ spielte hierbei zwar nur bedingt eine Rolle, dafür aber eine bezeichnende: Thomas Mann präsentiert sich bereits im ersten Satz seiner Ausführungen als der seinerzeitige ‚Entdecker‘ Ungars, da er sich für dessen Erstling Knaben und Mörder eingesetzt habe. ‚Biographisch‘ im übertragenen Sinn ist auch die Bemerkung Manns, dass er das „Todgeweihte“ in der Kunst dieses Frühverstorbenen (1893–1929) „immer gespürt“ habe, was der Grund gewesen sei für seine „Sympathie“ diesem mährisch-jüdischen Schriftsteller gegenüber. Den frühen Tod Ungars, so Thomas Mann, habe er in dessen schmalem Werk vorgezeichnet gesehen. Besonders hebt Mann Stellen aus Ungars Novelle Der Weinreisende hervor, die eine „sinnliche Treue“ zum Leben belegen: „In altem Wein sind die Gerüche aller Blumen, die Strahlen der Sonne, Lachen der Kinder, Schweiß der Männer, das Bild der sommerlichen Landschaft, alles reif und schwer wie die Brust der stillenden Mutter.“ Thomas Manns Kommentar dazu lautet: „Kunst mag wohl todgezeichnet sein, sie ist doch immer Liebe, immer Leben.“ (X, 736 f.) Doch Ungars reisender Weinhändler verfügt über stilistische Anspielungen, die an Formen erinnern, die Thomas Mann aus seiner Tonio Kröger-Zeit bekannt vorgekommen sein dürften, Stellen wie diese: „‚Man ist Künstler auf anderem Gebiet, als es der Dichter oder Musikant ist, aber doch auch wie diese durch seine Sinne in einem tieferen und heiligeren Zusammenhang mit der Natur, herausgehoben aus der dumpfen Masse derer, deren Auge so stumpf ist wie ihr Ohr, ihre Nase, ihre Zunge und die Nerven unter der Haut.‘“ (X, 737) Man ist Künstler, wenn … – mit dieser, paradox gesagt: spezifischen Verallgemeinerungsformel hatte auch Thomas Mann in seiner Frühphase wiederholt operiert, um eine gewisse Verbindlichkeit im Urteil herzustellen. Das Besondere, ja für Thomas Manns Verhältnisse Ungewöhnliche an dieser kleinen Würdigung ist die positiv gewertete Gleichgewichtigkeit, die er zwischen dem Werk Ungars und seiner Biographie herstellt. Der Leser erfährt von beidem nahezu gleich viel. Und die „Sympathie“ Thomas Manns für Werk und Leben Ungars ist gleichmäßig verteilt, auch wenn das Werk nur aus „Bruchstücken und Andeutungen einer unverwirklichten epischen Welt“ bestehen konnte. (X, 737) Die auf zweieinhalb Druckseiten konzentrierte Darstellung von Ungars Leben ist ein kleines Glanzstück miniaturistischen Biographierens. Bildungsgang mit juristi-

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scher Promotion mitten im Ersten Weltkrieg, dazu traumatisierende Fronterfahrung in Russland und Galizien, ein kurzes Advokatendaseinszwischenspiel, Bankbeamtung, diplomatischer Dienst bis hin zum tschechischen Legationssekretär in Berlin, im letzten Lebensjahr wieder in Prag bis hin zu einem schweren Autounfall und einer zu spät entdeckten, tödlichen Blinddarmentzündung. Thomas Mann beschreibt ein wie im Zeitraffer gelebtes Leben, dessen geographischer Radius bescheiden war: Brünn, Prag, Berlin, München und wieder Prag, dazwischen kleine Reisen nach Paris und Italien, unternommen freilich von einem Reisephobiker, der von „mystischer Furcht“ vor Ortswechseln gepeinigt wurde und geradezu neurotisch auf das Heimatliche, die Herkunft fixiert blieb. Mit diesen Eigenschaften versehen, schilderte Thomas Mann, der nicht einmal Reisefieber kannte, somit sein krasses Gegenbild. Die traurig-ironische Pointe dieser Heimatfixiertheit ließ sich Thomas Mann nicht entgehen. Sie bildet den Schluss dieses kleinen Versuchs und verleiht ihm eine Öffnung ins Große, Unbestimmbare. Er sei vollständig zitiert: Sein Sterben vollzog sich unter seltsamen Umständen. Zur Zeit seiner akuten Erkrankung befand sich seine Mutter, schwer augenleidend, in derselben Klinik, in der er operiert wurde. Man verheimlicht ihr die Operation, aber ein Traum, den sie hat, handelt von Hermanns Tod. Der Sohn lebt noch mehrere Tage, von den Ärzten aufgegeben, für sein Teil aber hoffnungsvoll. Da wechselt die Pflegeperson: Eine Krankenschwester tritt ein, in der er eine Jugendbekannte aus Boskowice erkennt. Mit Entsetzen – denn er sieht ein Zeichen darin. Dies Heimatgesicht schickt ihm die Erde entgegen. Er muß sterben. (X, 740)

Durch den Wechsel ins Präsens scheint sich, einmal mehr paradox gesagt, das Sterben zu verlebendigen. Es gewinnt Gegenwart und eine Aussagekraft, die ein letztes Mal verstärkt, was Thomas Mann an Ungar besonders aufgefallen war: seine Heimatbindung – nun freilich mit schicksalhaften Folgen. In seiner Bemühung, Randfiguren im Literaturbetrieb der Zeit Aufmerksamkeit zu verschaffen, erprobte Thomas Mann wiederholt Möglichkeiten, biographische Informationen einzuflechten oder bis auf ein Minimum auszusparen. Im Fall des westfälischen Dichters Adolf von Hatzfeld beschränkte er sich geradezu auf einen Extrakt aus einer bereits miniaturisierten biographischen Information über den Autor in Form eines Relativsatzes, der Tragisches in diesem jungen Leben nur andeutet und geradezu mythisch werden lässt. Die Rede ist von der „Lebensanteilnahme […] eines Dichters, der seit dem tragischen Abschluß schwerer Jugendwirren in ewigem Dunkel lebt.“ (X, 630) Mehr an ‚Biographie‘ erhalten wir nicht. Aber dieser Hinweis auf einen Selbstmordversuch mit Dauerfolgeschäden, ein Kopfschuss, der zur Erblindung führte, genügt für den Text Thomas Manns denn doch, um einen Hauptkontrast aufzubauen: Der erblindende von Hatzfeld schreibt einen Roman (Die Lemminge, 1923), in dem sein Protagonist, Iwan Wagner, von Tho-

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mas Mann mit sicherem Blick als ein Verwandter russischer Prosafiguren erkannt, ein monadisches Leben führt („abgeschlossen und in sich kreisrund vollendet“; X, 630), aber mit einer „Lichtvision“ beschenkt wird. Diese wiederum schlägt dann um in eine Sonnenfinsternis-Szene an einem Weiher mit Froschlaich, einem Ort, wo eine von Einsamkeit aufgezehrte Liebe in Hass umschlägt und Fruchtbarkeitssymbolik in Zerstörung. Gerade in Thomas Manns kleineren kritischen Arbeiten (werk-)biographischen Einschlags aus den Zwanziger Jahren finden sich überraschende poetologische Kurzüberlegungen, die auf seltsame Weise mit den biographischen Extrakten korrespondieren. So auch in den Ausführungen zu Hatzfeld. In ihnen spricht er von der „Selbstaussage der Dinge durch das Medium des Dichters“, wobei dieser Vorgang dazu führe, dass sich „dessen Subjektivität“ mit ihrer „Objektivität zu einem Ergebnis“ vermische, das man gemeinhin als „Stil“ bezeichne. Die Schlussfolgerung aus diesem für die literarische Moderne charakteristischen Sachverhalt lautet: „[…] das Erzählen ist etwas vollständig anderes als Schreiben; und zwar unterscheidet sich jenes von diesem durch eine Indirektheit, die sogar am feinsten und verschlagensten sein kann, wenn die innere Objektivität des Werkes durch eine humoristisch-scheinbare Direktheit verschleiert wird“. (X, 631) Das ist der Stand Thomas Mann’scher Erzählästhetik ein Jahr vor Abschluss des Zauberbergs. Bemerkenswert ist die Unterscheidung von Erzählen und Schreiben und die Betonung einer vom Objekt ausgehenden Objektivität, die mit der Eigenart der Darstellungsweise des Erzählers sich verbindet. „Stil“ wäre somit unweigerlich ein Hybrid, das sich beim Erzählen noch zusätzlich camoufliert – und sei es in humoristischer Absicht. Das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität im Erzählen befasste Thomas Mann auch schon ein Jahrzehnt vor seiner Besprechung von Hatzfelds Roman Die Lemminge, nämlich gleich zu Beginn im Vorwort zu dem Roman eines Jungverstorbenen (1913). Gemeint ist der von Thomas Mann ausdrücklich als autobiographisch gelesene, posthum erschienene Roman Nacht und Tag des deutsch-jüdischen Schriftstellers Erich von Mendelssohn.160 Liebe zu sich selbst, schreibt Mann 160 Erich von Mendelssohn, der auch persönlich mit Thomas Mann bekannt war, wurde 1887 in Dorpat/Tartu geboren und verstarb 1913 im Ort Hamlets, Helsingør. Zu seinem Bildungsgang gehörte ein Aufenthalt im thüringischen Landerziehungsheim Haubinda, wo er mit der Reformpädagogik Paul Geheebs, des späteren Gründers der Odenwaldschule, in Berührung kam. Auch Klaus Mann wird 1922 diese schon damals unter Missbrauchsverdacht stehende Bildungsanstalt ein knappes Jahr lang besuchen. Seine Novelle Der Alte sowie seine erste Autobiographie Kind dieser Zeit (1932) sorgten seinerzeit für erhebliches Aufsehen. Dazu ausführlich: Manfred Kappeler, „Wir wurden in ein Landerziehungsheim geschickt …“. Klaus Mann und seine Geschwister in Internatsschulen. Berlin 2012. Golo Mann hatte in seinen Erinnerungen Klaus Manns Erfahrungen eher beschönigend dargestellt. Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland.

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in seinem Vorwort, sei die Voraussetzung für alles autobiographische Schreiben, ein Argument, das er, wie gesehen, später als Grund dafür angeben wird, selbst keine Autobiographie geschrieben zu haben. Zudem entscheide die Intensität des „Ichgefühls“ darüber, ob das Leben eines Autors „nicht nur subjektiv zum Roman“ werde, „sondern auch objektiv ins Interessante und Bedeutende“ erhoben werden könne. Erst dadurch gewinne die Selbstdarstellung an Qualität und Reiz. Was für die Gerafftheit biographischer Darstellungen Thomas Manns gilt, konnte auch für sein straffes Zusammenfassen von inhaltlichen Aspekten eines literarischen Werkes gelten. Seine Charakterisierung von Mendelssohns Roman Nacht und Tag liefert hierfür ein Musterbeispiel. In einem kapitalen Satz, der dem nahekommt, was hier am Ende des vierten Kapitels als ‚Reihungsschichtungen‘ bezeichnet wurde, umreißt er nicht nur diese Milieustudie über ein „modernes thüringisches Erziehungsinstitut, einer ‚freien Schulgemeinde‘“, sondern lotet die Tiefe (und Abgründe) dieses autobiofiktionalen Berichts eines jungen Schriftstellers aus, der sich ihm in München persönlich vorgestellt hatte. Wiederum verbietet sich angesichts der Dichte und Struktur dieses Satzgewebes, ihn anders als vollständig zu zitieren: Landschaftsschilderungen von zarter Leuchtkraft entstehen, wo der Autor seine Schülerwanderungen durch den Thüringer Wald heraufbeschwört; Freiluftszenen, Bilder einer philosophisch betonten Körperfreudigkeit, Wintersporttreiben, mit sachlichster Teilnahme dargestellt, vergnügen das innere Auge; und der spekulative Drang junger Leute, die sich nach neuen, radikalen und noch umstrittenen Grundsätzen gebildet und gelenkt fühlen, tut sich in jenen lyrischen und grüblerischen Gesprächen kund, von denen das Buch voll ist, – Gesprächen von einem sehr deutschen Niveau, wie man hinzufügen darf, wenn man dies Knabenbuch mit solchen anderer nationaler Herkunft vergleicht. (X, 564)

Es ist die subtil ironische Anspielung, die diese Charakterisierung kennzeichnet, etwa die Wendung „Bilder einer philosophisch betonten Körperfreudigkeit […] vergnügen das innere Auge“ als Hinweis auf die Freikörperkultur, die dann Klaus Mann mit deutlicheren Worten beschreiben sollte. Die vergleichende Schlussbemerkung Thomas Manns war gegen Rudyard Kipling gerichtet, insbesondere gegen dessen Boarding School Geschichten Stalky & Co. (1898), die er im Vergleich zu Mendelssohns Roman widerwärtig fand. Mit die-

Frankfurt am Main 1986, S. 282 f. Zur Dokumentation des Missbrauchsskandals vgl. Christl Stark, Idee und Gestalt einer Schule im Urteil des Elternhauses. Heidelberg 1998. Rainer Maria Rilke dagegen wandte sich – im Gegensatz zu seiner von ihm getrennt lebenden Frau, Clara Westhoff – entschieden gegen die Einschulung seiner Tochter Ruth in der Odenwaldschule, offenbar weil ihm entsprechende Verdachtsmomente zu Gehör gekommen waren. Mendelssohn verdiente seinen und seiner Familie Lebensunterhalt hauptsächlich durch Übersetzungen aus dem Dänischen, Schwedischen und Isländischen.

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sem Urteil befand sich Thomas Mann übrigens in bester Gesellschaft; ähnlich hatte bereits ein Jahr nach Erscheinen von Kiplings Erzählung Theodore Roosevelt geurteilt; er nannte Stalky & Co eine Geschichte, „which ought never to have been written, for there is hardly a single form of meanness which it does not seem to extol, or of school mismanagement which it does not seem to applaud. Bullies do not make brave men; […] and even after the change scars will be left on their souls.“161 Waren die Boarding Schools die Pflanzstätten oder besser: Kaderschmieden für die Führungskräfte des British Empire, wollte die deutsche Reformpädagogik den ‚freien Menschen‘ heranbilden. Beides erwies sich als Fehlentwicklung, wobei den elitären Boarding (= Public) Schools eine längere Laufzeit beschieden (gewesen) ist, was dem britischen Erziehungswesen nicht zum Vorteil gereicht angesichts der dadurch perpetuierten, weiterhin dezidiert elitistischen Sozialstruktur. Sein Vorwort zu Mendelssohns Roman rundet Thomas Mann mit einer These ab, die seinen Anfang und damit seine gedankliche Voraussetzung gewissermaßen einholt. Sie lautet: „[…] nur wo das Ich eine Aufgabe ist, hat es Sinn, zu schreiben.“ (X, 564) Im Fall Mendelssohns erkannte er diese „Aufgabe“ in dessen „persönlichem Problem“ als Sohn einer dem baltischen Junkertum entstammenden Mutter und eines jüdischen Gelehrten. Ein weiteres „Problem“ identifizierte Thomas Mann im Wechsel der Bewusstseinslage von seiner eigenen Generation, die „am Pathologischen, am Verfall“ Interesse hatte (– er schreibt dies ein Jahr nach der Veröffentlichung von Tod in Venedig –), hin zu jener Mendelssohns: „Die jungen Leute sind anders gerichtet: die Gesundheits- und Durchsonnungstendenzen der Zeit sind stark in ihnen […] Gesundheits- und Kraftkultus überall: und der frühe Tod des jungen Mendelssohn ist vielleicht ein Zeichen dafür, daß diesem Kultus zuweilen heroische Opfer gebracht werden.“ (X, 565) Zugegeben, nicht alle ‚jungen Leute‘ verhielten sich so; man denke allein an Georg Trakl oder Georg Heym. Doch die überwiegende Mehrheit dieser jungen Generation verhielt sich tatsächlich körperfetischistisch. Und daraus leitete Thomas Mann eine betont skeptische Haltung gegenüber diesen Klischeebegriffen ab: „Man kann auf gesunde Art krank und auf kranke Art gesund sein.“ (ebd.) Diese Ambivalenz gipfelt dann im letzten Satz dieses Vorworts: „Das Leben ist oft auf jener Seite, wo im Grunde nur eines geliebt wird: der Tod.“ (ebd.) Nur ein Jahr danach sollte sich diese Ambivalenz auf das Grausigste bewahrheiten: Auf den Schlachtfeldern starb der Gesundheitskult im Namen krankhaft nationalistischen Wahns. Der Tod überlebte und die nicht minder pathologische Verfallenheit dem Verfall gegenüber der von Thomas Mann apostrophierten Fin de Siècle-Generation erfuhr ihre perverse Apotheose im (selbst-) mörderischen Sturmangriff. 161 Veröffentlicht in der Mai-Ausgabe 1900 der Zeitschrift St. Nicholas: http://www.foundationsmag.com/americanboy-com.html (aufgerufen am 2. März 2021).

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Schlussendlich erfolge ein exemplarischer Hinweis auf die Art, wie Thomas Mann Lebens- und Werkbetrachtung zu verflechten verstand und dabei doch die Grenzen zwischen beidem zu wahren sich bemühte. Das Beispiel heißt: Kurt Martens, mit Thomas Mann seit dem Beginn von dessen Münchener Zeit befreundet und einer seiner ganz wenigen Duzfreunde. Beginnen wir mit einem Wort des Freundes, das deutlicher kaum sein konnte: Literatur steigere das „Bewußtsein vom Leben“. Des Weiteren gelte es, das jeweilige Werk „als ein Stück objektiven Lebens in all seiner Wahrheit, Wucht oder Grazie in uns aufzunehmen, durch Zustimmung oder Widerspruch, Gelächter oder Zorn, Entsetzen oder sinnende Betrachtung uns daran zu bereichern,“ schreibt Martens in seiner Einleitung zu den „Charakteristiken und Proben“, die er, Martens, unter dem Titel Die Deutsche Literatur unserer Zeit (1922) zusammengestellt und kommentiert hatte.162 Darin beklagte er den „Drang zahlreicher junger Literaten“, um jeden Preis aufzufallen, was bei vielen zu einem „marktschreierisch hilflosen Dilettantismus“ führe, der „unter einer willkürlich angenommenen literarischen Manier“ sich zu verbergen suche.163 Dagegen hält er seinen vielgestaltigen Kanon, beginnend mit Nietzsches Lyrik, gefolgt von unter anderen Liliencron, Dehmel, Wedekind, Heinrich Mann, Unruh, Becher, Thomas Mann (versteht sich), George, Rilke, Dauthendey, Bruno Frank und Albrecht Schaeffer. Der Verweis auf Gerhart Hauptmann ist abwertend formuliert: „dieser Gerhart Hauptmann (ausgenommen in ‚Vor Sonnenaufgang‘) “;164 offenbar war ihm Hauptmanns Naturalismus suspekt. Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld zu dieser Anthologie erschien Martens’ Schonungslose Lebenschronik, die Thomas Mann unter dem Titel Ein Schriftstellerleben in der Neuen Zürcher Zeitung besprach – keinesfalls ‚freundschaftlich‘ übrigens, sondern dezidiert kritisch. Dabei verband er aber das Kritische als positiven Wert ausdrücklich mit Martens als Signum von dessen „geistiger Würde“ sowie jener des Schriftstellers überhaupt. Mann zeigt, wie sich Martens selbst darstellt: in der Rolle des Korpsstudenten und wenig später in der des „Avantageurs“ (Fahnenjunker) in einem Kavallerieregiment, als „Feudalbürger maskiert“, dabei immer der geistigen Hochstapelei verdächtig. (X, 615) Schließlich, mit fünfzig und nach einer erheblichen Anzahl von Romanen und einem Caspar Hauser-Drama, dieser Art des Lebens überdrüssig. Bemerkenswert nun Thomas Manns kritische Einordnung dieser Selbstdarstellung von Martens: Er hält sie nicht für eine Autobiographie; dazu fehle ihr „die 162 Kurt Martens, Die Deutsche Literatur unserer Zeit. In Charakteristiken und Proben. München 1922, S. 9. (https://archive.org/details/diedeutscheliter00martuoft/page/10/mode/2up – aufgerufen am 2. März 2021). 163 Ebd., S. 10. 164 Ebd., S. 12. (m. Hervorh.)

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fromme oder fanatische, gotteskindliche oder dämonische Icherfülltheit.“ Noch deutlicher gesagt: „Nicht der Geschichte der Autobiographie gehört, psychologisch genommen, seine Lebenschronik an, sondern der Memoirenliteratur“ (X, 615), Erinnerungen an erlebte Szenen, weniger Reflexionen über den inneren Werdegang. Aus einem Brief Thomas Manns an Martens vom 13. Dezember 1921 geht hervor, dass diese kategoriale Differenzierung des öfteren Gesprächsgegenstand zwischen beiden Freunden gewesen war. Zudem sei diese „psychologische Unterscheidung zwischen ‚Autobiographie‘ und ‚Memoirenliteratur‘ etwas wie ein Steckenpferd von mir“, wie Mann eingesteht.165 Überraschend das Festhalten daran, dass es sich hierbei um eine psychologische Differenzierung handele und weniger um eine literarische oder allgemein ästhetische. Letztlich geht es um die Frage, wie sich Material dieser Art aufgearbeitet findet. Bei Martens, so legt Thomas Mann nahe, seien es erzählte Bilder, durch die das Buch zu einem Memoirenwerk geworden sei. Das nach außen Gesehene ersetzte den Blick nach innen, der für die Autobiographie wesentlich sei. Dieses Verhältnis von Innen und Außen, verbunden mit den jeweiligen Blickrichtungen, hatte Thomas Mann intensiv bereits zu der Zeit befasst, als er um Katja Pringsheim warb. In einem seiner ersten Briefe an sie zitiert er eine Bemerkung Friedrich Hebbels, nach der „der Mensch zur vollständigen Entfesselung des Inneren immer des Äußeren“ bedürfe.166 Der junge Thomas Mann beharrt dagegen auf der Intensität der ‚Vorstellung‘ aus dem Inneren heraus – und das durchaus im Sinne Schopenhauers –, das zu Bildern von einem unbedingten Eigen-‚Leben‘ führe. Weiterentwickelt fände sich dann darin der Keim zur – Autobiographie. Aber sie sollte er, wie gesehen, für sich selbst – vermeintlich mangels Eigenliebe – verwerfen.

165 Thomas Mann, Briefe I: 1889–1936. Hrsg. v. Erika Mann. Frankfurt am Main 1995, S. 194. 166 Ebd., S. 44 (Brief von Ende Mai 1904).

