Therese Huber und Emil von Herder: Zum Geschlechterdiskurs um 1800 9783110930283, 9783484321243

The interaction between the theory and practice of gender systems around 1800 is studied here with reference to the corr

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Therese Huber und Emil von Herder: Zum Geschlechterdiskurs um 1800
 9783110930283, 9783484321243

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der biographische Hintergrund. 2.1. Therese Huber. Lebensphasen
2. Der biographische Hintergrund. 2.2. Emil von Herder. Lebensspuren
3. Erklärungsansätze für das Scheitern der Beziehung
4. »Weiber Freundschaft« versus »Männerverbindung«
5. Herrschaft und Gehorsam: Ein Vergleich mit Rousseaus Emil
6. ›Männlich‹ und ›weiblich‹ um 1800
7. Intellekt und Bildung. Teil 1
7. Intellekt und Bildung. Teil 2
8. Mutterliebe und Herrschaft
9. Der Brief als Medium der Beziehung
10. Schlußbetrachtung
Archiv- und Literaturverzeichnis
Anhang

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Untersuchungen zur deutschen Litern turgesch ich te Band 124

Petra Wulbusch

Therese Huber und Emil von Herder Zum Geschlechterdiskurs um

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-32124-5

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://wmv.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Gabriele Herbst, Mössingen Druck: Laupp & Göbel, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Die Arbeit wurde 2003 unter dem Titel »Gehorsam, Therese Hubers Briefwechsel schlechterdiskurs

am schönsten frei«.

mit Emil von Herder als Beitrag zum

Ge-

um 1S00 zusammen mit der Edition der Briefe Therese

Hubers des Jahrgangs 1 8 1 1 (Therese Huber: Briefe. Hg. von Heuser. Bd. 4: 1810-1811.

Magdalene

Bearb. von Petra Wulbusch. Tübingen

2001)

vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie angenommen. Sie wurde für den Druck gekürzt und leicht überarbeitet. Mein Dank gilt Frau Professor Dr. Magdalene Heuser für die Betreuung und Begutachtung und Herrn Professor Dr. Winfried Woesler für die Begutachtung der Arbeit sowie den jetzigen und ehemaligen Mitarbeitern der Arbeitsstelle Therese Huber an der Universität Osnabrück für ihre Unterstützung.

V

Inhaltsverzeichnis

ι. Einleitung

ι

2. Der biographische Hintergrand 2.1. Therese Huber. Lebensphasen 2.2. Emil von Herder. Lebensspuren

16 16 22

3. Erklärungsansätze für das Scheitern der Beziehung

73

4. »Weiber Freundschaft« versus »Männerverbindung«

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5. Herrschaft und Gehorsam: Ein Vergleich mit Rousseaus Emil...

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6. >Männlich< und >weiblich< um 1800 6.1. Zum Diskurs über die Geschlechtscharaktere bei Rousseau, Campe, Brandes, Pockels und Schlegel 6.2. Ludwig Ferdinand Huber. Synthese von >Männlichkeit< und >Sanftheit< 6.3. Emil von Herder. Probleme der Erziehung zur >Männlichkeit< 6.4. Gottlieb von Greyerz. Der >unmännliche< Mann 6.5. Philipp Emanuel von Fellenberg. Besänftigung des Mannes als Bestimmung der Frau

125 125 136 147 152 159

7. Intellekt und Bildung 7.1. Vorstellungen von weiblicher und männlicher Intellektualität um 1800 7.2. Therese Hubers Konzept und Praxis intellektuellen Miteinanders von Mann und Frau 7.3. Lehrer, Schüler, Mitschüler 7.4. Töchtererziehung als Problem

164

179 198 206

8. Mutterliebe und Herrschaft 8.1. Mann versus Sohn

229 229

164

VII

8.2. Mütterliche Rechte und männliche Autorität

236

8.3. Mütterliche Autorität und Mutterliebe bei Rousseau, Campe, Brandes und Pockels

243

8.4. Erziehung versus Mutterliebe

253

9. Der Brief als Medium der Beziehung

270

9.1. Brief und >Weiblichkeit
Diskurs< »institutionalisierte b z w . 5 6

7

8

institutionali-

Prokop: Die Einsamkeit der Imagination, S. 345; ähnlich: dies.: Die Illusion vom Großen Paar, Bd. 1, S. 1 0 1 . Vgl. Prokop: Die Einsamkeit der Imagination, 8.332!.; Christine Garbe: Die >weibliche< List im >männlichen< Text. Jean-Jacques Rousseau in der feministischen Kritik. Stuttgart, Weimar 1992, S. 1 4 1 - 1 5 6 . Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gefühlsprogrammen vgl. Klaus P.Hansen: Einleitung. Emotionalität und Empfindsamkeit. In: ders. (Hg.): Empfindsamkeiten. Passau 1990, S . 7 - 1 3 ; zum Freundschaftsdiskurs vgl. Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. V o m Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle/Saale 1936; Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984; Wolfram Mauser, Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18.Jahrhundert. Tübingen 1991; zum Diskurs über Liebe: Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. 2. Aufl. Halle/Saale 1 9 3 1 ; Julia Bobsin: V o n der Werther-Krise zur LucindeLiebe. Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770-1800. Tübingen 1994; zum Mutterliebediskurs: Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. München, Zürich 1981; Yvonne Schütze: Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters »Mutterliebe«. Bielefeld 1986; Hilge Landweer: Das Märtyrerinnenmodell. Zur diskursiven Erzeugung weiblicher Identität. Pfaffenweiler 1990. Vgl. hierzu u.a. Volker Hoffmann: Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechtercharakteristik der Goethezeit. In: Karl Richter, Jörg Schönert: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Stuttgart 1983, S. 80-97; Sigrid Lange (Hg.): O b die Weiber Menschen sind. Geschlechterdebatten um 1800. Leipzig 1992. 3

sierbare Redeweisen«. 9 Sabine Hofmann definiert den Begriff als »Ensembles von Regelhaftigkeiten, die eine Praxis wissenschaftlichen Redens oder Schreibens regulieren«; Diskurse »regeln, was zu einem bestimmten Zeitpunkt sagbar ist.« 10 Diese Definitionen beziehen sich auf die komplexen Ausführungen Michel Foucaults über das Wesen des Diskurses. Geschlecht, Mutterliebe, Liebe und Freundschaft sind durch solche Redeweisen geregelt und definiert beziehungsweise entstehen erst durch diese Redeweisen. Sie werden diskursiv erzeugt, ebenso wie die Subjekte, die sich unter der Wirkung, genauer: als Effekt der Diskurse ausbilden. Foucaults Theorie ist in diesem Punkt radikal: Nicht das denkende und handelnde Subjekt manifestiert seine Wünsche im und durch den Diskurs, sondern es ist selbst eine Wirkung des Diskurses. Dies aber nicht in dem Sinne, daß der Diskurs ein in sich geschlossenes Subjekt hervorbringt, das dann diskurskonform denkt oder handelt. Es positioniert sich vielmehr innerhalb verschiedener Diskurse, d.h. es ist dezentral, verstreut, diskontinuierlich. Es >macht< die Diskurse nicht und in ihm verschmelzen sich auch nicht die unterschiedlichen Diskurse zu einer Einheit: »Der so begriffene Diskurs ist nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts: Im Gegenteil handelt es sich um eine Gesamtheit, worin die Verstreuung des Subjekts und seine Diskontinuität mit sich selbst sich bestimmen können.« 11 Zersplittert, passiv, determiniert scheint das Subjekt angesichts der Allmacht der Diskurse. An dieser Vorstellung hat man vielfach Anstoß genommen. 12 »Obwohl es zutrifft, daß Diskurse die Realität und die Subjekte, auf die sie sich beziehen, zum Teil erst produzieren, folgt daraus nicht die völlige Determinierung der Subjekte oder der Ordnung, in der sie sich befinden«, argumentiert Susanne Opfermann und verweist erstens auf Widersprüche zwischen den verschiedenen Diskursen und zweitens auf Widersprüche innerhalb eines Diskurses.1-1 An diesen Konflikt- und Bruchstellen ergeben sich für das Subjekt Möglichkeiten, der Macht der Diskurse entgegenzutreten, aktiv zu wer9

10

11 12

13

Michael Maset: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. Frankfurt a.M., N e w Y o r k 2002, S. 27. Artikel >Diskurs< in: Renate Kroll (Hg.): Metzler Lexikon. Gender Studies. Geschlechterforschung. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2002, S. 71. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1973, S. 82. Heike Raab: Foucault und der feministische Poststrukturalismus. Dortmund 1998, S. 6of. Susanne Opfermann: Diskurs, Geschlecht und Literatur. Amerikanische Autorinnen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar 1996, S. 33.

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den, kreatives Potential z u entfalten. 1 4 W e n n im folgenden die W i r k u n gen des Geschlechterdiskurses auf die Beziehung H u b e r - H e r d e r beziehungsweise auf das Schreiben über diese Beziehung untersucht werden, dann ist insbesondere nach den Widersprüchen zwischen den Diskursen und innerhalb eines Diskurses sowie nach dem kreativen Potential des Subjekts zu fragen. U m die Standpunkte der beiden Korrespondenten innerhalb des Diskurses einschätzen u n d die erwähnten Widersprüche herausarbeiten zu können, werden in der Hauptsache vier Texte aus der zweiten H ä l f t e des 18. und v o m Beginn des 19. Jahrhunderts in die A n a l y s e mit einbezogen. A n erster Stelle ist Jean-Jacques Rousseaus 1762 erschienene und vielgelesene Schrift Emil oder Über die Erziehung

z u nennen. 1 5 H u b e r kannte

Rousseaus Text, so daß seine A u f n a h m e in die U n t e r s u c h u n g v o n großer Wichtigkeit ist. Insofern kann diese A r b e i t auch ein Beitrag zur Geschichte der £7«z'/-Rezeption sein. 16 D e s weiteren sind drei deutsche Publikationen - stellvertretend für die übrigen Stimmen des Diskurses über die Geschlechterordnung - herangezogen w o r d e n : Joachim Heinrich C a m p e s Väterlicher

Rath für

meine

Brandes' Betrachtungen I8O2 iS

Geschlechts.19

15

16

17

lS

19

erstmals erschienen 1789, 17 Ernst

das weibliche

Geschlecht

aus dem Jahr

und C a r l Friedrich Pockels' etwa zur gleichen Zeit w i e die Be-

trachtungen

14

Tochter,

über

veröffentlichter Versuch einer Charakteristik

des

weiblichen

C a m p e s B u c h w u r d e mehrfach aufgelegt und z u einem

Opfermann: Diskurs, Geschlecht und Literatur, S. 34. Im folgenden zitiert nach: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder U b e r die Erziehung. 10. A u f l . Paderborn u.a. 1991; vgl. hierzu vor allem Christine Garbe: Sophie oder die heimliche Macht der Frauen. Zur Konzeption des Weiblichen bei J.-J. Rousseau. In: Ilse Brehmer u.a. (Hg.): Frauen in der Geschichte IV. »Wissen heißt leben ...«. Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1983, S. 65-87; dies.: Die >weibliche< List im >männlichen< Text. Z u Therese Hubers Rousseau-Rezeption vgl. Heide v o n Felden: Die Frauen und Rousseau. Die Rousseau-Rezeption zeitgenössischer Schriftstellerinnen in Deutschland. Frankfurt a.M., N e w Y o r k 1997, S. 188-196. Im folgenden zitiert nach: Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück z u m Theophron. Der erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet. Braunschweig 1790. Ernst Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht und dessen Ausbildung m dem geselligen Leben. T. 1—3. Hannover 1802. Carl Friedrich Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen G e schlechts. Ein Sittengemählde des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens. Bd. 1-5. Hannover 1797-1802. Ergänzend wurde herangezogen: ders.: Der Mann. Ein anthropologisches Charaktergemälde seines Geschlechts. Ein Gegenstück zu der Charakteristik des weiblichen Geschlechts. Bd. 1-4. Hannover 1805-1808.

5

Klassiker unter den Erziehungsschriften. Für die Auswahl von Pockels' Text spricht sowohl dessen Bedeutung in der zeitgenössischen Diskussion als auch die Tatsache, daß man gerade hier von »einer Art Kompendium«20 sprechen kann, in dem der Autor Frauen- und Männerbilder aus der älteren Literatur und eigenen Überlegungen zusammengestellt hat, ohne die dadurch entstehenden Widersprüche zu glätten. Anders als im Fall des Emil existiert meines Wissens aber kein Beleg dafür, daß Huber Pockels' und Campes Texte rezipierte.21 Brandes' für die Diskussion um 1800 ebenfalls wichtige Betrachtungen stellen eine Überarbeitung beziehungsweise »Auswalzung«22 der Thesen seines 1787 veröffentlichten Buches Ueber die Weiber23 dar, das Huber bekannt war. Der Verfasser war der Bruder ihrer Stiefmutter Georgine Heyne und schickte seiner Nichte im Oktober 1787 ein Exemplar seiner Schrift.24 Grundtenor und Hauptthesen der Betrachtungen, die Huber zumindest 1808 noch nicht gelesen hatte,2' waren ihr also wahrscheinlich durch Ueber die Weiber bekannt. Die Betrachtungen bieten, im Unterschied zu dem älteren Text, den Vorteil, daß statt spitzer »Polemik« eine »Analyse der bestehenden Lage«26 geboten wird mit ausführlichen Stellungnahmen des Autors, wodurch dieser ein breites Panorama des Miteinanders von Mann und Frau im gehobenen Bürgertum zeichnete. An den inhaltlichen Gemeinsamkeiten dieser vier hier exemplarisch herangezogenen Publikationen lassen sich einerseits die als verbindlich geltenden Ideen zur Geschlechterordnung ablesen, mit denen der einzelne sich um 1800 konfrontiert sah. Andererseits eröffneten die Unterschiede, wie zu zeigen sein wird,

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Magdalene Heuser: »Das beständige Angedencken vertritt die Stelle der Gegenwart«. Frauen und Freundschaften in Briefen der Frühaufklärung und Empfindsamkeit. In: Wolfram Mauser, Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991, S. 142. 21 Allerdings könnte Therese Forster-Huber Anfang September 1789 Campe persönlich kennengelernt haben, als dieser Georg Forster in Mainz »einen halben Tag« besuchte. Von Campe als Pädagogen hielt Forster offenbar auf Grund des persönlichen Kennenlernens sehr wenig (Georg Forster an Christian Gottlob Heyne, 7. September 1789, in: Georg Forster: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Bd. 15. Berlin 1981, Nr. 201). Forster erwähnt zwar den Väterlichen Rath (Ebenda, Nr. 222), aber es bleibt offen, ob Therese Forster(-Huber) das Buch las. 22 Carl Haase: Ernst Brandes 1758-1810. Bd. 1. Hildesheim 1973, S. 209. 23 [Ernst Brandes:] Ueber die Weiber. Leipzig 1787. 24 Haase: Ernst Brandes, Bd. 1, S. 196. 2 ' Therese Huber an Paul Usteri, 6. Juli 1808 (BTH, Bd. 3). 16 Haase: Ernst Brandes, Bd. 1, S. 209.

6

dem Subjekt eine gewisse Bandbreite an Handlungs- und Argumentationsmöglichkeiten. Inwiefern diese Möglichkeiten konkret erkannt und genutzt wurden, ja ob überhaupt ein Bedarf an solchen Möglichkeiten bestand, kann exemplarisch anhand der Briefe Hubers an und über Herder besonders gut untersucht werden. Einerseits wegen der schieren Materialfülle an Briefen und Dokumenten zu dieser Beziehung: Das in der Forschung bisher weitgehend unbekannte Textkorpus gestattet minutiöse Einblicke in die Praxis der Lebenszusammenhänge (Denken, Fühlen und Handeln) einer bürgerlichen Frau um 1800. Andererseits wegen der Besonderheiten der Beziehung: Sie scheint anfänglich in ihrem Charakter zwischen unterschiedlichen Beziehungstypen (Freundschaft, Liebe) zu changieren, so daß es für die Beteiligten nahelag, die Definition ihrer Gefühle zu problematisieren. Damit rückten auch die entsprechenden Diskurse ins Blickfeld, wurden zum Gegenstand des Nachdenkens und Schreibens. Die Besonderheit, daß eine Mann-Frau-Beziehung hier als eine MutterSohn-Verbindung bestimmt und gelebt wurde, ist zudem vor allem hinsichtlich des Diskurses über die Geschlechtscharaktere bedeutsam: Die Mutter als die Dominante, Machtvolle entsprach, wie Prokop hervorhebt, nicht dem sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Literatur durchsetzenden Ideal der Kind-Frau, ein Ideal, das auch in weiten Teilen den Diskurs über die Geschlechtscharaktere prägte. Ein Rekurs auf die Mutter-Sohn-Konstellation vor dem Hintergrund dieses Diskurses war demnach nicht ganz unproblematisch. Im Schreiben über diese Beziehung wurde der Geschlechterdiskurs daher immer wieder thematisiert. Die verschiedenen Besonderheiten der Beziehung Huber-Herder führen also dazu, daß die Regeln, Definitionen und Grenzziehungen, die die Diskurse ausmachen, sichtbar werden. Der Diskurs über die Geschlechtscharaktere ist außerdem nicht unabhängig zu denken von der Frage nach den Machtverhältnissen zwischen Mann und Frau. Diese Schlußfolgerung ergibt sich schon aus der Tatsache, daß die Machtfrage für Huber fast immer auch eine Frage des Geschlechterverhältnisses war und umgekehrt: Machtanspruch oder -ausübung wurden von ihr vor dem Hintergrund der Kategorie >Geschlecht< thematisiert; kam umgekehrt das Thema >Geschlecht< in ihr Blickfeld, stellte sich zugleich häufig auch die Machtfrage. Die starke Verzahnung dieser beiden Beziehungsaspekte in Hubers Denken ergab sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der im Diskurs geregelten hierarchischen Struktur der Ordnung der Geschlechter um 1800, in der der Mann grundsätzlich die Frau dominieren sollte, und Hubers bestimmendem Charak7

ter. Caroline von Herder, Emil von Herders Mutter, beschrieb sie einmal sehr zutreffend als ein »präponterantes Wesen«, sie habe »mächtig und herrschend auf ihre beiden Männer gewürkt«. 27 Es existierte also ein Konflikt zwischen Ich und Ordnung, der im folgenden nachzuzeichnen sein wird. Dieser Konflikt war für Huber kein bloßes Abstraktum oder entzündete sich ausschließlich an ihrer - dem Diskurs zufolge - >unweiblichen< Tätigkeit als Schriftstellerin, sondern kam auch in ihren privaten Beziehungen voll zum Tragen. Das gilt ganz besonders für die Verbindung zu Herder, die sich von Anfang an als äußerst spannungsreich erwies und zu einem jahrelangen Machtkampf entwickelte. Die Auseinandersetzungen zwischen Huber und Herder sind für die vorliegende Untersuchung deshalb so interessant, weil Huber sich durch sie immer wieder veranlaßt sah, über die Themen >Macht< und >Geschlecht< zu schreiben. Es liegt also nahe, ihren Vorstellungen von Macht und Gehorsam im folgenden genauer nachzugehen. Dazu bietet Foucaults Beschreibung der Funktionsweisen von Macht die Möglichkeit einer breiteren Differenzierung als eine Vorstellung, nach der Macht als statisch und als nur von oben nach unten wirkend gedacht wird. »Ein Machtverhältnis«, so Foucault, »errichtet sich auf zwei Elementen, ohne die kein Machtverhältnis zustandekommt: so daß der andere (auf den es einwirkt) als Subjekt des Handelns bis zuletzt anerkannt und erhalten bleibt und sich vor dem Machtverhältnis ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen, Erfindungen eröffnet.« 28 Macht ist demnach bei Foucault dezentral, plural, heterogen und zeitlich begrenzt. Es gibt keine klare Aufteilung in Machthaber und Opfer; Macht ist keine Einbahnstraße, keine bloße Repression. Sie entsteht in und ist Teil von Interaktionen. Eine solche Interaktion läßt sich beispielhaft an der konfliktreichen Beziehung Huber-Herder und Hubers Schreiben darüber nachvollziehen und untersuchen. Die Verbindung kann als ein von beiden Seiten unternommener und letztendlich scheiternder Versuch begriffen werden, ein kompliziertes Machtverhältnis zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Gefragt werden soll vor allem nach dem Wechselspiel zwischen den involvierten Personen und den Diskursen: Welche Positionen gab es? Wo ergaben sich Fronten, wo Ubereinstimmungen? Wo verliefen Grenzen und wie wurde mit diesen umgegangen? Wer setzte sich durch und wer 27

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Caroline von Herder an Emil von Herder, 26. August 1809 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/3 3 6,3). Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim 1994, S. 254. 8

gab nach? Wie sahen etwaige Kompromisse aus und wie wurden sie erarbeitet? Welche Wirkungen oder gar Deformationen zog dieser Interaktionsprozeß nach sich in bezug auf das Selbstbild, die Wahrnehmung des Gegenübers, Definitionen von so grundlegenden Begriffen wie Weiblichkeit, Männlichkeit, Mutterliebe und Freundschaft? Und wo gab es für die Frau oder den Mann Freiräume, d.h. Möglichkeiten der Emanzipation von der Ordnung? Die Frage nach der Interaktion hat wissenschaftsgeschichtlich die frühere, engere Fragestellung weitgehend abgelöst, bei der im Vordergrund stand, wie Frauen auf das ihnen von Männern oktroyierte Frauenbild reagierten; ob sie Widerstand leisteten und wenn ja, in welcher Form. 2 ' Die veränderte Forschungsperspektive entwickelte sich in den ijSo/cjoer Jahren und fand im Paradigmenwechsel von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte (einschließlich der sich neu etablierenden Männergeschichte) beziehungsweise von den Women's Studies zu den Gender Studies ihren Ausdruck. Sie trägt der Erkenntnis von der gegenseitigen Abhängigkeit der Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstrukte Rechnung. Das Interesse an Therese Hubers Frauenbild ist nun zu ergänzen durch das an ihrem Männerbild. Welche Auswirkungen hatten die theoretischen Frauen-/Männerbilder und Beziehungsentwürfe auf das gelebte Leben, und zwar nicht nur auf das einer bestimmten Frau, sondern auch auf das eines Mannes, der durch die Frau mit bestimmten Rollenangeboten und Projektionen konfrontiert wurde. Was konnten die von Männern entwickelten Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen, wenn sie über den Umweg über die Frau auf die Männer zurückfielen, für letztere bedeuten? Welche Dynamik konnte aus diesem Wechselspiel entstehen? 3 " 19

Zur Frage nach den Formen des Widerstandes vgl.: Claudia Honegger, Bettina Heintz (Hg.): Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen. Frankfurt a.M. 1981; Ute Frevert: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit. Frankfurt a.M. 1986, S. 12; Marita Romann: Alternative Fictions: German Woman Writers and the Discourse on Femininity around 1800. San Diego 1995, S. 1; Birgit Wägenbaur: Die Pathologie der Liebe. Literarische Weiblichkeitsentwürfe um 1800. Berlin 1996, S. 16; Vibha Bakshi Gokhale: Walking the tightrope. A feminist reading of Therese Huber's stories. Columbia 1996, S. 3.

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Thomas Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte. In: ders. (Hg.): Männergeschichte — Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Frankfurt a.M., N e w Y o r k 1996, S. 10: »Anstöße für einen genaueren Blick auf das männliche Geschlecht vermittelte die Einsicht, daß nicht nur Frauen, sondern auch Männer durch das System des >Patriarchats< unterdrückt wurden, und ebenso, daß die bloße Untersuchung der Erfahrung der Unterdrückten immer nur unzulängliche Erkenntnisse über Herrschaftsstrukturen zeitigt, wenn sie nicht gleichzeitig auch die Perspektive der Herrschenden und

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Die Textsorte Brief ist wegen ihres Dialogcharakters, der Interaktion zweier Personen miteinander für die oben skizzierten Fragen interessant. Einem Briefwechsel von zweien oder mehreren Personen wohnt naturgemäß eine spezielle Dynamik inne, die eine Abhandlung oder Erzählung in dieser Form nicht aufweist. In der Abfolge von Briefen und Gegenbriefen läßt sich deutlich verfolgen, wie Ideen in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber bestätigt, modifiziert oder schließlich verworfen werden. Briefwechsel können veranschaulichen, wie sich »männliche und weibliche Lebenspraxis [...] im alltäglichen Mit- und Gegeneinander der Geschlechter« entwickeln. 31 Im Fall der Korrespondenz zwischen Huber und Herder müssen und können die Äußerungen des letzteren aus den Briefen Hubers erschlossen werden. Diese wiederholte in ihren Antwortbriefen die entsprechenden Bezugspunkte aus Herders Ausführungen ausdrücklich, bevor sie sich mit ihnen im einzelnen auseinandersetzte. Briefe bieten noch einen anderen Vorteil: Als historische Dokumente eröffnen sie einen Einblick in das Zusammenleben von Männern und Frauen um 1800, den weder Romane noch zeitgenössische Abhandlungen in dieser Unmittelbarkeit aufweisen. 32 Es ist weiterhin ein Desiderat der Forschung, die auf der Grundlage theoretischer Texte erarbeitete These vom »Konstitutionsprozeß neuer Normen und Werte« im Geschlechterverhältnis um 1800 an realgeschichtlichen Quellen zu überprüfen. 33 Dies zeigt beispielsweise Anne-Charlott Trepps Untersuchung der von Angehörigen des Hamburger Bürgertums in den Jahren 1770 bis 1840 verfaßten Briefe, Tagebücher und Autobiographien, in denen sich das Miteinander von Männern und Frauen differenzierter und facettenreicher darstellt, als es die anhand theoretischer Texte erarbeitete These von der Polarisierung der Geschlechtscharaktere erwarten ließ.34 So gesehen sind die hier

31

32 33

34

damit das Beziehungssystem zwischen diesen und jenen ausleuchtet.«; Ute Frevelt: Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit. In: Ebenda, S. 70; Renate Hof: Die Grammatik der Geschlechter. Gender als Analysekategorie der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M., N e w Y o r k 1995, S. 94. Gert Dressel: Historische Anthropologie. Eine Einführung. Wien, Köln, Weimar 1996, S. 100. Reinhard M. G . Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 212. Brigitte Leierseder: Das Weib nach den Ansichten der Natur. Studien zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenleitbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. München 1981, S. 279t. Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« — Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363-393; Anne-Charlott Trepp: Anders als sein »Geschlechtscharakter«. Der bürgerliche Mann um 1800. Ferdinand Beneke (1774-1848). In: Historische

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auf d e n K o m p l e x >Macht u n d G e s c h l e c h t s h i n u n t e r s u c h t e n B r i e f e H u b e r s an u n d ü b e r H e r d e r ein B e i t r a g z u r R e k o n s t r u k t i o n gelebter u n d r e f l e k tierter R e a l i t ä t z w i s c h e n d e n G e s c h l e c h t e r n . Sie bieten, w i e z u z e i g e n sein w i r d , ein » K o r r e k t i v « z u d e n aus a n d e r e n Q u e l l e n t y p e n h e r a u s g e a r b e i t e ten E r g e b n i s s e n . 3 5 D a r ü b e r hinaus ist der B r i e f a b e r nicht n u r ein historisches D o k u m e n t , i n s b e s o n d e r e w e n n er v o n einer p r o f e s s i o n e l l e n S c h r i f t s t e l l e r i n u n d e r f a h r e n e n B r i e f s c h r e i b e r i n , die u m die M ö g l i c h k e i t e n dieser s p e z i e l l e n T e x t s o r t e w u ß t e , v e r f a ß t w u r d e . D e m B r i e f eignet eine » b e s o n d e r e A r t der F i k t i o n a l i t ä t [ . . . ] , die i h n z w i s c h e n A l l t a g s k o m m u n i k a t i o n u n d L i t e r a r i zität c h a n g i e r e n läßt.« 3normalere< Frauen berücksichtigt werden, das heißt eben keine national bekannten >Galionsfiguren< der literarischen oder politischen Öffentlichkeit« (Trepp: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit, S. 13). Berechtigt ist eine Untersuchung zum Spezialfall Therese Huber-Emil von Herder trotzdem, solange sie sich lediglich als Einzelbeitrag versteht, etwa Hubers Denk- und Argumentationsmuster herauspräpariert, die bei späteren, umfassenderen Quellenstudien auf ihre Allgemeingültigkeit überprüft werden können. Selbst >das Untypische< (sollten die Huberschen Denkmuster denn so untypisch sein) ist ja Teil des Spektrums des historisch Existenten, verdient also, berücksichtigt zu werden, kann darüber hinaus sogar als Folie dienen, >das Typische< aus anderen Quellen herauszuarbeiten. In diesem Sinne verstehe ich Gerda Lerners Mahnung hinsichtlich der Beachtung der Unterschiede zwischen Frauen beziehungsweise Gruppen von Frauen (»Jede(r) kann natürlich eine besondere Gruppe von Frauen untersuchen, aber dann hat sie (er) kein Recht, Ansprüche auf Allgemeingültigkeit zu erheben, die allein auf der Untersuchung dieser speziellen Gruppe beruhen.«) und ihre Empfehlung, »daß wir sowohl den gemeinsamen Kern als auch das Besondere in allen seinen Varianten lehren sollten und daß wir die Realität und die Wahrheit verzerren, wenn wir es nicht tun« (Gerda Lerner: Unterschiede zwischen Frauen neu gefaßt. In: Hanna Schissler (Hg.): Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel. Frankfurt a.M., N e w Y o r k 1993, S. 6of.); vgl. Dressel: Historische Anthropologie, S. 1 8 8 - 1 9 3 . Regina Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese. In: Angelika Ebrecht, Regina Nörtemann, Herta Schwarz (Hg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Stuttgart 1990, S. 212. 11

denn wenn »die wesentliche Leistung des Briefeschreibers« in der »Selbstdarstellung« besteht, »das Leben in Briefen [...] stilisiertes Leben«37 ist, muß man sich bei der Analyse einzelner Briefstellen immer mit zwei Ebenen, der Realität und der Fiktion, auseinandersetzen - ein Problem, das bei der Arbeit mit fiktionalen Texten, in denen der Autor seiner Fantasie bei der Darstellung seiner Charaktere freien Lauf lassen und Handlungsabläufe nach seinem Willen frei gestalten kann, nicht in dem Maße auftritt. Im Brief entsteht eine Gemengelage von Fiktion und Realität, die sich bei der Interpretation als hinderlich erweist, da nur schwer feststellbar ist, wo die eine beginnt, die andere endet. Stilisiert sich Huber in ihren Briefen etwa in Anlehnung an eine bekannte literarische Figur, ist diese Fiktion als solche noch am ehesten für den Leser erkennbar - wobei sich dann allerdings wiederum die Frage stellt, inwiefern Huber diese Stilisierung vielleicht tatsächlich lebte, sie also real werden ließ. Um einen Eindruck von Charakter und Leben der beiden Korrespondenten zu vermitteln, werden der Untersuchung zwei biographische Skizzen vorangestellt (Kap. 2). Da das Leben Hubers ausführlich in der auch heute noch grundlegenden Biographie von Ludwig Geiger aus dem Jahr 1901 dargestellt ist, habe ich mich auf eine knappe Beschreibung beschränkt.38 In der Forschung stießen bisher vor allem Hubers Arbeit als Redakteurin beim Morgenblatt für gebildete Stände (1816-1823) 3 ' und 37

38

39

Hannelore Schlaffer: Mutterbilder, Marmorbilder. Die Mythisierung der Liebe in der Romantik. In: Germanisch-romanische Monatsschrift, Bd. 36 (1986), S.304. Ludwig Geiger: Therese Huber 1764 bis 1829. Leben und Briefe einer deutschen Frau. Stuttgart 1901; Gerhart Söhn: Therese Heyne (Forster/Huber). In: ders.: Frauen der Aufklärung und Romantik: von der Karschin bis zur Droste. Düsseldorf 1988, S. 1 7 1 - 1 8 2 ; Andrea Hahn (Hg.): Die reinste Freiheitsliebe, die reinste Männerliebe. Ein Lebensbild in Briefen und Erzählungen zwischen Aufklärung und Romantik. Berlin 1989; Magdalene Heuser: Therese Heyne. Schriftstellerin. 1764-1785. Rede anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel am 4.8.1989, Papendiek 16. In: Göttinger Jahrbuch (1989), S. 1 9 4 - 1 9 7 ; Hilde Kathrein, Rita Herbig: »Die erste bedeutende Redakteurin Deutschlands«: Therese Huber. In: dies.: Meine Seele will Freiheit. Frauen setzen sich durch. Dreißig Frauenschicksale in Selbstzeugnissen. Heilbronn 1992, S. 33-40; Andrea Hahn: Therese Huber. Zwischen Nähzeug und Mannskleid. In: Birgit Knorr, Rosemarie Wehling (Hg.): Frauen im deutschen Südwesten. Stuttgart, Berlin, Köln 1993, S. 50—57; Andrea Hahn, Bernhard Fischer (Bearb.): »Alles ... von mir!« Therese Huber (1764-1829). Schriftstellerin und Redakteurin. Marbach am Neckar 1993. (= Marbacher Magazin 65). Frieda Höfle: Cottas Morgenblatt für gebildete Stände und seine Stellung zur Literatur und zur literarischen Kritik. Berlin 1937, S. 1 1 6 - 1 2 5 ; Dorothea Kuhn: Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck, X I . Präsident der Leopoldina, an Johann Friedrich Cotta 1 8 1 6 - 1 8 1 8 . Zum Plan einer populär-naturwissen-

12

ihre E h e mit G e o r g F o r s t e r ( 1 7 8 5 - 1 7 9 4 ) auf Interesse, w ä h r e n d die ü b r i gen J a h r e , also a u c h die Z e i t , in die die B e k a n n t s c h a f t mit H e r d e r fiel, bis h e u t e k a u m B e a c h t u n g g e f u n d e n haben. 4 0 Z u E m i l v o n H e r d e r gibt es d a g e g e n k e i n e D a r s t e l l u n g , sieht m a n v o n k u r z e n B e i t r ä g e n i m R a h m e n der H e r d e r s c h e n F a m i l i e n g e s c h i c h t e ab, so daß seine B i o g r a p h i e

hier

erstmalig a n h a n d v o n b i s h e r u n v e r ö f f e n t l i c h t e m h a n d s c h r i f t l i c h e n M a t e rial r e k o n s t r u i e r t w i r d . 4 1 D i e i m V e r g l e i c h zu H u b e r w e n i g e n h e u t e n o c h erhaltenen S p u r e n seines L e b e n s h a b e i c h d a h e r z u einer m ö g l i c h s t detaillierten b i o g r a p h i s c h e n D a r s t e l l u n g z u s a m m e n g e f a ß t . D i e v o n m i r erarbeitete B i o g r a p h i e u n d i h r N i e d e r s c h l a g in d e n B r i e f e n v o n T h e r e s e H u b e r b i e t e n eine F a l l s t u d i e f ü r eine B e a m t e n l a u f b a h n z u d e r Z e i t d u r c h g r e i f e n der R e f o r m e n in der b a y r i s c h e n S t a a t s v e r w a l t u n g in d e r ersten H ä l f t e des 1 9 . J a h r h u n d e r t s . D a r ü b e r hinaus e r ö f f n e t das i m f o l g e n d e n u n t e r s u c h t e Q u e l l e n m a t e r i a l E i n b l i c k e in die G e s c h i c h t e d e r z w e i t e n G e n e r a t i o n der g r o ß e n G e l e h r t e n - u n d L i t e r a t e n f a m i l i e n des 1 8 . J a h r h u n d e r t s , ein F o r s c h u n g s g e b i e t , das d u r c h w e i t e r e E i n z e l s t u d i e n v e r m u t l i c h n o c h an E r -

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schaftlichen Zeitschrift. In: Kurt Mothes (Hg.): Acta Historica Leopoldina. Festschrift für Georg Uschmann. Halle 1975, S. 69-92; Bernhard Fischer: Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände« in der Zeit von 1807 bis 1823 und die Mitarbeit Therese Hubers. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 43 (1995), S. 203-239. Eine Ausnahme bildet die ideologisch gefärbte und selektiv arbeitende Studie von Elfriede Müller: Therese Huber in ihrer Stellung zu Staat und Gesellschaft. Untersucht auf Grund ihrer nachgelassenen Briefe aus den Jahren 1804-29. Weimar 1937. Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 1 3 9 - 1 4 6 (stützt sich auf: Geiger: Therese Huber; außerdem auf die Herders Berufsleben dokumentierende und im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München verwahrte Personalakte Herders, die aber nur mit Zurückhaltung zitiert wurde vermutlich mit Rücksicht auf die Familie Herder, die die Gebhardt/Schauersche Publikation in Auftrag gegeben hatte); Kurt Horn: Dichterinnen, Gelehrte und ein Staatsmann. Über die Leistungen von Herders Nachkommen. In: Thüringische Landeszeitung, Jg. 9, N r . 2 5 1 , ι^./ιβ. Dezember 1953, S. 5; Wilhelm Dobbek: Karoline Herder. Ein Frauenleben in klassischer Zeit. Weimar 1963, S. 188—191 (zur Beziehung zwischen Caroline von Herder und ihrem Sohn Emil); Ernst G. Deuerlein: Die Familie Herder und Erlangen. In: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, Jg. 16 (1969), S. 7—24; ders.: Die Familie von Herder m Erlangen. Nachträge und Ergänzungen zu Erlanger Bausteine 1969. In: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, Jg. 1 7 (1970), S. 24-26; Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Georg Forsters Tochter. Therese, die blonde Polin. Saarbrücken-Scheidt 1989 (Kantzenbach, Biograph Johann Gottfried von Herders, konnte zusätzlich auf handschriftliches Material aus Emil von Herders Nachlaß zurückgreifen. Dieses von ihm dankenswerterweise als Dauerleihgabe der Leiterin der Arbeitstelle Therese Huber, Prof. Magdalene Heuser, zur Verfügung gestellte Material konnte von mir ausgewertet werden). !3

kenntnisinteresse gewinnen könnte. Sowohl H u b e r als auch Herder bedienten sich in ihren Auseinandersetzungen des Arguments, Tochter beziehungsweise Sohn der berühmten Gelehrten H e y n e und Herder zu sein. Emil von Herder versuchte sich an der Gelehrtenlaufbahn seines Vaters zu orientieren, wie seine Publikationsprojekte und Nachlaßarbeit dokumentieren. Für Therese H u b e r ist der Vater als Vorbild intellektueller Betätigung lebensprägend geworden, wie ihr Bildungsweg und ihre Berufstätigkeit als Schriftstellerin und Redakteurin zeigen. 42 42

Hubers literarisches Gesamtwerk wird nur in einer Monographie aus den 30er Jahren behandelt von Irmgard Panoff: Therese Huber. Eine Monographie. Ms. Dissertation. Wien 1931; zu den Erzählungen: Wulf Köpke: Immer noch im Schatten der Männer? Therese Huber als Schriftstellerin. In: Detlef Rasmussen (Hg.): Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethezeit. Tübingen 1988, S. 116—132; zum Roman Die Familie Seidorf vgl. Magdalene Heuser: Jacobinerin, Demokratin und Revolutionär. Therese Hubers »kleiner winziger Standpunkt als Weib« um 1800. In: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760-1830. Frankfurt a.M. 1989, S. 143-157; dies.: Nachwort. In: Therese Huber: Die Familie Seidorf. Hg. von Magdalene Heuser. Hildesheim 1989, S. 347-389; Inge Stephan: Revolution und Konterrevolution. Therese Hubers Roman »Die Familie Seidorf« (1795/96). In: Harro Zimmermann (Hg.): Der deutsche Roman der Spätaufklärung. Fiktion und Wirklichkeit. Heidelberg 1990, S. 171-194; Barbara Becker-Cantarino: Poetische Freiheit, Revolution und Patriarchat: Uber Therese Hubers Roman Die Familie Seidorf. In: Helga Brandes (Hg.): »Der Menschheit Hälfte blieb noch ohne Recht.« Frauen und die Französische Revolution. Wiesbaden 1991, S.6473; Bärbel Götz: Bruder, Freund, Geliebter, Verführer. - Die Geschwisterinzest-Phantasie in Therese Hubers Roman Die Familie Seidorf. In: Johannes Cremerius u.a. (Hg.): Psychoanalyse und die Geschichtlichkeit von Texten (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Bd. 14). Würzburg 1995, S. 219-242; zu Luise vgl. Magdalene Heuser: Nachwort. In: Therese Huber: Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. Hg. von Magdalene Heuser. Hildesheim, Zürich, New York 1991, S. 225—242; Jeannme Blackwell: Marriage by the Book: Matrimony, Divorce, and Single Life in Therese Huber's Life and Works. In: Katherine R. Goodman, Edith Waldstein (Hg.): In The Shadow of Olympus. German Women Writers Around 1800. Albany 1992, S. 137-156; Romann: Alternative Fictions; Bärbel Götz: »Ach, Muttersegen, Mutterfluch, beyde machen mich elend!« Rigide Mütter m Romanen von Frauen um 1800. In: Irmgard Roebling, Wolfram Mauser (Hg.): Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich-Haefeli. Würzburg 1996, S. 147-163, hier: S. 153-157; Hee-Kyung Kim-Park: Mutter-Tochter-Beziehungen in den Romanen von Frauen im ausgehenden 1 S . J a h r h u n d e r t . Königstein/Ts. 2000, hier: S. 182-215; zu Therese Hubers Roman Die Ebelosen vgl. Germaine Goetzinger: »Daß die Ehe in dem Zustande der Gesellschaft, wie er sich jetzt gestaltet hat, nicht mehr Naturgebot sei ...« Therese Hubers Roman Die Ebelosen (1829) als Vorentwurf zu einer Theorie sozialer Mütterlichkeit. In: Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch 1996. Autorinnen des Vormärz. Bielefeld 1997, S. 15-26; Jutta Harmeyer: Therese Hubers Roman »Die Ehelosen« (1829). Zur Diskussion der

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Der Beziehung Huber-Herder und den sie begleitenden Diskursen nähere ich mich zunächst vom biographischen Schluß her, dem Scheitern der Beziehung und dessen Gründen, wie sie von Zeitgenossen und in der Forschung diskutiert wurden (Kap. 3). Eine reich und über Jahre dokumentierte Beziehung wie die von Huber und Herder bietet die Möglichkeit, mikroanalytisch den von beiden Briefpartnern in seinen individuellen Ausprägungen geführten Diskurs über die Geschlechterordnung zu rekonstruieren. Aus dem Grunde ist es erforderlich, an den Anfang der Beziehung zurückzugehen. Auf mehreren Ebenen sollen zunächst die Vorstellungen der Beteiligten zum Geschlechterverhältnis

dargestellt

werden (Kap. 4 und 5). Diese haben sich in Auseinandersetzung mit und unter dem Einfluß des theoretischen Diskurses entwickelt (Kap. 6). Die traditionellen Weiblichkeitsvorstellungen der Zeit befürworteten keinen intellektuellen Lebensentwurf für Frauen, schlossen ihn sogar weitgehend aus. Das intellektuelle Miteinander von Huber und Herder erweist sich als der krisenanfälligste Punkt ihrer Beziehung (Kap. 7). Es mußte also nach einer Lösung gesucht werden, die dieses Moment des intellektuellen Miteinander zu integrieren erlaubte. Das von Huber eingebrachte Mutter-Sohn-Modell war ein Angebot Hubers für die Beziehung mit Emil von Herder (Kap. 8). Abschließend geht es um den Brief als das Medium, in dem diese Beziehung überliefert ist und weitgehend auch gelebt wurde, und das seinerseits durch die zeitgenössischen Diskurse über Geschlecht und Macht geprägt wurde (Kap. 9).

Konzepte von Ehe und Ehelosigkeit in der Romanliteratur des ausgehenden 18./beginnenden 19. Jahrhunderts. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Osnabrück 2000; Angelika Schlimmer: Romanpoetik und Weiblichkeitsdiskurs. Zur Bedeutung der Kategorie gender im Romanverständnis von Therese Huber und Johanna Schopenhauer. Königstein/Ts. 2001, S. 1 7 0 - 2 1 4 ; Angela Steidele: »Als wenn D u mein Geliebter wärest«. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850. Stuttgart, Weimar 2003, S. 2 3 1 - 2 4 1 ; zu anderen Erzählungen und Romanen Therese Hubers: Vibha Bakshi Gokhale: Walking the tightrope; Sylvia Cordie: Nachwort. In: Therese Huben Erzählungen 1 8 0 1 - 1 8 0 2 . Hg. von Magdalene Heuser. Bd. 2. Hildesheim, Zürich, N e w Y o r k 1999, S. 3 8 5-479; Diane Coleman Brandt: Nachwort. In: Therese Huber: Hannah, der Herrnhuterin Deborah Findling / Das Urtheil der Welt. Hg. von Magdalene Heuser. Bd. 3.2. Hildesheim, Zürich, N e w Y o r k 2001, S. 1 3 5 - 1 8 4 .

!5

2.

Der biographische Hintergrund

2.1. Therese Huber. Lebensphasen A l s T h e r e s e H u b e r ( 1 7 6 4 - 1 8 2 9 ) i m F e b r u a r 1 8 0 6 1 - sie w a r d a m a l s 4 1 J a h r e alt - in n ä h e r e B e z i e h u n g z u d e m 2 2 j ä h r i g e n E m i l v o n

Herder

( 1 7 8 3 - 1 8 5 5 ) trat, hatte sie bereits ein b e w e g t e s L e b e n hinter sich. A u f g e w a c h s e n in G ö t t i n g e n als T o c h t e r des b e r ü h m t e n A l t p h i l o l o g e n und Bibliothekars

Christian

Gottlob

Heyne

(1729-1812)

konnte

das

ü b e r d u r c h s c h n i t t l i c h intelligente u n d w i s s e n s d u r s t i g e M ä d c h e n v o n d e n M ö g l i c h k e i t e n p r o f i t i e r e n , die diese U n i v e r s i t ä t s s t a d t v o n i n t e r n a t i o n a l e m R u f ihr b i e t e n k o n n t e . A l s F r a u w a r sie z w a r v o m S t u d i u m ausges c h l o s s e n , ja sie erhielt nicht einmal in i h r e m eigenen E l t e r n h a u s

eine

s y s t e m a t i s c h e A u s b i l d u n g , w i e sie selbst später o f t b e d a u e r n d äußerte. 2 A b e r sie hatte Z u g r i f f auf die p r i v a t e B i b l i o t h e k ihres V a t e r s u n d auf die b e r ü h m t e G ö t t i n g e r U n i v e r s i t ä t s b i b l i o t h e k , so daß sie sich a u t o d i d a k tisch w e i t e r b i l d e n k o n n t e . 3 A u ß e r d e m erhielt sie d u r c h i h r e n V a t e r ge1

2

3

Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 2. August 1806 ( B T H , Bd. 2, Nr.216). Da Herder erst zwischen dem 1 1 . und 14. Februar 1806 nach Ulm und damit in die Nähe Hubers zog (Caroline von Herder an Emil von Herder, 21.Februar 1806 und 3 . M ä r z 1806, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,1), läßt sich Hubers Angabe auf die zweite Hälfte Februar 1806 präzisieren. »Unser Unterricht war ohne alle Aufsicht, ganz fruchtloß von abhängigen Studenten gegeben. [...] Meine Kindheit war ein verdrießliches Chaos«. Heyne wurde in der Erinnerung seiner Tochter zum geistigen Bezugspunkt während ihrer Kindheit: »Der Vater erzählte mir gern bei Tisch, erklärte mir Gemmen, Antiken, hörte unser Geschwäz, ja ich erinnre mich daß wir ihm durften aus der Insel Felsenburg lesen, die uns ungemein intereßirte. [...] Mit der Mutter Tode wurd unser Tischgespräch ein erwärmendes Feuer [für] meinem Geist. Er gab mir nun Geschichte zu lesen, ich las am Tage um Abends den tief Betrübten unterhalten zu können, ich lernte die schönsten Gedichte auswendig« (Therese Huber an Carl August Böttiger, 1. September 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 96)). »Ich war oft auf der Bibliothek bei ihm, spielte mit meiner Puppe neben dem Laokoon und Apollo, und sah Kupferstiche. Das war mein Unterricht, denn meine Lehrstunden waren elend. [...] Früh von 5 Uhr bis 9 schrieb und las ich, und die Kleinen spielten an meiner Seite, standen auf Bänkchen neben mir am 16

sellschaftlichen Kontakt zu den damals bekanntesten Gelehrten, wie z.B. Johann Gottfried Herder, Emil von Herders Vater, den sie 1772 kennenlernte und mehrmals in Weimar besuchte. 4 Von Kindheit an hörte sie den Studenten, die im Heyneschen Haus ein- und ausgingen, zu, wenn sie vorlasen und diskutierten.' Es kam auch vor, daß ihr Vater ihr die schriftlichen Arbeiten seiner Studenten zu lesen gab.6 Einige von ihnen traten später als Wissenschaftler hervor, wurden bedeutende Politiker, wie z.B. Christian Wilhelm von Dohm, oder machten sich als Übersetzer und Schriftsteller einen Namen, wie z.B. Johann Heinrich Voß und die Brüder Graf Christian und Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg. Schon früh fühlte sich also die junge Therese Heyne mit der allein den Männern zugänglichen Welt der Gelehrten verbunden, die zugleich die Welt des geliebten und verehrten Vaters war. Doch diese Studenten und Gelehrten besuchten nicht nur den Vater: Mittelpunkt des geselligen Kreises im Hause Heyne war Therese Heyne, geb. Weiß (1730-1775), die Mutter Therese Heyne-Hubers. Ihr stand die Tochter, anders als dem Vater, distanziert, ja ablehnend gegenüber. Sie fühlte sich von ihr vernachlässigt, im Vergleich zu den anderen Geschwistern zurückgesetzt. V o r allem warf sie der Mutter später vor, sie habe weder durch Anregungen noch Verbote Einfluß auf die geistige Entwicklung ihrer Kinder genommen und sich zudem nicht ausreichend um den Haushalt gekümmert. Im Unterschied zu dem bis spät in die Nacht fleißigen Vater, der auch in diesem Punkt ein Leben lang das Vorbild der Tochter blieb, soll die Mutter wenig gearbeitet haben. Nach deren frühen Tod heiratete der Vater in die politisch einflußreiche hannoverische Familie Brandes ein. Zu ihrer nur elf Jahre älteren Stiefmutter Georgine Heyne ( 1 7 5 3 - 1 8 3 4 ) entwickelte die nun 14jährige bald ein enges Verhältnis, das bis an ihr Lebensende hielt. Sie kümmerte sich um die aus dieser zweiten Ehe des

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Schreibtisch, dann gingen sie zu ihrer Mutter, ich in die Küche, dann war der ganze Tag der Handarbeit gewidmet, Abends nach Tisch bis gegen Mitternacht studierte ich wieder für mich« (Therese Huber an Carl August Böttiger, 1. September 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 96)). B T H , Bd. 1, N r . 1 1 3 , Sammelanmerkung zu Johann Gottfried Herder; bei einem dieser Besuche, 1787, begegnete sie dem damals vierjährigen Emil von Herder erstmals (Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 2. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 216)). Therese Huber an Karoline von Woltmann, 24. März 1824 (Brigitte Leuschner (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Therese Huber (1764-1829) und Karoline von Woltmann (1782-1847). Ein Diskurs über Schreiben und Leben. Marburg 1999, S. 27; B T H , Bd. 8). Therese Huber an Paul Usteri, S.Dezember 1825 ( B T H , Bd.9). J

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Vaters hervorgehenden Kinder intensiv, bis sie 1785 selbst heiratete und das Elternhaus verließ.7 Mit ihrem Ehemann, dem bekannten Naturforscher Georg Forster (1754-1794), lebte sie zunächst in Wilna/Polen und ab 1788 in Mainz. Wie Heynes Haus in Göttingen zog auch das des Ehepaars Forster in Mainz zahlreiche Besucher an, etwa Goethe oder Alexander und Wilhelm von Humboldt. Nachdem die Stadt 1792 von den französischen Revolutionstruppen eingenommen worden war, engagierte sich ihr Ehemann als Jakobiner in führender Position. So erlebte sie die Auswirkungen der Französischen Revolution, mit der sie sympathisierte, aus nächster Nähe. Dieses interessante, an Eindrücken und Anregungen reiche Leben wurde allerdings überschattet vom Tod zwei ihrer Kinder und zunehmenden Spannungen in ihrer Ehe. Ende 1792 trennte sie sich von Forster, nachdem sie sich in den Diplomaten Ludwig Ferdinand Huber (1764-1804) verliebt hatte, und zog mit ihren Töchtern Therese (1786-1862) und Ciaire Forster (1789-1839) in die französischsprachige Schweiz. Das bereits eingeleitete Scheidungsverfahren kam aufgrund von Forsters Tod Anfang 1794 zu keinem Abschluß mehr. Drei Monate später heiratete sie Huber. In dem kleinen Dorf Böle bei Neuchätel, wo das Paar mit seinen gemeinsamen Kindern und den Töchtern Forsters wohnte, hatten sich durch die Anwesenheit der vor der Revolution geflohenen französischen Emigranten und die Nachbarschaft zu Colombier, wo die Schriftstellerin Isabelle de Charriere lebte und Hubers die Bekanntschaft Benjamin Constants machten, interessante neue Kontakte ergeben. Therese Huber empfand diese ansonsten durch das Landleben und Entbehrungen geprägten Jahre - L. F. Huber war aus dem diplomatischen Dienst ausgeschieden und verfügte als Schriftsteller nur über ein unsicheres Einkommen - als die glücklichste Zeit ihres Lebens. 1798 zog die Familie nach Tübingen, dann nach Stuttgart und 1804 nach Ulm. Diese Umzüge waren beruflich bedingt: L. F. Huber arbeitete jetzt als Redakteur für die Allgemeine Zeitung, eine bedeutende politische Tageszeitung. Daneben war er weiterhin als Schriftsteller und Literaturkritiker tätig. Schon während ihrer ersten Ehe hatte Therese Huber angefangen, ihren Mann mit Ubersetzungstätigkeiten zu unterstützen.8 Für ihren zweiten Mann übersetzte sie nun teilweise 7

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Therese Huber an Carl August Böttiger, 1. September 1 8 1 2 ; 3. Oktober 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 96 und 106). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 23.September 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 240); an Johann Gotthard Reinhold, 6. Juli 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 81). 18

die bei der Zeitung eingehenden Korrespondentenberichte 9 und erhielt dadurch vielfältige Einblicke in die europäische Politik. Gleichzeitig besserte sie in erheblichem Maße durch ihre Arbeit als Schriftstellerin die Einkünfte ihrer schnell wachsenden Familie auf. Ihre Erzählungen und Romane erschienen allerdings anonym oder unter dem Namen L. F. Hubers. Erst ab 1 8 1 1 / 1 2 wurde ihre Verfasserschaft einzelner Werke gegen ihren Willen öffentlich bekannt, und es dauerte noch bis 1819, ehe sie selbst offiziell aus ihrer Anonymität heraustrat und sich zu ihren zahlreichen und vielgelesenen Publikationen bekannte. 10 1804 erhielt L. F. Huber eine Stelle im bayrischen Staatsdienst, wodurch die Familie erstmals über ein sicheres Einkommen verfügte. Die Situation entwickelte sich äußerst günstig, Therese Huber freute sich über die neuen Bekanntschaften, die sie in Ulm Schloß, und brachte im April ihr zehntes Kind zur Welt. Dann aber starb die Tochter im Alter von vier Wochen. Einige Monate später folgte der Tod der sechsjährigen Tochter Adele und am Heiligabend 1804 starb ihr Mann nach kurzer, schwerer Krankheit. Damit endete die glückliche, von Liebe, gegenseitigem Respekt und enger Zusammenarbeit geprägte zweite Ehe Therese Hubers. Sie verlor den wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Darüber hinaus hatte dieser schwere Verlust auch die Folge, daß die Witwe für sich und ihre Kinder ein neues Zuhause suchen mußte. So wurde die erst für Jahre später geplante Hochzeit der 15jährigen Tochter Ciaire Forster mit dem Förster Gottlieb von Greyerz (1778-1855) schon im Frühling 1805 gefeiert. Zu Tochter und Schwiegersohn, die in dem kleinen Ort Stoffenried lebten, zog Therese Huber mit ihren Kindern Luise ( 1 7 9 5 - 1 8 3 1 ) und Victor Aime (1800-1869). Der Umzug in das bayrische Dorf Stoffenried (1805) und dann in die Provinzstadt Günzburg (1807) war neben den zahlreichen anderen Wendepunkten im Leben Therese Hubers insofern von besonderer Bedeutung, als sie bisher als Tochter und Ehefrau immer an der Seite interessanter, geistig beweglicher und hochgebildeter Männer gelebt und damit auch Zugang zu deren Bekanntenkreis hatte. Durch Heyne, Forster und Huber hatten sich ihr vielfältige Chancen zum geistigen Austausch geboten.

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Therese Huber an Christian Gottlob Heyne, zwischen 23. und 28. August 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 103). Therese Huber an Friedrich Bouterweck, 16. Juni 1820 ( B T H , Bd. 7); an Karoline von Woltmann, 24. März 1824 (Leuschner: Der Briefwechsel zwischen Therese Huber (1764-1829) und Karoline von Woltmann (1782-1847), S. 27; B T H , Bd. 8); Therese Huber: Hubers gesammelte Erzählungen. Bd. 3. Stuttgart, Tübingen 1819, Vorwort.

Gottlieb von Greyerz hatte dagegen bei weitem nicht das Format dieser Männer und auch nicht ihre Verbindungen. Die Stoffenrieder und Günzburger Jahre von 1805 bis 1816, die den zeitlichen Rahmen für die Entstehung und das (vorläufige) Ende der Beziehung zu Emil von Herder bilden, waren also eine neue Erfahrung für Therese Huber. Sie befand sich nun in einer von einer gewissen geistigen Isolation geprägten Lebensphase. Diese Isolation durchbrach sie durch längere, teilweise mehrmonatige Reisen in die Schweiz (1806, 1807, 1809 und 1811), nach Göttingen (1808), Holland (1809), Stuttgart (1810) und München (1810, 1814) sowie durch ihren ausgedehnten Briefwechsel mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten und vor allem mit dem 1806 in ihr Leben getretenen Emil von Herder. Hinzu kam, daß die Zeit, in der ihre nähere Bekanntschaft mit Herder sich entwickelte und ihre Korrespondenz begann, mit dem Ende der Familienphase in ihrem Leben zusammenfiel. Im Frühling 1806 hatte sie ihren Sohn Victor Aime in die Schweiz gebracht, wo er von Philipp Emanuel von Fellenberg beziehungsweise in dessen Erziehungsinstitut in Hofwil bei Bern erzogen wurde. Die älteste Tochter, Therese Forster, lebte zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren als Gesellschafterin und später als Erzieherin weit entfernt von der Mutter. 11 Die Tochter Ciaire von Greyerz wohnte zwar im gleichen Haus, hatte aber nun eine eigene Familie. Luise Huber blieb als einziges Kind in der Obhut ihrer Mutter zurück. Hatte Therese Huber noch 1804 mit sechs Familienangehörigen zusammengelebt und ihnen den Haushalt geführt, für die Erziehung und Betreuung von fünf Kindern gesorgt, mußte sie sich jetzt nur noch um die eine Tochter kümmern. Mit der Aufnahme Herders als >Sohn< in den Kreis ihrer kleiner gewordenen Familie hoffte Huber also, nicht nur eine Lücke im intellektuellen, sondern sicher auch im emotionalen Bereich zu füllen. 1816 endete die Phase zurückgezogenen Lebens, als Huber von Günzburg wieder nach Stuttgart zog, um beim Morgenblatt für gebildete Stände als Redakteurin zu arbeiten. Erstmals übernahm damit eine Frau eine leitende Position bei einer bedeutenden Zeitschrift, die sich nicht auf Frauen als Adressatenkreis beschränkte. Diese täglich (außer sonntags) erscheinende, wie die Allgemeine Zeitung auch von Johann Friedrich Cotta verlegte »Kulturzeitung«12 brachte sowohl Belletristik als auch populärwissenschaftliche Artikel aus den Bereichen Technik, Naturwissenschaften, Geschichte, Soziales und Literatur - ausgespart blieb nur die Politik. Sie richtete sich an ein breites, vor allem bürgerliches Publikum. 11 12

B T H , Bd. 1, N r . 177, Sammelanmerkung zu Therese Forster. Hahn/Fischer: »Alles ... von mir!«, S. 68.

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Von seiner buntgemischten Themenpalette her war das

Morgenblatt

einzig in seiner Art im deutschen Sprachraum und erfreute sich daher einer großen Leserschaft. Therese Huber erledigte die ihr anvertraute Aufgabe mit größter Professionalität, brachte das Blatt auf einen höheren qualitativen Standard, so daß unter ihrer Redaktion ( 1 8 1 7 - 1 8 2 3 ) die A u f lage noch gesteigert werden konnte. 13 Daß Huber sich mit 52 Jahren noch der Belastung dieser anspruchsvollen und nicht gerade konfliktfreien Arbeit aussetzte, 14 hatte vor allem finanzielle Gründe. Die jahrelange Suche nach einem gesicherten, d.h. von ihrer Arbeit als freier Schriftstellerin unabhängigen Einkommen, von dem sie sich und die Tochter Luise ernähren sowie den Schulbesuch und das Studium ihres Sohnes finanzieren konnte, war damit vorerst beendet. 1 ' Als Cotta die Verlegung des Druckortes des Morgenblatts

nach Augsburg ankündigte, zog sie 1823

dorthin, wo auch die Familie von Greyerz inzwischen wohnte. Doch Cotta änderte seine Pläne, die Redaktion des Morgenblatts blieb in Stuttgart und Therese Huber wartete vergeblich darauf, ihre Arbeit wiederaufnehmen zu können. Auf diese Weise endete ihre Redaktionstätigkeit. Sie schrieb aber weiterhin für das Blatt, veröffentlichte Romane, vor allem aber wandte sie sich wieder ihrem seit Jahrzehnten gehegten Plan zu, die Korrespondenz Georg Forsters herauszugeben. Die Ausgabe, zu der sie auch eine Biographie ihres ersten Ehemannes verfaßte, erschien in ihrem Todesjahr. 16 Sie starb 65jährig am 15. Juni 1829. Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer hochintelligenten, vielseitig interessierten und gebildeten Persönlichkeit. Eine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften war sicher ihre Tatkraft, an die eine große Willensstärke, Selbstdisziplin und Unermüdlichkeit geknüpft waren - Charakteristi13

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Fischer: Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände«, S. 2iof., 222 und 220: »Mit Therese Huber, die ein weitgespanntes Netz literarischer Kontakte mitbrachte, löste sich das Blatt endgültig aus der schwäbischen Umgebung [...].·< Fischer: Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände«, S. 222ff. Immer wieder hatte Therese Huber in den Jahren zuvor ihre Bekannten in der Hoffnung angeschrieben, eine Stelle als Erzieherin vermittelt zu bekommen. Aber auch der am weitesten gediehene, allerdings von Huber auch nicht mit letzter Konsequenz verfolgte Plan, ihr die Stelle der Leiterin eines Erziehungsinstituts im schweizerischen Olsberg zu verschaffen, zerschlug sich (Therese Huber an den Schulrat in Aarau, zwischen 8. und 1 3 . M ä r z 1 8 1 0 ( B T H , Bd.4, N r . 36)). Uber Therese Hubers Arbeitsbelastung während ihrer Zeit als Redakteurin des Morgenblatts schrieb ihre Tochter Luise 1 8 1 9 an Wilhelm Albrecht: »Weißt Du dal? sie Tag und Nacht um Brod arbeitet um AlMES Studien möglich zu machen?« (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 13). [Dies. (Hg.):] Johann Georg Forster's Briefwechsel. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben. T. 1.2. Leipzig 1829.