VIII Späte Trias: Kleist – Tschechow – Schiller Kleist, „aufs Geratewohl“ Mit dem Einzug in die Alte Landstraße 39 (in Zürich-Kilchberg) am 15./16. April 1954, seiner letzten Adresse, schloss Thomas Mann auch den dritten und, wie sich erweisen sollte, letzten Teil seines Felix Krull ab und begann sogleich mit der Wiederlektüre von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas. Eine Auftragsarbeit stand an, eine Einleitung zu einer amerikanischen Ausgabe von Kleists Erzählungen. Die Anfrage erreichte ihn auf seiner letzten Italienreise in Fiesole im März 1954; das Tagebuch vermerkt, dass vor allem das Honorar von tausend Dollars lockte. (Tb. v. 1. III.54) Er trug diese Einleitung dann auch Ende November jenes Jahres an der ETH in Zürich vor. Heinrich von Kleist und seine Erzählungen, nicht eigens als ‚Versuch‘ wie die darauf folgenden Arbeiten zu Tschechow und Schiller deklariert, sollte denn auch der erste Text werden, der unter seiner letzten Adresse entstand. Seinen Krull werden die folgenden Sätze beschließen: „Ein Wirbelsturm urtümlicher Kräfte trug mich ins Reich der Wonne. Und hoch, stürmischer als beim iberischen Blutspiel, sah ich unter meinen glühenden Zärtlichkeiten den königlichen Busen wogen.“ (VII, 661) Als er nur zwei Monate später die Schlussbogen des Krull Korrektur liest, kommentiert er: „Der Schluß ist beschämend schwach.“ (Tb v. 19.VI.54) Geurteilt, nachdem er sich die Erzählkunst Kleists neu vor Augen geführt und in seinem Essay charakterisiert hatte. Am 28. April vermerkte er im Tagebuch: „Kleist-Aufsatz zu schreiben begonnen, aufs Geratewohl.“ Ganz aufs „Geratewohl“ denn doch nicht; Arnold Zweigs Versuch über Kleist, von Thomas Mann großzügig eine „Biographie“ genannt, bot ihm wichtige Anhaltspunkte167 – bis in die Struktur seiner eigenen Ausführungen: Abarbeitung des ‚Lebens‘, dann ‚das Werk‘. Für Thomas Mann bedeutet dieser Auftrag auch eine Rückerinnerung an das Jahr 1927, Kleists 150. Geburtstag, zu dem er einen Vortrag über Amphitryon im Münchener Schauspielhaus beigetragen hatte, der auszugsweise in der Vossischen Zeitung und als Abhandlung erschien. Jetzt, im April 1954, griff er nicht auf seinen bedeutsamen Versuch über Kleists Molière-Bearbeitung zurück, wohl aber auf Material, das ihm aus dieser Zeit noch zur Verfügung stand. An neuerer Literatur hatte er vor allem Hans M. Wolffs in Berkeley/Los Angeles 1947 erschienene Studie

167 Verweis darauf im Tagebuch v. 24.April 1954. Denkbar ist auch, dass es sich dabei um die von Zweig verfasste Einleitung zu der von ihm besorgten vierbändigen Werkausgabe (München 1923) handelte. Im TMA vorhanden mit Anstreichungen. Dagegen spricht jedoch die Bezeichnung ‚Biographie‘, die viel mehr auf Zweigs Versuch von 1925 zutrifft. https://doi.org/10.1515/9783110734508-009

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Heinrich von Kleist als politischer Dichter zur Hand. In einem Brief an den Verfasser bekundete Thomas Mann seine erheblichen Vorbehalte gegenüber Kleist; er nennt ihn ein „fragwürdiges Phänomen“ und machte sich insgesamt Goethes Sichtweise von Kleist zu eigen, vor allem, was die „rasende Penthesilea“ angeht. Nun erschien ihm sogar der „höchst geistreiche Amphitryon“ auch „quälerisch“, vom „nationalistischen“ Furor der Herrmannsschlacht zu schweigen.168 Hatte er die differenzierendere Würdigung Kleists von Egon Vietta wahrgenommen, der die Vielgestaltigkeit von Kleists „Ich-Religion“ in einem Aufsatz 1952 hervorgehoben hatte?169 Es scheint tatsächlich, dass die Re-Lektüre von Arnold Zweigs ausgewogenerem Kleist-Essay entscheidend auf Thomas Manns Ausführungen gewirkt hat. Wohlgemerkt, nicht Stefan Zweigs Kleist-Studie, die, gleichfalls 1925 erschienen, das „Dämonische“, „Gejagte“ in Kleist hervorhob.170 Arnold und Stefan Zweig favorisierten die Trilogie, wobei sich Kleist in ihren jeweiligen Triaden in einer bezeichnend anderen Gesellschaft befand. Sah Arnold Zweig ihn umgeben von den ‚Aufklärern‘ Lessing und Büchner, suggerierte Stefan Zweig Kleists Nähe zu den vermeintlich ‚dämonisch‘ veranlagten Hölderlin und Nietzsche. Bei Thomas Mann dagegen ergab sich die folgende Trias – eher durch lebensgeschichtliche Umstände bedingt als durch konzeptionelle Erwägungen: Kleist – Tschechow – Schiller. Arnold Zweig gliederte seinen Kleist entdämonisierenden Versuch in sechs Abschnitte („Das äußere Leben“, „Die Aufgabe“, „Die sachliche Situation“, „Das persönliche Moment“, „Das Werk“ und „Die Gestalt“), wobei er – in der Sprache seiner Zeit – nicht den „Kampf mit dem Dämon“ kommentierte, sondern jenen „ums deutsche Drama“.171 Im Vergleich zu Thomas Manns Einleitung in diese Werkausgabe Kleists bringt Arnold Zweigs Versuch unter der Überschrift „Die sachliche Situation“ eine umfängliche, in neunzehn Punkten abgehandelte Dramentheorie, die man nur im weitesten Sinne als Kleist-relevant bezeichnen kann; vielmehr handelt es sich dabei um Ableitungen von seinem Verständnis des Kleist’schen Dramas, das für Thomas Manns Vorhaben ohne Bedeutung war. Anders verhält es sich mit einer Prämisse Arnold Zweigs, die dieser unter dem Titel „Die Aufgabe“ nachreichte: „Erst wenn man die Lebenslinie des genialen Künstlers aus seiner Situation als Schaffender nicht mehr erklären kann, darf das Private, das menschli-

168 In: Helmut Sembdner (Hrsg.), Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. München 1977, S. 468 f. 169 In: Ebd., S. 473. (erschienen in der Zeitschrift „Das Neue Forum“). 170 Erschienen als Teil von Stefan Zweig, Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin – Kleist – Nietzsche. Frankfurt am Main 1925, S. 109–163. 171 Arnold Zweig, Lessing. Kleist. Büchner. Potsdam 1925, S. 92.

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che Ich angerufen werden.“172 Arnold Zweig betont weiter, bei Kleist – im Unterschied zu Goethes beständig spürbarer physischer Existenz – wirke es „fast unglaubhaft“, „daß er überhaupt gelebt hat, daß es einen lebendigen Menschen gab, von dem ‚Kleists Werke‘ eine sehr partielle Ablösung sind.“173 Dieser Herausgeber der Werke Kleists wusste fraglos, wovon er sprach! Kleist, so Arnold Zweig im Jahre 1925 weiter, stände „längst im deutschen Bewußtsein aufgerichtet als Typus“ des Dichters, wenn in seinen Briefen mehr „Irdisches“ zu finden wäre, „mehr von seiner Person als Erscheinung, seiner Kleidung, Wohnung, Nahrung, seinem Umgang und Alltag, Anekdotisches also woran die Phantasie ihre Kristalle ansetzen könnte […].“174 Kein Wunder, dass Arnold Zweig gerade Kleist als Verfasser von Anekdoten würdigte. Und dieses Ansetzen von Kristallen der Phantasie ans Anekdotische kennzeichnet ja auch recht genau Thomas Manns ‚biographierendes‘ Verfahren als eine Komponente seiner autorenbezogenen Essayistik, nur eben bei Kleist, Arnold Zweig hatte das treffend gesehen, fehlte es an entsprechenden erzählerisch ausgestaltbaren Ansatzmöglichkeiten. Im Tagebuch lässt sich annähernd verfolgen, wie intensiv sich Thomas Mann zwischen dem 28. April und 14. Mai dieses „Aufsatzes“ über Kleist angenommen hatte, wobei die Zwischenbemerkung nicht fehlte: „Arbeit am ‚Kleist‘. Mache es mir viel zu schwer.“ Aber womit? Mit dem eigenen Verhältnis zu diesem widerspenstigen Dichter. Selbst zum einst rückhaltlos gepriesenen Prinz von Homburg notiert er nun: „gewiß bewundernd, auch mit innerem Widerspruch“. (Tb. v. 3. V.54) Nichts anzufangen wusste er mit dem Käthchen von Heilbronn, bei dessen Wiederlektüre er vermerkt: „Kindliche Hysterie“. Vollends unbekömmlich blieb die Herrmannsschlacht. Und der subtile Sinn des Lustspiels Der zerbrochne Krug kümmerte ihn nicht weiter. Aus unserer Sicht wichtig: Thomas Mann trennte Leben und Werk Kleists. Was er im Tagebuch den „allgemeinen Teil“ nennt, den er am 5. Mai abschließt, enthält den eigentlich biographischen Stoff – im Druck durch die einzige Leerzeile im Textbild gekennzeichnet, so als läge da ein Graben zwischen Leben und Schaffen. Ohne „biographische Genauigkeit“ habe er „über Kleists Person und Dichterschicksal einiges vorgebracht“, und das „in der Annahme, daß der anglo-amerikanische Leser der hier vorgelegten Geschichten über den Urheber dieser außergewöhnlichen Gebilde etwas zu wissen wünscht.“ (IX, 832) Das ist die vornehme Umschreibung der Vermutung, dass im Anglo-Amerikanischen mit Unbedarftheit in Sachen kontinentaleuropäischer Literaturtradition zu rechnen sei. Kleist’sche 172 Ebd., S. 79. 173 Ebd., S. 127. 174 Ebd.

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Lebensqualitäten mischen sich dann jedoch auch in Thomas Manns Beurteilung von Kleists Prosakunst und seiner, wie er schreibt, „absolut singulären Erzählersprache“. (IX, 832) Dieses das Äußerste Wollen, ja das „Über-Äußerste“ (IX, 836), diesen Charakterzug des Werkes findet Thomas Mann auch im Leben des Dichters. Spiegel dieses „Über-Äußersten“ sind nicht nur die krassen Sprachbilder bis hin zum mit Gehirn Erschlagener bespritzten Gemäuer, sondern vor allem die syntaktischen Eigenheiten. In den „verwickelten, verknoteten, überlasteten Sätzen“ mit ihren Verschachtelung erzeugenden „‚dergestalt, daß‘-Konstruktionen“, so legt Thomas Mann nahe, findet sich auch die innere Verknotung dieses Dichters, das Verwickelte, Überlastete in seinem Leben. Es ist eher durch Implikationen dieser Art, dass Thomas Mann die zuvor benannte – und von ihm betonte – Trennung von Leben und Werk doch fallweise zu überbrücken versucht. Was aber interessierte Thomas Mann an dieser Biographie? Keineswegs handelte es sich dabei nämlich um ein bloßes Informationsgerüst, das er bieten wollte; vielmehr greift er zentrale Fragen der Kleist-Biographik auf, die bis in unsere Zeit bedeutsam geblieben sind.175 Biographieren ist Arbeit am Nachleben. Wenig in den Texten zu Kleist, Tschechow und Schiller spricht dafür, dass Thomas Mann damit auch bereits sein eigenes Nachleben thematisiert hätte, die ja eher mit einer lebensbejahenden Exklamation endet, einer rhetorischen Öffnung also, die keinen Abgesang vermuten lässt. Wenn er nun Kleists Novelle Das Erdbeben von Chili der „gedrängte[n] Exposition“ des Anfangssatzes wegen ein „Meisterstück“ nennt, bewundert, wie der Erzähler „mit souveräner Sachlichkeit alles Nötige unterzubringen“ weiß (IX, 833), dann trifft dies auch auf die Einleitung zum biographischen Teil seines Kleist-Essays zu. Geschickt exponiert er das Phänomen der Sprache Kleists, indem er ihre künstlerische Vollendung mit seinen physisch bedingten Kommunikationsdefiziten im gelebten Leben kontrastiert. Aufgrund eines „Fehlers im Sprachorgan“ sei Kleist zu freier Rede unfähig gewesen, in Gesellschaft von „Verlegenheit befallen“, habe gestottert und dabei ein „unnatürlich verzerrtes, peinlich gezwungenes Wesen“ an den Tag gelegt. (IX, 823) Thomas Mann ruft hier zwar nicht nach einem Logopäden, aber er legt zumindest nahe, dass aus dieser Sprachstörung „psychogene Krankheiten“ wurden, die sich im Werk und eigentlichen Schaffensvorgang durch eine radikale „Hingabe an seine exzentrischen Stoffe bis zur Tollheit, bis zur Hysterie“ geäußert hätten. Psychische und ästhetische Disposition – und damit biographisches Faktum und 175 Vgl. dazu u. a.: Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt am Main 2011, bes. S. 469–485; ebenso: Blamberger, „Lieblose Legenden“? Anmerkungen zur Poetologie und Ethik des Biographierens. In: Blamberger / Görner / Robanus (Hrsg.), Biography – A Play?, bes. S. 29–30.

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Werkcharakteristik – bringt Thomas Mann auf diese Weise denn doch in einen Zusammenhang, gerade wenn er befindet, die Kleist zermürbenden „Ansprüche an sich selbst“, dieses Ringen „um das Unmögliche“ hätten sich zuletzt in einen „Willen zum Tode“ verwandelt, ihn mit jenem einer „unheilbar Kranken“ – Henriette Vogel also – verbindend. Thomas Mann deutete somit Kleists Leben und Werk nicht vom Tode her, sondern zum Tode hin, wobei sich seine Begründung so liest, Kleists berühmt gewordene Formulierung, es sei ihm auf Erden nicht zu helfen gewesen, bezeichnend umwandelnd: Kleist habe sich getötet, „weil es, wie er sagte, ‚auf dieser Erde für ihn nichts mehr zu erlernen oder zu erwerben gab‘, tötete sich, müde seiner Unvollkommenheit, aus metaphysischer Sehnsucht, das Bruchstückhafte seiner Individuation ins All zu werfen, damit es vielleicht eine höhere Vollkommenheit daraus schaffe.“ (IX, 823) Der Bruch mit dem Leben als Vollendung seiner Bruchstückhaftigkeit – es ist das Beispiel für eine sehr Kleist’sche „Paradoxe“, das Thomas Mann hier liefert. Zweimal nimmt er in diesem ersten Teil seines Versuchs Anlauf, um das Leben dieses märkischen Dichters von Weltliteratur wenigstens zu umreißen, ein Leben, das nach Orientierung suchte. Er folgt Arnold Zweig auch darin, dass er betont, wie wenig von Anbeginn entschieden war, dass Kleist Dichter werde. Anders als Zweig hält Thomas Mann jedoch die beabsichtigte Trennung von Leben und Werk nicht wirklich aufrecht, vor allem dann nicht, wenn es um Kleists Pathologie geht: „Seine persönlichen Krankheiten haben etwas von den vielen Ohnmachten, die in seinen Dichtungen vorkommen, das heißt, sie gleichen Erholungen durch tiefe Einkehr ins Unbewußte, zu den Quellen des Lebens; und er besitzt eine Zähigkeit und Fähigkeit zum Reifen, die alle Robustheit beschämt.“ (IX, 831) Damit bewegt er sich auf eine zweite zentrale „Paradoxe“ im Leben Kleists zu: Dessen Schaffen wie im Zeitraffer, konzentriert auf die Jahre äußerster Produktivität (1805, 1808 und 1810), zeuge von einer „Vitalität“, die zum „Willen zum Tode“ einen scharfen Kontrast darstelle und die sogar Thomas Mann nicht ohne (gespielten?) Neid registriert („Die Vitalität möchte ich haben!“ IX, 831). Thomas Mann zeigt, wie Kleist mit einer geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit sich alles an Formen und exzentrischen, gar ‚extremistischen‘176 Stoffen aneignet – oder genauer: aus sich herausholt, von der „ausromantisierenden Romantik“ des Käthchens von Heilbronn bis zur „ästhetischen Metaphysik“ des Marionettentheaters, von früher Schauerromantik der Familie Schroffenstein bis zum nationalistischen Grauen der Herrmannsschlacht, von „prachtvoll geformten Anekdoten“ bis zur „aufrufartigen Journalistik“. Nur zu einem sei es bei diesem „eminenten Sprachkünstler“ nicht gekommen: zu bedeutender Lyrik. Nach 176 Vgl. dazu bes. die grundlegende Studie von Uwe Schütte, Die Poetik des Extremen. Ausschreitungen einer Sprache des Radikalen. Göttingen 2006, S. 18–133.

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den Gründen gefragt, antwortet Thomas Mann zur Hälfte mit Nietzsche: Kleist habe im „dionysischen Ausdruck“ geschwelgt, aber, so wäre zu ergänzen, er konnte die apollinische Form, ohne die kein Gedicht entsteht, nicht finden oder sich zu eigen machen. Auf Thomas Mann selbst traf das Umgekehrte zu, er, der es ja auch – bei höchstem sprachkünstlerischen Vermögen – zu keinem nennenswerten Gedicht gebracht hat. Er beherrschte die apollinische Seite, aber zum gültigen Gedicht fehlte es ihm an „Dionysischem“, weil ihm im Grunde vor dem Rauschhaften graute. Im Tod in Venedig ist es die hexametrische Prosa, die dieses Rauschhafte ‚bändigt‘. Vergleichbares findet er – und findet sich – im Erzählen Kleists nicht. Diese Vorbehalte gegen das Rauschhafte hinderten Thomas Mann jedoch nicht, mit Herman Hesse unter dem Titel „Trunken von Gedichten“ eine Lyrik-Anthologie herauszubringen.177 Zu dieser Vermeidung des Rauschhaften bei Thomas Mann gehört denn auch, dass er dem Lebensabbruch Kleists nicht weiter nachgeht – eben auch nicht spekulativ erzählerisch. Selbst an der Schwelle zur Vollendung seines achten Lebensjahrzehnts resümiert er nicht ohne Ironie: „Ein Leben braucht nicht achtzig Jahre zu währen, um auf seine Art voll bestanden und siegreich vollendet zu sein.“ (IX, 832)

Zeilen, „mit tiefer Sympathie geschrieben“: Versuch über Tschechow Was nun führte Thomas Mann von Kleist zu Tschechow? Genau genommen fasste er den Entschluss, etwas zum 50. Todestag des russischen Schriftstellers zu schreiben, vor dem Beginn einer Arbeit über Kleist (Tb v. 22.III.54) Die Arbeit daran ging schleppend vonstatten; „keine Fortschritte“, „stockend“ lauten die einschlägigen Vermerke im Juli 1954. Schon zuvor findet sich das Einbekenntnis „Nicht einmal zu dem Tschechow-Artikel kann ich mich aufraffen.“ (Tb. v. 21.VI.54) (Auto-)biographisch eingestimmt und zugleich verstimmt war er zu Beginn seiner Arbeit am Versuch über Tschechow, denn die Rundfunkaufnahmen zu einem „musikalischen Programm-Gespräch“ mit dem Süddeutschen Rundfunk hatten einen biographischen Teil; er fand ihn im Nachhinein „so schlecht, daß ich telegraphisch Wiederholung verlangte und, kritzelnd, ein längeres Manuskript herstellte.“ (Tb v. 4.VII.54)178 Das geschah unmittelbar nach dem Verfassen von 177 „Trunken von Gedichten“. Eine Anthologie. Geliebte deutsche Verse ausgewählt von Thomas Mann, Hermann Hesse u. a. Zürich 1953. 178 Das Gespräch führte Gerd Fricke in der SDR-Reihe „Wer wünscht was?“. Vgl. die instruktiven Texte im Begleitheft der CD von Nathalie Bielfeldt und Volker Scherliess.

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„einigen Anfangszeilen zum Thema Tschechow“. Gerade Aussagen zur eigenen Biographie waren eben nichts für den Stegreif. Sie wollten genau formuliert sein, trugen doch gerade sie zur Vorarbeit am Nachleben bei. Und so beginnt den auch der Essay über Tschechow – er wird dann im September 1954 in Peter Huchels Sinn und Form erscheinen, eingerahmt von Beiträgen Bertolt Brechts und Hans Henny Jahnns – geradezu ostentativ autobiographisch, und nicht ohne Anklang an die Kleist’sche Syntax: „Als Anton Tschechow, Juli 1904, in Badenweiler an Lungentuberkulose starb, war ich ein junger Mensch, der mit einigen Erzählungen und einem Roman, welcher der russischen Erzählungskunst des neunzehnten Jahrhunderts sehr viel verdankte, in die Literatur eingetreten war.“ (IX, 843) Dann wurde es knapper: „Vergebens suche ich mich heute zu erinnern, welchen Eindruck damals die Nachricht vom Tode des um fünfzehn Jahre älteren russischen Novellisten auf mich machte. Ich finde nichts.“ (ebd.) Der Prosaschriftsteller Tschechow interessiert ihn, weniger der Dramatiker. Auch die vorbereitende Lektüre galt ausschließlich den Erzählungen des russischen Schriftstellers. Gibt es eine epische Kürze? Also eine Knappheit, die epische Entfaltungsmöglichkeiten in sich birgt? Diese Frage zieht sich durch Thomas Manns Versuch über Tschechow, denn diese konzentrierte „kleine Form“ schien er mehr und mehr zu goutieren – und das zu seiner eigenen Verwunderung. Zu Thomas Manns autobiographischem Zugang zu Tschechows Literatur der Kürze gehörte das Geständnis, er habe zunächst eine „gewisse Geringschätzung“ für diese Art des Schreibens gehegt. Das Ursprüngliche sei dagegen die Faszination für das „große Werk“ gewesen und den „langen Atem“ eines Balzac, Tolstoi und Wagner, „denen es irgendwie nachzutun mein Traum war“. (IX, 843) Auffallend ausführlich widmet sich Thomas Mann jedoch im Falle Tschechows dessen frühen Schaffensbedingungen als angehender Arzt, der schon früh den Unterhalt für seine Familie im Wesentlichen zu bestreiten hatte, und das mit dem bescheiden wachsenden Einkommen aus seinen Textlieferungen für Witzblätter, die unter seinem Pseudonym Antoscha Tschechonte erschienen. Der junge Tschechow – ein Spaßmacher inmitten der bedrückenden Verhältnisse im Moskau der Autokratie von Zar Alexander III und seinem Chefberater, dem erzreaktionären Staatsjuristen Konstantin Pobedonoszsew, der grauen Eminenz in den letzten dreißig Jahren des russischen Zarismus, der angehende Schriftsteller als Gesellschaftssatiriker, eine clowneske Figur, ein Unterhalter. Erinnerte sich Thomas Mann dabei an seine eigene Neigung zur Selbstkarikatur und seine Arbeit in der Redaktion der satirischen Zeitschrift Simplicissimus?

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Was Thomas Manns Tagebuch nicht verzeichnet, er muss sich mit Maxim Gorkis nekrologhafter Würdigung Anton Tschechow (1904/1923)179 ebenso beschäftigt haben wie mit seinen Briefen, in denen vor allem der angehende Schriftsteller über seine Zeitnöte berichtet, die seine „kleinen Formen“ erklären. Mann betont Tschechows entwaffnende Bescheidenheit, seine Unzufriedenheit mit den eigenen Hervorbringungen, das Still-Nachdenkliche seiner Person bei ungebrochenem Arbeitswillen und sozialem Engagement. Es ist bezeichnend für die „tiefe Sympathie“, die er Tschechow nach eigenem Bekunden entgegenbrachte (IX, 868), dass Thomas Mann bereits im dritten Abschnitt seines Versuchs das Problem der Bescheidenheit für einen in der Öffentlichkeit qua Publikationen wirkenden Schriftsteller thematisiert und mittelbar auf sich bezieht: Bescheidenheit und Unzufriedenheit mit sich selbst seien ja gut und edel, aber „die Meinung, die wir von uns selbst hegen, ist nicht ohne Einfluß auf das Bild, das die Menschen sich von uns machen; sie färbt ab auf dieses und verfälscht es unter Umständen.“ Mehr noch: „Dieser Kurzgeschichtenschreiber war zu lange überzeugt von der Geringfügigkeit seiner Fähigkeiten, von seiner künstlerischen Unwürde; sehr langsam und schwer gewann er einigen Glauben an sich – den Glauben, an dem es nicht fehlen darf, wenn andere an uns glauben sollen […].“ (IX, 844) Das ist eben auch eine zentrale Selbstaussage Thomas Manns, die begründet, weshalb er sich bewusst in Szene zu setzen verstand; er hielt dies für die Voraussetzung, in der Öffentlichkeit glaubwürdig aufzutreten und ernst genommen zu werden.180 Genau betrachtet eine Selbstrechtfertigung, gegen Ende des Versuchs noch um eine Aussage zum Thema ‚Photographiert-Werden‘ erweitert, bezogen auf eine Stelle in der Szenenfolge Onkel Wanja, in der ein kunstunverständiger Kunstkritiker von einer Dame ironisch genug mit der Aufforderung geschmeichelt wird: „Sie müssen sich wieder photographieren lassen“. Thomas Manns Kommentar: „Mein ganzes Leben lang habe ich lachen müssen, sobald ich mich an dieses ‚Lassen Sie sich wieder photographieren […]!‘ erinnerte, und Tschechow ist schuld, wenn ich manchmal von dem oder jenem denke: ‚Der kann sich auch photographieren lassen!‘“ (IX, 866) Das traf nun bekanntermaßen auch auf ihn, Thomas Mann, selbst zu, der großen Gefallen an dieser Form der Selbstdarstellung fand.181 Einen ihm wahlverwandten Zug entdeckte er auch bei Tschechow, der sich gleichfalls nicht gerade selten photographieren ließ, wobei Thomas Mann diesen Aufnahmen „vollendete Anspruchslosigkeit“ bescheinigte; eben diese wird man schwerlich seinen Porträtaufnahmen at-

179 dem 112. 180 181

In: Maxim Gorki, Wie ich schreibe. Literarische Porträts, Aufsätze, Reden und Briefe. Aus Russischen übers. v. Erich Boehme u. a. Hrsg. v. Helene Imendörffer. München 1978, S. 95– Vgl. dazu: Görner / Latifi, Thomas Mann. Ebd.