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ka, die es ihr erlaubten, ihre Berufstätigkeit mit ihren Aufgaben als Ehefrau und Mutter selbst unter ungünstigen Bedingungen und schweren persönlichen Schicksalsschlägen erfolgreich zu vereinbaren. Obwohl sie ihre Kraft immer in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen wollte, die Sorge um und für andere als ihre Lebensaufgabe betrachtete, reagierte die Umwelt teilweise mit heftiger Ablehnung darauf. 17 Zum einen war es anstrengend, mit einem derart aktiven, mit zahlreichen Führungsqualitäten begabten und daher oft andere dominierenden Menschen mitzuhalten und auszukommen, zum anderen wurden diese Eigenschaften bei einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebenden Frau nicht nur positiv beurteilt. Letztendlich ist auch die Beziehung Hubers zu Herder nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Problematik der Vereinbarkeit einer solchen Persönlichkeit mit den zeitgenössischen Vorstellungen, wie eine Frau zu sein hatte und wie sie sich verhalten sollte.

2.2. E m i l v o n H e r d e r . L e b e n s s p u r e n Wie Therese Huber war auch Emil von Herder als Sohn Johann Gottfried von Herders (1744-1803) das Kind eines der berühmtesten Gelehrten Deutschlands. Emil (Aemilius) Ernst Gottfried Herder wurde am i.Juni 1783 in Weimar geboren. Als kleinen »Flachskopf mit schwarzen Augen« beschrieb sein Vater den fast Vierjährigen. 18 In Weimar wurde er zunächst durch Hauslehrer unterrichtet und besuchte dann von 1794 bis 1799 das dortige Gymnasium. 1 ' Ende 1797 glaubte sein Vater noch, daß dieser Sohn Theologe werden würde, 20 wie er es selbst war; die vier älteren Söhne 17

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Im privaten Bereich z.B. die Auseinandersetzungen mit Gottlieb von Greyerz (»Der Mutter Strenge u. Stoizismus drückt mich jezt mehr als das er mich beßert weil sie ihn auf alle Kleinigkeiten überträgt«; Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 19. Juli 1 8 1 2 , Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97), im beruflichen Bereich mit den Kollegen und den Einsendern von Artikeln (Fischer: Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände«, S. 222!.). Johann Gottfried Herder an Georg Müller, 30. April 1787 (Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1 7 6 3 - 1 8 0 3 . Hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Bd. 5. Weimar 1979, S. 226). Uber Emil von Herders Äußeres ist sonst wenig bekannt. Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, Tafel LVI,2. zeigt lediglich die schwarz-weiße Reproduktion eines Kinderporträts von ihm. Einer seiner Lehrer war Carl August Böttiger, mit dem Therese Huber ab 1805 korrespondierte. Johann Gottfried Herder an Friedrich Heinrich Jacobi, 18. November 1797

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w u r d e n bereits in a n d e r e n B e r u f e n ausgebildet. D o c h 1 7 9 9 stand fest, daß E m i l » J ä g e r u. F o r s t m a n n « w e r d e n w ü r d e . 2 1 V o n A n f a n g 1 8 0 0 bis 1 8 0 2 b e s u c h t e er das b e r ü h m t e , v o n H e i n r i c h C o t t a 1 7 9 4 g e g r ü n d e t e u n d geleitete F o r s t i n s t i t u t in Z i l l b a c h i n Sachsen. 2 2 D i e (nicht ü b e r l i e f e r t e n ) B r i e f e , die er v o n h i e r aus an seinen F r e u n d G o t t h i l f H e i n r i c h S c h u b e r t s c h i c k t e , z e i g t e n bereits S p u r e n j e n e r m e l a n c h o l i s c h e n S t i m m u n g u n d U n z u f r i e denheit mit sich selbst, die v i e l e J a h r e lang sein L e b e n p r ä g e n sollten. 2 3 D a n n v e r l i e b t e er sich a b e r in J o h a n n e S c h m i d , eine B ü r g e r m e i s t e r s t o c h ter, die er in Z i l l b a c h k e n n e n g e l e r n t hatte. D o c h o b w o h l sie seine L i e b e e r w i d e r t e u n d v o n H e i r a t g e s p r o c h e n w u r d e , t r e n n t e n sie sich 1 8 0 3 , n a c h -

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(Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 7, S. 343); Emil Herder erwähnte gegenüber Johann Wilhelm Ludwig Gleim in einem Brief vom 28. Dezember 1794 (Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 2, S. 93), daß er später die Universität besuchen wollte. Johann Gottfried Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 23. Oktober 1799 (Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 8, S. 95). V o r Emil Herders Abreise nach Zillbach hatte Caroline Herder Goethe darum gebeten, daß sich ihr Sohn von ihm verabschieden und sich seines Wohlwollens empfehlen dürfe. »Er hat ein glückliches Loos erwählt; gönnen Sie ihm Ihren Beifall u. Ihre Liebe.« (Caroline Herder an Johann Wolfgang von Goethe, 7. Januar 1800 (Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 8, S. 426)) Auf Goethes Rat hin kam Herzog Carl August von Sachsen-Weimar auch noch für die Ausbildung Emil Herders auf, nachdem er schon dessen Bruder August hierbei finanziell unterstützt und obwohl er überlegt hatte, die Zahlungen einzustellen. Die vom Herzog gezahlten 200 Thaler jährlich sollten Emil Herders Zillbacher Ausbildungskosten inklusive Kost ganz decken (Herzog Carl August von SachsenWeimar an Goethe, 1 1 . beziehungsweise 12. April 1800; Goethe an den Herzog, 12. April 1800; Goethes Vortrag an den Herzog und die Weisung des Herzogs vom 20.Juni 1800 (Johann Wolfgang von Goethe: Goethes amtliche Schriften. Hg. vom Staatsarchiv Weimar. Bd. 2.2. Weimar 1970, N r . 133, N r . 1 5 7 und N r . 159)). Für die Eltern Herder war dies eine wichtige Unterstützung angesichts ihrer finanziellen Situation (Caroline Herder an Goethe, 19.Juni 1800 (Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 8, S. 440!.)). Daß es ihrem Sohn in Zillbach sehr gut gehe, berichtete seine Mutter Georg Müller in einem Brief vom 28. März 1800 (Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 8, S. 434). Zu Emil Herders Aufenthalt dort: Caroline von Herder an Heinrich Cotta, 27. April 1800; dies, an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 23. Mai 1800 (Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 8, S. 43 7 und S. 440). Schubert an Emil Herder, /.September 1800; 2.Februar 1801: »Dein Brief machte mich eben so vergnügt als traurig. Das letztere, weil du ihn in einer schwermüthigen Stimmung geschrieben zu haben scheinst. Wenn du unzufrieden mit dir sein willst, was sollen andre? [...] Was du gern werden willst kannst, kannst du noch leicht aus dir machen.«; vom 1 1 . Februar 1801: »Du bist so schwermüthig [...] und bist in deinem Zillbach so allein.« Schubert wäre am liebsten sofort zu ihm nach Zillbach geeilt »um dir auf deinen Brief mündlich Antwort zu sagen, so traf mich sein Inhalt. Kann ich denn gar nichts thun dich aufzuheitern?« (G.Nathanael Bonwetsch: Gotthilf Heinrich Schubert in seinen Briefen. Ein Lebensbild. Stuttgart 1918, S. 32 und S. 4if.).

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dem Caroline von Herder die junge Frau darum gebeten hatte. Die Mutter wünschte sich für ihren Sohn angeblich eine bessere Partie. 24 1803 befand sich Emil von Herder in Hummelshain bei Kahla in Sachsen und Schloß seine Studien ab. In dem dortigen Forstrevier beschäftigte er sich vor allem mit der Hochwildjagd, darüber hinaus aber auch mit der dort gerade vorgenommenen Umorganisation des Forstbetriebes, wobei also noch mehreres gethan werden konnte u. mußte, was noch unvollendet und unvollkommen war. Ich hoffe daher m dieser Hinsicht dem hiesigen Forstamte nicht unnütz gewesen zu seyn, so wie ich auch für die Wissenschaft selbst die schöne sich darbietende Gelegenheit zu Versuchen u. Erfahrungen nicht unbenutzt gelassen habe. 2 '

Das schon hier geäußerte Interesse des 20jährigen an der Verbesserung der Organisation des Forstwesens sollte sich wie ein roter Faden durch Herders gesamtes Berufsleben ziehen - nicht immer zu seiner und seiner Mitarbeiter Freude, wie sich dabei auch zeigen sollte. Die Überlegungen, seine künftige berufliche Laufbahn betreffend, richteten sich aber nicht auf sein Heimatland Sachsen, sondern auf Bayern. Die Beziehungen der Familie Herder zu Bayern rührten vom Erwerb des Gutes Stachesried bei Cham her, das Johann Gottfried Herder 1801 für seinen Sohn Adelbert zur Bewirtschaftung kaufte. Mai bis September dieses Jahres verbrachte Emil von Herder in Stachesried, wo er sich mit der Vermessung der neuerworbenen Waldungen des ehemaligen Arbeitgebers Adelbert von Herders, Karl Friedrich Wilhelm von Völderndorff, beschäftigte. 26 Er fühlte sich dort bei seinem Bruder sehr wohl, wenn ihm auch Bayern, wie er Schubert schrieb, nicht ganz gefiel. 27 Ende 1802 bis Frühjahr 1803 hielt er sich wieder in Stachesried auf und unterrichtete an 24

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Schubert an Emil von Herder, 17. Juni 1803: »Mein theurer Emil daß dirs auch wohl geht in deiner Liebe das freut mich von ganzer Seele.« Wahrscheinlich hatte Herder Schubert gegenüber seine Heiratspläne geäußert, wie ein Brief Schuberts vom 18. Oktober 1803 nahelegt: »Was macht deine Johanna? [...] du wirst es selber erfahren wie zärtlich man als Gatte und Haußvater seiner Freunde denkt«; Schubert zum Ende dieser Beziehung: »du wirst dann eine Liebe finden die deiner würdig sey, so wie die erste.« (an Emil von Herder, 2. Dezember 1S03[!], Bonwetsch: Gotthilf Heinrich Schubert, S. 61, 64 und 66); Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 141t. Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 139t. und T. 2, S. 188 (Brief Emil von Herders an Friedrich Wilhelm von Dörnberg, 15. November 1803). Caroline (von) Herder an Emanuel [sic!], i . M a i 1801; dies, an Karl Ludwig von Knebel, 28. Mai 1801; dies, an Ernst Bernhard Saal, 17. Juli 1801 (Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 8, S. 474, 478, 482). Schubert an Emil von Herder, 2 1 . Juni 1801 (Bonwetsch: Gotthilf Heinrich Schubert, S. jof.).

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der dort von seinem Bruder eingerichteten Landwirtschaftsschule »allgemeine Arithmetik, theoretische u. praktische Geometrie, Botanik u. Forstwissenschaft«. 28 Da in Bayern der Adel das Recht hatte, ein von einem Bürger erworbenes Gut innerhalb eines Jahres nach dem Kauf gegen Zahlung des Kaufpreises in Besitz zu nehmen, und es tatsächlich einen Interessenten gab, hatte sich Johann Gottfried Herder, um diese Übernahme abzuwehren, die Erhebung in den bayrischen Adelsstand verschafft. 29 Damit war auch seinem Sohn Emil die Niederlassung in Bayern sehr erleichtert worden, und das Adelsprädikat konnte ihm bei der Stellensuche im Staatsdienst von Vorteil sein. Zu Bayern hatten Herders außerdem gute Verbindungen durch den ehemaligen Weimarer Oberhofmeister, Johann Eustach von Schlitz, Graf von Görtz, den Caroline von Herder im Dezember 1803 um Hilfe bei der Stellenvermittlung für ihren Sohn Emil gebeten hatte. 3 " Görtz hatte als preußischer Diplomat Kontakt zum bayrischen Hof gehabt und Herders 1801 die Nobilitierung vermittelt. Außerdem war er der Schwiegervater des bayrischen Diplomaten und späteren bayrischen Außenministers Aloys von Rechberg. Für die Karriere im Staatsdienst waren gute persönliche Kontakte zu hohen Beamten von immenser Bedeutung. Herders Mutter nutzte ihre Verbindungen und die ihres am 18. Dezember 1803 verstorbenen Mannes, um ihrem Sohn einen günstigen Einstieg ins Berufsleben zu verschaffen. Anfang 1804 erhielt Caroline von Herder von Görtz die Nachricht, daß ihr Sohn Aussicht auf eine Stelle in bayrischen Diensten habe unter der Bedingung, daß er die Anfang 1804 gegründete Forst- und Landwirtschaftsschule zu Weihenstephan bei Freising besuche.-11 Der durch ein Zeugnis zu belegende erfolgreiche Besuch dieser neuen Schule wurde nicht nur Herder, sondern 28

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Emil von Herder an Friedrich Wilhelm von Dörnberg, 15. November 1803 (Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 2, S. 188); vgl. Johann Gottfried von Herder an Karohne Friederike von Berg, 27. Dezember 1802 (Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 8, S. 325t.). Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Johann Gottfried Herder. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 5. Aufl. 1992, S.126; Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 126; Dobbek: Karoline Herder, S. 160: »für den überzeugten Demokraten nicht nur von beschämender Peinlichkeit, sondern auch Veranlassung erniedrigender Demütigung m Weimar.« Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 139. Caroline von Herder an Emil von Herder, 16. Januar 1804 (Privatbesitz Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Kantzenbach); von Emil von Herder angefertigte A b schrift eines Briefes von Görtz an Caroline von Herder, 9. Januar 1804 (Privat besitz Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Kantzenbach).

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allen Bewerbern um einen Posten im bayrischen Forstwesen zur Pflicht gemacht. A b 1804 galt: »Eine Bittschrift um eine Forstanstellung in Bayern wird ohne ein solches Zeugnis nicht angenommen«. 32 Auch wer, wie Herder, an einem angesehenen Forstinstitut außerhalb Bayerns ausgebildet worden war und dort die »vorteilhaftesten Zeugnisse« 33 erhalten hatte, mußte, wollte er in den höheren bayrischen Forstdienst aufgenommen werden, zwei Semester in Weihenstephan absolvieren. Dahinter stand der Wunsch des bayrischen Staates, seine künftigen Beamten besser und einheitlich für den Staatsdienst zu qualifizieren. Bayern befand sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in einer Umbruchphase. Unter der Führung des Ministers Maximilian von Montgelas wurden auf zahlreichen Gebieten (z.B.: Jurisdiktion, Verwaltungsund Steuerwesen, religiöse Toleranz) Reformen durchgeführt, auch im Bildungswesen, wofür die Gründung der Schule zu Weihenstephan ein Beispiel ist. Montgelas beabsichtigte »die Schaffung eines neuen, fachlich vorgebildeten, vom Staat ausreichend besoldeten, nicht mehr korrupten und nicht mehr von Sportein und Gnadengeschenken abhängigen Beamtentums«. 34 Ein vom Staat festgelegter und allgemeingültiger Ausbildungsweg und Prüfungen waren dafür die unabdingbare Voraussetzung. Montgelas legte somit die Grundlage für die Entstehung »jenes sachkundigen, pflichtbewußten deutschen Beamtentyps der älteren Zeit [...], der für Bayern nicht weniger charakteristisch war als für Preußen.« 35 Die Abschaffung der zuvor üblichen Käuflichkeit und Erblichkeit von Amtern und Einführung des reinen Leistungsprinzips konnte für einen von Haus aus nicht vermögenden, aber leistungswilligen jungen Mann eine große Chance bedeuten, brachte aber auch manchen Nachteil mit sich. So verlor Herder durch die Auflage, nach Weihenstephan zu gehen, ein Jahr. Immerhin hatte er seine Ausbildung bereits in Sachsen erfolgreich beendet, wie seine »rühmlichsten Zeugnisse«, die er dort erhalten habe, auch belegen würden, wie er später schrieb. 36 Es war der erste einer Reihe von Vorfällen in seinem Berufsleben, die er als persönliche Kränkung aufnahm. Mangels besserer Aussichten und auf den Rat seiner Mutter hin nahm Herder das Angebot trotzdem an und reichte ein von der Mutter verfaß-

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Regierungsblatt für die Kurpfalzbaierische Provinz in Schwaben (1804), Sp. 29. Regierungsblatt für die Kurpfalzbaierische Provinz in Schwaben (1804), Sp. 29. Max Spindler (Hg.): Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert: 18001970. Bd. 1. München 1978, S. 7. Spindler: Bayerische Geschichte, Bd. 1, S. 57. Entlassungsgesuch Emil von Herders, 13.Juli 1 8 1 1 (Personalakte Emil von Herders im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, M F 26464).

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tes und seinen Brüdern durchgesehenes Bittgesuch um eine Stelle im bayrischen Forstdienst ein. Dem Bittgesuch wurde insofern stattgegeben, als Herder in »einen vorzüglichen Anstellungs-Bedacht«

genommen

wurde. 37 Da ihm damit eine Anstellung in Bayern keinesfalls fest zugesichert war, suchte seine Mutter auch nach Möglichkeiten, ihn anderswo im Staatsdienst unterzubringen. Hinzu kam, daß es im bayrischen Beamtenapparat, auch im Forstwesen, rivalisierende Parteien gab, und zu fürchten war, daß Herder in diesen Konflikt hineingezogen würde. So blieben Bayern und insbesondere die bayrische Provinz Schwaben, w o man Herder offenbar hinzuschicken plante, zwar Caroline von Herders erste Wahl, aber nicht die einzige Option, die sie sich offenhielt. 38 U m sich über die Chancen ihres Sohnes in Bayern beziehungsweise Schwaben zu erkundigen, nahm Caroline von Herder im Herbst 1804 wieder Kontakt zu Ludwig Ferdinand Huber auf. Sie hatte das Ehepaar Huber wenige Monate zuvor schon brieflich darum gebeten, daß Ludwig Ferdinand Huber bei seinem Arbeitgeber, dem Verleger Johann Friedrich Cotta, wegen der geplanten postumen Ausgabe von Johann Gottfried von Herders Schriften ein gutes Wort für Herders einlegen möge. 39 Aufgrund der schlechten finanziellen Lage der Familie nach des Vaters Tod war man auf einen möglichst günstigen Vertragsabschluß mit dem Verleger angewiesen. Mit der Antwort des Ehepaars Huber auf ihre damalige Bitte war die Witwe sehr zufrieden gewesen: »Er und die Frau haben sehr sehr freundschaftlich an mich geschrieben diesen Sommer. Beide sind sehr geistvolle Menschen, die Dich lieben und Dir Freundschaft erzeigen werden«, teilte sie ihrem Sohn Emil am 12. Oktober 1804 mit.40

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Gesuch um Anstellung vom 2. März 1804 (Personalakte Emil von Herders im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München, M F 26464); vgl. Caroline von Herder an Emil von Herder, 16.Januar 1804 (Privatbesitz Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Kantzenbach). Caroline von Herder an Emil von Herder, 12. Oktober 1804 und vom 23. N o vember 1804 (Kantzenbach: Georg Forsters Tochter, S. 59-62); die Mutter riet dem Sohn, sich weiterhin an Georg Anton Daezel, den Leiter der Forstschule in Weihenstephan, zu halten, und sich nicht vor dessen Feinden zu fürchten. Caroline von Herder an Therese Huber, 27. Juni 1804 ( B T H , Bd. 2, N r . 33, Anm. 54-64); Therese Huber an Therese Forster, i . J u l i 1804 ( B T H , Bd. 2, N r . 33); Caroline von Herder befürchtete, daß Johann Friedrich Cotta die Ausgabe doch nicht verlegen wolle. Tatsächlich äußerte z.B. Friedrich Schiller gegenüber Cotta seine Skepsis über den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens (Caroline von Herder an Johannes von Müller, 9. Oktober 1804 und Schiller an Cotta, 16. Oktober 1804, vgl. Dobbek: Karoline Herder, S. 193 und 2 3 1 , Anm. 5). Kantzenbach: Georg Forsters Tochter, S. 60.

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So schrieb Emil von Herders Mutter Ende Oktober oder Anfang N o vember 1804 wieder an L. F. Huber, der ihr diesmal in seiner Eigenschaft als bayrischer Beamter - er war im Frühling 1804 Landesdirektionsrat der Provinz Schwaben in der Schulabteilung geworden - ihren Sohn betreffend raten sollte. »Ich sagte ihm«, so schrieb sie dem Sohn, daß ich lieber anderswo, w o D u in Deinem Beruf ungestörter, sicher und fest wurzeln könntest, eine Stelle für Dich aufsuchen wollte. N u n lese seine Antwort. Sie ist mir über Erwartung gewesen. Ich meine, sollte sich bis Ostern keine andre Stelle für Dich finden, so nähmest D u sie in Schwaben an. 41

Therese Huber war, wie sie selbst später äußerte, »mittelbar« an der Entscheidung für Schwaben beteiligt.42 Die Bedenken von Mutter und Sohn gegen Bayern zerstreuend, hatten Hubers hier eine große Verantwortung übernommen. In den folgenden Jahren, nach Ludwig Ferdinand Hubers und Caroline von Herders Tod, stand Therese Huber in beruflichen Dingen Emil von Herder wiederholt mit Rat und Tat zur Seite, nutzte ihre Verbindungen für ihn, wie es zuvor seine Mutter getan hatte, und übte damit einen wichtigen Einfluß auf seinen beruflichen Werdegang aus. Nach erfolgreichem Abschluß seiner Studien in Weihenstephan suchte Herder erneut am 17. Februar 1805 und nochmals am 5. Oktober 1805 schriftlich beim Kurfürsten um eine Stelle in bayrischen Diensten - vorzugsweise in Schwaben oder Franken wegen der Nähe zu seiner Heimat Sachsen - nach, zuletzt um die Anstellung als Oberförster in Mindelheim bei Ulm. Zwar erhielt er nicht diesen, dafür aber einen anderen Posten: A m 25. Dezember 1805 wurde er zum Forsttaxator der Provinz Schwaben ernannt.43 Als solcher sollte er für die »Ermittlung des jährlich nachhaltigen Ertrages der Waldungen« 44 in dieser Provinz zuständig sein. Holz war ein wichtiger Rohstoff, dementsprechend war der Wald als Wirtschaftsfaktor und für den Staat als Einnahmequelle von Bedeutung, so daß der bayrischen Regierung die Erfassung wirtschaftlicher Daten durch eigens dafür eingestelltes und qualifiziertes Personal erforderlich schien. Nicht im praktischen, klassischen Forstdienst, sondern in einem neuen, modernen Beruf sollte Herder tätig werden. Wieder wirkte sich 41

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Caroline von Herder an Emil von Herder, 23. November 1804 (Kantzenbach: Georg Forsters Tochter, S. 59). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 2. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 216); vgl. auch Therese Huber an Victor Aime Huber, 17. Februar 1818 ( B T H , Bd. 6). Gesuche und Ernennungsurkunde in Herders Personalakte (Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, M F 26464). Alois Schlögl (Hg.): Bayerische Agrargeschichte. Die Entwicklung der Landund Forstwirtschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts. München 1954, S. 7 3 1 . 28

der Reformwille der bayrischen Regierung direkt auf Herders Lebensund Berufsweg aus, schien sich f ü r ihn die Möglichkeit zu eröffnen, Teil an einer zukunftsweisenden Entwicklung und an der herrschenden A u f bruchstimmung zu haben. Verwaltet wurde die Provinz Schwaben von U l m aus, das von 1803 bis 1 8 1 0 zu Bayern gehörte. Herder sollte dort offiziell am 1 . J a n u a r 1806 seine Stelle antreten. 45 In U l m machte er die Bekanntschaft von A l o y s von Rechbergs Bruder N e p o m u k , der dort bei der Provinzregierung angestellt war. 1807 stieg dieser zum Direktor der Generalforstadministration in München auf und konnte als solcher in den folgenden Jahren seinen Einfluß zu Gunsten Emil von Herders geltend machen. Mit 22 Jahren schien Herder bereits eine gesicherte und vielversprechende Beamtenlaufbahn vor sich zu haben - eine Laufbahn, die er seinem eigenen Verdienst, aber auch der Berühmtheit seines Vaters zu verdanken hatte. 46 E r war zwar nicht, wie anfangs erhofft, Theologe geworden, aber auch das Gebiet der Forstwissenschaft konnte, wie das Beispiel Heinrich Cottas zeigte, eine ruhmreiche Karriere bieten, so daß er die Möglichkeit hatte, den schon aufgrund seines Namens an ihn herangetragenen Erwartungen zu entsprechen. D o c h bergen R e f o r m - und Umbruchphasen nicht nur Chancen, sondern f ü r die daran Beteiligten auch immer das Risiko, Teil eines fehlgeschlagenen oder abgebrochenen Experiments zu werden, wie es Herder nun widerfuhr: Zweieinhalb Jahre wartete er darauf, den ihm zugewiesenen »Posten, der gemäß seiner organischen Bestimmung mir gleich anfangs ein wichtiges Feld der Wirksamkeit hatte öffnen sollen« 4 ? tatsächlich anzutreten. Die Regierung hatte zwar die Forsttaxatorstellen geschaffen, hatte auch begonnen, Beamte dafür einzustellen, dann aber den +i

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Herder wird von seiner Ernennung wohl erst einige Tage später erfahren haben, denn der Brief, in dem sein ehemaliger Lehrer Georg Anton Daezel, der Leiter der Forstschule zu Weihenstephan, ihm seine Ernennung mitteilt, datiert vom 31. Dezember 1805 (Privatbesitz Kantzenbach). Der Geheime Referendär und spätere Generaldirektor im bayrischen Finanzministerium Heinrich von Schenk an Caroline von Herder: »>Ihr Herr Sohn in Ulm hat seme Anstellung den Empfehlungen seiner ehemaligen Lehrer m Weihenstephan u. dem Vortrage des Herrn Geheimen Referendar von Hartmann zu verdanken. Ich habe darum kein andres Verdienst, als daß ich letzteren auf den Nahmen welcher ihr Herr Sohn trägt aufmerksam machte. Nach der Zufriedenheit, die er sich in Weihenstepha« erworben hat, dürfen Sie erwarten, daß er in seinem Fach sich dieses Nahmens würdig machen wird.«« (Zitat in einem Brief Caroline von Herders an Emil von Herder, 14. März 1806, Goetheund Schiller-Archiv Weimar, 44/336,1). Entlassungsgesuch Emil von Herders an König Maximilian I. Joseph von Bayern, 13. Juli 1811 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MF 26464).

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Plan zunächst zurückgestellt und schließlich ganz aufgegeben. Die nun überzähligen Forsttaxatoren wurden nach und nach auf anderen Stellen untergebracht. Mehr oder weniger ohne offizielle Aufgabe wartete Herder 1806 bis 1808 in Ulm auf eine Entscheidung aus München über seine berufliche Zukunft. Das für ihn charakteristische Grübeln und die Beschäftigung mit sich selbst verstärkten sich dadurch noch. 48 Zu dem beruflichen Problem gesellte sich ein finanzielles: E r erhielt zwar weiter sein Forsttaxatorgehalt, konnte damit aber seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten. Er mußte also auf sein geringes Privatvermögen - d.h. auf sein väterliches Erbe, das vor allem in seinem Anteil an den Tantiemen aus der Veröffentlichung der Schriften seines Vaters bestand - zurückgreifen. 49 Nicht gerade förderlich wirkte sich auf seine ohnehin angespannte finanzielle Situation die Tatsache aus, daß Herder großzügig mit Geld umging. Schon vor seinem Umzug nach Ulm hatte seine Mutter das Thema mit ihm besprochen, und Herder hatte zugestimmt, möglichst sparsam zu leben: »Ich nehme Dich beim Wort >daß Du gleich Anfangs die Grenzen so eng wie möglich ziehen willt u. mußt. Das ist das einzige Mittel.« [...] handle u. entbehre das unnöthige. M a n k a n n , was man m u ß . Wir sind jetzt im Stand des m ü ß e n s . « ' 0 Doch schon kurz darauf traf aus Ulm Herders erste Bitte um Geld bei seiner Mutter ein, die entsetzt reagierte: Deine Art Geld auszugeben ist - unverzeihlich. Es ist meine Pflicht Dich auf den Knien zu bitten, einen andern Weg einzuschlagen. [...] Das Geld fällt Dir durch die Hand u. D u weißt nicht für was. Unbedachtsamkeit u. falsches Ehrgefühl, eine übelverstandene Delikatesse gegen den untern Stand, der nur vom +s

Ihm wurden z.B. kurzfristig Aufgaben im örtlichen Forstwesen übertragen, etwa um den Ulmer Forstinspektor Johann Georg Seutter von Lotzen zu entlasten (Caroline von Herder an Emil von Herder, 28. März 1806, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,1), oder sein Freund Nepomuk von Rechberg ließ ihn für sich arbeiten (Caroline von Herder an Emil von Herder, 30. Mai 1806: »Sei doch nur nicht muthlos. Jeder Anfang ist schwer. Aber Auch selbst aus dem Zögern zu Deinen Geschäften das nicht von Dir kommt, kann etwas Gutes heraus kommen - u. daß Dich Herr v. Rechberg zum expedieren bei den ForstGeschäften braucht, bringt Dir Vortheil; D u orientierst Dich mit dem Gang der Geschäfte. Nehme jedes practische Geschäft als eine Vorübung auch aus dem Kleinsten lernt man. «(Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,1)). Herders Mutter schrieb sein K o p f w e h »Deinem Lieblings Hang, d e m M e d i t i e r e n « zu und forderte ihn auf: »sei gleich t h ä t i g , schreibend oder zeichnend. [...] Herzlich wünschen wir Dich von Deinem Schreibtisch weg u. in den K e m p t n e r W a l d ! « (Caroline von Herder an Emil von Herder, 23. und 24. April 1807 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,2)). 49 Entlassungsgesuch Emil von Herders an König Maximilian I. Joseph von Bayern, 13. Juli 1 8 1 1 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, M F 26464). s ° Caroline von Herder an Emil von Herder, 21. Februar 1806 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/3 3 6,1).



Raub des Obern lebt, bringen Dich um viel Geld. Wache über Dich [...]. Ein Armer darf nicht wie ein Reicher leben. Es ist dies das letztemal, daß ich mit Dir über Deine Oconomische Manier, spreche u. schreibe; sehe es als mein öconomisches Testament an.* 1

Es ging offenbar nicht um Spielschulden oder Ahnliches, sondern darum, einen Lebensstandard zu halten, den Herder seinem Stand als Beamter und dem Namen seiner Familie schuldig zu sein glaubte. Auch verwandte er das Geld nicht ausschließlich für sich, sondern lieh es seinen Freunden' 2 oder gab es Menschen, von denen er meinte, daß sie es nötiger hätten als er. Das Problem war, daß er sich seinen Altruismus finanziell nicht leisten konnte beziehungsweise andere dafür aufkommen mußten. Bald darauf schickte Herder seiner Mutter einen weiteren Bittbrief, und Caroline von Herder mußte erneut ihrem Sohn aushelfen. Verbittert antwortete sie: enthalte Dich doch nur alles u n ö t h i g e n , u. schränke doch nur auf wenige Jahre Deine B ü c h e r L e i d e n s c h a f t ein. [...] Ich mache mir im Stillen die bittersten Vorwürfe, daß ich Euch so v i e l G e l d z u E u e r m S t u d i e r e n v e r s c h a f f t h a b e - [...]. Ich stehe auch die verdiente Strafe täglich u. stündlich aus, u. möchte jede Mutter warnen! Der Tod allein kann mich von dieser Qual befreien. D a nun auch D u noch nicht mit dem Geld umzugehen weißt, so habe ichs überlegt; es wäre ja die unvernünftigste Thorheit von mir, wenn ich auch jetzt noch in unsrer Bedrängniß, Dich in der Ungeschicklichkeit des Geldausgebens unterstützte - u. Dir Geld verschaffte! Man lernt wohl wirthschaften u. sich einschränken w e n n m a n k e i n G e l d h a t . Lerne es auch, lieber Emil! [...] ich u. Luise [= Emil von Herders Schwester, PW] habens uns ja an uns fehlen lassen u. haben uns in Lumpen gekleidet. 53

Doch verschuldete sich Herder im Laufe der Jahre immer wieder, insbesondere bei der Ulmer Buchhandlung, bei der er offenbar Fachliteratur kaufte, um sich in seiner reichlich vorhandenen freien Zeit in seinem Beruf weiterzubilden. 54 Schließlich schalteten sich die Vormünder der noch unmündigen Kinder und Enkel Johann Gottfried von Herders ein, um die aus der Erbmasse entnommenen Zuwendungen der Mutter an ihren Sohn - »Du lieber aber unöconomischer Emil«, wie sie ihn inzwi51

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Caroline von Herder an Emil von Herder, 3. März τ806 (Goethe- und SchillerArchiv Weimar, 44/336,1). So borgte er, als er selbst über kein Einkommen mehr verfügte, noch seinen Freunden Gottlieb von Greyerz und Bernhard Morell Geld (Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 30. Januar 1 8 1 1 (Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97)). Caroline von Herder an Emil von Herder, 12. Mai 1806 (Goethe- und SchillerArchiv Weimar, 44/336,1). Caroline von Herder an Emil von Herder, 21. Mai 1807 (Goethe- und SchillerArchiv Weimar, 44/336,2).

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s e h e n etwas h i l f - u n d ratlos g r ü ß t e " - z u u n t e r b i n d e n . ' 6 A l l e r d i n g s hatte a u c h dies f ü r H e r d e r k e i n e d i r e k t e n F o l g e n , da C a r o l i n e v o n e i n s e h e n m u ß t e , daß sie i h r e n S o h n w e d e r z u r S p a r s a m k e i t

Herder erziehen

k o n n t e , n o c h es i h m w e g e n f e h l e n d e r S i c h e r h e i t e n m ö g l i c h w a r , einen a n d e r e n G l ä u b i g e r z u f i n d e n , w i e es die V o r m ü n d e r v o n i h m v e r l a n g t hatten. 5 7 D o c h A n f a n g

1808 w a r e n C a r o l i n e v o n H e r d e r s

finanzielle

Möglichkeiten erschöpft. D i e inzwischen aufgelaufene Schuldensumme v o n 1 0 0 0 G u l d e n - z u m V e r g l e i c h : E m i l v o n H e r d e r s J a h r e s g e h a l t als F o r s t t a x a t o r b e t r u g 960 G u l d e n 5 8 - k o n n t e sie n u r n o c h in F o r m einer B ü r g s c h a f t a u f b r i n g e n u n d sie f ü g t e , f ü r die g e s a m t e

Herder-Familie

s p r e c h e n d , h i n z u : » K e i n s v o n u n s allen k a n n D i r z u B e z a h l u n g er S c h u l d e n die H a n d

neu-

r e i c h e n . « 5 9 A u f Herders hartnäckiges weite-

res B i t t e n s c h r i e b sie schließlich v e r z w e i f e l t : D u siehst unsre Umstände, unsre Lage - konntest Du goldene Berge erwarten? [...] Ο Gott, habe ich alle diese Sorgen um Euch verdient. Freilich gings über meine Kräfte Euch die Tugend d e r E n t b e h r u n g , Meister über Euch selbst zu werden, zu lehren. 60 N o c h 3 0 J a h r e später b e k l a g t e die s o n s t sich sehr z u r ü c k h a l t e n d ü b e r H e r d e r ä u ß e r n d e T h e r e s e F o r s t e r dessen g r o ß z ü g i g e H a n d h a b u n g seiner Finanzen.61 A n f a n g 1 8 0 8 e n t w i c k e l t e H e r d e r , des W a r t e n s m ü d e , einen n e u e n P l a n f ü r sein b e r u f l i c h e s F o r t k o m m e n : E r w o l l t e v e r s u c h e n , eine Stelle i m 55

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Caroline von Herder an Emil von Herder, 16. Oktober 1807 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/3 3 6,2). Caroline von Herder an Emil von Herder, 15. und 16.November 1807 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,2): »Sie machten mir den Vorwurf, daß ich Dich durch meine a l l z e i t w i l l f ä h r i g e Art Geld zu verschaffen ruinire u. unglücklich mache. Die bedrängte Lage nach des Vaters Tod habe Dich nicht gelehrt, Dich einzuschränken. Die Summe, die D u seitdem erhalten habest, sei doch für Deine Lage nicht zu entschuldigen.« Caroline von Herder an Emil von Herder, 27. und 28. Dezember 1807 (Goetheund Schiller-Archiv Weimar, 44/336,2). Emil von Herder an Graf Maximilian von Montgelas, 7. Februar 1 8 1 1 (Personalakte von Herder, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, M F 26464). Caroline von Herder an Emil von Herder, 21. Februar 1808 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,3); Emil von Herders Brüder August, Wilhelm und Adelbert befanden sich ebenfalls in finanziellen Schwierigkeiten. Von letzterem hatte sich Emil von Herder noch 1807 400 Gulden geliehen, die Adelbert von Herder im Frühling 1808 zurückforderte (Caroline von Herder an Emil von Herder, i . M a i 1808 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,3)). Caroline von Herder an Emil von Herder, 20. und 22. April 1808 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/3 3 6,3). Therese Forster an Ciaire von Greyerz, 5. Juli 1838: Herder finde sparen »kiemlich« (Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97). 32

praktischen Forstdienst zu erhalten und zugleich seine Aufnahme bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München zu erreichen. Er wollte sich künftig der Forstwissenschaft widmen und damit die Grundlage für eine Karriere als Gelehrter legen. U m sich als Wissenschaftler auszuweisen, wollte er eine entsprechende Abhandlung schreiben und zu diesem Zweck in Tübingen studieren und anschließend eine Forschungsreise durch die Schweiz, Italien und Frankreich unternehmen. 62 Ohne finanzielle Hilfe von außen war an eine Durchführung des Studiums aber nicht zu denken. 6 } So wandte sich Herder am 21. Februar 1808 an den Präsidenten der Münchener Akademie und Freund der Familie Herder, Friedrich Heinrich Jacobi, mit der Bitte um finanzielle Unterstützung für einen einjährigen Aufenthalt in Tübingen. In dem nicht überlieferten Schreiben entwickelte Herder offenbar einen sehr ehrgeizigen, umfassenden Plan für seine sich an Gotthilf Heinrich Schuberts Arbeit 64 orientierenden Studien beziehungsweise das Werk, das aus ihnen hervorgehen sollte. Untersuchen wollte er den Einfluß geographischer Gegebenheiten auf die Sitten, die Künste und Religion der Menschen. 6 * Außerdem begriff er diese Arbeit auch als Beitrag zur Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit und berief sich dabei wiederholt auf seinen Vater. 66 Jacobis Ant62

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Therese H u b e r an Therese Forster, zwischen 23. Februar und i . M ä r z 1808 ( B T H , Bd. 3). Caroline v o n Herder an Emil v o n Herder, 2 1 . Februar 1808 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,3): Wenn er zurückkäme v o n seiner TübingenReise, so könnte er nicht eher eine Stelle antreten, »bis D u Dein Werk geschrieben hast. N u n mußt D u , aber ehe es fertig ist, v o n Schuldenmachen leben, u. kaum w i r d Dir, auch die herrlichste Schrift, Dein A u s k o m m e n nur auf so lange als D u daran arbeitest, sichern. Reisen dieser A r t , können nur reiche Leute unternehmen, wie Humbold.« Therese H u b e r an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 12. bis 14. Februar 1808 ( B T H , B d . 3); gerade w a r Schuberts neues Buch Ahndungen einer allgemeinen Geschichte des Lebens (T. 1.2. Leipzig 1 8 0 6 - 1 8 0 7 ) erschienen. Therese H u b e r an Therese Forster, zwischen 2 3 . F e b r u a r und i . M ä r z 1808 ( B T H , Bd. 3): »il se flatte de composer une histoire phisique de la terre et de son influence sur les moers, les arts et les religions«. Die Rückschlüsse auf den Inhalt des Schreibens ergeben sich aus Caroline v o n Herders Reaktion darauf: Emil v o n Herder solle mit niemandem über das innere Heilige seines Plans sprechen. Diese »Empfindungen verwahre als ein Η e 1 l i g t h u m in Deinem innersten Herzen. Gott, u. mir u. Deinem treusten geprüften Freund nur spreche davon, sonst niemand. A u c h selbst den guten Vater nenne nicht zu oft. - Ich wünschte einige Stellen dieser Art im Brief an JACOBI weg. Dein Plan ist an sich so groß u. hoch, daß er sich schon durch sich selbst als das erhabenste Ziel ausspricht. Verläugne dabei Dein eignes Selbst - die Idee v o n Deiner eignen M e n s c h w e r d u n g spreche nicht aus. D i e Idee fürs große Ganze verschlingt schon an sich selbst D e m Individuum. [...] Deine heilige E m p f i n d u n g sei die Wurzel des Baumes, den D u pflanzen willst - entblöse die

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wort war ausweichend, er schob das Problem Herder an seinen Freund Heinrich von Schenk weiter, 67 der als bayrischer Beamter im Finanzministerium für den jungen Mann wieder tätig werden konnte. 68 So war es vermutlich kein Zufall, daß Herder im Frühling 1808 statt des von ihm ersehnten Stipendiums endlich doch noch eine Aufgabe im aktiven Forstdienst erhielt. 6 ' Nachdem er sich bereits intensiv mit seinen Plänen für eine Karriere in der Wissenschaft beschäftigt hatte, mag er diese Entwicklung der Ereignisse mit gemischten Gefühlen betrachtet haben. Die Mutter versuchte jedenfalls, ihm den neuen Posten schmackhaft zu machen, ihn wieder an die Aussicht zu gewöhnen, im staatlichen Forstdienst ein gesichertes Auskommen zu finden, statt sich dem finanziell unsicheren Leben eines Gelehrten auszusetzen. 70 Im Sommer 1808 wurde er dann in das 1805 von Osterreich an Bayern abgetretene Tirol zur Organisation des dortigen Forstwesens geschickt. Doch herrschten über die ihm übertragene Aufgabe zwischen ihm und dem Ministerium unterschiedliche Ansichten. Herder schrieb am 13. Dezember 1808 dem für das Forstwesen zuständigen Minister, dem bayrischen Finanzminister Graf Johann Wilhelm von Hompesch-Bollheim, einen offenbar kritischen Brief, auf den dieser einige Tage später reagierte, indem er Herder - höflich aber bestimmt - darauf hinwies, was von ihm erwartet wurde und was nicht: Herder solle bei seiner Arbeit auf A n w e n d u n g f o r s t w i r t s c h a f t l i c h e r Grundsätze im Allgemeinen, Emtheilung der Oberforsteien und Forst-Reviere, Vorschläge und Eintheilung des Personals, und auf diese G r u n d z ü g e und Umrisse vorzüglich sich beschränken; das genaue und vereinzelte DETAIL aber nach der H a n d dem anzustellenden Personal überlassen werden, statt sich mit dem einzelnen minutiösen DETAIL zu befassen, welches die Abstellung der Missbräuche, und E i n f ü h r u n g einiger Ordnung hinaus s e z t / 1

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Wurzel nicht.« (Caroline v o n H e r d e r an Emil v o n Herder, 3 . M ä r z 1808 ( G o e the- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,3)). Friedrich Heinrich Jacobi an Emil v o n Herder, 13. M ä r z 1808 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/339). Vgl.Anm.44. Entsprechendes vermutete auch Caroline v o n H e r d e r in ihrem Brief an Emil v o n Herder v o m 19. und 24. J u n i 1808 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,3). Caroline v o n Herder an Emil v o n Herder, 8.Juli 1808 (Goethe- und SchillerArchiv Weimar, 44/336,3) im Hinblick auf sein neues A m t : »Hier gedenke ich an des Vaters Wissenschaft, wie diese seine A m t s G e s c h ä f t e mit neuem Geist belebte, erhöhte.« Graf Johann Wilhelm v o n Hompesch-Bollheim an Emil v o n Herder, 18. D e zember 1808 (Privatbesitz Kantzenbach). 34

M i t dieser O r d e r , v o n seinem Plan einer genauen u n d u m f a s s e n d e n A u s arbeitung der künftigen Forstorganisation abzulassen, hatte H e r d e r o f fenbar erhebliche Probleme. Sein Vorgesetzter u n d Freund, Graf

Nepo-

muk

Dienst

von

Rechberg,

fürchtete, H e r d e r

würde

deswegen

den

quittieren. R e c h b e r g gab H e r d e r in der Sache R e c h t u n d w ü r d i g t e sein V e r d i e n s t u m das T i r o l e r A m t s g e s c h ä f t , riet i h m a b e r d a v o n ab, sich d e m Minister entgegenzustellen, denn würde auch der Minister oder sein Refferendair im Stande seyn Ihren Plan in seinem ganzen U m f a n g zu würdigen; so ist es doch niemals zu erwarten, daß sie die Blöße geben, und bekennen ihn früher nicht verstanden zu haben. Es ist zu allen Zeiten das L o o s des Verdienstes gewesen verkannt zu w e r den, oder wenigstens in den vorgehabten besten Absichten, Hindernisse anzutreffen, die wenn sie bey der obersten Stelle entspringen nicht überwunden werden k ö n n e n / 2 E r t r ö s t e t e i h n m i t d e r A u s s i c h t auf k ü n f t i g e , i h m z u ü b e r t r a g e n d e A u f g a b e n , d i e er i n s e i n e m S i n n e w ü r d e l ö s e n k ö n n e n . 7 3 C a r o l i n e v o n H e r d e r äußerte sich ähnlich,74 sah in d e m ungerechten Verhalten der

Behörde

i h r e m S o h n g e g e n ü b e r a u c h s c h o n eine A r t G e s e t z m ä ß i g k e i t : » E s liegt

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Graf N e p o m u k v o n Rechberg an E m i l v o n Herder, 23. Januar 1809 (Privatbesitz Kantzenbach). Graf N e p o m u k v o n Rechberg an E m i l v o n Herder, 23. Januar 1809 (Privatbesitz Kantzenbach): »Ein ferneres Sträuben gegen den bestimmt erklärten Willen des Ministers welcher keine gründlichen Aufschlüße über Tirol haben will, würde gegenwärtig unnütz seyn, es w ü r d e vielmehr zur Folge haben, dal? das Ihnen, f r e y h c h in einem äusserst beschränkten Maase, zur Fortsezung anvertraute Geschäft, einem anderen, vielleicht unwürdigen, übertragen würde, u ich schmeichle mir, daß Sie zur Vermeidung dieses u der guten Sache wegen, Ihre erhabenen Plane aufopfern und Ihr Geschäft nothgedrungen nach den beschränkten fremden Ideen fortsezen werden. Wenige v o n Ihrer K r a f t ausgerüstete Männer w ü r d e n sich vielleicht hiezu bequemen, aber v o n Ihnen, bester HERDER, erwarte ich dieses. Sie w ü r d e n sich durch diese augenblickliche A u f opferung die Aussicht erhalten in Z u k u n f t , unter günstigem Umständen, nach dem ganzen U m f a n g Ihrer Fähigkeiten zu wirken, und mir den Trost gewähren noch ferners auf Sie rechnen zu dürfen.« Caroline v o n Herder an Emil v o n Herder, 30. Dezember 1808 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,3): » O dal? doch nicht Dummheit u. Cabale Deine f ü r das Land wohlthätigen Plane verhindern! Sei vest u. voll Muth, aber auch k a l t u . k l u g . Verschließe u. verberge Dein heißes warmes H e r z ; die Menschen EN GROS haben noch zu sehr die ThierNatur an sich — sie können das Gute, w e n n es durch Einen Menschen geschieht, nicht leiden - der boshafte N e i d k o m m t da ins Spiel. H i e r lerne kalt u. klug handeln. Verberge Deine edeln Absichten - s c h w e i g e - auch gegen Deinen besten Freund sei vorsichtig in Mittheilung Deiner Plane. [...] Ueberzeuge Dein Collegium n a c h u . n a c h eines Beßern. u. verberge die Wurzeln t i e f i n d e r E r d e , dessen B a u m D u pflanzen willst, damit er wurzele u. gedeihe.« 35

nun schon in Deinem Schicksal, daß Dir Hinderniße gemacht werden«, schrieb sie i h m . D o c h bald darauf erkannte sie, daß nicht nur das Verhalten von Herders Mitarbeitern Anlaß für Kritik bot. Zwar stellte sie sich Herders »OrganisationsPlan sehr überdacht u. in der schönsten Proportion nach der Lage des Landes vor«, aber sie fügte auch hinzu: »Manchmal faßt man eine Idee, die zur Lieblingsidee wird, u. sich gleichsam zur fixen Idee einwurzelt. Hier wache Dein mathematischer Geist über Dich.« 76 Doch Herder konnte sich nicht damit abfinden, auf Ablehnung zu stoßen. Wie schon 1806 war ihm ein neues und wichtiges Tätigkeitsfeld zugewiesen worden, und wieder durfte er, wie er es sah, seine besonderen Fähigkeiten nicht entfalten. Herder betrachtete sich als Jemand, der in großen Zusammenhängen dachte und sich auf sein berufliches Können namentlich im organisatorischen Bereich einiges zugute halten konnte. Er war leistungswillig, ehrgeizig und fühlte sich auf seinem Posten unterfordert, ja von Mitarbeitern und Vorgesetzten sabotiert. Er wollte mehr leisten als von einem einfachen Forstbeamten erwartet wurde. Noch Jahre später beschwerte Herder sich an höchster Stelle, bei König Maximilian I. von Bayern, daß er seine Arbeit nicht habe so ausführen können, wie es - seiner Ansicht nach - angemessen gewesen wäre. 77 Herder empfand diese berufliche Niederlage so schwer, daß er bereit war, die Konsequenzen zu ziehen und zu kündigen, um den wenige Monate zuvor beiseite gelegten Plan wissenschaftlichen Arbeitens wiederaufzunehmen. Er wolle sich »den Wissenschaften in die Arme werfen«, schrieb er seiner Mutter, die daraufhin besorgt fragte, ob er trotz seines Sprachfehlers - Herder stotterte - etwa Professor werden wolle/ 8 In finanzieller Hinsicht, aber auch was seine bereits in eine Karriere im bayrischen Forstdienst investierte Zeit und seinen guten Ruf anbelangte, wäre dieser Schritt äußerst problematisch gewesen. Anders als im Frühling 1808 hätte er nun während der Durchführung einer ihm vom Staat über7i 76

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Ebenda. Caroline von Herder an Emil von Herder, 21. bis 23. Januar 1809 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/3 3 6,3). Entlassungsgesuch Emil von Herders an König Maximilian I. Joseph von Bayern, 13. Juli 1 8 1 1 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, M F 26464): »Ein so ehrendes Zeichen des Allerhöchsten Vertrauens dieser Auftrag war, eben so groß waren die Hinderniße, die mir dabei in den Weg gelegt wurden; und der Allerunterthänigst-Unterzeichnete kann sich auf die Akten berufen, wenn er gestehn muß, daß nur der geringre Theil dieser Hindernisse von den LocalUmständen herrührte. - « Caroline von Herder an Emil von Herder, 2. Februar 1809 (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, 44/336,3); darin auch das Zitat aus Herders verlorenem Brief vom 20. Januar 1809.

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tragenen Aufgabe den Dienst verlassen.7? Vor diesem Hintergrund beschloß Herder, auf dem nun ungeliebten Posten zu bleiben und sich mit der Situation zu arrangieren. 80 79

Ebenda: »Deine fürs gute zu glühende Seele läßt mich aber fürchten, daß Du den Schritt, den D u thun willst, nicht mit der so unumgänglich nöthigen Faßung u. äußerlichen Anständigkeit thun wirst, die D u Dir selbst u. Deiner öffentlichen Ehre schuldig bist. [...] Ich bin weit entfernt, Deinem Drang nach Wissenschaft u. der Stimme Deines Geistes hierinnen zu widerstreben. Deine wahre LebensExistenz hängt ja von Deiner innern Neigung ab, w o z u Du Kräfte in Dir fühlest. Aus Deiner jetzigen Lage m eine für Deine Neigung paßende Lage überzugehen, dies erfordert jetzt Deine ganze m ä n n l i c h e U e b e r l e g u n g , G e l a s s e n h e i t u . K r a f t - denn es hängt nicht so wohl Dein Lebens Unterhalt auf den Du, nach allen den Jahren, die Du Dich dem baierschen Dienst zugebildet, gerechte Ansprüche hast, sondern auch Deine ö f f e n t l i c h e p o l i t i s c h e E h r e , das zarteste was ein Mann im Dienst besitzen kann, ab. Den Schritt, den D u thun willst >um Deine Abrufung zu bitten, u. den Forstdienst zu verlaßen< muß von Deiner Seite so delicat geschehen, daß D u weder Deiner Ehre, als seist D u dem Dir aufgetragenen Geschäft nicht gewachsen, oder Ungehorsam gegen das Oberste Collegium gewesen, keinen Flecken anhängst - u. 2.) daß D u eben ein solches Urtheil über Dich verhütest, damit D u selbst nicht die oberste Behörde von ihrer Pflicht entbindest, Dir eine Anstellung zu geben, welche es immer wolle; indem Du seit 1805, da D u nach Freisingen gingst, Dich für den baierschen Staat gebildet u. seit 1806, Dienste geleistet hast. - Lieber Engel, diese Deine öffentliche Ehre, u. die daran geknüpfte Verbindlichkeit des baierschen Staats gegen Dich, müßen jetzt die Mittel werden, w o Du zu Deiner Wissenschaftlichen Neigung eine Exsistenz erhaltest. Es ist von der höchsten Wichtigkeit einen Fuß u. Wurzel im Staat zu haben - w o u. wie es auch sei - sich nur nirgends gewaltsam losgerissen, darum bitte ich Dich auf den Knien. Höre jetzt meinen Rath, wie ich glaube, daß D u auf eine ehrenvolle Weise Dein jetziges Geschäft vielleicht noch selbst zum Theil beendigen, u. Deinen Plan den Forstdienst zu quittiren verfolgen könntest. 1.) D u als ForstOrggroßen Herder« und sein starkes Selbstwertgefühl als kompetenter Forstbeamter wohl nicht damit, alle Möglichkeiten bei der Stellensuche auszuschöpfen. Sein und seines Vaters Verdienst waren seiner Ansicht nach so offensichtlich und bedeutend, daß das Nachsuchen um eine Stelle ihm unwürdig geschienen haben mag.' 8 Aus dem gleichen Grund mußte aber auch seine durch die Uberstellung in württembergische Dienste de facto stattgehabte Entlassung aus bayrischen Diensten vor dem Hintergrund dieses (übersteigerten) Selbstbewußtseins ein nicht zu verarbeitendes Trauma gewesen sein. In seinem neuen Aufgabenbereich arbeitete Herder ab dem Frühling 1 8 1 2 mit dem schon aus seiner Tiroler Zeit bekannten Enthusiasmus. Sein Tätigkeitsfeld umfaßte die Erstellung von Tabellen, Formularen und Karten, die an die einzelnen Forstämter zum Ausfüllen und Bearbeiten verschickt wurden, z.B. um die Menge haubaren Holzes erfassen zu können. Die so von ihm erhobenen Daten verarbeitete er in seinem Rechenschaftsbericht. Des weiteren verfaßte er Reskripte über Holzpreise, Vorschläge über anzubauende Pflanzkulturen usw. Die Stelle schien wie gemacht für Herder und sein organisatorisches Talent. Mit seinem Enthusiasmus stellten sich allerdings auch wieder die Probleme mit seinen Vorgesetzten ein, die seinen Verbesserungsvorschlägen für das bayrische

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Vgl. Therese Hubers Antwort vom 7. April 1 8 1 1 auf einen (nicht überlieferten) Brief Herders, der dieses Thema ausführlich erörtert haben muß. So schätzte Gottlieb von Greyerz das Verhalten seines Freundes Herder ein: Zwar müßte Herders vorgesetzte Behörde dessen Arbeit positiv anerkennen, »aber von Dir mein theurer Emil hab ich immer den Kummer daß D u nicht die geeigneten durch die Umstände nöthigen Mitel ergreifen wirst [...] denn daß diese Anerkennung nicht hinreicht, sie geneigt zu machen. Dich in Thätigkeit zu sezen, das weist D u wohl. - Daß D u Dich Ihnen empfehlen mußt daß Du Schritte nicht unterlassen kannst zu thun die jeder in Deiner Lage thun muß, ist Dir ja eben so einleuchtend, es kommt Dich hart an, D u willst in Deinem Selbstgefühl da stehen wie ein Mann, und hältst dieses alles Deiner unwürdig und thust es dämm nicht. - und sieh mein theurer Emil darin hast D u Unrecht, deßwegen wollen Dir [sicf] diese Menschen nicht, weil D u Dich ihnen mit der Zuversicht nahst als ob sie Dich anstellen müßten. - und das finde ich nicht recht mein theurer Emil, um so weniger [Lücke] da alles Dich auffordert ernst und ohne Leidenschaft Dein Ziel zu suchen, und Dich nicht hinter das Trugbild von falscher Ehre zu versteken, das im Grunde doch etwas mit Eigenliebe verwandt. - « (Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 4. Januar 1 8 1 1 , Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97).

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Forstwesen nicht immer zustimmend gegenüberstanden." A u c h die ihm zuarbeitenden Förster, wie z.B. sein Freund Gottlieb von Greyerz, hatten mit Herders Ansprüchen und Perfektionismus zu kämpfen. 1 0 0 A b e r nicht allein der neue Posten machte Herder das Leben erträglicher. U m 1 8 1 2 , unter dem Eindruck der Erlebnisse der letzten Jahre, begann er sich mit religiösen Themen zu beschäftigen, fand Halt in seinem Glauben, in tiefer Gottergebenheit und einer fatalistischen Lebenshaltung. 1 0 1 Angeregt und begleitet wurde diese individuelle Rückbesin-

" Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 6. Februar 1813: »Daß Du nicht müde wirst und Du immer neuen Muth findest Organisationsprojekts für unser Forstwesen einzureichen das lieber Emil wundert mich um so mehr als man schon oft Deine Vorschläge auf die Seite gethan. - [ . . . ] Ich will fasten u. betten daß Deine Vorschläge in Erfüllung gehen. Du kannst auch meines Beyfalls gewiß seyn da wir noch immer gleiche Ansichten für unser METIER hatten, und daß Du die Gebrechen unsers ganzen Daseyns kennst und abzuhelfen weist beweißt mir Dein CAPITEL m der Instruktion« (Burgerbibliothek Bern, FA v. Greyerz 97). 100 In seinem Brief an Emil von Herder vom 2. September 1812 klagte Gottlieb von Greyerz über den Termindruck, den Herder auf ihn und die übrigen Forstämter ausübe. Am 10. Oktober 1812 schrieb er: »man sieht daß Dich Deine Arbeit freut, daß Du in 2 Monaten mehr Arbeit von uns verlangt hast als die ADMINISTRATION in Zeit v. 4 Jahren« (Burgerbibliothek Bern, FA v. Greyerz 97). Anläßlich einer Tabelle zur Erfassung von Holzpreisen erklärte Greyerz gereizt: »das ist nun außen und innen Deine Arbeit, aber ich möchte Dir anworten wie lezthm ein Holzmacher der sagte: >Man meynt nur wie es möglich ist, so was zu ersinnen.< Wahrhaftig Emil wir halten diese über alle Begriffe ausführlichen Darstellungen nicht mehr aus. meynst Du denn es sey so ein Spaß zusammen zu stellen wie viel für jede Holzgattung Geld erlößt worden sey. Warum war Dir denn die vorjährige Zusammenstellung der Normalpreiße nicht mehr gut genug. - Laße man uns doch nur einige Jahre am alten fortmachen. Sonst konnte ich doch mit meinen Arbeiten fertig werden, jezt aber seh ich nicht mehr hinaus [...]. — Mit diesen Klagen werde ich Dich noch oft heimsuchen, und Dir sagen daß es nicht gut seyn kann uns so mit Schreiben und Abänderungen zu plagen« ^.November 1813, Burgerbibliothek Bern, FA v. Greyerz 97). 101

Vgl. Herders Briefe an Gotthilf Heinrich Schubert (Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Ms. 2640); Therese Huber an Paul Usteri, 25. März 1829 (BTH, Bd. 9); Therese Forster, die von 1831 bis 1855 bei ihrem Schwager Herder lebte, ihn also sehr gut kannte, schrieb an ihre Schwester Ciaire von Greyerz am 25. Juni 1838: »Uebrigens weißt Du daß es ganz gegen seine [= Emil von Herders, PW] Grundsätze ist sich um irdische Güter schwere Sorgen zu machen, und ermahnt zum Vertrauen auf den lieben Gott«; am 27. Juli 1838 anläßlich einer bevorstehenden Reise klagte sie, Herder habe »eine entschiedene und übertriebene Abneigung gegen das Plane-machen«; im Juni/Juli 1838 berichtete sie, wie sie auf ihren phlegmatischen Schwager einwirken mußte, damit er sich um den Hausumbau kümmerte: »Da habe ich ein bischen Lärm gemacht und mich noch ärger angestellt als mirs im Ernst war, nur um Herder in Bewegung zu setzen, der sonst alles k o m m e n l ä s s t , bis es dann zu spät ist.« (Burgerbibliothek Bern, FA v. Greyerz 97) 45

nung durch die in Bayern und auch im übrigen Deutschland aufkommende Erneuerungsbewegung des Protestantismus. Mit dieser Strömung war Herder indirekt über seinen Freund Schubert verbunden, der sich in Nürnberg pietistisch beeinflußten Kreisen angeschlossen hatte und eine wichtige Rolle in der sogenannten Erweckungsbewegung spielte. 102 Hatte sich Herders berufliche Lage nach über sechs Jahren der Unsicherheit ab März 1 8 1 2 endlich stabilisiert, erlebte er im privaten Bereich erneut eine schwere Krise. Ein junger Schweizer, Frederic Alphonse de Sandoz-Rollin, der 1813 als Forstschüler im Haushalt der Familie von Greyerz mit Luise und Therese Huber unter einem Dach lebte, verliebte sich in Herders Braut. Obwohl eine Lösung der Verlobung zwischen Luise Huber und Herder nicht ernsthaft in Betracht gezogen wurde, stellten die folgenden Ereignisse die Beziehungen aller Beteiligten zueinander auf eine harte Probe.10-1 Es kam zu Eifersuchtsszenen, Sandoz versuchte Herder ein Duell aufzuzwingen, unternahm einen Selbstmordversuch und wurde, nachdem er einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte, von seinem Vater nach Hause geholt. 104 Die zwei Monate später, am 14.November i8i3 I O S geschlossene Ehe Herders stand somit unter keinem guten Stern, war aber auch wegen des inzwischen zerrütteten Verhältnisses zu seiner Schwiegermutter von Anfang an unglücklich. 106 Schon im darauffolgenden Mai kehrte die junge Frau mit ihrer Mutter, die sich in München bei Tochter und Schwiegersohn ab Weih102

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104

105

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Spindler: Bayerische Geschichte, Bd. 2, S. 888; vgl. die Erinnerungen Luise Huber-von Herders im Anhang und die Briefe Emil von Herders an Gotthilf Heinrich Schubert (Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Ms. 2640). Luise Huber-von Herder vertraute ein Jahr später, am 3. September 1814, ihrem Tagebuch an: »Es war Kindes Vertrauen in Gott, und in die Menschen, Kindes Gewohnheit, mich als Herders künftige Frau zu denken, in der ich aufgewachsen war, und die mir für Liebe galt, der ich mein Leben opferte. Ich glaubte mich unauflößlich gebunden, so daß ich nie auch nur von fern den Gedanken hegte als könnte ich Alphonsens Wünsche erfüllen. Ich glaubte so fest das Band was mich an Herder knüpfte, daß ich nie den Grad Liebe für Alphons in mir entstehen ließ, der mir die endliche Entscheidung Herders Frau zu werden, als Aufopferung fühlen ließ. Aber hätte ich nicht das was ich meine Pflicht glaubte immer vor Augen gehabt, so wäre gewiß mein Gefühl für Alphons unendlich heiße Liebe geworden [...]« (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 13). Therese Huber an Therese Forster, 18. bis 20. November 1 8 1 3 ; an Victor Alme Huber, 17. Februar 1818 ( B T H , Bd. 5, N r . 213 und Bd. 6). Auszug aus dem Trauregister der katholischen Pfarrkirche St. Martin in Günzburg; das bei Geiger: Therese Huber, S. 2 1 0 und Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 144 genannte Datum ist entsprechend zu korrigieren. S. Luise von Herders Erinnerungen im Anhang dieser Arbeit.