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testieren können; denn sie waren Selbststilisierung pur oder zumindest zeigten sie, dass er diese Stilisierung seiner Person zuließ, wenn nicht sogar förderte. Ein Brief, so stellt es Thomas Mann treffend dar, erwies sich im Leben des frühen Tschechow „vielleicht als das rührendste, erstaunlichste, epochalste Ereignis“, und diese Superlative – Thomas Mann scheut sie in seinen Essays durchaus nicht – waren wohl nicht übertrieben. Es geht dem erzählenden Porträtisten wiederholt um den entscheidenden Augenblick, die Zäsur, den Wendepunkt im Leben, der ihm eine neue Richtung gibt – in diesem Fall im Leben des „Selbstmörderleichen“ im Kreiskrankenhaus von Woskressensk obduzierenden Praktikanten Tschechow, der sich bei Laune hält durch das Verfassen von „Spaßliteratur“, zuweilen durchsetzt von einer etwas bitteren Komik. Dann trifft ein Brief ein, genauer: der Brief trifft ihn – mitten in seine Existenz, der Brief des seinerzeit geschätzten Schriftstellers Grigorowitsch. Er fordert den angehenden Arzt auf, sein Schriftstellerhandwerk ernst zu nehmen, seinem Können, das durch die albernen Geschichten scheint, vollauf gerecht zu werden. Thomas Mann hätte diesen Brief gewissermaßen spiegelbildlich mit jenem vergleichen können, den der späte Turgenjew seinem Sozial- und Erziehungsprojekten sich verschreibenden, freilich längst arrivierten Schriftstellerkollegen Tolstoi geschrieben hat, in dem er ihn aufforderte, endlich wieder zum Erzählen, zur wahren Literatur zurückzufinden. Beim späten Tolstoi fruchtete diese Aufforderung nicht mehr. Beim jungen Tschechow dagegen unmittelbar. Die essayistisch-erzählerische Regie Thomas Manns besteht darin, die Kernsätze der Briefe Grigorowitschs und Tschechows, des erfahrenen Schriftstellers Mahnung, die Kräfte nicht in „literarischen Quisquilien zu verzetteln“. Desgleichen verarbeitet er des Novizen Bekenntnis, dass er bislang auf seine Begabung nicht geachtet habe und nicht einschätzen könne, ob sie etwas wert sei. Daraus ergibt sich dann eine für Thomas Mann charakteristische Folge: Sie betrifft das spekulative Verhalten der Hauptperson und die angedeutete Bedeutung für Tschechows Schaffensweg, ausgedrückt in einer bezeichnenden Namenssymbolik. Der Versuch macht uns glauben, Anton Pawlowitsch sei nach der Niederschrift seines Dankesbriefes ins Kreiskrankenhaus gegangen, um zu obduzieren oder nach einem Typhusfall zu sehen, aus dem dann eine fiktive Krankengeschichte werden würde, erzählt aus der Sicht des an Flecktyphus erkrankten Oberleutnants Klimow (gemeint ist die Erzählung Typhus von 1887 und mithin die erste bedeutende Prosa Tschechows nach dem Brief an seinen Ratgeber). Dieser entscheidende Abschnitt im Versuch Thomas Manns läuft jedoch auf eine sinnige Pointe zu: Anton Tschechow nannte sich „seit Empfang jenes Briefes nicht mehr Antoscha Tschechonte.“ (IX, 852) Sein Pseudonym und die mit ihm verbundene „Spaßliteratur“ gibt er auf; nicht aber den Arztberuf. Arzt und Schriftsteller werden unter dem Eigennamen, dem Namen seines Eigentlichen, eins. (Eine weitere Pointe ließ sich Thomas Mann

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freilich entgehen, oder er wollte sie einfach nicht nutzen, obgleich es nahe gelegen hätte: Der junge Tschechow schloss seinen Brief an den geachteten Grigorowitsch mit der Bitte, ihm eine Photographie von sich, dem Berühmten, zu schicken.182) Bei wenigen essayistisch Porträtierten hatte Thomas Mann von Anbeginn den Zusammenhang von Leben und Werk so betont wie im Versuch über Tschechow. So mutmaßt er, dass das frühe Wissen des Arzt-Schriftstellers über seine Krankheit, die Tuberkulose, und damit die Gewissheit über die Kürze seines Lebens ihm die ‚kurze Erzählform‘ nahegelegt haben dürfte. Zu Tschechows längerer Prosa gehörte dagegen eine Geschichte, die es Thomas Mann offenbar angetan hatte: Eine langweilige Geschichte. In diesen „Aufzeichnungen eines alten Mannes“, wie der Untertitel lautet, dreht sich wiederum viel um die Bedeutung eines ‚Namens‘. Die Hauptfigur, der mit allen gesellschaftlichen Rängen und Ehrungen versehene Professor der Medizin, Nikolai Stepanowitsch Soundso, weiß, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat. Er beginnt seine Aufzeichnungen mit einem Abschnitt, indem er über sich als ein Er schreibt – und das mit und unter einem Namen, der sich verselbständigt zu haben scheint. Sein „Wissenschaftsname“ kann sich „über nichts beklagen. Er ist glücklich“, so Nikolai Stepanowitsch, der Träger über seinen Namen;183 er sieht ihn an wie einen über sich gestülpten Fremdkörper. Gegen Ende der Geschichte wiederholt sich dieser Befund, wenn Nikolai schreibt: „Offenbar werden die klangvollen Namen dazu geschaffen, daß sie ihr eigenes Leben führen, ohne Wissen derer, die sie tragen.“184 Thomas Mann dagegen hebt den Ausdruck der Ratlosigkeit des alternden Arztes hervor, der auf die verzweifelte Frage seines Mündels Katja, die er im Geheimen liebt (von Thomas Mann „heimliche Greisenzärtlichkeit“ genannt, IX, 855): „Was soll ich tun?“ antwortet: „Auf Ehre und Gewissen, Katja: Ich weiß es nicht.“185 Zweimal zitiert Mann in seinem Versuch diese Stelle (IX, 855 u. 869), die offenbar mit seiner im Tagebuch nach 1950 vielfach belegten Ratlosigkeit und Selbstbezweifelung korrespondierte. Doch war dies auch schon der Tonio Kröger-Ton gewesen, zu dem auch ein Zitat passt, das Thomas Mann nicht näher verortet, aber für den ganzen Tschechow für charakteristisch hält: „‚Man müßte das Leben wie durch ein Prisma betrachten, will sagen, man müßte es in Brechungen sehen, in seine einfachen Elemente aufteilen, und jedes dieser Elemente müßte man einzeln studieren.‘“ (IX, 855) In Eine langweilige Ge-

182 Anton Tschechow, Briefe. 1877–1889. Hrsg. u. übers. v. Peter Urban. Zürich 1998, S. 110–114, hier: S. 114. 183 In: Anton Tschechow, Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Bd. II: Die Fürstin. Erzählungen 1887–1891. Aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky, Kay Borowsky u. a. Hrsg. v. Gerhard Bauer. Düsseldorf/Zürich 2003, S. 180. 184 Ebd., S. 252 f. 185 Ebd., S. 254.

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schichte erweist sich auch Katjas Leben als ein solches „in Brechungen“, gebrochen nämlich an ihrem Scheitern im Schauspielerfach und in der Liebe. So ist es ein „Bruchstück des Wortes ‚Leidenschaft‘“ ihres Liebhabers und Kollegen ihres väterlichen, aber zuletzt ratlosen Ratgebers Nikolai, Michail Fjodorowitsch, das Nikolai bei seiner letzten Begegnung mit seiner Ziehtochter wider Willen wahrnimmt.186 Beide befinden sich in Nikolais Hotel in Charkow, wo dieser sich auf Geheiß seiner Frau nach den wahren Verhältnissen erkundigen soll, denen ihr künftiger Schwiegersohn entstammt; er erweist sich dabei als Hochstapler, wie Nikolais Erkundigungen erbringen, zu spät jedoch, um dessen Heirat mit seiner leiblichen Tochter zu verhindern. Der Versuch über Tschechow gleicht somit einem weiteren essayistischen Abgesang seitens Thomas Manns mit einer deutlich intensiveren Identifikation mit dem ‚Versuchsobjekt‘ namens Tschechow als im Fall von Kleist. Er zeigt die Geburt der (Erzähl-)Kunst aus dem Geist der Unzufriedenheit mit sich selbst, aufbauend auf einem nie nachlassenden Arbeitsethos (eine von Gorki übernommene Wertung187) und einem Lob des Dennoch und Trotz-Allem. Dazu kann es gehören, den „Leser hinters Licht“ zu führen, erzählend so zu tun, als wisse man Bescheid. Und dann die finale Kernaussage des Versuchs, um derentwegen er geschrieben zu sein scheint: „Es ist nicht anders: Man ergötzt mit Geschichten eine verlorene Welt, ohne ihr je die Spur einer rettenden Wahrheit in die Hand zu geben.“ (IX, 869)

Eine letzte „schwere Stunde“: der „Versuch über Schiller“ Mitte November 1954 notiert Thomas Mann im Tagebuch: Ich unterlasse die morgendlichen Tagebuch-Notizen, um alle Schreibfrische zu sparen für den „Schiller“, auf den ich [mich] jeden Morgen werfe, um bis ¾ 1 daran zu arbeiten. Bin vollkommen besessen davon, nicht weil es gut wird, sondern weil ich die ausgedehnte Schrift so bald wie möglich beendet haben möchte. Dieser Wunsch geht bis zur Gehetztheit. Erst wenn alles vorliegt, ist aus der Masse die Rede herauszupräparieren, und ich sehe nicht, wie das geschehen kann, ja verzweifle daran. Nur erst zu Ende kommen. Es werden dann Partieen und Formulierungen zu brauchen sein. (Tb. v. 19.XI.54)

186 Ebd., S. 254. 187 Gorki, Wie ich schreibe, S. 109: „Ich habe keinen Menschen gesehen, der die Bedeutung der Arbeit als Grundlage der Kultur so tief und vielseitig empfunden hätte wie Anton Pawlowitsch […] Er liebte es, zu bauen, Gärten anzulegen, die Erde zu verschönern, er fühlte die Poesie der Arbeit. Mit welcher rührenden Sorge beobachtete er, wie die von ihm gepflanzten Obstbäume und Ziersträucher in seinem Garten wuchsen!“

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Besessen, sich darauf werfen, so bald wie möglich, Gehetztheit – dergleichen liest man selten bei Thomas Mann, Worte, die von einer regelrechten Torschlusspanik eigener Art zeugen, die Thomas Mann sonst nach allem, was aus seinen Selbstzeugnissen bekannt ist, fremd war; regelmäßiges, aber gemessenes Voranschreiten, das war die Rhythmik seines Schreibprozesses sonst gewesen, sich Zeit lassen, auch wenn sie drängte, wie etwa beim Abfassen der Kurzbeiträge Deutsche Hörer! für die BBC während des Zweiten Weltkrieges. Selbst bei der Terminarbeit zu Kleist fühlte er sich nicht in diesem Maße bedrängt. Das „Herauspräparieren“ übernahm dann nach bewährter Manier Tochter Erika.188 Ein halbes Jahrhundert war vergangen, seitdem Thomas Mann aus Anlass des hundertsten Todestages von Schiller seine erzählte Miszelle Schwere Stunde verfasst hatte, eine biographische Fiktion, die ihn, der namentlich nie genannt wird, mitten in der Arbeit am Wallenstein ‚zeigt‘, krank („aber gesund genug, um pathetisch zu sein“, VIII, 375), mit dem Werk ringend – und mit dem Schatten Goethes. Nun wusste er, Thomas Mann, sich selbst in einer „schweren Stunde“, denn schwer fiel es ihm nach eigenem Bekunden, sich die „Aufgabe leicht zu machen“,189 über Schiller zu dessen einhundertfünfzigstem Todestag Gültiges zu sagen, und zwar in Gestalt einer Festrede bei der Gedenkfeier „in offiziellstem Rahmen“. Er nannte es nun das „Schiller-Problem“, das ihm zu einem Problem mit sich selbst geriet: „Scham, Kummer, Müdigkeit. Bin ich wirklich am Ende?“, fragte sich Thomas Mann im Tagebuch (Tb. v. 6.IX.54) und das eben mitten an der Arbeit an diesem seinem nächsten und, wie es sich fügen sollte, letzten Versuch über den – man könnte sagen – Lebenszeitgenossen Friedrich Schiller. Als er über dieses sein „Problem“ Emil Preetorius berichtet, tat ihm dieses Eingeständnis „merkwürdigerweise gut“. (Tb. v. 7.IX.54) Auf den Versuch selbst bezogen, stellte sich ihm dieses Problem wie folgt dar: „Sehr schwierig sind Beschränkung, Form, Komposition; und wie schwierig Schillers Gestalt zu dieser Zeit in irgendwelche Beziehung zu bringen! Die einzige Hilfe mag sein, daß sie auch zu ihrer eigenen in keiner anderen als einer emporreißenden Beziehung stand. Aber wie komme ich nun wieder dazu, vom Emporreißenden zu sprechen!“ – fühlte er sich selbst doch um seine sonstige „Spannkraft“ gebracht.190 Kurz gefasst lautete der Kern des Pro188 Vgl. dazu: Erika Mann, Das letzte Jahr. Bericht über meinen Vater (1956) In: Dies., Mein Vater, der Zauberer. Hrsg. v. Irmela von der Lühe und Uwe Naumann. Reinbek b. Hamburg 1996, S. 391–456, bes. S. 407–410. Zu den Feiern in Stuttgart und Weimar ihre Tagebuchvermerke S. 415–420. Vgl. auch die Einzelausgabe: Thomas Mann, Versuch über Schiller. (Mit CD der Tonaufnahme der in Stuttgart gehaltenen Rede, aufgezeichnet vom Süddeutschen Rundfunk 1955, heute: Südwestrundfunk). Frankfurt am Main 2005 189 Brief an Emil Preetorius v. 6. Sept. 1954. In: Thomas Mann, Briefe III: 1948–1955 und Nachlese. Hrsg. v. Erika Mann. Frankfurt am Main 1979, S. 357. 190 Ebd., S. 357 u. 356 (Hervorh. i. Org.).

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blems: „Ich über Schiller“ (Tb. v. 15.VIII.54) und damit die Frage nach der Bedeutung Schiller in seiner, Thomas Manns, Biographie. Diese Arbeit hatte unmittelbar nach Abschluss des Tschechow begonnen und war von einer auffällig intensiven Beschäftigung mit Schiller-Biographien begleitet – sie reichen von jener ersten Thomas Carlyles bis zu Fritz Strichs 1912 erschienenen Darstellung von Leben und Werk des Dichters, dazu zeitgenössische Quellen, des Dichters Selbstcharakterisierung, etwas zu Schiller und die Frauen, zu seinem Krankheitsverlauf, Schillers kritische Schriften (vor allem über Goethes Egmont und Bürgers Gedichte), seine Semele von 1782 – Thomas Mann wird sie mit Kleists Amphitryon vergleichen –, die Briefe über Don Carlos, die Wallenstein-Trilogie und Carl Leberecht Schwabes, des Weimarer Hofrats und ehemaligen Bürgermeisters, Bericht über Schillers Beerdigung und die Aufsuchung und Beisetzung seiner Gebeine. Diese letztgenannte Quelle nahm Thomas Mann dann zum Ausgangspunkt seines Versuchs. Auch wenn auffällt, dass Thomas Mann offenbar die theoretischen Schriften Schillers, namentlich die Ästhetische Erziehung und Über naive und sentimentalische Dichtung sowie Über das Erhabene, keiner neuerlichen Lektüre unterzog, betonte er gesprächsweise Alfred Polgar gegenüber die „Poetisierung des Intellekts“ bei Schiller (und Ibsen) als das entscheidende Merkmal, das Schiller mit der Moderne verbindet. Und dennoch war es der ausschnitthafte biographische Zugang zu Schiller, der seinen Versuch bestimmen sollte. Das verhielt sich wohl auch deswegen so, weil Thomas Mann zu zeigen bemüht war, wie diese „Poetisierung des Intellekts“ sich lebensgeschichtlich bei Schiller vollzogen hatte. Hinzu kam das Atmosphärische, das er im Versuch über Schiller wie sonst in keinem seiner großen Essays ausgestaltete – man ist versucht zu sagen: wie im Nachklang seiner kleinen Erzählung Schwere Stunde, die ja primär vom Atmosphärischen lebte, ja einen Überschuss an Atmosphäre produziert hatte, den er nun auf neue Weise investieren konnte. Greifen wir vor: Als er das „Schiller-Problem“ gelöst hatte und die „feierlichen Schlußseiten des Schillervortrages“ (Hervorh. i. Org.) am Neujahrstag, also zu Beginn des Schillerjahres, das auch sein Todesjahr werden sollte, im engsten Familienkreis vorlas bei, wie das Tagebuch vermerkt (Tb. v. 1.I.55), „türkischem Kaffee nach der Pularde“, konnte er befriedigt feststellen: „Wirklich erfülle ich damit in großem Stil und ein für allemal die Forderungen, die man beständig an mich stellt.“ (TB. v. 1.I.55) Was war damit ‚erfüllt‘? Und was meinte er mit ‚großem Stil‘? Nach der den Versuch eröffnenden Begräbnisszene erfolgt zunächst eine Einschränkung in eigener Sache, eine erste Zäsur, im Druckbild wiederum durch eine Leerzeile kenntlich gemacht. An solchen Einschnitten ist dieser Versuch übrigens auffallend reich. Über die Gründe dafür wird noch zu handeln sein. Der Zäsur folgt die Frage: „Wer bin ich, daß ich das Wort führen soll zu seinem Preis […].“ (IX, 873) Dieses „Wer

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bin ich – eigentlich“ gilt der Selbstbestätigung: „Erfahrungsverwandtschaft“, „Brüderlichkeit“, ja „Zutraulichkeit“ und „Familiarität“ im Verhältnis zu Schiller konstatiert er, Empfindungen also, die „ungeachtet jedes Rang-, Zeit- und Wesensunterschiedes zwischen allem hervorbringendem Künstlertum“ walte. (ebd.) Es ging Thomas Mann demnach um eine Verallgemeinerung dieses Zwiegesprächs zwischen ihm und Schiller über die Wurzeln und Ausprägungen von dessen Kunst. Der Epiker redet über den Dramatiker und Lyriker; der eher theorieabstinente Erzähler über den Verfasser klassischer Kulturpoetologien. Die erste Überraschung, die Thomas Mann in seiner Charakterisierung Schillers bereithält, ist die Hervorhebung des „Kindlichen“. Er zitiert aus dessen philosophischem Gedicht „Die Künstler“ (1789), einer Abhandlung in Versen, jene Stelle, in der Urania, die Wahrheit und Schönheit verkörpernde Gestirnsgöttin, zum Kinde wird, „daß Kinder sie verstehen“ und die Schönheit zum Weg zur Erkenntnis wird. (IX, 874)191 In Schillers Terminologie entspräche dies dem Naiv-Werden der ‚sentimentalisch‘, also reflektiert veranlagten Göttin Urania; kaum überraschend, dass Thomas Mann gerade diese Stelle in Schillers Lyrik hervorhebt, zeugt sie doch von einer betont eigenwertigen ästhetischen Konstellation, die allein der Bemühung um Verständlichkeit gilt. Thomas Mann suchte offenbar nach dem Verwunderlichen bei Schiller, um auf diese Weise seinerseits diesen Dichter zehn Jahre nach 1945 seinem Publikum ‚verständlich‘ zu machen, und so findet er nach der dritten von insgesamt zwölf Zäsuren bereits wieder zu diesem Phänomen des Kindlichen zurück, geht es ihm doch um den Menschen Schiller in seinem Widerspruch, was auch seinen Reiz für die (damalige) Gegenwart ausmachte: „Ich bin noch mit meinen Gedanken bei dem Zuge ewiger Knabenhaftigkeit und Abenteuerlust, die seiner Erhabenheit so eigentümlich kindlich ansteht.“ (IX, 878) Gegen die Vorstellung vom unanfechtbaren Klassiker Schiller hält Thomas Mann fest an dessen Sinn für das „Kind im Manne, das Kind im Künstler“ (IX, 881), worauf er in seinem Bild des scheinbar rein reflektierten Dichters wiederholt insistiert. Zu diesem Widerspruch in Schiller rechnet Thomas Mann auch dessen „antipodische Freundschaft“ zu Goethe (IX, 880), der er den ganzen elften Abschnitt widmen wird. Als ein gleichrangiges Phänomen wertet er Schillers Sprache, die eine eigenständige Abhandlung erfordern würde, wie er einräumt (IX, 894). Er sieht das „Eingängig Sentenziöse“ in ihrer Prägung durch die Verwendung des Verses in seinen Dramen begünstigt, und das Pointierte in seinen Aussagen durch den kritischen Verstand des Mediziners Schiller, seinen diagnostischen Blick auf seine Charakte191 In: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Erster Band: Gedichte/Dramen I. Hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 8., durchges. Aufl. München/Darmstadt 1987, S. 173–187, hier: S. 175 (v. 63).

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re, was ihn wiederum mit Tschechow verbindet, auch wenn Dostojewski in unmittelbarerem Bezug zu Schiller stand, wie Thomas Mann nachdrücklich zu betonen nicht vergisst. (IX, 924) Eine Problematik verbindet diese zwölf Teile des Versuchs und vor allem ihre biographischen Anspielungen, die Frage nämlich, ob das Werk als eine Abstraktion vom Leben zu verstehen sei. Oder verhält es sich damit wie mit dem Verhältnis der Werke zueinander, das Thomas Mann treffend als eine „Verschränkung, ein Ineinander der Konzeptionen und Produktionen“ bezeichnet. (IX, 890) Bestand auch Schillers biographische Entwicklung aus solchen „Verschränkungen“? Mann betont die „dichterische Biographie“ Schillers (IX, 892), die er verschränkt sieht mit des Dichters Fähigkeit, sich mit seiner Krankheit „einzurichten“, sich an sie zu gewöhnen, mit ihr zusammenzuleben. (IX, 914) Damit benannte er den eigentlichen Angelpunkt dieses Lebens, das zudem gekennzeichnet war von Schillers „ästhetisch gefährlicher Doppelbegabung als Denker und Dichter“. (IX, 917) Thomas Mann spricht von Schillers „Selbstzucht“, die es ihm gestattete, seinen „Hang zur Betrachtung“ vom Handeln zu trennen, um beides auf diese Weise poetisch als gleichberechtigt darzustellen, ein Phänomen, das besonders für die Figur Wallensteins zutrifft. Thomas Mann wäre nicht Thomas Mann, hätte er es versäumt, auf sein frühes Don Carlos-Erlebnis zu verweisen und sich selbst mit dem Wort „Schwere Stunde“, aber im Plural und mit Ausrufungszeichen versehen, zu zitieren, wenn er im umfangreichsten Abschnitt sieben seines Versuchs über Wallenstein handelt. Auch dieses ihn selbst verwundernde Wort „emporreißend“, wir begegneten ihm in seinem Brief an Emil Preetorius, kommt im Versuch vor, gleich zu Beginn des zweiten Abschnitts, der, rhetorisch geschickt, mit den Worten einsetzt, kaum dass er mit seiner Rede angefangen hatte: „Es ist nicht leicht, zu enden, wenn man von Schillers spezifischer Größe einmal zu reden begonnen hat […].“ (IX, 876) Da spricht er von des Dichters „emporreißender Großheit“, zudem „generös, hochfliegend, flammend, […] weltalls-trunken und menschheitlich-kulturpädagogisch“ und dabei „Künstlerkind“ bleibend, dem Spiel sich verschreibend. Man wohnt einer Feier des Partizip Präsens bei, der schwungvollen Adjektive, die dieser Bewegung aufhelfen sollen, damit sie rhetorisch und verbalatmosphärisch den Hörer und Leser emporreißen kann. Die Struktur des Versuchs oder genauer: Thomas Manns Vortrags- und Vermittlungsregie konzentriert sich auf die Sternenfreundschaft zwischen dem astrologisch wie astronomisch kundigen Goethe und dem in dieser Hinsicht aufklärungsbedürftigen Schiller. Verglichen damit fällt die Betrachtung von Schillers Verhältnis zu Frauen in Thomas Manns Versuch eher bescheiden aus (IX, 930– 933), wenngleich die geraffte Darstellung dieses persönlichsten Lebensbereichs einen Musterfall an Erzählökonomie darstellt. Der Befund ist eindeutig. Im Gegen-

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satz zu Goethe, so Thomas Mann, habe „das Erotische keine schöpferische, Epochen bildende Rolle“ im Leben Schillers gespielt. Was Goethe angeht, legt Mann die Vermutung nahe, Schiller habe bei dieser entscheidenden Begegnung nach einer Veranstaltung der „Naturforschenden Gesellschaft“ im Bachsteinschen Haus zu Jena am 20. Juli 1794 den Sternen etwas nachgeholfen, ja sie geradezu herbeigeführt, was seither in der Beurteilung dieser ersten wirklichen Begegnung zwischen beiden Dichtern Konsens geworden ist.192 Das Bild dieser Freundschaft, das Thomas Mann hier entwirft, ist das zweier ungleicher Brüder im Geiste. Auf „Gegensätzlichkeit, Polarität“ sei diese Freundschaft gegründet gewesen (IX, 933), dem antithetisch strukturierten Denken Schillers durchaus gemäß. Dass Goethe den verstorbenen Freund dann ins Mythische steigerte, ihm Eigenschaften zuschrieb, die ihn zum vergöttlichten Herkules der „zwölf Taten“ machten (IX, 938), dürfte der verborgene Grund dafür gewesen sein, dass Thomas Mann seinen Versuch in zwölf Abschnitte gliederte. Mit Goethe sah Mann in Schiller einen, paradox gesagt, Gefangenen der Idee der Freiheit. Und sein Finale hätte im Frühling des Jahres 1955, in der Eiszeit des Kalten Krieges, politischer nicht sein können: Wie im November 1859, als man Schillers hundertsten Geburtstag ganz im Zeichen des Vereinigungswunsches der bildungsbürgerlichen Deutschen beging, so wollte er, Thomas Mann, dazu beitragen, dass auch dieses Schiller-Fest 1955 ein „nationales“ sei und gleichzeitig eines, welches das Nationale im Sinne des gegenüber Nationalem skeptisch eingestellten Schiller transzendiere. Mit Schiller, so implizierte der Festredner in Stuttgart und in Weimar, lasse sich kein Staat machen, wohl aber – und man kann nicht umhin, diese rhetorische Steigerung, eine kadenzierende Stretta im musikalischen Wortverständnis, vollständig zu zitieren – den „Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst“ beschwörend feiern. (IX, 951) Um noch einmal auf Schwere Stunde zurückzublenden: Hatte Thomas Mann 1905 eine Episode in Leben und Werk isoliert, so ging es ihm im Versuch vierzig Jahre später um den Lebens- und Schaffenszusammenhang bei Schiller. Schwere Stunde, das war ein biographischer Ausschnitt, die kleine Erzählung eines leidvollen, zweifelnden Innehaltens um des Werkes willen, ein Stillstand im Leben, damit es für Schiller werkgeschichtlich weiter gehen konnte. Thomas Mann entwarf dabei sein „eigenes Psychogramm“, wie Helmut Koopmann konstatiert.193 In Schwere Stunde gewinnt die scheinbar stillstehende Zeit, in der das unruhige Auf-und-AbGehen Schillers das Pendel der Uhr ersetzt, ihr spezifisches Gewicht durch die 192 Zu den näheren biographischen Umständen vgl. bes. Rüdiger Safranski, Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft. München 2009, S. 107–116. 193 Helmut Koopmann, Schwere Stunde. In: TMHb, S. 119–122, hier: S. 120 (2.20).