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n a c h t e n 1 8 1 3 a u f g e h a l t e n hatte, n a c h G ü n z b u r g z u r ü c k . V o n d o r t aus bat sie w e n i g e M o n a t e darauf i h r e n in M ü n c h e n z u r ü c k g e b l i e b e n e n M a n n u m die T r e n n u n g , der seinerseits i m G e g e n z u g E n d e S e p t e m b e r 1 8 1 4 o f f i z i e l l e S c h e i d u n g , w e l c h e die E h e f r a u u n d

Schwiegermutter

die

gerne

v e r m i e d e n hätten, f o r d e r t e . D i e s e w u r d e schließlich i m H e r b s t 1 8 1 4 eingeleitet u n d 1 8 1 6 a u s g e s p r o c h e n .

A b 1 8 1 8 s t a n d e n H e r d e r u n d seine

g e s c h i e d e n e F r a u , die mit i h r e r M u t t e r n a c h Stuttgart u m g e z o g e n w a r , w i e d e r m i t e i n a n d e r in B r i e f w e c h s e l . 1 0 8 A b 1 8 1 9 w u r d e ü b e r eine W i e d e r heirat g e s p r o c h e n . 1 0 9 T h e r e s e H u b e r w a r ü b e r d i e s e n P l a n z w a r nicht e r f r e u t , hielt sich a b e r b e w u ß t g a n z aus d e n b r i e f l i c h g e f ü h r t e n V e r h a n d l u n g e n h e r a u s . 1 1 0 A m i . J u n i 1 8 2 2 f a n d in Stuttgart die H o c h z e i t s t a t t . 1 1 1 I n d e r S e k u n d ä r l i t e r a t u r heißt es, L u i s e v o n H e r d e r s L i e b e z u i h r e m f r ü h e r e n E h e m a n n h a b e ü b e r ihre » E r g e b e n h e i t « g e g e n ü b e r d e r M u t t e r 107

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Therese Huber an Carl August Böttiger, 19. bis 23. Dezember 1814; 18. Oktober 1 8 1 6 ( B T H , Bd. 5, N r . 261 und Bd. 6). Zunächst hatte sich Emil von Herder brieflich in einer dienstlichen Angelegenheit an seinen ehemaligen Schwager Gottlieb von Greyerz gewandt, worauf Ciaire von Greyerz, Luise Huber-von Herders Schwester, anstelle ihres abwesenden Mannes antwortete und an Herder schrieb, um »den langabgerißnen Faden, gegenseitiger Mittheilung wieder anzuknüpfen, der durch so manche traurige und schmerzliche Erfahrungen beynahe untergegangen wäre - wenn es möglich gewesen, dal? Zeit und Umstände über einmal übernomne Freundes Pflichten, siegten.« (Ciaire von Greyerz an Emil von Herder, 2. August 1 8 1 8 , Burgerbibhothek Bern, F A v. Greyerz 97) Nachdem zwischen beiden einige Briefe gewechselt worden waren, fügte Luise Huber-von Herder einen Brief an ihren früheren Ehemann einem Brief ihrer Schwester Ciaire bei (Ciaire von Greyerz an Emil von Herder, 21. September 1 8 1 8 , Burgerbibhothek Bern, F A v. Greyerz 97); vgl. den Schluß von Luise von Herders Erinnerungen im A n hang. Therese Huber an Therese Forster, 8. März 1 8 1 9 ( B T H , Bd. 7). 1818 hatte Therese Huber unter dem Eindruck von Herders Beförderung (s.u.) und offenbar unabhängig von anderen darüber nachgedacht, eine aktive Rolle bei der Wiedervereinigung der Tochter mit Herder zu übernehmen (Therese Huber an Therese Forster, 14. Dezember 1 8 1 8 , B T H , Bd. 7). Doch als Herder selbst den Plan zur Heirat Gottlieb von Greyerz mitteilte, seine ungünstige Vermögenslage dabei erwähnte, reagierte Huber entsetzt (Therese Huber an Therese Forster, S.März 1819, B T H , Bd. 7), entschied sich aber auch, sich in dieser Frage ganz passiv zu verhalten: »Je ne vote m pour m contre son reuimon avec Herder« (Therese Huber an Therese Forster, 1. April 1819, B T H , Bd. 7). 1821 äußerte sich Therese Huber wie folgt: »Luise ist mit Herder ausgesöhnt; aber ehe seme Geschäfte nicht rangirt sind, vereinigen sie sich nicht. Die Mutter wird so wenig bey der sache erwähnt, als sey sie todt seit 10 Jahren. Der fromme Mann muß das einzige Gebot der Bibel welches eine Verheißung mit sich führte, nicht gelernt haben. N u n bin ich des Gedankens an diese Sache gewöhnt und habe den Kopf wieder über Waßer« (Therese Huber an Therese Forster, 20. März 1 8 2 1 , B T H , Bd. 8). Geiger: Therese Huber, S. 275 nennt irrtümlich Nördlingen. 47

u n d ü b e r d e r e n W i d e r s t a n d g e s i e g t . 1 1 2 H u b e r hatte sich aber, w i e erw ä h n t , nicht z w i s c h e n H e r d e r u n d seine B r a u t gestellt. A u ß e r d e m ging die i n z w i s c h e n 2 7 j ä h r i g e L u i s e diese z w e i t e E h e mit d e m M e n s c h e n , » d e r m i c h [ . . . ] an d e n R a n d des G r a b e s g e s t o ß e n h a t « , 1 1 3 w e n i g e r aus L i e b e als mit e b e n j e n e m P f l i c h t b e g r i f f ein, mit d e m sie H e r d e r s c h o n 1 8 1 3 g e h e i r a tet h a t t e . 1 1 4 Z u b e r ü c k s i c h t i g e n w a r a u c h ihre f i n a n z i e l l e A b h ä n g i g k e i t v o n i h r e r s c h w e r a r b e i t e n d e n M u t t e r , die N o t w e n d i g k e i t , n a c h d e r e n T o d eine Stelle als G e s e l l s c h a f t e r i n a n z u n e h m e n ,

u n d das

problematische

D a s e i n als g e s c h i e d e n e F r a u - s o w o h l , w a s i h r eigenes G e w i s s e n a n g i n g , als a u c h das V e r h a l t e n i h r e r U m w e l t . 1 1 ' P a s s e n d z u diesen V e r n u n f t g r ü n 112

113

II+

IIJ

Geiger: Therese Huber, S. 275; vgl. Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 145; Kantzenbach: Georg Forsters Tochter, S. 65. Zitat aus Luise Huber-von Herders Tagebuch, 3. September 1 8 1 4 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 13); infolge der Ereignisse 1 8 1 3 / 1 4 war ihre Gesundheit tatsächlich so angegriffen, daß man um ihr Leben fürchtete (Therese Huber an Therese Forster, 3 1 . August 1 8 1 4 ( B T H , Bd. 5, N r . 250)). Zu Luise Huber-von Herders Motiv für ihre Heirat 1 8 1 3 vgl. Anm. 103 und ihre Erinnerungen im Anhang dieser Arbeit; über ihre zweite Eheschließung schrieb sie an Franziska von Breuning (13. März 1822, Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 8/20): »Mich hat mein Schicksal einem Ziele zugeführt auf das ich keine Ansprüche mehr machte: Herder wünschte daß wir uns wieder vereinigen möchten, und bewieß sich so voll Güte, Vertrauen und Herzlichkeit gegen mich, dal? ich nicht anders, als mit der größten Anerkennung seinem Wunsche folgte. Ihre gütige Theilnahme wird das gewagt finden, es erschien auch mir anfänglich so, aber die Zeit und der bittre Schmerz den wir Beide tragen mußten, wird uns hoffentlich genug gereift haben, daß wir die Klippen vermeiden an denen wir früher gescheitert sind, wir haben so viel Schmerz und Leiden gut zu machen, das dies allein ein Aufruf zum Bessern sein kann, ich baue auch fest darauf daß es unserem ernsten Willen gelingen wird uns eine ruhige sichere Zukunft zu gründen. Das schwerste, das einzige worüber ich wohl nie Ruhe u Trost erhalten kann, ist die Trennung von Muttern - « . Erst ab 1821 zahlte Herder regelmäßig an seine geschiedene Frau Alimente, so daß die Tochter von der Mutter jahrelang mitversorgt werden mußte (Therese Huber an Franziska von Breunmg, 14. November 1819; an Victor Alme Huber, 6. Januar 1822; an Henriette von Reden, etwa Juli/August 1822, B T H , Bd. 7 und 8). Luise Huber-von Herder litt unter dem Gedanken, für ihre Mutter eine Last zu sein, wie sie Emilie Hartmann am 3. Juni 1 8 1 6 schrieb: »gewiß ist immer ihre Nähe das einzig wünschenswerthe für mich; aber unthätig, unfähig halte ich es da w o es mir nur allein wohl ist nicht aus. Ich flehe zu Gott mir ein Mittel zu zeigen ihr die Sache leichter zu machen, zwar wird ihr durch ihren Fleiß und ihre Weisheit unser Zusammenleben gewiß nicht schwer, aber ist das der Lohn für ihr Alter?« (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart) Die Motive der Tochter für die Wiederheirat erklärte Therese Huber Paul Usteri am 24. Februar 1822 ( B T H , Bd. 8, Zentralbibliothek Zürich, Ms. V 512.160, N r . 1 1 6 ) so: »Schon vor nahe ein Jahr wurden zwischen Herder und Luise einige Schritte

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d e n stellte sie bei i h r e r z w e i t e n E h e das r e i b u n g s l o s e Z u s a m m e n l e b e n in d e n M i t t e l p u n k t i h r e r B e m ü h u n g e n . S o w u r d e die E h e g l ü c k l i c h 1 1 6 u n d d a m i t entspannte sich a u c h die B e z i e h u n g z w i s c h e n S c h w i e g e r m u t t e r u n d - s ö h n , w e n n sie a u c h nie w i e d e r so eng w i e v o r d e n E r e i g n i s s e n v o m Winter 1 8 1 3 / 1 4 w u r d e . " 7 Mehrere Male, im Mai und im Juni 1823, Mai bis J u n i 1 8 2 4 , J u l i bis A n f a n g D e z e m b e r 1 8 2 4 u n d M a i bis A u g u s t 1 8 2 6 , J u l i bis A n f a n g S e p t e m b e r 1 8 2 7 u n d M a i bis S e p t e m b e r 1 8 2 8 , b e s u c h t e T h e r e s e H u b e r das E h e p a a r H e r d e r . " 8 Herders

berufliche Lage

hatte

sich i n z w i s c h e n

weiter

verbessert.

N a c h d e m u n t e r M o n t g e l a s ' L e i t u n g eine Z e n t r a l i s i e r u n g der V e r w a l t u n g angestrebt w o r d e n w a r , w u r d e n ab 1 8 1 7 / 1 8 , n a c h M o n t g e l a s ' S t u r z , M a ß n a h m e n z u r D e z e n t r a l i s i e r u n g d u r c h g e f ü h r t . I m H i n b l i c k auf die V e r w a l -

gemacht, die auf eine Wiedervereinigung hindeuteten. Ich schauderte bey dem Gedanken, hatte aber schon lange eingesehn daß Luise ihr Lage verändern mußte. Ihr Gewißen war unruhig über eine Scheidung und sie fürchtete sich vor der Außicht nach meinem Tod Dienste zu suchen. So bald sie lieber das Joch einer Ehe mit Herder, als Dienste Joch tragen wollte, durfte ich keinen Schatten eines Einwurfs wagen. Ich konnte mir was in Luisen alles wirkte wohl erklären — es war höchst verwickelt; aber mich der Wiedervereinigung mit Yierder widersetzen, durfte ich nicht«; 2. April 1822: »Wie ich nun wahrnahm daß ihr Gewißen die Scheidung nicht billigte, daß ein paar Männer durch sie stuzig gemacht sich nicht erklärten, daß ein paar die sich erklärten überall sehr schlaffe moralische Begriffe hatten, wünschte ich selbst eine Spaltung aufhören zu sehen, die Folge unberathner Leidenschaftlichkeit war.« ( B T H , Bd. 8, Zentralbibliothek Zürich, Ms. V 512.160, N r . 1 1 8 ) Ganz nachvollziehen konnte die Mutter den Entschluß der Tochter aber nicht (Therese Huber an Elisabeth von Struve, 19. März 1822 und an Henriette von Reden, etwa Juli/August 1822, B T H , Bd. 8). 116

117

118

Aus den Jahren 1829 und 1830 sind Briefe Luise von Herders an ihren Mann überliefert (Privatbesitz Kantzenbach), die deutliches Zeugnis über die liebevolle Beziehung zwischen den Eheleuten ablegen. Rückblickend äußerte sie sich über die Günzburger Jahre bis 1 8 1 3 so: »es war damals so vieles s c h ö n e r als jetzt und ist jetzt doch wohl alles b e s s e r — und so sei denn Gott gepriesen für Freude und Leid« (Luise von Herder an Emil von Herder, 5. Juni 1830, Privatbesitz Kantzenbach). Therese Huber an Victor Alme Huber, 19.Juli 1822 und Ö.Oktober 1822; an Carl August Böttiger, 25. Juli 1822 und 1. Oktober 1822; an Mariette Hartmann schrieb Therese Huber am j.Januar 1824, daß Herder ihr herzlich zugetan sei, »eben so wie wir ihn neun Jahr kannten ehe das Unglück loßbrach.« ( B T H , Bd. 8) Vgl. aber Therese Hubers scharfe Kritik an Herder, in der sich die latente Trübung der Beziehung zeigte (Therese Huber an Mariette Hartmann, 23. O k tober 1824; an Therese Forster, 25. Oktober 1824, B T H , Bd. 9). Uber Therese Hubers letzten Besuch bei Herders schrieb ihr Sohn Victor Alme Huber an seine Schwester Therese Forster am 13. Juni 1828: »Luise ist wie immer, mit Herder wird es ziemlich gehen, weil Mutter sich endlich überzeugt hat, daß er etwas arbeitet« (Berlin Bundesarchiv, Nachlaß V. A. Huber, N 2 1 2 5 , Bd. 3, Blatt 82 und 83). 49

tung insgesamt hatte der Zentralismus ein bürokratisches System hervorgebracht mit »am grünen Tisch der Ministerialbürokratie« 119 entstandenen, daher unrealistischen Plänen und Verordnungen, welche die ausführenden Beamten vor Ort überforderten. Nicht zuletzt am Beispiel von Herders Arbeit für die Materialbuchhaltung läßt sich die Problematik der räumlichen Entfernung und dadurch erschwerten Kommunikation mit dem ausführenden Personal nachweisen. Denn auch Herder erstellte seine anspruchsvollen, perfektionistischen Formulare, Tabellen usw. am besagten »grünen Tisch«, die Möglichkeiten der ihm zuarbeitenden Förster überschätzend. Bezüglich des Forstwesens bedeutete eine Dezentralisierung die 1818 erfolgte Auflösung der Generalforstadministration in München, bei der Herder seit 1 8 1 2 beschäftigt war. A n ihre Stelle rückten acht Kreisforstbüros. Jeweils eines war für die Verwaltung und Leitung der äußeren Forstdienststellen eines Regierungskreises - Bayern war in acht Regierungskreise eingeteilt - zuständig und wurde am Sitz der jeweiligen Kreisregierung eingerichtet. 120 Die Leitung eines dieser Kreisforstbüros wurde nun Herder übertragen. A m 27. Juli 1818 wurde er zum Kreisforstreferenten des Obermainkreises mit dem Charakter eines Regierungsrates i.Klasse befördert und damit von München nach Bayreuth, der Hauptstadt des Obermainkreises, versetzt. Er verfügte nun über ein Gehalt von 2000 Gulden jährlich. 121 1821 war Herder vorübergehend in München beschäftigt, w o er an der Neuorganisation des gesamten bayrischen Forstwesens mitarbeitete, d.h an der Neueinteilung der Forstbezirke und der einheitlichen Regelung des Forstdienstes. 122 So wie Herder sich 1808 bei der Organisation des Tiroler Spindler: Bayerische Geschichte, Bd. 1, S. 58. ° Die Dezentralisierung setzte eigentlich schon 1 8 1 3 ein, als die Generalforstadministration begann, einen Teil ihrer Aufgaben an die Kreisfinanzdirektionen zu deligieren. Die Entscheidung von 1818 führte also nur konsequent diese Entwicklung mit Schaffung entsprechender Abteilungen für das Forstwesen innerhalb der acht Kreisverwaltungen zu einem Ende; Schlögl: Bayerische Agrargeschichte, S. 7 3 i f . 121 Aktenstück vom 27. Juli 1 8 1 8 , Personalakte Emil von Herders im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, M F 26464. 122 Schlögl: Bayerische Agrargeschichte, S. 733; Emil von Herder an seinen Bruder August von Herder, 8. April 1821 (Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seme Vorfahren und seme Nachkommen, T. 2, S. 302); Therese Huber beschrieb seine Situation so: »Seine bürgerliche Lage ist s e h r g u t , er hat in Bayreut einen sehr angesehnen Forstposten und ist gesellschaftlich s e h r g e a c h t e t , er war jezt ein Jahr auf Commißion in München, hat die neue Forstorganisation geboren (!!!) und ist des Minister Lerchenfelds rechte Hand, aber auch dort persönlich sehr geschäzt« (Therese Huber an Paul Usteri, 24. Februar 1822, B T H , Bd. 8, Zentralbibliothek Zürich, Ms. V 512.160, N r . 116). I2



Forstwesens engagiert hatte, läßt sich leicht denken, daß diese Aufgabe seinen Wünschen sehr entgegen kam. Dies war bis dahin der Höhepunkt von Herders Karriere; es wurde über eine weitere Beförderung gesprochen.12-1 Mit dem Regierungsantritt von König LudwigI. von Bayern 1825 änderte sich jedoch für Herder alles. U m den bayrischen Staatshaushalt von seinem Schuldenberg zu befreien, verordnete der König einen strikten Sparkurs. Einsparungen in der zivilen Verwaltung mittels Gehaltskürzungen und Pensionierungen wurden vom König innerhalb weniger Wochen bis Ende 1825 schnell und für die Bevölkerung überraschend durchgesetzt unter Hinzuziehung einer von ihm eingesetzten Kommission. Da Entlassungen überzähliger Beamter, von denen es besonders viele im mittleren und unteren Dienst gab, gemäß der Staatsdienerpragmatik von 1805 nicht erlaubt waren, versetzte man diese Beamten kurzerhand in den vorübergehenden Ruhestand mit einer Pension, die natürlich geringer ausfiel als das ursprüngliche Gehalt. Wurde eine Stelle in dem nun schlankeren und effizienter arbeitenden Verwaltungsapparat frei, wurde sie mit einem dieser Quieszenten besetzt. Wer nicht zu den Glücklichen gehörte, die ihre Stelle behielten, mußte mitunter eine lange Wartezeit in Kauf nehmen bis zu seiner Wiederaufnahme in den aktiven Dienst oder von sich aus eine Arbeit außerhalb des bayrischen Staatsdienstes suchen. Als Herder Anfang 1826 quiesziert wurde, teilte er also das Schicksal hunderter anderer Staatsbediensteter aus allen Behörden, vom Ministerialbeamten bis zum Büroboten. 124 Doch von Anfang an vermuteten seine Angehörigen, daß Herders Pensionierung noch andere Gründe haben könnte als die allgemeinen Sparmaßnahmen der Regierung, erhielten doch viele andere Quieszenten schon bald wieder einen Posten. Ob es zwischen der Ablösung von Herders Freund Lerchenfeld als Finanzminister und Herders Quieszierung, wie Therese Huber vermutete, einen Zusammenhang gab, ist nicht zu entscheiden. 12 ' Jedenfalls kam Herders Familie 123 I2+

125

Therese Huber an Adele Blumenbach, 25. Oktober 1825 ( B T H , Bd. 9). Spindler: Bayerische Geschichte, Bd. 1, S. 1 1 0 - 1 1 2 ; Heinz Gollwitzer: L u d w i g l . von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie. München 1986, S. 407-410. Therese Huber an Paul Usteri, 14. Februar 1826 ( B T H , Bd. 9); an Karoline von Woltmann, 26. April 1826 (Leuschner: Der Briefwechsel zwischen Therese H u ber (1764-1829) und Karoline von Woltmann (1782-1847), S . 4 1 ; B T H , Bd. 9); diese Vermutung äußerte auch Gottlieb von Greyerz; auf den Ernennungslisten für sämtliche Kreise, die Anfang Februar 1826 bekannt gemacht wurden, war Herders Name nicht verzeichnet, während seine Kollegen - auch solche, die dem Pensionsalter näher waren - neuen Tätigkeiten und Dienstorten zugeteilt wurden. Auch die Bayreuther Stelle wurde mit jemand anderem besetzt (Gott-

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nach einigen Wochen zu dem Schluß, daß man Herders »Reaktivierung [...] nicht will, wie nun offenbar ist«, wie sein Schwager Gottlieb von Greyerz meinte. 126 Wie schon 1 8 1 1 begriff Herder das Vorgehen der Regierung als persönliche Kränkung und wie schon 15 Jahre zuvor schrieb er an den König einen beleidigenden Brief: Bei der Allerhöchst ergangenen neuen Organisation der KreisRegierungen hat den Allerunterthämgst Unterzeichneten das Schicksal betroffen, nicht allein seiner zeitherigen Wirksamkeit als Kreisforstreferent des Obermainkreises b e r a u b t , sondern auch gleichzeitig von mehreren, die in der Diensteskategorie ihm nachstanden, praeterirt worden zu seyn. Da nach den constitutionellen Gesetzen des Reichs es in Ewr. Majestät Macht steht, über das Loos Allerhöchst Ihrer Staatsdiener zu verfügen, so habe ich mich dieser über mich ergangenen Bestimmung lediglich in schuldigem Gehorsam zu submittiren. Aber die Gerechtigkeit setzt der Könige Macht engere Grenzen. A n diese höhere Macht in der Brust E w . Majestät darf und muß ich mich wenden. Nachdem ich dem Staate über 20 Jahre nach meinem besten Wissen und ich darf es wohl sagen - mit dem reinsten DienstEifer und mit der Fleckenlosesten Treue gedient, nachdem ich mir während dieser langen Zeit meiner Dienstführung nicht den mindesten Verweis zugezogen, vielmehr allerhöchste Belobungen und auszeichnende Merkmale des Vertrauens von des verewigten Königs Majestät, Seegenreichen Andenkens, erworben, nun so mit Einem Male mit der auffallendsten Allerhöchsten Ungnade mich angesehn ohne alles Verschulden in meinem kräftigsten Alter mir meine bürgerliche Wirksamkeit entzogen und mich M ä n n e r n n a c h g e s e t z t z u s e h n , d i e m i r in d e r

lieb von Greyerz an Emil von Herder, 2.Februar 1826 und 5. Februar 1826 (Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97)). Laut Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 140t. hatte Herder durch sein »allzu selbstbewußtes Auftreten gegenüber dem Präsidenten der Regierung von Schwaben und Neuburg, A. von Fischer,« seine Quieszierung verschuldet. Diese Angabe ist nicht korrekt: Anton Fischer war zu diesem Zeitpunkt lediglich Regierungsassessor bei der Regierung des Untermainkreises, hatte mit Herder demnach nichts zu tun. E r wurde erst 1843 Regierungspräsident von Schwaben und Neuburg, also als Herder sich bereits seit Jahren im Ruhestand befand. In einem Brief an Henriette von Reden vom 30. Mai 1826 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 4/88-89) schrieb Therese Huber, daß Lerchenfelds offene Bevorzugung seines Freundes Herder letzterem die Feindschaft Constantin Ludwig von Weidens, damals Generalkommissär des Obermainkreises, zugezogen habe, so daß er diesem sein Verbleiben im Ruhestand zu verdanken habe. Laut Gottlieb von Greyerz habe Weiden Herders Arbeit verunglimpft und ihm damit sehr geschadet (Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 21. und 23. Mai 1826, Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97). 126

Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 27. März 1826 (Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97). 52

D i e n s t e s - K a t e g o r i e nachstanden - ist ein Schicksal, über das ich nicht gleichgültig bleiben kann noch darf, und das die Ehrfurchtsvollest andringende Bitte rechtfertigt, »dal? E w Majestät geruhen möchten, m i c h m i t d e r U r s a c h e , wodurch ich mir die Allerhöchste Ungnade zugezogen habe, bekannt machen zu lassen, [...], ingleichen meine Dienstführung und die von mir geleisteten Arbeiten, [...], durch unbefangene, aufgeklärte und rechtlichgesinnte Sachverständige würdigen zu lassen.« Diese Bitte bm ich meiner Ehre, bin sie dem Namen meines verewigten großen Vaters, dessen unsterbliche Verdienste um Deutschland und um die Menschheit billig mindestens seine Söhne vor einer so unverschuldeten Zurücksetzung in einem deutschen Staate schützen sollten, schuldig; und wenn sich das mir widerfahrene Unrecht E w . Majestät vor Augen legen wird, glaube ich von Allerhöchstderoselben Gerechtigkeitsliebe diejenige öffentliche Genugthuung, die meine Ehre erheischt und die sich der geringste Unterthan von E w Majestät versprechen kann, mit Zuversicht erwerben zu dürfen. In allertiefster Ehrfurcht ersterbe ich E w Königlichen Majestät allerunterthänigsttreugehorsamer Emil Gottfried von Herder. Bayreuth, ι April 1826. 1 2 7

Wenn bis dahin noch die Möglichkeit von Herders Wiedereinsetzung bestanden hatte, so rückte sie nach Absenden dieser Schrift in weite Ferne. Anders als 1 8 1 1 hatte Herder 1826 keinen Freund im Ministerium mehr, der das Schreiben abfing oder ihn vor dessen Folgen schützen konnte. Auch seine Schwiegermutter, die sein Vorgehen in dieser Sache übrigens wie schon 1 8 1 1 billigte, aber auch die möglichen negativen Konsequenzen erkannte, 128 hatte dorthin keine Verbindungen mehr. 129 Herder 127

128

Personalakte Emil von Herders im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, M F 26464, Eingabe vom 1. April 1826. Therese Huber an Paul Usteri, etwa S.April 1826 ( B T H , Bd.9): »Er hat vor 8 Tagen eine Schrift am König abgehen laßen die jeden wackern Bürger Ehre machen würde, vor der aber den Beamten, mit wenig Ausnahme, die Haut schaudern würde. Schadet sie ihm, zieht sie ihm Unglück zu, so müßen wirs tragen er sprach für das allgemeine Recht, indem er das seine verfocht. Gott wende alle Übel ab! - Seine Schrift ist edel, fest, ehrerbietig, ganz innerhalb der Grenzen seiner Verhältniße.« Gottlieb von Greyerz äußerte gegenüber Herder am 16. April 1826: »Deine Vorstellung an den König ist ein Meisterstück sie ist kurz und enthält kräftig alles was nöthig ist. ich wüßte weder ein Wort zu streichen noch zuzusetzen. Aber was kann man darauf antworten? Glaubst D u dal? Dir eine Antwort werde? - Ich zweifle sehr daran denn Deine Sprache ist bescheiden offen und doch derb, das Betragen des Ministers oder wer Dir entgegen gestanden hat, ist krum und chikanös. Man will Dich nicht und das will man Dich einige Jahre fühlen laßen - [ . . . ] Welche Mitel hast Du ergriffen damit der König Deine Eingabe wirklich in die Hände bekommt, und der Minister sie nicht abschneidet [...]« (Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97).

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wurde vorerst nicht wieder in den Dienst berufen, sondern erhielt aufgrund seines Schreibens eine Rüge von höchster Stelle: »Diese anmaßende Schreibart hat das Finanzministerium dem Verfasser gehörig zu verweisen«, schrieb der König auf den bei ihm eingegangenen Brief. Das Ministerium in München erteilte daraufhin Herders unmittelbar vorgesetzter Behörde den Auftrag, diese Rüge zu übermitteln, was auch kurz darauf geschah. 1 - 10 Wie schon 1 8 1 0 bis 1 8 1 2 war Herders finanzielle Lage wieder unsicher. E r erhielt zwar etwa 2/3 seines Gehaltes weiter als Pension, aber die Schulden aus früheren Jahren waren noch nicht abgezahlt und er mußte seinen inzwischen offiziell für wahnsinnig erklärten Bruder Adelbert und dessen unehelichen Sohn noch immer unterstützen, wenn auch die anderen Geschwister inzwischen dabei mithalfen. 1 - 11 U m Geld zu verdienen, begann Herder gleich an einer forstwissenschaftlichen Publikation zu arbeiten (»Physiologische Erstaunlichkeiten im Bezirk des Forstwesens«). 1 - 12 D o c h wie schon in früheren Jahren und I2?

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Lerchenfeld war auch ihre letzte Verbindung gewesen, nachdem ihr wichtigster Gönner, Heinrich von Schenk, 1813 gestorben war. In dessen Namen appellierte sie allerdings brieflich am 3. März 1826 zu Gunsten Herders an Schenks Sohn Eduard (BTH, Bd. 9), der kurz zuvor von König Ludwig I. zum Ministerialrat im bayrischen Innenministerium befördert worden war. Anweisung an die Regierung des Obermainkreises vom 24. April 1826, Personalakte Emil von Herders im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, MF 26464; »Er erhielt darauf einen derben Verweis durch die Regierung, mit dem Bescheid »Quiezenten haben zu warten.< - Das wird er nun wohl lange müßen« (Therese Huber an Henriette von Reden, 30. Mai 1826, BTH, Bd. 9). Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 21. Mai 1826 (Burgerbibliothek Bern, FA v. Greyerz 97): »So viele urtheilen nach dem Erfolg einer Sache, und also meynte auch der ehrliche aber beengte Neebauer [= ein Kollege Herders, PW] daß Deine Eingabe zu anstößig gewesen wäre. - Das meyne ich nun nicht. Es war ein Versuch wahr u. frey reden zu dürfen, und da er nicht angeschlagen, so bleibst Du der Freye und die welche Dein Benehmen nicht billigen erniedrigen sich zu Unfreyen«; allerdings meinte Greyerz eineinhalb Jahre später, Herder solle sich keine Hoffnung auf eine Reaktivierung machen, »denn daß Deine Eingabe an König böses Blut gemacht kann ich mir leicht denken« (Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 7. November 1827, Burgerbibliothek Bern, FA v. Greyerz 97). Therese Huber an Karoline Pichler, 23. Februar 1826; an Henriette von Reden, 30.Mai 1826; an Johanna Friederike Kerner, i.März 1827; an Mariette Hartmann, 2. März 1829 (BTH, Bd. 9); Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seme Vorfahren und seme Nachkommen, T. 1, S. i26ff. Zum Unterhalt von Adelberts Sohn, der in München zur Schule ging, steuerte Emil von Herder um 1821 jährlich 100 Gulden bei, was immerhin etwa 5% semer Einkünfte vor der Quieszierung ausmachte (Emil von Herder an August von Herder, i82i[?], Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 2, S. 304). Therese Huber an Karoline Pichler, 23. Februar 1826 (BTH, Bd. 9). 54

b e z e i c h n e n d f ü r seine A r b e i t s w e i s e , u f e r t e dies P r o j e k t ü b e r die J a h r e i m m e r m e h r aus, so daß T h e r e s e H u b e r z w e i J a h r e später d a r ü b e r schrieb: Sein OPUS hat sich zu ganz etwas Andern gemacht als ers anlegte - wahrscheinlich zu umfaßend, aber sehr intereßant aufgefaßt: eine Forstgeografie der ganzen Erde, in H e f t e n herauszugeben - diese Form macht eine Unvollendung weniger fatal. Er arbeitet gewaltig und ist heiter und gut. 1 - 13 D i e A r b e i t w u r d e nie v e r ö f f e n t l i c h t . Luise v o n H e r d e r versuchte nach Therese Hubers V o r b i l d

durch

U b e r s e t z u n g e n u n d a n d e r e literarische A r b e i t e n d a z u z u v e r d i e n e n . 1 - 1 4 V o r allem sollte a b e r eine N e u a u s g a b e der W e r k e v o n H e r d e r s V a t e r das E i n k o m m e n a u f b e s s e r n . Z u r S i c h t u n g des N a c h l a s s e s reiste H e r d e r E n d e J u l i / A n f a n g A u g u s t 1 8 2 6 z u seiner S c h w e s t e r L u i s e Stichling n a c h W e i m a r . 1 3 5 D i e F a m i l i e stellte a b e r an J o h a n n F r i e d r i c h v o n C o t t a , der die A u s g a b e v e r l e g e n sollte, so e n o r m e G e l d f o r d e r u n g e n , daß d i e s e r T h e r e s e H u b e r u m V e r m i t t l u n g bat. L e t z t e r e n a n n t e i h m v o r s i c h t i g die S u m m e v o n 2000 G u l d e n als M i n d e s t a n t e i l ihres S c h w i e g e r s o h n s an d e m

Ge-

s c h ä f t . 1 3 6 E s Schloß sich eine m o n a t e l a n g e b r i e f l i c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g z w i s c h e n d e m V e r l e g e r u n d E m i l v o n H e r d e r als V e r t r e t e r d e r I n t e r e s s e n aller H e r d e r - G e s c h w i s t e r an. 1 - 1 ? D i e A u s g a b e k a m z w a r z u s t a n d e , a b e r 133

Therese Huber an Therese Forster, 17. Mai 1828 ( B T H , Bd.9); Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 3 1 . Januar 1827 (Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97): »nur bitte ich Dich um alles in der Welt willen h o l e n i c h t , wie D u so gern thust, z u w e i t a u s , sonst liest Dich Niemand.« Greyerz, Angestellter im bayrischen Forstwesen, hielt es für »eine Riesenarbeit, bey der A u f häufung so vieler Materialien« und schrieb Herder »daß mir nicht die Zeit scheint von Organisationen der Forstverfaßungen und ihren Wirkungen zu reden wenn die Grundsäze unserer Wirthschaft auf so schwachen Füßen stehen«.

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Therese Huber an Carl August Böttiger, 13. Februar 1826 ( B T H , Bd. 9); »Luise will fortfahren s c h r e i b e n z u l e r n e n « (Therese Huber an Karohne Pichler, 23. Februar 1826, B T H , Bd. 9). Therese Huber erhoffte von Herders Weimar-Reise, daß er dort für sein berufliches Fortkommen etwas tun könnte. U m ihm im sächsischen Staatsdienst Möglichkeiten zu eröffnen, schrieb Huber am 13. Februar 1826 an Carl August Böttiger ( B T H , Bd. 9), er möge seine einflußreichen Freunde unter den sächsischen Beamten zu Gunsten Herders mobilisieren. Vielleicht ist vor diesem Hintergrund auch der Besuch bei Goethe zu sehen, für den Therese Huber für ihre Tochter Luise ein Empfehlungsschreiben verfaßte (Therese Huber an Johann Wolfgang von Goethe, 30.Juli 1826, B T H , Bd. 9). Huber glaubte nicht, daß Herder selbst die guten Kontakte seines Bruders August, der ein hoher sächischer Beamter war, nutzen würde (Therese Huber an Therese Forster, 1. April 1826, B T H , Bd. 9).

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Die Herder-Familie soll angeblich 60000 Taler gefordert haben (Therese Huber an Johann Friedrich von Cotta, 7. August 1826 und 18. September 1826, B T H , Bd. 9). ' Therese Huber an Paul Usteri, 13. Juni 1827 und 7. Januar 1828; an Carl August 55

m a n k o n n t e sich nicht ü b e r die B e z a h l u n g einigen, so daß H e r d e r s A n f a n g 1 8 2 8 n o c h k e i n G e l d erhalten h a t t e n . 1 ' 8 Schließlich ü b e r n a h m H e r ders B r u d e r A u g u s t , als derjenige d e r H e r d e r - G e s c h w i s t e r , der b e r u f l i c h a m w e i t e s t e n g e k o m m e n w a r u n d ein e n t s p r e c h e n d e s A n s e h e n hatte, die V e r h a n d l u n g e n . A l l e r d i n g s k o n n t e a u c h er C o t t a , der i m m e r w i e d e r auf d e n s c h l e c h t e n A b s a t z d e r A u s g a b e h i n w i e s , zu k e i n e r h ö h e r e n Z a h l u n g als i n s g e s a m t 1 0 0 0 G u l d e n , die die sechs G e s c h w i s t e r u n t e r sich n o c h a u f t e i l e n m u ß t e n , bewegen. 1 - 1 9 D i e H o f f n u n g , auf diese W e i s e an eine g r ö ß e r e S u m m e G e l d e s zu k o m m e n , hatte sich also zerschlagen. A m 29. J a n u a r 1 8 2 9 g i n g H e r d e r ein neues A r b e i t s v e r h ä l t n i s ein u n d ü b e r n a h m d a m i t eine n e u e , l a n g f r i s t i g e u n d f ü r ihn f i n a n z i e l l einträgliche A u f g a b e . E r sollte f ü r einige J a h r e in F o r s t g e s c h ä f t e n f ü r F ü r s t M a x v o n T h u r n u n d T a x i s tätig w e r d e n u n d z u d i e s e m Z w e c k mit seiner F a m i l i e n a c h R e g e n s b u r g u m z i e h e n . O f f i z i e l l hätte er z u n ä c h s t w e i t e r in b a y r i schen Diensten gestanden und neben der Taxisschen Bezahlung P e n s i o n b e z o g e n . 1 4 0 M i t t e l f r i s t i g p l a n t e er, g a n z aus d e m

D i e n s t a u s z u t r e t e n u n d in d e n T a x i s s c h e n ü b e r z u w e c h s e l n . 1 4 1

138 139

seine

bayrischen Er

war

Böttiger, 18. Februar 1828 ( B T H , Bd. 9); Korrespondenz aus den Jahren 1826 und 1827 zwischen Cotta und Herder im Deutschen Literaturarchiv Marbach (Helmuth Mojem: Der Verleger Johann Friedrich Cotta (1764-1832). Repertorium seiner Briefe. Marbach a.N. 1997, S. 697, 7 1 2 und 714). Therese Huber an Carl August Böttiger, 18. Februar 1828 ( B T H , Bd. 9). Therese Huber an Carl August Böttiger, 22. April 1828; an Therese Forster, 17. Mai 1828 und 3. August 1828 ( B T H , Bd. 9); 1829 wurde der Streit zwischen der Familie und Cotta von Herders Schwester, Luise Stichling, weitergeführt (Mojem: Der Verleger Johann Friedrich Cotta, S . 7 5 1 ) und im Sommer 1831 versuchte Therese Forster vergeblich, Wilhelm von Herder, Emil von Herders Bruder, dazu zu bewegen, in die Auseinandersetzung einzugreifen (»Er könne darin gar nichts thun, da sie es August übergeben hätten, der es übel nehmen würde; es sey aber auch nichts dabey zu thun, und jezt weniger als jemals. Der Vertrag mit Cotta sey so unsinnig geschloßen daß sie ganz in Cotta's Hand wären, und ihn in einem Augenblick zu drängen, w o er sich von gehabten Verlusten erholen müße, und w o es überhaupt sehr ungünstig mit dem Buchhandel wie mit jedem andern stehe, wäre das Mittel mit einer Lumperei abgespeist zu werden, ohne sich beklagen zu dürfen.« Therese Forster an Ciaire von Greyerz, 3 1 . August 1 8 3 1 , Burgerbibliothek Bern, F A v. Greyerz 97).

140

A m 2. März 1829 unterzeichnete Herder ein Schriftstück, m dem er dem Fürsten seine Loyalität gelobte und auf die Problematik seiner gleichzeitig der bayrischen Krone geschuldeten Loyalität einging, indem er klarstellte, daß »sich der Fall nicht denken läßt«, daß es zu einem Interessenkonflikt kommen könnte (Regensburg, Fürstlich Thurn- und Taxissches Zentralarchiv, Faksimile: Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 2, Tafel 9,2).

141

Therese Huber an Mariette Hartmann, S.Februar 1829; an Adele Blumenbach, 1. und 2. März 1829 ( B T H , Bd. 9); 1000 Gulden jährlich sollte Herders »Entschädigung« laut des zwischen ihm und dem Fürsten am 29. Januar 1829 ge-

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bereits nach Regensburg abgereist, hatte dort eine Wohnung gemietet, 142 als ihm alle Pläne durch die bayrische Regierung wieder zunichte gemacht wurden, indem man ihn am 22. April 1829 wieder in den aktiven Dienst versetzte. Alle Versuche seitens Herders und des Fürsten, von der bayrischen Regierung eine längere Freistellung Herders zu erreichen, fruchteten nichts. Spätestens am 9. Juni sollte er seinen Dienst in Bayern antreten. 1 « Die zuvor von Therese Huber geäußerte Befürchtung, daß die bayrische Regierung ihm schaden würde, wenn sie von Herders beruflicher Veränderung erführe, schien also begründet zu sein. 144 Herders zogen 1829 nach Augsburg um, wo Emil von Herder als Kreisforstreferent des Oberdonaukreises künftig tätig sein sollte. Therese Huber, die sich darauf gefreut hatte, daß ihre Tochter und ihr Schwiegersohn nach Augsburg ziehen würden, wo auch sie wohnte, und die sogar plante, mit ihnen im gleichen Haus zu leben - allerdings, wie sie ausdrücklich vermerkte, in getrennten Wohnungen 145 - erlebte den Umzug nicht mehr. Mai/Juni 1830 traf sich Herder mit seinem Bruder Rinaldo, 146 der ebenfalls im bayrischen Forstdienst beschäftigt war, aber 1829 wegen Unterschlagung quiesziert und mit Gefängnis bestraft worden war. 14 ? Auschlossenen Vertrages betragen (Fürstlich T h u m und Taxissches Zentralarchiv Regensburg, Angabe nach Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 141). Damit wäre der durch die Ruhestandsversetzung eingetretene Einkommensverlust mehr als ausgeglichen worden. Dieser betrug etwa 800 Gulden (Therese Huber an Mariette Hartmann, 14. Februar 1826, B T H , Bd. 9) oder, nach anderen Angaben, 700 oder 600 Gulden jährlich (Therese Huber an Carl August Böttiger, 18. Februar 1828; an Therese Forster, 12.Februar 1826; an Paul Usteri, 12. April 1828, B T H , 142 143

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Bd. 9). Therese Huber an Mariette Hartmann, 2. März 1829 ( B T H , Bd. 9). Personalakte Emil von Herders im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, M F 26464; am 31. Mai 1829 erfolgte die endgültige Nichterteilung des vom Fürsten von T h u m und Taxis für Herder nachgesuchten verlängerten Urlaubs durch König Ludwig von Bayern persönlich. Therese Huber an Adele Blumenbach, 1. und 2. März 1829 ( B T H , Bd. 9). Therese Huber an Emil von Herder, 7. Mai 1829 ( B T H , Bd. 9). Der Brief zeigt, wie weit sich Huber mit Herder ausgesöhnt hatte: Der frühere Plan des Zusammenlebens wurde wieder aufgenommen, aber, eingedenk des Fiaskos vom Winter 1 8 1 3 / 1 4 , als Herders Therese Huber als Gast bei sich aufgenommen hatten, schrieb Huber an Herder, daß die in zwei verschiedenen Etagen gelegenen Wohnungen ganz getrennt voneinander seien. Zuvor hatte sie Paul Usteri am 19. März 1823 geschrieben, daß sie nie wieder in einem gemeinsamen Haushalt mit einem ihre Schwiegersöhne leben wolle ( B T H , Bd. 9). Luise von Herder an Emil von Herder, 3. Juni 1830 (Privatbesitz Kantzenbach). Therese Huber an Mariette Hartmann, 2. März 1829 ( B T H , Bd. 9); Heinz Staudinger: Rinaldo von Herder - »[...] ein wunderbarähnlicher Abdruck sei57

ßerdem soll er ein Trinker gewesen sein und seine Frau geschlagen haben. 148 Wie schon Adelbert, so schien sich auch Rinaldo zu einer lebenslangen Belastung für seine Geschwister zu entwickeln, speziell aber für Emil von Herder, der sich in besonders hohem Maße für die beiden Brüder einsetzte, obwohl er selbst in beruflicher und finanzieller Hinsicht schlechter gestellt war als seine übrigen Brüder, August und Wilhelm von Herder. Im darauffolgenden Jahr, zwei Jahre nach ihrer Mutter, starb Herders Frau Luise in Augsburg am Kindbettfieber. Die Erziehung der zwei überlebenden Kinder Herders - drei weitere waren schon vorher im Säuglingsalter verstorben 149 - übernahm ab Sommer 1831 Luise von Herders älteste, unverheiratete Schwester Therese Forster, die auf eine langjährige Berufserfahrung als Erzieherin zurückblicken konnte. Sie zog zu Herder und seinen Kindern nach Augsburg und wohnte bei ihrem Schwager bis zu dessen Tod 1855. 1 5 0 Auf diese Weise blieb Emil von Herder über den Tod seiner Frau hinaus in enger Verbindung mit der Familie seiner verstorbenen Schwiegermutter und außerdem konnten deren pädagogische Maximen durch ihre Tochter die Erziehung der Herder-Kinder beeinflussen. Allerdings war die sehr zurückhaltende, ja schüchterne Therese Forster keine zweite Therese Huber, wenn es um die Durchsetzung ihrer Ideen ging und es darüber zu Konflikten mit Herder kam. 1 ' 1

148

149

1,0

151

nes Vaters«. In: Aschaffenburger Jahrbuch für Geschichte, Landeskunde und Kunst des Untermaingebietes, Bd. 21 (2001), S. 327-348, hier: S. 346. Therese Huber an Franziska von Breuning, 17. März 1820 ( B T H , Bd. 7); an Mariette Hartmann, 2. März 1829 ( B T H , Bd. 9). Theodor Gottfried Ferdinand Emil von Herder (18.—21. August 1823); Therese von Herder (11.9.-18.10.1824), Therese Hubers Patenkind; Adele von Herder (21.2.-2.12.1827) (Gebhardt/Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, T. 1, S. 145!.). Die Angabe bei Deuerlein: Die Familie Herder und Erlangen, S. 18, daß Emil von Herders Kinder nach dem Tod seiner Frau »vorübergehend«, nämlich 1831 bis 1841, im Hause ihres Onkels Wilhelm von Herder erzogen worden seien, »bis sie mit dem nach Erlangen übersiedelnden Vater wieder zusammentrafen«, deckt sich nicht mit den Aussagen Therese Forsters in ihren Briefen an Ciaire von Greyerz aus den 1830er Jahren. Dort ist nur von einem mehrmonatigen Aufenthalt von Emil von Herders Sohn Ferdinand im Winter 1834/35 bei Wilhelm von Herders Frau Marie die Rede (Therese Forster an Ciaire von Greyerz, 9. September 1834, Burgerbibhothek Bern, F A v. Greyerz 97). Therese Forster äußerte sich gegenüber Ciaire von Greyerz in einem Brief vom 5. Juli 1838 (Burgerbibhothek Bern, F A v. von Greyerz 97) über Emil von Herders ihrer Ansicht nach zu laxe Erziehung seiner Kinder: »es ist eine große Schwäche von Η erder daß er den Kindern gar nichts versagen kann, und nur ein Glück dal? sie bey unsrer einfachen, zurückgezogenen Lebensweise manches nicht kennen lernen und deshalb nicht wünschen. Er meint: wenn sie ver-

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Wie schon im Falle des Nachlasses seines berühmten Vaters konnte Emil von Herder auch v o m literarischen Schaffen seiner Schwiegermutter nach deren T o d finanziell profitieren. Der Erlös f ü r die von seinem Schwager Victor Aime H u b e r herausgegebene mehrbändige

Ausgabe

ihrer Erzählungen wurde unter Therese Hubers Hinterbliebenen verteilt. Herder wurde beauftragt, sich darum zu kümmern. 1 ' 2 1839 wurde Herder in den offiziell zeitweiligen, de facto aber endgültigen Ruhestand versetzt. 1 5 3 Dieser von der Regierung

angeordneten

Pensionierung des erst 56jährigen ging eine Untersuchung seiner Amtsführung voraus, die aufgrund der Eingabe von Herders Vorgesetzten Karl von Stengel, des Regierungspräsidenten der Provinz Schwaben und N e u burg, eingeleitet wurde. Dieser hatte sich darüber beschwert, daß Herder als oberster Beamter für Forstangelegenheiten der Provinz nicht in der Lage sei, das ihm unterstellte Personal zu disziplinieren, 1 ' 4 und daß die

nünftig würden, würden sie es leicht entbehren wenn es einmal seyn müßte, und will durchaus nicht die Macht der Gewohnheit gelten laßen, die dem Vernünftigsten manche Entbehrung empfindlich macht. [...] Leider muß ich auch hier Η erder wieder anklagen, indem er den großen Fehler begeht sich im Sprechen in Gegenwart der Kinder nicht genug in Acht zu nehmen, und dann zu erlauben daß sie in den Ton gelegentlich aus Nachahmung einstimmen. Es geschieht freilich nur unter uns, aber auch da passt es nicht, und es giebt so viele Verhältnisse über die sie unser Urtheil und unsern Tadel noch nicht verstehen können. Das ist ein weites Kapitel, und man muss sich dabey an das erinnern was Du von der Nachsicht sagst, und sie so an den Lebenden üben, wie man sie, freilich l e i c h t e r an den Verstorbenen übt. Ich würde sonst Niemand als Dir und Miene über so etwas klagen, wenn man das Klagen nennen kann, denn man könnte es leicht zu scharf tadeln und mich misverstehen. Die Schwächen werden durch so gute Eigenschaften überwogen daß man für die Kinder dasselbe wünschen kann, da Vollkommenheit doch nicht möglich ist. Aber wer weiß wie weit bey ihnen das Fehlerhafte gehen wird? Darum muß man ihm entgegenarbeiten, und das ist mir recht schwer.« 1,2

153

Ii+

Erzählungen von Therese Huber. Hg. von V[ictor] A[ime] H[uber]. T. 1-6. Leipzig 1830—1833; Victor Aime Huber an Emil von Herder, 27. Juni 1831 (Privatbesitz Kantzenbach); auch das Honorar für Therese Hubers letzten Roman Die Ehelosen, der 1829 bei Brockhaus erschien, sollte unter den Erben aufgeteilt werden: »Die Ehlosen werden uns auch wieder gegen 800 Gulden einbringen. So hat die treue Mutter noch gesorgt: daß wir die Früchte ihrer Arbeit noch nach ihrem Tode genießen sollen« (Gottlieb von Greyerz an Emil von Herder, 20. Januar 1830, Burgerbibliothek Bern, FA v. Greyerz 97). Dies Reskript und die im folgenden zitierte Eingabe und Beurteilung finden sich in der Personalakte Herders (Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MF 26464). Anlaß war, daß ein subalterner Forstangestellter sich während seiner Dienstzeit sechs Tage ohne Wissen seines Vorgesetzten betrunken im Wirtshaus aufgehalten hatte, und Herder sich später dem Regierungspräsidenten gegenüber weigerte, diesen Mann zu entlassen. 59

unter seiner Leitung von seinen Untergebenen erarbeiteten Arbeitspläne unzureichend seien, so daß Stengel selbst sie mehrfach habe umarbeiten müssen, um »verdiente Rügen« durch die vorgesetzte Zentralregierung abzuwenden.

Besonders

Herders

Kommentierung

der

schriftlichen

Dienstanweisungen des Regierungspräsidenten »mit rothen Unterstreichungen, Fragezeichen und Randgloßen« brachte Stengel gegen ihn auf. In seiner Eingabe heißt es dazu: In der Uberzeugung, daß eine so grobe Verletzung aller Sitte und Unterordnung nur v o n einem höchst unbesonnenen Subjekte geschehen seyn könne, erließ ich die Präsidial-Verfügung v o m 20 laufenden lichen Kreisforst-Rathe am 21 laufenden

yionats,

die v o n dem könig-

Mo«Mutter< und >Sohn< als einen Generationenkonflikt zu interpretieren. Die ältere, in der Ideenwelt der Aufklärung verhaftete Frau konnte und wollte die um 1800 neu aufkommenden politischen, religiösen und philosophischen Vorstellungen, deren Anhänger Herder teilweise wurde, nicht immer übernehmen: den Wandel vom Kosmopolitisch-Europäischen zum N a tionalen, vom Deismus zum Mystischen, vom Rationalen zum Irrationalen und Romantischen. Aber dem Kern der Problematik kommt der Erklärungsversuch von Johann Gotthard Reinhold näher: In einem nicht überlieferten Brief an Huber konstatierte Reinhold - und er stand mit dieser Ansicht offenbar nicht allein - ein Ungleichgewicht der Kräfte in Hubers Beziehung zu ihren Mitmenschen. Daraufhin äußerte diese Zweifel an ihrem Selbstbild: Sie wunderlicher Mann! also: »die Stärke meines Geistes erhebt mich zu sehr über die Meinen und erregt also die Mißverständniße.« Irgend w o muß etwas nicht recht in mir sein, weil Sie es meinen und - noch ein paar Leute die ich neben Ihnen nicht nennen mag. I +

>Stärke des Geistes< ist offenbar ein problematischer Begriff. Huber verstand Reinholds Feststellung als Kritik und darüber hinaus als einen Disziplinierungsversuch, den sie sofort mit einer Gegenfrage parierte: »Ob es wohl beßer gehen würd, wenn ich meinen Geist nicht stark erhielt? wenn ich der schmerzvollen Weichheit meines Herzens einmal, dann wieder der Gluth meiner Fantasie, nachgäb?« Diese Alternative, 12 13

14

Therese Huber an Therese Forster, 30. Juni und 1. Juli 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 6). »c'est comme si un demon le possedoit«, »le demon religieux« (Therese Huber an Therese Forster, 19. und 22. Januar 1 8 1 4 ( B T H , Bd. 5, Nr. 231)). Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 22. Mai 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 5, N r . 288).

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sollte Reinhold eine solche im Sinn gehabt haben, ist keine, so Hubers Argumentation: Die realen Bedingungen verlangen von ihr, daß sie stark ist, denn die Schwäche der sie umgebenden Menschen zwingt ihr eine Führungsrolle auf: Allgemein, mit wenig Ausnahme allgemein, vermochte Unsicherheit der A n dern, Schüchternheit, Ungeschicktheit, Trägheit, die Menschen um mich, mich zu ihren Vormund zu fordern. Im 13 ten Jahre schrieb ich im Namen einer Heerde Soldaten Weiber an meinen lieben Mann in Amerika, jezt bin ich für f r e m d e Wittwen und Waisen in die Vorzimmer der Fürsten gestanden; wie Huber starb rettete meine Thätigkeit meiner Kinder kleines Vermögen. 1 5

>Stärke des Geistes< bedeutet: Selbstsicherheit, Mut, Geschicklichkeit, aktives Handeln im Unterschied zu »Unsicherheit [...], Schüchternheit, Ungeschicktheit, Trägheit«. Diese Stärke setzt Huber nicht für sich selbst, sondern für andere und damit für einen positiv zu bewertenden Zweck ein. Es folgt das Bekenntnis zur Stärke als einer grundsätzlich positiven Eigenschaft: »Jeder Mensch muß sich selbst zu behandeln wißen um für seinen Beruf am weitesten mit seinen Kräften zu kommen. Aber er soll stez über seine Mittel wachen, damit sie ihm stärker machen, nicht der Stärke entübrigen.«16 Damit greift Huber bei der Verteidigung ihrer eigenen Stärke eine aufklärerische Lebensmaxime auf, nach der das menschliche Dasein die »Beglückung seiner selbst und Anderer durch Ausbildung und Anwendung aller seiner Kräfte und Fähigkeiten in dem Kreise, in welchem und für welchen die Vorsehung ihn gebohren werden ließ« bezwecken soll, wie etwa Joachim Heinrich Campe in seinem Väterlichen Rath für meine Tochter zu Beginn ausführt.17 Huber hätte es nun dabei bewenden lassen können. Sie hatte ihre Argumentation eigentlich schon abgeschlossen, sah sich aber doch offensichtlich genötigt, etwas hinzuzufügen: Mein Bewußtsein gegen die Menschen, das ich oben erwähnte, betrift aber wieder nur den Werth meines Gemiiths und meines Geistes, nicht den meiner litterarischen, oder poetischen oder gelehrten Ausbildung. D a bin ich so unbestochen gegen mich, wie ich demüthig gegen mein Ideal bin. Ich stehe und stand neben den bekannten Weibern unsrer Zeit mit dem Strickstrumpf in der Hand ohne Heel wie eine Stümperinn, und gestehe gern ein daß sie gewiß Recht haben wenn sie bewunderter sind als ich - aber wieder mögte ichs nicht sein für eine Feodora oder Agathokles u.s.w. A m liebsten bin ichs wenn mir 15

16

17

Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 22. Mai 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 5, N r . 288). Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 22. Mai 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 5, N r . 288). Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 6.

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ein gutes Hausweib sagt: von Ihnen lernte ich meine Kinder großpflegen, meine Küche rein halten, meinen Anzug sauber einrichten - und das geschieht mir zuweilen/ 8

Huber bringt in ihrer Rechtfertigung an dieser Stelle den Diskurs über die Geschlechterordnung zur Sprache. Sie tat es von sich aus, denn Reinhold hatte in seiner Analyse der Ursachen ihrer Probleme mit ihren Mitmenschen das Thema >Geschlecht< vermutlich gar nicht erwähnt. Allein seine Zuschreibung der Eigenschaft >Stärke< provozierte demnach am Schluß der Argumentationskette die Versicherung Hubers, die sogenannte weibliche Bestimmung »zur Gattin, zur Mutter, und zur Vorsteherin des Hauswesens«1' erfüllt zu haben. Die Zuschreibung machte offensichtlich ein ausdrückliches Bekenntnis zur Ordnung der Geschlechter, wie sie z.B. im oben zitierten Campeschen Väterlichen Rath entworfen wird, erforderlich. In der Tat war der im Kontext aufgeklärten Denkens über Wesen und Bestimmung des Menschen positiv bewertete Begriff >Stärke< im Diskurs über die Geschlechterordnung problematisch. Denn in diesem Diskurs wurde körperliche, geistige, intellektuelle und charakterliche Stärke wiederholt dem Mann zugeordnet, während die Frauen als das »schwache Geschlecht« galten.20 Nicht die Stärke des Geistes, die Reinhold in seinem Brief der Freundin attestierte, sondern allenfalls die »Feinheit des Geistes« charakterisierte nach zeitgenössischer Vorstellung die Frau im Unterschied zur »Stärke des Kopfes«, die den Mann ausmache.21 Schiller brachte es in seinem Gedicht »Die berühmte Frau« auf den Punkt: »Ein starker Geist in einem zarten Leib, / ein Zwitter zwischen Mann und Weib«.22 Stärke wurde der Frau zwar im passiven Dulden und Ertragen zugebilligt,23 nicht aber im aktiven, mutigen Handeln. Zwar könne, wie in Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache nachzulesen ist, ein Weib »sich über die Schwachheiten, die Furcht etc. ihres Geschlechts« erheben und »Entschlossenheit, Standhaftigkeit und Muth« lS

19 20 21 22

23

Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 22. Mai 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 5, N r . 288); bei Feodora handelt es sich um einen Roman von Caroline de la Motte-Fouque (Leipzig 1815), bei Agathokles um einen von Karoline Pichler (Wien 1808). Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 79. Rousseau: Emil, S. 386; Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 16. Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 27. Friedrich Schiller: Die berühmte Frau. Epistel eines Ehemannes an einen andern. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 1. Gedichte. Weimar 1943, S. 196-200, hier: S. 200. Johann Ludwig Ewald: Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden. Ein Handbuch für erwachsene Töchter, Gattinnen und Mütter. Bd. 1. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1807, S. 32. Ζ»

zeigen. 24 Aber dies entsprach nicht der Definition eines >weiblichen Weibesweiblich< konnte sie dann nicht mehr eingeordnet werden oder sich definieren. Vielmehr wurde verlangt, daß das Weib sich durch »Gefühl, Aeußerung und Geständniß seiner Schwäche« 2 ' als Teil der Ordnung erweisen sollte. Der Frau, die sich gegenteilig, >unweiblich< verhielt, wurden Sanktionen angedroht. So heißt es im Wörterbuch der Deutschen

Sprache unter dem Stichwort »weiblich«: »Ein

Weib, welches nichts Weibliches an sich hat, ist ein unnatürliches, nichts weniger als liebenswürdiges Wesen«. 26 Dieser im Geschlechterdiskurs aufgestellte Widerspruch

zwischen

>stark< und >weiblich< war in Hubers Denken durchaus präsent, wie die sonst unmotivierte Erläuterung Hubers zur Einhaltung der weiblichen Bestimmung in ihrem Brief an Reinhold zeigt. Man könnte vermuten, daß diese zusätzliche Aussage am Schluß ihrer Argumentation dem männlichen Briefadressaten und der Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen geschuldet war. Diese beiden Faktoren mußte sie jedoch nicht berücksichtigen, als sie an anderer Stelle von ihrer »Starken, und doch ganz weiblichen Seele«27 schrieb. Auch hier wird der Widerspruch thematisiert (»und doch«). Aber diese Selbstcharakteristik findet sich nicht in einem Brief, sondern in einem Manuskript in ihrem Nachlaß, das wahrscheinlich nicht für andere Augen bestimmt war, sondern nur der Selbsterforschung diente. Die Problematik trat also nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, sondern auch in der mit dem eigenen Ich zutage. Es ging um die Frage nach der Selbstdefinition, der eigenen Identität vor dem Hintergrund des Geschlechterdiskurses und nicht nur um die oberflächliche Akzeptanz durch Andere. Die Problematik des Widerspruchs berührte das Innerste: ein deutlicher Beweis für die Wirkungsmacht des Geschlechterdiskurses. Zugleich wird aber klar, daß man sich dieser Wir-

24

2i 16 27

Joachim Heinrich Campe (Hg.): Wörterbuch der Deutschen Sprache. T. 3. Braunschweig 1809, S. 205. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 1 6 1 . Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, T. 5, S. 634. Manuskript von Therese Huber, 17. August 1 8 1 6 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 4/23).