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Selbstkritik des Dichters gegenüber seinem Werk. Zwar handelt es sich dabei um die Darstellung der intensiven Reflexion Schillers und des Dichters, des Künstlers an sich über die „Voraussetzungen und Bedingungen seines Schaffens“, wie HansJoachim Sandberg befand,194 aber Schwere Stunde ‚handelt‘ eigentlich von der Krisis im eigenen Schaffen und der Art, wie diese wiederum ins Werk mündet, in neues oder weiteres Schaffen umschlägt. Der Versuch über Schiller wirkte dagegen auf die eigene Biographie Thomas Manns unmittelbar zurück, sah er sich doch dadurch – ob im Staatstheater Stuttgart, unterwegs, ob im Weimarer Nationaltheater – „triumphal“ als „der große Deutsche“ gefeiert und später in Lübeck „fürstlich“ als, man könnte sagen, literarische Hoheit behandelt.195 Diese Art kindlicher ‚Freude‘ hatte er auch bei Schiller identifiziert, als dieser, der Rebell von einst und von Württembergs Fürsten Verfemte, am Ende seines Lebens in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Momente wie diese verweisen auf die allzu menschlichen Schwächen, auf die Thomas Mann in seinen Versuchen über Namhafte jedoch nur gelegentlich anspielte. Worauf es ihm ankam – auch und gerade in dieser finalen Trias –, das war das Sichern des Restbestandes an bildungsbürgerlichen Werten, die in diesen Persönlichkeiten und ihrem Werk manifest geworden waren – auch wenn oder gerade weil der Zeitgeist inzwischen gegen sie sprach.

194 Hans-Joachim Sandberg, Thomas Manns Schiller-Studien. Eine quellenkritische Untersuchung. Oslo/Bergen/Tromsö 1965, S. 51. 195 Vgl. den Eintrag im Tagebuch am 25./26. Mai 1955 („Die Schiller- und Lübeck-Reise“), Tagebücher 1953–1955, S. 342–345.

IX Der König zwischen den Brüdern: Der Fall Friedrichs II von Preußen, betrachtet von Thomas und Heinrich Mann „Zuweilen hege ich ehrgeizige Pläne. Was sagst Du z. B. zu diesem: einen historischen Roman namens ‚Friedrich‘ zu schreiben?“, fragt Thomas Mann seinen Bruder Heinrich in einem Brief vom 5. Dezember 1905.196 Dem Kritiker und Schriftstellerkollegen Samuel Lublinski gegenüber sprach er sogar von seinem „FriedrichTraum“, wobei er sich bei der Bearbeitung des Stoffes selbst „Auswahl und Form“ vorschreibt, ganz im Gegensatz zur „äußeren Formlosigkeit“, dessen Thomas Mann seine Buddenbrooks etwas überraschend zeiht.197 Im Rückblick nannte er diesen „Lebensroman Friedrichs des Großen“ seinen „unverschämten Plan“, wobei er diese Qualifizierung in einem Brief an Ernst Bertram eigens hervorhob.198 Dieser „Traum“ oder das vermeintlich Anmaßend-‚Unverschämte‘ dürfte genährt worden sein durch zwei Besuche in „Potsdam und Sanssouci“ und die Lektüre von Thomas Carlyles Biographie, die soeben in einer deutschen Neuausgabe erschienen war, von Thomas Mann als ein „herrliches Buch“ apostrophiert. Er stellte in Sachen „Heldenthum“ sogleich einen Vergleich zu seiner einschlägigen Konzeption in seinem Renaissance-Drama Fiorenza an: Carlyles „Held“ finde sich „menschlich-allzumenschlich“ dargestellt, „mit Skepsis, mit Gehässigkeit, mit psychologischem Radicalismus und dennoch positiv, lyrisch, aus eigenem Erleben: mir scheint, das ist überhaupt noch nicht geschehen …“. Und diesen Ansatz Carlyles möchte er auf sein biographisches Romanvorhaben anwenden. Zudem, diesen Satz erspart er Heinrich nicht: „Die Gegenfigur würde sein Bruder (das Bruderproblem reizt mich immer) der Prinz von Preußen [sein], der die Voss liebte, ein Träumer, der am ‚Gefühl‘ zu Grunde ging …“. Dem folgt die süffisant-bange Frage: „Ob ich zu dieser Aufgabe berufen bin?“199 Er war es, und er war es nicht. Anfang Januar 1906 unternahm Thomas Mann eine Prag-Reise besonders aufmerksam „durchs Terrain des Siebenjährigen Krieges“, und sogleich drängte sich der Arbeitsplan wieder auf. Beim bloßen Gedanken an „Friedrich“, gesteht er, „zappelte“ ihm das Herz.200

196 197 198 199 200

Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel, S. 112. In: Thomas Mann, Briefe III, S. 455. In: Ebd. Bd. I (1889–1936), S. 81. Alle Zitate: Ebd. Ebd., S. 115 (Br. v. 17. Januar 1906).

https://doi.org/10.1515/9783110734508-010

Sondierungen 

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Sondierungen Dann kam es doch anders. Statt „Friedrich“ begann er mit der Arbeit an einer anderen Lebensgeschichte, ausgerechnet an jener eines Hochstaplers, seinem Felix Krull. Die Aufgabe namens „Friedrich“ delegierte er ins Fiktive. Im Tod in Venedig sieht sich der übrigens aus Schlesien stammende, mit den Schlesienkriegen des Preußenkönigs wohl von Kind auf vertraute Dichter-Protagonist, Gustav (von) Aschenbach, durch eine „klare und mächtige Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen“ ausgewiesen. (VIII, 450) Offenbar handelte es sich um eine Heldendichtung im klassischen Sinne, denn eine ‚Epopöe‘ – man überliest diesen Hinweis leicht zu schnell – ist nun einmal eine lange Erzählung in Versform. Erst durch Friedrichs Wirken sei der „erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt in die deutsche Poesie gekommen“, so zitiert Thomas Mann 1916 in seinem ausführlichen Buchhinweis auf Thomas Carlyles sechsbändige Friedrich-Biographie Goethe. (X, 567) Es ist eine ‚Poesie‘, die er offenbar seinem Aschenbach auferlegt hatte, und damit eine betonte Ästhetisierung seines Gegenstandes. Thomas Mann selbst stellte sich in anderer Form dieser Thematik und kommentierte sie wie folgt als Einleitung zu seiner Carlyle-Rezension: „Im Jahre 1914 ließ ich mich dazu hinreißen, auf wenigen Blättern das Leben des Königs zu erzählen. […] Ich nannte die Schrift einen ‚Abriß für den Tag und die Stunde‘ – was sie auch war; und zwar nicht nur ein Abriß der Geschichte, sondern auch eigener, lange gehegter Träume und Entwürfe, die eigentlich dichterischer Natur gewesen waren und deren geistigen Kern als Aufsatz herauszustellen ich in jenen Tagen selbstvergessen und unökonomisch genug war.“ (X, 567) Biographie – Dichtung – schließlich Essay: Die Niederschrift befasste ihn dann von Mitte September bis Mitte Dezember 1914 und trug den Titel Friedrich und die große Koalition. Er räumte ein, es seinen Lesern mit diesem Text schwer gemacht zu haben, wenn sie sich von der „Gewalt“ ein Bild machen wollten, die dieser Stoff über sein „Gemüt“ gewonnen hatte; denn sie sei von der „Erschütterung“ ausgegangen, „welche die Wechselwirkung von historischpoetischer Vorbereitung und aktuellem Erlebnis in mir hervorbrachte“, indem „ich nämlich auf eine Art erzählte, daß ich bestimmt keinen Adlerorden dafür zu erwarten hatte: mit einer ziemlich gebrochenen und hinterhältigen Begeisterung […] kurz, ich machte meinen Helden so naturalistisch schlecht, daß die Arbeit patriotischen Freunden im ersten Augenblick für unpublizierbar galt und wirklich in weniger disponierten Köpfen eine zornige Verwirrung anzurichten nicht verfehlte.“ (X, 568) Die Anspielung auf den „Adlerorden“ bezieht sich auf Carlyle, der diesen höchsten preußischen Orden erhielt (und übrigens alle britischen Auszeichnungen, die ihm angetragen wurden, abgelehnt hatte!). Überhaupt darf seine Besprechung von Carlyles Biographie Friedrichs als Schlüssel zu seinem umfängli-

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IX Der König zwischen den Brüdern: Der Fall Friedrichs II von Preußen

chen Essay gelten. Der Vorwurf, Thomas Mann habe „ein boshaftes Zerrbild des Königs kaltherzig hingemalt“, war so verfehlt nicht, und dass er dessen Verfasser offenbar empfindlich getroffen hatte, geht aus dieser Einleitung zur Carlyle-Besprechung deutlich hervor. Sie belegt auch die Zeitumstände, die ersten Kriegsmonate, die offenbar auf diesen biographischen Essay eingewirkt hatten. Carlyle hatte in seiner bemerkenswerten Einführung zu seiner mehrbändigen Biographie („Friedrich’s History from the Distance we are at“) die Auffassung zitiert, dass alle Geschichte ein gefangenes Epos sei, ein gefangener Psalm oder eine gefesselte Prophetie, die der Historiker freizusetzen habe. Und Carlyle erwähnt in diesem Zusammenhang Schiller, der sich mit dem Gedanken getragen habe, ein Friedrich-Epos zu dichten. Ein Glück, dass er es nicht getan habe, meinte Carlyle, sein von Goethe belobigter Biograph, denn er hätte zwangsläufig seinen Gegenstand dadurch idealisiert. Aber genau das sei bei einer Friedrich-Biographie nicht gefordert, sondern die „actual natural Likeness, true as the face itself, nay truer, in a sense.“201 Genau das hatte sich Carlyle mit ‚seinem‘ Friedrich vorgenommen und genau das dürfte Thomas Mann beeindruckt haben. In einigen (notorischen) Begleitstücken zum Friedrich-Essay, vor allem in Gedanken im Kriege und dem offenen Schreiben An die Redaktion des „Svenska Dagbladet“, Stockholm, einer Antwort auf die Umfrage der Zeitung, wie sich „der europäische Krieg auf die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Geisteskultur“ auswirken werde, hatte Thomas Mann die Konstellation von 1756, den Beginn des Siebenjährigen Krieges, und von 1914 verglichen, namentlich die Besetzung des ‚neutralen‘ Königreichs Sachsen durch Friedrich und den Einmarsch der deutschen Armee ins neutrale Belgien, die „Einkreisung“ Preußens durch Frankreich, Österreich und Russland und jene des zweiten Deutschen Reichs durch die Triple Entente, Frankreich, Russland und England. Die Forschung ließ es weitgehend mit diesem Vergleich bewenden und versagte sich mit wenigen Ausnahmen202 eine nähere Untersuchung dieses biographischen Textes. In der nach wie vor wohl meistbenutzten Werkausgabe versuchte man diese besagten ‚Nebentexte‘ geradezu zu ‚verstecken‘, nämlich im Band „Nachträge“ (XIII), und im Thomas Mann-Handbuch findet sich keine gesonderte Besprechung von Friedrich und die große Koalition. Das ist umso überraschender, als dieser Essay zum Hauptausgangspunkt der langjährigen Entfremdung zwischen Thomas und Heinrich Mann beitrug, und auch deswegen, weil Heinrich Mann gegen Ende seines Lebens zur gelinden (gespielten?) Überraschung seines Bruders sich intensiv mit dem Fried201 Thomas Carlyle, History of Friedrich II. Of Prussia called Frederick the Great. Ten Volume in Five. Vol. 1. London 1894, S. 15. 202 Zu nennen ist hier vor allem: Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer Deutschen Kultur. Frankfurt am Main 2008, bes. S. 52–75.

Zugänge zu einem ‚inkommensurablen‘ Stoff 

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rich-Stoff auseinandergesetzt hat. Thomas Mann sprach in seinem Bericht über meinen Bruder anlässlich von dessen 75. Geburtstag von einer für einen sozialistischen Humanisten „überraschenden Stoffwahl“.203 Das fragmentarische, aber in seinem Zusammenhang deutlich erkennbare Ergebnis, die ersten Teile des szenisch geprägten Dialogromans Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen, die „Outline des [Gesamt-]Werkes“ sowie sein Essay Der König von Preußen – alle posthum veröffentlicht204 – sollen hier gleichfalls im Hinblick auf Heinrich Manns biographierenden Ansatz untersucht werden. Die ersten Proben nannte Thomas Mann „in eigentümlichem Emaille-Glanz historischen Kolorits leuchtende epischdramatische Szenen“.205

Zugänge zu einem ‚inkommensurablen‘ Stoff Es ist die Frage allen biographischen Arbeitens: Womit und wann beginnen? Wie weit soll man zurückgreifen, um ein Leben verständlich zu machen? Mit Blick auf den ersten Band der Carlyle-Biographie Friedrichs vermeldet Thomas Mann, wie gewohnt subtil ironisch: „Dieser erste enthält noch nicht viel, wenn auch schon vieles; denn Thomas Carlyle, ein ‚Durchhälter‘ [sic!]von Natur, ein Bürdenträger und Mann der schweren Aufgaben, geht langsam und gründlich zu Werke, erholt mächtig aus. Bis zum Jahr 928, und daß er unter keinen Umständen langweilig wird, ist der Punkt, über den man sich wundern darf.“ Davon ausgehend, reflektiert Thomas Mann das Formproblem nicht minder leicht ironisch: „Es handelt sich da […] um einen Einschlag von westlichem Feuilleton in die Geschichtsschreibung, einen Einschlag von Essayistik, Romanschriftstellerei, Schönliteratur, dessen die unsrige aus Gründen der Würde und Wissenschaftlichkeit noch entraten zu müssen glaubt, soviel ich weiß, und der ihr wohl auch nicht einmal angenehm zu Gesicht stünde.“ Sogleich räumt er jedoch ein, dass in Deutschland seit Schopenhauer und Nietzsche der Essayismus eine „Literarisierung“ bewirkt habe, er nennt das einen unverkennbaren „Fortschritt eines Prozesses“. Dieses Argument bedeutet eine zaghafte Bewegung in Richtung dessen, was er sonst zu dieser Zeit noch als Produkte von „Zivilisationsliteraten“ verunglimpfte mit deutlichen Seitenhieben auf seinen Bruder Heinrich versehen, der eben genau dieser „Entwicklung“ frönte, ja nach Auffassung von Thomas Mann diese begünstigte und förderte. (X,

203 In: Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel, S. 416. 204 Heinrich Mann, Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen. Hrsg. und mit einem Nachwort von Jürgen Haupt. Düsseldorf 1986 (nachfolgend zitiert unter der Sigle HM,F mit Seitenzahl). 205 In: Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel, S. 416.

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569) Ein solcher „Fortschritt“ – und Thomas Mann setzt das Wort in relativierendmokante Anführungszeichen –, also auch Thomas Carlyles Essayismus, trage zu einer „geistig-formalen Annäherung Deutschlands an den Westen“ bei. Hatte Thomas Mann sich bewusst diese Paradoxie geleistet, indem er behauptete, dass ausgerechnet der (englische) Stil einer Biographie über den aufgeklärten Autokraten, Friedrich II von Preußen, die deutsche Geisteshaltung der „Demokratie“ (gleichfalls in Anführungszeichen!) näherbringe? (X, 569) Fraglos bewunderte er Carlyles „schönliterarische Heiterkeit“, die „Bewegtheit und ‚Menschlichkeit‘“, die der „Würde und Gewalt eines Historienwerkes keinen Abbruch“ tue. Er spricht dem schottischen Biographen Friedrichs sogar „heroischen Humor“ zu und meint: „Ich wüßte wahrhaftig nicht, in welchem Geiste man besser Weltgeschichte erzählte als eben in diesem“. (X, 570) Höheres Lob hatte Thomas Mann damals sogenannten „Zivilisationsliteraten“, zu denen er seiner Herkunft gemäß auch Carlyle zählen musste, nicht zu vergeben. Er leistet sich sogar einen auffallenden Anglizismus, wenn er schreibt, Carlyle habe sich darauf verstanden, „alle Dinge, auch die seversten (m. Hervorh., R. G. – von „severe“, engl. für: schwerwiegend) und gelehrtesten, bis zu einem gewissen Grade lustig und leicht zu machen“. (X, 570) Zudem hätte er darauf hinweisen können, dass Friedrich als Kronprinz sein erstes Pamphlet, Betrachtungen über den gegenwärtigen politischen Zustand Europas, unter dem Pseudonym eines Engländers veröffentlichte. Es gehörte zu einer Materialsammlung mit brieflichen, anekdotischen Zeugnissen und Dokumenten aus dem Leben Friedrichs des Großen, die 1912 in München erschienen war und schwerlich von Thomas Mann hatte übersehen werden können.206 Diese biographisch strukturierte Materialsammlung bot im Übrigen eine Alternative zur zusammenhängend erzählten Biographie und wäre schon allein deswegen für Thomas Mann von Interesse gewesen. Dass diese Art der Würdigung Carlyles – wohlgemerkt im Dezember 1916 – in deutlichem Gegensatz zu Thomas Manns kriegsverherrlichenden Schriften stand, in denen er sich wie zu viele damals in patriotisierender Absicht im Ton vergriff, den Krieg gewissermaßen als Erzieher Deutschlands feierte und damit weit unter sein bisheriges Niveau geriet, ist mit Händen zu greifen. Er führte in seiner Würdigung Carlyles auch Rudyard Kipling an, den er einen „wundervollen Erzähler“ und „großen Dichter“ vor allem mit Blick auf das Dschungelbuch nannte, der aber ansonsten ein „englischer Imperialist“ sei, der sich „auf politischen Haß wie einer“ verstehe – mit dem Unterschied, dass Kipling „dem Nationalhaß und der Macht-

206 Gustav Mendelssohn Bartholdy (Hrsg.), Der König. Friedrich der Große in seinen Briefen, Erlassen, sowie in zeitgenössischen Briefen, Berichten und Anekdoten. Mit biographischen Verbindungen von Gustav Mendelssohn Bartholdy. München 1912, S. 86–89.

Die Sache selbst



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lust frönen“ dürfe, „weil er bloß ein Engländer“ sei. (XIII, 550, Hervorh. i. Org.). Dass Thomas Mann damit nicht unrecht hatte, bedarf kaum einer Begründung.