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kungsmacht nicht ganz beugen mußte, daß Widerstand möglich war. Denn Huber bestand in ihrer Selbstbeschreibung und ihrem Brief an Reinhold trotzdem darauf, beides zu sein: >stark< und >weiblichWeiblichkeit< folgen. Ersteres konnte nicht ohne letzteres gedacht werden; letzteres mußte das erstere rechtfertigen. In der Formel >stark und doch weiblich< drückt sich also ein dem Geschlechterdiskurs verhaftetes und emanzipatorisches Denken gleichermaßen aus. Wenn man so will, verortete Huber sich damit in zwei verschiedenen Diskursen. Allerdings strebte sie danach, dieses ihre Identität prägende Spannungsverhältnis aufzulösen oder ihm wenigstens ein Stück weit seine Sprengkraft zu nehmen. So jedenfalls läßt sich der folgende Satz in dem erwähnten Manuskript interpretieren, in dem Huber über das Zustandekommen ihrer Beziehung zu ihren Söhnen Herder, Albrecht und Sandoz reflektierte: »Sollte das Bedürfniß einen Stärkern zu gehören in mir Starken, und doch ganz weiblichen Seele dieses Bedürfniß von Männerverbindung erzeugt haben?« 28 Neben dem stärkeren Mann ist die eigene Stärke, die im Konflikt steht mit den Weiblichkeitsvorstellungen der Zeit, nur noch von untergeordneter Bedeutung. Sie ist relativiert. Das strukturelle Problem der Beziehungen Hubers zu ihren Söhnen könnte also so beschrieben werden: Hubers Erfahrung der und Bekenntnis zur eigenen Stärke, mehr noch: zum Stärkersein als die sie umgebenden Menschen, wurde von ihr vor dem Hintergrund des Geschlechterdiskurses als problematisch für die eigene, nämlich >weibliche< Identität erkannt. Ins Negative gewendet bezeichnete sie sich selbst einmal - man denke an Schillers Metapher vom »Zwitter« - als ein »Mann-Weib«, was ein »Übel« sei, an dem »mein innres Leben [...] siecht«. 29 Doch eine Selbstdisziplinierung im Sinne der Geschlechterordnung (»Ob es wohl beßer gehen würd, wenn ich meinen Geist nicht stark erhielt?«) stand für sie ebensowenig zur Debatte wie ein offenes Heraustreten aus diesem System. Die Lösung des Problems glaubte sie innerhalb, nicht außerhalb der Ordnung zu

28

19

Manuskript von Therese Huber, 17. August 1816 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 4/23). Therese Huber an Paul Usteri, 26. September 1 8 1 3 ( B T H , Bd. 5, N r . 199). 80

finden, nämlich in dem >stärkeren< Mann als dem notwendigen Pendant zur >starken< Frau. An seiner Seite war sie die Schwächere und damit eher im Einklang mit dem Diskurs, sie konnte sich als Teil des Systems empfinden. Der stärkere Mann konnte ihr sowohl das Festhalten an ihrem Selbstbild als >stark< als auch an der Geschlechterordnung ermöglichen, in der sie ihre Identität als >weiblich< verankert sah. Die Verantwortung für die Einhaltung der Diskurskonformität lag somit nicht mehr bei ihr, sondern bei jenem Mann, dem die von ihr zugedachte Rolle zufiel, also beispielsweise Herder. Welche Konsequenzen dies für ihn hatte, bleibt noch zu klären. Denkt man an Prokops Deutung der Mutter-Sohn-Beziehungen (Kap. i), so zeigt sich die Parallele, daß die Frau auf den Mann angewiesen ist: bei Prokop, indem die Frau nur über den Mann an einer ihr sonst nicht zugänglichen Welt teilhaben und sich damit ein Stück weit selbst verwirklichen kann; bei Huber, indem über den Mann ihre Identitätsfindung innerhalb der Ordnung möglich sein soll. Allerdings weist Prokop auch auf die Dominanzverhältnisse in den Mutter-Sohn-Beziehungen hin, und so wird man fragen müssen, ob ausgerechnet die von Huber auf diese Weise strukturierten Verbindungen das von ihr Erhoffte leisten konnten, ob die Söhne der ihnen zugedachten Aufgabe gewachsen waren. Vielleicht war schon durch den Widerspruch zwischen dem Beziehungskonzept und der Erwartung an die männlichen Partner das Scheitern der Beziehungen vorprogrammiert? In jedem Fall stellte Huber ihr Nachdenken über ihre Beziehung zu Herder in dem zitierten Manuskript dieses Mal in den größeren Zusammenhang ihrer übrigen Mutter-Sohn-Verbindungen, ja ihrer Beziehungen zu Männern überhaupt. Das Ausmaß ihrer Enttäuschung über ihren Lieblingssohn wird erklärlich, wenn man bedenkt, daß die Beziehung in diesen größeren Rahmen eingebunden war und die Folgen des Bruches dadurch bis zur Infragestellung ihrer >weiblichen< Identität reichen konnten. Allerdings formulierte sie ihre Überlegung über die Gründe für das Zustandekommen (nicht für den Bruch) der Beziehung in Form einer Frage. Diese wiederum war nur eine Frage unter vielen: den 1 7 August 1816 [...] Die Sehnsucht einen Gegenstand der Mittheilung zu haben hat mich auf Irrthümer geführt. Darum gestattete ich dem Gefühl für Emil und Wilhelm- 0 so unberechnete Gewalt. Ich finde zwei Gegenstände des Zweifels in meiner Vergangenheit: warum konnte ich meine Töchter nicht zu hinreichenden Gegenständen von Liebe u Mittheilung machen? und wie modificirte sich mein Ge3° Wilhelm Albrecht. 81

fühl für Emil u "Wilhelm zur Mutterliebe? Beide Fragen berühren sich im Grande. Meine Liebe war nie sinnlich. Die höchste Gunst war immer nur Liebesbeweiß, nie Liebeszweck. Wenn es natürlich gewesen war, hätte ich ohne diese höchste Gunst geliebt, so lange ich Liebe kenne. Warum nun, da meine Sinnen sehr unwichtig einwirkten, war Weiber Freundschaft mir nie genügend, und liebte ich so heftig, bedurfte einem Manne mein Herz zu öffnen, meinen Geist hin zu geben? Wirkte darinn Sinnlichkeit? ich kann mir dieses nicht schuld geben indem ich doch den Unterschied des Geschlechts als Ursache der größern Innigkeit der Neigung angeben muß. Sollte das Bedürfniß einen Stärkern zu gehören in mir Starken, und doch ganz weiblichen Seele dieses Bedürfniß von Männerverbindung erzeugt haben? Wenn meine Neigung unrein gewesen war, hätte ich dann Emil mit Freuden zum Sohn gewählt? "Wilhelm machte mich mit seinen L ö f f e l n - 1 ungeduldig; hätte er mir ernstlich liebend seine Geliebte zugeführt, so würde ich mich nicht für beeinträgtigt gehalten haben. Die Form meiner Neigung war meiner Individualitet angemeßen Zärtlich, schmeichelnd - sie war nachhall meiner Jugend. Und Alphons 32 den ich so innig liebte war mir nur Sohn, K i n d — ich liebte ihn mit Wohlgefallen an seiner Schönheit Aber ich fühle und bin mir bewußt daß ich AlME33 eben so lieben würde. War es Schwachheit so zu lieben, so war in der Liebe doch keine Schwachheit. Doch kann das nur ein Weib begreifen die so wenig Sinne hat wie ich. So bald Sinnengenuß nicht der Preiß der Liebe war fand er keinen Plaz in mir.34 Es geht in den folgenden Kapiteln der Arbeit nicht darum zu klären, ob Hubers Beziehung zu Herder und den anderen Söhnen an unerwiderter Liebe und Eifersucht scheiterte. 35 Vielmehr wird versucht, von Hubers oben erläuterter Überlegung her ihr Denken, Handeln und Schreiben zu begreifen. Inwiefern kann letzteres durch den zeitgenössischen

Ge-

schlechterdiskurs verstanden werden, auf den sie ihre Analyse stützte? Handelt es sich bei der Idee von der >starken< Frau und ihrem Pendant, 31

32 33 34

3i

>Löffeln< = »in der Liebe gleichsam naschen« (Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, T. 3, S. 143); Anspielung auf Wilhelm Albrechts häufiges Verliebtsein ohne ernste Absichten. Frederic Alphonse de Sandoz-Rollin. Victor Alme Huber, Therese Hubers einziger damals noch lebender Sohn. Manuskript von Therese Huber, 17. August 1816 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 4/23). Der Ton in Hubers Briefen an Herder ist auch in der Sekundärliteratur im Sinne einer unbewußten Leidenschaft Hubers für den jüngeren Mann gedeutet worden: »Therese corresponded with him in terms that are unmistakable sexual passion - yet she was apparently unaware of her own feelings, and pressed her daughter and Emil to marry« (Blackwell: Marriage by the Book, S. 155). Das Thema Eifersucht brachte Huber selbst in dem zitierten Manuskript ins Spiel in Bezug auf Wilhelm Albrecht. Herder, Albrecht und Sandoz waren zudem in Therese Hubers Tochter Luise verliebt, so daß sich mehrfach eine Dreieckskonstellation ergab, die vielleicht auf lange Sicht die Beziehungen zwischen >Mutter< und >Söhnen< (und zwischen Luise und ihrem Ehemann) unterminierte. 82

dem >stärkeren< Mann, um eine Art >roten Fadenstarken< Frau und dem >stärkeren< Mann in ihrem Umgang mit dem Thema Frauenfreundschaft zum Tragen?

83



»Weiber Freundschaft« versus »Männerverbindung«

1805/1806, zu Beginn der in Kapitel 2.1 beschriebenen neuen Phase in ihrem Leben, setzte sich Huber in ihren Briefen ausführlich mit der eigenen Vergangenheit, insbesondere mit den Beziehungen zu anderen Menschen in ihrem Leben, auseinander. Dabei ging es nicht nur um Vergangenheitsbewältigung, d.h. die Verarbeitung der Trauer um ihren 1804 verstorbenen Ehemann, sondern auch darum, welche Personen in Zukunft eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen sollten. Verschiedene Beziehungsmodelle wurden in diesem Zusammenhang von ihr diskutiert, wobei Hubers Äußerungen nicht nur als Ergebnis persönlicher Erfahrungen zu sehen sind, sondern auch als Reflex auf den zeitgenössische Diskurs zum Thema Freundschaft und Liebe an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert und von der Aufklärung zur Romantik. Auf die 1 8 1 6 gestellte Frage »Warum nun, da meine Sinnen sehr unwichtig einwirkten, war Weiber Freundschaft mir nie genügend [...]?« fand Huber zehn Jahre zuvor noch eine klare Antwort. In dem folgenden Zitat geht es um die kurz vor der Niederschrift des Briefes verstorbene Schriftstellerin Isabelle de Charriere (1740-1805): U n d diese Frau, Reinhold, w a r mir doch so v e r w a n d , dal? unsre zu große Ähnlichkeit uns hinderte uns je zu vereinen. Seit dem J a h r 93 w a r sie ein Idol f ü r mich, ein Gegenstand - lange - meiner Leidenschaft, w i r strebten uns zu vereinen, wir bewunderten uns, verstanden uns, und wie mans v o m Magneten sagt - wir stießen uns gegenseitig zurück. Sie w a r i c h , in einer ganz andern Lage, mit ganz anderer rationellen, und conventionellen Bildung. Sie w a r eine T u y l l aus einem vornehmen Geschlecht in Utrecht, als A b g o t t der Familie w a r es ihr gelungen mehr Geistesfreiheit zu erlangen als die Meisten ihres G e schlechtes. Sie w a r schön, romanhaft, stolz - sie lebte im Haag, am H o f e , sie verwarf viel Männer, und liebte lange heimlich, mit allem Feuer ihrer Flammen Seele ihres Bruders Hofmeister, H e r r n v o n CHARRIERE DE PINTA, einen armen Waatländer v o n Familie. D e r junge Mann vermied eine Erklärung, Redlichkeit, natürliches Gleichgewicht der G e f ü l e , und durch U n g l ü c k und Umstände f r ü h erlangte Mäßigung bewahrten ihn. Das feurige Geschöpf - nicht in dem Jahren der ersten, unbedachten Jugend, sondern - wahrscheinlich schon nach dem 2 2 23 Jahre reißt alle Schranken nieder, und zwingt ihn die Erklärung seiner G e fühle ab, bittet bei ihrem Vater um seine Hand. E r sezt ihr ihren Stand, seine

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A r m u t entgegen — sie dringt durch, machte ihre Heftigkeit, oder der Eltern Liebe entscheiden, sie w a r d seine // Frau (ich erstaune mich daß mein Ebenbild das that! - doch unter Umständen?

) sie kam nach der Schweiz - ein Weib

in der großen Welt gebildet, ohne Religiöses, ohne sittliches Vorurtheil, an Reichthum gewöhnt, mit glühender Liebe in das beschränke, honnette, calvimsche, häusliche Neuchatel. Sie umfaßte ihre neue Lage mit Entzücken, band eine große Schürze um, ging in K ü c h und Keller - sie wollte eine Schweizer PROPRIETAIRS Frau werden - Sie wollte alles vergeßen aus Liebe, aber der Mann f ü r dem sie alles das that der sie auch v o n ganzer Seele liebte, w a r ein ruhiger, gutmütiger, keiner Leidenschaft fähiger M a n n - das w a r schrecklich! Sie hätte den Felsen Liebe einhauchen mögen, und fand überall Förmlichkeit Kleinlichkeit U n d noch ein Zufall raubte diesem Glühenden H e r z e n den reinsten, einzigen Ersaz f ü r Leidenschaftliche Liebe, ihren Abieiter, ihre Vergeistigung — Mutterfreuden. Ihre Gesundheit litt an einem Innern lokalen Uebel welches die Aerzte vermochte ihre Ehe auf ein bloßes hausliches beisammen Leben, ein zuschränken. In so einer Lage, mit solchen Charakter mußte sie nun in Irrthümer fallen. Sie bedurfte Liebe - armer Spötter über Freundschaft? - nein ich bin nicht zur Freundschaft gemacht weil ich zu m m g empfinde. N e i n , ich habe nie nichts mit Weiber Freundschaften anfangen können denn das Weib liebt über die Freundinn den Mann, oder einen M a n n - ich habe gegen Weiber nur weiche mütterliche — das heißt mit Ueberlegenheit, mit Mitleid gemischte E m p f i n d e n — an den Mann kettet mich mein Bedürfniß einem Wesen zu vertraun dem die N a t u r und die Gesellschaft zu meinem Beschüzer aufrufte, und dem ich geben kann was seinem Glücke erst Deutung geben muß - Liebe. Mit Weibern bin ich ängstlich, ich fürchte sie zu verlezen, ihnen zu mißfallen — gegen Männer b m ich ruhig und mir bewußt herrschen zu dürfen da ich mir stez bewußt bin w o mich d i e S c h ö p f u n g

ihnen Unterwarf. Bei Weibern beschränke ich mich

ängstlich u m sie nicht eifersüchtig, oder mich verurtheilen zu machen - bei Männern bin ich frei, denn mein Geschäft ist nur liebenswürdig zu sein. 1

Im Kern geht es hier um die unterschiedliche Art und Weise, wie Huber ihre Beziehungen zu Männern und Frauen einschätzt, nämlich zu ersteren grundsätzlich positiv, zu letzteren vor allem negativ. 2 Bezüglich Hubers Verhältnis zu Frauen gibt es einmal die allgemeine Äußerung in der zweiten Hälfte des Zitats und das Einzelbeispiel der Isabelle de Charriere zu Beginn des Abschnitts. Beide Äußerungen stehen in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zueinander. Einerseits konnotiert Huber ihre 1

2

Therese H u b e r an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. J a n u ar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 1 7 1 ) . Therese Hubers H ö h e r w e r t u n g ihrer Beziehungen zu Männern gegenüber denen zu Frauen stellte keinen Ausnahmefall dar, sondern entsprach weitgehend den Vorstellungen ihrer Zeitgenossinnen (Barbara Becker-Cantarino: Z u r Theorie der literarischen Freundschaft im 1 S . J a h r h u n d e r t . In: W o l f r a m Mauser, Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1 9 9 1 , S . 7 2 ; vgl. Wägenbaur: D i e Pathologie der Liebe, S. 168).

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Beziehungen zu Frauen im Allgemeinen mit negativ besetzten Begriffen: »ängstlich«, die Furcht »zu verlezen«, »zu mißfallen«, »eifersüchtig, oder mich verurtheilen zu machen«. Die Angst vor der scheinbar nicht berechenbaren Reaktion des weiblichen Gegenübers auf das eigene Verhalten wird als Begründung für eine generelle Zurückhaltung gegenüber Frauen angeführt. Die beschriebene Angst beruht also auf einem Gefühl der Unsicherheit seitens Hubers, die sich nach eigenen Angaben nicht auf das Verhalten der anderen einzustellen vermochte, was wiederum Mißverständnisse hervorrufen konnte. Kurz gesagt: Man verstand einander nicht. Andererseits wird eingangs ein konkretes Beispiel für Hubers Beziehung zu einer Frau gegeben und diese Beziehung ausdrücklich als auf gegenseitigem Verstehen begründet beschrieben (»wir [...] verstanden uns«) - und sie scheiterte trotzdem. Ja gerade die »zu große Ähnlichkeit«, die innere Übereinstimmung (»Sie war ich«; »mein Ebenbild«) läßt die Verbindung nicht Zustandekommen. Auffällig ist vor allem, daß es Huber nicht in den Sinn kommt, auf diesen Widerspruch einzugehen und dem Adressaten ihres Briefes eine Erklärung dafür zu geben. Das könnte bedeuten, daß Huber die Inkonsequenz in ihrer Argumentation nicht bewußt war. N u n beschreibt Huber hier ihre Beziehungen zu Frauen nicht nur als von Angst beherrscht, sondern ihre Gefühle ihnen gegenüber zugleich auch als »mit Ueberlegenheit, mit Mitleid« gemischt. Sie präsentiert sich selbst also im Umgang mit Frauen einmal als überlegen und machtvoll, dann stellt sie sich jedoch als ängstlich dar. Sie sieht sich zwar in der machtvollen Position, andere verletzen zu können, aber zugleich fürchtet sie die Macht der Frauen, die sie verurteilen können. Auch dieser Widerspruch wird von ihr in ihrem Brief nicht problematisiert, vielleicht nicht einmal wahrgenommen. Zudem steht Hubers Behauptung ihrer angeblichen generellen Überlegenheit, mit der sie Frauen begegnet, die oben zitierte, im selben Brief gegebene Beschreibung Isabelle de Charrieres entgegen. Laut Huber bewunderten sich beide Frauen gegenseitig, ja Charriere wird von ihr sogar als ihr »Idol« bezeichnet, d.h. sie akzeptierte diese um 24 Jahre ältere, lebenserfahrene, gebildete und als Schriftstellerin erfolgreiche Frau als ebenbürtig, wenn nicht sogar als ihr überlegen. An ihrem Bild von den Frauen als unterlegen und bemitleidenswert ändert dieses Gegenbeispiel jedoch nichts. Was bedeuten diese Widersprüche in Hubers Verhältnis zu Frauen für ihre Überlegungen zum Thema Frauenfreundschaft? Ausgehend von der also nicht ganz korrekten Angabe, daß sie für Frauen generell »nur weiche mütterliche - das heißt mit Ueberlegenheit, mit Mitleid gemischte Empfinden« aufbringen könne, begründet Huber außerdem, daß Frauen 86

für sie keine Freundinnen sein könnten. Daß Hubers Wesen sie »mit Weibern stez in das Mütterliche Verhältniß stellte«, hat nämlich zur Folge, daß »ich also nie Freundinnen zur Stüze hatte«.3 Umgekehrt erfüllt sie aber durch ihre Überlegenheit, d.h. durch ihre Fähigkeit, jemanden stützen, also mit Rat und Tat helfen zu können, grundsätzlich ein entscheidendes Kriterium dafür, Freundin sein zu können. So erklärt sich die Aussage: »Freundinnen h a t t e ich nie, i c h b i n aber mehrerer lieber Weiber Freundinn«. 4 Die Überlegene, also Huber, darf sich »Freundinn« nennen. Die Unterlegene in dieser Verbindung bleibt dagegen ohne Bezeichnung. Sie hat den Status eines zu bemutternden Kindes. Doch wie gesagt, beruhen diese Definitionen auf einer nicht ganz korrekten Angabe. Und Charriere war nicht die einzige Frau, die sich nicht in Hubers Bild der Frauen als ihr generell unterlegene Personen einfügte. Über Charlotte Rehberg ( 1 7 6 1 - 1 7 8 1 ) schreibt Huber: Kannst Du denken, daß es mich oft geschmerzt hat, die Erinnerung: keine J u gendfreundschaft gekannt zu haben? ich wünschte sie oft, ich schwärmte mir ein paar Mal den Genuß einer Freundinn zu vertraun, ein Mädchen die mir starb wie ich sechzehn Jahr alt war, hätte mir durch ihre Ueberlegenheit über mich vielleicht das werden können - aber nein! grade diese Ueberlegenheit war diesem eigentlichen Bande im Wege gewesen. 5

Es gab also entgegen Hubers Aussage, die sie übrigens gegenüber Emil von Herder später wiederholte (»Weiber die mir überlegen waren, fand ich nie«),6 mehrere Frauen, für die sie nicht nur Überlegenheit und Mitleid empfand. Diese überlegenen Frauen hätten für sie eine »Stüze« sein und damit die Definition von >Freundin< erfüllen können. Doch sie bricht diesen Gedanken in ihrem Brief abrupt ab (»aber nein!«) und führt ein neues Argument ins Feld, um auch unter diesen Bedingungen die Unmöglichkeit, eine Verbindung mit einer Frau einzugehen, zu begründen. Nicht die Freundin-Definition, sondern die Definition von Freundschaft zieht sie dazu heran. Denn »diesem eigentlichen Bande«, der Freundschaft, steht laut Huber die Überlegenheit eines der Beteiligten über den anderen entgegen. So liegt der Grund dafür, daß

3

4

5

6

Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219). Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 4. und 5. Juli 1805 ( B T H , Bd. 2, N r . 122). Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219). Therese Huber an Emil von Herder, zwischen 24. und 28. Januar 1808 ( B T H , Bd. 3).

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ich überhaupt von Freundschaft zwischen Männern und Freundschaft zwischen Weibern nur die Ausnahmen anerkenne, in meinem eignen Wesen das mich mit Weibern stez in das Mütterliche Verhältniß stellte, ich also nie Freundinnen zur Stüze hatte [ . . . ] /

Freundschaft, mit Ausnahme der Freundschaft zwischen Mann und Frau, von der hier nicht die Rede ist, wird demnach von Huber als eine Beziehung definiert, in der nicht das Ungleichgewicht der Kräfte und Fähigkeiten herrscht, das charakteristisch ist für die Mutter-Tochter-Beziehungen. Frauenfreundschaft wird von ihr als eine Beziehung unter Gleichen definiert. Die erwähnten Mutter-Tochter-Verbindungen sind demnach eigentlich keine Freundschaften gewesen, wohl aber konnte die Frau, die den mütterlichen Part in dieser Verbindung innehatte, »Stüze« war, sich Freundin nennen. Freundin sein ist also nach Huber nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Teilnahme an einer freundschaftlichen Verbindung, während eine Freundschaft sich immer durch die Teilnahme zweier (oder mehrerer) sich gegenseitig stützender Freundinnen definiert. Rehberg hätte somit Hubers Freundin werden können, aber eine Freundschaft wäre diese Verbindung nicht gewesen. Und weil eine Freundschaft per Definition nicht möglich war, konnte Huber zu Rehberg keine nähere Beziehung aufbauen. So jedenfalls stellt Huber es dar: Eine nähere Verbindung zu einer Frau beziehungsweise ihre eigentlich mögliche Akzeptanz als Freundin im Huberschen Sinne scheiterte an der Freundschaftsdefinition. Oder anders gesagt: Die überlegenen Frauen konnten nicht der Definition von Freundschaft gerecht werden, und die unterlegenen Frauen entsprachen sowohl dieser Begriffsbestimmung als auch der von >Freundin< nicht. Uber die Art der Definition versucht sie also, die Verwirklichung von Frauenfreundschaften, soweit es ihre eigene Person betraf, als so gut wie unmöglich erscheinen zu lassen. Sie schließt aus ihrem Leben auf diese Art und Weise die Frauen aus. Zu diesem Zweck bestimmt sie den Begriff >Freundschaft< ungewöhnlich eng. Sie bezieht sich nur auf den Aspekt des wechselseitigen Nutzens der in Freundschaft verbundenen Personen. Dieses Kriterium spielte im Freundschaftsdiskurs des 18.Jahrhunderts zwar eine sehr wichtige Rolle, stellte aber nicht das einzige Merkmal dieses Beziehungskonzeptes dar. Zudem galten im Diskurs durchaus auch solche Verbindungen als Freundschaften, in denen ein Partner beispielsweise an Lebenserfahrung oder Klugheit dem anderen überlegen war. 8

7

8

Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219). Vgl. Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. iSf., 30, 34, 3 Sf.

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Bemerkenswerterweise erwähnt Huber außerdem in ihrer Rückschau zwar Charlotte Rehberg, aber nicht Luise Mejer (1746-1786), mit der sie von 1 7 8 1 - 1 7 8 3 einen intensiven Briefwechsel unterhielt. 9 Diese 18 Jahre ältere Frau unterstützte die jüngere und war ihre Mentorin. 10 Aufgrund dieser Asymmetrie hätte Huber diese Verbindung nicht als Freundschaft bezeichnet und vielleicht schrieb sie deshalb nicht über Mejer, als sie sich mit dem Thema Frauenfreundschaft 1805/06 beschäftigte. Anders als die frühverstorbene Rehberg kann Mejer jedoch tatsächlich als eine Freundin im Sinne von Hubers Definition eingestuft werden. Möglicherweise war doch eher dies der Grund für Hubers Schweigen über ihre frühere Vertraute: Diese war nicht nur ein weiteres Beispiel dafür, daß Huber durchaus ihr überlegene Frauen kennengelernt hatte; Mejer hatte darüber hinaus wirklich ihrem jüngeren Schützling gegenüber die Funktion einer >Freundin< erfüllt, obwohl Huber selbst behauptete, nie eine stützende Freundin besessen zu haben. Damit paßte die Erinnerung an diese enge und wichtige Beziehung nicht in das Bild, das sie Herder gegenüber von ihren Jugendjahren entwerfen wollte. Offensichtlich hatte Huber, als sie 1805/06 auf ihr Leben zurückblickte, ein Problem mit den starken, also ihr charakterlich und intellektuell überlegenen oder ebenbürtigen Frauen, denen sie bis dahin begegnet war. Sozialhistorisch betrachtet gab es sicher nicht viele Frauen, die Huber beispielsweise an Bildung übertrafen (s. Kap. 7), weshalb es verständlich erscheint, daß sie in dem oben zitierten Manuskript Frauenfreundschaften als ihr nicht genügend bezeichnete. Die ihr unterlegenen Frauen, so betont sie ja wiederholt, hatten ihr nichts zu bieten, keine Stütze, keinen Rat. U m so bedeutsamer wird vor diesem Hintergrund jedoch, daß auch Frauen wie Charriere, Rehberg und Mejer für sie in der Rückschau problematisch waren. U m dies zu erklären, reicht der sozialhistorische An9 10

N u r die Briefe Hubers an Mejer sind überliefert ( B T H , Bd. 1). Tatsächlich bezeichnete sich Huber Mejer gegenüber einmal als »Ihre zärtlichste Tochter Ihre Schiilermn« (Therese Heyne(-Huber) an Luise Mejer, vor 23.März 1782 ( B T H , Bd. i, N r . 8)); Brigitte Leuschner: Freundschaft als Lebensgestaltung bei Therese Heyne: schwärmen und gut handeln. In: Wolfram Mauser, Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991, S. 204; Corinna Bergmann-Törner: »... der Weg vom Herzen zur Feder ist doch so lang!« Die Briefe von Therese Heyne(-Forster-Huber) an Luise Mejer 1 7 8 1 - 1 7 8 3 . Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Osnabrück 1998; Magdalene Heuser: Die Jugendbriefe von Therese Heyne-Forster-Huber. Vergewisserung der (weiblichen) bürgerlichen Subjektivität. In: Kaspar von Greyerz u.a. (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850). Köln 2001, S. 293. 89

satz nicht aus. Hubers Distanz gegenüber Charriere, das Zurückweichen bei Rehberg und schließlich das Verschweigen Mejers lassen sich eher auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wenn man an die schon besprochene Selbstbeschreibung Hubers als »stark und doch weiblich« und an den Geschlechterdiskurs denkt, in dem dieses Selbstbild wurzelte. Wie gefährdet diese Position vor dem Hintergrund der Geschlechterordnung um 1800 war, wurde schon im vorhergehenden Kapitel erläutert: Eine Integration in die Ordnung schien Huber über die Bindung an eine stärkere Person möglich. Wäre diese Person eine ihr überlegene, also eine noch stärkere Frau gewesen und außerdem auch als >ganz weiblich< eingestuft worden, hätte Huber sich selbst nicht mehr als stark und damit als besondere Ausnahmeerscheinung unter den Frauen begreifen können. Sie hätte sich nur noch graduell von den übrigen, >schwachen< Frauen unterschieden. Wenn sie andererseits Recht hatte und selbst schon in der Gefahr stand, als »männlich«, >unweiblich< angesehen, ja verurteilt zu werden, so daß sie besonders betonen mußte, eine ganz weibliche Seele zu haben, hätte eine noch >stärkere< Frau diese Grenze zwischen >weiblich< und >männlich< erst recht überschritten. Diese Frau wäre nicht in die Ordnung integrierbar und damit von Huber, die in dieser Ordnung leben wollte, nicht mehr tolerierbar gewesen - schon gar nicht als Freundin. Eine überlegene Frau ließ sich nicht in die von Huber skizzierte hierarchische Struktur (Frau/schwach - Ich/weiblich/stark - Mann/stark), in der das Ich einen besonderen Platz für sich beanspruchte, integrieren. Eine solche Frau hätte entweder gegen die vom Ich akzeptierte Ordnung verstoßen oder die Identität bedroht, die sich das Ich innerhalb dieser Ordnung aufgebaut hatte. Letzteres dürfte auch für eine gleichstarke Frau gelten, die ja theoretisch auf denselben Platz Anspruch erheben konnte, den Huber in dieser Ordnung einnahm. Isabelle de Charriere hätte jedenfalls aufgrund ihrer von Huber selbst eingeräumten Ebenbürtigkeit noch am ehesten das Konzept >Frauenfreundschaftschwachen< Frauen, die keine »Stüze« sein können, die >Töchter< in den Mutter-Tochter-Beziehungen, wie z.B. Elisabeth von Struve). Übrig blieb allein Charriere, die gerade wegen der Ähnlichkeit mit Huber, gerade weil diese sie als zweites Ich begriff, >abgestoßen< werden mußte, wie es den Naturgesetzen - Huber bedient sich des Vergleichs mit den Magneten und weicht damit einer echten Erklärung aus entspricht. Eine Frauenfreundschaft, wie Huber sie verstand, hätte sie 90

damit nur mit einer ihr unähnlichen, aber ebenbürtigen Frau eingehen können. Doch wie wahrscheinlich ist es, jemanden als ebenbürtig anzuerkennen, der wenig oder keine Ähnlichkeiten mit einem selbst aufweist, wo es kaum Gemeinsamkeiten gibt, die einen Kräftevergleich zulassen? Die Beschreibung aller von Huber erfahrenen Beziehungen zu den >schwachen< Frauen als defizitär (keine »Stüze«) legt allerdings dem Leser immer wieder die Verbindung mit einer überlegenen oder zumindest ebenbürtigen Frau als von ihr gewünschtes, aber leider bisher unerreichtes Ideal nahe. Aufgrund von Hubers Selbstbild, so kann man nach obiger Erläuterung nun sagen, durfte dieses angebliche Ideal auch nie Realität werden. Daher setzte sie ihm, wenn es ihr nötig schien, ihre enge Freundschaftsdefinition entgegen. Wenn sie dennoch an ihm festzuhalten schien, dann diente dies dem Zweck, die Nichteignung der >schwachen< Frauen als Freundinnen darzulegen und damit an die Männer (Reinhold und Herder), die vom Diskurs als die Überlegenen und Stärkeren definiert sind, zu appellieren. Sie sollten diese Lücke in Hubers Leben füllen: »Sieh, das hat mir so lange gefehlt daß ein männliches Wesen - denn Weiber die mir überlegen waren, fand ich nie - mich zurückhielt, und über mein eignes Thun unterrichteten. Lehre Dich Gott daß Du Deine Pflicht erfüllst.« 11 Die (angebliche) Unfähigkeit der Frauen, der Freundinnenkonzeption Hubers gerecht zu werden, wurde von ihr damit sogar als Druckmittel gegenüber Herder eingesetzt. Sie bat ihn nicht darum, die von den Frauen nicht übernommene Aufgabe zu erfüllen, sondern verlangte es ihm als »Pflicht« ab. So gering Hubers Erwartungen an die Frauen waren, so groß waren die Hoffnungen, die sie in die Männer setzte. Dies wird an keiner Stelle deutlicher als in ihrem oben zitierten Brief über Charriere. Hier entwikkelt sie ein die realen Verhältnisse nicht wahrheitsgemäß abbildendes Schema, in welches sie ihre Beziehungen allein nach dem Kriterium >Geschlecht< einordnet und bewertet. Es wäre ja auch möglich gewesen, andere Kriterien bei der Beurteilung heranzuziehen, z.B. das Alter. Realitätsnaher wäre es auch gewesen, mehrere Kriterien zu berücksichtigen statt nur des einen. Dies hätte eine genauere Differenzierung ermöglicht. Es ging Huber also nicht um eine genaue Bilanzierung, sondern offenbar um die Erarbeitung einer möglichst einfachen Deutung, nach der künftig Beziehungen gelebt werden konnten. Den Beziehungen zu Frauen ordnet Huber die Begriffe Uneindeutigkeit, Chaos, Anarchie und Unfreiheit zu,

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Therese Huber an Emil von Herder, zwischen 24. und 28. Januar 1808 ( B T H , Bd. 3).

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denen zu Männern die Begriffe Eindeutigkeit, Ordnung, Herrschaft und Freiheit. Während sie ihre Gefühle gegenüber Frauen als gemischt darstellt (»ich habe gegen Weiber nur weiche mütterliche - das heißt mit Ueberlegenheit, mit Mitleid gemischte Empfinden«), benennt sie ihr Gefühl für den Mann beziehungsweise die Männer mit einem Wort: »Liebe«. 12 Das richtige Verhalten gegenüber Männern kann mit zwei Worten umrissen werden: »liebenswürdig [...] sein.« Eine entsprechend prägnante Charakterisierung des Verhaltens seitens Hubers gegenüber Frauen findet sich in der oben ausführlich zitierten Briefpassage nicht. Chaotisch, d.h. unberechenbar seien die Reaktionen der Frauen auf Hubers Verhalten: Möglicherweise (aber nicht unbedingt) reagierten sie verletzt, mit »mißfallen«, Eifersucht oder Verurteilung. Anders bei Männern: Eine bestimmtes Benehmen Hubers, nämlich »liebenswürdig [...] sein«, soll offenbar eine ganz bestimmte Reaktion des männlichen Gegenübers zur Folge haben. Diese wird nicht explizit benannt; da aber die Verbindungen mit Frauen als Gegenbild zu denen mit Männern in der oben zitierten Textpassage vorgeführt werden, wird dem Leser eine auf Akzeptanz basierende Reaktion und die Erwartung eines harmonischen, konfliktfreien Miteinanders suggeriert. Das beschriebene Chaos in Hubers Beziehungen zu Frauen wurde angeblich dadurch hervorgerufen, daß die Herrschaftsverhältnisse unter Frauen nicht von außen geregelt seien. Während die Frau dem Mann durch die » S c h ö p f u n g « unterworfen sei, hier also eine klare, durch eine beiden Geschlechtern übergeordnete Instanz geschaffene Herrschaftsordnung vorliege, müßten Frauen, wenn sie unter sich sind, das richtige Verhalten der anderen gegenüber selbst regeln. Für Huber bedeutet das nicht die Chance, ihre Persönlichkeit an diesem Ort, nämlich unter Gleichberechtigten, frei entfalten zu können, sondern das genaue Gegenteil: Wo es keine eindeutigen Regeln gibt oder zumindest die Regeln für das Ich nicht durchschaubar sind, bleibt nur der Rückzug auf eine möglichst sichere, aber sehr eingeschränkte, d.h. unfreie Position (»Bei Weibern beschränke ich mich«). Nicht Regellosigkeit und Anarchie, sondern eine hierarchisch strukturierte Ordnung garantiert dem Individuum die größere Freiheit: »bei Männern bin ich frei«. Ausgerechnet diese hierarchische Ordnung verschafft, so Hubers Uberzeugung, dem/der Unterworfenen aber nicht nur die Freiheit, sondern sogar die Herrschaft über die Herrschenden: »gegen Männer bin ich ruhig und mir bewußt herrschen zu dürfen da ich

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Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171).

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mir stez bewußt bin w o mich d i e S c h ö p f u n g ihnen Unterwarf.« 1 3 Nicht in ihren Beziehungen zu Frauen, sondern nur in denen zu Männern meint Huber Macht ausüben zu können, ja hier hält sie sich sogar dazu berechtigt, dies zu tun. Mit ihrer Skepsis gegenüber der Realisierbarkeit des Beziehungsmodells Frauenfreundschaft entsprach Huber übrigens auf den ersten Blick ganz den zeitgenössischen Vorstellungen von der nur mangelhaft ausgeprägten Fähigkeit der Frauen, untereinander Freundschaften zu schließen. 14 Sie brachte aber mit ihrer auf die unklaren Machtverhältnisse in den Beziehungen zwischen Frauen abzielenden Argumentation eine, soweit ich sehe, neue, originelle Begründung für diese Skepsis in den Diskurs ein. Die männlichen Autoren, die sich zum Thema äußerten, verwiesen dagegen vor allem auf die Eifersucht: Frauen nehmen sich angeblich gegenseitig nur als Rivalinnen um die Gunst der Männer wahr, wodurch ihre Freundschaften verhindert oder zerstört werden. 1 ' Ebenso wurden im Diskurs die - seltenen 16 - bestehenden Frauenfreundschaften unter derselben Prämisse eines männerzentrierten Frauenlebens betrachtet und bewertet, ja abgewertet. Beispielsweise diene der herzliche Umgang der Freundinnen untereinander gerade dazu, das Begehren der Männer zu reizen. r7 Oder es wurde behauptet, daß Frauen sich oft eine Person zur Freundin wählten, deren Eigenschaften mit den ihren kontrastierten, um »ihre V o r z ü g e vor der Freundinn hervorschimmern zu lassen, und den Wettkampf vor den Augen unsers Geschlechts zu beginnen.« 18 Frauen schlössen also Freundschaften oft nur aus niederen Motiven, denn nicht »die hohen und seligen Gefühle einer tugendhaften und zutraulichen Freundschaft [...], sondern eitele und kleinliche Wünsche« 19 seien dafür 13

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Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 46; Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 170: Frauen seien »m ihrer F r e u n d s c h a f t gegen einander selten so fest und warm, als die Männer«; Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 3, S. i29f. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, S. 1 7 6 - 1 7 8 . Rousseau: Emil, S.408: »Trotzdem gibt es manchmal auch wirklich echte Freundschaften unter jungen Mädchen«. Rousseau: Emil, S. 408: »Außerdem steht fest, daß sie sich vor jungen Männern herzlicher küssen und liebevoller umarmen; sie sind stolz darauf, weil sie dabei durch ihre Gunstbezeigungen, die sie recht neiderweckend zu machen verstehen, ungestraft das Begehren der Männer anstacheln können.« Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 1 7 8 - 1 8 0 . Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 178t'.

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die Ursache. Und selbst wenn einmal eine Frauenfreundschaft als ideal geschildert wurde im Sinne von: auf Tugenderwerb zielend, d.h. auf gegenseitige moralische Verbesserung beider Freundinnen gerichtet, konnten die Beziehungen der Frauen zu Ehemann und Kindern dabei nicht unberücksichtigt gelassen werden, denn ein Aspekt ihrer Freundschaft sei das Wetteifern der Freundinnen »mit einander in der strengsten Ausübung ihrer mütterlichen Pflichten, und in den Beweisen einer feurigen und unbescholtenen Liebe gegen ihre Gatten und Kinder.« 20 Eine eigenständige Existenzberechtigung wurde der Frauenfreundschaft also abgesprochen, d.h. ohne eine wie auch immer geartete Einbeziehung der Männer konnte oder wollte man das Konzept Frauenfreundschaft nicht denken. Carl Friedrich Pockels ließ seine Ausführungen zum Thema Frauenfreundschaft in folgender Feststellung gipfeln: Je herzlicher und inniger sie unser Geschlecht heben und ehren, je mehr werden sie eifersüchtig auf den Besitz unsrer Herzen, und desto kälter in ihrer Freundschaft gegen die Weiber selbst seyn. Sie fühlen es zu sehr, wie oft sich das Interesse ihres Geschlechts bey der zärtlichsten weiblichen Freundschaft selbst durchkreuzen muss, und wie gefährlich für sie bisweilen eine höchstmittelmässige Nebenbuhlerinn werden kann. A u s d e r L i e b e z u u n s e n t s t e h t der H a s s gegen ihr eigenes G e s c h l e c h t ! 2 1

Frauenfreundschaft und Liebe/Verehrung für einen Mann/die Männer wurden als konkurrierend nebeneinander gestellt - eine Frau kann keine tiefe, ernsthafte Freundschaft mit einer Frau eingehen und zugleich höchste Liebe und Verehrung für einen Mann beziehungsweise die Männer empfinden. Das eine Extrem schließt das andere gemäß des von Pockels hergestellten Zusammenhangs (»Je [...] desto«) aus und eine Verwirklichung beider Beziehungskonzepte durch eine Frau hätte zur Folge, daß weder ihre Freundschaft zu einer Frau noch ihre Liebe zu einem Mann sich durch besondere Tiefe oder Stärke auszeichnete. Stellt man nun in Rechnung, daß es sich bei der Vorstellung vom ganz auf den Mann ausgerichteten Dasein der Frau, die dem Diskurs über Frauenfreundschaft zugrunde lag, nicht nur um ein Vorurteil handelte, sondern um eine an die Frauen gestellte Forderung, welche wiederum mit der Definition von Weiblichkeit verknüpft wurde, wird die Brisanz des obigen Zitates deutlich. Wenn Frauen nur dazu da sein sollten, sich als Ehe- und Hausfrauen um ihre Männer, als Mütter um ihre Söhne (und Töchter) zu kümmern,

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Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 190. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S.iSif.

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wie es Jean-Jacques Rousseau 22 und seine Nachfolger wollten, wenn ferner die weibliche Identität von dieser >weiblichen Bestimmung< (Campe) zu einem nicht unerheblichen Teil abhängig gemacht wurde, dann mußte ein Sichabwenden der Frau von dem Mann/den Männern als ein schwerer Verstoß gegen die gewünschte Ordnung angesehen werden. N u n stellt nach Pockels das Vorhandensein beziehungsweise Nichtvorhandensein von Freundschaften zu Frauen einen für jeden sichtbaren Gradmesser der Liebe und Verehrung einer Frau für die Männer dar und mithin für ihre > Weiblichkeit und Systemkonformität. Auf diesem Weg wurde die Vereinbarung von Frauenfreundschaft und >weiblicher< Identität zu einem Problem gemacht. 23 Wenn Huber ihre Skepsis gegenüber Frauenfreundschaften mit den ungeregelten Machtverhältnissen in diesen Beziehungen begründete, so steuerte sie also ein Argument zum Freundschaftsdiskurs bei, das nicht abhebt auf die sonst ständig vorausgesetzte Wettbewerbssituation der Frauen um die Gunst der Männer. Man könnte sogar von einer Emanzipation des Konzeptes Frauenfreundschaft von der sonst postulierten Allgegenwärtigkeit des Mannes in den zwischen Frauen bestehenden Beziehungen sprechen. Eine andere Äußerung Hubers über das Modell Frauenfreundschaft scheint dann aber doch dem männerzentrierten Weltbild, das die Aussagen von Rousseau und Pockels kennzeichnet, zu entspringen: »Nein, ich

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Rousseau: Emil, S. 394: »Die ganze Erziehung der Frauen muß daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie m der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von der Kindheit an lernen.« Man beachte auch in diesem Zusammenhang Pockels* Definition bestimmter Kennzeichen von Freundschaft, wie Beständigkeit, als >männlichmännlichen< Verhalten von Frauen, stößt es aber auf heftigste Kritik, wenn eine Frau »Enthusiasmus« in ihrer Freundschaft empfindet, denn jener könne »selten einen hohen Flug [...] nehmen, weil die G r ö s s e der Antriebe und die Gelegenheit zu grossen Handlungen selbst fehlt, und man von und bey diesen Handlungen selbst keinen Muth verlangt. Das, was man vielleicht Enthusiasmus der weiblichen Freundschaft nennen möchte, und den sich die sogenannten Starkgeister der Frauen zu erkünsteln suchen, ist gemeiniglich nichts anders, als eine A f f e c t a t i o n männlicher Thatkraft, oder eine lächerliche Empfmdeley« (Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, B d . 2 , S. 185 und 1 S8f.). Der Freundschaftsenthusiasmus von Frauen wird als Vorspiegelung männlicher Kraft und damit als unweiblich diffamiert. V o m Diskurs gingen also starke Impulse an die Frauen aus, von Frauenfreundschaften Abstand zu nehmen. 95

habe nie nichts mit Weiber Freundschaften anfangen können denn das Weib liebt über die Freundinn den Mann, oder einen Mann«. 24 Hierbei geht es aber nicht um die These von der im Vergleich zu Männern schlechteren Befähigung von Frauen zur Freundschaft. Huber geht vielmehr davon aus, daß freundschaftliche Verbindungen - so wie sie diese definiert, nämlich als Beziehung unter Ebenbürtigen - unter Männern ebenso selten seien wie unter Frauen: Sie erkenne »nur die Ausnahmen« an von »Freundschaft zwischen Männern und Freundschaft zwischen Weibern«, 2 ' behauptet sie und stellt damit Männer- und Frauenfreundschaften ohne zu differenzieren nebeneinander. Damit ist diese Aussage durchaus als emanzipatorisch einzustufen, finden sich doch die geschlechtsspezifischen Unterscheidungen von Rousseau und Pockels hier nicht wieder. Sie paßt darüber hinaus zum Argument der uneindeutigen Herrschaftsverhältnisse, das Huber gegen Frauenfreundschaften ins Feld führt, sich aber ebenso auf die Beziehungen zwischen Männern anwenden läßt: Auch hier gibt es nicht die durch die »Schöpfung« geregelte klare hierarchische Struktur, die Hubers Meinung nach die Mann-FrauVerbindungen auszeichnet. Des weiteren zeigt die Tatsache, daß Huber den Ausnahmecharakter von Männer- und Frauenfreundschaften auf der Grundlage ihrer eigenen (angeblichen) Erfahrung permanenter Überlegenheit über ihre Geschlechtsgenossinnen feststellt, daß sie zwischen beiden Beziehungen keinen grundlegenden qualitativen Unterschied sah schon gar keinen geschlechtsspezifischen, denn sonst hätte sie die Männerfreundschaften in ihr Urteil nicht miteinbeziehen dürfen (Daß »ich überhaupt von Freundschaft zwischen Männern und Freundschaft zwischen Weibern nur die Ausnahmen anerkenne,« liegt »in meinem eignen Wesen das mich mit Weibern stez in das Mütterliche Verhältniß stellte« 26 ). Sie beschreibt damit keine speziell >weibliche< Erfahrung, sondern hält ihr persönliches Problem, aufgrund ihres überlegenen Charakters ständig die Stützende in einer Verbindung mit einer Frau sein zu müssen und nie Unterstützung zu erhalten, für übertragbar auf die Beziehungen zwischen Männern. Nach Hubers Freundschaftsdefinition sind Verbindungen, in denen der eine nur gibt und der andere immer nur empfängt, keine Freundschaften, egal ob es sich bei den Beteiligten um zwei Männer 24

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Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219). Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219). 96

oder zwei Frauen handelt. Also nicht in einer Erklärung, daß Frauen genauso gut fähig sind, miteinander befreundet zu sein, wie Männer, sondern in der These von der gleichgroßen Unwahrscheinlichkeit von Frauen- und Männerfreundschaften besteht Hubers Gleichheitsanspruch. Die Tragweite dieser Aussage wird deutlich, wenn man an die zentrale These aller Befürworter der hierarchischen Struktur der Geschlechterbeziehungen denkt: Daß die Frau stärker vom Mann abhänge als umgekehrt. 27 Die größere Abhängigkeit der Frau vom Mann zeigt sich eben unter anderem in ihrer Unfähigkeit, Freundschaften mit anderen Frauen einzugehen, denn der Mittelpunkt ihres Lebens ist der (Ehe-)Mann; die größere Unabhängigkeit des Mannes von der Frau drückt sich in seinen Freundschaften zu anderen Männern aus. Hubers Auffassung stellte somit indirekt den Kernsatz der Geschlechterordnung, wie sie von Rousseau und seinen Nachfolgern vertreten wurde, ein Stück weit in Frage. Die oben zitierte Absage Hubers an das Modell Frauenfreundschaft (»ich habe nie nichts mit Weiber Freundschaften anfangen können denn das Weib liebt über die Freundinn den Mann«) gehört in einen Diskussionszusammenhang, bei dem es der Briefschreiberin nicht mehr nur um den Vergleich ihres Verhältnisses zu Männern mit dem zu Frauen geht, sondern um die Gegenüberstellung von Freundschaft und Liebe mit deutlicher Bevorzugung der letzteren. Die Ablehnung des Konzeptes Freundschaft (»nein ich bin nicht zur Freundschaft gemacht« 28 ) ist für Huber zunächst nicht unproblematisch: »Ich dachte oft ich sei weniger Gut weil ich dieses Gefühl nicht gehabt hatte«. 2 ' Dem Diskurs über Freundschaft im 18. Jahrhundert - genauer: zur Zeit der Tugendempfindsamkeit - zufolge ist die Befähigung zur Freundschaft Voraussetzung zur moralischen Vervollkommnung des Ich. 3 ° Das Konzept Frau27

Rousseau: Emil, S. 394: »Wir könnten eher ohne sie als sie ohne uns bestehen«; Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S. 10: »Sie kann ohne ihn nicht leben, wenn auch der Mann ohne sie leben könnte«; Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 2, S. 136 meint, »daß der Mann zur N o t h allein stehen kann, das Weib aber eine Stütze haben muß«, die es »durch die Ehe« erhält; vgl. dagegen Leierseder: Das Weib nach den A n sichten der Natur, S. 136: Der im Diskurs geschilderten Bezogenheit der Frau auf den Mann in der Ehe habe »zumindest als theoretische Forderung [...] die des Ehemannes auf seine Frau« entsprochen.

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Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219). Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 38 zu den Moralischen Wochenschriften der i75o/6oer Jahre: »Diese koppeln nicht nur Freundschaft notwendig an Tugend, sondern sehen Freundschaft auch als unverzichtbaren Modus

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enfreundschaft, ja das Beziehungsmodell Freundschaft überhaupt wurde für Huber aber verzichtbar, weil viele der Aspekte, die es ausmachten, auch im Beziehungskonzept >Liebe< zu finden waren. Dazu gehörte auch der Aspekt des tugendhaften Handelns und Strebens nach moralischer Verbesserung, wie er laut Huber für ihre Liebe zu ihrem zweiten Mann konstitutiv war: »Das war es bei seinem Tod, in seinem sterbenden Blick, der Dank daß ich ihn für die Ewigkeit erzog. Wir lebten täglich im Dienste der Tugend, jeden Abend schieden wir mit dem Bewußtsein gut oder beßer geworden zu sein.«-11 Den Aspekt des geistigen Miteinanders wies sie ebenfalls der Liebe zu - anders als beispielsweise Johann Gottfried Herder, der Freundschaft als »Ehe der Geister« bestimmte im Unterschied zur Liebe als Ehe »der Körper«. 32 Huber erklärte ihre Zuordnung mit der »Unthätigkeit meiner Sinnen«, wodurch sie persönlich »in der Liebe, den Genuß des Vertrauns, des geistigen Mittheilens immer allein suchte und fand.« 33 Sie sprach also der Freundschaft ihre geistige Komponente nicht ab, aber sie fühlte sich nicht auf sie angewiesen, wollte sie eine intellektuelle Beziehung eingehen. Indem sie das Körperliche ganz ausklammerte, außerdem die gegenseitige moralische Vervollkommnung und den geistigen Austausch als Bestandteil ihres Liebeskonzeptes betrachtete, schien letzteres von der Freundschaft nicht mehr unterscheidbar. Darin kann man eine Parallele zur im ι S.Jahrhundert üblichen »Gleichsetzung von Liebe mit Freundschaft« sehen. 34 Es gibt allerdings einen für Huber wichtigen, sogar ausschlaggebenden Unterschied:

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der sozialen Realisierung von Tugend: Wer nicht zur Freundschaft fähig ist, kann letztlich auch nicht tugendhaft sein.« Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 4. und 5. Juli 1805 ( B T H , Bd. 2, N r . 122). Johann Gottfried Herder: Liebe und Selbstheit. Ein Nachtrag zum Briefe des Hr. Hemsterhuis über das Verlangen. In: ders.: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 15. Berlin 1888, S. 317; vielleicht kannte Huber den A u f satz (Therese Huber an Emil von Herder, 8. bis 10. Juni 1807 ( B T H , Bd. 2, N r . 343)). Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219); Manuskript von Therese Huber, 23. Dezember 1805 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 4/23): »Aber hat ein Weib mit meinen nach Mittheilung sehnenden Herzen Sinne - so ist doch eine zweite, dritte Heirath würklich g u t e N a t u r . Ich habe keine, Sinne würden mich von jeder Heirath abhalten, aber bin ich darum edler weil ich nur Liebe, nie Sinne hatte?« Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 44; Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, S. 100. 98

Wenn ich mich nicht erinnre wie ich hebte, und liebe, so habe ich Achtung für // Freunde, und Freundinnen - steht aber das Bild der Weltenbesiegenden Gewalt die vom Staube bis zur Sonne und zum Weltall alles, alles hinein zieht in dem Wirbel der Liebe - steht sie vor mir so seh ich auf jene Empfindungen herab wie der Adler von der Sonnenbahn auf die Mücke die um eine Lampe kraist. 3 5

Der Grad der Innigkeit, die Stärke des Gefühls bestimmt, ob es sich dabei um Freundschaft oder Liebe handelt. Huber benennt hier keinen qualitativen, sondern einen quantitativen Unterschied. Und aufgrund dieses Unterscheidungsmerkmals bevorzugt sie die von ihr als intensiver definierte Emotion, die Liebe: »nein ich bin nicht zur Freundschaft gemacht weil ich zu innig empfinde.« 36 Mit ihren Begriffsbestimmungen und Bewertungen entsprach sie damit weder der Auffassung der Romantiker noch den Ideen der Aufklärung und Empfindsamkeit. Die Vertreter der beiden letztgenannten Epochen zogen die Freundschaft als die sozial verträglichere und dauerhaftere Beziehung der Liebe vor, während Huber sich für die potentiell destruktive, weil überwältigende, also - nach empfindsamer Lesart - zur verderblichen Leidenschaft gesteigerte Liebe aussprach. 37 Die Romantiker werteten dagegen die Liebe gegenüber der Freundschaft auf, klammerten aber anders als Huber das sinnliche Element nicht aus dem erstgenannten Beziehungskonzept aus. Für die Romantiker galt eine Liebe ohne die von ihnen als positiv beurteilte Sinnlichkeit nicht als Liebe. 38 Huber entwickelte also 1806 in ihren Briefen an ihre männlichen Adressaten, vor allem an Emil von Herder, ein eigenes, auf ihre persönlichen Bedürfnisse zugeschnittenes Modell einer emotional stark aufgeladenen, aber rein geistigen, von ihr als Liebe bezeichneten Verbindung. Dieses Konzept setzte sie noch im selben Jahr unter der Bezeichnung >Mutterliebe< in die Praxis um mit dem Sohn Herder als Partner. U m die weiteren Besonderheiten dieses Modells und seine Komplikationen soll es später gehen (Kap. 8), aber eines läßt sich schon an dieser Stelle festhalten: Seine theoretische Vorbereitung betrieb Huber auf Kosten des wiederholt von ihr zum Vergleich als Negativfolie herangezogenen Konzeptes Freundschaft allgemein und speziell der Frauenfreundschaft. Ihre geradezu spitz3i

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Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 44. Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, S. 362, 372-374, 405; ders.: Das Ideengut der deutschen Romantik. 5. unveränd. Aufl. Tübingen 1966, S. 65.

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findig enge Freundschafts- und Freundinnendefinition einerseits und die andererseits von ihr vorgenommene Übertragung bestimmter Inhalte des Freundschaftskonzeptes in ihre Auffassung von Liebe führten dazu, daß das Modell Freundschaft in mehrfacher Hinsicht als eine Art Leerstelle erscheint: Es wurde entweder als kaum zu verwirklichendes Ideal beschrieben oder im Vergleich zur Liebe als unwichtig, eigentlich sogar überflüssig dargestellt, hatte es Huber doch nichts Besonderes zu bieten. Darüber hinaus verleugnete Huber bezüglich ihrer eigenen Biographie schlicht die Existenz von (Frauen-)Freundschaften. Die potentielle und tatsächliche emanzipatorische Kraft von Frauenfreundschaften, wie sie in der Sekundärliteratur herausgearbeitet wurde, 39 wollte sie also offenbar für sich nicht entdecken. Statt sich von der Ordnung der Geschlechter zu emanzipieren, distanzierte sie sich in ihren Briefen 1805/06 von den starken« Frauen, die diese Ordnung potentiell gefährdeten. Diese Praxis schien vor dem Hintergrund der bedrohten Identität des Ich als »starke und doch weibliche< Frau nötig. Gerade die von Becker-Cantarino bei der Frauenfreundschaft als positiv hervorgehobenen Momente der Ichstärkung und Befreiung »aus der Vormundschaft und Herrschaft des Mannes«40 meinte Huber, nicht in den Beziehungen zu Frauen zu finden. N u r in den Beziehungen zu Männern glaubte sie, auf die von ihr angestrebte Anerkennung und Freiheit hoffen und sogar Macht ausüben zu können. Diese Vorstellung versperrte Huber den Blick auf das emanzipatorische Potential von Frauenfreundschaften. Emanzipiert, nämlich originell und vom Diskurs unabhängig, zeigt sich Huber aber teilweise in ihrer Argumentation gegen die Möglichkeit der Verwirklichung von (Frauen-) Freundschaften. Trotz einer starken und hinsichtlich ihrer Aussagen zum Thema >Freundschaft< folgenreichen Fixierung auf grundlegende Vorgaben der Geschlechterordnung konnte Huber sich also eine gewisse Selbständigkeit des Denkens im Umgang mit diesen Vorgaben bewahren und leistete damit ihren eigenen Beitrag zum Diskurs. So wie Huber es beschreibt, schien das Beziehungsmodell »Männerverbindung« einer Frau bei weitem mehr Vorteile zu bieten als das der (ohnehin durch das Problem der >starken< und >schwachen< Frauen belasteten) »Weiber Freundschaft«: Harmonie statt Konflikte, Akzeptanz des Ichs statt Ablehnung, Sicherheit statt Angst und schließlich auch noch Freiheit und Macht. Dieses Beziehungsmodell stellte Huber einem männlichen 39

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Becker-Cantarino: Zur Theorie der literarischen Freundschaft im 18. Jahrhundert; Heuser: »Das beständige Angedencken vertritt die Stelle der Gegenwart«. Becker-Cantarino: Zur Theorie der literarischen Freundschaft im 18. Jahrhundert, S. 74.

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Briefadressaten, Johann Gotthard Reinhold, vor. Die eingangs zitierte Textpassage aus dem Brief über Isabelle de Charriere hatte damit nicht nur einen beschreibenden, sondern auch einen appellativen Charakter: Es wurde sicher erwartet, daß der Briefadressat sich an das Konzept hielt, seine Rolle als Mann erfüllte - eine Rolle (»Beschüzer«), die ihm nicht nur von der Briefschreiberin, sondern durch »die Natur und die Gesellschaft« zugewiesen wurde, womit Huber an den zeitgenössischen Diskurs anknüpfte und die Berechtigung ihrer Erwartungen untermauerte. Man könnte auch von einem Reinhold vorgelegten Vertrag sprechen, dessen Legitimierung Huber durch ihre Berufung auf die im Geschlechterdiskurs immer wieder beschworene Natur und Gesellschaft unterstrich. Es ist anzunehmen, daß nach diesem Anfang 1806 gegenüber Reinhold formulierten Konzept auch die kurz darauf beginnende Beziehung zu Herder gestaltet werden sollte. O b Huber es Herder gegenüber genauso präzise und offen darstellte, ist unbekannt. In Hubers Briefen an ihn findet sich eine ähnliche Passage wie in dem Brief an Reinhold nicht. Vielleicht erörterte sie aber das Thema mündlich mit Herder bei einem ihrer anfangs häufigen gegenseitigen Besuche. Sicher ist, daß sich die Beziehung, anders als die zu Reinhold, entgegen Konzept und Erwartungen von Anfang an als konfliktreich erwies, daß die Machtfrage dabei eine wichtige Rolle spielte und daß am Ende beide, Huber wie Herder, sich gegenseitig des despotischen Verhaltens beschuldigten: Mit ihm selbst hatte ich sehr früh Auftritte die jeder der lezte hätte sein sollen, so despotisch und selbstsüchtig betrug er sich 41 dann trat Herder auf der 8 Jahre mein innres Gemüth vor sich offen gesehen hatte und bezüchtigte mich der Herzenskälte, Intrigensucht und Despotismus. 42

Offensichtlich hatten Huber und Herder unterschiedliche Auffassungen von der Machtverteilung innerhalb ihrer Beziehung. Nachdem die Einwirkung des Geschlechterdiskurses auf Hubers Behandlung des Themas >Frauenfreundschaft< dargestellt wurde, soll also im folgenden untersucht werden, wie sich das von Huber bevorzugte Konzept »Männerverbindung« zu diesem Diskurs verhielt. Im Mittelpunkt steht dabei zunächst der besonders umstrittene Aspekt >Macht< beziehungsweise die Vorstellung von Herrschaft und Gehorsam.