Die Sache selbst Wie aber verhält es sich nun mit dem Essay Friedrich und die große Koalition, Thomas Manns umfänglichster quasi-biographischer Arbeit? Sie enthält Überraschungen, indem sie zugleich ihren Gegenstand zu entmythisieren versuchte und das ‚Dämonische‘, Unerklärliche, oft Irrationale an diesem der Vernunft verschriebenen Aufklärer auf dem Thron betonte. Haben wir es als ein Propagandastück zu werten? Im Wesentlichen lassen sich nur betont wenige Stellen darin ausfindig machen, die im Ton in jenen der Kriegsschriften einstimmen, darunter der Schlusssatz: „Er [der König, R. G.] war ein Opfer. Er mußte unrecht tun und ein Leben gegen den Gedanken führen, er durfte nicht Philosoph, sondern mußte König sein, damit eines großen Volkes Erdensendung sich erfülle.“ (X, 135) Das klang eher wie eine pflichtgemäße Konzession an den nationalistischen Zeitgeist, weit entfernt von jener Emphase, mit der er etwa die Rundfrage des Svenska Dagbladet nicht nur beantwortete, sondern geradezu rhetorisch niederwalzte. Darin hatte er in seltenem Einklang mit Stefan George vom Heraufkommen eines „Dritten Reiches“ geschwärmt, das der Krieg befördern würde, ja dessen „Bringer“ er sei, und zwar in Gestalt einer „Synthese von Macht und Geist.“ (XIII, 551) Thomas Manns Friedrich-Essay bediente die seit 1840, des Königs hundertjährigem Thronjubiläum, zeitüblichen, von Franz Kugler biographisch und Adolph von Menzel ikonographisch untermalten Mythologeme nicht. Er war Carlyles biographischem Ansatz verpflichtet, nicht der preußischen Verklärungsideologie, die 1912 anlässlich des 200. Geburtstages von Friedrich II zur Kaiserreichssache wurde. Übrigens untermalte Mendelssohn Bartholdys Materialienband diese auch nur sehr bedingt; denn er versammelte Texte, die ein durchaus differenziertes Urteil über den König erlaubten, wenn nicht gar nahelegten. Zu den ‚Überraschungen‘ dieser biographischen Studie gehört auch die Tatsache, dass Thomas Mann das Anekdotische über Friedrich kaum nutzte, weil er eben erklärtermaßen gerade nicht das Volkstümliche betonen, nicht die Legenden vom „alten Fritz“ aufwärmen wollte, „denn es ist wirklich im höchsten Grade schauerlich“, wie er in seinem Essay schrieb, „wenn der Dämon populär wird und einen gemütlichen Namen erhält.“ (X, 132) Noch überraschender ist, dass Thomas Mann Friedrichs Künstlernatur, seine durchaus überdurchschnittliche Musikalität, nicht ernst nahm. Nicht nur dass der König einen der bedeutendsten Komponisten für Flötenkonzerte, Johann Joachim Quantz, und einen herausragenden Vertreter der ‚modernen‘ Schwelldynamik, den zweitältesten Komponistensohn

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Johann Sebastian Bachs, Carl Philipp Emmanuel, als Kapellmeister verpflichtete, mit der italienischen Tänzerin Barbarina holte er die prima ballerina assoluta ihrer Zeit nach Berlin an sein Opernhaus (und – etwas überraschend – in seine Privatgemächer nach Sanssouci!). Er verstand selbst bemerkenswert zu musizieren und komponieren, von seinem ingeniösen Thema für Johann Sebastian Bachs Musikalisches Opfer keinesfalls zu schweigen. Das alles überging Thomas Mann in seiner Darstellung weitgehend. Stattdessen bot er diese Charakterisierung: „Immer im schäbigen Waffenrock, gestiefelt, gespornt und den Uniformhut auf dem Kopf, atmend jahraus, jahrein im Dunst seiner Truppen, in einer Atmosphäre von Schweiß, Leder, Blut und Pulverdampf, ging er, zwischen zwei Schlachten, zwischen einer trostlosen Niederlage und einem unglaubhaften Triumph, in seinem Zelt hin und her und blies auf der Flöte, kritzelte französische Verse oder zankte sich brieflich mit Voltaire.“ (X, 130 f.) Jedenfalls porträtiert er Friedrich als das Gegenteil einer „Hamletseele“, die Thomas Mann den Deutschen in seinen Gedanken zum Kriege (1915) bescheinigt. (XIII, 557) Sein Friedrich ist der – wenn auch zuweilen erratisch – Handelnde, bestimmt oder getrieben von einem „geheimen Instinkt“, ein Friedrich-Wort über sich selbst, das er zitiert (X, 135). So deutet er Friedrichs Entwicklung zu Größe als die Art seiner Bewährung gegen die ‚große Koalition‘ gegen ihn – namentlich um und nach 1756. Kommen wir nun zum eigentlichen Gang und der Art der Argumentation in Thomas Manns biographischem Friedrich-Essay. Er beginnt mit der Frage nach dem Problem des Anfangs, mit der Gefahr, sich „im Mythos rückwärts locken“ zu lassen, sprich: „ein immer größeres Stück Vorgeschichte“ mit aufzunehmen. Und er rekurriert auf das „tiefe Es des Vorspiels“ zu Das Rheingold und damit zum musikalischen Urmythos von Richards Wagners Ring des Nibelungen (X, 77). Am anderen Ende der Lebensgeschichte steht jenes „Ich kenn’ dich, Alter, nicht“, mit dem Shakespeare seinen genusssüchtigen Falstaff in die Schranken weisen lässt, ein merkwürdig unpassender Vergleich, wenn Thomas Mann ihn auf den alten Friedrich münzt und zudem behauptet, es sei vielleicht die „schönste Stelle“ in Shakespeares Werk (X, 78), was zumindest umstritten sein dürfte. Sein Ausgangspunkt ist das „große Mißtrauen“ sowohl der Welt gegenüber dem Preußenkönig als auch Friedrichs gegenüber der (Mit-)Welt, was seine engste Umgebung einschloss. Thomas Mann führt einen Menschen vor, der sich vom geselligen „lustigen Bruder von Rheinsberg“ (X, 78) zu einem radikalen Einzelgänger entwickelte, nicht ‚zunehmend‘, sondern geradezu schlagartig, nämlich unmittelbar nach seiner Thronbesteigung (1740) beseelt und besessen von der Macht des Willens und dem Willen zur Macht. Thomas Mann betont jedoch, dass von „schlagartiger“ Sinnesänderung nicht wirklich die Rede sein kann, und damit beginnt die entmythisierende Seite seines Unterfangens. Er zitiert Graf Seckendorffs Ansicht

Auslassungen 

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über den Kronprinzen, dem dieser„Verstellung und Falschheit“ bescheinigt. Der Überfall auf Schlesien, die Rache für die „Schnödigkeit, die Brandenburg von Habsburg je und je hat erdulden müssen“, die Erpressung, die Pragmatische Sanktion – und damit die Übertragung der Kaiserwürde auf Maria Theresia nach dem Tod ihres sohnlos verstorbenen Vaters Kaisers Karl VI anzuerkennen, wenn Habsburg Schlesien ihm abtrete, auf das Friedrich windige Erbansprüche geltend machte, alles das sei „vorbereitet“ gewesen. Und Mann zitiert aus einem Brief Friedrichs an den befreundeten Universalgelehrten, Francesco Graf von Algarotti: „[…] es handelt sich nur um die Ausführung der Entwürfe, die ich seit langer Zeit in meinem Kopfe bewegt habe.“ (X, 80) Die Stilmethode, deren sich Thomas Mann beim Zitieren solcher Aussagen bedient, könnte man misstrauisches Nachfragen mit denselben Worten nennen, die er gerade zitiert hat: „Seit langer Zeit? Und alles längst vorbereitet?“ Dann die nuancierte logische Erweiterung: „Ohne daß jemand davon eine Ahnung gehabt hat?“ Darauf die leicht beschleunigende, deutlich dramatisierende Steigerung: „Ohne daß er von solchen Ansprüchen und Absichten sich bisher das geringste hat anmerken lassen?“ Woraufhin sogleich die Auswertung erfolgt, die verblüffen, entzaubern soll: „Aber dann ist er ja ein hinterhältiger, versteckter und in aller Rheinsberger Geselligkeit einsamer junger Mensch gewesen!“ (X, 81)

Auslassungen Friedrichs Vater, Friedrich Wilhelm I und „Soldatenkönig“ genannt, dessen Verhalten in Thomas Manns Psychogramm des Kronprinzen deutlich zu wenig Beachtung findet, hatte über seinen Erstgeborenen 1730 befunden, dass er „ein verschlagener Kopf“ sei.207 Das stand im Zusammenhang mit der Enthauptung des Leutnants Katte, des Kronprinzen engsten Freundes und seines vermeintlichen Fluchthelfers, in der Festung Küstrin, die der achtzehnjährige Friedrich mitanzusehen gezwungen wurde. Dass die geplante Desertion Friedrichs mit Wissen ‚Englands‘ geschah und dass an eine Verheiratung mit einer englischen Prinzessin gedacht war – auf energisches Betreiben seiner hannoverischen Mutter, Sophie Dorothea, die unter der Kulturlosigkeit ihres königlichen Gemahls ebenso litt wie ihr von diesem gepeinigter Erstgeborener –, darf als wahrscheinlich gelten; Thomas Mann hielt diese Vermutung jedoch nicht für erwähnenswert. Übrigens schrieb besagter Graf Seckendorff an Prinz Eugen nach Wien, dass ihm der Kronprinz im Juni 1731 gesagt habe, er sei Poet, „Musiker, Moralphilosoph, Physiker und Mecha-

207 Zit. nach: Mendelssohn Bartholdy, Der König, S. 25.

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niker. Er will weder General sein noch Krieg führen und sich um keine Einzelheiten der Verwaltung kümmern, sondern sein Volk glücklich machen, gute Minister auswählen und sie schalten lassen …“.208 Der Kronprinz selbst gesteht jedoch ein Jahr später: „Ferner erfreue ich mich an der Musik, und bald nehme ich meine Zuflucht zu der süßen Leier, mit der Apollo mich zu begeistern geruht; aber, verschwiegen in meiner Begeisterung, behalte ich alles bei mir und opfere die Erzeugnisse Apollos dem Vulkan, der sie vernichtet.“209 Der Adressat dieses Einbekenntnisses, ausgerechnet auch ein Vertrauter des Königs, General von Grumbkow, bekam von Kronprinz Friedrich, seit 1733 mit Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel-Bevern verheiratet, noch ganz anderes, Kruderes zu hören: „Ich bin Ihnen sehr verpflichtet für die Wünsche, die Sie mir für meine Fortpflanzung aussprechen, und wenn ich dieselbe Bestimmung habe wie die Hirsche – die gegenwärtig in der Brunftzeit sind –, so könnte jetzt in neun Monaten geschehen, was Sie mir wünschen.“210 Es geschah bekanntlich nichts. Das Paar blieb kinderlos. Der delikaten Vermutung, Kronprinz Friedrich sei syphilitisch geschädigt aus seinen zahlreichen Liebschaften vor 1740 hervorgegangen und nach einem misslungenen ärztlichen Eingriff impotent geworden, ging Thomas Mann nicht weiter nach. In Sachen militärische Vorhaben zeigt sich der Kronprinz einmal unverblümt und bestätigt das Doppelspielerische, das man ihm zuschreibt: „Das Jahrhundert in dem wir leben ist – unglücklicherweise für uns – mehr berühmt durch Verhandlungen als durch kriegerische Taten. Wir sind militärisch in guter Lage, aber unsere Verhandlungen; es scheint, daß eine verderbliche Erschlaffung die auswärtigen Angelegenheiten eingeschläfert hat.“211 Genau das sollte er ab 1740 ändern. Übrigens kommt Elisabeth Christine bei Thomas Mann gar nicht erst vor, obgleich sie eigentlich eine – wenn auch zu einem Schattendasein verurteilte – Königin und unbedingte Gegenfigur zu den Herrscherinnen in Frankreich, Russland und Österreich war.212 In Thomas Manns Darstellung von 1914 finden sich diese und weitere Details aus Friedrichs Leben zwar nicht, aber dafür bietet sie geraffte Einsichten, Zeitkondensate („aus Unrecht Recht zu machen – denn dazu ist die Zeit ja imstande“, X, 83), wobei er wiederholt geschichtliche Entwicklungen personalisierend auf den Antagonismus Friedrichs gegen drei Frauen der Macht: Maria Theresia – Madame de Pompadour – Zarin Elisabeth zurückführt und auf Friedrichs anfänglich ge-

208 Zit. nach: Ebd., S. 30. 209 Zit. nach: Ebd., S. 56 (Brief an den General von Grumbkow v. 11. September 1732). 210 Zit. nach: Ebd. S. 72. 211 Zit. nach: Ebd., S. 74. (Br. v. 28. Januar 1737) 212 Zu ihrer Biographie vgl. u. a.: Helmut Trunz: Königin Elisabeth. Die Welfin an der Seite Friedrichs II. Erfurt 2011.

Wesentlichkeiten oder: Wie sagt man was?



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schicktes Austarieren der Spannungen zwischen Frankreich und England zu seinen Gunsten. Später scheint jedoch das „perfide Albion“ durch, wenn er betont, dass die Subsidien Englands für Preußen im Siebenjährigen Krieg, der Konvention von Westminster zufolge, immer sporadischer wurden. Doch was ‚Perfidien‘ angeht, da erwies sich Friedrich in Thomas Manns Darstellung durchaus selbst als Meister. Er weist ihm „Wildes, Radikales, Bösartiges, Unbedingtes, Gefährliches“ in seinem Verhalten nach und fragt (nicht nur rhetorisch und gegen die Erwartungen um 1914): „Ist dieser Mensch nicht ganz und gar auf rücksichtsloseste Offensive gestellt? Ist es möglich, ihm zu trauen?“ (X, 86) Die Antwort fällt eindeutig aus: „Dieser König war allzu geheimnisvoll und hinterhältig, – verschlossen auch gegen Vertraute, oder richtiger gesagt: er hatte keine Vertrauten. Nie sich mitteilen, nie sich erraten lassen – war sein erster königlicher Grundsatz.“ Und er attestiert ihm einen „verstockten und radikalen Willen zur Einsamkeit“. (X, 86 f.) Geschrieben zu einer Zeit, als der deutsche ‚Oberste Kriegsherr‘, Kaiser Wilhelm II, das krasseste Gegenbeispiel zu Friedrich liefert: auf Pomp versessen, geschwätzig bis zur gefährlichen Peinlichkeit, die Einsamkeit fliehend, der Hofkamarilla nur zu willig sein Ohr leihend.

Wesentlichkeiten oder: Wie sagt man was? Wenn sich die Gelegenheit zu einer sinnigen Begriffsneubildung bot, ergriff Thomas Mann sie. So bezeichnet er das Entsetzen in Europa über Friedrichs Aggression 1756 (Besetzung von Sachsen als Auftakt zum Siebenjährigen Krieg) als eine „Nacheingenommenheit“ der europäischen Staaten gegen den Preußenkönig. Es charakterisiert seine Darstellung, dass er die politische Psychologie, den ‚renversement des alliances‘ und seine Folgen, das Bündnis der ‚Erzfeinde‘ Habsburg und Bourbon beinhaltend, mit Verweisen auf Friedrichs Verhalten durchsetzt. War diese neue Bündnispolitik die Leistung des österreichischen Staatskanzlers Wenzel Anton Graf Kaunitz, des Fürsten Klemens Wenzlaus von Metternich des 18. Jahrhunderts, den Thomas Mann ausgiebig würdigt; so zeigt er, wie sich Friedrich in einen Solipsismus verrennt, der sich um jede Kleinigkeit wie um das Wichtigste selbst kümmerte und damit aber „der Arbeit aller anderen“ um ihn „die Würde entzog“. Das bedeutet: Thomas Mann verfuhr in der Manier etablierter Historiker, aber auch Dramatiker, wenn er gerade auch den Gegenspielern des „Helden“ ihr Recht einräumte, um so die Spannung in der Darstellung zu erhöhen und Konflikte plausibler zu machen. In Abschnitten wie diesen erweist sich Thomas Manns Zugangsweise als bemerkenswert ‚modern‘, da er deutlich mehr wollte mit seinem Essay-Abriss als einen Aufriss einer Lebensgeschichte, nämlich ein skizzenhaftes Porträt jener Epoche mit ihren skandalösen Machenschaften im Namen einer neo-

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machiavellistischen Politik. Man könnte durchaus behaupten, dass erst in unserer Zeit dieses Programm eingelöst wurde, erstaunlicherweise von einem eher als Strukturhistoriker bekannten Autor, nämlich Hermann Kunisch in seiner Friedrich-Biographie, die explizit „seine Zeit“ panoramahaft und analytisch mit einbezieht.213 Immer wieder befragt Mann den Charakter Friedrichs, etwa in der Art: „Hatte nicht selbst seine unerhörte Arbeitswut etwas Zynisches, Dürres, Unmenschliches und Lebensfeindliches – für den gesunden und richtigen Menschensinn?“ (X, 90) Und noch einmal gesagt: seltsam genug, die Königin erwähnt Thomas Mann nicht einmal namentlich: „Daß seine Ehe eine Scheinehe war, will nicht viel besagen, denn sie war erzwungen“. (X, 91) Aber fraglos faszinierte ihn des Königs „Misogynie“ und entsprechende Missverhältnis zu Frauen, etwa noch zur Kronprinzenzeit zur „wohlgeformten Gräfin Formera“ am sächsischen Hof, zur Gräfin Orelska, in Küstrin zur verheirateten Freifrau von Wreech, die, so die Vermutung, von ihm ein Kind bekam, das denn auch „Herr von Wreech nicht als das seine anerkennen wollte“. Des Weiteren zu einer „Potsdamer Kantorstochter, die seinetwegen öffentlich ausgepeitscht wurde und ‚auf ewig‘ ins Spinnhaus kam.“ (X, 91) Hier interessiert nicht die quellenkritische Authentifizierung dieser Bemerkungen Thomas Manns, sondern allein der Umstand ihres Vorhandenseins. Und immer wieder sind es die Zwischenbemerkungen, knappen charakterisierenden Einlassungen, die diesen Text so sprechend werden lassen und dabei gleichzeitig den Eindruck erwecken, es handele sich tatsächlich um einen biographischen ‚Abriß‘ – in Wahrheit jedoch um einen großen Essay über des Königs Willen zur Macht. Bedeutsam, wenn nicht gar bedeutend wird er dadurch, dass er mit den Variationen des Machtbewusstseins, der Taktik und changierenden Strategien spielt. Dazu gehört auch, dass er die Gegenspieler Friedrichs ausführlich würdigt, was vor allem für Kaunitz zutrifft, dessen „Haut so weiß war wie eine Kellerpflanze“. Kaunitz bescheinigt Mann „geniale“ diplomatische Fähigkeiten, „wenn Genie im wesentlichen Unabhängigkeit“ des Denkens und Manövrierens „genannt werden darf“. (X, 103) Im Unterschied zu Friedrich nahm Kaunitz die Frauen an der Macht ernst – gleich ob ‚die‘ Pompadour, die eben nicht nur im Bett brillierte, sondern einen Staatsrat wirkungsvoll zu leiten verstand –, von Friedrich als „Mätressenstaat“ denunziert –, die Zarin und natürlich ‚seine‘ Kaiserin. Kaunitz’ Meisterleistung, die Etablierung eines französisch-österreichischen Bündnisses gegen Friedrich, „tröpfelte [er] in jedes Ohr, das ein wenig stille hielt. Er brachte seine Theorie bei jeder Gelegenheit an, wandte sie hin und her und ließ sie in verschiedener Beleuchtung spielen. Sie erregte Heiterkeit und dann Nachdenken. Man fand sie

213 Hermann Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München 2004.

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keck, fand sie amüsant und endigte damit, sich zu fragen, ob sie nicht mehr sein könne als ein Witz.“ (X, 106) Das ist die Beschreibung diplomatischer Kunst, das virtuose Verfolgen eines gedanklich-politischen ‚Leitmotivs‘ und seine fein dosierte Anwendung. Was in Thomas Manns Text folgt? Ein Ausreizen eines Stilmittels, das er selten einsetzte und um der Dramatisierung in seiner Darstellung willen gebraucht: Staccatosätze, angewandt etwa dann, wenn es um Friedrichs vor 1756 ganz Europa frappierende Hinwendung zu England geht: „England tat Schritte. Und bald fand man einander. […] Aber Frankreich war außer sich. Ja, Kaunitz hatte recht: Dieser Mann [Friedrich] war durch und durch ein Elender. Offen trat er auf die Seite von Frankreichs Feinden. Aber man wird ihm zeigen … Man zeigte es ihm.“ (X, 109) Zu Thomas Manns Argumentationsverfahren gehört, dass er Friedrich demontiert, um ihn danach als nur umso kühner vorzustellen. Er überzieht seinen Text passagenweise mit rhetorischen Fragen, das Zweideutige von Friedrichs Handeln aufzeigend, um sie dann jedoch so eindeutig wie möglich zu beantworten: „Aber hat er den Krieg gewollt? Die Frage führt in die Schlünde des nie ausgedachten Problems von der Willensfreiheit. Er hat wohl zeitig gewußt, daß er ihn werde wollen müssen; und nachdem er das Verhängnis eine Weile genasführt, hatte er Bosheit und Menschenstolz genug, um ihn frei zu wollen.“ (X, 113) Was die „Bosheit“ angeht, so spitzt Thomas Mann bestimmte Bemerkungen Friedrichs weiter zu und deutet sie unmissverständlich – und das selten zu des Königs Vorteil. Ein Beispiel für viele im Zusammenhang mit der strategischen Lage Preußens 1756, also vor dem Beginn des Siebenjährigen Krieges: „Wenn aber Frankreich und Rußland abfielen, – würde Österreich sich ihm allein stellen? Friedrich glaubte es nicht, – hoffte es nicht. Gehen sie aber, sagte er, mit dem Kriege schwanger, so wird er ihnen als Geburtshelfer beistehen. Ein abscheuliches Bild! Und schon wieder eine Anspielung auf die Weiblichkeit des Gegners.“ (X, 155) Es ist fraglos so, dass die folgenden Seiten in Thomas Manns teils biographischem, teils geschichtspsychologischem Versuch der mittelbaren Legitimierung der deutschen Besetzung Belgiens 1914 dienen sollten als einer zeitversetzten ‚Parallelaktion‘ zu Friedrichs Einfall in Sachsen 1756: „Von dem Lärm, der sich über diesen unerhörten Friedens- und Völkerrechtsbruch in Europa erhob, macht man sich keine Vorstellung. Oder doch, es ist wahr, ja, neuerdings macht man sich wieder eine Vorstellung davon“ (X, 116 f.), womit er die Empörung über die deutsche Verletzung der belgischen Neutralität meinte. Thomas Manns Befund zur Lage von 1756 sollten seine Leser 1914 offenkundig auch auf Belgien beziehen angesichts der britisch-französischen Interessen, die sich mit Belgien und nicht zuletzt mit der kolonialpolitischen Ausrichtung des Landes verbanden; denn diese lief dem neutralen Status des königlichen Belgiens zuwider: „Eine wahre und redliche Neutralität gab es nicht zu verletzen. Mit dem Herzen, mit seinem bösen Willen stand

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Sachsen auf seiten der Koalition, wenn auch Feigheit es gehindert hatte, solche Zugehörigkeit manifest werden zu lassen.“ (X, 117) Mann stellte damit auch die Frage, ob die Konzeption von ‚Neutralität‘ nicht ohnehin zu den größten politischen Fiktionen und Lebenslügen ganzer Staaten gehört. Doch blieb Thomas Mann entgegen der Überschrift zu seinem Versuch nicht bei Friedrichs siebenjähriger, beinahe selbstzerstörerischer Auseinandersetzung mit der europäischen „großen Koalition“ gegen ihn stehen. Das letzte Fünftel schließt an den Anfang an und nimmt das Urteil des Vaters über den Kronprinzen, dieser sei „böse“, wieder auf, wofür er einen paradoxen Ausdruck hat: „die Sensitivität seines bösartigen Herzens“. (X, 131) Dann wiederum eine Steigerung was das kritische Urteil über Friedrich angeht: „Mit der Zeit wurde er selber grotesk, er übersah nicht die fürchterliche Komik seines Daseins, er verglich sich mit Don Quijote, mit dem Ewigen Juden […] und wurde sich selbst zum Spuk“. (X, 131) Schlimmer noch: Mann sieht Friedrich im Alter die „Qual der Verdammten“ leiden. „Aber sein Ruhm wuchs unterdessen, – seine Vergehen, seine Völkerrechtsbrüche gerieten in Vergessenheit, aber sein Ruhm als der eines Gottgeschlagenen und Gotterwählten wuchs auf wie ein Baum und überschattete das Jahrhundert.“ (X, 131) Diesen Lebensabend nennt Thomas Mann „kalt, trübe und abstoßend. Sein Charakter war nach den furchtbaren sieben Jahren noch höhnischer und boshafter denn zuvor.“ Und weiter: „Ausgebrannt, öde und bös, liebte er niemanden und niemand liebte ihn, sondern sein königliches Dasein bildete einen lastenden, entwürdigenden Druck für alle Welt. Um ein wenig tierische Wärme zu empfinden, ließ er seine Lieblingswindhündin des Nachts sein Lager teilen.“ (X, 133) Er sei zum „ungeschlechtlichen, boshaften Troll“ geworden. Daraus ergibt sich für Thomas Mann der ins Allgemeine zielende Befund: „Es gibt Ironie nach beiden Seiten hin, eine radikale Skepsis, einen im Grunde nihilistischen Fanatismus der Leistung und eine so bösartige als melancholische Souveränität.“ (X, 134) Nein, das war nicht das Heroisch-Aufbauende, was Thomas Mann seiner bedrängten Zeit Ende 1914 durch seine Beschäftigung mit Friedrich bot; das war radikaler Skeptizismus gegenüber einem zum staatstragenden Mythos verklärten König, und eben das überliest man, wenn man diesen Essay nur als Rechtfertigungsschrift für das deutsche Verhalten zu Beginn des Ersten Weltkrieges versteht. Denn Thomas Mann zeigte darin etwas anderes, nämlich wozu solche Kühnheit den Kühnen führt: in letztlich völlige Isolation. Keine Rede davon, dass Thomas Mann damit dem alten König wirklich ‚gerecht‘ wurde. Was er ausblendet, ist etwa das Monument des Briefwechsels zwischen Friedrich und Voltaire, der gerade gegen Ende gedankliche Kostbarkeiten enthält, etwa Friedrichs Bemerkung: „Das Denken schreibe ich den fünf Sinnen zu, mit welchen die Natur uns begabt hat; die Erkenntnisse, die sie uns vermitteln, prägen sich den Nerven ein, die deren Botschafter sind; diese Eindrücke, die wir

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Gedächtnis nennen, versorgen uns mit Ideen […].“214 Gleiches gilt für die Würdigung, die Friedrich nach dem Tod Voltaires verfasste und von Dieudonné Thiébault, einem Professor der Literatur, auf einer Sondersitzung der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Literatur am 26. November 1778 verlesen wurde, eine ‚geistige Biographie‘ des Philosophen in nuce. Friedrich sah die Größe seines Bruders im Geiste unter anderem darin, dass er „geheimnisschwangeren Sophismen“ den Garaus machte und unterschied zwischen der „Religion“ an sich und „jenen, die sie entweihten“, nämlich bigotten, selbstgerechten „Kirchenmännern“.215 Friedrich selbst vermochte ‚Toleranz‘, durchaus im Gegensatz zu Voltaire, immer auch ironisch zu sehen (was sich Thomas Mann in seinem Porträt gleichfalls entgehen ließ), etwa wenn er dem Weisen und Patriarchen von Ferney, als dessen Jünger er sich noch im August 1775 bezeichnete, mitteilte: „Ich verhandle derzeit mit tausend mohammedanischen Familien, denen ich in Westpreußen Heimstätten und Moscheen geben will. So wird es hier die vorgeschriebenen Fußwaschungen geben, und ohne empört zu sein wird man hilli und halla singen hören. Dies war die einzige Sekte, die in diesem Lande noch fehlte.“216 (Seit 2015 nennt man dergleichen deutsche „Willkommenskultur“, die jedoch in Brandenburg-Preußen ihren Anfang nahm; man denke allein an die Aufnahme französischer Hugenotten und salzburgischer Protestanten. Doch darf man es zu einem Allzu-deutsch-Sein zählen, um solche Gesten der Hilfsbereitschaft dann wieder, wie in unserer Gegenwart geschehen, ironisch-bösartig zu verunglimpfen.) Am Ende von Thomas Manns Versuch erfolgt dann sogar noch die Einordnung des Antimachiavell (1736) des Kronprinzen, der als König sich zum Erzmachiavellisten umpolte. Er nennt diese spektakuläre Schrift treffsicher wie stets „nicht Heuchelei, sondern Literatur“. (X, 134) Wie schrieb Friedrich doch Voltaire, Thomas Mann zitiert den Satz spürbar genüsslich: „Merken Sie es sich, daß es für Schriftsteller und Schöngeister erlaubte Freiheiten und unerträgliche Unverschämtheiten gibt!“ (X, 128) Damit hatte Friedrich zwar gemeint, dass er dem Philosophen von Ferney alles, was ihn an ihm irritiert, ja verärgert hatte, „vergeben“ habe. Doch dieses Urteil galt eben auch für den ‚Literaten‘ Friedrich und sein machiavellistisches Handeln bei eigenen anti-machiavellistischen Vorgaben. Einmal mehr zeigte Thomas Mann, dass der Wert eines Menschen in seiner Widersprüchlichkeit liege. Noch war zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Versuchs nicht deutlich, wie krass der Widerspruch im Fall Friedrichs zu seinen eigenen kulturkonservativen und antidemokratischen Vorgaben, denen er in den Betrachtungen eines Unpoliti214 Voltaire / Friedrich der Große, Aus dem Briefwechsel. Hrsg., vorgestellt und übersetzt von Hans Pleschinski. Zürich 1992, S. 524. 215 In: Ebd., S. 572 (die ganze Würdigung: S. 557–574). 216 In: Ebd., S. 519.