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Therese Huber an Therese Forster, 4. März 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 5, N r . 278). Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 22. Mai 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 5, N r . 288). ΙΟΙ



Herrschaft und Gehorsam: Ein Vergleich mit Rousseaus Emil

»gegen Männer bin ich ruhig und mir bewußt herrschen zu dürfen da ich mir stez bewußt bin wo mich die S c h ö p f u n g ihnen Unterwarf.« 1 Nun war Hubers Gedanke von der Herrschaft der Frau über den Mann nicht so revolutionär, wie es auf den ersten Blick scheint. Im Diskurs um 1800 zur Geschlechterordnung wurde den Frauen zwar aufgrund der ihnen zugeschriebenen Schwäche vielfach jedes Recht auf Herrschaft verweigert.2 Es gab aber auch Stimmen, die der Frau unter gewissen Bedingungen die Herrschaft über den Mann zusprachen.3 Zu diesen Stimmen gehörte Jean-Jacques Rousseau mit seinem 1762 erschienenen Buch Emil oder Über die Erziehung.4 Es ist bekannt, daß Huber das Buch in ihrer Jugend gelesen hat.' Außerdem wandte sie nach eigenen Angaben bei der ihr teilweise obliegenden Erziehung ihrer Halbgeschwister ein »System nach Loke u Roußeau, Hermes und Basedow«6 an. Im Vorwort zu ihrem letzten Roman Die Ehelosen bezieht sie sich ebenfalls auf die Erziehungsmaximen Rousseaus.7 Als Pädagoge fand er demnach weitgehend Hubers Zustimmung und wirkte auf ihr Denken noch Jahrzehnte nach der Lektüre des Emil. Ihr Verhältnis zu Rousseau als einem 1

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Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Ernst Brandes: Ueber die Weiber. Leipzig 1787, S. 40: »Stärke ist nicht die Gabe der Weiber. Sie können daher nicht beschützen, folglich sind sie nicht zum Herrschen gemacht [...].« Leierseder: Das Weib nach den Ansichten der Natur, S. 134 hält die Anzahl der Vertreter dieser Auffassung für quantitativ weniger bedeutend, während Claudia Simon-Kuhlendahl: Das Frauenbild der Frühromantik. Ubereinstimmung, Differenzen und Widersprüche m den Schriften von Friedrich Schlegel, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Novalis und Ludwig Tieck. Kiel 1991, S. 129 konstatiert, daß der Gedanke, die Frau herrsche im Binnenraum der Familie, für das ausgehende 18. und das ganze 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich gewesen sei. Im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Uber die Erziehung. 10. Aufl. Paderborn u.a. 1991. Therese Huber an Luise Mejer, 19. September 1782 ( B T H , Bd. 1, N r . 16). Therese Huber an Emil von Herder, 14. Januar 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 161). Therese Huber: Die Ehelosen. Bd. 1. Leipzig 1829, S. X X I I . 102

der einflußreichsten Theoretiker über das Geschlechterverhältnis stellt sich dagegen komplizierter dar: »verbrämt, und schneident«8 habe er sich ausgedrückt, kritisierte sie ihn, ohne aber damit das von ihm vertretene System der Beziehungen zwischen Mann und Frau auf der inhaltlichen Ebene offen anzugreifen. Man kann daher keinesfalls vom »Desinteresse« Hubers bezüglich Rousseau sprechen, wie bisher geschehen, und auch die These von ihrer »Distanziertheit« ihm gegenüber bedarf der Präzisierung. 9 Rousseaus System läßt sich im Anschluß an Christine Garbes Untersuchungen 10 folgendermaßen beschreiben: Die Frau ist zwar »dazu geschaffen [...], zu gefallen und sich zu unterwerfen«. 11 Doch zugleich beherrscht sie den stärkeren Mann, nämlich durch ihre Reize 1 2 beziehungsweise Schönheit 13 und »die süßesten Gesetze der Liebe«, 14 außerdem durch »List« 15 und »Sanftmut«. Diese Herrschaftsinstrumente billigt Rousseau der Frau als legitim zum Ausgleich für ihre Schwäche zu. 16 Sie

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Therese H u b e r an E m i l v o n H e r d e r , S . J u l i 1808 ( B T H , B d . 3). Felden: D i e F r a u e n u n d R o u s s e a u , S. 1 9 1 : »Die w e n i g e n E r w ä h n u n g e n R o u s seaus in ihren B r i e f e n zeigen ein Desinteresse und eine Distanziertheit T h e r e se H u b e r s R o u s s e a u gegenüber.« Z u diesem zu w e n i g differenzierenden Urteil k o m m t Felden, weil das umfangreiche H u b e r s c h e B r i e f k o r p u s bei A b s c h l u ß ihrer Studie lediglich zu einem Bruchteil erschlossen w a r (S. 189). A u ß e r d e m wertete sie ausdrücklich u n d methodisch begründet nur Ä u ß e r u n g e n mit namentlicher E r w ä h n u n g Rousseaus aus (S. 52t.). A u s s a g e n H u b e r s , die auch ohne explizite N a m e n s n e n n u n g Rousseausches G e d a n k e n g u t erkennen lassen (s. insbesondere K a p . 7), sind meines Erachtens dennoch zu brücksichtigen, w i l l m a n die W i r k u n g s w e i s e v o n Rousseaus Texten vollständig einschätzen können.

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G a r b e : Sophie oder die heimliche M a c h t der F r a u e n , S. 6 5 - 8 7 ; dies.: D i e >weibliche< List im >männlichen< T e x t , S. 82-88; vgl. Pia Schmid: Bürgerliche T h e o r i en zur weiblichen Bildung. Klassiker und G e g e n s t i m m e n u m 1800. In: O t t o H a n s m a n n , W i n f r i e d M a r o t z k i (Hg.): D i s k u r s Bildungstheorie II. R e k o n s t r u k tion der Bildungstheorie unter B e d i n g u n g e n der gegenwärtigen Gesellschaft. W e i n h e i m 1989, S. 539t.; C l a u d i a H o n e g g e r , Bettina Heintz: Z u m Strukturw a n d e l weiblicher W i d e r s t a n d s f o r m e n im 19. Jahrhundert. In: dies. (Hg.): L i sten der O h n m a c h t . Z u r Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen. F r a n k f u r t a.M. 1 9 8 1 , S. 16.

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Rousseau: E m i l , S. 386. Rousseau: E m i l , S. 386. Rousseau: E m i l , S. 402. Rousseau: E m i l , S. 389. Rousseau: E m i l , S. 4 0 1 . Rousseau: E m i l , S. 402: » D i e dem weiblichen Geschlecht verliehene, i h m eigentümliche Geschicklichkeit ist ein sehr gerechter A u s g l e i c h f ü r die K r a f t , die ihm fehlt. [...] Alles haben die F r a u e n gegen sich: unsere Fehler, ihre Schüchternheit, ihre Schwäche. F ü r sich haben sie nur ihre List und ihre Schönheit. Ist es daher nicht richtig, w e n n sie beide pflegen?« I m G e g e n s a t z dazu verurteilt

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ermöglichen es außerdem, dem Mann die Illusion zu lassen, seinerseits über die Frau zu herrschen: Die Herrschaft der Frau ist eine Herrschaft der Sanftmut, der Geschicklichkeit und der Nachgiebigkeit. Ihre Befehle sind Zärtlichkeiten, ihre Drohungen sind Tränen. Sie muß im Haus regieren wie ein Minister im Staat, indem sie sich befehlen läßt, was sie sowieso tun will. Darum sind diejenigen die besten Ehen, in denen die Frau die meiste Autorität hat. Verkennt sie aber die Stimme ihres Herrn oder maßt sie sich seine Rechte an und will selbst befehlen, dann entsteht aus dieser Unordnung nichts als Unglück, Ärgernis und Schande.17 Beide, Mann und Frau, haben Macht, setzen sie aber auf unterschiedliche Weise durch: Der Mann herrscht formell, durch den ausgesprochenen Befehl, die Frau informell, indem sie ihre Wünsche indirekt, auf subtile Weise dem Mann mitteilt, ohne daß dies dem Mann bewußt wird, der wiederum eben diese Wünsche als direkte Befehle an die Frau weitergibt. 18 Somit befindet sich die Frau »mitnichten in der Position der Ohnmacht«, wie Garbe feststellt. Ebensowenig kann Rousseaus Idee von der Geschlechterordnung »mit dem schlichten Raster von der >Freiheit< (beziehungsweise Herrschaft) des Mannes und der »Unterdrückung« der Frau« erfaßt werden; »es handelt sich vielmehr um zwei unterschiedliche Sprach- und Aktionsmodi, die Rousseau mit- oder gegeneinander ins Feld führt.« 1 9 Mann und Frau beherrschen sich gegenseitig, aber auf unterschiedliche Weise, so daß ein Machtkampf ausgeschlossen ist. D a

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Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, Τ. i, S. n 6 f . die List als Herrschaftsstrategie der Frauen. Die Strategie, durch »sinnliche Reize« (S. 279) zu regieren, wird zwar von Brandes wiederholt als effizient erwähnt (S. 145; ij3f.; 190; 279), aber negativ bewertet: »Die Männer, die ihre Sinnlichkeit nicht einigermaßen beherrschen können [...], mögen ihr Schicksal tragen. Wer aber eines bessern Schicksals werth ist: sollte der sich nicht durch vernünftige Betrachtungen, schon dadurch, daß die Ursache seiner Sklaverey, aus der er so gern ein Geheimniß machen möchte, dem aufmerksamen Beobachter nicht entgeht, ermannen können?« (S. 190!.) Rousseau: Emil, S. 446. Rousseau: Emil, S. 421: Die Frau »schätzt und beurteilt die Kräfte, die sie in Bewegung setzen kann, um ihre Schwäche wettzumachen. Und diese Kräfte sind die Leidenschaften der Männer. [...]. Alles, was ihr Geschlecht nicht selbst machen kann, was ihm aber angenehm oder notwendig ist, muß es mit Geschick dahinbringen, daß wir es machen wollen.« Garbe: Die >weibliche< List im >männlichen< Text, S. 87; Garbe wendet sich damit gegen frühere Rousseau-Interpretationen, die im Emil nur die für die Frau repressiven Momente beachteten. Ihren eigenen Standpunkt präzisiert Garbe: »die >Repressionshypothese< nicht zu akzeptieren, bedeutet ja nicht, in symmetrischer Umkehrung zu behaupten, es habe keine Repression gegeben; lediglich ihr zentraler Status wird in Frage gestellt« (Garbe: Sophie oder die heimliche Macht der Frauen, S. 70). 104

bei Rousseau der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Macht also weniger ein quantitativer als ein qualitativer ist, kann er die Situation als Paradoxon beschreiben: »Durch diese Überlegenheit an Witz bleibt sie ihm ebenbürtig und beherrscht ihn, indem sie ihm gehorcht«, 20 und: »jeder gehorcht, und beide sind Herren.« 21 An diese paradoxe Vorstellung mag sich Therese Huber erinnert haben, als sie bezüglich der Machtverhältnisse in ihrer zweiten Ehe schrieb: »Ich habe aber Huber auch beherrscht denn alle Männer sind beherrscht und alle Weiber unterwürfig und wärs anders so wärs fatal und wo es anders ist gehts schief«. 22 Vor diesem Hintergrund kann man vermuten, daß Hubers Aussage, »mein Geschäft ist nur liebenswürdig zu sein«, 2 ' so gemeint ist, daß sie durch dieses Verhalten Herrschaft ausüben kann. Im Sinne einer Herrschaftsstrategie wird »liebenswürdig« zu sein schon bei Rousseau vorgestellt: Eine Frau aber, die ehrenwert, liebenswürdig und tugendsam zugleich ist, die die Ihrigen dazu zwingt, sie zu achten, die zurückhaltend und bescheiden ist, mit einem Wort, die Frau, die die Liebe auf Achtung stützt, schickt die Männer mit einer Handbewegung bis ans Ende der Welt, in den Kampf, zum Ruhm, in den Tod, oder wohin es ihr gefällt. 24

In jedem Fall äußert sich Huber in Rousseaus Sinn, wenn sie sich selbst und den Frauen generell »eine Art Talent zum Herrschen« 25 bescheinigt und wenn sie vom sich »weiblich gewinnend [...] in den Mann schmiegen« 26 schreibt als dem richtigen Verhalten der Frau gegenüber dem Mann. Ihre Tochter Ciaire von Greyerz benehme sich nicht auf diese Weise, so daß deren unglückliche Ehe, wie Huber mißbilligend anmerkt, durch ihre »Unweibliche Tyrannei« 27 gekennzeichnet sei. Der Tyrannei

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Rousseau: Emil, S. 402. Rousseau: Emil, S. 409; Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 438: »Unserm Willen wird Gehorsam geleistet, doch so, dass der weibliche das Oberdirectorium behält. Unsere Freyheit ist in den meisten Fällen nur ein Traum: aber ich glaube, dass es für uns auch in den meisten Fällen dieser Art besser ist, zu träumen, als zu wachen.« außerdem: Bd. 1., S. 6; Bd. 2, S. 260 und Bd. 3, S. 38t'. Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 17. April 1 8 1 6 ( B T H , Bd. 6). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Rousseau: Emil, S. 428. Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 25.November 1807 ( B T H , Bd. 3); Rousseau hat »der Frau ein natürliches Talent zugesprochen [...], den Mann zu beherrschen« (Rousseau: Emil, S.446). Therese Huber an Emil von Herder, nach 16. März 1807 ( B T H , Bd. 2, N r . 310). Therese Huber an Emil von Herder, 17. Juni 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 77). 105

der T o c h t e r stellt sie i h r eigenes V e r h a l t e n p o s i t i v g e g e n ü b e r , 2 8 so daß m a n daraus schließen k a n n , H u b e r selbst h a b e die v o n R o u s s e a u d a r g e stellte i n d i r e k t e H e r r s c h a f t s m e t h o d e p r a k t i z i e r t - z u m i n d e s t a b e r b e u r teilte sie i h r H a n d e l n so. N e b e n diesen G e m e i n s a m k e i t e n gibt es a b e r z w i s c h e n R o u s s e a u s u n d H u b e r s A u f f a s s u n g auch Unterschiede. N a c h der Trennung Luises v o n E m i l v o n H e r d e r schrieb H u b e r an ihre älteste T o c h t e r T h e r e s e F o r s t e r : N i Votre pere ni celui de Louise ne m'a fait envisager l'esclavage de cet etat tel que les epoux d'aujourdhui le prescrivent. Je ne me suis jamais senti ge'nee et j'ai ete' porte d'instinct de pre'venir la volonte de mon mari; mais aussi jamais ces dignes mortels ne m'ont impose leur volonte comme une loi. Je n'ai connu qu'un guide de mes actions, c'etoit mon respect pour leur caractere et le bien de notre menage. J'ai voue toutes mes forces au dernier, le premier etoit mon instinct, pour ainsi dire. Je ne me souviens pas d'un moment de ma vie ou j'ai obei - car je n'ai jamais ete expose ä un ordre. J'ai du avoir une idee tre's fausse du mariage parce que je n'ai jamais respecte les unions dont la paix reposoit sur l'esclavage, la resignation muette, l'abnegation de l'individualite d'un des deux partis. 2? H u b e r b r a n d m a r k t die F o r m v o n E h e , die H e r d e r seiner F r a u a u f z w a n g , als S k l a v e r e i u n d b e d i e n t sich d a m i t genau des G e g e n b i l d e s , auf das a u c h R o u s s e a u u n d a n d e r e z u r ü c k g r e i f e n , w e n n sie ihre E h e i d e a l e p r o p a g i e r e n : N i c h t S k l a v i n , s o n d e r n G e f ä h r t i n soll die F r a u i h r e m E h e m a n n sein.- 10 D e r U n t e r s c h i e d zu R o u s s e a u besteht in H u b e r s A u f f a s s u n g v o m w e i b l i c h e n G e h o r s a m , d e n n H u b e r p r a k t i z i e r t e in i h r e n E h e n (angeblich) einen v o r a u s e i l e n d e n G e h o r s a m ( » p r e v e n i r la v o l o n t e de m o n mari«). D i e s e A r t G e h o r s a m k e n n z e i c h n e t e a u c h die M a c h t v e r h ä l t n i s s e in H u b e r s

Bezie-

h u n g z u i h r e m V a t e r . A l s es u m G e o r g F o r s t e r s H e i r a t s a n t r a g ging, sollen V a t e r u n d T o c h t e r sich w i e f o l g t v e r h a l t e n haben: Dazu kam der völlige Mangel an Vertraulichkeit mit meinem Vater, dieser trat in allen diesen nur wie ein orientalischer König auf - gar nicht weil er Despot war, Gott behüte! - aber weil mein unbändig unabhängiges Wesen immer durch e r r a t h n e Unterwerfung, oder heimlichen Selbstwillen seinen Befel zu-

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Therese Huber an Emil von Herder, 17. Juni 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, Nr. 77): »da ich durch mein Leben zeigte daß die entgegengesezten Tugenden Fehler vergüten, Unglück versüßen«. Therese Huber an Therese Forster, 15. September 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 6); bezüglich ihrer Auffassung der Machtverhältnisse differenziert Huber an dieser Stelle nicht zwischen ihren beiden, von ihr sonst ganz unterschiedlich dargestellten Ehen, vgl. Therese Huber an Regula Hottinger, 16. November 1793; an Caroline Böhmer, 25. Februar 1794 ( B T H , Bd. 1, N r . 162 und 166). Rousseau: Emil, S. 402; der Mann, der seiner Ehefrau nur den Status einer Sklavin zubilligt, wird z.B. von Brandes u.a. als despotisch kritisiert (Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 99f.). 106

vorkam. Das heißt: ich opferte meinen Willen auf eh er ausgesprochen war, oder vollendete meine Handlungen so daß sie unwiderruflich wurden, in beiden Fällen war der Papa um das Befehlen geprellt, und nie hat ein Weibliches Wesen mehr gehorsamt, ohne je Befehle zu erhal[ten] // wie ich. 3 1

Indem die männliche Autoritätsperson »um das Befehlen geprellt« wird oder zumindest keinen direkten Befehl erteilt (»je n'ai jamais ete expose ä un ordre«), entspricht Hubers Auffassung und Tun nicht der Forderung Rousseaus, die Frau müsse sich vom Mann befehlen lassen, »was sie sowieso tun will.« 32 Dem Handeln der Frau geht hier der Befehl des Mannes voraus. Bei Huber bleiben dagegen alle drei Männer, der Vater Heyne, die Ehemänner Forster und Huber, in den beiden zitierten Beschreibungen stumm. In einem anderen Zusammenhang verwendet Huber zur Charakterisierung eines idealen Herrschaftsverhältnisses die Formulierung von der »Stille der Befehle«. 33 Bei Rousseau spricht der Mann also Befehle aus, während er dies bei Huber (im Idealfall) nicht tut. Inwiefern ist dieser Unterschied nun von Bedeutung? Für Rousseaus System der Machtverteilung ist der Befehl des Mannes unverzichtbar: Da die Frau laut Rousseau sowieso den Mann informell beherrscht, bleibt diesem als Symbol seiner Macht nur der von ihm ausgesprochene Befehl (»die Stimme ihres Herrn«), auch wenn dieser gar nicht seinen eigenen Willen, sondern den der Frau ausdrückt. Was bliebe von seiner Herrschaft übrig, wenn ihm dies Symbol vorenthalten würde? Er wäre der Illusion seiner Macht beraubt. Das von Rousseau in dem oben zitierten Paradoxon dargestellte Gleichgewicht in den zwischengeschlechtlichen Beziehungen wäre dann gestört, auch wenn die Frau, wie Huber es für sich in Anspruch nimmt, im Interesse des Mannes handelt und sich ein harmonisches Zusammenleben zwischen Mann und Frau daraus ergibt. Daher scheint es nur logisch, daß Rousseau am Befehl des Mannes festhält und ihn nicht durch den vorauseilenden Gehorsam der Frau ersetzt. Darüber hinaus ist der Befehl aber nicht nur ein Symbol. Der »Stimme ihres Herrn« wohnt faktische Macht inne, weil die Frau diese Macht für sich erst durch Sanftmut, Liebenswürdigkeit oder eine List erobern muß. Sonst kann sie sie nicht für sich einsetzen und ist aufgrund ihrer Schwäche in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. 34 Durch den Befehl ist der 31

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Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 24. Februar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 178). Rousseau: Emil, S. 446. Therese Huber an Emil von Herder, 16. Juli 1807 ( B T H , Bd. 3); es geht dabei um die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern in Philipp Emanuel von Fellenbergs Erziehungsinstitut. S. Anm. 18.

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Mann also an Entscheidungsprozessen beteiligt. Hubers Äußerung vom »heimlichen Selbstwillen« und ihr eigenständiges Handeln, durch das der Vater vor vollendete Tatsachen gestellt wird, zeigen jedoch, daß sich hinter dem Prinzip des vorauseilenden Gehorsams möglicherweise der Ausschluß des Mannes aus dem Entscheidungsprozeß, seine faktische Entmachtung durch die Frau verbirgt. Huber hätte dies nicht zugegeben, bezeichnet ja auch ausdrücklich beide Vorgehensweisen, die erratene Unterwerfung und auch den heimlichen Selbstwillen, als Ausdruck ihres absoluten Gehorsams. Aber das Beispiel der Behandlung Heynes durch seine Tochter verdeutlicht die Gefahren für den Mann oder Möglichkeiten für die Frau für den Fall, daß das Prinzip des expliziten Befehls nicht angewendet wird. Einmal schreibt Huber, daß sie im höchsten Maße gehorchte (»nie hat ein Weibliches Wesen mehr gehorsamt« 35 ), ein anderes Mal, daß sie sich nicht erinnern könne, je gehorcht zu haben: »Je ne me souviens pas d'un moment de ma vie ou j'ai obei - car je n'ai jamais ete expose ä un ordre.«-16 Dieser Widerspruch läßt sich auflösen, wenn man davon ausgeht, daß zu Hubers System von Gehorsam und Herrschaft ebenfalls die Manipulation gehört, aber auf andere Weise und auf einer anderen Ebene als bei Rousseau. Die Manipulation findet in Form einer Selbsttäuschung statt: »da ich nur zwei Wege für das freie Wesen: Mensch, kenne: Durch Gehorchen mir das Gesez a n e i g n e n , also es für mich aufheben, weil es mein Wille wird; oder Geseze g e b e n . Das lezte geht // nicht immer, es könnens auch nicht alle.« 37 Wenn man den eigenen Willen nicht in die Tat umsetzen kann, erlangt man die Freiheit nur, indem man den fremden Willen zu seinem eigenen macht. Das Gehorchen ist dann kein Zwang mehr. Für Huber ist Gehorsam also eine Frage der Perspektive. Wenn man ein Gesetz, eine Ordnung - auch wenn sie nicht den eigenen Vorstellungen entspricht - einmal für sich akzeptiert hat, kann man sich frei fühlen. Wenn Huber meint: »bei Männern bin ich frei«, 38 dann dachte sie dabei nicht nur an eine im Vergleich zu ihrem Verhältnis zu Frauen größere Freiheit, sondern durchaus an eine absolute Freiheit, denn die Beziehungen zwischen Frauen und Männern sind ja nach einer Ordnung geregelt,

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Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 24. Februar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 178). Therese Huber an Therese Forster, 15. September 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 6). Therese Huber an Paul Usteri, 15. und 16. November 1807 ( B T H , Bd. 3, Zentralbibliothek Zürich, Ms. V 512.160, N r . 12). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). 108

die das Ich sich aneignen, und damit für sich aufheben kann. Natürlich kommt diese Freiheit nur aufgrund der vorher erfolgten Aufgabe des eigenen Willens zustande. Dieser eigene Wille existiert noch, aber er ist ausgeblendet, ohne weitere Bedeutung für das Handeln des Ich. In diesem Sinne äußerte sich Huber z.B. hinsichtlich der Beziehung Fürst-Untertan: »mir der Republikanerinn frißt der Ungehorsam das Herz ab. Zu Gehorchen, ist die Seele der Freiheit - und so lange ich einen Fürsten habe, gehorch ich dem Fürsten.«39 Wenn Huber also schreibt, sie könne sich nicht erinnern, je gehorcht zu haben, so drückt sie ihre durch die Aneignung der Ordnung veränderte Sicht auf ihr eigenes Verhalten aus. Sie hat die Ordnung akzeptiert, hat sie sich angeeignet, d.h. sie kennt die Spielregeln genau (»da ich mir stez bewußt bin wo mich die Schöpfung ihnen Unterwarf« (s.o.)), und damit ist der Gehorsam im Sinne eines von außen kommenden Zwanges aufgehoben. Ein formeller, direkter Befehl, wie ihn Rousseau vorsieht, würde unter diesen Bedingungen überflüssig sein. Aus diesem Grund müßte Huber ihn als Kritik auffassen: Warum sollte ihr ein Befehl erteilt werden, wenn sie sich doch schon vorab zur Systemkonformität entschlossen und damit ihren grundsätzlichen Gehorsam längst geleistet hat? So ein Befehl impliziert den Vorwurf, daß sie sich doch nicht an die Regeln hält oder die Ordnung falsch verstanden hätte was Huber bestreiten würde. Wenn Huber im Falle des Forsterschen Heiratsantrages äußert, »nie hat ein Weibliches Wesen mehr gehorsamt, ohne je Befehle zu erhal[ten]« (s.o.), so nimmt sie hier die Außenperspektive ein. Sie ist sich im klaren darüber, daß sie ständig gehorcht, so wie sie ja auch die Äußerungen über Freisein durch Gehorsam nur tun kann, weil sie nicht die Innenperspektive einnimmt, d.h. die Lage nicht aus dem durch die Selbsttäuschung eingeschränkten Blickwinkel eines angeblich freien Individuums betrachtet. Eben aus dieser Innenperspektive heraus ist ihre Aussage »Je ne me souviens pas d'un moment de ma vie ou j'ai obei« geschrieben. Durch die bewußte Selbsttäuschung ergeben sich eben zwei Perspektiven auf Herrschaft und Gehorsam, diejenige des Getäuschten und die des Täuschenden, beide in einer Person, nämlich Huber, vereinigt, während Rousseau im Emil diese Rollen auf Mann und Frau verteilt. Übrigens hebt Rousseau diese Rollenverteilung von täuschender Frau und getäuschtem Mann dadurch auf, daß er sie zum Thema seines Buches macht und seine männlichen Leser über das Illusionäre ihrer Herrschaft belehrt. Diese sollen sich daraufhin jedoch nicht ihre uneingeschränkte 39

Therese Huber an Henriette von Reden, 4. August 1818 ( B T H , Bd. 6).

Herrschaft von den Frauen zurückholen. Vielmehr erwartet der Autor von ihnen, daß sie die Herrschaftstaktiken der Frauen, wie z.B. die von Rousseau für legitim erklärte List, und die damit verbundene eigene Täuschung billigen. Indem die Männer diese Täuschung bewußt zulassen, ermöglichen sie die Aufrechterhaltung des vom Autor beschriebenen Systems männlicher und weiblicher Machtstrategien. Sind es dann nicht die Frauen, die getäuscht werden von den Männern? Wohl kaum, denn die Frauen werden ebenfalls durch die Lektüre des Emil über dieses System von Täuschung und geduldeter Täuschung informiert. Mehr noch: Da sich Rousseaus Buch vor allem an weibliche Leser wendet,40 sollten diese auch darüber informiert sein. Die Frau weiß, daß der Mann weiß, daß und wie die Frau herrscht. Die »heimliche Macht der Frauen«, so der Titel von Garbes Aufsatz, ist somit eigentlich ein offenes Geheimnis. Rousseaus Buch enthält beziehungsweise produziert auf diese Weise eine zweifache Perspektive auf Herrschaft und Gehorsam, die der Hubers ähnlich ist: die der im Buch handelnden Charaktere und die der wissenden Leser, die aber wiederum sich im realen Leben wie die Akteure im Buch verhalten sollen und werden, wie es ihrem durch die Natur vorgegebenen Geschlechtscharakter entspricht. Die Identifikationsfigur für den Leser und die Leserin ist aber dabei, wie schon die Erzählperspektive nahelegt, der Erzieher und nicht die zu Erziehenden, also Sophie oder Emil. Welcher Mann will auch schon »dumm« wie Emil sein,41 der ganz den Prototyp des verliebten, von der Frau beherrschten Mannes verkörpert. Er ist den Winkelzügen der listigen Sophie ausgeliefert, die er in seiner Naivität nicht durchschaut. Und welche Frau möchte sich in einer derart eingeschränkten, von ständigen äußeren Zwängen geprägten Lage befinden wie Sophie (s.u.), auch wenn sie sich andererseits zum Ausgleich der weiblichen Machtmittel bedienen kann, um ihren Willen durchzusetzen. Der überlegene Standpunkt des Erziehers, der Blick hinter die Kulissen der Täuschung, bewirkt nicht die Destabilisierung des Systems durch die Offenlegung der Machtmechanismen, sondern seine Absicherung: Man kann die Rolle der Sophie oder des Emil leichter übernehmen und sich damit auf Rousseaus System von Täuschung und Gegentäuschung einlassen, wenn man sich zugleich in der Rolle des Erziehers sieht, die von allen anderen am meisten respektierte und machtvollste Figur des Buches.42 Vielleicht ist diese (Selbsttäuschung des Lesers die wichtigste überhaupt. 40 41 42

Rousseau: Emil, S. 9: »Ich wende mich an dich, liebe und weise Mutter.« Rousseau: Emil, S. 528. Rousseaus Leser betrachteten sich tatsächlich in dieser Doppelrolle, z.B. Johann Gottfried Herder: »Ich lese auch Rousseau u. habe von meinem Geburtstage an

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H u b e r belohnt sich f ü r ihren G e h o r s a m also s o z u s a g e n d u r c h das G e f ü h l ( b e z i e h u n g s w e i s e eigentlich die Illusion) v o n Freiheit. B e i R o u s s e a u ist d i e s e I l l u s i o n d a g e g e n d e m M a n n v o r b e h a l t e n ; d i e F r a u , o b w o h l m i t d e n ( a n g e b l i c h ) w i r k u n g s v o l l s t e n M i t t e l n d e r M a c h t a u s g e s t a t t e t , ist i m m e r u n d u n a b ä n d e r l i c h d e m Z w a n g u n t e r w o r f e n , d e n sie n i e m a l s f ü r s i c h a u f h e b e n k a n n . A l l e n f a l l s i n d e m sie d a z u e r z o g e n w i r d , i h r e P f l i c h t e n z u lieben, k a n n m a n ihr ihre U n t e r w e r f u n g erleichtern,43 aber Freiheit, o d e r auch nur die Illusion davon, w i r d ihr v o n R o u s s e a u nicht zugestanden.44 D i e s ist d i e o f f e n r e p r e s s i v e S e i t e d i e s e s S y s t e m s , d i e R o u s s e a u d e n F r a u en d u r c h das V e r s p r e c h e n , M a c h t ü b e r d e n M a n n z u haben,

versüßt:

G e h o r s a m u n d H e r r s c h a f t d e r F r a u g e h ö r e n z u s a m m e n (sie » b e h e r r s c h t i h n , i n d e m sie i h m g e h o r c h t « 4 ' ) - n i c h t a b e r G e h o r s a m u n d F r e i h e i t d e r F r a u . D e n n m i t d e m M a c h t v e r s p r e c h e n ist l e t z t e r e i m m e r a n d e n v o n i h r beherrschten M a n n v e r w i e s e n , in eine Z w e i e r b e z i e h u n g eingebunden. B e i H u b e r geht dagegen mit der Illusion v o n Freiheit möglicherweise die der U n a b h ä n g i g k e i t e i n h e r ( » m e i n u n b ä n d i g u n a b h ä n g i g e s W e s e n « 4 6 (s.o.)), d i e d i e F r a u aus d i e s e r B e z i e h u n g h e r a u s s t r e b e n läßt.

43

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4i 46

den Emil neu angefangen, um selbst mein Emil zu seyn - « (Brief v o m 27. und 28. August 1 7 7 1 an Caroline Flachsland, in: Johann Gottfried Herder: Briefe, Bd. 2, S. 60). Caroline Flachsland zeigte sich begeistert v o n »Sophiens Munterkeit«, die sie auch gerne hätte annehmen wollen, und v o n der Schiilerm-LehrerKonstellation in der Beziehung Sophie-Emil; zugleich sah sie sich als Erzieherin ihrer künftigen »Bübchen und Mädchen Ä LA ROUßEAU« (Hans Schauer (Hg.): Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. N a c h den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs herausgegeben. Bd. 1. Weimar 1926, S. 273, 348, 353)· Rousseau: Emil, S. 404: »Gebt den Frauen ohne Bedenken eine Frauenerziehung, damit sie die Sorgen ihres Geschlechtes lieben lernen; damit sie bescheiden werden; damit sie ihr Hauswesen führen und sich mit ihm beschäftigen können.« S. 425: »Wenn man mit jungen Mädchen spricht, darf man ihnen keine Angst v o r ihren Pflichten machen, noch das J o c h erschweren, das ihnen v o n N a t u r aus auferlegt ist. [...] Bringt ihnen nicht den Glauben bei, daß die E r f ü l lung dieser Pflichten traurig macht!« S.420: »Ich sagte schon, daß die Pflichten ihres Geschlechtes leichter zu erkennen als zu erfüllen sind. Das erste, was sie lernen müssen, ist, sie wegen ihrer Vorteile zu heben. Das ist das einzige Mittel, sie ihnen leichter zu machen. [...] M a n erkennt seine Pflichten bald, wenn man sie nur hebt.« Eine so erzogene Frau »wäre imstande, die Erde vor dem letzten Diener zu küssen, ohne daß ihr diese Erniedrigung die geringste Mühe machte« (Rousseau: Emil, S. 433). Z u m Bewußtsein der Frau über ihre Unfreiheit: Rousseau: Emil, S. 400: »die Mädchen fühlen, daß sie zum Gehorchen geschaffen sind.« Rousseau: Emil, S. 402. Therese H u b e r an Friederike und J o h a n n Gotthard Reinhold, 24. Februar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 178). III

Die Idee, Freiheit durch Gehorsam zu erlangen, entlehnte Huber aus Goethes Iphigenie auf Tauris, wo es heißt: V o n Jugend auf hab' ich gelernt gehorchen, / Erst meinen Eltern und dann einer Gottheit, / U n d folgsam fühlt' ich meine Seele / A m schönsten frey; allein dem harten Worte, / D e m rauhen Ausspruch eines Mannes mich / Z u fügen, lernt* ich weder dort noch hier. 4 7

Huber interpretierte diesen Satz - bezogen auf das Herrschaftsverhältnis Dienstmagd-Hausherr(in) - folgendermaßen: les bonnes filles veulent s e r v i l - , et ne pas flechir sous la volonte d'un maitre. Chere enfant nous sommes toutes asservies, tout ce que nous pouvons faire, c'est de reconnoitre la maniere de remplir le plus favorablement a notre maniere de penser, les volontes des nos maitres. GEHORSAM, AM SCHÖNSTEN FREI, est la devise je ne sais de quel livre 48

Dienen, aber nicht sich beugen; den Willen des Herrschenden erfüllen, aber nicht auf einen expliziten Befehl hin; gehorchen und dabei frei sein, so läßt sich Hubers Vorstellung von Unterwerfung generell und insbesondere der Unterwerfung der Frau unter die Herrschaft des Mannes zusammenfassen. Was heißt aber: Den Willen des (Ehe-)Mannes zu seinem eigenen Willen machen? Woran wollte Huber den Willen des Mannes erkennen? Huber postulierte ein gemeinsames Interesse von Mann und Frau in der Ehe. Was den Haushalt angeht, verhielt sie sich ihren Ehemännern gegenüber wie folgt: »Je n'ai connu qu'un guide de mes actions, c'etoit mon respect pour leur caractere et le bien de notre menage. J'ai voue' toutes mes forces au dernier«.4' Die Frau kann selbst erkennen und entscheiden, was dem gemeinsamen Interesse am besten dient, und dementsprechend selbständig aktiv werden, immer unter der Einschränkung, daß dem Mann von seiten der Frau Respekt gezollt wird. Die Verbindung zwischen Mann und Frau ist hier weniger durch eine strenge Hierarchie gekennzeichnet, die die totale Abhängigkeit und Unselbständigkeit der Frau vom Mann vorschreibt, als durch einen gemeinsamen Willen definiert. Dieser - und nicht der Mann - gibt der Frau den Bezugsrahmen für ihre Handlungen vor. Der Mann tritt als Autorität, als Befehls- und Kontrollinstanz hinter die Sache zurück. Das ist zwar nicht mit einem Herrschaftsanspruch Hubers für die Frau in der Ehe gleichzusetzen, aber 47

+s

49

Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. In: Goethe's Schriften. Bd. 2. Leipzig 1787, 5. A u f z u g , 3. Auftritt. Therese H u b e r an Therese Forster, 10. und 1 5 . J a n u a r 1803 ( B T H , Bd. 1 , N r . 240). Therese H u b e r an Therese Forster, 15. September 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 6). 112

deren Position ist um ein vielfaches stärker als in dem Modell der HerderEhe (»Pesclavage«), in der Herder sich wiederholt allein auf seinen Status als »maitre de la maison« berief, um seinen Willen durchzusetzen, wie Huber berichtet. 50 Wie stark diese Position tatsächlich sein kann, hängt davon ab, was in den Zuständigkeitsbereich der Frau fällt, um das gemeinsame Ziel - »le bien de notre menage« - zu erreichen. Theoretisch kann sich hinter dieser Formel alles verbergen vom Einkauf günstiger Lebensmittel auf dem Markt (ganz im Sinne der Rolle der Frau als guter Haushälterin, wie es der Diskurs über Weiblichkeit vorschreibt) bis zum Beitragen zum gemeinsamen Einkommen durch die Schriftstellerei der Ehefrau, wie es in Hubers zweiter Ehe der Fall war (ganz entgegen dem Diskurs, s. Kap. 7.2). Das gemeinsame Interesse rechtfertigt eine weitgehende Unabhängigkeit der Frau, begrenzt aber auch zugleich deren Handlungsspielraum, indem es ihr nicht um das Verfolgen eigener Ziele und Ambitionen gehen darf, sondern die eheliche Gemeinschaft immer der übergeordnete Bezugspunkt weiblicher Aktivitäten bleibt. Umgekehrt schützt die Formel vom »bien de notre menage« die Frau auch vor der Willkür des Mannes: Es geht für die Frau um die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe und nicht um die bloße Unterwerfung unter den Willen des Mannes, der ihr je nach Lust und Laune Befehle erteilen kann. O b sie das vorgegebene Ziel erreicht, kann überprüft werden, etwa anhand der Haushaltsbücher. Auf dieser Basis läßt sich objektiv, unabhängig von der Aussage des Mannes, beurteilen, ob die Frau ihren weiblichen Pflichten nachkommt oder nicht. Anweisungen des Ehemannes an die Frau, die mit diesem Ziel unvereinbar sind, könnten von der Frau sogar ignoriert werden, denn die entscheidende Instanz (»Je n'ai connu qu'un guide«) für die Frau in diesem Ehemodell ist die Sache, nicht der Mann, auch wenn dessen »caractere« - nicht Befehl oder Wille - zu berücksichtigen ist. Das Stadium einer Willensäußerung erreicht der Mann in diesem Modell des vorauseilenden Gehorsams sowieso nicht. Der klar definierten und objektiv überprüfbaren Aufgabenstellung vom »bien de notre menage« steht der von der Frau zu interpretierende »caractere« des Mannes gegenüber - oder besser gesagt: Beides steht harmonisch nebeneinander. Denn ein Konflikt zwischen »le bien de notre menage« und »caractere« wird von Huber nicht thematisiert. Vielmehr ergibt beides eine Einheit. Daher heißt es auch »un guide«, obwohl Huber an dieser Stelle zwei Dinge aufzählt. Es wäre ja auch höchst unvernünftig, wenn ein Mann einem allgemein als lohnend betrachteten Ziel, wie dem Erreichen materi50

Therese Huber an Therese Forster, 17. April 1 8 1 4 ( B T H , Bd. 5, N r . 237). °3

eilen Wohlstandes, sich widersetzen würde. Daß es dagegen tatsächlich z.B. in Hubers erster Ehe sehr wohl einen Konflikt zwischen »caractere« und dem Wohl des gemeinsamen Haushaltes gab, Forsters Prachtliebe mit dem Einkommen der Familie nicht in Einklang zu bringen war,' 1 bleibt hier unerwähnt zu Gunsten der Darstellung eines harmonischen, konfliktfreien Ehemodells. Um so deutlicher konnte Huber die Nachteile (z.B. Konflikte zwischen den Eheleuten) des von ihr als Gegenmodell begriffenen Beispiels der Herder-Ehe vorführen, in welcher allein der Wille des Ehemannes und nicht das gemeinsame Interesse richtungsweisend für das Handeln der Eheleute gewesen sein soll. Ein weiterer Unterschied zwischen Hubers und Rousseaus Vorstellung von der Machtverteilung innerhalb der Beziehung zwischen Mann und Frau betrifft das richtige Verhalten in einer Konfliktsituation. Hier zeigt sich, wie sich die Herrschaftskonzepte unter extremen Bedingungen bewähren - oder auch nicht. Laut Rousseau fügt sich die Frau in einer solchen Situation dem Willen des Mannes. Sie kann aber durch Sanftmut indirekt immer ihren Willen durchsetzen: Die erste und wichtigste Eigenschaft einer Frau ist die Sanftmut: bestimmt, einem so unvollkommenen Wesen wie einem Mann zu gehorchen, der oft selbst voller Laster und immer voller Fehler ist, muß sie frühzeitig lernen, Unrecht zu erdulden und Ubergriffe eines Mannes zu ertragen, ohne sich zu beklagen. Nicht für ihn, für sich selbst muß sie schwach sein. Bitterkeit und Halsstarrigkeit verschlimmern nur ihre Leiden und das schlechte Benehmen der Ehemänner; sie fühlen, daß man sie mit diesen Waffen nicht besiegen darf. Der Himmel hat ihnen nicht Schmeichelei und Überredungsgabe gegeben, damit sie zänkisch werden; er hat sie nicht schwach gemacht, damit sie herrschsüchtig werden. Er hat ihnen nicht diese süße Stimme gegeben, damit sie schimpfen. Er hat ihnen nicht dieses zarte Antlitz gegeben, damit sie es im Zorn verzerren. Wenn sich Frauen ärgern, vergessen sie sich. Sie haben oft recht, sich zu beklagen, aber sie haben immer unrecht, wenn sie schelten. Jeder muß den Ton seines Geschlechts wahren. Ein Mann, der zu nachgiebig ist, kann eine Frau unverschämt machen. Ist aber der Mann nicht geradezu ein Ungeheuer, so bringt ihn die Sanftmut einer Frau wieder zur Vernunft, und früher oder später triumphiert sie über ihn.' 2

Diese Passage aus Emil ist in ganz ähnlicher Form auch bei anderen Autoren zu finden.'-1 Der Grund dafür, daß sie gern zitiert oder paraphrasiert

52 s3

Therese Huber an Emil von Herder, 29. und 30. Januar 1807 (BTH, Bd. 2, Nr. 289). Rousseau: Emil, S. 401. Leierseder: Das Weib nach den Ansichten der Natur, S. 133, wo allerdings nicht ausgewiesen wird, daß die dort zitierten Autoren Rousseaus Emil z.T. wort114

w u r d e , liegt auf d e r H a n d , ist sie d o c h v o l l e r p o s i t i v e r V e r s p r e c h u n g e n : E i n o f f e n e r K o n f l i k t z w i s c h e n M a n n u n d F r a u k a n n bei r i c h t i g e m V e r halten der F r a u nicht stattfinden, w e i l die F r a u z u n ä c h s t n a c h g i b t . Sie toleriert s o g a r das schlechte B e n e h m e n des M a n n e s . D i e s e r hat d e m n a c h u n g e s t r a f t w e i t g e h e n d e H a n d l u n g s f r e i h e i t u n d z u g l e i c h ist i h m die R u h e i m H a u s garantiert. D a s v e r l o c k e n d e V e r s p r e c h e n an die F r a u lautet, daß sie sich l e t z t e n d l i c h d o c h i m m e r d u r c h s e t z e n w i r d , i n d e m sie sich d e r i h r eigenen H e r r s c h a f t s m e t h o d e n bedient. Z u s ä t z l i c h ist ihr das M i t g e f ü h l des E r z ä h l e r s sicher. Sollte sich die F r a u w i d e r E r w a r t e n nicht d u r c h s e t z e n k ö n n e n - diese M ö g l i c h k e i t w i r d v o n R o u s s e a u i m m e r h i n e r w ä h n t u n d läßt das K o n z e p t e t w a s realistischer erscheinen - handelt es sich bei d e m M a n n e b e n u m ein » U n g e h e u e r « . A l l e r d i n g s hat diese m o r a l i s c h e V e r u r t e i l u n g s o n s t keinerlei K o n s e q u e n z e n , da der F r a u k e i n anderes M i t t e l z u r K o n f l i k t l ö s u n g z u g e s t a n d e n w i r d als S a n f t m u t .

wörtlich wiedergeben und sich damit auf ein bestimmtes, theoretisch durchdachtes, ausbalanciertes Herrschaftskonzept beziehen, in dem Sanftmut als Mittel der informellen, weiblichen Macht als ein unverzichtbarer Bestandteil vorkommt. Sanftmut ist nicht nur gelegentlich und im Bedarfsfalle von der Frau anzuwenden, sondern grundsätzlich und immer. Es handelt sich bei der Festlegung der Frau auf die Sanftmut um weit mehr als eine »>Uberlebensstrategie< der Frau« oder einen »sehr praktisch« anmutenden Ratschlag, wie Leierseder meint; Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 175 und 190t.: Sanftmut macht die Frau zur »Beherrscherin des männlichen Herzens«, aus dem die Frau machen kann, was sie will, vorausgesetzt daß die Frau »nie hartnäckig oder bitter widerspricht, nie dem Manne das Recht der Herrschaft streitig macht, sondern immer sanft, gutlaunig, freundlich und nachgebend bleibt, auch da, w o ihr wirklich zu viel geschieht«, »daß die Befriedigung ihrer Eitelkeit und Rechthaberei ihr nie mehr, als der häusliche Friede und die eheliche Glückseligkeit, werth sey, und dal? sie also Liebe und Klugheit genug besitzt, um sich ihrem Gatten jedesmal, ohne erst mit ihm rechten zu wollen, auf Gnade und Ungnade in die Arme zu werfen, und mit zärtlichen Bitten und Liebkosungen nicht eher nachzulassen, bis das Eis seines Starrsinns zu schmelzen beginnt. [...] noch soll der Mann gebohren werden, der diesen Waffen zu widerstehen vermag. [...] Hat jemand ein menschliches Herz im Leibe, [...] so muß es, es mag wollen oder nicht, der Allgewalt der ächten Weiblichkeit erliegen«; Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 2, S.225: »Am sichersten wird stets das Weib durch Nachgeben siegen«; vgl. dagegen Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 3, S. 3 3 9 - 3 4 1 , w o ein » g e g e n s e i t i g e s N a c h g e b e n u n d Z u v o r k o m m e n « den Eheleuten empfohlen wird. Allerdings ist es auch bei Pockels zunächst die Frau, die die »Härten und Vorwürfe mit Geduld« trägt, »weil es ihr nicht zukommt, die Erbitterung des Mannes noch mehr zu reitzen«. Aus Reue für sein Verhalten und Dankbarkeit für das ihre wird der Mann aber dann künftig »oft selbst da nachgeben, w o die Gattinn Unrecht haben könnte. Ich bedaure die Eheleute, die sich hierin einander kein Opfer bringen können«. " 5

D i e s e I d e e n sind o f f e n b a r a u c h in H u b e r s D e n k e n e i n g e g a n g e n , h a b e n d o r t a b e r eine charakteristische U m f o r m u n g e r f a h r e n . 1 8 1 3 , als die K r i s e in d e r B e z i e h u n g z u H e r d e r i h r e m H ö h e p u n k t z u t r i e b , schrieb sie ihm: Es ist nicht männlich, nicht gütig, nicht klug m Dir, gegen Luise, gegen mich, Deinen Nationalhaß gegen die Franzosen zur deutschen Tugend zu stempeln. Es ist nicht männlich, weil wir gegen Dich nicht stehen können ohne unweiblich zu sein, also freiwillig uns unterwerfen oder unliebenswürdig streiten müßen; es ist nicht gütig, weil wir durch die innigsten Bande jener Nation angehören. In Luisens Adern fließt durch ihre Großmutter französisches Blut, sie erblickte unter einem französischen Stamm das freundliche Lebenslicht, sie liebte in ihrem Vater ein Wesen in dem das Sanftere, Geistige, französischen U r sprungs war; ich danke mein ganzes Schicksal, Glück und Wehe diesem Volk. Eine wunderbare Verkettung von Umständen amalgamirte mich mit ihm, und bindet meine Neigungen, Geistesanlagen, an seine Eigenheiten. Dieser Besonderheit danke ich das Beste in mir, auch die lebendige, unüberwindliche // Uberzeugung von dem Werth und dem Bestand der deutschen Nation. Es ist nicht klug von Dir unsrer Neigung, welche manches Schicksal zur Religion stempelte, stez bitter im Weg zu treten, da Du Dich damit der Gefahr hingiebst daß wir über eines unsrer liebsten Intereßen mit einem andern lieber reden wie mit Dir. Deine Denkart über öffentliche Angelegenheiten wie über Religio« ist uns heilig - aber in beiden ist Intoleranz abscheulig, und Toleranz sehr unbillig - Liebe und Geist geben dem einen immer die Gefühlsfülle an des andern A n sicht theilzunehmen. - O b ich das that, beweißt mein schmerzliches Sorgen um Deinen Kummer, da man bei Lützen focht. Es ist nicht klug einem schönen, liebenswürdigen, achtzehnjährigen Köpfchen mit wenig philosophischer U m sicht galligen Unwillen gegen jugendlichen Enthusiasmus zu sezen. Du lieber Emil! Hat Dich Dein bischen Menschenkenntniß noch nicht berechnen machen daß ein weibliches Herz gern Herrschaft trägt, aber nur die der Überlegnen Güte und Klugheit? 5 4 M i t d e m M a n n z u streiten, darin f o l g t H u b e r R o u s s e a u , ist ein V e r s t o ß g e g e n die G e s c h l e c h t e r o r d n u n g . D i e F r a u , die das tut, ist » u n w e i b l i c h « , d.h. sie v e r h ä l t sich r e g e l w i d r i g , w ä h r e n d richtiges, also >weibliches< V e r halten in f r e i w i l l i g e r U n t e r w e r f u n g besteht. H u b e r signalisiert, daß i h r die R e g e l n d e r G e s c h l e c h t e r o r d n u n g b e k a n n t s i n d u n d daß sie an dieser O r d n u n g f e s t h a l t e n m ö c h t e . D a m i t s c h a f f t sie f ü r ihre w e i t e r e A r g u m e n t a t i o n eine a l l g e m e i n u n d d a m i t a u c h f ü r H e r d e r a n n e h m b a r e B a s i s . G e s c h i c k t zeigt sie i h m , daß gerade ihre A n h ä n g l i c h k e i t an F r a n k r e i c h ihre p r o d e u t s c h e H a l t u n g b e s t i m m t u n d daß sie seine p o l i t i s c h e n u n d r e l i g i ö sen A n s i c h t e n z w a r nicht teilt, a b e r auf das h ö c h s t e schätzt u n d mit i h m f ü h l t . H u b e r setzt hier ihre » S c h m e i c h e l e i u n d U b e r r e d u n g s g a b e « ein, u m H e r d e r » w i e d e r z u r V e r n u n f t « z u b r i n g e n . A b e r a u c h w e n n H u b e r hier

54

Therese Huber an Emil von Herder, 27. Mai 1 8 1 3 ( B T H , Bd. 5, N r . 155). 116

mit Rousseauschen Mitteln arbeiten mag, um ihren Willen durchzusetzen - und mit letzterem ist nicht die Unterwerfung Herders unter ihre politischen und religiösen Uberzeugungen gemeint, sondern nur die wechselseitige Akzeptanz - , so entspricht das, was sie über die Ordnung der Geschlechter sagt, dennoch nicht Rousseauschen Vorstellungen, wenn man von der erwähnten gemeinsamen Basis absieht. Da ist z.B. die Definition von Herders Verhalten als unmännlich. Geschickt ist an dieser Argumentationsstrategie, daß Huber nicht einfach Herders Bemühen um Durchsetzung seiner politischen und religiösen Ansichten gegen die der Frauen als unmännlich diffamiert, denn auf politischem Gebiet hatten Frauen nach damaliger Vorstellung kein Mitspracherecht (s. Kap. 7.2) und auch die religiösen Uberzeugungen betreffend wäre Herders Position zumindest gegenüber der seiner künftigen Ehefrau Luise von Gewicht. 55 >Unmännlich< ist Herders Auftreten, weil es möglicherweise eine >unweibliche< Reaktion provoziert und damit die Geschlechterordnung bedroht, so Hubers Argument (»Es ist nicht männlich, weil wir gegen Dich nicht stehen können ohne unweiblich zu sein«), Herders Benehmen bedrückt nicht nur die beiden Frauen, sondern gefährdet seine eigene männliche Identität, lautet die eine Botschaft. Die andere ist: Da ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Frauen und dem des Mannes besteht, muß auch der Mann logischerweise an der Konfliktlösung mitwirken. Bei Rousseau dagegen ist der Mann durch schlechtes oder ungerechtes Benehmen gegenüber der Frau in seiner Identität nicht bedroht. So aggressiv und verwerflich sein Verhalten auch ist, er benimmt sich nach Rousseau nicht falsch im Sinne der Geschlechterordnung, also unmännlich. Wohl aber ist die Reaktion der Frau falsch, also unweiblich, wenn sie nicht immer, d.h. unabhängig vom Benehmen des Mannes, sanftmütig reagiert. Das Verhalten der Frau wird bei Rousseau nicht an dem des Mannes gemessen, sondern zählt nur für sich. Einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Mannes und dem falschen Benehmen der Frau herzustellen, so konsequent und moralisch richtig es wäre, verbietet Rousseau ausdrücklich (»Sie haben oft recht, sich zu beklagen, aber sie haben immer unrecht, wenn sie schel-

55

Rousseau: Emil, S. 409: »Weil das Benehmen der Frau der öffentlichen Meinung unterworfen ist, ist ihr Glaube der Autorität unterworfen. Jede Tochter muß die Religion ihrer Mutter haben, und jede Frau die ihres Mannes. Selbst wenn diese Religion falsch wäre, so löscht der Gehorsam, der die Mutter und die Familie der Ordnung der Natur unterwirft, die Sünde des Irrtums vor Gott. Da sie nicht imstande sind, selbst zu entscheiden, müssen sie die Entscheidung der Väter und der Ehemänner hinnehmen wie die der Kirche«; vgl. ebenda, S. 433. " 7

ten«®6). Die Verantwortung für die Einhaltung der Ordnung im Falle eines Konfliktes trägt allein die Frau, ebenso die Schuld, wenn es zu einem Regelverstoß kommt. Ihr allein obliegt die Konfliktlösung. Nach Rousseau benimmt sich ein Mann nur falsch, wenn er »zu nachgiebig ist«. Ein solches Verhalten ist unmännlich: Der Mann wahrt damit nicht »den Ton seines Geschlechts«, sondern übernimmt den weiblichen, nachgebenden Part. N u r in einem solchen Fall ist unweibliches, fehlerhaftes Benehmen der Frau als eine Konsequenz des unmännlichen Verhaltens ihres Gegenübers bei Rousseau beschrieben (»Ein Mann, der zu nachgiebig ist, kann eine Frau unverschämt machen«®?). Hubers Versuch, Herder kompromißbereit zu stimmen, mit Hinweis auf die durch sein Benehmen bedrohte >Weiblichkeit ihrer eigenen Person und Luises, wovon wiederum die Charakterisierung von Herders Verhalten als »nicht männlich« abhängt, widerspricht Rousseaus Szenario für den Ablauf von Konflikten zwischen Mann und Frau auf entscheidende Art und Weise. Huber versucht nichts Geringeres, als über den Umweg der diskurskonformen Definition von Weiblichkeit - die >weibliche< Frau streitet nicht - den Mann auf von Rousseau als unmännlich definierte Verhaltensregeln festzulegen. Diese Argumentationsweise ist charakteristisch für Huber: Sie wählte nicht den Weg der direkten Konfrontation, wenn sie ihre persönlichen Ansichten über das Miteinander von Mann und Frau vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Diskurses entwickelte, sondern bediente sich dabei der im Diskurs vorherrschenden Denkmuster, um diese ihren eigenen Interessen entsprechend umzudeuten. Darüber hinaus besteht die große Aussparung in Hubers Argumentation darin, daß sie nicht auf die von ihr selbst erwähnte, nach Rousseau richtige Alternative der freiwilligen Unterwerfung eingehen will. Bei Rousseau ist die Unterwerfung der Frau zwar unabdinglich, aber nicht endgültig, denn letztendlich herrscht sie ja über den Mann und wird sich durchsetzen. Ist bei Huber die freiwillige Unterwerfung hier keine Option, weil dies im vorliegenden Fall die Übernahme von Herders Uberzeugungen bedeuten würde? Schon die im Sinne Rousseaus vorläufige Unterwerfung, Herder also weiterhin seinen Standpunkt auf diese Weise vertreten zu lassen und den eigenen »Enthusiasmus« zu zügeln, ist für sie keine akzeptable Verfahrensweise und zieht Folgen nach sich, die bei Rousseau nicht thematisiert werden. Statt im Sinne des letzteren weiter sanftmütig auf Herder einzuwirken, um den eigenen Willen schließlich s6 57

Rousseau: Emil, S. 401. Rousseau: Emil, S. 401. 118

durchzusetzen, sieht Huber noch eine andere Möglichkeit: Sich über die »liebsten Intereßen«, etwa Politik, künftig mit einer anderen Person auszutauschen. Das Konzept, das Huber Herder alternativ vorstellt, basiert auf der gegenseitigen Akzeptanz, dem Nachvollziehen der unterschiedlichen Meinungen. Obwohl das sehr nach Gleichberechtigung aussieht, soll doch gleichzeitig die Herrschaft des Mannes dabei garantiert sein. Voraussetzung ist allerdings, daß Herder sich an die Herrschaftsmethode hält, die Huber als >richtig< definiert, nämlich die der »Überlegnen Güte und Klugheit«. Diese Formel erinnert an Rousseaus Charakterisierung der Herrschaft der Frau über den Mann durch ihre »Überlegenheit an Witz«'8 (s.o.). Sollte sich Herder statt des direkten Befehls, den Huber als Herrschaftsinstrument des Mannes ablehnte, etwa der indirekten Methoden bedienen, um sich durchzusetzen, wie z.B. der Sanftmut oder List? Was bedeutet Herrschaft »der Überlegnen Güte und Klugheit« konkret? Wie das Beispiel des Konfliktes mit Herder zeigt, erwächst dem Mann aus dieser Art Herrschaft nicht die Möglichkeit, die politischen oder religiösen Auffassungen der Frau beziehungsweise künftigen Ehefrau zu bestimmen, denn nur Anteilnahme an seinen Auffassungen, Einfühlung und Mitleiden, nicht Angleichung oder gar Unterwerfung kann Herder von Huber und seiner künftigen Ehefrau erwarten. Auch wenn er sein Benehmen ändert und von seinem »galligen Unwillen« abläßt, kann er Therese und Luise Hubers Sympathie für Frankreich und alles Französische doch nicht ausschalten, ist sie doch für beide Frauen zur »Religion« geworden, also innerste, heiligste und damit unwandelbare Uberzeugung. Im Falle Luises liegt sie sogar im »Blut« und ist damit erst recht ein nicht zu tilgender Bestandteil ihres Wesens. Eigentlich hat Herder also hinsichtlich der strittigen Punkte keinerlei Macht über die Frauen. Huber hat ihn über die Grenzen seiner Einflußmöglichkeiten klar informiert. Trotzdem schließt sie diese deutliche Stellungnahme mit der Verheißung, er könne dennoch Einfluß ausüben, ja sogar auf die Kooperation der zu beherrschenden Frau, Luise, rechnen (»Hat Dich Dein bischen Menschenkenntniß noch nicht berechnen machen daß ein weibliches Herz gern Herrschaft trägt«). Huber wendet damit dieselbe Taktik bei einem Mann an, die Rousseau hinsichtlich der Frauen in seinem Emil vorführt: Rousseau setzt den Frauen überall Grenzen, aber verspricht ihnen dennoch Macht. Da diese Macht erst aus der Akzeptanz der Grenzen erwachsen soll, führt der Versuch der Frauen, sich gemäß diesen Vorgaben, ® s Rousseau: Emil, S. 402. 119

d.h. sanftmütig und liebenswürdig zu verhalten, de facto zu ihrer Ohnmacht und stärkt die Machtposition des Mannes. Sanftmut und Liebenswürdigkeit markieren bei Rousseau die Grenzen weiblichen Handelns und zugleich sollen sie (angeblich) als Herrschaftsstrategien der Frauen funktionieren. Huber wiederum zeigt Herder die Grenzen seiner Macht und verspricht ihm gleichzeitig die Herrschaft über die Frau, wenn er die Herrschaftsmethode der »Überlegnen Güte und Klugheit« anwendet. Wenn er sich »überlegen gütig und klug< verhält, kann er herrschen, so die Verheißung; verhält er sich aber so, verfügt er de facto über keine Macht. Das Pendant zu Rousseaus weiblicher Herrschaft durch Sanftmut ist Hubers männliche Herrschaft durch überlegene Güte und Klugheit. Im Konfliktfall sind beide Herrschaftsinstrumente zur Durchsetzung des Willens der angeblich mächtigeren bei der angeblich unterlegenen Partei gleich unbrauchbar. Will Rousseau faktisch die Macht der Männer über die Frauen zementieren durch sein Machtversprechen an die Frauen, hat Huber ein weniger ehrgeiziges Ziel: Ihr geht es hier nur darum, die eigenen und Luises Uberzeugungen behalten und äußern zu dürfen, nicht darum, sie auch noch Herder aufzuzwingen, d.h. ihrerseits Macht über ihn auszuüben. Die »überlegen gütige und kluge< Herrschaft des Mannes garantiert in Hubers Konzept die Meinungsfreiheit der Frau. Die Macht des Mannes über die Frau zeigt sich gerade darin, daß der Mann von ihr keinen Gebrauch macht, nicht versucht, sich gegen die Frau durchzusetzen. Wenn Huber also schreibt »bei Männern bin ich frei«, 59 paßt dies zwar ausgezeichnet in Hubers Vorstellung des vorauseilenden weiblichen Gehorsams (»GEHORSAM, AM SCHÖNSTEN FREI«6°), aber genausogut läßt sich die Aussage in ihr Wunschbild von männlicher (Nicht-)Herrschaft integrieren. Herders Reaktion auf Hubers Vorschlag, den Konflikt im Rahmen ihres Konzeptes von Herrschaft beizulegen, scheint zunächst positiv ausgefallen zu sein. Es kam zu einer vorübergehenden Versöhnung. 61 Ob dem die tatsächliche Akzeptanz des Huberschen Konzeptes oder pragmatische Gründe zugrunde lagen - Herder wollte sicher nicht, daß Huber seine Braut Luise zu seinen Ungunsten beeinflußte - , ist schwer zu sagen. Für letzteres spricht, daß Huber ihre Vorwürfe gegen Herder 1 8 1 4 mehrfach in gleicher Form wiederholte, Herder sich also nicht an die Vereinbarung hielt, nachdem er die Hochzeit hinter sich gebracht hatte und als Ehe" 60 61

Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 1 7 1 ) . Therese Huber an Therese Forster, 10. und 15. Januar 1803 ( B T H , Bd. i , N r . 240). Therese Huber an Emil von Herder, 1. Juni 1 8 1 3 ( B T H , Bd. 5, N r . 159).

120

m a n n g e g e n ü b e r seiner F r a u L u i s e eine m a c h t v o l l e r e P o s i t i o n

meinte

b e a n s p r u c h e n z u k ö n n e n . I n die gleiche R i c h t u n g w e i s t die T a t s a c h e , daß n a c h allem, w a s ü b e r die z w e i t e H e r d e r - E h e ab 1 8 2 2 b e k a n n t ist, sich diese eher n a c h d e m R o u s s e a u s c h e n als d e m H u b e r s c h e n K o n z e p t gestaltete: L u i s e v o n H e r d e r ließ i h r e m M a n n seinen W i l l e n , o r d n e t e sich i h m a u c h d a n n u n t e r , w e n n die V e r n u n f t eigentlich d a g e g e n s p r a c h , u n d f ü h r te ihn d a b e i d u r c h » K l u g h e i t u n d M i l d e « . F ü r H e r d e r m u ß t e sich daraus der E i n d r u c k e r g e b e n , d e r H e r r i m H a u s e z u sein, a u c h w e n n tatsächlich seine F r a u i h n leitete, w i e sein F r e u n d G o t t l i e b v o n G r e y e r z meinte. 6 2 H u b e r u n t e r s t ü t z t e ihre T o c h t e r dabei i n s o f e r n , als sie H e r d e r s A u t o r i t ä t nie o f f e n in F r a g e stellte: H e r d e r zeige, wenn man ihm etwas im Weg tritt, eine so übermüthig despotische Arroganz daß ich mich sehr freue in der Selbstüberwindung so weit gekommen zu seyn, daß ich sogleich schweige - allein was ist die Folge? - Daß ich auch nicht mehr // mit ihm spreche. Natürlicherweise haben wir nie eine Dispute, sondern nur einige Mal - 3 Mal, Anstöße gehabt, die mir nichts mehr thun, da ich jezt weiß weß Geistes Kind er ist. Wenn mir das Schicksal es gönnte, würde ich mit Luise an einem Orte wohnen, aber nie mit ihm in einem Hause [...]. 6 3

62

Gottlieb von Greyerz an Therese Huber, 3 1 . Oktober 1823 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen): »Du bist selbst auch zu der Uberzeugung gelangt, daß die Art wie Luise mit Η erder lebt uns für die Dauer eines Verhältnißes bürgt, das wir nie so gut gestellt erwarten durften. [...] sie ist nicht mehr so streng und abstoßend wie sie oft mit mir war x-x recht mild und gut ist sie geworden - und ihr Betragen gegen Yierder ist ganz wie er es wünscht, und doch so ganz wie es seyn soll um ihn zu einer verständigen A n sicht der Welt und Menschen zu bringen, die er nun auch schon erlangt hat. Wie Luisens Klugheit und Milde ihn dahin leitet wohin er allein nie gekommen wäre —«. In den Briefen an ihre Mutter schrieb Luise von Herder, sie könne nicht mehr unbefangen glücklich sein, wolle aber Herder in seinem Glück nicht stören, der dem Augenblick mehr Recht einräumt als Mann, als Frauen das könnten (19.Juni 1822, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 9/236). Sie spreche mit Herder nicht über Dinge, von denen sie nicht im voraus seine Ansicht wisse (2.Juli 1822, 9/238). A n Emilie von Reinbeck schrieb sie, sie habe versucht, ihrem Mann Geschmack am geselligen Leben beizubringen, aber da er nur zu Hause glücklich sei, habe sie sich gefügt (26. November 1822, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart); vgl. Therese Huber an Therese Forster, 22. Juli 1824 und an Johanna Friederike Kerner, etwa 10. September 1828 (»Luise würde vernünftigem A n sichten folgen, wenn sie nicht unbedingt nachgäbe. [...] sie vermeidet seine Begriffe oder Schwächen zu reizen.« B T H , Bd. 9); Luise von Herders Brief an Emil von Herder vom 2. und 3.März 1829 enthält eine in herzliche Worte gekleidete Kritik, wenn sie über den gemeinsamen Sohn schreibt: »ich kann ordentliche Gespräche mit ihm halten - und gute Gründe richten manchmal bei ihm mehr aus als - bei seinem innig engelslieben Papa - « (Privatbesitz Kantzenbach).

63

Therese Huber an Therese Forster, 25. Oktober 1824 ( B T H , Bd. 9). 121

Wie 1813 angekündigt, entschied Huber sich, die Kommunikation mit Herder abzubrechen. Ihn mit Sanftmut zu beherrschen, wie es die Tochter tat, lehnte sie also ab. Herder konnte das Schweigen als Bestätigung seiner Vormachtstellung im Hause werten, obwohl Huber ihm in ihrem oben zitierten Brief aus dem Jahr 1 8 1 3 deutlich gemacht hatte, daß das Schweigen einer Frau kein Zeichen von freiwilliger Unterwerfung sei. Fassen wir die Unterschiede von Rousseaus und Hubers Konzepten der Beziehungen zwischen Männern und Frauen zusammen: Rousseau weist Männern und Frauen unterschiedliche Herrschaftsmethoden zu, die direkte Methode dem Mann, die indirekte der Frau. Rousseau kann durch das unterschiedliche >Wie< der Herrschaftsstrategien eine direkte Konkurrenzsituation von männlicher und weiblicher Macht vermeiden, zumindest in der Theorie. Die indirekte Herrschaftsmethode der Frau ist auf Sanftmut und List angewiesen und erweist sich in der Regel als effizient. Gelingt es der Frau entgegen dieser Behauptung nicht, ihren Willen mit Sanftmut durchzusetzen, sind ihre Möglichkeiten allerdings erschöpft. Huber entwickelt verschiedene Argumentationsstrategien, um die Position der Frau subjektiv betrachtet und de facto zu verbessern, ohne die Machtposition des Mannes offen anzugreifen: Der direkte Befehl des Mannes ist bei Huber durch das System des vorauseilenden Gehorsams der Frau ersetzt; das Handeln der Frau orientiert sich an der Sache, dem gemeinsamen Interesse, welches auch vom Mann verfolgt werden sollte; der Mann soll durch überlegene Güte und Klugheit herrschen. Diesen Ideen Hubers ist gemein, daß die hierarchische Struktur der Geschlechterordnung grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird. Aber die Herrschaft des Mannes wird de facto beschnitten und kann unterlaufen werden. Ging es bisher um die Herrschaft des Mannes beziehungsweise um Hubers Versuche, sich ihrem direkten Zugriff zu entziehen, soll nun abschließend nochmals auf die Herrschaft der Frau über den Mann in Hubers Auffassung von der Geschlechterordnung eingegangen werden. Immerhin hat Huber angekündigt, sie sei sich »bewußt herrschen zu dürfen«. 64 Zunächst einmal ist festzustellen, daß sie entgegen der von ihr im >Vertrag< mit Reinhold gemachten Aussage, »mein Geschäft ist nur liebenswürdig zu sein«, 6 ' und ihrer Verurteilung des Verhaltens von Ciaire von Greyerz gegenüber ihrem Ehemann als »Unweibliche Tyrannei«, 66 64

6i

66

Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Therese Huber an Emil von Herder, 17. Juni 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 77).

122

selbst nicht immer liebenswürdig auftrat. Im Gegenteil: Sie bekannte sich freimütig dazu, nicht im Sinne Rousseaus mit Sanftmut, sondern mit »Härte« sich Männern gegenüber durchzusetzen. So schrieb sie bezüglich ihrer Führungsrolle, ihrer Herrschaft über Herder: Ich weiß nicht ob seme Mutter ihm ganz Freundinn und Führennn ist? — ein Mann würde ihn mit m e i n e r Härte empören, von mir, bei der sie nur im thätigen Leben, nie im Empfinden liegt, duldet er sie, und folgt mir in das Leben das er so haßt, und so widerstrebend trägt. 67

Gegenüber Philipp Emanuel von Fellenberg verwendete sie dagegen offenbar eine mit Rousseaus System der informellen weiblichen Herrschaft zu vereinbarende, nämlich sanfte Methode: Ich habe immer bemerkt daß solche Männer sich schwer durch die Ueberlegenheit ihres eignen Geschlechts zurecht weisen laßen, aber den sanften Widerstand weiblicher Vernunft, deren Ueberlegenheit sie nie zu fürchten haben, gern nachgeben. 68

Die Verschiedenheit von Hubers Methoden ergibt sich aus der Unterschiedlichkeit der Charaktere von Herder und Fellenberg, vor allem aber aus der Art der Beziehung, die sie zu ihnen unterhielt (s. Kap. 8.1). Was beide Aussagen verbindet, ist die Angabe, daß Huber sowohl Herder als auch Fellenberg für unfähig hält, einem Mann nachzugeben. N u r eine Frau kann sie dazu bringen. Warum? Weil eine Frau niemals in Konkurrenz zu einem Mann treten kann und daher nie seine Position in der Hierarchie bedroht. Mit diesem Argument versuchte Huber beispielsweise auch einen der seltenen Konflikte mit Reinhold beizulegen: »Sind Sie mir wirklich böß? glauben Sie würklich ich wollte mich über Sie sezen? Ich könnte mich nur ü b e r Sie sezen, nachdem ich mich mit Ihnen verglichen hätte, das kann ich, Weib, mit Ihnen, Mann, nie wollen.« 6 ' Nicht wie Huber herrscht, ob mit Sanftmut oder mit Härte, sondern schlicht die Tatsache, daß sie eine Frau und damit in der Außenseiterrolle ist, gibt ihr die Möglichkeit, ihren Willen durchzusetzen. Damit ist Hubers Macht über jene Männer, die sich von ihren Geschlechtsgenossen nicht beherrschen lassen wollen, wie z.B. Herder, der ja in der Tat mit der Anerkennung männlicher Autorität große Probleme hatte (s. Kap. 2.2), weniger Beschränkungen unterworfen. Die Geschlechterordnung sieht Huber 67

68

69

Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 2. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 216). Therese Huber an Paul Usteri, 15. und 16. November 1807 ( B T H , Bd. 3, Zentralbibliothek Zürich, Ms. V 512.160, N r . 12). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 23.September 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 240). I2

3

durch ihr Verhalten trotzdem nicht bedroht, denn emanzipatorische G e danken verknüpft sie mit ihrer Idee v o n weiblicher Macht über den Mann ja gerade nicht. Es gibt ihrer Ansicht nach keinen Machtkampf und so bleibt nach ihrer Vorstellung die Harmonie zwischen den Geschlechtern ungetrübt. Z u Beginn des Kapitels wurde Hubers Urteil über Rousseaus Thesen zum Geschlechterverhältnis zitiert: »verbrämt, und schneidern« habe sich der A u t o r geäußert, lautete die Kritik. Dagegen fand H u b e r den A b schnitt über das Mann-Frau-Verhältnis in Johann Jakob Wagners »Ideen zu einer allgemeinen Mythologie der alten Welt«, erschienen 1808, »sehr schön«.7° Wie bei Rousseau ist auch bei Wagner der Mann als »männlich herrschend« 71 und seine Freiheit als unbegrenzt beschrieben. Wagner vertritt also keinesfalls die Idee der Gleichberechtigung. V o n der heimlichen Macht der Frauen, den verschiedenen Herrschaftsmethoden, dem >richtigen< Verhalten bei Konflikten erwähnt er im Unterschied zu vielen seiner Rousseau anhängenden Zeitgenossen aber auch nichts. Stattdessen beschreibt er einen idealen, konfliktfreien Zustand, das »Einsseyn« 72 v o n Mann und Frau. Wahrscheinlich ergab sich dadurch Hubers kritische Haltung gegenüber Rousseau: daß er die Beziehung zwischen den G e schlechtern v o n ihrem Ursprung her als Machtkampf darstellt, statt das Moment des harmonischen Miteinanders in den Vordergrund zu rücken. So wie Hubers Vorstellungen v o n Herrschaft und Gehorsam v o n denen Rousseaus in zentralen Punkten abwichen, unterschieden sich auch ihre Auffassungen v o n >Mann< beziehungsweise >Männlichkeit< und >Frau< beziehungsweise »Weiblichkeit. Genauer gesagt: Hubers K o n z e p t männlicher Herrschaft erfordert einen anderen T y p Mann als das v o n Rousseau vorgestellte Modell. U m die Herausarbeitung dieser Unterschiede im Männer- und Frauenbild soll es im folgenden Kapitel gehen.

70

Therese H u b e r an Emil v o n Herder, S.Juli 1808 ( B T H , Bd. 3).

71

Johann Jakob Wagner: Ideen z u einer allgemeinen M y t h o l o g i e der alten Welt. Frankfurt a.M. 1808, S. 35. Wagner: Ideen z u einer allgemeinen M y t h o l o g i e der alten Welt, S. 3 6.

72

124

6.

>Männlich< und >weiblich< u m 1800

6.1. Zum Diskurs über die Geschlechtscharaktere bei Rousseau, Campe, Brandes, Pockels und Schlegel Anders als bei Rousseau reicht es nach Huber für den Mann nicht, einfach sein durch die Geschlechtszugehörigkeit bedingtes Herrscherrecht voraus· und durchzusetzen. Er muß, wie die Frau, auch ein Talent zum Herrschen besitzen, also über bestimmte Charaktermerkmale, wie überlegene Güte und Klugheit, verfügen. Wie gesehen, verlangt Rousseau von den Männern dies nicht. Sie sind unvollkommen, »immer voller Fehler« 1 und eine Änderung ihres Verhaltens ist innerhalb des von Rousseau vorgestellten Systems männlicher Herrschaft und unbedingten weiblichen Gehorsams auch nicht nötig. Bei Campe findet sich eine signifikante Abänderung dieser Vorstellung: Er beschreibt den Mann als »ein mehr oder weniger, aber doch immer in einigem Grade stolzes, gebietrisches, herrschsüchtiges, oft auch aufbrausendes und in der Hitze der Leidenschaft bis zur Ungerechtigkeit hartes und fühlloses Geschöpf«. 2 Diese Beschreibung bildet laut Campe nicht nur die Realität ab, sondern entspricht Campes Auffassung von idealer Männlichkeit: Der zitierten Charakteristik gemäß verhält sich »der Mann [...], wenn er wirklich Mann ist, und nicht bloß den äussern Umriß der Mannheit an sich trägt«.3 Dem schon weiter oben (Kap. 3) erwähnten, immer mit dem Mann verbundenen Adjektiv >stark< gesellt Campe die Adjektive »fest, kühn, ausdauernd, groß, hehr und kraftvoll an Leib und Seele«4 hinzu. Im Vergleich zur Frau besitzt der Mann »den größern Muth, den kühnern Unternehmungsgeist, die auszeichnende Festigkeit und Kälte, und - in der Regel meine ich - auch die unverkennbaren Anlagen zu einem größern, weiterblickenden und mehr umfassenden Verstand.« 5 Man könnte sagen: 1 2 3 4 5

Rousseau: Emil, S. 401. Campe: Väterlicher Rath Campe: Väterlicher Rath Campe: Väterlicher Rath Campe: Väterlicher Rath

für für für für

meine meine meine meine

Tochter, Tochter, Tochter, Tochter,

S. S. S. S.

22. 22. 19. 19. I 2

5

Festigkeit ist bis zur Härte, Kälte ist bis zur Fühllosigkeit gesteigert. Diese von Campe negativ bewerteten Eigenschaften ergeben sich aus den positiv beurteilten, d.h. sie gehören untrennbar zusammen. Man kann also das Negative nicht beseitigen, ohne die männliche Identität, so wie Campe sie definiert, zu zerstören. Allerdings ist dieses Männerbild in sich gebrochen: Auf der einen Seite verfügt der Mann über »auszeichnende Festigkeit und Kälte«, zugleich kennzeichnet ihn sein »aufbrausendes« Wesen und die »Hitze der Leidenschaft«. Selbst wenn man den Widerspruch zwischen »Kälte« und »Hitze« auflöst, indem man annimmt, daß der Mann nur diese extremen Gefühlslagen kennt und zwischen ihnen übergangslos, eben aufbrausend, wechselt, kann man dann die Eigenschaft »Festigkeit« (im Sinne von emotionaler Stabilität) damit kaum verbinden. Zum angeblich aufbrausenden Charakter des >richtigen< Mannes paßt auch nicht die folgende Darstellung Campes: Bei ihm geht der Uebergang von einer Empfindungsalt zur andern schwer und langsam von Statten, und es wird bei ihm - die sanguinischen Halbmänner ausgenommen - gemeiniglich erst eine lange Stufenfolge von abfallenden Z w i schenempfindungen erfordert, wenn die eine von zwei entgegensetzten Empfindungen oder Leidenschaften die andere verdrängen und ganz an ihre Stelle treten soll. 6

Ist der Mann nun doch nicht aufbrausend, sondern eher schwerfällig in seiner Emotionalität? Der leichte Wechsel der Gefühle wird von Campe nun als unmännlich diffamiert (»die sanguinischen Halbmänner ausgenommen«) und als weiblich definiert: Verglichen mit dem Mann gab die Natur der Frau minder starke und tiefe Empfindungen, leichteres Blut, also auch weniger Hang zu ernsten und trübsinnigen Gedanken, und durch beides jenen glücklichen Leichtsinn [...], der ihr den Uebergang von unangenehmen zu angenehmen Vorstellungen so leicht, und alles, was in Männerseelen, w o nicht immer und ewig, doch Jahre lang zu haften pflegt, sie im Hui! wieder vergessen macht. 7

Dem Mann werden die »dauerhafteren Gefühle« 8 zugeordnet, die Frau schwankt dagegen in ihren Empfindungen. Diese Gegenüberstellung angeblich typisch weiblichen Schwankens und männlicher »Festigkeit und Dauer« trifft nach Campe übrigens auch auf den Intellekt zu: Es ist der »Fehler vieler Weiber, daß sie, gleich Kindern und Otaheitern, nur von gegenwärtigen Eindrücken, Empfindungen und Vorstellungen sich 6 7 8

Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 180. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 179. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 179. 126

leiten lassen.«9 Das Dauerhafte, Feste, >Männliche< ist das positiv Bewertete; das Schwankende, >Weibliche< ist an sich negativ bewertet und muß laut Campe bekämpft werden. Auch die Frau soll dauerhafte Gefühle entwickeln, aber eine Angleichung an den Mann ist von Campe damit nicht intendiert. Die Frau soll sich nämlich zu einer dauerhaften Heiterkeit erziehen, wozu ihr glücklicher Leichtsinn, paradoxerweise also ausgerechnet ihre gerade nicht durch Dauerhaftigkeit gekennzeichnete Emotionalität, sie vorzugsweise befähigt. Der »zur Heiterkeit und Freude« gestimmte Sinn, so heißt es an anderer Stelle, ist »die glückliche Folge einer prätensionsleeren, leicht zu befriedigenden, von allen Launen, Phantasien und Eigenheiten weit entfernten Gemüthsart [...] - ein eben so seltener, als köstlicher weiblicher Characterzug«. 10 Als »weiblicher Characterzug« wird von Campe nicht das Typische, die Norm, sondern das Seltene, die Ausnahme definiert. Das >Weibliche< wird neu kreiert und muß bei den Frauen nun durchgesetzt werden - daher auch Campes Bezeichnung der Eigenschaften »Freundlichkeit und immer gleiche unerschöpfliche Herzensgüte« als »ein neuer wesentlicher Hauptzug in dem Character des Weibes«. 11 Bei Campe gibt es also ein negativ bewertetes, zu überwindendes Frauenbild, nach dem die Frau bedingt durch »Erziehungs- und Lebensart [...] schwach, klein, zart, empfindlich, furchtsam, kleingeistisch« 12 ist, und ein neues, positives Frauenbild, zu dem »ein leichter zur Freude gestimmter Sinn« und außerdem z.B. Bescheidenheit, Geduld, Sanftmut, Biegsamkeit, Selbstverleugnung und Bedächtigkeit gehören. 1 ' Das neue Weiblichkeitsbild der gleichmäßigen Heiterkeit beziehungsweise Freundlichkeit entspricht dem eigentlich als männlich definierten Charaktermerkmal von der Dauerhaftigkeit der Gefühle. An die Stelle der polaren Anordnung von weiblichschwankend versus männlich-dauerhaft tritt bei Campe damit die von männlich-ernst versus weiblich-heiter. Diese Heiterkeit muß Teil des weiblichen Charakters sein, weil die Frau dem Mann gegenüber eine Funktion zu erfüllen hat: »Sie ist ja dazu gemacht, dem Manne auf der sauren Lebensreise, wo er immer vorangehn muß, um den Weg zu ebnen, den Schweiß von der Wange zu wischen und ihm Heiterkeit, Trost, Freude und Muth ins Herz zu lächeln«. 14

9 10 11 12 13 14

Campe: Campe: Campe: Campe: Campe: Campe:

Väterlicher Väterlicher Väterlicher Väterlicher Väterlicher Väterlicher

Rath Rath Rath Rath Rath Rath

für für für für für für

meine meine meine meine meine meine

Tochter, Tochter, Tochter, Tochter, Tochter, Tochter,

S. S. S. S. S. S.

193. 173. 172. 19. 172, 156, 176, 192. 181. I2

7

Auch die weibliche Sanftmut (sonst als Mittel weiblicher Herrschaft über den Mann vorgestellt) ist von Campe - allerdings nicht in seinem Väterlichen Rath - hinsichtlich des Charakters des Mannes in eine komplementäre Funktion gesetzt: »Sein männlicher Ernst und fester Sinn wurden durch ihre weibliche Sanftmuth und Freundlichkeit gemildert.«15 Die Verantwortung für das psychische Wohlbefinden und die Stabilität des Mannes, die ihm das Funktionieren in der bürgerlichen Gesellschaft ermöglichen, trägt die Frau: Seine herrschende Gemüthsstimmung, seine Launen, die ganze fortschreitende Veredelung oder Verschlimmerung semes Charakters, sind ihr Werk! Seme größere oder geringere Thätigkeit, die grössere oder geringere Ordnung in seinen Geschäften, der größere oder geringere Muth und Eifer zu patriotischen und menschenfreundlichen Thaten, womit er sich beseelt fühlt, ist ihr Werk! [...] Allgewaltiges, obgleich schwaches Geschlecht, was vermag nicht alles dein, zwar unmerklicher, aber sicherer Einfluß auf den Mann und durch den Mann auf jede öffentliche Angelegenheit, auf den gesammten Flor und das Wohlergehn der bürgerlichen Gesellschaft! 1 6

Die Funktion der Frau reicht also indirekt durch den Mann über den ihr zugewiesenen Wirkungskreis von Haus und Familie hinaus, die Frau ist bei Campe eine staatstragende Macht, sogar die erste, grundlegende, von der alles Weitere ausgeht und abhängt: D u bist die erste mächtige Triebfeder, welche alles in Bewegung setzt, und von welcher jede andere moralische und politische Kraft, ihrem Grade und ihrer Richtung nach, größtentheils abhängt. Thut diese erste Federkraft, das Herz des Staatskörpers, ihre Pflicht, so thun es auch die äußerlichen Glieder desselben, das männliche Geschlecht 1 7

Voraussetzung für das Funktionieren der Gesellschaft ist die Ausbildung der erwähnten positiven weiblichen Charaktereigenschaften, wofür die Frau übrigens über eine Reihe eigentlich als männlich definierter Eigenschaften verfügen muß, z.B. »Muth«lS und tatsächlich auch »Stär15 16

17 lS

Artikel >männlich< in: Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, T. 3, S. 205. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 1 jf.; Silvia Bovenschen: Die imagmierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Repräsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a.M. 1979, S. 26 bezeichnet diese Vorstellung als »Appendixkonstruktion«. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 16. Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. T. 3, S. 205: männlich = »gesetzten Wesens, des Ernstes, der Entschlossenheit, des Muthes«; Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 28: »Man braucht ja Muth zum menschlichen Leben, auch zum weiblichen; zu diesem vielleicht noch mehr als zum männlichen; und ich mögte den demigen lieber erheben, als ihn niederschlagen.« In der von Ute Gerhard: Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte 128

ke«.IS> »Geduld, Sanftmuth, Biegsamkeit und Selbstverleugnung« sollen eben nicht aus der »Schwäche« der Frau entstehen, sondern »aus Ueberlegung«.20 Damit wird der Verstand der Frau als wichtiger Faktor angesprochen. Campe will, daß die Frau sich bewußt charakterlich in diese Richtung und damit zur von ihr selbst gewollten Unterwerfung unter den Mann ausbildet - daher der Appell an den Verstand der Frau und kein argumentativer Rückgriff auf das >natürliche< Kräfteverhältnis. Nun ist aber der Verstand bei Campe eher eine Domäne der Männer und nicht der Frauen. Vom »großem, weiterblickenden und mehr umfassenden Verstand« (s.o.) des Mannes verlangt Campe, was die Modellierung des eigenen Charakters und die Kontrolle und Lenkung der Gefühle angeht, in seinem Väterlichen Rath viel weniger als von dem angeblich schwächeren Verstand der Frau. Allerdings gibt es in Campes Buch eine dem Appell an den Verstand, die Stärke und den Mut der Frau entgegenkommende Äußerung, die freilich der Aussage vom größeren Verstand des Mannes entgegensteht: Also nicht gerade ein verschiedenes Maaß von menschlichen Kräften, also auch nicht ein verschiedener Grad ihrer mnern Stärke und Ausbildung, sondern lediglich eine verschiedene Richtung derselben auf verschiedene Gegenstände, und eine daraus entstehende verschiedene Modification übrigens gleicher Kräfte, sollen [...] den ganzen Unterschied zwischen den einzelnen Gliedern der nach Classen, Ständen und Geschlechtern emgetheilten großen Menschenfamilie ausmachen. 21

19 20 21

der Frauen im 19. Jahrhundert. Mit Dokumenten. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1981, S.374 zitierten Ausgabe des Väterlichen Ratbes von 1789 heißt es: »Bewaffne dich denn, mein theures Kind, mit Muth und Entschlossenheit«. Der Hinweis »mit Muth und Entschlossenheit« fehlt in der sonst von mir zitierten Ausgabe von 1790, S. 17. Vielleicht wollte Campe die Ausstattung der Tochter mit >männlichen< Eigenschaften wieder etwas zurücknehmen. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 30. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 176. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 9; bei Michaela Jonach: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter. Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie bei Joachim Heinrich Campe und Jean-Jacques Rousseau. Frankfurt a.M. u.a. 1997, S. 197 heißt es, daß Campe im Gegensatz zu Rousseau »keinen Unterschied zwischen einem männlichen und einem weiblichen Intellekt« mache. Doch das Urteil Campes über den Intellekt der Frauen ist in sich widersprüchlich, wie gesehen, und allein die Tatsache, daß Campe und andere Philanthropen Frauen vernünftigen Denkens für fähig halten (ebenda, S. 198), bedeutet nicht, daß sie grundsätzlich sie als den Männern intellektuell ebenbürtig betrachten. Dieser Widerspruch findet sich übrigens nicht nur bei Campe, sondern auch bei Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 104, w o die Verstandesgaben bei Mann und Frau als gleich beurteilt werden, während dies auf S. 302 wieder in Frage gestellt wird. 129

Kräfte und Anlagen sind gleich, aber unterschiedliche Funktionen im Staat beziehungsweise in der Familie unterscheiden die Geschlechter. Nimmt man nun noch Campes Erziehungsprogramm für den jungen Mann hinzu, das er einige Jahre vor seinem Väterlichen Rath für meine Tochter publizierte, worin vom Mann die Entwicklung derselben Charaktereigenschaften gefordert wird, die im Väterlichen Rath als Teil des weiblichen Charakters vorgestellt werden, z.B. auch die »heitere und fröhliche Gemüthsverfassung«,22 scheinen sich die Grenzen zwischen den Geschlechtern mehr und mehr zu verwischen. Campes prägnante Metapher, mit der er die Geschlechtscharaktere umschreibt und die Abhängigkeiten illustriert, scheint zu dieser offenbar doch nicht so fundamentalen Differenz zwischen den Geschlechtern nicht recht zu passen: er die die Eiche, sie der Epheu, der einen Theil seiner Lebenskraft aus den Lebenskräften der Eiche saugt, der mit ihr in die Lüfte wächst, mit ihr den Stürmen trotzt, mit ihr steht und mit ihr fällt - ohne sie ein niedriges Gesträuch, das von jedem vorübergehenden Fuß zertreten wird. 2 3

Immerhin ist es die Frau, die sich, wenn sie sich an Campes Regeln hält, als die Stabilere, Festere erweist, von der der Mann in seiner Emotionalität, seiner Wirksamkeit im Staat und damit der Staat selbst abhängen, wie Campe ja selbst behauptet. Bei Campe lassen sich die inneren Widersprüche im Männer- beziehungsweise im Frauenbild gut nachweisen, weil sich in seinem Väterlichen Rath fast alle Versatzstücke aus dem Arsenal der Geschlechtscharakterdiskussion wiederfinden lassen. Das Aufbrausende des Mannes beschreibt z.B. auch ein Lexikonartikel aus dem Jahr 1815, stellt dem aber als >weiblich< - anders und konsequenter als Campe - die »langsamen« und damit nicht die sich schnell wandelnden Empfindungen ge22

Joachim Heinrich Campe: Theophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Em Vermächtniß für seme gewesenen Pflegesöhne, und für alle erwachsnere junge Leute, welche Gebrauch davon machen wollen. T. 1. Frankfurt, Leipzig 1783, S. 135. Ansonsten unterscheidet sich Campes Erziehungsprogramm für junge Männer vom Grundsatz her von seinem Programm für die Tochter: Hat etwa der junge Mann im Theophron gelegentlich schlechte Laune (»auch die heiterste Sele hat ihre Stunden der Verfinsterung, und es würde umsonst sein, wenn ich dich ermahnte, deren keine zu haben«), soll er sich von jeder Gesellschaft fernhalten, »die des Vergnügens wegen zusammen gekommen ist« (S. 13 7), während im Gegensatz dazu die Frau nie schlechte Stimmung haben darf, sondern auf ständige Heiterkeit festgelegt ist. Ein Eingehen des Mannes auf die Frau, wie Campe es von der Frau dem Mann gegenüber fordert, findet sich nicht im Theophron·, vgl. Jonach: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter, S. 1 9 0 - 1 9 3 .

23

Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 20. 130

genüber. 24 Dagegen betont beispielsweise Knigge nicht den Aspekt der Kraft und Stärke männlicher Emotionalität, der sich in seinem aufbrausenden Wesen zeigt, sondern den der Festigkeit, wenn er den Mann als »gefasster bey allen Vorfällen, fester, unerschütterlicher« charakterisiert und die im Unterschied dazu schnelle Veränderlichkeit der Stimmungen der Frauen hervorhebt, nämlich die »eingepflanzte Neigung zu weniger dauerhaften Freuden; Launen aller Art, die den Verstand oft in den entscheidensten Augenblicken fesseln«. 2 ' Knigge weist damit auf die Gefährdung der Verstandesleistungen durch einen unausgeglichenen Gefühlshaushalt hin, eine Warnung, die sich bezüglich der Männer bei den Autoren, die den Männern das Aufbrausende, Stürmische der Gefühle zuweisen, nicht findet. Zu diesen Autoren gehört z.B. auch Brandes, der den Mann als »heftiger, stürmischer, aufbrausender, harscher wie das Weib« 26 charakterisiert. Die in dem von Brandes beschriebenen Sinne ausgeprägtere Emotionalität des Mannes betrifft alle Leidenschaften, einschließlich Liebe. 27 Den Frauen schreibt er im Unterschied dazu die sanfteren Emotionen zu, 28 die sie aber wegen ihrer schwächeren Vernunft schlechter kontrollieren können im Vergleich zu den Männern, die mit Hilfe ihres starken Verstandes ihre heftigen Leidenschaften besser 24

2i

16 27

28

»unter den Leidenschaften und Affecten gehören die raschen, ausbrechenden dem Manne, die langsamen, heimlich in sich selbst gekehrten dem Weibe an. Aus dem Manne stürmt die laute Begierde; in dem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an.« Conversations-Lexikon oder Handwörterbuch für die gebildeten Stände. Bd. 4. 3. Aufl. Leipzig, Altenburg 1 8 1 5 , S . 2 1 1 ; zitiert nach Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«, S. 366. Adolph von Knigge: Ueber den Umgang mit Menschen. T. 1. Hannover 1788, S.i46f. Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 102. Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 137, 160, 1 1 1 : »Das Stürmische, Ungestüme der Liebe empfindet selten ein Weib.« Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 1 0 1 : »Einzelne heftige, aufbrausende, wilde kleine Mädchen wird man freylich antreffen, selbst nicht als große Seltenheiten antreffen; aber man beobachte hundert Knaben auf der einen und hundert Kinder vom weiblichen Geschlechte auf der andern Seite, und man wird sich bald überzeugen, daß das andere Geschlecht im Durchschnitte sanfter wie das unsrige sey.« Allerdings stellt Brandes den heftigeren Gefühlen des Mannes die tieferen der Frau gegenüber (Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 27). Die so von Brandes vorgenommene Aufwertung der Emotionalität der Frau schränkt er aber wieder ein, wenn er behauptet, die Frau könne ihre Gefühle nur wenigen Gegenständen zukommen lassen (Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 110). Während die Frau allein auf die Leidenschaft Liebe beschränkt ist, kennt der Mann diese und andere Leidenschaften (Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 112). Damit ist das Spektrum der Gefühle nach Brandes beim Mann umfassender als bei der Frau.

!3!

zügeln. 2 ' Die häufige Darstellung der Frau als emotional und des Mannes als rational bestimmtes Wesen 3 0 findet sich damit bei Brandes z w a r im Ansatz angelegt, aber seiner Idealvorstellung entspricht sie nicht: Er fordert v o n beiden Geschlechtern die Beherrschung der Gefühle durch den Verstand. 31 Dagegen erhebt Novalis die Polarität männlich = rational geleitet, weiblich = emotional geleitet z u m Ideal. 32 Gleichzeitig ließ sich um 1800 die Tendenz feststellen, diese Zuordnung noch zu radikalisieren, d.h. den Mann zu entemotionalisieren und im Gegenzug die Frau allein auf ihre Emotionalität festzulegen. In Friedrich Schillers Gedicht Würde der Frauen sind letztere ganz auf den Bereich der Liebe und schönen Gefühle beschränkt, während »des Mannes kalte Brust, / Herzlich an ein H e r z sich schmiegend, / N i c h t der Liebe Götterlust« kenne. 33 D e r Ubergang v o n der einen Position zur anderen ist damit fließend. Letztendlich k o m m t aber bei der Fortführung des einen oder anderen Denkansatzes seine Verkehrung in das genaue Gegenteil heraus, so daß dem bei Brandes heftig liebenden Mann bei Schiller ein w o h l v o n Leidenschaften getriebener, aber zum Empfinden v o n Liebe unfähiger Mann gegenübersteht. A u c h die bei C a m p e halb aus den physischen Voraussetzungen, halb aus den gesellschaftlichen Umständen

abgeleitete Ernsthaftigkeit

bis

Trübsinnigkeit des Mannes und die komplementär dazu erfolgte Festlegung der Frau auf die freundlich-heiteren Gefühle findet sich bei anderen Autoren wieder, z.B. bei Ehrenberg, der auch die sonst schon bei C a m p e genannten Charakteristika aufführt: D e r Charakter der Männlichkeit ist Ernst, Mut Ii, Entschlossenheit, Kraft und Festigkeit, W ü r d e und Streben, sich nach außen z u verbreiten; der Charakter der Weiblichkeit ist Fröhlichkeit, Zartheit, Schüchternheit, G ü t e , Ergebung, Sanftheit, Fülle und eine Innigkeit, die sich in sich selbst zu verlieren strebt. 3 4

29 30

31 32 33

34

Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 3, S. 195 und 297. »das W e i b ist mehr fühlendes Wesen«, w ä h r e n d der Mann »ein mehr denkendes Wesen« sei (J.Meyer: D a s große Conversations-Lexikon. 1. A b t . Bd. 12. Hildburghausen 1848, S. 742, zitiert nach Hausen: D i e Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«, S. 367); »beim W e i b behaupten G e f ü h l und G e m ü t , beim Manne Intelligenz und D e n k e n die O b e r h a n d « (Meyer's großes Konversationslexikon. Bd. 7. 6. A u f l . Leipzig, W i e n 1904, S. 685; zitiert nach Hausen: D i e P o larisierung der »Geschlechtscharaktere«, S. 365). Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 3, S. 195. Simon-Kuhlendahl: D a s Frauenbild der Frühromantik, S. 359t. Friedrich Schiller: W ü r d e der Frauen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2.1. Gedichte. Weimar 1983, S. 20 jf. Friedrich Ehrenberg: Euphranor. U e b e r die Liebe. T . 1. 2. A u f l . Elberfeld 1809, S. 102; zitiert nach Meyer-Krentler: D e r Bürger als Freund, S. 54.

Campes hell-dunkel-Schema erfährt sogar noch eine Steigerung, wenn es an anderer Stelle heißt, daß »beim Weibe die Sympathie, die Liebe vorherrschend« sei, »beim Manne hingegen« sei es »der Antagonismus, der Haß«. 35 Dagegen soll die Frau laut Pockels über das ganze emotionale Spektrum verfügen. Negativ bewertet werden von ihm die Frauen, die »das Schütteln der Sturmwinde« nicht fühlen, »weil sie nicht l i e b e n nicht h a s s e n

und

können.« 36 Der Unterschied zwischen Mann und Frau

bestehe darin, daß die Gefühle der Frauen »weicher und reizbarer« sind, sie »gehen leichter, - es sey Hass oder Liebe, in Extreme über.« 3 ? Die Frau habe im Vergleich zum Mann die »lebhaftem [...] Gefühle«, 38 womit Pockels die entgegengesetzte Position zu Brandes vertritt. An anderer Stelle schreibt Pockels freilich genau das Gegenteil, wenn er die » l e b h a f t e m Gefühle des Mannes mit den Gefühlen und Gesinnungen des s a n f t e m Weibes« 39 kontrastiert, »das feurigere Blut des Mannes« mit der »inniger, zärtlicher« liebenden Frau. 4 ° Es überschneiden sich zwei Wunschvorstellungen an dieser Stelle: Zum einen das auch bei Campe dargestellte Modell der gegensätzlichen und funktional aufeinander bezogenen Geschlechtscharaktere: Die liebenswürdige M i l d e und S a n f t m u t h des edlem Weibes, ist auch von der Natur selbst so schön und liebenswürdig gebildet worden, damit der rohere und härtere Mann durch sie nach und nach geläutert, und für das gesellige Leben geschmeidiger und brauchbarer gemacht werden sollte. [...] Man zerstört das ganze subtilere und feinere Wesen des Weibes, wenn man ihm jene ruhige Milde, jene Weichheit und Herzensgüte, jene Geschmeidigkeit und Grazie des Charakters nimt, wodurch es die wohlthätige, nachgebende Freundinn des Mannes, und zugleich seine vertrauliche Regentinn wird. Vertilgt diesen einzigen, geheimnisvollen, wunderbaren Zug der weiblichen Seele, und sie ist für uns selbst vernichtet; gebt diesen Zug dem Manne, und seine sittliche, individuelle Form, als Mann, ist gleichfalls aufgelöst. 41

35

36 37 38 39 +0 41

J. Meyer: Das große Conversations-Lexikon. i. Abt. Bd. 12. Hildburghausen 1848, S.742; zitiert nach Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«, S. 367. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S. 52. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 209. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S. 271. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S. 17. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 3, S. 36. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S. 3 4 36. r

33

Zum anderen besteht der Wunsch, von der Frau nicht auf diese gemäßigte, disziplinierte Weise geliebt zu werden, so daß Pockels, offensichtlich nur widerwillig, einräumt: Im Allgemeinen werden die Weiber auch in der That mehr abgerichtet, uns durch ihre Sanftheit und Güte ihrer Empfindungen, als durch das Feuer ihrer Liebe zu gefallen. Man würde sehr unverständig handeln, wenn man ihnen das Letztere empfehlen wollte, da seine Gewalt so bekannt und zugleich so gefährlich ist. 42

Diese einander widersprechenden Wünsche lassen eine konsequente Systematisierung von >weiblichen< und >männlichen< Charaktermerkmalen bei Pockels nicht zu. Schließlich schreibt Pockels sogar an einer Stelle, Frauen liebten »feuriger, zärtlicher, inniger« als Männer,43 womit er das von ihm dem Männlichen zugeordnete >Feurige< vermischt mit dem als weiblich definierten »Zärtlichen, Innigen«, beides der Frau zuordnet und sich seine Wunschvorstellung damit erfüllt - freilich um den Preis, einen Widerspruch in sein Frauenbild hineingetragen zu haben. Einige der z.B. bei Pockels und in Ehrenbergs knapper Zusammenfassung der Geschlechtscharaktere genannten Charakteristika finden sich auch bei Friedrich Schlegel in seinem 1795 veröffentlichten Aufsatz Uber die Diotima: »Innigkeit und Zartheit« als Bestandteil der »reinen Weiblichkeit« und »Umfang und Bestimmtheit«44 als Merkmal von Männlichkeit. Allerdings kritisiert Schlegel an der Diskussion über Männlichkeit und Weiblichkeit, daß »zu viel Merkmale« zur Beschreibung der Geschlechter herangezogen würden und selbst bei seiner sich auf nur zwei Charakteristika beschränkenden Aufzählung meldet er Zweifel an, ob diese wirklich als gültig anzusehen sind und streicht sie schließlich aus der 1797 erscheinenden zweiten Fassung des Aufsatzes. Nicht die bewußte Ausdifferenzierung der eventuellen Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern soll Schlegels Ansicht nach das Ziel sein, sondern für beide Geschlechter gilt die Entwicklung »zur höhern Menschlichkeit«. Nicht geschlechtsspezifische, sondern allgemein-menschliche Tugenden müssen ausgebildet werden. In der dritten Fassung des Aufsatzes von 1822 führt er diesen Gedanken noch weiter aus: Nach der Idee des Altertums sollte der Adel der Menschennatur überhaupt im Manne wie im Weibe vorwalten, die innere Kraft der Gesinnung und des Geistes, der Charakter der Gattung sollte die Oberhand haben über die besondern 42 43 44

Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S. 212. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 3, S. 26. Friedrich Schlegel: Uber die Diotima. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. 1. Paderborn u.a. 1979, S. 7 0 - 1 1 5 , hier: S. 92f. r

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und abweichenden Eigenschaften der beiden Geschlechter. Bei den Neuern ist es dagegen gerade umgekehrt; man kann die Weiblichkeit nicht weich und weiblich oder weibisch genug schildern, und nimmt es auch so, als ob es so sein müßte und gar nicht anders gebildet und gestaltet werden könnte: ebenso übertrieben, rauh und roh schildert und nimmt man auf der andern Seite die Männlichkeit. 45

Mit dem häufig in der Forschungsliteratur zitierten Satz » N u r selbständige Weiblichkeit, nur sanfte Männlichkeit, ist gut und schön« kehrt Schlegel die von Rousseau, C a m p e und Brandes vorgenommenen Zuweisungen von der Frau als abhängig und sanft und dem Mann als selbständig und >unsanft< (hart, rauh, roh, harsch, aufbrausend) um und bringt das sonst als gegensätzlich Definierte zusammen. In der Forschung wird Schlegels Position daher zu Recht den übrigen Auffassungen gegenübergestellt wobei allerdings die (von Schlegel mit einem Fragezeichen versehene) Zuordnung von Innigkeit und Umfang, Zartheit und Bestimmtheit auch hier den gleitenden Ubergang, das Verbindende markiert. Damit ist das Koordinatensystem herausgearbeitet, vor dessen Hintergrund Therese Hubers Aussagen zum Männer-, Frauen- und Selbstbild zu beurteilen sind. Bestimmte Charaktermerkmale (Festigkeit, Stärke, Mut, Entschlossenheit, Ernst, Härte, Rohheit) sind im Geschlechterdiskurs, wenn man Schlegels Position ausklammert, als >männlich< definiert, andere (Sanftheit, Milde, Nachgiebigkeit, Weichheit, Wankelmut, Schwäche, Freundlichkeit, Heiterkeit) als >weiblichleichter Sinn< in der Argumentation auftaucht. Relative und absolute Begrifflichkeiten sorgen für zusätzliche Komplikationen: So wählt Ehrenberg absolute, eindeutige Begriffe zur Beschreibung von Mann und Frau, während Brandes recht konsequent mit dem Komparativ arbeitet und seiner These treu bleibt, daß der »Unterschied in den moralischen und geistigen Anla+i

Schlegel: Uber die Diotima, S. 92. r

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gen der beyden Geschlechter [...] ein Unterschied des Grades, des Mehr und Minder«46 sei, so daß auch bei Männern z.B. Sanftheit und bei Frauen eine gewisse Stärke des Kopfes vorhanden sei.47 Aufgrund der genannten Widersprüche48 und wechselnden Argumentationen ist es problematisch, das Männer- beziehungsweise Frauenbild aus dem Diskurs herauszuarbeiten. Bemerkte Therese Huber diese Widersprüche oder übernahm sie sie unkritisch? Welche Position im Diskurs über >Männlichkeit< und >Weiblichkeit< nahm sie ein?

6.2. Ludwig Ferdinand Huber. Synthese von >Männlichkeit< und >Sanftheit< Die Herrschaftsmethode der »Überlegnen Güte und Klugheit«,49 die Huber Herder empfahl und die eigentlich einer Nicht-Herrschaft gleichkommt, setzt ein anderes Männerideal voraus als das von Rousseau, Campe, Brandes und Pockels propagierte. Hubers ideales Männerbild wird durch eine literarische Figur verkörpert, durch den Titelhelden von Samuel Richardsons 1753/54 erschienenen Roman The History of Sir Charles Grandisom Karl Grandison, das ist der mildeste, menschlichste, männlichste Charakter, den ich kenne, und die Männer, die ich ehrte, waren solche, welche theilweise ihm glichen. Er hebt in romantischen Verhältnissen, aufopfernd, hier und da bethört, aber nie geschwätzig, nie aus der Liebe sein Geschäft machend; Liebesglück zur Bedingung seiner Lebensvollendung machend, aber nie zur Bedingung semes Wirkens, seiner Pflichterfüllung, seines bürgerlichen und moralischen Werthes. Ich kenne keinen Moment in Grandison's Leben, zu welchem nicht jeder an Leib und Seele gesunde Mann reichen konnte, jeder in seinen Verhältnissen. Alles, was ich sonst an Männern und Romanen kenne, sind skizzirte Individualitäten und unmännliche Phantasten. [...] In Grandison liegt die große Wahrheit, daß er als Liebender hauptsächlich in seiner Familie erscheint, und gegen seine Geliebte stets als Helfendender, Hülfreicher auftritt. Derselbe Mann hätte nach der Weise seiner Väter um eine Miß freien, und mit ihr ohne alle romanhafte Hindernisse leben und sterben können, ohne daß er um ein Haar weniger Werth vor meinen Augen haben würde, denn nicht seine Liebespein, seine Selbstherrschaft macht ihn zum Helden.' 0

46 47 +s

49 50

Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 26. Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 33. vgl. Claudia Honegger, Bettina Heintz: Zum Strukturwandel weiblicher Widerstandsformen im 19. Jahrhundert, S. 39. Therese Huber an Emil von Herder, 27. Mai 1 8 1 3 ( B T H , Bd. 5, N r . 155). Therese Huber an Fanny Tarnow, 3.Dezember 1820 (Ferdinand G . K ü h n e : 136

Dem aufbrausenden Mann bei Campe steht bei Huber ein milder, selbstbeherrschter, d.h. trotz starker Gefühle (»Liebespein«) sich kontrollierender Mann mit sozialen Qualitäten gegenüber. Seine Rolle ist nicht die eines Herrschenden, wie bei Campe, sondern eines Helfenden. Huber wird später in einem im Morgenblatt publizierten Aufsatz ihr an Grandison orientiertes Männerbild in vier Begriffen zusammenfassen: »Die Eigenschaften, mit denen ich den Mann bezeichnen würde, sind Milde und Kraft, Geist und Selbstbeherrschung.«'1 Besonders mit ihrer Bezugnahme auf Grandison forderte Huber die Vertreter des Campeschen Männerbildes heraus. Campe selbst und auch Brandes haben sich nämlich im Rahmen ihrer Beiträge zur Diskussion über die Geschlechtscharaktere zu dieser Romanfigur geäußert. Ihre Kritik trifft jene Frauen, die das Ideal Grandison »in die wirkliche Welt« übertragen wollen' 2 und »beim Erwachen aus dem süßen Traume der ersten Liebe« erschreckt feststellen müssen, nicht die Ehefrau eines »Halbgottes ä la Grandison« zu sein, sondern »sich nur mit einem gewöhnlichen Sterblichen verbunden zu sehen«.'-1 Campe legt dar, daß aus solcher Enttäuschung im folgenden eine unglückliche Ehe entstehe. Huber widerspricht dieser Argumentation, indem sie Grandison nicht als unerreichbares Ideal beschreibt, sondern als so realitätsnah, daß »jeder an Leib und Seele gesunde Mann« nach diesem Vorbild leben könne, ja daß die von ihr verehrten Männer wenigstens »theilweise« ihm entsprochen hätten. Damit trifft Huber das einzige Argument, das Campe und Brandes gegen Grandison als Vorbild für >Männlichkeit< anführen. Denn obwohl insbesondere Campe ein anderes Männerbild vertrat, nach dem nur der aufbrausende Mann >männlich< ist, äußerte er sonst keine Einwände gegen den milden, selbstbeherrschten Grandison. Warum? Diese literarische Figur steht für Tugendhaftigkeit und war als solche im 18. Jahrhundert allgemein anerkannt und verehrt. An diesem Punkt mußte daher der Diskurs über die Geschlechtscharaktere zurückstehen gegenüber dem Diskurs über Humanität und Moral im Allgemeinen. So ergibt sich diese Leerstelle in der Argumentation von Campe und Brandes bei der Verteidigung ihres Männerbildes. Und trotzdem ließ sich das

51

52 53

Weibliche Charaktere. 3. Therese Huber. In: Zeitung für die elegante Welt, N r . 195 (3.10.1835), S. 779; B T H , Bd. 7). [Therese Huber:] Kann eine Romandichterin Männer schildern, und ist ein Mann zum Romanhelden zu brauchen? In: Morgenblatt für gebildete Stände, N r . 169 (15.7.1828), S.674; auch in: Hahn: Die reinste Freiheitshebe, die reinste Männerliebe, S. 2 1 3 - 2 1 6 . Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, 296t. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 59. r

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Männerbild »ä la Grandison« nicht durchsetzen. Selbst Huber, die es so vehement vertrat und für realisierbar hielt, empfahl es Emil von Herder nur mit Zurückhaltung (»Deswegen will ich keinen Sethos aus euch machen, noch Grandison - die doch beide sehr zu beherzigen sind« 54 ) und das erst, nachdem sie ihm, dem Mann, zustimmend versichert hatte: »Ihr seit freyer« als die Frauen." Denn vor allem um den Erhalt der Freiheit des Mannes ging es Campe und Brandes bei der Diskussion um die Geschlechtscharaktere, während der Frau die Aufgabe zukam, sich gemäß eines bestimmten Weiblichkeitsideals umzuerziehen. Die Kritik von Campe und Brandes an den Grandison-Anhängerinnen unter den Frauen wegen ihrer zu großen Erwartungshaltung zeigte damit offenbar selbst bei Huber Wirkung. Während Hubers Männerbild einerseits über Richardsons Grandison in literarhistorischer Hinsicht in der Epoche der Empfindsamkeit verwurzelt war, verknüpfte Huber es andererseits auch mit der Frühromantik. So findet sich eine explizite Parteinahme zu Gunsten der von Friedrich Schlegel vertretenen Position in einem unter L. F. Hubers Namen veröffentlichten Aufsatz Kritisches

Gespräch.

Dort heißt es, »die ideali-

sche, wahrhaft kunstmäßige Nüancirung des Unterschiedes zwischen beyden Geschlechtern bestehe darin, den männlichen Charakter mit Sanftheit, den weiblichen mit Selbständigkeit zu vermischen«, was als »die glüklich ausgedrükte Formel eines unsrer neueren Schriftsteller«, namentlich eben Friedrich Schlegel, gepriesen wird.' 6 Zu dieser Stellungnahme paßt Therese Hubers schon oben im Zusammenhang mit ihrer Darstellung von männlicher Herrschaft und Autorität zitierte Selbstbeschreibung als selbständiges, »unbändig unabhängiges W e s e n « u n d auch ihre Charakterisierung ihres zweiten Ehemannes mit den Stichworten »sanfter 54 5i s6

s7

Therese Huber an Emil von Herder, 20. April 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 202). Therese Huber an Emil von Herder, 20. April 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 202). Ludwig Ferdinand [und/oder Therese] Huben Kritisches Gespräch. In: Erzählungen von L. F. Huber. Zweite Sammlung. Braunschweig 1802 (= Therese H u ber: Erzählungen 1801—1802. Hg. von Magdalene Heuser. Mit einem Nachwort von Sylvia Cordie. Bd. 2. Hildesheim, Zürich, N e w Y o r k 1999), S. 41 of. O b L. F. Huber diesen Text selbst verfaßte oder ob er m Wirklichkeit von seiner Frau geschrieben wurde, ist nicht feststellbar - in die von Therese Huber persönlich angefertigte Liste der von ihr stammenden gedruckten Aufsätze ist der Titel jedenfalls nicht aufgenommen worden (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 4). Doch bei der engen intellektuellen Verbundenheit der beiden Eheleute (Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 4. und 5. Juli 1805 ( B T H , Bd. 2, N r . 122)) dürfte sich in diesem Text auch Therese Hubers Standpunkt wiederfinden. Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 24. Februar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 178). 138

männlicher Sinn« und »männlicher Sanftheit« in ihrer 1806 publizierten Biographie des 1804 verstorbenen L. F. Huber.' 8 Mit diesen Schlagworten Schloß sie sich Schlegel an und verortete sich und ihren Mann im Diskurs über die Geschlechtscharaktere im frühromantischen Lager. Wie schon erwähnt, war Therese Huber keine Anhängerin der Romantik und ebensowenig war es L. F. Huber, aber Schlegels Diotima-huhaiz

und seiner

Idee von der »sanften Männlichkeit mußten sie aufgrund der biographischen Gegebenheiten gegenüber den Theorien der Geschlechterpolarität den Vorzug geben. Die Charakteristik, die Therese Huber von L. F. Huber in der genannten Biographie entwirft, steht zum Teil in krassem Gegensatz zu den Männerbildern bei Rousseau, Campe, Brandes und Pokkels. Wiederholt ist von der »kindlichen Freudigkeit« L. F. Hubers die Rede, von »kindlicher Heiterkeit« und der »Heiterkeit eines Kindes«, 59 obwohl das heitere, fröhliche Naturell in die weibliche Sphäre nach Campe und Ehrenberg (s.o.) gehören soll; auch »sein leichtes Blut«, 6 ° nach Campe eine weibliche Eigenschaft, wird erwähnt. Erst später, gegen Ende seines Lebens, soll L. F. Huber den nach Campe >männlichen< Ernst erworben haben. 61 Außerdem ist L. F. Hubers Wesen durch »Weichheit« 62 gekennzeichnet - eine im Diskurs, z.B. bei Brandes, 63 vor allem dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene Eigenschaft, was wiederum von Schlegel scharf kritisiert wurde. An Stelle der bei Rousseau dem Mann zugeordneten Aktivität verfügte L. F. Huber über eine »angeborene Passivität«,64 einer sonst der Frau zugesprochenen Eigenschaft. 6 ' Statt »kühnern Unternehmungsgeist« 66 und Entschlossenheit 67 zu haben, beides von Campe als typisch männlich benannt, fiel L. F. Huber zunächst durch ein 58

" 60

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[Therese Huben] L . F . H u b e r ' s Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie. Bd. 1. Tübingen 1806, S. 183 und 199. Therese Huber: L . F . H u b e r ' s Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie, Bd. 1, S. 108 und 183. Therese Huber: L . F . H u b e r ' s Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie, Bd. 1, S. 27. Therese Huber: L . F . H u b e r ' s Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie, Bd. 1, S. 174. Therese Huber: L . F . H u b e r ' s Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie, Bd. 1, S. 199. Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 1, S. 1 1 6 . Therese Huber: L . F . H u b e r ' s Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie, Bd. 1, S. 47. Rousseau: Emil, S. 386; Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S.43: Die Natur habe »den Mann mehr zu einem a c t i v e n und das Weib mehr zu einem p a s s i v e n Leben« bestimmt. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 19. Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, T. 3, S. 205. r

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»untätiges schwankendes Sehnen nach einer Bestimmung seiner Kräfte« 68 auf. Das Schwanken, sowohl in emotionaler als auch intellektueller Hinsicht, als weibliches Charaktermerkmal wurde oben erläutert. Festigkeit des Charakters und Tätigkeit statt Passivität erlangte der 24jährige L. F. Huber erst unter dem Einfluß von Georg Forster und dessen Frau Therese Forster(-Huber) - so jedenfalls stellt es letztere dar: In dieser Gesellschaft fand er nun, was er bedurfte, um seinem Charakter Festigkeit zu geben: strenge Rüge kleinlicher Gewohnheiten, gesellschaftlicher Nachläßigkeit, Aufforderung zur Thätigkeit, vielseitige Ansicht des Menschen und der Dinge, und in Forstern den Schatz der gediegenen Kenntnisse [...].'''

Man könnte sagen, daß - unter Zugrundelegung der Männlichkeitsdefinitionen von Campe und Brandes - L. F. Huber durch seine spätere Frau Therese und deren ersten Ehemann ein Stück weit zur >Männlichkeit< erzogen wurde. Therese Huber wirkte allerdings nicht im Campeschen oder Brandes'schen Sinn auf ihren zweiten Ehemann ein, nämlich >weiblich< besänftigend (Brandes: »unser Herz - das bedarf i h r e r . Sie müssen unserm hochfliegenden wilden Geiste Liebe, Sanftheit einhauchen.«?0), sondern ihr »beissender Spott über seine Unthätigkeit« 71 trieb ihn an. Liest man weiter, wird auch klar, daß Huber die Idee der Komplementarität in einer ehelichen Beziehung, wie sie bei Campe zu finden ist, teilte und positiv bewertete, aber eben nach den Gegebenheiten in ihrer zweiten Ehe modifizierte zu einer im Vergleich zum Modell der Geschlechterpolarität fast spiegelverkehrten Anordnung der Charaktermerkmale. In der L. F. Huber-Biographie heißt es z.B.: Seine Freundinn [= Therese Huber, PW] forderte durch ihren ganz verschiedenen Charakter alle die schönen Fähigkeiten seiner Seele auf. Vielleicht hatte sie mehr Entschlossenheit, aber an semer kindlichen Freudigkeit, an dem, was ihm in ihren Augen immer das Gepräg eines »Lieblings der Götter« gab, fehlte es ihr ganz/ 2

In einigen Briefen aus der Zeit nach L. F. Hubers Tod führt Therese Huber den Gedanken weiter aus:

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Therese Huber: L. F. Huber's Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 Biographie, Bd. 1, S. 51. Therese Huber: L. F. Huber's Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 Biographie, Bd. 1, S. 51. Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 3, S. 277. Therese Huber: L. F. Huber's Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 Biographie, Bd. 1, S. 52. Therese Huber: L. F. Huber's Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 Biographie, Bd. 1, S. 108.