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schen ein (vergängliches) Denkmal setzte, nach 1919/20 und seiner republikanischdemokratischen Wende ausfallen würde. Man kann sich getrost das Urteil des jüngeren Bruders, Victor Mann, zu eigen machen, der in seinem „Bildnis der Familie Mann“, Wir waren fünf, treffend über Thomas’ „Abriß“ zu Friedrich dem Großen befand: „Es war keine vaterländische Ruhmesgeschichte, die da zustande kam. Kein mythischer Fridericus. Der Abriß ging so ohne jeden Weihrauch und Untertanenrespekt mit dem König um, daß die Zulassung der Ausgabe 1914 fast ebenso erstaunlich war wie die von Heinrichs Zola-Essay ein Jahr später. Das Böse, Tückische, Anormale des Genies wurde schonungslos dargestellt und durch den Vergleich mit seiner geradezu liebevoll geschilderten Gegnerin Maria Theresia noch stärker sichtbar gemacht. Das Unrecht der Überfälle, der Haß der Welt, die Brutalität gegen eine Frau wie die Königin von Polen – all das las sich, als habe der Autor mit Eifer nach den dunkelsten Seiten seines Helden gesucht, bevor der die Antithese aufrichtete.“217 Mit einer überraschenden „Antithese“ in Sachen Friedrich, wenn auch ganz anderer Art, wartete dann gut dreißig Jahre später Heinrich Mann auf:

Heinrich Mann, der unwahrscheinliche (?) Friedrich-Biograph Wie nun verhält es sich mit Heinrich Manns Texten zu Friedrich II von Preußen? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er seine Konzeption eines umfangreichen Dialogromans zur „traurigen Geschichte Friedrichs des Großen“ in später Absetzung zum Versuch seines Bruders vornahm und innerhalb des eigenen Werkes als Gegenstück zu seinem Romanepos Henri Quatre gedacht hatte.218 Den kardinalen Unterschied zwischen beiden Zugängen sah Rudolf Augstein in seiner bis heute unübertroffenen Studie Preußens Friedrich und die Deutschen – erschienen im Jahr der Studentenrevolte 1968 – in ihrer jeweiligen Charakterisierung der Madame Pompadour symbolisiert: „Thomas Mann [sah sie als] eines Fleischers Tochter, Frau eines Zöllners und Kupplers und selber Kupplerin, talentierter Dirnenkopf, der Schmutz blieb ihr Element: Heinrich Mann: eine große Frau.“219

217 Victor Mann, Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann. 12. Aufl. Frankfurt am Main 2010, S. 353. 218 Das Gesamtkonvolut: Heinrich Mann, Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen. Ein Fragment. Der König von Preußen. Ein Essay. Mit einem Nachwort von Jürgen Haupt. Düsseldorf 1986. Teil dieser Ausgabe ist auch die „Outline des Werks“, ebd., S. 123–140. 219 Rudolf Augstein, Preußens Friedrich und die Deutschen. Frankfurt am Main 1981, S. 122 (Fußnote).

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Seit der posthumen Erstveröffentlichung des beträchtlichen ‚Friedrich‘-Konvoluts von Heinrich Mann haben sich nur wenige kritische Stimmen gefunden, die sich mit diesen Texten ernsthaft auseinandersetzten.220 Selbst die wichtige Biographie von Willi Jasper, Der Bruder Heinrich Mann (1992), erwähnte Heinrich Manns Friedrich-Projekt eher beiläufig, obwohl es für dessen Spätwerk neben Empfang bei der Welt und Der Atem zentral ist. Beide Romane wirkten, so Jasper, neben den Friedrich-Texten „ein wenig skurril“. Immerhin wirft Jasper die Frage auf, inwieweit Heinrich Manns Friedrich die These des Bruders von dessen „Greisenavantgardismus“ bestätige oder ihr widerspreche. Jasper verweist auf den Zusammenhang zwischen der Figur des „deutschen Untertan“ und der Friedrich-Typologie, die Heinrich Mann der Vorgeschichte des Nationalsozialismus zuordnete, ganz wie Thomas Mann den Faustus-Stoff und Brecht in seinen „großen Dramen“.221 Der Hinweis auf den Untertan ist fraglos aufschlussreich und damit auch auf die „Sozialpsychologie eines Typus“ (Jürgen Haupt). Jasper identifiziert die folgenden Parallelen zwischen beiden Erzählfiguren: „Liebesentzug, Brechung der jugendlichen Selbstsuche, Beschreibung des Vaters als strafenden Gott […] Unterdrückung der Triebsphäre“. Hinzu komme „die Angst vor einer bedrohlichen Sexualität“, die „Väter und Söhne zu einer aggressiven Frauenverachtung“ erziehe.222 Doch es gibt auch Unterschiede, namentlich die Kunst der Verstellung, die der junge Friedrich zur frühen Meisterschaft entwickelt, nicht dagegen Dietrich Heßling in Der Untertan, der unverblümt sagt, was er denkt. Wesentlich ist, dass „der Vater“ den Kronprinzen eben gerade nicht ‚brechen‘ konnte. Dessen „Selbstsuche“ mündet in ein Versteckspiel mit sich selbst. Es ist ein Aspekt, den Thomas Mann, wie gesehen, durchaus betont, nicht dagegen das Fragment Heinrich Manns. Erwähnenswert ist, dass das Fragment, als es 1958 in zwei Folgeheften der Ost-Berliner Zeitschrift Sinn und Form erschien, zwar danach als Sonderdruck im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste für den Buchhandel aufbereitet wurde, diesen aber nicht erreichte.223 In die DDR-Kultur passte Friedrich trotz Heinrich Manns Vermittlung noch auf längere Zeit nicht. Das sollte sich erst unter Erich Honecker ändern, der 1986 den zweihundertsten Todestag des legendären Preu-

220 Vor allem: Jürgen Haupt, Heinrich Manns traurige Geschichte von Friedrich dem Großen. Zur Sozialpsychologie eines Typus. In: Heinrich Mann-Jahrbuch 3 (1985), S. 209–222. 221 Willi Jasper, Der Bruder. Heinrich Mann. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1994, S. 325. 222 Ebd., S. 230. 223 Anmerkung von Erika Mann, in: Thomas Mann, Briefe in drei Bänden. Bd. II, Frankfurt am Main 1978, S. 708. Anmerkung zum Brief Thomas Manns an die Redaktion ‚Freies Deutschland‘ vom 6. Februar 1946, in dem er Auskunft über die Verfassung seines fünfundsiebzigjährigen Bruders gab.

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ßenkönigs zur staatssozialistischen Vereinnahmung freigab und dessen Reiterstandbild Unter den Linden wieder nach Osten gerichtet sein ließ. Jedoch schien Heinrich Manns Friedrich-Projekt, diese ernsthaft-ironische Auseinandersetzung mit der Ikone des Preußischen, den meisten Kritikern nicht zu einem Schriftsteller zu passen, der 1910 in seinem Essay Geist und Tat behauptet hatte: „Die Monarchie, der Herrenstaat ist eine Organisation der Menschenfeindschaft und ihre Schule“. Er hatte sie entlarvt als Produzent eines deutschen Untertanen-Staates, dem er bescheinigte: „Kein großes Volk: nur große Männer.“224 Friedrich – das galt, wenn schon, als Stoff des jüngeren Bruders und Verfassers des Romans Königliche Hoheit. So schien es dieser auch selbst empfunden zu haben. Aus dem Briefwechsel der Brüder geht nicht hervor, wann Thomas Mann von Heinrichs „überraschender Stoffwahl“ erfahren hat. Kommentarlos vermerkt er im Tagebuch am 18. Januar 1949 nach einem Besuch Heinrichs: „Las nach seiner Abfahrt seinen Aufsatz über Friedrich den Großen.“ Danach folgt ein viel- oder nichtssagender Gedankenstrich. Heinrich wird das Manuskript ihm mitgebracht haben; es erschien dann im Frühjahrsheft der Neuen Rundschau.225 Anders als sein Bruder 1914 fiktionalisiert Heinrich Mann den Preußenkönig – zunächst als Kronprinz in einundzwanzig Szenen, wobei ein getrennter „Entwurf einer Szene“ vorliegt, „Der Tod des Vaters“, als Auftakt zum zweiten Teil des Werkes, „Der König“, gedacht. Der biographische Essay von 1948/49 kann dann als unmittelbares Gegenstück zu Friedrich und die große Koalition des Bruders verstanden werden – eine Aktualisierung des Friedrich-Problems nun vor dem noch weitaus komplexeren Hintergrund des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieges. Diesen Essay schreibt Heinrich Mann auch als ein Autor, der sich ausführlich mit dem autoritären Charakter auseinandergesetzt und 1934 „das Führerprinzip“ analysiert hatte. In diesem bis 1991 unveröffentlicht gebliebenen Text befand Heinrich Mann: „Angst, Feigheit und Berechnung in Millionen Exemplaren ergeben zusammen etwas Neues: fanatische Führerverehrung. Furcht und Heuchelei sind die beiden Antriebe, durch die ein Führer ohne wirkliche Autorität doch wenigstens den Schein davon bekommt.“226 Spielen, was man nicht ist. Heinrich Mann entlarvte hier den „Diktator“ (Hitler) als einen tyrannischen Schauspieler und lieferte damit seinem Bruder Thomas

224 Heinrich Mann, Politische Essays. Frankfurt am Main 1970, S. 11 (beide Zitate). 225 Heinrich Mann, Der König von Preußen. In: Die Neue Rundschau 60 (1949). Heft 14, S. 186– 198. 226 Heinrich Mann, Das Führerprinzip. Ein unveröffentlichter Text aus dem Jahr 1934. Erstmals in: Süddeutsche Zeitung v. 3./4. August 1991, S. 146. Mit einem Kommentar von Wilfried F. Schoeller.

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die Vorlage für dessen Essay Bruder Hitler (1939), wie Wilfried F. Schoeller wohl zurecht vermutete.227 Daher ist es von Heinrich Mann konsequent gedacht gewesen, dass er diesen Stoff dialogromanhaft, in Rollen verarbeitet, als mögliches Film-Treatment und als (biographisch orientierten) Essay aufbereiten wollte und fragmentarisch auch so entwickelt hat. Dabei ist nur die Rollenprosa, die auch als durchaus spielbare Dramenvorlage vorstellbar ist, ein jedoch umfangreiches Fragment geblieben; „Outline“ und Essay dagegen liegen abgeschlossen vor. Seit Thomas Manns Friedrich-Essay war einiges an wesentlichen Texten über diesen Preußenkönig erschienen, vor allem Bruno Franks Friedrich-Biographie in Materialien, aber auch Jochen Kleppers Roman über den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I, Der Vater. Heinrich Mann dürfte mit dem Werk von Bruno Frank, einem Freund der Familie und vor allem des Bruders, Thomas, vertraut gewesen sein,228 aber eher nicht mit Kleppers 1937 in Deutschland bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienenem und von der Ufa verfilmtem Roman.229 Im Verborgenen befand sich zu jener Zeit noch die 1925 abgefasste Dissertation von Erich Kästner über Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift De la littérature allemande, die erst 1972 erschien.230 Was nun ist das Besondere an Heinrich Manns Zugang zu dem ‚Phänomen Friedrich‘? Konsequenter als alle bis dahin vorliegenden maßgeblichen Arbeiten zu Friedrich arbeitet Heinrich Mann das Moment der Täuschung heraus: „Die väterliche Erziehung, die ihn heucheln lehrte, wirkt bis an sein Ende nach. Die Roheit, Rachsucht und Falschheit, die seine Handlungen lebenslang kennzeichnen, sind gleichfalls ererbter Besitz: er hat dies alles nur gesteigert bis ins Überlebensgroße.“231 Er sieht darin ein Zeitsyndrom: „Unterstützt wurden seine Neigungen von der allgemeinen Vorliebe des Jahrhunderts für Intrigue, für Rivalitäten, die nur wenige angingen und die zu ‚Kabinettskriegen‘ führten.“232 Friedrich als der Alessandro Cagliostro der Politik. Heinrich betont in seiner Outline den Entschluss des jungen Friedrich, „falsch und intrigant“ zu sein, „wofür er die Anlagen offenbar mitbringt.“233 Dabei hinterließ ihm der Vater ein gefährliches Spielzeug, eine hochgerüstete achtzigtausend Soldaten starke Armee (bei einer nur zwei Millionen 227 Ebd. 228 Bruno Frank, Friedrich der Große als Mensch. Im Spiegel seiner Briefe, seiner Schriften, zeitgenössischer Berichte und Anekdoten. Berlin 1926. 229 Vgl. zu Klepper u. a.: Oliver Kohler: Wir werden sein wie die Träumenden. Jochen Klepper – Eine Spurensuche. Neukirchen-Vluyn 2003. 230 Erich Kästner, Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Die Erwiderungen auf seine Schrift De la littérature allemande. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1972. 231 Heinrich Mann, Die traurige Geschichte, S. 138 f. 232 Ebd., S. 139. 233 Ebd., S. 124.

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umfassenden Einwohnerzahl in Brandenburg-Preußen), die er selbst nie eingesetzt hatte. Der Soldatenkönig als ‚kalter Krieger‘, ein Verhalten, das nur Jochen Klepper in seinem biographischen Roman als christlich motiviert deutete. Christliche Nächstenliebe blieb jedoch Friedrich Wilhelm I fremd; er missbrauchte Menschen, darunter und in erster Linie seinen Erstgeborenen, der sich dagegen „empörte“.234 Im Essay über den König hebt Heinrich Mann „das Problem der Sprache“ hervor, das dieser „mit sich getragen“ habe – „durch Frieden und Krieg. Sie ist rauh oder geglättet, schwerfällig oder beflügelt, nachlässig oder genau“, wobei er damit nicht nur des Königs krudes Deutsch meinte, sondern auch das von Voltaire korrigierte Französisch.235 In seinem novellistisch-dramatischen Fragment lässt denn Heinrich Mann seinen Friedrich meistenteils französisch reden. Insgeheim porträtierte er damit und mit der Vorliebe Friedrichs für die „französische Zivilisation“ sich selbst. Als Leser dieses Essays mochte sich Thomas Mann gewundert haben, dass sein Bruder die inzwischen überwunden geglaubte Antithese von Kultur und Zivilisation wieder aufleben ließ, wenn er schreibt: „Die Zivilisation, er [Friedrich] fürchtet mit keinem Verstoß sie zu schänden, er liebt sie zu sehr.“236 Bei allen Widersprüchen, die Friedrich verkörpert, Heinrich Mann besteht darauf, ihn auf den Begriff bringen zu können, je knapper, je trefflicher: „Er ist fragwürdig: das rettet ihn“237, befindet er über den Charakter des Königs, und bei seinen letzten Ausritten durch den Berliner Karneval nennt er ihn vernichtend: „ein Kamel beladen mit Tabaksdosen; der Alte möchte gefallen, er fällt nur auf.“238 Was man deutscherseits laut Heinrich Mann von Friedrich vor allem glaubte lernen zu müssen: das Überspannen der eigenen Kräfte, und politisch: „die herausgeforderte Entzweiung des einzelnen Landes mit der europäischen Ordnung“.239 Doch wäre Heinrich Mann nicht Heinrich Mann gewesen, wenn er sich die pikanten Phasen im Leben des Kronprinzen Friedrich hätte entgehen lassen, die zum Teil bedrückenden, aber auch urkomischen Szenen, die er diesem Stoff abgewann, namentlich das „Cabinet“ der Gräfin Orzelska am Dresdner Hof, eine der zahlreichen hinreißend verführerischen ‚natürlichen Töchter‘ Augusts des Starken, der sich der junge Friedrich mit einem Mal in intimer Zweisamkeit verbunden fühlt. Und zuvor als radikaler Kontrast das skandalöse Gelage im Berliner

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Schloss, das sein Vater für den Zaren, Peter den Großen, gibt und das beide als unverbesserliche Barbaren ausweist. Wozu hatte sich Thomas Mann verpflichten wollen beim eventuellen Abfassen seines Friedrich-Romans? Zu „Auswahl und Form“ und damit eigentlich genau zu dem, was sein Bruder Heinrich in seinen „episch-dramatischen Szenen“, seinem dialogischen Erzählen von Friedrichs Leben, vorführte. Tatsächlich konnte man dies „Greisen-Avantgardismus“ nennen, da Heinrich Mann offenbar sehr bewusst mit dem Formproblem in seiner Darstellung experimentierte. Diese Form war ebenso „überraschend“ wie die „Stoffwahl“ selbst – zumindest aus der Sicht Thomas Manns, aber auch aus unserer Rückschau auf das, was „Avantgardismus“ für Heinrich Mann in seiner letzten Schaffensphase (noch) bedeuten konnte: die Arbeit an einem Stoff, der nichts mit „Kahlschlag“ nach dem Kriege zu tun hatte, dafür alles mit raffinierter Einverwandlung in das Leben eines Anderen, der zum (verhängnisvollen) Mythos einer ruinierten Kultur geworden war. Der „eigentümliche Emaille-Glanz historischen Kolorits“ war 1946/48 anachronistisch. Aber wer wirklicher Künstler ist, und Heinrich Mann war ein solcher, den können und dürfen dergleichen Kategorisierungen nicht kümmern. Dass er diese Art Roman abbrach, seine Unabschließbarkeit, gehörte ganz offensichtlich zu diesem Werk, das augenscheinlich ‚wusste‘, weshalb es sich auf die Kronprinzenzeit Friedrichs zu beschränken hatte; denn im Leben des Königs war nur diese wirklich (ab-)geschlossen gewesen.

X Thomas Mann als (tatsächlicher?) Leser von hauseigenen Biographien (Klaus Manns Tschaikowsky und Golo Manns Friedrich von Gentz) Keine (symphonische) Komposition hatte in Thomas Manns Wertschätzung eine solch drastische Umwertung erfahren wie Tschaikowskys Sechste Symphonie in hMoll, op. 74 (1893). In den Betrachtungen eines Unpolitischen verwirft er dieses „in seiner Süßigkeit und Wildheit durchaus gefährliche Werk, das man nicht hört, nicht versteht, ohne des unversöhnlichen Gegensatzes von Kunst und literarischem Tugendgeist innezuwerden.“ Bezeichnenderweise findet sich dieses Verdikt im Kapitel „Von der Tugend“ und argumentiert mit einer geradezu platonischen Rigidität. Denn es kommt noch herber: „Ich denke an den dritten Satz mit seiner bösartigen Marschmusik, welche, wenn wir eine Zensur im Dienste demokratischer Aufklärung besäßen schlechthin verboten werden müßte.“ Es handelt sich hier um eine These, die man in den Betrachtungen einfach nicht erwartet: ein Plädoyer für eine „Zensur“ um der „demokratischen“, also „zivilisationsliterarischen“ Aufklärung willen, die ja die Betrachtungen ansonsten verdammen. Doch auch damit nicht genug: Solange es erlaubt ist, dergleichen […] aufzuführen; solange dieses Drommetentosen und Beckengeschmetter unter gesitteten Menschen statthaft bleibt, solange, mit Verlaub gesagt, wird es auf Erden auch Krieg geben. (XII, 397)

Dagegen wird es im Tagebuch unter dem Datum des 21. Januar 1952 heißen: „Hörte abends Tschaikowskys Pathétique. Schwermut des Knabenliebhabers, geneigt zum allzu Süßen. Aber der 3. Satz erstaunlich und der Schluß in der Tat sein Sterben.“ Hierbei lässt sich von einem biographisch determinierten Hören Thomas Manns sprechen. Im April 1940 hört er in der Carnegie Hall diese Symphonie und nennt sie „unübertrefflich“ (Tb,5. IV.40) und am 12. Januar 1943 „mit Bewunderung“. Und noch in seinem letzten Lebensjahr vermerkt er zur Pathétique: „ein Bravourstück, das Brillante auf der Stufe des Todesernstes“. (Tb., 5.I.1955). Und als er am 10. Januar 1945 eine Aufnahme von Tschaikowskys Schicksalssymphonie unter Furtwängler hört, ist der tiefe Vorbehalt gegen diesen Dirigenten geschmolzen, spricht er doch von einer „unleugbar überragenden Aufführung.“240

240 Um einen Eindruck von Furtwänglers Interpretation der Pathétique zu gewinnen, mag diese Einspielung von 1951 dienen; die schiere, um nicht zu sagen singuläre Intensität der Interpretahttps://doi.org/10.1515/9783110734508-011

Der väterliche „Anblätterer“



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In der Entstehung des Doktor Faustus hatte sich diese gewandelte Einschätzung der Pathétique über das Tagebuch hinaus manifestiert, wenn Thomas Mann schreibt: „Es ist aber sein Schwermutsvoll-Bestes, das Höchste ihm Erreichbare, und immer hat es sein Schönes und Ergreifendes, ein bestimmtes Talent […] auf den Gipfel seiner Möglichkeiten kommen zu sehen.“ (XI, 156) Damit waren Tschaikowsky wie auch sein Adrian Leverkühn gemeint, der Komponist der Pathétique und jener von Doktor Fausti Weheklag. Diese Wahrnehmung von Tschaikowskys Sechster umrahmte Thomas Manns Reaktion auf den Tschaikowsky-Roman Symphonie Pathétique seines Sohnes, Klaus Mann. Als Klaus am Abend des 7. Juni 1935 im Familienkreis in der Schiedhaldenstrasse 33 zu Küsnacht und unter Anwesenheit von Therese Giehse aus seinem jüngsten Roman vorliest, notiert danach der Vater, der tags zuvor seinen ihm und den anderen besonders bedeutungsvollen sechzigsten Geburtstag festlich begangen hatte: „Reizvoll, aber es fehlt ein wenig an Bedeutung.“241 Nennenswerter hat sich der Vater zum Roman des Sohnes über seinen lange Zeit favorisierten Komponisten – dessen Violinkonzert gehörte zu Thomas Manns Lieblingskompositionen – nicht geäußert. Ein Leseexemplar befindet sich nicht in Thomas Manns nachgelassener Bibliothek.