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nebst seiner nebst seiner

nebst seiner nebst seiner

Ich war immer thätig und festen Sinnes, ja gegen die Engelmilde von Hubers ganz idealischen Karakter erschien ich oft starr. Für unser beider Glück lag in diesem Kontrast das Mittel der Vervollkommnung, die ewige Erneurung unsers Bundes. 73 Er war sanft, oft leichtherzig, zuweilen sorgloß, so bald ihn die Nothwendigkeit rief, stark wie ein Held. Er war der gütigste der Menschen. Ich bin ernst, weich wie ein unglückliches Weib, und starr wie eisen ist mein Sinn, mein Mut ist voll Stolz, von tausendfachen Leiden verwundet ist mein Herz oft der Freude unempfänglich. N u r Liebe für ihn blieb allgegenwärtig mein herrschend Gefühl. Er // trug mich mit unaussprechlicher Duldung, ich war s e i n F r e u n d , ich theilte seine Mühen, ich hatte den Mut meines eisernen Gemüts wenn er einen Augenblick sein weiches Herz hörte. So waren wir unaussprechlich vereint. 74

Therese Huber schildert sich, wenn man die Zuschreibungen von Campe, Brandes, Rousseau und anderen zugrundelegt, als diejenige, die in dieser Ehe den >männlichen< Part übernommen hat. Vor allem das im Diskurs zu den Geschlechtscharakteren häufig und von verschiedenen Autoren zur Beschreibung von >Männlichkeit< herangezogene Adjektiv >fest< und verwandte Begriffe wie »starr« und >eisern< bezieht sie in der direkten Gegenüberstellung von ihrem und L. F. Hubers Wesen ausschließlich auf sich selbst, während L. F. Huber als sanft, weich, engelmild dargestellt wird. Die Zugehörigkeit von >sanftweich< und >mild< zum Bereich des >Weiblichen< wurde oben schon erläutert. Die bei Campe aufgestellte Opposition ernst = männlich, glücklicher Leichtsinn = weiblich findet sich in Hubers Darstellung in umgekehrter Zuordnung (ernst = Therese Huber, »leichtherzig« = L. F. Huber) ebenso wieder. Die weiter oben schon gegebene Beschreibung L. F. Hubers als unentschlossen und untätig findet in Therese Hubers Selbstbeschreibung als entschlossen und »thätig« ihr Pendant. Den von Campe dem Mann zugesprochenen »großem Muth« behauptet Therese Huber zwar nicht direkt für sich, aber vor dem Hintergrund der von ihr als Kontrast intendierten Gegenüberstellung ihres Charakters mit dem Hubers ist die zweifache Nennung von >Mut< als zu ihr gehörig auffällig, während es bei L. F. Huber keine Entsprechung gibt. Umgekehrt werden >Güte< und »Duldung«, beide zum weiblichen Bereich gehörend, wie u.a. aus der Auflistung von Ehrenberg und aus Brandes' Texten (s.o.) hervorgeht, nur zur Charakterisierung L. F. Hubers verwandt. Insbesondere wenn man die sehr knappe Aufzählung Ehrenbergs vergleichend heranzieht, tritt die Umkehrung der Zu73 74

Therese Huber an Elisabeth Stägemann, 7. August 1805 ( B T H , Bd. 2, N r . 133). Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 15. Januar 1805 ( B T H , Bd. 2, N r . 82). 141

Schreibungen deutlich hervor: Von den sieben dort zur Charakterisierung von >Männlichkeit< genannten Begriffen führt Therese Huber zur Beschreibung ihrer selbst fünf auf, und immerhin drei der acht von Ehrenberg zur Definition von >Weiblichkeit herangezogenen Charakteristika erfüllt L. F. Huber nach den zitierten Aussagen seiner Ehefrau über ihn. Campe gesteht ein, daß Ehen, in denen die Geschlechtscharaktere spiegelbildlich zu der von ihm beschriebenen Anordnung verteilt sind, gut funktionieren, denn eine bei gleichen Eigenschaften der Eheleute mögliche Kollision der Charaktere wird vermieden, weil einer immer der nachgebende Teil in der Verbindung ist und die Herrschaftsverhältnisse damit störungsfrei geregelt sind. Akzeptieren kann er eine solche Beziehung trotzdem nicht: Ohne diese Haupttugenden des Weibes [...] kann ich mir eine glückliche und zufriedene Ehe nur in dem einzigen Falle denken, wenn durch einen Mißgriff der N a t u r oder vielmehr durch eine verkehrte Erziehung das Weib den K o p f und das H e r z des Mannes, der M a n n die Eigenheiten des Weibes bekommen hat. 7 s

Huber teilte diese Diffamierung ihrer Ehe als »Mißgriff der Natur« nicht, oder zumindest problematisierte sie die Umkehrung der Geschlechtscharaktere in ihrer Ehe nicht. Im Gegenteil: Sie bewertete eine Wiederkehr des von ihr gelebten Ehemodells in der Beziehung zwischen ihrer Tochter Luise und Emil von Herder als positiv. Luise Huber verfüge über une grande energie mais aussi de la roideur et d e s a n g l e s que la maturite de l'age seul peut emousse. Etant propablement destine' a etre assorte' avec Emile, ces traits de Caracte're lui seront tre's utile, car Emile a plus d'exaltation que d'energie et une ame tellement aimante qu'elle eblouit sa raison qui est tres superieure, tres exercee et penetrante, mais sa LlEBENSSUCHT la seduit et la met hors d'activite. Louise aura la superiorite' du Caractere et lui celle de la raison et de la bonte, cela ira bien. telle etoit l'amalgame entre papa H u b e r et moi, et cela alloit bien/6

Huber ordnet ihrer Tochter Energie und eine charakterliche Überlegenheit zu, die wahrscheinlich in Entschlossenheit und Tätigkeit besteht und komplementär zur Passivität und Gefühlsbetontheit Herders ist. Luise Huber, nicht ihr Ehemann, ist der Charakter mit den Ecken und Kanten, die sich erst abschleifen müssen. Sie entspricht damit nicht Campes Bild von der anschmiegsamen, an den Mann und seine Bedürfnisse angepaßten Frau. Zusammenfassend kann man also sagen: Therese Huber beteiligte sich an der Diskussion über das Männerbild und bezog gegen Campe und 7i 76

Campe: Väterlicher Rath f ü r meine Tochter, S. 176t. Therese H u b e r an Therese Forster, 18. und 19. Februar 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 14). 142

Brandes Stellung zu Gunsten des milden Grandison und Schlegels Formel, die Sanftheit und Männlichkeit zusammenführt. Dieses Männerbild paßt gut zu Hubers Vorstellung von >männlicher< (Nicht-)Herrschaft und ihren Erfahrungen in ihrer zweiten Ehe. Die Tatsache, daß die beiden Ehepartner charakterlich nicht den Vorstellungen von Campe und Brandes entsprachen, ist allerdings meines Erachtens weniger überraschend, als die Art und Weise, wie Huber mit der von ihr beschriebenen Verteilung von Charaktereigenschaften in dieser Ehe umging. Es scheint völlig unproblematisch für sie gewesen zu sein, in ihren Briefen und sogar in der von ihr veröffentlichten Biographie ihres Mannes die von Campe so kritisierte Umkehrung in der Verteilung der Charaktereigenschaften zu beschreiben. Ist dies ein Hinweis darauf, daß die von Campe und Brandes vertretene Position im Diskurs über die Geschlechtscharaktere gar nicht von historischer Relevanz war? Ann-Charlott Trepp kommt nach der Auswertung verschiedener autobiographischer Quellen zu dem Schluß, daß entgegen dem zeitgenössischen Diskurs »gerade um 1800 [...] Friedrich Schlegels Utopie von >sanfter Männlichkeit ein Stück weit Wirklichkeit« war, 77 mithin die Durchschlagskraft der im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts neu aufkommenden Idee von der Polarität der Geschlechtscharaktere nicht so hoch anzusetzen ist, wie dies bisher in der Forschung seit Karin Hausens Aufsatz zu diesem Thema angenommen wurde/ 8 Demnach hätte Therese Huber mit ihrer Darstellung L. F. Hubers als >sanften Mann< zwar die Kritik von Campe herausgefordert, aber nicht die der Gesellschaft schlechthin. Es gibt aber durchaus Anzeichen dafür, daß Huber z.B. die Verknüpfung von >Männlichkeit< und Sanftheit nicht als selbstverständlich voraussetzte. Anders als die literarische Figur Grandison stieß das Konzept vom >sanften Mann< bei den Vertretern des Modells der Polarität der Geschlechtscharaktere auf offene inhaltliche Kritik, auf die Huber ihrerseits reagierte. Brandes urteilte über den »sanften MannGeschlechtscharaktere< offensichtlich für bestimmte und wahrscheinlich im Laufe des 19. Jahrhunderts größer werdende Gruppen des Bürgertums von beträchtlichem Realitätsgehalt und vermutlich zunehmender Realitätsrelevanz« gewesen sei (Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«, S. 390). r

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Schon der größte Lobspruch, den man in der großen Welt Jemandem in französischer Sprache ertheilt, der, daß er ein so sanfter Mann sey, zeigt allein das Ideal von Vollkommenheit, das man darin vergöttert. Diese äußere Sanftheit, die so selten das Gewand ist, in welchem sich der zum Befehlen geschaffene Mann einhüllen mag und einhüllen kann, ob sie sich gleich sehr gut mit einem kiemlichen Eigensinn verträgt, wird entweder nicht eine Bestimmtheit der Meynungen, eine Entschiedenheit des Charakters, einen festen starken Entschluß in der Seele aufkommen lassen, oder, wenn dieses auch höchst selten dennoch geschehen sollte, verhindern, daß Verstand und Charakter sich in energischen Aeußerungen zeigen, die oft allein andere schwache Menschen, sey es auch nur aus Furcht, mit sich fortreissen. Nie hörte man weniger, als in unsern Zeiten, von einer großen Verschiedenheit der Meynungen reden, die m den wichtigsten Berathschlagungen über die größten Gegenstände herrschten; nie weniger von einer großen an Heftigkeit gränzenden Lebhaftigkeit, mit welcher verschiedene Meynungen vertheidigt wären. Wir Männer sind so artig, so sanft geworden, daß wir uns fast über nichts als über Miseren zanken; denn von zehn Streitigkeiten, die etwa vorfallen, betreffen neune sicher erbärmliche Kleinigkeiten, über welche die Vernünftigsten nicht streiten, sondern nachgeben sollten. Aber unsre weibliche Artigkeit hat uns eine weibliche Reizbarkeit gegeben, die sich bey den geringsten Veranlassungen beleidigt fühlt, bey den größten jedoch schweigt und sich m sich selbst zurückzieht. 79 D e r hier s k i z z i e r t e >sanfte Mann< w i l l H a r m o n i e u n d ist d a h e r e n t s c h l u ß u n d k o n f l i k t u n f ä h i g . D i e s e mit d e m M e r k m a l >sanft< v e r b u n d e n e n C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t e n deutet B r a n d e s als A u s d r u c k v o n S c h w ä c h e ( » a n d e r e s c h w a c h e M e n s c h e n « ) , u n d w e n n m a n z . B . in C a m p e s Wörterbuch Deutschen

Sprache

der

u n t e r >sanft< n a c h s c h l ä g t , f i n d e t m a n d o r t eine diese

D e u t u n g s t ü t z e n d e D e f i n i t i o n : » s c h w a c h u n d a n g e n e h m ; in G e g e n s a t z v o n in h o h e m G r a d e l e b h a f t , h e f t i g « ; a b e r a u c h eine andere: » w e g e n [ . . . ] A b w e s e n h e i t alles R a u h e n , H a r t e n etc. einen a n g e n e h m e n E i n d r u c k auf das G e f ü h l m a c h e n d . « 8 " T h e r e s e H u b e r hätte sich w o h l eher d e r z w e i t e n D e f i n i t i o n a n g e s c h l o s s e n , b e s c h r e i b t sie d o c h d e n >sanften< L . F . H u b e r a u s d r ü c k l i c h als » s t a r k w i e ein H e l d « . 8 1 D i e A s s o z i a t i o n s a n f t = s c h w a c h w a r i h r a b e r d e n n o c h g e g e n w ä r t i g u n d sie setzte sie a u c h b e i m A d r e s s a t e n ihres B r i e f e s als p r ä s e n t v o r a u s , w e n n sie b e z o g e n auf E m i l v o n H e r d e r schrieb: » W o h l ist es ein s a n f t e r C h a r a k t e r - a b e r d u r c h L i e b e s a n f t , nicht durch Schwäche.«82

79 So 81

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Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 2, S. 30-32. Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, T. 4, S. 32. Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 15. Januar 1805 ( B T H , Bd. 2, N r . 82). Therese Huber an Carl August Böttiger, 25. September 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 109). 144

Als schwach entpuppen sich nach Hubers Auffassung gerade nicht die durch Sanftheit gekennzeichneten Männer, sondern im Gegenteil diejenigen, die autoritär auftreten. Uber die Männer, die eine Ehe wie die Herders billigen, in der die Einhaltung der hierarchischen Ordnung über allem anderen steht und demonstrativ, d.h. hart, also >unsanftsanften< Emil von Herder, der »mir wiederspricht, und mich belehrt wo ich irre oder Unrecht habe«, was außerdem als Ausdruck von Herders »männlichen Sinn« 84 bezeichnet wird. Autorität, Stärke, Sanftheit und Männlichkeit gehören für Huber zusammen. Anders Brandes: Die zweite Verbindung, die er analog zu den meisten Vertretern des Konzepts von der Geschlechterpolarität herstellt, ist die zwischen >sanft< und >weiblichsanften Mann< von »so artig, so sanft« zu »weibliche Artigkeit« übergeht. Der >sanfte Mann< ist bei Brandes ein Mann, der in der Gefahr ist zu verweiblichen, wenn er nicht schon ein verweiblichter, also unmännlicher Mann ist. Dazu ein Beispiel aus Therese Hubers L. F. Huber-Biographie: Gemäß ihrem Vorsatz, ein wahres Charakterbild ihres verstorbenen Mannes vorzulegen, wie sie im Vorwort der Biographie schreibt, 8 ' berichtet sie über Hubers extreme Höhenangst: »Er konnte nicht ohne die größte Angst auf ein Fußbänkchen steigen; eine Leiter zu erklimmen, war für ihn eine Unmöglichkeit, und einen nur etwas steilen Abhang herunterzugehen, versetzte ihn in den bedaurungswürdigsten Zustand.« 86 Vor dem Hintergrund des Campeschen Männerbildes - »furchtsam« sind laut Campe die Frauen, die Männer verfügen über den »größern Muth« fordert eine solche Beschreibung dazu heraus, hier von einem unmännli-

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Therese Huber an Therese Forster, 15. September 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 6). Therese Huber an Christian Gottlob Heyne, 17. April 1807 ( B T H , Bd. 2, N r . 321). Therese Huber: L . F . Huber's Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie, Bd. 1, S. 1. Therese Huber: L . F . Huber's Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie, Bd. 1, S. 19. r45

chen Verhalten zu sprechen, besonders weil L. F. Huber sich mit seiner Höhenangst abgefunden habe. Dieses »Sich mit dem bescheiden, was er vermochte« interpretiert Therese Huber hingegen ausdrücklich als »ein männliches« Verhalten. 87 Campes Männerbild war also nicht so übermächtig, daß Therese Huber auf die Darstellung dieses nach Campe Hinmännlichem Charakterzuges ihres Mannes verzichtete. Auf der anderen Seite konnte sie das Campesche Männerbild, in dem Angst und Männlichkeit einander ausschließen, offenbar nicht einfach ignorieren. Ein Hinweis auf den >männlichen< Charakter L. F. Hubers scheint ihr an dieser Stelle wichtig gewesen zu sein, um etwaiger Kritik im voraus zu begegnen. Dabei füllte Huber den Begriff >Männlichkeit< mit zusätzlichem Inhalt. Sie leistete mit der Erweiterung der Definition einen eigenen Beitrag zum Diskurs und fand damit ihren Weg, mit den sonst diskutierten Vorstellungen von >Männlichkeit< und der von ihr erlebten Realität umzugehen, d.h. den von außen erhobenen Anspruch und die ihm nicht entsprechende Wirklichkeit miteinander zu vereinbaren, so gut es ging. Es sind diese beiden Begriffe, Schwäche und Unmännlichkeit, über die der Diskurs Therese Hubers Denken formte. Heftigkeit, aufbrausendes Verhalten beim Mann zur Durchsetzung seines Willens lehnte sie ab und bezog so einen anderen Standpunkt beziehungsweise hatte ein anderes Männerbild als etwa Campe. Nicht die Tatsache, daß Campe Sanftheit allein dem Weiblichen zuordnet, war für Huber ein Problem und auch nicht die im Hinblick auf das Modell der Polarität der Geschlechtscharaktere vorhandene Umkehrung in der Verteilung der Eigenschaften auf die beiden Eheleute Huber. Erst auf die zeitgenössische Kritik am sanften Mann, dessen Darstellung als schwach und unmännlich, reagierte sie. Es ging ihr um die Verteidigung des Konzeptes vom >sanften Mann< als einer starken, männlichen und Autorität ausstrahlenden Persönlichkeit. Obwohl also Trepp darin beizupflichten ist, daß die von Campe, Brandes, Pockels und Rousseau formulierten Männerbilder nicht den typischen bürgerlichen Mann um 1800 repräsentieren, sind sie zumindest auf der Diskussionsebene von großer Bedeutung gewesen. Man mußte sich offenbar mit ihnen auseinandersetzen, etwa indem man etwaige Gegenentwürfe wie den >sanften Mann< argumentativ rechtfertigte.

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Therese Huben L. F. Huber's Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst seiner Biographie, Bd. 1, S. 19.

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6.3· E m i l v o n H e r d e r . P r o b l e m e der E r z i e h u n g z u r >Männlichkeit< Wie erwähnt, bestand Huber darauf, daß Herder zwar sanft sei, dies aber nicht aus Schwäche, sondern aus Liebe. Nicht schwach, sondern »männlich sei er: »Ob er männlich ist? ganz, in Sitten und Gewohnheiten, ob er Mut hat? Er ficht, springt, reitet, ist guter Jäger, und glaubt Unsterblichkeit.«88 Eineinhalb Jahre später hieß es: »Diese achtzehn Monate Trennung haben diesen Geliebten Menschen zum Manne gemacht, er ist milder, bestimmter, umherschauent, ins Leben eingreifend.« 8 ' Auch hier zeigt sich wieder Hubers Auffassung, daß Mildheit entgegen der von Brandes geäußerten Kritik mit den Eigenschaften Entschlossenheit und Aktivität zusammenstimme und alles zusammen den idealen Mann ausmache. Angesichts der beiden zitierten Äußerungen - 1807 wird Herder als männlich bezeichnet, 1809 ist er dagegen erst in den 18 Monaten zuvor zum Mann gereift - fragt man sich allerdings, ob er wirklich in Hubers Augen diesem Ideal entsprach und damit als lebender Beweis für die Vereinbarkeit der genannten Eigenschaften gelten konnte. Als problematisch erwies sich in diesem Zusammenhang Herders Schwärmen. Als Schwärmer galt nach zeitgenössischer Auffassung eine Person, deren Charakter »in einem schädlichen Uebergewichte der Einbildungskraft, der Fantasie und des Empfindungsvermögens über Vernunft und Beurtheilungskraft besteht«, wie Campe ihn kurz und treffend definiert. 90 Entsprechend charakterisierte Huber Herder: »Emil ist ein Wesen in dem die Empfindung noch die Oberhand hat über die Vernunft«. 91 Campe stößt sich vor allem daran, daß der Schwärmer ein gestörtes Verhältnis zur Realität hat. Denn der Schwärmer nimmt diese nur selektiv wahr, »sieht an allen Gegenständen seiner Vorstellungen gemeiniglich nur eine Seite [...]. Auf diese heftet sich sein ganzer Selenblik; für alle andere Seiten eben desselben Gegenstandes hat er von Stund an weder

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Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 24. Juni 1808 ( B T H , Bd. 3). Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 14. Dezember 1809 ( B T H , Bd. 3). Campe: Theophron, S. 159; vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 1 3 7 - 1 4 3 ; Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher Goethezeit. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. D F G Symposium 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 469-498. Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 2. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 216).

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Auge noch Ohr.« D.h.: Er kann sich von seiner eingeschränkten, unvollständigen und daher irrigen Sichtweise nicht freimachen. Huber bemängelte entsprechend an Herder: »Du, geliebter Starrkopf, und Schwärmer, giebst Deine Irrthümer so schwer auf, daß nicht einmal harte Erfahrung Dir frommt.« 92 Man erinnere sich außerdem an den mehrfach Herder auch von anderer Seite gemachten Vorwurf, er neige zu fixen Ideen (s. Kap. 2.2). Des weiteren ist die Sprache des Schwärmers nach Campe die »eines Begeisterten, eben so dunkel, eben so verdreht«. 93 Dementsprechend trat Huber der »bilderreichen Schwärmerei Deines Briefstyls« 94 vorsichtig entgegen und kritisierte Herder, »weil Du Deine Empfindungen auf eine Art ausdrückst die sich zu der Wirklichkeit, und Wirksamkeit im Leben nicht paßen«. 9 ' Huber äußert sich hier in erster Linie als eine Vertreterin der Aufklärung: Mit seiner überschäumenden Einbildung und Emotionalität war der Schwärmer das »Hauptziel aufklärerischer Polemik«, die auf dem Ideal der Ausgeglichenheit aller inneren Kräfte und Fähigkeiten des Menschen basierte.' 6 Darüber hinaus paßt der Schwärmer auch nicht zu Hubers Männerbild. Huber begründete beispielsweise den Plan, ihren kleinen Sohn Aime in ein Erziehungsinstitut zu geben, indem sie einen Zusammenhang herstellte zwischen Weiblichkeit und Schwärmen: sein Gemüt ist so weich und zart und Innig - daß es Zeit wird ihn unter Knaben und Männer zu thun, damit er nicht schwärmend und weibisch wird.' 7 mein Unterricht bei dem Gefühl und Fantasie schon meines Geschlechts wegen, obwaltet muß ihn zu einem Schwärmer, und zu einem oberflächlichen Schwärmer machen [.. .].' 8 Er wär ein Schwärmer bei mir geworden, oder ein Weib - ein poetischer Schwärmer - und unsre Zeiten brauchen Männer. 99

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Therese Huber an Emil von Herder, 27. und 28. Dezember 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 298). Campe: Theophron, S. 160. Therese Huber an Emil von Herder, 8. Oktober 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 263). Therese Huber an Emil von Herder, 8. Oktober 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 263). Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1969, S. 5 3 -

55· Therese Huber an Ludovike Simanowiz, 14. Februar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 176). Therese Huber an Christian Gottlob Heyne, 13. März 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 181). Therese Huber an Elisabeth von Struve, 28. Dezember 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 276). 148

Diese Aussagen Hubers über Schwärmen und Weiblichkeit werden durch den Diskurs über die Geschlechtscharaktere gestützt. Auch hier wird das Schwärmen eher den Frauen als den Männern zugeordnet. So meint Pokkels: »Die weibliche Phantasie schwärmt überhaupt gern«. 100 Und er glaubt außerdem, daß Schwärmerei in der Freundschaft häufiger bei Frauen anzutreffen sei, weil ihre Gefühle weicher, reizbarer seien und leichter in Extreme übergingen als die der Männer. 101 Wie Huber befürchtet Pockels für seine Geschlechtsgenossen die Gefahr der Verweiblichung durch das Schwärmen, denn jene, die sich »romanhafter Liebe und Schwärmerey« hingeben, »empfindein da, wo wir urtheilen sollten [...]. Aus Gefälligkeit gegen die Weiber werden wir Weiber«. 102 Zu der natürlichen Zartheit und Schwäche des weiblichen Herzens komme laut Pockels noch eine verzärtelnde Erziehung, die eine derartige Verfeinerung der Empfindungsfähigkeit der Frauen zur Folge habe, daß bei ihnen »ihr Hinausschweifen über die Grenze der Wirklichkeit nicht mehr ausbleiben« könne. 103 »Sie bauen sich nun eine ganz eigene Welt«, verlieren den Bezug zur Realität, und somit ist es hinsichtlich der Frau eine auf die Natur der weiblichen Seele gegründete Bemerkung, dass sie sich mit einer unbeschreiblichen Leichtigkeit, und mit einer grössern Zuversicht, als wir Männer m uns wahrnehmen, gewisse I d e a l e v o n V o l l k o m m e n h e i t entwirft, und sich solche als etwas Wirkliches und Bleibendes zu vergegenwärtigen sucht [...]. 1 0 4

Frauen seien also eher als Männer vom Realitätsverlust aufgrund zu großer Empfindungsfähigkeit bedroht, neigen angeblich eher zum Schwärmen. Obwohl Huber diese Ansicht zu teilen schien, wie ihre Äußerungen im Hinblick auf Aime zeigen, stellte sich ihr Verhalten hinsichtlich des Schwärmers Herder sehr viel weniger eindeutig dar. Zunächst versuchte Huber inkonsequenterweise, eine Verbindung zwischen Männlichkeit und Schwärmen herzustellen:

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Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S. 381. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 209. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 456. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S.4i4f. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, S. 415; Pockels deutet übrigens den von ihm festgestellten Hang der Frauen zur Flucht aus der Realität nicht nur als natürliche und durch Erziehung verstärkte Eigenschaft, sondern auch als Versuch, sich »gegen den Mangel« ihrer » w i r k l i c h e n F r e i h e i t schadlos zu halten« (S.417), also als Folge ihrer Situation im Patriarchat. 149

Lerne von Kindern, und was Kindern am nächsten ist, vom einfachen Weibe daß Liebe nicht im Schwärmen lebt. Ihr Männer mit euern grobem Sinnen, und grobem Lebensmitteln bedürft des Schwärmen um ein Gleichgewicht zu erhalten zwischen der Materie die euch feßelt und euern Geistigen Theil - wie man Wein verordnet damit ein geistiger Zusaz die Maschine reize das gröbere zu ihrem Besten zu benuzen. Des Kindes, des einfachen Menschen - des Braminenjüngers Magen findet in Obst, Kräutern und Milch den Geistigen Theil und eignet sich ihn an, und gedeyt. - So habt ihr allerlei Sontags Aufräumen nöthig zu euern Gefühl — ihr Männer. I05

Huber lehnte Herders Schwärmen ab, versuchte es aber in ihr Männerbild - soweit ich sehe: entgegen den Vorgaben durch den Diskurs - zu integrieren. Damit verfolgte sie hier eine ähnliche Strategie wie im Falle von L. F. Hubers Höhenangst, um ihr Ideal vom sanften, aber männlichen Mann aufrechtzuerhalten und vor dem Vorwurf der Unmännlichkeit zu schützen. Doch letztendlich kehrte sie zu ihrer früheren, diskurskonformen Uberzeugung zurück und schrieb Herder: »das ist nicht männlich sich so mit Gefühlen zu behelfen. [...] Ich verwerfe ja kein Schwärmen, aber der Verstand muß gleichen Schritt halten mit dem Gefühl.«

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Der Kampf

gegen Herders Schwärmen bedeutete auch, den Pflegesohn zur Männlichkeit* zu erziehen. Indem sie aber in ihrer Argumentation auf den Diskurs über die Geschlechtscharaktere zurückgriff, geriet sie selbst in eine angreifbare Position. Als Frau sollte Huber angeblich dem Schwärmen eher zugetan sein, so daß sie es aus diesem Grund ja auch ablehnte, ihren Sohn Aime zu erziehen. Indem sie gegenüber Herder den Part der Ermahnerin zur Vernunft übernahm und ihm »die vernünftigsten Dinge, Thatsachen, scharfe Schlüße, strenges kühles Vernunftwesen« 107 entgegenhielt, kam es faktisch zu einer Umkehrung in der Rollenverteilung. Sie zog sich von Herders Seite den Vorwurf der emotionalen Kälte zu, so daß sie ihm versichern mußte, die Grenzen >weiblichen< Verhaltens nicht verletzt zu haben: Folge meiner Bitte - mein Emil mäßige Deine Fantasie! ich bin ja nicht kalt Ο Emil ich bin ja Kindisch jung m dem Herbst meiner Tage. In Deinem kindlichen Busen ruhen ja Geheimmße die es beweißen die mich noch — beunruhigen - D u sahst ja mein ganzes Gemüt vor Dir, D u weißt ich bin nicht kalt aber die Gewohnheit Deines Gemüts über Deine Empfindung poetisch zu träumen, entnervt Deinen Geist. O f t betrübt mich Dein Schwärmen — ich sage Dir Gründe, rauh, hart, exaltirt, kalt - falsch - ja falsch Ansichten, und Gründe, gern gestehe ich es ja, gern ließ ich mich von Dir davon über zeugen. Aber D u antwortest - lieb, vorführend - schön, ja s c h ö n mein poetischer Emil - aber 105 106 107

Therese Huber an Emil von Herder, 28. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 230). Therese Huber an Emil von Herder, 23. April 1807 ( B T H , Bd. 2, N r . 325). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 24. November 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 264). 150

D u antwortest mir mit Bildern. Zürnst D u Emil? — Ο nein! sieh, wärst D u hier, ich kniete vor Dir und küßte Deine Hand, und D u würdest sehen daß nie in mir das furchtsame Weib verloren ging, so kühn ich die Welt die ich in Liebe umfaße zu beurtheilen wage. I o S

Die Diskussion zwischen den beiden Briefschreibern über das Schwärmen ist ein Beispiel dafür, daß Huber Herder nicht zu einem diskurskonformen >männlichen< Verhalten bewegen konnte, ohne selbst >unweiblich< zu erscheinen und unter Rechtfertigungszwang zu geraten. Aber nicht allein in der Betonung der eigenen Emotionalität bestand Hubers Reaktion. Sie sah sich selbst als einen Menschen, der heftigsten Gefühlen ausgesetzt war, aber es dennoch verstand, diese zu kontrollieren: Ich dachte oft ich sei weniger gut weil ich dieses Gefühl [= Jugendfreundscbaft, PW] nicht gehabt hatte. Und sieh - daß ich später denn gering von ihm dachte lag wohl in der verzehrenden Macht mit der ich L e i d e n s c h a f t e n empfand, und Leidenschaften beherrschte, in dem G e w a l t s a m e n meines ganzen Schicksals. 1 0 '

Dieses Selbstbild präsentierte sie häufig in ihren Briefen und es hinterließ einen bleibenden Eindruck bei den Menschen, die sie kannten. 110 Selbstbeherrschung, d.h. der heroische Kampf mit fast übermächtigen Gefühlen, die ein überlegener Verstand zügelt, machte Hubers >Stärke< aus, zu der sich die sie umgebenden Männer, darunter der seinen Gefühlen sich hingebende Schwärmer Emil von Herder, ihrer Ansicht nach nicht erhoben. Damit ergab sich allerdings wieder eine Konstellation, die vor dem Hintergrund des Diskurses über die Geschlechtscharaktere problematisch war. Wie erwähnt ordnet beispielsweise Brandes dem Mann die stärkeren Gefühle und zugleich den größeren Verstand zu, der wiederum es ihm ermöglichte, seine ausgeprägteren Emotionen zu beherrschen. Daß Huber dieser Gedanke präsent war, zeigt sich allerdings weniger in ihren Analysen ihrer Beziehung zu Herder als in der Deutung ihres Konfliktes mit ihrem anderen Schwiegersohn, Gottlieb von Greyerz. Huber an Emil von Herder, 23. oder 24. November 1806 ( B T H , Bd. 2, 1 c r c s c N r . 263). Therese Huber an Emil von Herder, 3. und 4. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 219). Z.B.: Therese Huber an Mariette Hartmann, 1 7 . N o v e m b e r 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 133); Therese Forster anläßlich der Lektüre von Caroline Pichler: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. Bd. 1 - 4 . Wien 1844 (Manuskript, Burgerbibliothek Bern, Fa v. Greyerz 104) über ihre Mutter Therese Huber: »sie hatte früh mit Schmerz und Sorgen aller Art zu kämpfen, dadurch war der Ausdruck des Gefühls bey ihr in ihr Inneres zurückgedrängt, ihre Kraft gestählt; das gab ihr manchmal etwas hartes. Aber im Grunde war ihr Gefühl glühender, tiefer, ihr Geist freyer, schärfer und eigenthümlicher.«

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6·4· G o t t l i e b v o n G r e y e r z . D e r >unmännliche< M a n n Huber beschrieb Gottlieb von Greyerz als einen weder zu großen Leidenschaften fähigen noch mit einem überragenden Verstand ausgestatteten Mann. Während sie sich zwinge »zu allen was ich wollen soll, oder wollen will« und »spartanisch hart gegen meine Sinne und Bedürfniße« angehe, »lüstelt« er »und befriedigt seine armen Lüstlein; die bei seiner Rechtlichkeit und beschränkter phisischer Kraft sich auf einen >geschlampte Spinnat< (eine Berner Delicateße) und den langsamen Mord seiner Frau alle Jahre schwanger zu machen, beschränken.« 111 Hier trafen nach Hubers Interpretation nicht nur zwei nicht miteinander zu vereinbarende Charaktere aufeinander, sondern es kam zu einem Konflikt mit der Geschlechterordnung: »Denken Sie nun selbst«, schrieb sie Johann Gotthard Reinhold, »wie weit in 12 Jahren Menschen so verschiedner Art auseinander gehen, wenn ihre Eigenheiten mit ihrem Geschlecht also contrastiren.« 112 Weiter heißt es: »Wär ich der Mann und er das Weib, so thät das gar nichts [...]«. In der Tat, so könnte man annehmen, gäbe es dann kein Problem, weil die Geschlechtscharaktere >richtig< zugeordnet wären. Doch formuliert Huber an dieser Stelle keine Geschlechtertauschfantasie, denn der Satz bezieht sich nicht auf die vorher genannten Eigenschaften, sondern allein auf eine andere >weibliche< Eigenschaft, nämlich die Akzeptanz beziehungsweise den Genuß der Überlegenheit des Mannes: »Wär ich der Mann und er das Weib, so thät das gar nichts, denn ein Weib bindet ein, sie genießt, wenn sie lieb hat, die Überlegenheit des Mannes.« Nicht die Vertauschung der Geschlechtscharaktere war das Problem, sondern die Tatsache, daß sich Greyerz in einem Punkt eben doch >männlich< verhalten habe und die faktische Überlegenheit einer Frau nicht habe ertragen können. Erst an diesem Punkt trat die Ordnung der Geschlechter als Konfliktherd in Hubers Blickfeld. Der Konflikt bestand nach ihrer Darstellung eigentlich nicht zwischen Huber und Greyerz oder zwischen Huber und der Ordnung - daß ihr Charakter ebenfalls im Gegensatz zum weiblichen Geschlechtscharakter steht, wird 111 112

Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 18. Februar 1 8 1 6 ( B T H , Bd. 6). Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 18. Februar 1 8 1 6 ( B T H , Bd. 6); in ihrer Gegenüberstellung ihres und Greyerz* Wesen kommen übrigens nicht die bekannten Oppositionen heiter-ernst, sanft-aufbrausend vor, sondern H u ber legte ganz konsequent ihr eigenes Männerideal dem Vergleich zugrunde, nach dem der Mann über Milde, Kraft, Geist und Selbstbeherrschung verfügen soll. Es sind die letzten drei Eigenschaften, die Huber Greyerz absprach, so daß er von ihr an anderer Stelle der »Unmännhchkeit« (Therese Huber an Emil von Herder, 14. August 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 88)) bezichtigt wurde.

erwähnt, aber nicht als entscheidend bewertet - , sondern Greyerz sah sich im Konflikt mit der Ordnung, was ihm unerträglich war: »Er hat in meiner Gegenwart ein lebhaftes Gefühl seiner Unzureichenheit, das mit seiner Geschlechtsüberlegenheit kämpfend, seine Schwäche zum Aufruhr reizt.« 11 - 1 Wie ist nach Hubers Ansicht mit diesem Problem umzugehen? Der Verzicht auf die eigene >Stärke< war für sie keine Option, um ein der Ordnung entsprechendes Zusammenleben zu ermöglichen (s. Kap. 3). Daher blieben nur zwei Auswege: Entweder die Trennung von Greyerz oder der Versuch einer >Erziehung zur Männlichkeitgelehrten Fraumüßiggeniale< Leistungen. Die schon erwähnte angebliche stärkere Reizbarkeit der Frauen führt außerdem verbunden mit ihrer Unverbildetheit, d.h. Freiheit von >Wissensballastweibliche< Denkmethode dem Weg »von dem Besondern zum Allgemeinen« entspricht; Männer hingegen halten es »vielleicht zu oft« umgekehrt.6-1 Pockels bezieht sich hier genau wie Brandes auf die Beobachtung des Menschen, es geht also wieder nur um dieses bestimmte, abgegrenzte Gebiet, auf dem Frauen über diese spezielle Begabung verfügen. Aber anders als bei Rousseau können Frauen hier offenbar aus ihren Beobachtungen selbst Schlüsse ziehen, »Allgemeines« daraus ableiten, so daß sie nicht den Mann benötigen, der laut Rousseau allein dazu in der Lage ist, Prinzipien zu erkennen. Für den Bereich >Intellekt< kann man feststellen, daß im Diskurs teilweise, wie im Fall des >weiblichen< beziehungsweise >männlichen< Gedächtnisses, ganz entgegengesetzte Thesen vertreten werden, um damit s9 60 61 62 63

Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 3, S. 1 1 . Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts,

Bd. Bd. Bd. Bd.

2, 2, 2, 2,

S. S. S. S.

307. 302. 240. 244.

r 77

aber letztendlich die Hauptthese vom Zurückbleiben des weiblichen im Vergleich zum männlichen Intellekt zu begründen. Andererseits führen gleiche Zuschreibungen, wie Beobachtungsgabe, Detailsinn und Mangel an Abstraktionsfähigkeit bei Frauen, nicht unbedingt zu gleichen Schlußfolgerungen: Rousseau leitet daraus die Vorstellung einer strengen, aber profitablen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ab, was Beobachtung, Analyse und Anwendung angeht; Pockels entwickelt daraus die Idee geschlechtsspezifischer Denkmethoden. Was das intellektuelle Miteinander von Mann und Frau angeht, findet sich bei Pockels ein vor dem Hintergrund des bisher Gesagten bemerkenswerter Satz: So wie die Frauen auf den Charakter und die Emotionalität des Mannes wirken, z.B. durch Besänftigung, »so wahr ist es nun aber auch, dass sie unsern Geist und Verstand bilden helfen, und seine Talente durch ihren belehrenden Umgang erhöhen.« 64 Brandes, der die bildende Wirkung der Frau auf das Herz, aber keinesfalls auf den Verstand des Mannes wünscht (s.o.), müßte Pockels' Aussage ablehnen, ebenso Rousseau, der im intellektuellen Bereich keine Lehrerin-SchülerKonstellation vorsieht, und auch Campe, der die Tochter nur als Schülerin behandelt und die Ehefrau auf intellektuellem Gebiet von ihrem Mann weitgehend isoliert. Allerdings macht Pockels im folgenden dem Leser schnell klar, daß die Frau nach seiner Vorstellung keine aktive Lehrerrolle übernimmt. Es geht auch nicht um die Vermittlung von Wissen. Vielmehr soll der Mann sich die weibliche Beobachtungsgabe und den angenehmeren, weil weniger harten Sprachstil der Frauen zum Vorbild nehmen. 6 ' Der »feinere Geist« der Frau kann dem Mann »zum Muster dienen«. 66 Ohne daß die Frau Lehrerin des Mannes wird, kann der Mann auf diese Weise doch etwas von ihr lernen. Aber Pockels führt ein Muster intellek-

64 6i

66

Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 430. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 430-432; bei der Frage des gerühmten »weiblichen« Sprachstils beruft sich Pockels auf L a Bruyere, der meint, die »Weiber finden unter ihrer Feder Wendungen und Ausdrücke, die bey uns oft nur die Wirkung eines langen Suchens, und eines mühsamen Nachdenkens sind.« (Pockels : Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 522) A n anderer Stelle heißt es hingegen bei Pockels, die Frauen könnten die von ihnen so hoch bewertete »Schönheit des Styls [...] nicht so leicht, als es scheint, erreichen«. Einmal wird Frauen ein gewisser leichter, natürlicher, sozusagen mstinktmäßiger, nicht als Ergebnis geistiger Anstrengung zu betrachtender Umgang mit Sprache attestiert, der sie zu guten Briefschreiberinnen macht, dann wird das Gegenteil behauptet, um zu erklären, warum Frauen sich nicht als Schriftstellerinnen betätigen. Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 4, S. 14. 178

tuellen Miteinander zwischen Mann und Frau vor, das über die von Campe und auch Rousseau geschilderten Vorgaben hinausgeht: Er redet mit ihr über die Erde, und ihre Bekanntschaft mit derselben reicht weiter, als bis an das Stadtthor. Er fängt ein Gespräch über Gegenstände der N a turkunde an, und sie setzt es angenehm fort. Er lieset ihr ein gutes Buch vor; sie nimmt es ihm aus der Hand, und macht die noch schönere Vorleserinn. 67

Die Frau ist, wie bei Brandes, eine geeignete, da nicht ganz unwissende Zuhörerin für den Mann. Aber hier hört die Frau nicht nur zu oder lernt vom Mann, sondern sie spricht außerdem selbst - und zwar über ein Thema, das nicht dem Bereich Haushalt angehört; die Initiative allerdings geht dabei immer vom Mann aus. Auch das von Campe kritisierte Vorlesen wird hier positiv bewertet. Dennoch wird der gesellige Umgang mit Frauen auch von Pockels nicht als ein sich mit ernstzunehmenden wissenschaftlichen, politischen und literarischen Inhalten befassender beschrieben, sondern geradezu als Gegenteil davon, als Gegenwelt zum »eintönigen Verkehr mit den Wissenschaften, oder andern ernsthaften Geschäften«. 68 Es kommt auf das Angenehme (»sie setzt es angenehm fort«), das Schöne (»macht die noch schönere Vorleserinn«) an beim intellektuellen Miteinander, an dem die Frau beteiligt ist, nicht auf die Ernsthaftigkeit der Inhalte. Soweit die Äußerungen von Rousseau, Campe, Brandes und Pockels zur im Vergleich zum Mann aus unterschiedlichen Gründen (mangelnde Denkfähigkeit und Gedächtnis, Zeitmangel, >weibliche< Bestimmung) zurückbleibenden intellektuellen Ausbildung der Frau. Finden sich diese Vorstellungen in den Briefen Therese Hubers an und über Emil von Herder wieder? Und wie dachte sie über die verschiedenen Modelle intellektueller Gemeinschaft zwischen Mann und Frau (Lehrer-Schülerin, Beobachtende· Abstrahierend er-Anwenderin, Mitteilender-Zuhörerin) ?

7.2. Therese Hubers Konzept und Praxis intellektuellen Miteinanders von Mann und Frau Als Therese Huber in der Phase nach Ludwig Ferdinand Hubers Tod (1805/06) intensiv über ihre vergangenen Beziehungen nachdachte, sie schematisch ordnete (Männer/Frauen;

Liebe/Freundschaft) und ihre

Wunschvorstellung bezüglich der von ihr favorisierten Beziehung zu einem Mann formulierte, kam sie auch auf das Thema des intellektuellen 67

Pockels: Versuch einer Charakteristik

des weiblichen Geschlechts, Bd. 2,

S.3±jf·

Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 2, S. 431. r

79

Miteinander zu sprechen: »ich bedürfte den Geist eines theilnehmenden Mannes um mich zu s i c h e r n in manchen Begrif, mancher Aeußerung«. 6 ? In einem weiteren Brief an Johann Gotthard Reinhold (und dessen Schwester Friederike) präzisierte sie ihren Wunsch und veranschaulichte dadurch ihr Konzept einer intellektuellen Beziehung zwischen Mann und Frau: Ich habe in meinen längst geschriebnen Brief nach Umgang und Gespräch gescheuter Männer verlangt, sagen Sie? Sie nennen sie ambulante Diktionaire, und treiben einen lieben Scherz damit. [...] Gerade nicht D i k t i o n a i r e bedürfte ich - ein weiseres, festeres, mehr wißenderes Wesen - e i n e n M a n n , ein Wesen das die einzige E i g e n h e i t s e i n e s G e s c h l e c h t s über mich voraus hätte, in allen andern es mir erlaubte alles zu erkunden, was mein Gemüt mit Liebe zu umfaßen strebt. Ein Wesen vor dem ich nichts verschwieg weil ich fürchtete Schwäche, Vorurtheil Unschuld, Unerfahrenheit - kurz in ihm streitende Elemente zu erwecken, die ich weder besänftigen könnte, noch der Gefahr des Selbstausgährens überlaßen müßte/ 0

Huber wünschte sich demnach eine Verbindung, die auf den ersten Blick den von Rousseau, Campe, Brandes und Pockels vertretenen Ideen nicht entgegengestanden hätte: Sie stellte sich eine nicht auf Ebenbürtigkeit basierende Partnerschaft vor, in der ein überlegener Mann als Mentor ihr bei ihren Bemühungen, sich weiterzubilden, beistand. Von ihm erwartete sie aber auch, daß er ihr erlaube, »alles zu erkunden, was mein Gemüt mit Liebe zu umfaßen strebt«. Es geht hier wieder um die Idee der Freiheit Hubers innerhalb der Geschlechterhierarchie (s. Kap. 4): Einem durch »Schwäche, Vorurtheil Unschuld, Unerfahrenheit«

gekennzeichneten

»Wesen« gegenüber muß sie manches verschweigen; es gewährt ihr anders als ein » M a n n « den gewünschten Freiraum nicht. N u r in der Verbindung mit einem weiseren, festeren, mehr wissenden Wesen, wie Huber analog zum Diskurs >Mann< definiert, ist ihr eine freiere intellektuelle Entfaltung möglich. Mit dem Hinweis auf die » E i g e n h e i t s e i n e s

Geschlechts«

begrenzt sie den gewonnenen Freiraum: »in allen andern« Bereichen darf sie sich geistig betätigen. Das klingt systemkonform, ist aber wenig konkret. Bei aller Anerkennung für die Überlegenheit des Mannes und der damit signalisierten Ubereinstimmung mit dem Diskurs bleibt letztendlich doch offen, wie groß der Freiraum sein soll. Wie noch zu sehen sein wird, überschritt Huber die von Rousseau, Campe, Brandes und Pockels gesetzten Grenzen wiederholt.

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Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 4. und 5. Juli 1805 ( B T H , Bd. 2, N r . 122). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 24. November 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 264). 180

Frauen erfüllten offenbar nicht die gewünschten Kriterien, um die Rolle des Mentors übernehmen zu können. Daß Huber sie als mögliche Wunschkandidaten für eine intellektuelle Beziehung gar nicht erst in Betracht zog, erklärt sich teilweise durch das in Kap. 4 dargestellte Problem der Akzeptanz ebenbürtiger oder gar überlegener Frauen. Es kommen die sozialhistorischen Gegebenheiten hinzu: Frauen konnten nicht studieren; es gab für die Generation von Bürgerinnen, der Huber angehörte, kaum Bildungsinstitute, sieht man von den französischen Pensionaten ab, in denen den Töchtern des gehobenen Bürgertums gesellschaftliche Umgangsformen, feine Näh- und Stickfertigkeiten und

Kon-

1

versation in französischer Sprache nahegebracht wurden.? Huber selbst hatte mit 13 Jahren eine solche Einrichtung besucht. Außerdem gab es noch den Unterricht durch Verwandte (z.B. den Vater), Privatlehrer oder Gouvernanten, der vom Niveau her sehr unterschiedlich ausfallen konnte. Huber beispielsweise empfand den ihr erteilten als äußerst unzureichend (Kap. 2.1). 72 U m so wichtiger mußte für eine nach geistiger Anregung und Wissen strebende Frau das Lesen

werden/3

Doch auch wenn einige Frau-

en sich auf diesem Wege ein erhebliches Maß an Bildung aneigneten, fehlte ihnen als Autodidaktinnen die Sicherheit, den erlernten Stoff wirklich zu beherrschen, die ein systematischer, methodisches Denken schulender Unterricht vermitteln kann. Daher ging es Huber nicht ausschließlich darum, durch einen Mann Zugang zum Faktenwissen zu erhalten, das sich die lesende Frau auch selbst aneignen konnte (»Gerade nicht D i k t i o n a i r e bedürfte ich«). Vielmehr suchte sie nach einer Autorität, die ihr half, ihren bereits erworbenen Bildungsstand durch Gespräche zu »sic h e r n « . Diese Autorität traute sie im großen und ganzen also zu Recht eher einem Mann als einer Frau zu. Mit der Definition, ein Mann sei »ein weiseres, festeres, mehr wißenderes Wesen«, knüpfte Huber jedoch nur scheinbar an das Bildungsgefälle zwischen Mann und Frau um 1800 und den Diskurs über die Geschlechtscharaktere an. Die oben zitierte Briefpassage war wahrscheinlich ihre 71

72

73

Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800. München 1989, S. 168. Birgit Panke-Kochinke stellt mit Hinweis auf die Beispiele Therese Huber, Caroline Schlegel-Schelling und Dorothea Schlözer fest, daß im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts »Erziehungsnormen und Wissensgehalt für Mädchen des höheren Bürgertums [...] sich generell m einem Experimentierstadium« befanden (Birgit Panke-Kochinke: Göttinger Professorenfamilien. Strukturmerkmale weiblichen Lebenszusammenhangs im 18. und 19. Jahrhundert. Pfaffenweiler 1993, S. 1 5 0 - 1 6 5 , hier: S. 162). Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit, S. 1 7 7 - 1 8 4 . 181

Reaktion auf eine Auseinandersetzung über die Grenzen weiblicher intellektueller Betätigung mit Emil von Herder. Zur Vorgeschichte dieses Konfliktes gehört ein Brief Hubers an Herder, in dem sie über ihren Zusammenstoß mit einem gemeinsamen Bekannten berichtet. Mit Edmund de Boutteville (1775-1850) hatte sie über die politische Lage diskutiert: damals hatte ich bei Tisch Streit mit BOUTTEVILLE über Petersburg - das ist eine der AXIOMEN mit welchen er mich an meinen Plaz gestellt hat: LES FEMMES NE DOIVENT PAS AVOIR UNE OPINION EN POLITIQUE und dann so weiter sollen sie fein in den Grenzen ihres Geschlechts bleiben, bis w i r einst zu einer Magd traten die Flachs brach, da sagte er, ins Gespräch verflechtend: - »Das sind zum Beispiel Geschäfte die im Zirkel Ihrer Kenntmße gehören« — Ich habe eine unbegreifliche Gewalt über mein G e m ü t - denn ich glaube // ich habe bei diesem Gespräch an Z o r n , und unserm lezten, gestern f r ü h an verzehrenden Schmerz empfunden, was einer Italianerinn, oder einem andern ungezügeltem Weibe den D o l c h gegen den unvorsichtigen Mann und gegen sich selbst gegeben hätte - und bin so ruhig geblieben - aber meine Lunge hat diese Tage bezahlt - ich w e r f e Blut aus und konnte gestern nicht vorlesen weil jeder T o n erstorben ist. N u n endlich ist das doch nur Leben wenn man das Leben wanken fühlt. 7 4

Boutteville vertrat eine im Diskurs über die Geschlechterordnung mehrfach vorgetragene Ansicht: Das Räsonnement über Politik soll dem Mann vorbehalten sein/s Huber verhielt sich auf die Maßregelung hin Boutteville gegenüber äußerlich ruhig, während sie auf der emotionalen und dann auf der körperlichen Ebene äußerst heftig reagierte. Auf diesem Wege wurde sie tatsächlich zum Schweigen gebracht: Sie konnte sich nicht mehr über Politik äußern, aber auch ihre Teilnahme an den sonstigen intellektuellen Aktivitäten im Hause wurde stark eingeschränkt. Die Folgen der Disziplinierung im Sinne der Ordnung gingen also weit über das von Boutteville Geforderte hinaus, hinterließen körperliche Spuren, bedrohten sogar Hubers Leben. Das Verbot, sich eine politische Meinung bilden zu dürfen, war für sie inakzeptabel. Aber Argumente gegen dieses Verbot und damit gegen einen Grundsatz des Diskurses über die Geschlechtscharaktere führt sie nicht an. Zu einer Diskussion über die intellektuellen Fähigkeiten oder die Rechte von Frauen kommt es in diesem Brief nicht, obwohl es sich angeboten hätte. Sie bezeichnet Bouttevilles Ausspruch auch nicht ausdrücklich als falsch, bewertet lediglich sein Verhalten als unvorsichtig (»den unvorsichtigen Mann«), weil sie sich 74 7i

Therese H u b e r an Emil v o n Herder, 28. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 230). Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 2, S. 484-488; C a m pe: Väterlicher Rath f ü r meine Tochter, S. 160; Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 1 , S. 402 und Bd. 2, S. 3 1 4 . 182

dadurch provoziert fühlte. Ihre Stellungnahme gegen die Ordnung besteht also allein in der Darstellung ihrer emotionalen und physischen Erschütterung, und auf der emotionalen Ebene appelliert sie auch an Herder, den sie aufruft, zwischen den beiden entgegengesetzten Positionen zu wählen: »Sei billig gegen boutteville und strenge gegen mich. Aber liebe und verzeih mir - Ο verwirre mich nicht durch - Verstoßen?«76 Huber wollte nicht an der Ordnung rühren, andererseits aber doch Herder dazu bewegen, ihr einen größeren Freiraum zu gewähren, als es nach den Regeln der Ordnung vorgesehen war. Sein Urteil fiel aber nicht zu Hubers Gunsten aus. Er billigte offenbar ihre Teilnahme an einem politischen Streitgespräch nicht. Auf diesen nicht überlieferten Brief Herders antwortete sie: J a so ists mit politischer Meinung bei euch Männern. Aber glaube mir Emil ich stritt n i e darum. Dal? ich sie gegen Boutteville äußerte war ein eigensinniger Uebermut - daß ich mit D i r davon rede? - Ο Emil über was soll Deine Mutter gegen D i c h nicht reden? Aber Bouttevilles beschränkte Meinung die einen Vorgang herbei führte der mein Herz beinahe - Ο Gott wie hat das kindische Herz getobt! - und Deine liebe sanfte Meinung haben mich aufs neue Z u r e c h t g e w i e ß e n . D u sollst nie um mich leiden daß ich meine w e i b l i c h e G r a z i e durch solche geäußerte Meinung verlezte. Aber denken Emil? und mit Dir denken? Das darf ich! [...] —Ο Zürne nicht daß ich mit D i r spreche. 77

Huber leugnet zunächst einmal, daß sie überhaupt über Politik gestritten habe (»ich stritt nie darum«), obwohl sie ihre Diskussion mit Boutteville »über Petersburg« in ihrem vorherigen Brief ausdrücklich als »Streit« bezeichnet hat. Damals scheint sie es für eine Selbstverständlichkeit gehalten zu haben, streiten zu dürfen. Nach der Zurechtweisung« durch Herder befindet sie sich in der Defensive und zeigt sich verhandlungsbereit. Die Grenze, auf deren Einhaltung Huber sich nun verpflichtet und von der sie versichert, nie gegen sie verstoßen zu haben, ist die »weibliche Grazie«, d.h. die schon aus dem Diskurs bekannte Beschränkung der Frau auf das >Angenehme< und >Schöne< statt der Beschäftigung mit Inhalten, über die man streiten kann. Huber fällt damit also hinter ihre frühere Position zurück. Von hier aus versucht sie, sich vorsichtig an die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem heranzutasten. Wie steht es z.B. mit dem Äußern einer politischen Meinung? Und sollte das Sprechen über Politik schon problematisch sein, ist es wenigstens erlaubt, für sich im Stillen darüber nachzudenken? In diesem Sinne deklariert Huber das Sichäußern um in ein gemeinsames Nachdenkens Mit Hilfe dieser Ar76 77

Therese Huber an Emil von Herder, 28. August 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 230). Therese Huber an Emil von Herder, 26. Oktober 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 247). 183

gumentation hoffte sie, das Recht zu erwerben, sich weiter über politische Themen austauschen zu dürfen. Allerdings ging es ihr nicht darum, von diesem Recht anderen Männern gegenüber Gebrauch machen zu dürfen. Sie begrenzt ihren Konsensvorschlag ausdrücklich auf die Beziehung zu Herder und beruft sich dabei auf ihre Rolle als seine Mutter (s. Kap. 8). Indem sie mit Herder als Einzelperson verhandelt, versucht sie, der von Boutteville und dann von Herder geführten Grundsatzdebatte über die Beschränkungen, denen Frauen sich zu fügen hätten, aus dem Weg zu gehen. Es ging ihr um eine spezielle Abmachung zwischen >Sohn< und >Muttermännlich< definierten Domänen einzubrechen, auf Dauer unterdrücken wollte. So hätte sie sich also eigentlich von ihrer zuvor aufgestellten These verabschieden müssen, nach der Beziehungen zwischen Frauen und Männern eindeutiger geregelt sind und daher von ihr bevorzugt würden. Die am Anfang des Kapitels zitierte Passage aus Hubers Brief an die Geschwister Reinhold zeigt aber noch eine andere Möglichkeit, wie sie mit der Situation umgehen konnte. Dieser Brief wurde zur gleichen Zeit verfaßt wie der Brief an Herder, der die Auseinandersetzung durch den Vergleich mit Marie von Greyerz beendete. In beiden Briefen geht es um die Begrenzung der intellektuellen Betätigung von Frauen. Also auch wenn Huber gegenüber den Geschwistern Reinhold Herders Namen nicht nannte, thematisierte sie aller Wahrscheinlichkeit nach in beiden Briefen denselben Konflikt. Gegenüber den Reinholds interpretiert sie das Geschehene dann wie folgt: Herder (wie auch Boutteville) akzeptierte nicht Hubers Beschäftigung mit Politik, gewährte also nicht den von ihr 84

Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). 186

gewünschten Freiraum, »erlaubte« ihr nicht, »alles zu erkunden, was mein Gemüt mit Liebe zu umfaßen strebt.« 8 ' Ihm gegenüber wäre es besser, über ihre politische Uberzeugung zu schweigen, um Konflikte zu vermeiden und nicht »in ihm streitende Elemente zu erwecken«. 86 Das »Wesen«, hier also Herder, das ihr ein solches Verhalten aufzwingt, ist durch »Schwäche, Vorurtheil Unschuld, Unerfahrenheit« gekennzeichnet und entspricht damit nicht der von Huber und auch vom Diskurs vorgebrachten Definition: »ein weiseres, festeres, mehr wißenderes Wesen e i n e n Mann«. 8 7 Folgerichtig bezeichnet Huber einige Monate später, als sie Reinhold über die ihrer Meinung nach irrigen politischen Ansichten Herders schreibt, diesen explizit als » J ü n g l i n g « und erklärt dann: »Er ist ein Jüngling, aber er wird ein Mann oder mein Herz sagt sich von ihm ohne Schmerz loß«. 88 Nach dieser Interpretation der Auseinandersetzung mit Herder war er es, der seiner Rolle in der Geschlechterordnung nicht gerecht wurde, und nicht Huber. Wäre er ein >Mannunweiblichen< Verhaltens. Diese Deutung des Konfliktes ist mehr als nur eine Ausrede gegenüber Dritten. Huber schuldete ihren beiden Adressaten keine Erklärung für ihr Verhalten. Die Geschwister wußten nichts von dem Vorfall und erfuhren auch später nicht davon, konnten folglich auch ihrerseits Huber keine unangenehmen Fragen dazu stellen und sie zwingen, ihr >unweibliches< Verhalten zu rechtfertigen. Offenbar war es der Briefschreiberin ein Bedürfnis, sich von den Vorwürfen zu befreien und darüber hinaus für sich persönlich ihr Verhältnis zur Ordnung zu klären. Sie löste den sie störenden inneren Widerspruch in ihrer Haltung, der sich im Konflikt mit Herder offenbarte, auf, indem sie ihr Interesse an Politik (und potentiell jedes andere intellektuelle Interesse) in ihren Entwurf der Geschlechterordnung integrierte. So konnte sie sich ganz als Teil der Ordnung, als >weiblich< begreifen: Der charakterlich und intellektuell dem Diskurs entsprechende Mann erlaubt der Frau, sich mit einer Vielzahl an Themen beschäftigen zu dürfen (auch mit solchen, die laut Diskurs ihr eigentlich verboten sein sollten). Anstatt sich und ihr Verhalten 8i

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Therese Huber an Friederike 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 264). Therese Huber an Friederike 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 264). Therese Huber an Friederike 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 264). Therese Huber an Friederike ( B T H , Bd. 2, N r . 3 1 1 ) .

und Johann Gotthard Reinhold, 24. November und Johann Gotthard Reinhold, 24. November und Johann Gotthard Reinhold, 24. November und Johann Gotthard Reinhold, 18. März 1807

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zu ändern oder sich über das System hinwegzusetzen, nahm sie Änderungen am System vor. Hubers Ordnung unterscheidet sich damit erheblich von der des Diskurses. Es ist trotz der größeren Freiheit für die Frau aber der Theorie nach kein auf der Idee von Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung basierendes System (auch wenn die Praxis beidem sehr nahe kommen konnte und vermutlich auch sollte), sondern ein hierarchisches. Und letzteres ist nicht als bloßes Zugeständnis an den Diskurs zu verstehen. Hierarchie und Freiheit stehen in Hubers System nicht einfach nebeneinander, sondern die Einhaltung der Hierarchie ist Vorbedingung für die Freiheit. Denn nur der überlegene Mann gewährt, was der schwache Jüngling verbietet. Allerdings behielt sie ihre nicht diskurskonforme Idee von der Ordnung der Geschlechter für sich: In ihrem Brief an die Reinholds erwähnt sie mit keinem Wort, daß sie vom Mann die Erlaubnis, über Politik zu diskutieren, erwartete. Sie ging also offenbar davon aus, daß sie auch bei diesen Adressaten, wie schon zuvor bei Boutteville und Herder, auf Ablehnung stoßen würde mit ihrem Bedürfnis, sich über Politik auszutauschen oder gar zu streiten. Ganz ohne Zustimmung von außen mochte Huber allerdings auch nicht bleiben, sonst hätte sie auf die Darstellung ihrer Ideen Reinholds gegenüber verzichtet. So wählte sie mit ihrer sehr allgemein gehaltenen und daher nicht ganz offenen Darstellung ihres Systems einen Mittelweg. Sie hatte demnach also nicht vor, ihre Idee expressis verbis zu vertreten, sie vielleicht in Konflikten als Gegenmodell vorzuführen und gegen die Disziplinierungsversuche ihrer Bekannten auszuspielen. Mit Hilfe dieses Systems gelang es ihr aber, trotz Zusammenstößen wie denen mit Boutteville und Herder an ihrer vormals geäußerten Ansicht festzuhalten, sie wisse, w o die Frau sich dem Mann zu unterwerfen habe, w o die Grenze ihres Freiraums verlaufen solle. Denn diese Konflikte stellten nicht ihre Auffassung von der Ordnung in Frage, sondern wurden nur als Ausdruck für die Unreife ihres Gegenübers gewertet, das (noch) nicht bereit war, an ihrer Ordnung teilzunehmen. Derart abgesichert konnte sie die nächste Auseinandersetzung riskieren, ohne an ihrer, von ihr als >weiblich< definierten Identität größeren Schaden zu nehmen. Vorwürfe, die dahin zielten, interpretierte sie um in den Gegenvorwurf der Unmännlichkeit. Insofern gehört Hubers Ordnungsentwurf, wie er sich erst aus zwei Briefen an verschiedene Adressaten erschließen läßt, mit zu den Strategien (s. Kap. 5), um mit den massiven Repressionen, denen sie ausgesetzt war, innerlich fertig zu werden. Daraus erklärt sich vielleicht auch ihre über die Jahre unveränderte Position gegenüber Herder in den wiederholt aufflammenden Auseinandersetzungen: Trotz der immer wiederkehrenden Disziplinierungsversuche durch 188

ihr Gegenüber gab Huber weder dem Druck nach, noch ließ sie sich dadurch dazu drängen, die Geschlechterordnung, so wie Herder sie auffaßte, offen in Frage zu stellen. Immer wenn Huber Herder als >Jüngling< anspricht, ist nicht nur an einen Alters- und Generationenunterschied zwischen den sich auseinandersetzenden Korrespondenten zu denken, sondern auch an Hubers in dieser Bezeichnung verschlüsselte Kritik an Herders >Nicht-Mann-Sein< als Verstoß gegen die Ordnung der Geschlechter, so wie sie sie auslegte. Genauer gesagt handelte es sich um ein >Noch-nicht-Mann-Seinweiseren, mehr wissenden WesenFrau und Politik< sah H u b e r hier einen Ansatzpunkt, auf der argumentativen Ebene die Meinung ihres Gegenübers beeinflussen zu können. Sie versucht, das Erziehungsgebot gegen das Publikationsverbot auszuspielen, u m f ü r sich und die Frauen allgemein einen größeren Freiraum auszuhandeln. Es gibt aber nach Rousseau eine andere, mit der O r d n u n g der Geschlechter zu vereinbarende Lösung des Problems: Die Frau teilt dem Mann ihre Beobachtungen mit, der Mann wertet sie aus und publiziert seine Ergebnisse. H u b e r selbst geht auf diese Lösungsmöglichkeit ein (»auf Außage unsers Geschlecht schreiben«), die H e r d e r in seinem vorausgehenden Brief offenbar angesprochen hat (»wenn sie einen Freund findet - was heißt das?«). Akzeptieren will sie dieses Modell allerdings nicht. Sie behauptet, daß die Frau auch in diesem Fall »der guten Sache ein Opfer« bringen müsse u n d dann, so sollte der Adressat schlußfolgern, könne sie auch gleich das O p f e r bringen und selbst schreiben. Ein Verstoß gegen die O r d n u n g trete so oder so ein. Zu dieser Behauptung kam H u b e r , weil sie das Modell nur in der Ehe als zulässig ansah und nicht in einer Freundschaft. Der vermutlich von Herder gemachte Vorschlag, einen Freund zu suchen, wird von H u b e r daher als Regelverstoß abgelehnt. Diese Beschränkung auf den Bereich Ehe ist bei Rousseau aber nicht zu finden. W a r u m wollte H u b e r nicht die gebotene Möglichkeit der Zusammenarbeit innerhalb der von der O r d n u n g vorgegebenen Regeln nutzen? Als Freund, dem sie ihre Beobachtungen mitteilen konnte und der auch Erzieher war, kam z.B. Philipp Emanuel von Fellenberg in Frage. Allerdings wußte sie, daß sie in Erziehungsfragen keine ganz übereinstimmenden Positionen vertraten, so daß das Ergebnis einer solchen Zusammenarbeit, wenn sich H u b e r auf das Mitteilen ihrer Beobachtungen beschränkte, nicht ihre Zustimmung finden würde. Die von Rousseau beschriebene Arbeitsteilung wäre nur auf Kosten der von ihr vertretenen Uberzeugungen zu verwirklichen gewesen und lag daher also nicht in

Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S.45 und S. 100; Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 2, S. ij)8f. Dagegen übernimmt der Erzieher in Rousseaus Emil die Erziehung Emils ab dessen Geburt (S. 25). Ansonsten verteilt Rousseau die Erziehung an die Mutter als »Amme« und den Vater als »Lehrer« des Kindes (S. 22), so dal? der Zeitpunkt, an dem das Kind von der Mutter an den Vater zu übergeben ist, früher als bei Campe anzusetzen ist. 191

ihrem Interesse. Indem sie die intellektuelle Zusammenarbeit zwischen Mann und Frau in Sachen Erziehungsschriftstellerei allein auf die Ehe anwandte, verkleinerte sie die Chancen auf Realisierbarkeit so sehr, daß sie glaubte, ein Bruch des Publikationsverbotes wäre dadurch zu rechtfertigen. Doch auch dadurch ließ sich Herder nicht umstimmen. Es folgte ein erneuter Disziplinierungsversuch von seiner Seite, der Huber zunächst ganz in die Defensive zwang (»Also auch nicht über Erziehung schreiben«' 6 ), aber letztendlich an ihrer Einstellung doch nichts änderte, so daß die Diskussion einen toten Punkt erreichte: »Aber könnt Ihr etwas ohne unsre Wahrnehmungen? oder bedurft ihr keine Beobachtung über das Kind? [...] Gar nicht schreiben geht nicht.« 97 Eine Einigung mit Herder und die Einordnung in das System kamen also auch in diesem Fall nicht zustande. Andererseits konnte es vorkommen, daß Huber gelegentlich rigider als Herder auf Einhaltung der den Frauen gesetzten Normen bestand. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion um die Frage, ob Frauen Arzte werden dürfen oder nicht. Huber interessierte sich für Medizin, las Aufsätze dazu und half mehrfach Ärzten am Krankenbett und war bei Operationen anwesend.' 8 Angeregt von ihrem Bericht über die Krankheit und Behandlung ihres Enkels Walo von Greyerz äußerte Herder sein »Bedauern«, »daß die Weiber nicht die Heilkunde studiren«. 99 Huber legt ihm dann ausführlich dar, warum sie glaubt, daß Frauen dazu nicht in der Lage seien. Sie leitet ihre Argumentation mit einem ironischen Seitenhieb auf seine früheren Disziplinierungsversuche ein: »Du hast ja sehr entschiedne und ausgebreitete K a n n t n ü ß e über das was man in Anwendung auf den Verstand »Weiblichkeit« nennt«. 100 Sonst war er es, der sie über die Grenzen des >weiblichen< Intellekts belehrte, hier trat nun der umgekehrte Fall ein. Der ironische Ton und die Tatsache, daß sie sich speziell auf Herders Kenntnisse berief und auf das, was »man« unter dem >weiblichen< Intellekt verstand, deutet an, daß Huber den geschlechtsspezifischen Zuschreibungen mit Distanz begegnete. So wie sie auf Herders frühere Disziplinierungsmaßnahmen reagiert hatte, wäre es nur logisch gewesen, wenn sie sich auch hier diesen Zuschreibungen gegenüber reserviert verhalten hätte. Doch in ihrer Argumentation beruft sie sich dann ganz ernsthaft auf das Modell der Geschlechtscharaktere: 96 97 98

99 100

Therese Huber an Emil von Herder, Therese Huber an Emil von Herder, Z.B. Therese Huber an Emil von N r . 208). Therese Huber an Emil von Herder, Therese Huber an Emil von Herder, 192

3 1 . Januar 1808 ( B T H , Bd. 3). 3 1 . Januar 1808 ( B T H , Bd. 3). Herder, 26. Oktober 1 8 1 3 ( B T H , Bd. 5, 7. Dezember 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 290). 7. Dezember 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 290).