Der väterliche „Anblätterer“ Delikat genug die Frage, wie Thomas Mann auf Werke seiner Kinder reagierte. Klaus hob eigens hervor, wie „wirklich sehr stark“ er sich gefreut habe über die (verlorenen) Betrachtungen des Vaters über seinen ersten Exilroman, Flucht in den Norden (1934), „wo Du doch an sich ein großer Anblätterer bist“, wie ihn Klaus halb ironisch, halb süffisant nennt.242 Wie auch immer: Klaus Mann begann mit den „Vorbereitungen zum Tschaikowsky“, der von einer zunächst geplanten Novelle zu einem Roman mutierte, unter dem Eindruck der ihn tief enttäuschenden Volksabstimmung im Saarland, die am 13. Januar 1935 zugunsten einer Angliederung an das Deutsche Reich ausgegangen war; Klaus Mann hatte sich wiederholt in der saarländischen Presse dagegen ausgesprochen. Er bat seine Mutter um Stillschweigen über sein neues Romanvor-

tion dürfte auch in der von Thomas Mann genannten Aufnahme hörbar gewesen sein: https:// www.youtube.com/watch?v=6u11Haz69SE (aufgerufen am 12. Mai 2023) 241 Thomas Mann, Tagebücher 1935–1936. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 2003, S. 116. 242 Klaus Mann, Briefe und Antworten 1922–1949. Hrsg. v. Martin Gregor-Dellin. Reinbek b. Hamburg 1991, S. 197 (Br. v. 26.9.1934).

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haben, damit nicht auch andere Autoren auf den Tschaikowsky-Geschmack kämen; das bedeutet, er ging davon aus, dass dieser Stoff gewissermaßen in der Luft lag.243 Die Frage, die schon Martin Gregor-Dellin im Nachwort zu seiner Ausgabe des Romans Symphonie Pathétique aufwarf, was Klaus Mann bewogen haben könnte, „im zweiten, im dritten Jahr seines Exils einen Tschaikowsky-Roman zu schreiben“ und warum nicht „den Roman eines Märtyrers, eines politischen Kämpfers“, hatte Klaus Mann in seinem „Lebensbericht“ Der Wendepunkt beantwortet.244 Besonders auffallend ist die identifikatorische Empathie, die Klaus Mann seinem „großen, rührenden Freund Peter Iljitsch“ entgegenbringt.245 Entsprechend entwaffnend klingt sein einleitendes Bekenntnis: „Ich wählte mir diesen Helden, weil ich ihn liebe und weil ich ihn kenne: ich weiß alles von ihm.“ (428) Dieses „Alles“ umfasst „die Fragwürdigkeit seines Genies, die Gebrochenheit seines Charakters, die Schwächen des Künstlers und des Menschen machten ihn mir vertraut, verständlich, liebenswert.“ (429) Er spricht aus, was sein Vater sich in dieser Offenheit verboten hätte, wobei er als literarischen Kronzeugen – wie Thomas Mann 1930 – August von Platen aufruft: „Wie hätte ich nicht alles von ihm [Tschaikowsky] wissen sollen? Die besondere Form der Liebe, die sein Schicksal war, ich kannte sie doch, war nur zu bewandert in den Inspirationen und Erniedrigungen, den langen Qualen und flüchtig kurzen Seligkeiten, welche dieser Eros mit sich bringt. Man huldigt nicht diesem Eros, ohne zum Fremden zu werden in unserer Gesellschaft, wie sie nun einmal ist; man verschreibt sich nicht dieser Liebe, ohne eine tödliche Wunde davonzutragen. ‚Wer die Schönheit angeschaut mit Augen – Ist dem Tode schon anheimgegeben …‘ Platen wußte es; und Herman Bang, der adelige Däne, mit dem ich auf ebenso vertrautem Fuße stand wie mit Peter Iljitsch Tschaikowski – der wußte es auch, daß er ein ‚Vaterlandsloser‘ war auf dieser Erde.“ (429) Was das ästhetisch bedeutet, spricht Klaus Mann in seinem „Lebensbericht“ deutlicher aus als im Roman selbst: „Seine neurotische Unrast, seine Komplexe und seine Ekstasen, seine Ängste und seine Aufschwünge, die fast unerträgliche Einsamkeit, in der er leben mußte, der Schmerz, der immer wieder in Melodie, in Schönheit verwandelt sein wollte, ich konnte alles beschreiben, nichts davon war mir fremd. Auch wenn es keine Dokumente über die Umstände seines Lebens und die Eigenschaften seiner Person gegeben hätte, die schöne Klage seiner Adagios, die gehetzten Rhythmen seiner Allegros sagten genug: Sache des Erzählers

243 Ebd., S. 206 (Br. v. 15.1.1935) 244 Klaus Mann, Symphonie Pathétique. Ein Tschaikowsky-Roman. Reinbek b. Hamburg 1981, S. 277. 245 Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Hrsg. v. Friedrich Albrecht. Berlin/Weimar 1979, S. 429 (alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe).

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war es nur, diese melodische Konfession zu artikulieren, die sanghafte Beichte in Worte zu fassen.“ (429) Man höre allein das a-Moll-Klaviertrio (op. 50) mit seinen schmerzvollen Aufschreien, die vom Unabänderlichen wissen, höre es vor dem Hintergrund dieses ‚Berichts‘, und es wäre schwer möglich, Klaus Manns Einschätzung nicht zu teilen, dann nämlich, wenn man hörend erlebt, wie das Ende des vierten Satzes das Hauptthema des ersten einholt, es scheinbar überbieten will, noch einmal neu ansetzt, um trostlos zu verklingen, zu verstummen, so, als müsse es sich aufgeben. Bei allen Vorbehalten lässt es sich gleichfalls unschwer vorstellen, dass Thomas Mann den Text des Sohnes ähnlich verstanden hat, ohne sich und ihm dies einzugestehen. Er sparte seine wirkliche Reaktion auf. Die Musik erzählen lassen, schien Klaus Manns Devise, genauer: zu ihrem Übersetzer ins Erzählerische werden. Thomas Mann wird in seinem Komponistenroman Doktor Faustus erzählen, bis aus diesem Erzählen plausible Musik werden konnte. Zeitblom trieb sein Erzählen ins Komponieren seines Freundes Leverkühn. So ‚politisch‘ Zeitblom auch denkt und wie erörtert als Zeitzeuge schreibt, Leverkühn ist diese Sphäre so fremd wie Klaus Manns Tschaikowsky. Im Wendepunkt erklärt er (sich) weiter: „Er [Tschaikowsky] war ein Emigrant, ein Exilierter, nicht aus politischen Gründen, sondern weil er sich nirgends zu Hause fühlte, nirgends zu Hause war. Er litt überall. Schließlich kam der Ruhm, diese ironische, meist verspätete Kompensation für ein Martyrium, für das es keine Bezahlung gibt und keinen Trost. Es gibt keinen Trost, der trostlose berühmte Peter Iljitsch wird seinen trostlosen, verstohlenen Tod streben; er begeht Selbstmord, mit listiger Diskretion, als Dreiundfünfzigjähriger.“ (430) Es gehört zu den Unwägbarkeiten im schöpferischen Prozess, dass Klaus Mann unmittelbar nach diesem von Empathie für seinen Protagonisten getragenen Werk sich der erzählerischen Darstellung einer von Grund auf „unsympathischen Figur“, des von „Ehrgeiz, Eitelkeit und Ruhmsucht“ getriebenen Schauspielers Hendrik Höfgen, eines genial begabten Opportunisten, in seinem Roman Mephisto zuwandte – auch das ein „Wendepunkt“ in seinem Schaffen.

Anderer Widerhall auf die Symphonie Pathétique Im Hause Mann hatte der Roman Symphonie Pathétique erhebliche familieneigene Konkurrenz in Gestalt von Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre. Katia Mann schrieb ihrem Ältesten am 20. September 1935: „Nun muß doch auch der Tschaikowsky nächstens eintreffen, den ich alsbald zu verschlingen gedenke, während ich den Heinrich den IV. zunächst Z. [also: dem ‚Zauberer‘, Thomas

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Mann, R. G.] überließ.“246 Erst im März 1936 kam Thomas Mann dann nebenbei auf den Tschaikowsky-Roman seines Sohnes zu sprechen; denn er hatte in der ExilZeitschrift Das Neue Tage-Buch Bruno Franks „lobende Besprechung“ gelesen. Danach findet sich bei Thomas Mann kein Hinweis mehr auf dieses Werk. Etwas überrascht: Als Thomas Mann dem Musikschriftsteller Ludwig Altman für dessen Aufsatz „Our Great Symphonies Written by Lonely Men“ dankt (Brief v. 20. Juni 1943), schreibt er, er sei „frappiert“ von der „Geschichte von Tschaikowsky und der reichen russischen Aristokratin, seiner Freundin, die er niemals gesehen hat. Ich kannte diese Geschichte nicht und finde sie höchst merkwürdig.“247 Er hätte diese „Geschichte“ kennen können bei aufmerksamer Lektüre des Tschaikowsky-Romans seines Sohnes. Vielleicht hatte er sie wie die Lektüre des Romans verdrängt; denn als Katia Mann nach Klaus Manns Zusammenbruch auf einer Vortragsreise durch Ungarn im Mai 1937 und dem Beginn einer Drogenentzugskur ihrem Sohn schreibt, bezieht sie sich auf den Vergleichsfall Annemarie Schwarzenbach, die sie „unsere so schwer belastete Frau von Meck“ nennt.248 In der Familie Mann, so mutmaßt der Kommentar offenbar zu Recht, war diese Konstellation: Annemarie Schwarzenbach als Nadjeshda von Meck „durch Klaus Manns Roman Symphonie Pathétique bekannt.“249 Man sprach also über die anonyme Gönnerin und die Symbolik dieser biographischen Gegebenheiten. Sie können an Thomas Mann einfach nicht spurlos vorübergegangen sein. Ausführlich verstand Hermann Kesten Klaus Manns Roman zu würdigen. Er war es übrigens, der in diesem Würdigungsbrief vorschlug, „den Roman eines homosexuellen Karrieristen im dritten Reich“ zu schreiben, wobei er ausdrücklich den „Herrn Staatstheaterintendanten Gründgens“ nannte.250 Besonderes Lob hörte Klaus Mann aus Nizza von Heinrich Mann. Dieser bescheinigte seinem Lieblingsneffen, er habe ein „wahrhaft erstaunliches Buch geschrieben: […] einer solchen literarischen Überraschung kann ich mich kaum erinnern.“ Und er qualifizierte sein Urteil sogleich: „Ich meine damit zuerst das gute Zusammenspiel der Ereignisse und Personen: was man damals noch Komposition und nicht Aufbau nannte. […] Es ist allerdings zu vermuten, daß Du, von der leeren, aber munteren Jetztzeit ausgehend, die leistungsfähige Schwermut des anderen Zeitalters entdeckt hast.“251 Was Heinrich Mann angeht, findet sich eine bio-

246 In: Tilmann Lahme / Holger Pils / Kerstin Klein (Hrsg.), Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt. Frankfurt am Main 2016, S. 131. 247 Thomas Mann, Briefe II,, S. 324. 248 In: Die Briefe der Manns,, S. 167 (Brief vom 28. Mai 1937) 249 Ebd., S. 531. 250 Klaus Mann, Briefe und Antworten, S. 238 (Brief v. 15. November 1935). 251 In: Ebd., 139 f. (Brief v. 18. Dezember 1935).

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graphische Pointe. Im Vorfeld seines 75. Geburtstages hielt sich Heinrich Mann, nach dem Tod seiner zweiten Frau von Katia umsorgt, im San Remo Drive im Haus seines Bruders auf. Katia berichtet Klaus Mann am 14. März 1946: „Während seines Aufenthalts hier fand er übrigens Deinen Tschaikowsky, der drolliger Weise kürzlich aus Holland eintraf mit einer Bücherkiste, die zur Zeit des Kriegsausbruchs dort aufgegeben liegen geblieben war und jetzt ganz ehrlich abgeliefert war. Und er war hellichst begeistert von der Lektüre, das sei ja ein ganz hervorragendes Buch.“252 Heinrich Mann hatte augenscheinlich seine Erstlektüre vom November/Dezember 1935 vergessen. Wiederum kaum vorstellbar, dass Heinrich Mann im Haus des Bruders nicht über diesen seinen jüngsten Leseeindruck gesprochen hat, zumal es sich um Klaus Mann handelte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Thomas Mann seinem Berater in Sachen moderner Musik, Theodor W. Adorno, bereits mitgeteilt, dass er „montagemäßig das Motiv der unsichtbar bleibenden, nie getroffenen, im Fleisch gemiedenen Verehrerin und Geliebten, Tschaikowsky’s Frau Meck“ benutzt habe. Im Doktor Faustus wurde „Frau Meck“ dann zu „Frau Tolnar“. Zu seiner literarisch-fiktiv-biographischen Verfahrensweise gab er dabei Folgendes zu Protokoll: „Historisch gegeben und bekannt wie es ist, klebe ich es auf und lasse die Ränder sich verwischen, lasse es sich in die Komposition senken als ein mythisch-vogelfreies Thema, das jedem gehört.“253 Um diesen Teil abzuschließen, sei noch auf Klaus Manns Kommentar zum Doktor Faustus verwiesen, der ihm Anfang 1948 abverlangt wurde. Er bestätigt einem gewissen Dr. Buisonjé, „die Figur des Leverkühn ist im wesentlichen frei erfunden, obwohl es in seiner Biographie mancherlei Anklänge an berühmte Vorbilder gibt.“ Er nennt Nietzsche, Hugo Wolf und eben Tschaikowsky „(zum Beispiel die Beziehung zur unsichtbaren Wohltäterin – alias Madame von Meck …). Es scheint mir eine Art von MontageTechnik zu sein, die mein Vater hier versucht hat.“254

Golo über Gentz Etwas entspannter verhielt sich das Leseverhalten Thomas Manns gegenüber der Biographie, die sein zweitältester Sohn, Golo, 1946 über Friedrich von Gentz vorgelegt hatte. Angesichts des zuvor Gesagten ließe sich behaupten: Golos Gentz konnte er vorbehaltloser aufnehmen, weil ihn diese Biographie weitaus weniger betraf und er diesen Stoff auch nicht selbst nutzen wollte. Eher verhielt es sich so, dass die Gentz-Biographie und dessen Denken Thomas Mann an seine eigenen konser252 In: Die Briefe der Manns,, S. 327. 253 Thomas Mann, Briefe II, S. 470 (Brief v. 30. Dezember 1945). 254 Klaus Mann, Briefe und Antworten, S. 581 (Brief v. 28. Januar 1948).

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vativen Ursprünge erinnert haben dürfte, die er selbst wohl für überwunden gehalten hatte. Vorarbeiten zu seiner Biographie gingen auf das Jahr 1936 zurück. Eineinhalb Jahre nach Klaus Manns halbherzig aufgenommener Lesung aus seinem Tschaikowsky, am 27. Dezember 1936, trug Golo Mann seinem Vater erstmals ein Stück aus seinem Gentz-Manuskript vor – nach dem Hören eines Trios von Schubert. Einstimmung auf die Zeit musste sein. Wie bei Klaus lautete jedoch das erste Urteil etwas lau: „Recht reizvoll“.255 Es war der Tag, an dem Thomas Mann seinen „Brief an den Bonner Dekan“ über die Aberkennung seiner Ehrendoktorwürde zu schreiben begann. Danach lässt sich die Entwicklung von Thomas Manns Urteil über seinen biographierenden Sohn Golo etappenweise im Tagebuch verfolgen. „[…] ausnehmend gescheit und beziehungsvoll“ notiert er über eine weitere häusliche Vorlesung im Sommer 1938, jetzt schon in Princeton; dort nennt er das Gehörte am 2. März 1939 sogar „fesselnd“; und am 26. April 1942 heißt es in Pacific Palisades: „Abends Vorlesung Golo’s aus seinem Gentz-Buch. Namentlich das Schluss-Resumée lobenswert.“ 256 Und das war dieser „Epilog“ auch, in dem sich zum Beispiel diese These fand, die, rein stilistisch gesehen, jene Klarheit in der sprachlichen Darstellung spiegelte, die Golo Mann an Gentz rühmte: „Sein Leben ist seine eigentliche Leistung. Er war […] kein schöpferischer Nationalökonom; aber originell, in Deutschland einzigartig, waren seine Kenntnisse der englischen Wirtschaftsverhältnisse und Wirtschaftstheorien. Er war auch kein Sprachschöpfer, schrieb nicht besser als die besten Schriftsteller in einer Zeit, in der überall gut geschrieben wurde; neu aber war, daß er staatsgelehrten Aufsatz und Zeitungsartikel zur Kunst erhob und an einer Denkschrift wie an einem Gedicht feilte; daß britische, ja daß französische Politiker die lichtvolle Eleganz dieses Deutschen zu Hilfe riefen.“257 Die Resonanz auf die amerikanische Erstausgabe des Secretary of Europe, wie die Yale University Press Golo Manns Gentz-Biographie betitelte, war erheblich, ausgelöst durch eine „große Besprechung“ in der New York Times, wie Thomas Mann seinem Sohn am 16. Juni 1946 nach überstandener schwerer Operation endlich mit (beinahe) uneingeschränktem Vaterstolz schrieb. „Der Gentz hat mich eine ganze Woche lang, die im Übrigen der Vorbereitung zu meiner Operation ge-

255 Thomas Mann, Tagebücher 1935–1936, S. 414. Vgl. zu den näheren Entstehungsumständen und ihrer Entwicklung das Kapitel „Das Erstlingswerk: Friedrich von Gentz“ in: Urs Bitterli, Golo Mann. Instanz und Außenseiter. Eine Biographie. Zürich/Berlin 2004, S. 93–105. 256 Tgb. v. 29.VII.1938, S. 263, S. 367 und S. 423. 257 Golo Mann, Friedrich von Gentz. Gegenspieler Napoleons, Vordenker Europas. Frankfurt am Main 1995, S. 379: erstmals auf Deutsch 1947; die amerikanische Erstausgabe von 1946 trug den Titel: Secretary of Europe. The Life of Friedrich von Gentz; Emil Oprecht brachte dann 1947 die deutsche Ausgabe in Zürich heraus.

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widmet war, beschäftigt und unterhalten. Ich muß sagen, es ist selbst in der Übersetzung, die es doch etwas einebnet und einem bestimmten westlichen Buch-Typus ähnlich macht, ein vortreffliches, wohltuend gescheites, geistig originelles, faszinierendes Buch, das seinem Verfasser alle Ehre macht und ihm gewiß auch praktisch Ehre machen und Förderung bringen wird. Ich kann nicht weiter darauf eingehen, aber gratulieren wollte ich Dir doch noch selber zu der schönen und glücklichen Veröffentlichung.“258 Mit diesem „eingeebneten“, nach „westlichen“, sprich: rein kommerziellen Gesichtspunkten standardisierten „Buch-Typus“, auf den Thomas Mann hier anspielt, ist vermutlich eine Biographie-(Un-)Kultur gemeint, die man im Hause Mann vor allem mit Stefan Zweig und Emil Ludwig verband. Dass Golo Mann zudem auf Anmerkungen verzichtete, um es seiner amerikanischen Leserschaft leichter zu machen,259 rückte seinen Secretary of Europe scheinbar in diese Kategorie. Quellenauswahl und Quellenbehandlung zeugen in seinem Gentz jedoch von wissenschaftlicher Akribie, die sein schon bei seinem Erstling erkennbar erzählerischer Schreibstil keineswegs kompromittierte. Fraglos aber setzte er sich durch seine sprachlich verbindliche, stets auf Anschaulichkeit ausgerichtete Form der Darstellung von dem ab, was die Geschichtswissenschaft nur zögerlich zu schätzen bereit war, nämlich eine auf Lesefreundlichkeit ausgerichtete anschauliche Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge. Noch in seinem biographischen Hauptwerk, Wallenstein, bleibt dieses sprachliche Darstellungsmerkmal prägend. Die Quellen zum Sprechen bringen und durch eine thesenhafte Art der Deutung gerinnen und dadurch überdauern lassen – in seinem Gentz hatte Golo Mann dieses Verfahren erstmals erfolgreich erprobt und das sogar zum Gefallen des (Über-) Vaters. Das Gescheite und Fesselnde, das Thomas Mann in seinen knappen Tagebuchkommentaren zu Golos Gentz-Vorlesungen hervorhob, mag auch darin seine Begründung gefunden haben, dass diese Biographie keinerlei hagiographische Züge aufweist. Im Gegenteil spart sie nicht mit Kritik an Gentz. Golo Mann spricht sogar von Gentzens „Verrat an sich selbst, als Denker und als Staatsmann“, weil er sich zur „Einseitigkeit“ einer Haltung gezwungen habe, die im „Anti-“ verharrte. Jeroen Koch hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der ein Jahr nach seinem Tod veröffentlichten überarbeiteten Fassung von 1995 an dieser Stelle das Wort „Einseitigkeit“ durch „Einsamkeit“ ersetzt wurde.260 Davon auszugehen ist, dass diese Veränderung auf diese Neuausgabe vorbereitende Änderungen zurückgeht, die Golo

258 In: Die Briefe der Manns, S. 334 (m. Hervorh.) 259 So in einem Gespräch mit dem Historiker Karl Dietrich Bracher, Nachweis bei Bitterli, Golo Mann, S. 94. 260 Jeroen Koch, Golo Mann und die Deutsche Geschichte. Eine intellektuelle Biographie. Paderborn u. a. 1998, S. 133.

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Mann noch selbst vorgenommen hat. Womöglich spiegelt diese vielsagende Veränderung mehr als alles andere eine letztlich doch vorhandene Identifikation des Biographen mit dem Biographierten.

Offener Schluss: Vergebliche Liebesmüh. Thomas Manns ungeschriebener Essay über Shakespeare „Thou, nature, art my goddess; to thy law / My services are bound“261, verkündet Edmund, unehelicher Sohn des Earl of Gloucester zu Beginn der zweiten Szene des ersten Aktes in Shakespeares King Lear. Dabei handelt es sich um das erste bekannte Shakespeare-Zitat, das sich bei Thomas Mann findet – und zwar in seinen Notizbüchern. Schon bald nachdem er in München 1894 angekommen war, besuchte er im Wintersemester Vorlesungen über Shakespeare, die Carl von Reinhardstöttner hielt; dessen Studie zu Shakespeares Tragödien verzeichnet der Student aus Lübeck in seiner Leseliste. Überdies liest Mann ausgiebig Shakespeare, wie er in einem Brief an Otto Grauthoff bestätigt, dessen Ambition auf eine Bühnenkarriere er mit einer Empfehlung einer Stelle aus Romeo and Juliet fördern möchte, die sich besonders wirkungsvoll vortragen lasse für den Fall, Grauthoff wolle im Theater vorsprechen.262 Bemerkenswerterweise schlägt er seinem Freund einen Part aus Juliets Monolog vor. Doch gehen wir der Reihe nach vor und damit zurück zu den Versen, die Thomas Mann in August Wilhelm Schlegels Übersetzung mit einer leichten, aber bedeutsamen Abwandlung zitiert: „Natur, du bist mein Gott“, vermerkt er in seinen Notizen, „deinem Gesetz / Ist all mein Dienst geweiht.“263 Er zitiert offenbar aus dem Gedächtnis, wobei aus „die Gottheit“ schlicht „der Gott“ wird und der Natur ihre weibliche Sakralität genommen wird. Doch dürfte aufschlussreicher sein, dass sich der junge Thomas Mann für die Unehelichkeit Edmunds als mögliche Ursache für einen tragischen Konflikt interessiert. In seinem Brief an Grauthoff, geschrieben ungefähr zu der Zeit, als er die Stelle aus King Lear notiert, zitiert er wiederum aus dem Gedächtnis Juliets wiederholtes Drängen: „Come, come […]“ – gleich ob es sich um die „night“ handelt, oder „musical cords“, oder einfach um die „nurse“. In einer Art ‚kreativer Erinnerung‘ gibt Thomas Mann diese Stelle auf eine Art wieder, wie sie so nicht im Original sich findet: „Komm Nacht … / Verhülle mit dem schwarzen Mantel mir / Das wilde Blut, das in den Wangen flattert, / Bis scheue Liebe kühner wird, und nicht / Als Unschuld sieht in inn’ger Liebe Thun.“ Die letzten Worte unterstreicht er, aber bevor wir uns in allzu ‚enthüllende‘ Folgerungen versteigen, gilt es zu beachten, dass

261 In: The Annotated Shakespeare. The Complete Works Illustrated. Edited, with Introductions, Notes, a Biography and Bibliography by A. L. Rowse. London 1984, S. 1887. 262 Thomas Mann, Briefe I: 1889–1913. GKA 21. Ausgewählt und herausgegeben von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini. Frankfurt am Main 2002, S. 28–31, hier: S. 29. 263 Thomas Mann, Notizbücher 1–6, S. 22 (Eintrag Nr. 30). https://doi.org/10.1515/9783110734508-012

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er diese relativierende Bemerkungen sogleich folgen lässt: „Verzeih wenn ich neckisch wurde.“264 Zuletzt obsiegt schon beim frühen Thomas Mann die (Selbst-)Ironie. Aber weder King Lear noch Romeo and Juliet faszinierten Thomas Mann von Shakespeares Dramen am meisten. Bis zuletzt war sein Favorit Othello. Im Oktober 1935 vermerkt er im Tagebuch: „Othello […] Vielleicht Shakespeares bestes Stück. Starke Wirkung auf Gemüt und Geist.“265 Diese doppelte ‚Wirkung‘ war es, die sein Verhältnis zu Shakespeares Kunstwelt am entschiedensten prägte. Diese Vorliebe mag sich in ihm mit einer Kindheitserinnerung verbunden haben, die aus heutiger Sicht ‚politisch‘ nicht ‚unkorrekter‘ sein könnte. Im heimischen Lübeck nannte man „Mohrenköpfe“ in den kultivierteren Chargen der Hansegesellschaft „Othellos“ – mithin etwas Delikates, Verzehrbares.266 Wie dem auch sei, Thomas Manns erste Äußerung zur Othello-Tragödie findet sich in einem Brief an Paul Ehrenberg vom 18. Juli 1901, in dem er einen bemerkenswerten Theaterabend in München erinnert. Dort sah er den großen Shakespeare-Darsteller Adalbert Matkowsky (1857–1909), Erzrivale von Josef Kainz, dessen Hamlet freilich unübertroffen blieb. Matkowsky hinterließ im jungen Autor, der soeben seine Buddenbrooks abgeschlossen hatte, einen starken Eindruck: „Er ist ja ‚alte Schule‘ – ohne daß er deshalb besonders schön spräche – und wirkt oft mit Mätzchen. Aber er hat gewaltige Mittel, zeigte viel psychologische Einsicht und ist entschieden eine Persönlichkeit.“267 Übrigens urteilte ähnlich der alternde Theodor Fontane als Bühnenkritiker; er hielt Matkowsky für „zu theatralisch“. Harscher urteilte Alfred Kerr, nannte er Matkowsky doch einen „Wagnersänger ohne Stimme.“268 Erwähnenswert ist hierbei auch Stefan Zweig, der in einer seiner „Lyrischen Statuen“ in elf Stanzen über Matkowsky als Othello sinnierte. Zweig verfasste das Gedicht als Nekrolog auf den Schauspieler, wobei dieses Verspaar besonders auffällt: „Ein Leuchten im verdunkelten Gesicht, / Als Desdemona sich ihm neigte“.269 Es ist anzunehmen, dass die Neubewertung der Renaissance und die Renaissance Shakespeares überhaupt um 1900 auf den deutschsprachigen Bühnen Thomas Mann motiviert haben dürfte, selbst ein Drama mit diesem Hintergrund zu

264 Thomas Mann, Briefe I, S. 29. 265 Thomas Mann, Tagebuch-Eintrag v. 31. Oktober 1935, S. 197. 266 Vgl. Hermann Kurzke, Thomas Mann, S. 21–22. 267 Thomas Mann, Briefe I: 1889–1913, S. 172. 268 Zitate aus: Gabi Vetterman, Adalbert Matkowsky. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 16. Berlin 1990, S. 382 f. 269 In: Stefan Zweig: Silberne Saiten. Gedichte. 6. Aufl. Hrsg. v. Knut Beck. Frankfurt am Main 2008, S. 182–183, Zitat S. 182.

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erarbeiten. Das Ergebnis war Fiorenza, auch wenn es genuin dramatischer Effekte entbehrte. In künstlerischer Hinsicht diente ihm Shakespeare als Zeuge dafür, dass es mehr darauf ankomme, Charaktere, sinnliche Symbole und überhaupt Stoffe aufzufinden – er nannte im Einzelnen: „das Pittoreske, die Maske, die Geste, die Äußerlichkeit“ – und weniger diese zu erfinden: „Shylocks Judentum, Othello’s Schwärze und Falstaffs Fett“. (X, 17) Mehr noch, Thomas Mann spricht von einer „tiefen und furchtbaren Solidarität Shakespeares mit Shylock“ und er fügt hinzu: „Man muß an dieser Stelle begreifen, daß es eine objektive Erkenntnis im Reiche der Kunst überhaupt nicht gibt, sondern nur eine intuitive.“ (X, 16) Das war Thomas Manns Erkenntnisstand 1906; zwei Jahre danach erörterte er die Grundfragen der Bühne, wie er sie sah, in seinem Versuch über das Theater. Schwerlich konnte überraschen, dass Shakespeare darin eine Hauptrolle spielte und wiederum dessen Othello. In diesem Versuch sprach er von einer typisch deutschen Ehrfurcht vor dem Theater als einer Institution und Bildungsform. Er bezeichnete Shakespeare und nicht die griechische Antike oder die Weimarer Klassik als Grundlage der modernen deutschen Schaubühne. Shakespeares Sprech- und Richard Wagners Opernbühne bildeten gemeinsam, so Thomas Mann, das moderne Theater. Doch darüber hinaus finden sich persönlich motivierte Hinweise auf Othello. Dieser Mehrwert ergibt sich aus dem, was Thomas Mann als realistische Vorstellungskraft und damit Hauptenergie auf der Bühne herausgearbeitet hat. In diesem Versuch spiegelt sich Thomas Manns Faszination mit der Institution ‚Theater‘, dem Theatralischen überhaupt. Er nennt darin die Persönlichkeit und Darstellungsweise des Schauspielers etwas Symbolisches und Zeremonielles, das der Zuschauer auf den jeweiligen Bühnencharakter projizieren kann. Dadurch entstehen Quasi-Identitäten, wobei er dieses Phänomen wiederum an der OthelloFigur exemplifiziert, beziehungsweise an einem Charakter, der Othello gleicht. Er stellt dem Leser das Bild eines edlen und leidenschaftlichen Menschen vor Augen, der von anderen als außergewöhnlich wahrgenommen wird. Aber die Gesellschaft schließt ihn von einem gewöhnlichen ‚glücklichen‘ Leben aus. Sein Wert bemisst sich nur nach dem, was er leistet. Er zahlt den Preis emotionalen Leidens. Er selbst beginnt daran zu zweifeln, ob er überhaupt liebenswert sei. Dann begegnet ihm eine Frau, die ihn für das liebt, was er ist und wofür er bis dahin gelitten hat. Gemeinschaft und Eheglück scheinen greifbar nahe. Doch werden ihm heimlich Gerüchte zugetragen, dass ihn seine Frau betrüge. Obgleich er dafür keine Anhaltspunkte, keinen Beweis findet, wachsen in ihm die Zweifel, und er beginnt sie zu verdächtigen. Dieser Vertrauensverlust nimmt völlig in ihm überhand. Das Ergebnis ist innerer Aufruhr, häusliches Chaos, Mord und Selbstmord. Kurz gesagt: es handelt sich um die Othello-Situation, die Thomas Mann drei Jahre nach seiner Verehelichung mit Katja Pringsheim auf sich bezieht. Es war ein seltsames Geschenk zum Hochzeitstag am 11. Februar 1908, das sich Thomas Mann

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und seiner Frau mit diesem Text machte, wobei er sich selbst, kaum verhüllt, als Othello präsentierte. Er charakterisierte ihn weiter als einen „psychologischen Typus“, der jedoch noch mehr als das verkörpere. Seine Schwärze symbolisiere eine psychische Verfassung von Menschen, die „dunkel“ gestimmt seien im Hinblick auf ihren Charakter, ihre Berufung, ihre Ambitionen. Und Mann fügt hinzu, ein solchermaßen gearteter Charakter solle nicht in den Stand der Ehe treten, nur um eine bürgerliche Existenz zu führen. Bekanntlich sollte Mann später seinem Tagebuch anvertrauen, dass „Leute“ wie er keine Kinder in die Welt setzen sollten. (Tb 20.IX.1918) Thomas Mann fühlte sich offenbar aufgrund seiner homoerotischen Disposition wie ein Othello – eben als das buchstäblich schwarze Schaf in der bürgerlichen Gesellschaft. Thomas Mann lebenslange Beschäftigung mit Shakespeare führte nicht zu einem größeren Essay über diesen Begründer des ‚Welttheaters‘; man könnte behaupten, dass ‚Shakespeare‘ zu den ungeschriebenen biographischen Essays in seinem Werk zählt – neben Turgenjew und Erasmus von Rotterdam, bei dem ihm Stefan Zweig mit seinem Erasmus von 1934 zuvorkam. Von Heinrich Manns autobiographischem Zeitbild Ein Zeitalter wird besichtigt mit dem biographischen Kapitel „Mein Bruder“ wissen wir, dass ein Bildnis von Erasmus „schon vor Zeiten, als Vorahnung, neben dem Schreibtisch meines Bruders hing“.270 Woran lag es, dass es zu keinem Shakespeare-Essay von Thomas Mann kam? Schwerlich an Thomas Manns vornehmer Zurückhaltung dem Barden von Stratford-on-Avon gegenüber. Wohl eher daran, dass ihm Shakespeare ein biographisches Rätsel blieb, und dass er dessen Leben und Werk nicht wirklich miteinander in Einklang bringen konnte. Dabei wäre zumindest ein Gegenstück zum Goethe-Vortrag von 1932 vorstellbar gewesen, eben ‚Shakespeare als Repräsentant des elisabethanischen Zeitalters‘. Mit Bezug auf Max Reinhardt, diesen Dichter der Inszenierungskunst, der seinen Durchbruch mit einer Inszenierung von Shakespeares A Midsummer Night’s Dream erzielte, sprach Thomas Mann von etwas „Süß-Verworrenem, Mondversponnenem“ dieser Kunst, wobei er einmal mehr die Kunst als Vermittlerin zwischen Traum und Wirklichkeit verstand. (X, 490) Das Ausmaß der Selbstidentifikation mit Othello seitens Thomas Manns ist auffallend, wogegen sein Interesse an Hamlet nicht über das zu Erwartende hinausgeht. Wie bei Nietzsche und Dostojewski sieht er in Hamlet einen „satanischen Moralismus“ am Werk (IX, 663), und es kam vor, dass er ein Wort Hamlets gebrauchte, um seinen eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, etwa als er die lo-

270 Zit. in: Wysling (Hrsg.), Thomas Mann / Heinrich Mann, Briefwechsel, S. 407.

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benden Kommentare von Kritikern reflektiert. Dann zitiert er schon mal, wenn auch augenzwinkernd: „Thou com’st in such a questionable shape.“ (X, 816) Im Doktor Faustus schuf Thomas Mann eine Künstlerpersönlichkeit, den Komponisten Adrian Leverkühn, der nicht unbedingt Shakespearesche Charakterdimensionen aufweist, sondern vielmehr Shakespearesche Wesenhaftigkeit. Und das geschieht in Gestalt von Zitaten, die in Leverkühn zusammentreffen wie Teile eines Mosaiks – und das sowohl im Austausch mit seinen wenigen Freunden, einschließlich des Erzählers, Serenus Zeitblom, als auch in seinen Kompositionen. Dazu gehören As you like it, Much Ado about Nothing, The Two Gentlemen of Verona sowie insbesondere Love’s Labour’s Lost – also die frühen Stücke, entstanden zwischen 1592 und 1599; sie hat der Komponist offenbar ständig zur Hand, wenn es gilt, sich eines bestimmten Gedankens zu versichern oder eine eigene Auffassung zu bekräftigen. Leverkühn spricht so nicht selten mit und durch Shakespeare, wobei sich seine Kompositionskunst auf die Sonette konzentriert.271 Das Thema ‚delegierte Liebeswerbung‘, dieser schicksalhafte Augenblick im Roman, als Leverkühn seinen Freund, Rudi Schwerdtfeger, darum bittet, für ihn um Marie Godeau zu werben, steht im Mittelpunkt der langen Schlussphase, die dem Verfall der künstlerischen Produktivität Leverkühns gilt. Der Botengängerfreund verliebt sich in Marie, die auf diese Weise erstmals von Leverkühns Gefühlen für sie hört. Unweigerlich betrügt so der Liebesbote das in ihn gesetzte Vertrauen seines Freundes. In seinem „Roman über einen Roman“, Die Entstehung des Doktor Faustus, erläutert Thomas Mann den Grund für Adrians Entscheidung, seinen Freund um diesen Liebesdienst zu bitten, mit Bezug auf Nietzsche und dessen an Paul Rée gerichtete Bitte, für ihn um Lou von Salomé zu werben, wobei sich dann Rée seinerseits in Lou verliebte; die Begründung verstärkt dann noch ein Zitat aus As you like it – und das wieder in A. W. Schlegels Übersetzung: „Sie wird geneigter deiner Jugend horchen, /Als einem Boten ernsten Angesichts.“ (XI, 167) Abgesehen von As you like it enthalten auch die Shakespeare-Stücke Much Ado about Nothing, The Two Gentlemen of Verona sowie die Sonnets dieses Motiv. Mann bestätigt in einem Tagebucheintrag vom 31. Januar 1944, dass er in Frank Harris’ Biographie Shakespeare, der Mensch und seine tragische Lebensgeschichte, die er in der im S. Fischer Verlag 1928 erschienenen deutschen Fassung gelesen hatte, auf dieses Motiv gestoßen war. Das im Thomas Mann-Archiv der ETA Zürich befindliche Exemplar weist zahlreiche Benutzerspuren, An- und Unterstreichungen auf und belegt das inten271 Claudia Gremler, ’Die unvermeidlichen Sonette’: Thomas Mann und Shakespeare. In: Oxford German Studies 34 (2005) 2, S. 180–188. Vgl. Judith Kegan Gardiner / Dorothy Kegan Gardiner, The Marriage of Male Minds in Shakespeare’s Sonnets. In: The Journal of English and Germanic Philology 84 (1985) 3, S. 328–47.

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sive Interesse, das er an der Biographie Shakespeares hatte. Wichtig hierbei ist, dass er offenbar den Ansatz von Harris goutierte, Leben und Werk als eine Einheit zu verstehen beziehungsweise als sich wechselseitig durchdringende Phänomene. Dass er auch Harris’ spekulative Aussagen über Shakespeare gelten ließ, zeigt, dass er gerade die erzählerischen Züge dieser Biographie schätzte. So streicht er die eher zweifelhafte Charakterisierung des jungen Shakespeare ohne Missfallensvermerk an: „Man muß sich seine vorherrschenden Wesenszüge gegenwärtig halten: daß er von zarter Konstitution und gesteigerter Empfindlichkeit war, nachgiebig und unentschlossen, von einer übermäßigen Liebenswürdigkeit und maßlos im Liebesgenuß.“272 Das sind durchaus zeitübliche Einlassungen, wie wir sie gleichfalls in anderen Biographien der Zeit, etwa bei Emil Ludwig, Jakob Wasserman, aber auch bei Stefan Zweig finden. Die Nachweise für solche Behauptungen verblieben dabei meist das Geheimnis ihrer Verfasser. Doch eine Besonderheit oder eher: Eigentümlichkeit weist Harris’ Biographie auf: Zwar verschränkt er beständig Leben und Werk, versteht Shakespeare gar als den „Kaufmann Antonio“, sieht in den „Tatmenschen“ Shakespeares Ersatzfiguren für seine vermeintlich eigene Handlungsschwäche, stellt aber das „Leben“ Shakespeares in zwei Kapitel an das Ende seiner Studie. Bemerkenswert nun, dass Thomas Mann daran offenbar keinen Anstoß nahm. Unter den Lesespuren in seinem Exemplar von Harris’ Shakespeare sind Fragezeichen selten. Aber gleich zwei vermerkt er zu Harris’ Othello-Kommentaren, und zwar zu dieser Stelle: „Jagos Gemeinheit ist zu grausam, zu beharrlich, um menschlich zu sein. Vollkommene, mitleidslose Bosheit ist ebenso unmöglich im Menschen wie vollkommene angeborene Güte.“273 Die Fragezeichen mögen indizieren, dass vor dem Zeithintergrund von Thomas Manns Lektüre der Harris-Studie eben gerade die absolute Bosheit und Bösartigkeit von Menschen politisch-ideologisch evident geworden war. In seiner eigenen Wertung der Dramen Shakespeares dürfte Thomas Mann nicht mit Harris’ Skala übereingestimmt haben, da dieser Hamlet noch eindeutig über Othello angesiedelt hatte, was schon aus dem Aufbau seiner Studie hervorgeht.274 Ein Hauptmotiv bei Harris ist tatsächlich das Werber-Motiv, wobei Thomas Mann das „Sich-selbst-Bemitleiden“ als ein undramatisches Motiv mit einem Ausrufungszeichen versieht: „Welch ein Drama würde das geben, wenn der Held zu

272 Frank Harris, Shakespeare der Mensch und seine tragische Lebensgeschichte. Unter Mitwirkung von Antonia Vallentin. Frankfurt am Main 1928, S. 342. 273 Ebd., S. 269. 274 Harris platzierte Hamlet prominent am Anfang seines Buches. In der Wertschätzung verdrängte danach King Lear als „Drama des Wahnsinns“ (Harris) erst allmählich Hamlet, wie Mathias Mayer gezeigt hat in: King Lear – Die Tragödie des Zuschauers. Ästhetik und Ethik der Empathie. Göttingen 2022.

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beichten hätte, daß er in seinen reifsten Jahren sich in ein Mädchen verzweifelt verliebte und albern genug war, einen Freund, einen jungen Edelmann, als Werber zu schicken, mit dem Ergebnis, daß das Mädchen den Freund für sich gewann und sich ihm gab?“275 Die „Selbstenthüllung“, so Harris, habe Shakespeare in seinen Dramen viel vollkommener vorgenommen als in seinen Sonetten, die ‚femininer‘ gestaltet seien. Ein sprechendes Beispiel dafür, wie Harris Biographie und Werk zu verknüpfen suchte, gleichfalls von Thomas Mann bei seiner Lektüre hervorgehoben, betrifft die Art, wie er eine motivische und stilistische Eigenheit wertete. Die „dunkle Dame der zweiten Sonettenreihe“ setzt er in Beziehung zu Rosalie in Romeo and Juliet und Love’s Labour’s Lost. Ihr „leichter Sinn in einer dunklen Schönheit“, mehrfach wiederholt, hält Harris für ‚verräterisch‘: „Diese unnötigen Wiederholungen beweisen mir, daß Shakespeare seine Geliebte schilderte, wie sie leibte und lebte.“276 Unwichtig ist, ob diese These plausibel ist oder nicht. Wesentlich für unseren Zusammenhang dagegen ist der Umstand, dass Thomas Mann offenbar Harris’ Ansicht teilte und nicht mit einem Fragezeichen versah. Vertrauensverlust, das Spiel mit den Gefühlen anderer sowie Geschlechterfragen gehören konstitutiv zu Shakespeares frühen Stücken. So soll Viola in der vierten Szene des ersten Aktes in As you like it als Mann verkleidet für ihren Herrn werben. Das bedeutet: Der Akt der Täuschung wird eigens – für den Zuschauer unmittelbar erkennbar, der damit zum Mitwisser wird – verkleidet. In gewisser Weise nahm Leverkühns Arbeit an seiner opera buffa nach Shakespeares Love’s Labour’s Lost die spätere tiefe Enttäuschung, die ihm sein Freund bereiten wird, vorweg. Im XXIV. Kapitel des Romans erleben wir eine sprachliche Charakterisierung von Leverkühns komischer Oper nach einem Libretto, das Thomas Mann als Idealfall für eine Mozartoper bezeichnen sollte.277 Durch seine Beschäftigung mit Shakespeare gewinnt Leverkühn, ansonsten eher schwermütig veranlagt, erstmals eine Art mozartischer Leichtigkeit: „Dies teils aus dem Grunde, weil die geschwinde und abgerissene, wortwitzig kurz ausgestoßene Prosa dem Komponisten Akzenterfindungen von ganz besonderer Skurrilität eingegeben hatte, teils aber auch, weil in der Musik das bedeutend Wiederkehrende und schon Vertraute, die geistreiche oder tiefsinnige Anmahnung immer das Sprechend-Eindrucksvollste ist, und weil in dem zweiten Monolog sich Elemente des ersten auf köstliche Art wieder in Erinnerung brachten.“ (VI, 287) Durch Leverkühn und gerade diese Komposition von „Shakespeares satirischem Jugendwerk“ gewinnt der Leser einen Eindruck davon, was Thomas Mann 275 Harris, Shakespeare, S. 273. 276 Ebd., S. 220. 277 Thomas Mann, Tagebücher 1944–1946, S. 515.

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an einem eventuellen biographischen Essay über den Verfasser von Love’s Labour’s Lost und Othello gereizt haben könnte – mit den Worten des Erzählers Zeitblom gesagt, „Shakespeares Karikatur des Humanismus“. (VI, 289) Da ja auch der Humanismus ein Ismus und damit eine zumindest Quasi-Ideologie ist, würde Thomas Mann den großen Barden des Elisabethanischen Zeitalters wohl als einen Anti-Ideologen vorgestellt haben. Er war eben kein Erasmus, sondern ein Dramatiker, der „eine verschrobene Ideenordnung“ favorisiert hatte, in der „Bildung“ und „Barbarei“ ebenso ineinander übergingen wie in Leverkühns fiktiver Shakespeare-Komposition als einem der vielen Werke des Komponisten im Werk des Romans – aus der Sicht des Publikums, für das Zeitblom hier spricht: „Bewunderung und Traurigkeit. Und wie das, dieses Letztere? Die Bewunderung galt einem witzig-melancholischen Kunststück, einer heroisch zu nennenden intellektuellen Leistung, einer knappen Not, die sich als übermütige Travestie gebärdete, und die ich nicht anders zu kennzeichnen weiß, als indem ich sie ein nie entspanntes und spannend halsbrecherisches Spielen der Kunst am Rande der Unmöglichkeit nenne.“ (VI, 290) Und auf ein solches „halsbrecherisches Spielen“ der Essaykunst Thomas Manns „am Rande des Unmöglichen“ wäre denn wohl auch ein solcher biographischer Essay über Shakespeare hinausgelaufen. Von Interesse ist übrigens hierbei auch eine philologische Einzelheit. Thomas Mann zitierte aus Wolf Graf Baudissins Übersetzung von Love’s Labour’s Lost, wobei er mindestens einen groben Fehler mit übernahm, und zwar in der Wiedergabe der Verse 516/17: „Their form confounded makes most form in mirth, /When great things labouring perish in their birth“. Baudissin übersetzt verfälschend: „Verfehlte Form wird Form für neuen Spaß, /Man lacht des Bergs, der einer Maus genas“ anstatt: „Wenn Großes nur Verderbnis schafft, wenn es gebärt“.278 Wichtig ist diese Diskrepanz deswegen, weil diese Stelle recht genau Leverkühns kompositorisches Verfahren beschreibt. Die vermutete Größe dieser seiner Musik schafft gleichzeitig Problemzonen, die seinen eigenen Fall vorwegnehmen. Unabhängig davon war Thomas Mann überzeugt, dass diejenigen Teile seines Romans, die von Shakespeare inspiriert waren, die intensivste Wirkung erzielen würden. Auch in den Folgejahren befasste ihn Shakespeare bis zuletzt, einschließlich der biographischen Arbeit von Charlton Ogburn über Edmund de Vere, den dieser als den „wahren Shakespeare“ ausgab. Diese biographische Studie erschien 1947 unter dem Titel The Renaissance Man of England und drei Jahre später auf Deutsch. Mann nannte sie „unglaubwürdig“ und befand: „Das Geheimnis bleibt. Nichts stimmt, nichts ist deutlich – nach den paar Jahrhunderten.“279 Seiner Auffassung nach blieb dieses ‚Geheimnis‘ namens Shakespeare geradezu erfreulicher278 Ebd., S. 515. 279 Tb, 18.VI.1950, S. 202.

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weise ungelüftet; denn nichts ist für einen Künstler reizvoller als das Unbestimmte, das Ungewisse, Unsichere. In einer Hinsicht jedoch war sich Thomas Mann sicher, und zwar mit Shakespeares Prospero: „And my ending is despair“, eine Zeile, die er zuletzt wiederholt zitierte, jedoch ohne die folgenden Verse: „Unless I be relieved by prayer, /Which pierces so that it assaults/Mercy itself and frees all faults. /As you from crimes would pardon’s be,/Let your indulgence set me free.“280 Angesichts dieser Umstände schien Thomas Mann wohl einen Essay über Shakespeare gleichfalls für eine ‚vergebliche Liebesmüh‘ gehalten zu haben.

280 Shakespeare, Complete Works, S. 2443.

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