Wir sind vom Einzelnen viel zu sehr beschäftigt um eine so v i e l z w e i g i g e Wißenschaft im Moment der Anwendung zu übersehen. Wir verbinden die einzelnen Punkte des Wißens immer blizschnell durch die fliegenden Brüken der Fantasie - keine Wißenschaft erlaubt das weniger wie die Heilkunde. 1 0 1

Das hier von Huber gezeichnete Bild vom >weiblichen< Intellekt entspricht den bei Brandes, Rousseau und Pockels geäußerten Vorstellungen: Die Frau sei dem Einzelnen verhaftet, überschaue die Zusammenhänge und Konsequenzen nicht, wie es ein Mann könne. Statt über ruhige, gründliche Logik verfüge die Frau über die zwar schnelle, aber eben wenig solide und unzuverlässige »Fantasie«, d.h. Intuition, um zu Schlußfolgerungen zu kommen. 102 Neben diesen intellektuellen Unzulänglichkeiten nennt Huber als zweiten Grund für die Unfähigkeit der Frauen, sich der Medizin als Wissenschaft zuzuwenden, die Einhaltung der durch die Sittlichkeit gezogenen Grenzen: »wenn ein Mann ein Uebel, eine Wunde hätte welche des Weibes Zucht zurückschreckt, sollte das Weib Arzt diesem Mann ihre Hülfe aus Sittsamkeit nicht geben? - oder möchtest Du Deine Frau, Mutter, Schwester, an so ein Krankenbett laßen?« Huber stellt dementsprechend die Frage, ob Arztinnen sich nicht ausschließlich um weibliche Patienten kümmern dürften. Des weiteren führt sie die angebliche Schamlosigkeit der wissenschaftlich ausgebildeten Hebammen als Beweis für ihre Auffassung an, daß Sittlichkeit und Heilkunde für Frauen nicht miteinander zu vereinbaren seien. Als dritten Grund erwähnt sie abschließend, daß der Beruf der Arztin nicht mit den Aufgaben der Mutterschaft, dem >weiblichen< Beruf, zusammenpasse: »die Schwangre, die Säugende, die Mutter kleiner Kinder sollte zu Kranken gehen?« Huber sieht dennoch auch für Frauen eine Möglichkeit, im medizinischen Bereich tätig zu werden: »also ists nicht Studium der Heilkunde 101 102

Therese Huber an Emil von Herder, 7. Dezember 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 290). Damit fällt Therese Huber hier deutlich hinter Positionen zurück, wie sie noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vertreten und diskutiert wurden. So wurde im 2. Jahrgang, 37. Stück der Vernünftigen Tadlerinnen vom 20. September 1726 (Hg. von Johann Christoph Gottsched) gegen die Annahme argumentiert, Frauen seien vom Verstand her generell zum Studium der Wissenschaften ungeeignet. Die im Jahr 1638 veröffentlichte Schrift Arnica dissertatio inter Annam Mariam Schurmanniam et Andream Rivetum de capacitate ingenii muliebris ad scientias von Anna Maria van Schurman (1607-1678) referierend heißt es dort: »Wer von Natur die Fähigkeit zu allen Künsten und Wissenschafften hat, vor den schicken sich auch dieselben sehr wohl. N u n hat aber das Frauenzimmer von Natur die erwehnte Fähigkeit: derowegen schicken sich auch vor sie alle Künste und Wissenschafften.« (S. 292) Es gebe »witzige und einfältige« Frauen (S. 290) und studieren sollten nur diejenigen, »die zum wenigsten mittelmäßige Kräfffte des Verstandes besitzen.« (S. 295) Nicht das Geschlecht, sondern die individuellen Fähigkeiten sind entscheidend. r

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was u n s er η Geschlecht zu wünschen war, sondern den Ärzten war zu rathen, daß sie die Beobachtungen der Weiber beßer benuzten«. 103 Die im Diskurs immer wieder thematisierte herausragende Beobachtungsgabe der Frauen und Rousseaus Idee der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bilden für sie einen vor dem Hintergrund der Ordnung der Geschlechter akzeptablen Ansatzpunkt, die Frau bei der Krankenbehandlung einzusetzen. Indem sie das bei Rousseau ausschließlich für das Gebiet >Moral< vorgegebene Modell der Zusammenarbeit von Frau und Mann auf das Verhältnis Frau und Arzt überträgt, erweitert sie den Handlungsspielraum für die Frauen, nutzt aber bei weitem nicht den Freiraum aus, den Herder angedeutet hat, als er sein Bedauern aussprach. Sie konnte sich offensichtlich das Bedingungsfeld eines Medizinstudiums für Frauen nicht vorstellen. Es sollten noch fast 100 Jahre vergehen, bevor diese sich an deutschen Universitäten immatrikulieren durften (in Baden: ab 1900; in Preußen: ab 1908). Das Studium und damit auch der Beruf des Arztes waren um 1800 den Männern vorbehalten. 104 Eine berühmt gewordene Ausnahme von der Regel war die Arzttochter Dorothea Christiana Erxleben, geb. Leporin ( 1 7 1 5 - 1 7 6 2 ) , die 1754 aufgrund einer Sondererlaubnis des preußischen Königs promovierte und auch als Medizinerin praktizierte. 105 Angesichts der Realität um 1800 war es sehr viel leichter, beispielsweise die Befähigung der Frau zur Schriftstellerei, die im häuslichen Bereich stattfand, zu begründen als zur Medizin, einem außerhäuslichen Tätigkeitsfeld. Im Unterschied zu Ärztinnen gab es zu dieser Zeit bereits einige Schriftstellerinnen, die erfolgreich arbeiteten und auch Anerkennung fanden (obgleich sie sich immer in einem problematischen Verhältnis zur Geschlechterordnung befanden). Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, daß Herder die gemessen an der Wirklichkeit doch

103 104 105

Therese Huber an Emil von Herder, 7. Dezember 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 290). Frevert: Frauen-Geschichte, S. 76. Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit, S. 187-189; Dorothea Christiana Leporin-Erxleben argumentierte zu Gunsten des (Medizin)Studiums von Frauen, indem sie, wie Schurman, auf die gleichen intellektuellen Fähigkeiten von Männern und Frauen verwies. (Den gemeinsamen Besuch des Unterrichts an einer Universität hielt Leporin allerdings für problematisch.) Außerdem hielt sie Frauen grundsätzlich auch für die Ausübung des Arztberufes geeignet, womit sie eine über Therese Hubers Ansicht weit hinausgehende Position einnahm (Dorothea Christiana Leporin: Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das Weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten, Darin deren Unerheblichkeit gezeiget, und wie möglich, nöthig und nützlich es sey, Daß dieses Geschlecht der Gelahrheit sich befleisse, umständlich dargeleget wird. Berlin 1742, S. 2of., 25-27, 79-85, 140; s. auch das Vorwort von Christian Polycarpus Leporin, Paragraph 79, 83, 85).

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recht abwegige Idee von Medizin studierenden Frauen andeutungsweise in den Raum stellte, während er etwa im Falle der Schriftstellerinnen so hartnäckig auf Einhaltung des Publikationsverbotes drängte. Das Problem >Arztinnen< war für ihn sicher rein hypothetisch; das der schreibenden Frauen dagegen war (nicht zuletzt durch die Person Hubers) real und damit die größere Bedrohung für die Geschlechterordnung. Vielleicht erkannte Huber, daß Herders Bedauern kein tatsächlicher Vorstoß in Sachen Frauenstudium war. Sie wußte aus eigener Erfahrung sehr genau, daß es untypisch für ihn war, den Frauen dermaßen große Freiheiten zu gestatten. Indem sie das erweiterte Modell der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Frau vorschlug, griff sie auf eine Idee zurück, die Herder selbst im Zusammenhang mit der Diskussion über die Erziehungsschriftstellerei vorgebracht hatte. Damit konnte sie relativ sicher sein, einen konsensfähigen Vorschlag in die Diskussion einzubringen. Andererseits hatte sie in der erwähnten früheren Diskussion das von Herder eingebrachte Modell der Zusammenarbeit als unzureichend verworfen. Offensichtlich argumentierte sie pragmatisch und nicht prinzipiell. Es ging ihr nicht in einem theoretischen Sinne um die Frauenemanzipation, wie ihr Auftreten als Verfechterin der Idee von der Geschlechterpolarität in der Diskussion über das Medizinstudium zeigt. Daß sie sich für ihren Wunsch, über Erziehung schreiben zu dürfen, mit Vehemenz einsetzte, während sie dies im Hinblick auf das Medizinstudium nicht tat, mag vielleicht ihren persönlichen Vorlieben und Ambitionen geschuldet sein. Entscheidend für ihre Position ist, daß sie Verständnis für die individuellen Interessen von Frauen hatte und ihre Argumentation gegen weibliche Ärzte wie folgt relativierte: »sollte ein Weib zum Studium der Heilkunde hingerißen sein wie Corregio zum Malen, oder viele unsrer Gelehrten zur Wißenschaft, so würde kein vernünftiger Mensch etwas dagegen haben«. 106 So wie sie selbst in bestimmten Bereichen sich Freiräume wünschte, gestand sie dies auch anderen Frauen zu. Daß davon eine Bedrohung für die Ordnung ausgehen könnte, wird von Huber nicht diskutiert. Der Vergleich mit Corregio und der Gebrauch des Singulars (»ein Weib«) statt des Plurals legt nahe, daß sie sich nur eine kleine Zahl Frauen denken konnte, die Heilkunde studieren wollten. Es ist aber nicht die geringe Zahl, die die Medizin studierenden Frauen in Hubers Augen für das System ungefährlich macht. Ausschlaggebend ist, daß sie diese Frauen zwar als Ausnahmecharaktere begreift, sie aber nicht als außerhalb des Systems stehend definiert. Sie stellt für sie keine Ausnahmeregelung 106

Therese Huber an Emil von Herder, 7. Dezember 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 290). r

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auf, gibt ihnen keinen Freibrief, gegen die Ordnung zu verstoßen: »der entwickeltere Mensch«, so leitet sie den Corregio-Vergleich ein, »verehrt« das weibliche Geschlecht, »indem er ihn Schranken sezte die nie gegen die Nothwendigkeit anstreben«. Wo es eine »Nothwendigkeit«, ein nicht zu unterdrückendes Bedürfnis gibt, etwa Medizin zu studieren oder, denkt man an Hubers spezielle Interessen, über Politik zu sprechen, setzt das System keine Grenzen, stellt Huber fest. Folglich verletzen diese Frauen die Ordnung nicht und stehen somit nicht außerhalb des Systems. Huber erkennt also die Existenzberechtigung von Schranken für das weibliche Geschlecht an. Aber diese Einschränkungen verletzen nie die vitalen individuellen Interessen der Frauen. Für Huber sind Schranken nur da zulässig, wo es keinen Widerstand einer ausgesprochenen Begabung und Motivation für eine Profession gibt. Mitten in der ganz an den Vorgaben des Modells von der Geschlechterpolarität orientierten Argumentation Hubers taucht damit eine Idee auf, die Rousseau, Brandes, Campe und Pockels hätten bekämpfen müssen. Die »Schranken«, die sie den Frauen auf den Gebieten Intellekt und Bildung setzten, waren nicht als flexibel, am Individuum orientiert gedacht. Die Frauen sollten sich den Grenzen anpassen und nicht umgekehrt. Sie sollten so erzogen und gebildet werden, daß sie in die Ordnung hineinpaßten, der vorgegebenen Norm entsprachen. Damit zeigt sich an dieser Stelle wieder ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Hubers Vorstellung von der Ordnung und der Rousseaus und seiner Nachfolger. Auch die Tatsache, daß Huber noch an dem Begriff >Schranke< festhält, kann die Kluft zwischen beiden Auffassungen allenfalls kaschieren, aber nicht überbrücken. Herders Reaktion auf die Ausführungen seiner Briefkorrespondentin läßt sich nur ansatzweise aus einem Brief Hubers erschließen. »Da näherten wir uns einander sehr in unsern Ansichten«, konstatiert sie, »wie Du die Bedingungen beschränkest welche die Wißenschaft und das weibliche Individu das sie erlernen soll sezest.«1"7 Sie macht ihn aber auf den grundlegenden Unterschied in ihren Auffassungen aufmerksam: »[...] was Du e r l a u b s t , das forderte ich als Eigenthum unsers Geschlechts.« Möglicherweise bezieht sie sich hier auf die weiblichen >CorregiosSophie< b e z i e h u n g s w e i s e Schülerin des M a n n e s steht das mit d e m D i s k u r s keinesfalls zu v e r e i n b a r e n d e A u f t r e t e n H u b e r s als H e r d e r s L e h r e r i n gegenüber, w e n n sie ihm beispielsweise geradezu befiehlt, b e s t i m m t e B ü c h e r ü b e r 113

114 115

116

Ge-

Therese Huber an Emil von Herder, 2. und 3. Februar 1807 (BTH, Bd. 2, Nr. 292). Therese Huber an Emil von Herder, 7. April 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, Nr. 198). Therese Huber an Emil von Herder, 17. und 18. Februar 1807 (BTH, Bd. 2, Nr. 298). Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 24. November 1806 (BTH, Bd. 2, Nr. 264). 199

schichte, Medizin, Geographie, Politik und Literatur zu lesen,"7 oder f ü r sich das Recht in Anspruch nimmt, seine Lektüre auszuwählen: Wärst Du doch hier, ich las die Stellen daraus vor die Du in Dein Herz aufnähmst. Das alles nun mit einem Wust heilloser Reime in der Wunderhorns Manier verbrämt, die ich denn zum aller, allergrößten Theil nicht las, weil ich sie verachte. Gewiß sind aber schöne Gedanken drinn - aber ich habe nicht Zeit das Waßer abdampfen zu laßen. Wenn Du doch das Schöne daraus lesen könntest. Ich müßte Dirs aber suchen, denn Du sollst nie mit der Regellosen Schwärmerei solcher Gesellen Deinen Kopf peinigen." 8 Das ist die Umkehrung der v o n Campe beschriebenen Konstellation, bei der die Frau nur bestimmte, von Männern ausgewählte Stellen aus bestimmten belletristischen Werken lesen darf (s. Kap. 7.1). Ganz selbstverständlich setzt H u b e r ihren eigenen literarischen Geschmack als verbindlichen Maßstab an und meint, entscheiden zu können, was das »Schöne«, d.h. f ü r Herder Lesenswerte, und was ihm nicht zuträglich sei. Letzteres galt in moralischer Hinsicht z.B. f ü r Mirabeaus Briefe, die H u b e r zwar gelesen hatte, die aber Herder schaden würden. 1 1 9 Bestimmte Lektüren sind nur der Lehrerin vorbehalten, der Schüler ist vor ihnen zu schützen. Nicht nur was, sondern auch wie er lesen sollte, wollte sie beeinflussen. Sie teilt ihm mit, worauf er besonders zu achten habe, damit er aus dem Gelesenen die richtigen Schlüsse ziehe: »Gieb doch aber im Lesen immer auf das Acht was National und Volkskarakter ausspricht - und trenne ja stez Volksbewegung, von den A n s t i f t e r n des Volks.« 1 2 0 Sie nimmt bestimmte Interpretationen des zu Lesenden, z.B. hinsichtlich Toulongeons Darstellung der Französischen Revolution, vorweg: Mit der Post schicken wir Dir m e i n e n 3 und 4 Theil von TOULONGEON [...]. Gieb, ich bitte Dich, acht wie die R e c h t l i c h k e i t , die Tugend diese Gironde zu sehr schlechten Vaterlandsrettern macht, lies doch ja aufmerksam. Die Menschen versäumten so viel weil sie wähnten: Das verstehe sich — sie v e r s c h w o r e n sich nicht weil sie durch ihre Meinung verbündet waren [...]. 1 2 1 117

Therese Huber an Emil von Herder, 17. Juni 1810; 1. und 2. Juli 1810; 16. September 1811; i.Juni 1813 (BTH, Bd. 4, Nr. 77; 80; 257; Bd. 5, Nim 59). Therese Huber an Emil von Herder, 14. Juli 1810 (BTH, Bd. 4, Nr. 86); es geht hier um Ludwig Achim von Arnim: Armuth Reichthum Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Bd. 1.2. Berlin [1810]. 119 Therese Huber an Emil von Herder, vor und am 12. April 1807 (BTH, Bd. 2, Nr. 316). I2 ° Therese Huber an Emil von Herder, 20. April 1811 (BTH, Bd. 4, Nr. 202). 121 Therese Huber an Emil von Herder, 3. Juni 1811 (BTH, Bd. 4, Nr. 220); Fran5ois-Emmanuel Toulongeon: Histoire de France, depuis la Revolution de 1789, ficrite d'apres les memoires et manuscrits contemporains, recueillis dans les de'pots civils et militaires. T. 1-7 (=Bd. 1-4). Paris 1801-1810. 1:8

200

Manchmal verfaßte sie für ihn auch notizenhafte Kommentare zu den von ihr gelesenen Büchern: Ich lese den V o g t und zeichne eine Menge Bemerkungen f ü r D i c h auf - das ist ein a l b e r n e s

Buch. A u f jeder Seite ist ein F a k t u m entweder falsch gestellt

oder falsche Folgerungen daraus gezogen, und alles Altvergangne so herausgeschmückt daß ich oft zweifle ob er v o n einem selbstbeliebigen Utopien spricht, oder v o m PAIS DE COCAGNE. D a s kann nur Unwißende zu Schwärmern machen, und nur Parteischwärmer gewinnen. So ein willkührliches Annehmen, ein treuloses Zusammenstellen, alles u m seinen einmal vorgefaßten Saz zu behaupten, sezt viel Verkehrtheit, oder A r r o g a n z voraus. Wer ist der Mensch? Wenn D u es gelesen hast gerathen w i r vielleicht gar im Streit - aber dann zeigen D i r meine N o t e n wenigstens worauf ich meinen Tadel gründe. 1 2 2

Bei dem hier kritisierten Buch handelt es sich um Die deutsche Nation und ihre Schicksale von Nikolaus Vogt, ein zum Zeitpunkt der Abfassung von Hubers Brief gerade erst erschienener Text mit deutschnationaler Tendenz. Schon aufgrund seines Titels war zu erwarten, daß dieses Buch auf ein breites öffentliches Interesse stoßen würde, denn von dem Begriff »deutsche Nation« ging nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 eine starke Signalwirkung aus. Huber konnte also annehmen, daß auch Herder es lesen würde. Mit ihrem Brief wollte sie, die sehr kritisch der nationalen Bewegung in Deutschland gegenüberstand, ihn offenbar vorbeugend immunisieren. Es ging ihr um seine politische Bildung. Daher auch ihre Bemühungen, ihn für Literatur über die französische Geschichte ab 1789 zu interessieren und so sein Verständnis und Wohlwollen für die französische Nation zu wecken, der Hubers Sympathie galt.123 Insofern sind die Lektürevorschläge an Herder nicht ausschließlich Ausdruck ihrer augenblicklichen Vorlieben, sondern Teil eines langfristig angelegten Bildungsprogramms mit dem Ziel, seinen politischen Standpunkt in ihrem Sinne zu verändern. Es ging dabei auch um Kontrolle, um Macht: »könnte ich Dir doch eine recht detaillirte Geschichte der lezten 15 Jahre im Kopf z a u b e r n - Du hast nicht zeit sie zu erwerben«.124 Der direkte Zugriff auf Herders Verstand hätte das zeitraubende Lesen und Lehren beiden erspart und die von Huber festgestellten politischen Irrtümer Herders sofort beseitigt. Hubers Verhalten Herder gegenüber war doppelgesichtig: Sie inszenierte sich ihm gegenüber als Rousseaus Sophie, als seine Schülerin, unterlief diese Rollenverteilung faktisch aber immer wieder durch ihr ord122 123 124

Therese H u b e r an Emil v o n Herder, 2 1 . J u n i 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 78). Therese H u b e r an Emil v o n Herder, 20. April 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 202). Therese H u b e r an E m i l v o n Herder, 18. und 19. oder 25. und 26. Februar 1808 ( B T H , Bd. 3).

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nungswidriges Auftreten als Lehrerin eines Mannes - oder eigentlich eines »Jünglings«, der erst zum >Mann< weitergebildet werden mußte, damit er als »weiseres, festeres, mehr wißenderes Wesen«, 1 2 ' als ihr Mentor, seinen Platz in der Ordnung der Geschlechter einnehmen konnte, worauf Huber ihre Freiheit unbegrenzter intellektueller Betätigung gründen wollte. Von ihrer Theorie her läßt sich ihr paradoxes Handeln durchaus begreifen und rechtfertigen: Sie verstieß gegen die Ordnung, um Herders Bildungsniveau anzuheben und die Ordnung auf diesem Wege herzustellen. Die Selbstinszenierung als Sophie diente demnach dazu, diesen Verstoß zu kaschieren. Denn daß die erfolgreiche Schriftstellerin Huber, die bereits »vom vierten Jahre an« lesen und schreiben konnte 126 und von ihren Zeitgenossen als geistvoll geschätzt wurde, 1 2 7 auch nur annähernd Sophie glich, ist nicht anzunehmen. Sie sah sich auch sonst nicht als Sophie: Wenn sie an Herder schrieb, sie könne als Frau »keine Ideenkette bilden«, 128 paßt dies nicht zu einer anderen Selbstbeschreibung: »Ich kann nie einen Begrif unklar laßen der in die Kette meiner Gedanken gereiht wird, er bedarf nie sich einen Begrif klar zu machen und wird auf keine Unklarheit aufmerksam«. 129 Hier verglich sie sich selbst mit ihrem Schwiegersohn Greyerz und kam zu dem Schluß, daß ihrer beider Wesen mit ihrem jeweiligen Geschlecht in Kontrast stünden. Sie definierte ihren Intellekt mithin vor dem Hintergrund des Diskurses über die Geschlechtscharaktere gerade nicht als >weiblichmännlichHerr im Hause< zurückzugewinnen. Nach Hubers Interpretation könnte man sagen: Herder wollte nicht Lehrer sein, wollte seine Rolle innerhalb der Ordnung nicht ausfüllen. In jedem Fall war seine Verweigerungshaltung einer der Faktoren, die die Beziehung zu Schwiegermutter und Ehefrau 1814 zerbrechen ließen. Für ihn stellte sich die Situation anders dar: Obwohl von Huber vorsichtig aufgefordert, ihr Lehrer zu sein, fand er sich doch häufig in der Position ihres Schülers wieder, bis es 1814 zum Eklat kam. Die Tatsache, daß seine Ehe zum Schauplatz des Konflikts wurde, wirft die Frage nach der Rolle der Ehefrau, Luise von Herder, auf. Diese war von ihrer Mutter erzogen und unterrichtet worden - in den Jahren 1 8 1 0 bis 1 8 1 3 (im Alter von 15 bis 18 Jahren) auch und gerade im Hinblick auf die Heirat mit Herder. Angesichts des Scheiterns dieser Ehe stellt sich die Frage nach Hubers Konzept von Töchtererziehung und Herders Ansicht dazu.

7.4. Töchtererziehung als Problem Die Beschäftigung von Frauen mit wissenschaftlichen Themen vergleicht Campe mit der Erbsünde: Einmal vom »eurem Geschlechte verbotenen Baume der gelehrten Erkenntniß« 139 gekostet, führt, so läßt sich die Bibelanspielung interpretieren, kein Weg zurück in den Zustand der Unschuld. Es geht demnach bei der Töchtererziehung um die Bewahrung dieser intellektuellen Unschuld. Die Weitergabe von wissenschaftlichen Kenntnissen an die Töchter, oder die Töchter anzuregen, sich mit den Wissenschaften zu befassen, kommt einer Verführung gleich. So stigmatisiert soll den Frauen das Wissen nicht als kostbares Bildungsgut erscheinen, das vermehrt und erweitert von einer Generation der nächsten übergeben wird. In Hubers oben zitierten Selbstbeschreibungen findet sich diese Idee wieder. So leitet sie ihre Selbstdarstellung als >Sophie< in ihrem Brief an Reinhold folgendermaßen ein: » M e i n e Wahrheit e r k e n n e i c h k l a r , ich beschränke sie in die einfachsten Pflichten meines Geschlechts, also werde ich meine Kinder nie v e r b i l d e n , nie auf mein Geschlecht nachtheilig wirken.« 140 Auch ihre Äußerung gegenüber Herder, sie habe

140

ich in die Freiheit durch Forschen und Wählen schritt« (Therese Huber an J o hann Gotthard Reinhold, 18. Februar 1 8 1 6 , B T H , Bd. 6). Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 46. Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 24. November 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 264).

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einen sehr gewöhnlichen »Weiberkopf« und könne »keine Ideenkette bilden«, sei auf intellektuellem Gebiet allein vom Mann abhängig, mündet in eine dementsprechende Aussage: mit k e i n e m Weib, kann ich diese Dinge sprechen — mit k e i n e m — ich habe eine heilige Ehrfurcht gegen unsre Beschränkung. Ich habe sie für j e d e

Be-

schränkung, daher spreche ich wenig mit meinen Kindern. Sie brauchen meinen Pfad nie zu gehen. 1 4 1

Beiden Aussagen gemein ist, daß Huber jenen verführenden, verbildenden Einfluß auf andere Frauen und auf die eigenen Töchter nicht auszuüben behauptet. Wenn sie ihre eigene Bildung beschrieb, sah sie sich offensichtlich gezwungen, auch auf das Thema Töchtererziehung einzugehen. War Huber aber wirklich wie Sophie und hatte kein Gedächtnis, konnte also nie Gelehrte werden, kein Wissen ansammeln, dann war die Töchtererziehung vor dem Hintergrund der Geschlechterordnung doch kein Problem: Sophie hat kein Wissen, das sie an eine Tochter weitergeben könnte, deren intellektuelle >Unschuld< dadurch zerstört würde. Oder besser gesagt: Sie hat kein Wissen mehr, da sie fast alles vergißt, was Emil ihr beibringt. Doch Huber spricht nicht von ihrem Unvermögen, nachteilig auf die Töchter zu wirken, sondern von einem bewußten Verzicht (»ich beschränke«), d.h. sie hatte dieses Wissen, gab es aber nicht an Frauen oder die Töchter weiter, weil dadurch die Ordnung gestört worden wäre. Für die anderen Frauen war der Erwerb dieses Wissens auch nach Hubers Auffassung nicht statthaft, während es für Huber selbst »Gottesdienst« war und der »Zubereitung zum Tode« diente/ 42 Wieder einmal bekannte sie sich zur Ordnung, stellte sich selbst aber als tolerierbare Ausnahme dar. Daß sie damit ihre Selbstdarstellung als Sophie widerlegte, zeigt nur ihre widerstreitenden Intentionen, sich selbst einmal in, dann wieder außerhalb der Ordnung zu piazieren, je nachdem, was in der jeweiligen Situation gerade opportun erschien. Es konnten sogar zwei einander widersprechende Strategien gleichzeitig eingesetzt werden, um das erwünschte Ziel zu erreichen, nämlich den Mann dazu zu bewegen, eine intellektuelle Verbindung mit Huber einzugehen: Einerseits trat sie dem Mann als Sophie gegenüber und signalisierte ihm damit, daß die Vermittlung des von ihr gewünschten Wissens keine Folgen auf ihre Rollenkonformität, ihre >Weiblichkeit< habe; andererseits zeigte sie sich auf einem ausnahmsweise erlaubten Sonderweg befindlich, so daß der Mann sein 141

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Therese Huber an Emil von Herder, 2. und 3. Februar 1807 ( B T H , Bd. 2, N r . 292). Therese Huber an Emil von Herder, 21. Dezember 1808 ( B T H , Bd. 3).

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Wissen ruhig mit ihr teilen konnte, aber zugleich die Garantie erhielt, daß dieses Wissen von ihr nicht weitergeleitet wurde an die Töchter oder andere Frauen, so daß die Ordnung nicht weiter beeinträchtigt wurde. Allerdings ist diese Inkonsequenz der Argumentation schon durch den Diskurs vorgegeben, der sich bezüglich der These von der Unterlegenheit der Frau meistens doppelt absichert: Die Frau kann aufgrund geistiger Unterlegenheit dies oder jenes nicht, und außerdem soll sie dies oder jenes nicht können, wofür z.B. durch eine entsprechende Erziehung Sorge zu tragen ist. Huber übernahm diese inkonsequente Doppelung kritiklos, wenn sie im Anschluß an Rousseau behauptete, das fehlende Gedächtnis der Frau bewahre sie vor Gelehrsamkeit, und zugleich Gelehrsamkeit, die ja eigentlich nie von einer Frau erreicht werden kann, als unliebenswürdig abstempelte, 143 wodurch ja die Existenz gelehrter Frauen implizit von ihr vorausgesetzt wurde. Vielleicht war Huber dieser Widerspruch im Diskurs und in der an ihn angelehnten eigenen Argumentation nicht bewußt. Vielleicht war die Macht des Diskurses so groß, daß Huber seine Logik nicht in Frage zu stellen wagte. Möglicherweise wollte sie aber auch nur die Erwartung der von ihr umworbenen Männer als Kenner und Vertreter des Diskurses erfüllen und bediente sie mit den ihnen bekannten Stichwörtern und Argumentationsmustern. Zugleich benutzte sie den Diskurs auch, um vorsichtig Druck auf die Männer, besonders auf Herder, auszuüben: Da die Geschlechterordnung es der >wissenden< Huber verbot, eine intellektuelle Verbindung mit Frauen beziehungsweise den Töchtern einzugehen, weil diese dadurch nachteilig beeinflußt worden wären, kam nur ein Mann als Bezugsperson in Frage. Huber war sich, als sie ihre Selbstbeschreibungen 1806/07 verfaßte, also angeblich bewußt, daß wissenschaftliche Bildung für die Frau ein gefährliches Gut sei, das über den Weg der Töchtererziehung nicht weitergegeben werden dürfe, wenn die Geschlechterordnung nicht beeinträchtigt werden sollte. Trotzdem wurde das Bildungsniveau ihrer Töchter, insbesondere von Luise Huber, zu einem Problem. Die jüngste Tochter Luise wurde von Huber mehrere Stunden am Tag zu festgesetzten Zeiten unterrichtet und zwar in Geschichte, Geographie, Naturgeschichte, französischer Grammatik und Englisch. Dieser Unterricht wurde ergänzt durch die gemeinsame Lektüre von Reisebeschreibungen und Geschichtsbüchern im größeren Familienkreis oder auch mit der Mutter allein, die die Tochter auf diese Weise an dem für sich selbst

143

Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 24. November 1806 ( B T H , Bd. 2, Nr. 264). 208

f e s t g e s e t z t e n B i l d u n g s p r o g r a m m teilhaben ließ. A u ß e r d e m las die T o c h ter H o m e r u n d a n d e r e A u t o r e n des g r i e c h i s c h e n A l t e r t u m s in U b e r s e t z u n g e n , bildete sich a u t o d i d a k t i s c h u n t e r d e n A u g e n d e r M u t t e r , d.h. mit i h r e r E r l a u b n i s u n d u n t e r ihrer K o n t r o l l e , w e i t e r . A b g e r u n d e t w u r d e die A u s b i l d u n g d u r c h einige R e i s e n , z . B . n a c h G ö t t i n g e n , Stuttgart, I n n s b r u c k u n d in die S c h w e i z . I m U n t e r s c h i e d z u i h r e r eigenen A u s b i l d u n g , die H u b e r als u n s y s t e m a t i s c h u n d u n g e n ü g e n d b e s c h r i e b (s. K a p . 2.2), b e m ü h t e sie sich, d e r T o c h t e r L u i s e einen r e g e l m ä ß i g e n , s y s t e m a t i s c h e n , m e t h o d i s c h d u r c h d a c h t e n u n d a m eigenen K e n n t n i s s t a n d

orientierten

U n t e r r i c h t z u g e b e n / 4 4 L e t z t e r e s b e d e u t e t e a b e r auch, daß, anders als v o n H u b e r a n g e k ü n d i g t , die T o c h t e r Z u g a n g z u d e m i h r eigentlich v e r b o t e n e n W i s s e n erhielt. D a s alles e n t s p r a c h keinesfalls d e r E r z i e h u n g , die R o u s s e a u s S o p h i e d u r c h ihre M u t t e r erhält. Selbst die b e i d e n B ü c h e r , die S o p h i e v o r der B e g e g n u n g mit E m i l gelesen hat, s i n d i h r nicht i m m ü t t e r l i c h e n U n t e r richt, s o n d e r n n u r d u r c h Z u f a l l z u g e k o m m e n (s. K a p . 7 . 1 ) . H o m e r k e n n e n S o p h i e u n d a u c h ihre M u t t e r ü b e r h a u p t nicht, w o h l a b e r die M ä n 144

Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 3 o.Juli und 1 1 . August 1807; an Elisabeth von Struve, J.Dezember 1807; an Mariette Hartmann, 12. April 1808; an Christian Gottlob Heyne, 12. Dezember 1808; an Emil von Herder, 24. Februar 1809 ( B T H , Bd. 3); 22. März 1 8 1 1 und 28. April 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 189 und 207); an Therese Forster, 18. und 19. Februar 1 8 1 2 ; an Luise Huber, 22. Juli 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 14 und 72); über das gemeinsame Lesen von Mutter und Tochter s. Therese Huber an Emil von Herder, 16. N o vember 1 8 1 1 ; 28. November 1 8 1 1 ( B T H , Bd. 4, N r . 280 und 283); es geht um die Lektüre von: Charles-Franjois Dupuis: Origine de tous les cultes, ou Religion universelle. Bd. 1 - 4 . Paris an III [1795], ein Buch, das Huber eigens aus der Münchener Hofbibliothek entliehen hatte und das ihrem schon seit längerem bestehenden Interesse an wissenschaftlicher Literatur über Religionen und M y then (Pai'sen, Inder) entsprach. Im Jahr 1 8 1 2 setzte sie mit der Lektüre von Veröffentlichungen von Creuzer, Görres und Kanne in Abwesenheit Luises ihre Studien auf diesem Gebiet fort und empfahl der Tochter, diese Bücher, ausgehend von der Dupuis-Lektüre, später mit Emil von Herder zu lesen (Therese Huber an Luise Huber, 24. August 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 93)). Schon an diesem Beispiel wird erkennbar, daß Huber durchaus darum bemüht war, ihren Töchtern - dieselbe Lektüreempfehlung gab sie auch Therese Forster (Therese H u ber an Therese Forster, 28. bis 3 1 . Dezember 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 124)) — eine Bildung zukommen zu lassen, die ihrem eigenen Bildungsniveau entsprach. Damit ist die auch auf die Verbindung zwischen Therese und Luise Huber bezogene Behauptung von Eva Walter widerlegt, es bestehe ein »großer Unterschied [...] zwischen der Erziehung, die die Schriftstellerinnen als Kinder erhalten hatten, und derjenigen, die sie den eigenen Töchtern zukommen ließen. Die Töchter wurden in einem ausgeprägten weiblichen Rollenschema erzogen. Allzuviel Bildung wurde ihnen nicht gestattet, sie erhielten nicht einmal den Grad an Bildung, den ihre Mütter hatten« (Walter: Schrieb oft, von Mägde Arbeit müde, S. 15 jf.). 209

ner, nämlich der Erzieher und Emil. 145 Campe, der den Töchtern eine ganz bestimmte Auswahl von Lektüre und mündlichen Unterricht zubilligt, dürfte mit Hubers Programm für die Tochter auch nicht ganz zufrieden gewesen sein. Er wünscht zwar, daß die Töchter eine »allgemeine Uebersicht« von der »Geschichte und Erdbeschreibung« erhalten, aber »nicht mit völliger [...] Genauigkeit«, 146 wie sie sich Luise Huber (sicher nach dem Vorbild oder der Empfehlung ihrer Mutter) z.B. anhand ihrer durch das Studium von Karten begleiteten Lektüre antiker Literatur anzueignen versuchte. 147 Fremdsprachen zu erlernen, hält Campe sogar für »unnütz« und »schädlich«. 148 Die Literatur der griechischen Antike steht nicht auf der Liste der von ihm empfohlenen Lektüre für die Tochter. Brandes schließlich spricht sich nicht gegen den Fremdsprachenunterricht aus, verurteilt aber das Reisen als Mittel der Fortbildung besonders bei Frauen, steht es doch der »Anhänglichkeit der Weiber an die nächsten ihnen angehörigen Menschen, an ihr Hauswesen« entgegen. 149 So gab es also mehrere Punkte, in denen Hubers Unterrichtsplan den Vorstellungen dieser Autoren widersprach. Zieht man zu seiner Beurteilung die Lehrpläne der zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu entstehenden Mädchenschulen heran, der sogenannten höheren Töchterschulen, zeigt sich, daß beispielsweise der Französischunterricht durchaus üblich war. Weiterhin gehörten zum Fächerkanon vor allem Handarbeiten, dann auch »Lesen, Schreiben und Rechnen, und richtiges Teutsch« sowie Geschichte, Geographie und »Vorkenntnisse der Phisik und Naturgeschichte«. 1 ' 0 Den größten Raum nahm der Moral- und Religionsunterricht ein. ISI Von diesem Kanon wich Huber zwar nicht mit ihrem Französisch- wohl aber mit dem damals noch unüblichen Englischunterricht ab. 1 ' 2 Dem Religionsunterricht scheint sie weniger Beachtung geschenkt

145 146 147 148 I4? 150

1.1

1.2

Rousseau: Emil, S.461. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. i02f. Therese Huber an Christian Gottlob Heyne, 12. Dezember 1808 ( B T H , Bd. 3). Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 1 1 4 . Brandes: Betrachtungen über das weibliche Geschlecht, T. 2, S. 434. Zitiert aus der gedruckten Ankündigung der Töchterschule von Anne Corrigeux, Bremen 1806; Faksimile in: Wiltrud Ulrike Drechsel (Hg.): Höhere Töchter. Zur Sozialisation bürgerlicher Mädchen im 19. Jahrhundert. Bremen 2001, S. 14. Die in dieser Ankündigung aufgezählte Fächerauswahl kann als repräsentativ für den »Kern des höheren weiblichen Bildungswissens« am Anfang des 19. Jahrhunderts gelten (Ebenda, S. 19). Ira Spieker: Bürgerliche Mädchen im 19. Jahundert. Erziehung und Bildung in Göttingen 1806-1866. Göttingen 1990, S. 51t.; Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit, S. i68f. Ira Spieker: Bürgerliche Mädchen im 19. Jahundert, S. 54.

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zu haben oder sie erteilte ihn zumindest unter anderem Vorzeichen als gewöhnlich, nämlich »in Rücksicht der Kirchenlehrsäze ganz historisch«.153 Und fragt man nach der Qualität etwa des Geschichtsunterrichts an den Schulen, so vermittelten die gemeinsam mit der Mutter unternommenen Lektüren Luise sehr viel tiefergehende Kenntnisse. An manchen Schulen bestand er lediglich aus ausgewählten »Schilderungen herausragender Persönlichkeiten, zumeist Frauen, anhand deren Biographien die wichtigsten historischen Ereignisse festgemacht wurden.«154 Insgesamt kann man festhalten, daß Luise Huber eine vergleichsweise gute Bildung durch ihre Mutter erhielt. Der Unterschied zum in den Schulen vermittelten Wissensstand war dabei geringer als zu den diesbezüglichen Vorstellungen, die Campe vertrat und besonders Rousseau im Emil anhand Sophies vorführte. Vor dem Hintergrund der schulischen Lehrpläne wird daher eher als beim Vergleich mit dem Emil verständlich, warum Huber ihr Bildungsprogramm für die Tochter vielleicht für fortschrittlich, aber nicht unbedingt für normverletzend hielt. Nur so läßt sich erklären, daß sie Freunde darum bat, ihr weitere, zahlende Schülerinnen zu verschaffen, die sie so bilden wollte, daß sie »meiner Luise gleichen«.1" Sie sah hier kein Problem, denn das Ergebnis dieser Ausbildung sollten laut Huber Frauen sein, die »nicht gelehrt, aber zum Geist und Gemütvollen Weibe gebildet«1'6 seien. Auch wenn sie in einigen Punkten mit ihrem Töchterunterricht über Brandes und Campe hinausging, bestand sie darauf, sich noch innerhalb der Toleranzgrenzen des Diskurses zu bewegen, der einhellig die »gelehrte Frau< verurteilte, aber die gebildete Frau< nicht nur akzeptierte, sondern als Ideal vorführte.1'7 Hubers Interpretation dieser beiden für die Diskussion über weibliche Bildung zentralen Begriffe wurde aber nicht unbedingt von ihren Mitmenschen geteilt. Als gelehrt galt ja nicht erst die akademisch ausgebildete Frau,158 so klar war das unerlaubte Wis153 154 155

156 157

158

Therese Huber an August Hartmann, 14. Juni 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 74). Ira Spieker: Bürgerliche Mädchen im 19. Jahundert, S. 52. Therese Huber an Carl August Böttiger, 13. März 1809 ( B T H , Bd. 3, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. h 37, Bd. 94 (4°), N r . 50). Therese Huber an Caroline Carus, 5. März 1809 ( B T H , Bd. 3). Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, Bd. 3, S. 301: »Eure Gattinn sey keine - G e l e h r t e , k e i n e S c h r i f t s t e l l e r i n n ; aber ein Weib von gebildetem Verstände«; Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit, S. 177. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 528: Mit dem Begriff der »weiblichen Gelehrsamkeit«, war »nicht die männliche Gelehrsamkeit, wie sie im ernsthaften Studium an den Universitäten erworben wurde, gemeint«.

211

sen vom erlaubten nicht abgegrenzt. Entscheidend für die Bestimmung der Grenze zwischen >gebildet< und >gelehrt< war die Vereinbarkeit der Bildung mit der >weiblichen Bestimmungalle Geistesbildungihren Künftigen Manne nichts nuzen, wenn sie keine thätige Hausfrau seiProblem< Luise, die als Emilies Mitschülerin derselben Kritik ausgesetzt werden konnte, wird in Hubers Brief nicht erwähnt. Aber in einem Brief an Christian Gottlob Heyne behauptet sie auch im Hinblick auf Luise die Vereinbarkeit von Lernen und Hausarbeit: Wie manchen Zug aus der Geschichte, wie manches geistübende Spiel, oder intereßante Gespräch hatten wir nicht beim Krautschneiden, Bügeln, oder Schneidern. Ich hatte nie Zeit meinen Töchtern regelmäßige Lexion zu geben, und sie wißen manches, und intereßiren sich für alles. 1 6 1

Die Aussage über die »Lexion« steht wieder im Widerspruch zu den vielen früher und auch später geschriebenen Briefen, in denen Huber über den regelmäßigen Unterricht berichtet. Wenn Kritik erfolgte oder, wie im Falle des auf Rollenkonformität achtenden Heyne, zu erwarten war,

160 161

Therese Huber an Mariette Hartmann, 17. Dezember 1808 ( B T H , Bd. 3), w o sie aus dem unbekannten Brief Hartmanns zitierte. Therese Huber an Mariette Hartmann, 17. Dezember 1808 ( B T H , Bd. 3). Therese Huber an Christian Gottlob Heyne, 26. Mai 1808 ( B T H , Bd. 3).

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stellte sie i h r e T ö c h t e r e r z i e h u n g a l s o a n d e r s d a r . Sie g a b i h r P r o g r a m m n i c h t a u f , a b e r w i c h t i g e r als s e i n e V e r t e i d i g u n g w a r f ü r sie, d i e T o c h t e r L u i s e v o r d e m V o r w u r f d e r >Gelehrtheit< z u s c h ü t z e n . W i e s c h o n z u v o r s i c h s e l b s t , r ü c k t e sie L u i s e i n d i e N ä h e v o n R o u s s e a u s S o p h i e : ihr Gedächtmß ist nicht fest, also ist keine Folge m ihren Kenntnißen — sie hat nirgend systematischen Unterricht, also ists oberflächlich — nein, vielmehr ungleich tief und seicht - aber reiner, offner, edler, kann kein f ü n f z e h n jähriges gebildetes Mädchen sein. 1 6 2 D i e s e m Bild entsprachen die v o n der M u t t e r der T o c h t e r gegebenen V e r haltensmaßregeln. A l s L u i s e H u b e r sich 1 8 1 2 f ü r einige W o c h e n in Innsb r u c k a u f h i e l t , riet H u b e r i h r : tache de mettre tant d'indifference que possible dans tes soins ä te procurer des livres, pour eviter tout GELEHRTES ANSEHEN, ne parle jamais de nos lecture favorites, et evite meme de trahir que tu Connoisses nos WERTHE ALTE FREUNDE HOMER UND SEINE HELDEN, les femmes s'en offencent et les h o m ines s'en moquent. 1 '' 3 H u b e r w a r sich also spätestens zu diesem Z e i t p u n k t sehr w o h l b e w u ß t , d a ß L u i s e s B i l d u n g ü b e r das v o n d e r G e s e l l s c h a f t b e i e i n e r F r a u g e d u l d e t e W i s s e n h i n a u s g i n g . Sie s e l b s t s p r i c h t a l l e r d i n g s n i c h t v o n L u i s e als >gelehrtgebildet< u n d >gelehrt< w e i t e r h i n f e s t . S o g a r T h e r e s e Forster, die selbst eine gute B i l d u n g erhalten hatte,164 zeigte sich angesichts der E n t w i c k l u n g der B i l d u n g ihrer S c h w e s t e r L u i s e beunruhigt. H u b e r entgegnete: tu te f o r m e une ide'e bizzarre du penchant de Louise ä s'instruire si cela te fait Souvenir des femmes Savantes. Sans doute que son esprit differe de celui d'une femme forme par des romans occuppe par les modes, et distraits par la societe, aussi de Celles qui n'ayant lu que des romans, ou des romans par preferances ne sont applique qu'a leur me'nage et les epines de la vie m a t r i m o n i a l e

162

163 164

- sa

Therese H u b e r an J o h a n n Gotthard Reinhold, 14. Dezember 1809 ( B T H , Bd. 3). Therese H u b e r an Luise H u b e r , 22. Juli 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 72). Kerstin Beimdiek: Untersuchung der Mutter-Tochter-Beziehung Therese H u b e r - Therese Forster in ausgewählten Briefen der Colombier-Zeit ( 1 8 0 1 1805). Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Osnabrück 1992; Magdalene Heuser: »Therese ist der Contrast meines Wesens«. Therese Hubers Briefe an ihre Tochter Therese Forster 1 7 9 7 - 1 8 2 8 . In: Irmgard Roebling, W o l f r a m Mauser (Hg.): Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift f ü r Verena Ehrich-Haefeli. W ü r z b u r g 1996, S. 1 3 1 - 1 4 6 . 2 I

3

tournure ä eile vient du hazard qui lui a mit entre les mains les auteurs classiques avant d'autres livres, et l'histoire - puis la solitude et des voyages - cela a developpe une grande energie mais aussi de la roideur et d e s a n g l e s que la maturite de Tage seul peut emousse. Etant propablement destine a etre assorte avec Emile, ces traits de Caractere lui seront tre's utile, car Emile a plus d'exaltation que d'energie et une arne tellement aimante qu'elle eblouit sa raison qui est tres superieure, tres exercee et penetrante, mais sa LLEBENSSUCHT la seduit et la met hors d'activite'. Louise aura la superiorite du Caracte're et lui celle de la raison et de la bonte', cela ira bien. teile etoit l'amalgame entre papa Huber et moi, et cela alloit bien. 1 6 '

Von Hubers Unterricht ist hier gar nicht mehr die Rede, sondern nur noch vom autodidaktischen Wissenserwerb der Tochter. Sogar die gemeinsame Lektüre, das verbindende Interesse etwa an Homer (»nos WERTHE ALTE FREUNDE H O M E R UND SEINE H E L D E N « (s.o.)), werden nicht erwähnt zu Gunsten der Darstellung vom zufällig in die Hände gefallenen Buch, genau wie »Barreme und Telemach« Rousseaus Sophie »zufällig in die Hände gefallen« 166 sind. Als Ergebnis dieser Bildung entwickele Luise keinen über das Erlaubte hinausgehenden Wissensstand, sondern eine große Energie. Es profitiere also in erster Linie nicht ihr Intellekt, sondern ihr Charakter. Außerdem stellt Huber die Bildung der Tochter in den Zusammenhang der geplanten Ehe mit Herder. Hier waren ihre durch ihre Bildung hervorgebrachten charakterlichen Vorzüge wünschenswert. Die Hierarchie auf intellektuellem Gebiet blieb in dieser Beziehung diskurskonform, da Herder seiner Braut in diesem Punkt überlegen war, so Huber. In der Verbindung mit dem an Vernunft überlegenen Mann hatte Luises Bildung ihre Berechtigung. Damit war beispielsweise nicht allein der Fächerkanon, nach dem Campe die Grenzen weiblicher Bildung für alle dem bürgerlichen Stand angehörenden Frauen in gleicher Weise festsetzen wollte, ausschlaggebend, wenn es um die Frage der Einhaltung der Ordnung ging. Die intellektuellen Fähigkeiten des jeweiligen Ehemannes spielten bei der Beantwortung dieser Frage eine wichtigere Rolle. Ganz anders urteilte Herders Freund Schubert über Luise Hubers Bildung. Uber das Scheitern der Herder-Ehe schrieb er in einem Brief an eine Bekannte, Helene von Kügelgen: Mein Jugendfreund und Bruder, Emil Herder, hat sich auch vor kurzem verheiratet, mit einer Tochter jener Madame Huber, die vorher eine Gemahlin des herrlichen Georg Forsters war [...]. Die Neuvermählte meines Emil, ist ein 165

166

Therese Huber an Therese Forster, 18. und 19. Februar 1 8 1 2 ( B T H , Bd. 5, N r . 14). Rousseau: Emil, S.448. 214

Weib voll Geist und Bildung, eine sogenannte Gelehrte, er aber ist ein Mann ohngefähr wie ich, ohne sonderliche Freude an dem täglichen Spectakel der großen vornehmen Welt, an täglichen Theevisiten, Gesellschaftsgärten, Opern und solcher Waare mehr. Sie aber, ganz natürlich, ist geeignet zu glänzen und will denn auch glänzen vor den Leuten, er soll mit, mag aber nicht, ο da giebts dann Dissonanzen! leider solche, daß sie schon wieder von ihm gegangen ist zu ihrer Mutter und daß die Rede von Scheidung ist. Und er ist so eine Seele voll Liebe! 1 6 ?

Da Schubert seinen Freund und dessen Frau nicht besucht hat, gibt er hier nicht seine eigenen Beobachtungen wieder, sondern vermutlich Herders Interpretation der Ereignisse. Als Grund für die Trennung von seiner Frau hätte dieser dann also ein Mißverhältnis angegeben, das den intellektuellen Bereich der Beziehung betraf, nicht etwa Luise von Herders Zuneigung für Alphonse de Sandoz-Rollin oder die Konflikte mit Huber, die die Ehe so stark belasteten, daß Herder ihr sein Haus verbot. 168 Diese anderen »Dissonanzen« mußten auch nicht erwähnt werden, denn angesichts der Diffamierung der sogenannten >gelehrten Frauen< durch den Diskurs war Schuberts (beziehungsweise Herders) Erklärung ausreichend, um das Ende der Ehe anderen Personen schlüssig begründen zu können. Diesen Konsens in der Beurteilung der >gelehrten Frau< setzte Schubert auch ganz selbstverständlich voraus: Er erwartete keinen Widerspruch, auch nicht von der Adressatin seines Briefes, Helene von Kügelgen, die selbst als Malerin hervorgetreten und damit durchaus »geeignet zu glänzen« war. Seine Kritik traf auch eigentlich nicht das Bildungsniveau der Frau an sich, sondern galt dem, was daraus folgte: Sie kann nicht nur durch ihre Bildung glänzen, sie will es auch und strebt nach der Anerkennung durch andere. »Von der Höhe ihres Genies aus verachtet sie alle ihre fraulichen Pflichten« als Hausfrau, Ehefrau und Mutter, urteilt Rousseau über den weiblichen »Schöngeist«; ihr »Ruhm liegt« dann nicht mehr »in der Achtung ihres Gatten«, 169 sondern sie sucht sich ein größeres Publikum, d.h. der Ehemann ist nicht mehr Zentrum im Leben der Frau. Genau diesen Vorwurf macht Schubert Luise von Herder. Er führt dies noch weiter aus, indem er einen Vergleich mit seiner eigenen Ehefrau Julie hinzufügt: Nein Gott Lob! mein Weib denkt täglich nur darauf wie sie Gott und mir gefallen will, Gesellschaft sucht sie nicht, außer der meinen, und mag nicht seyn w o ich nicht auch bin, unser Concert- und Ballsaal ist das freie Feld, w o sie mir 167

168

169

Gotthilf Heinrich Schubert an Helene von Kügelgen, 27. Mai 1 8 1 4 (Bonwetsch: Gotthilf Heinrich Schubert, S. 279t.). Therese Huber an Carl August Böttiger, 19. bis 23.Dezember 1814; ß.Oktober 1 8 1 5 ( B T H , Bd. 5, N r . 261 und Bd. 6). Rousseau: Emil, S. 447. 215

täglich Kräuter und Blumen suchen hilft, ihre Freude und ihr Glück ist wenn ich froh und glücklich bin; sie ist blos traurig wenn sie mich traurig sieht, was Gott Lob! selten ist [...]. 1 7 0

In ihrem Selbstverständnis, ihrer Tätigkeit, ihren Wünschen und Gefühlen war Julie Schubert, folgt man der Beschreibung ihres Mannes, ganz auf diesen fixiert und von ihm so weit abhängig, daß sie sogar keines autonomen Stimmungswechsels fähig war. So konnte sie mit ihrem Mann wirklich im Einklang leben im Unterschied zu den »Dissonanzen« in der Herderschen Ehe.171 Schubert interpretierte damit den Bruch zwischen Herder und seiner Frau im Sinne einer dem Diskurs nach - der durch das Stichwort >gelehrte Frau< von Schubert ins Spiel gebracht wurde - unerlaubten Emanzipation der Frau von ihrem Mann und ihrer weiblichen Bestimmung infolge ihres hohen Bildungsniveaus. Die intellektuellen Fähigkeiten des Ehemannes spielten für Schubert, anders als für Huber, keine Rolle bei der Beurteilung der Bildung Luises. Zusammenfassend kann man sagen: Luise Huber-von Herders Bildung wurde mehrfach als >gelehrt< kritisiert. Obwohl Therese Huber sich des Urteils der Umwelt bewußt war, reagierte sie darauf nicht mit Zurücknahme des von ihr verantworteten Bildungsprogramms, sondern einerseits mit einer Systemkonformität demonstrierenden Verschleierungstaktik (z.B. gegenüber Heyne) und andererseits mit dem Hinweis auf Herders intellektuelle Überlegenheit, die die Einhaltung der Geschlechterordnung in dieser Verbindung sicherte. Die Kritik Schuberts (und vermutlich Herders) zielte dagegen nicht auf die hierarchischen Verhältnisse in der Ehe, sondern auf einen anderen Aspekt: das Gebot der Häuslichkeit. Lebensmittelpunkt der Frau sollten der Ehemann und die Familie sein. Herder scheint übrigens, soweit die Uberlieferungslage es zuläßt, darüber zu urteilen, vor seiner Heirat keine Bedenken hinsichtlich Luise Hubers Bildung geäußert zu haben. Durch Briefe ihrer Mutter war er 170

171

Gotthilf Heinrich Schubert an Helene von Kügelgen, 27. Mai 1 8 1 4 (Bonwetsch: Gotthilf Heinrich Schubert, S. 280). Gegen gebildete Frauen hatte Schubert nichts einzuwenden. Begeistert äußerte er sich beispielsweise über die Mutter seines Freundes, Caroline Herder, die Ehefrau Johann Gottfried Herders: »Seine Frau ist ein Weib, das an Bildung wenige ihres Gleichen hat, und diese Bildung ist größtentheils ihres Mannes Werk. Sie hat seine Schriften studirt, Stellen excerpirt usw. Ihre Unterhaltung ist sehr viel werth, denn sie ist eine sehr feine Menschenkennerin. Dabei ist sie so gütig, so sanft gegen alle.« (Gotthilf Heinrich Schubert an seine Schwester, 1798, Bonwetsch: Gotthilf Heinrich Schubert, S. 7) Entscheidend ist hier, daß der Ehemann erstens als Lehrer auftrat und zweitens dadurch den Mittelpunkt im Leben seiner Frau bildete, auch in intellektueller Hinsicht. 216

über den Unterricht und die Lernfortschritte seiner Braut informiert. 172 Da er sich mit Huber über das Thema Töchtererziehung und den später strittigen Punkt >weibliche Häuslichkeit< bereits Jahre vor der Eheschließung auf theoretischer Ebene meinte geeinigt zu haben, bestand für ihn auch kein Anlaß zur Kritik. Huber äußerte sich 1809 allgemein zur Rolle der Frau als Lehrerin ihrer Töchter wie folgt: Die weibliche Bildung möchte ich aber ganz den Müttern laßen, ja auch den Weiblichen Unterricht - was ein Mädchen nicht von der Mutter an Wißenschaft lernen kann, mag sie entbehren — empfänglich für Kenntmße kann sie die Mutter gewiß machen, dann bilde der Mann sie weiter aus, und da wir die Hülfsquelle des Lesens haben wird dann Lektüre, und Gespräch, eine viel beßre Bildungsait als L e x i o n e n - außerdem wird das Misverhältniß zwischen so genannten gebildeten Weibern, und ungebildeten Gatten nicht so schreiend werden - wenn unsre Männer sind wie ich sie will, werden sie gern - ja es wird ihnen Bedürfniß sein ihr Weib mit liebender Hand auszubilden/ 7 3

Ganz im Sinne Rousseaus formuliert Huber die Aufgabe der Mutter, die Tochter auf den späteren Unterricht durch den Ehemann vorzubereiten, indem sie sie »empfänglich für Kenntniße« macht. 174 Die Vermittlung der Kenntnisse selbst durch Lektüre und Gespräch bleibt dann dem Ehemann vorbehalten, wie bei Rousseau. Der Mann ist der Lehrer, die Frau die Schülerin (s. Kap. 7.1). Brandes' Bevorzugung des Gesprächs als Mittel der Wissensvermittlung gegenüber systematischen Lektionen wurde bereits erwähnt. So knüpft Huber in ihrer theoretischen Betrachtung des Themas in mehreren Punkten an den Diskurs an. Problematisch ist dagegen der Begriff »Wißenschaft«, denn »die logischen Wissenschaften«, so Rousseau, dürfen die Frauen »nur streifen«. 175 Aber mehr als ein >Streifen< scheint hier von Huber auch nicht intendiert zu sein, denn als ein Ergebnis der mütterlichen Erziehung soll ja erreicht werden, daß »das Misverhältniß zwischen so genannten gebildeten Weibern, und ungebildeten Gatten nicht so schreiend« wird. Und indem der Mann als Lehrer seiner Ehefrau in Hubers Konzept auftritt, ist ja implizit festgelegt, daß die durch die Mutter gebildete Frau ihrem Ehemann an Kenntnissen unterlegen ist. Die Bildung durch die Mutter sollte also die Einhaltung der Geschlechterordnung garantieren.

172 173 174

175

Therese Huber an Emil von Herder, 24. Februar 1809 ( B T H , Bd. 3). Therese Huber an Emil von Herder, 2. April 1809 ( B T H , Bd. 3). Rousseau: Emil, S.448: »Sie hat kein Fachwissen, aber ihr Geist ist zum Lernen geschult. Er ist ein gut bearbeiteter Boden, der nur auf das Samenkorn wartet, um Früchte zu tragen.« Rousseau: Emil, S.468. 2I

7

Ein Vergleich zwischen Hubers Brief an Herder aus dem Jahr 1809 und ihrem 1 8 1 1 anonym erschienenen Aufsatz Ueber die Ansprache weiblichen

Geschlechtes zu höherer Geisteskultur

176

des

führt zu interessanten

Ergebnissen. In dem Aufsatz ist der Ehemann nicht mehr als Wissensvermittler vorgesehen. Die Mutter ist jetzt die alleinige Ausbilderin der Frau. Allerdings heißt das nicht, daß das Wissensniveau der Frauen damit auf einem niedrigen Stand stehen bleibt, weil die zweite, anspruchsvollere Ausbildungsstufe mit dem Ehemann als Lehrer fehlt. Die Frau »soll genug allgemeine Kenntnisse erwerben, um an allem Wissenswürdigen, an allem, was das Menschenwohl befördert, an allem, was ihrem Vaterlande, oder vielmehr ihres Gatten Vaterlande, wichtig ist, theilnehmen zu können.« 177 Demnach gibt es keine inhaltliche Begrenzung des Bildungsniveaus der Frau. Sie kann sich mit Politik, Sozialem, Religion, Wirtschaft und anderen Themen beschäftigen. Da der Mann als Lehrer nicht mehr auftritt, ist er zugleich auch keine Kontrollinstanz mehr. Er ist zwar noch Bezugspunkt für die Ausbildung der Frau (»ihres Gatten Vaterlande«), die Frau soll auch mit dem Ziel unterrichtet werden, »ihres Mannes Gesellschafterinn zu seyn«, 178 aber sie hat daneben ihre eigenen Interessen. Sie kann nicht nur aufgrund ihrer Bildung »mit Leichtigkeit« an der intellektuellen Beschäftigung des Mannes teilhaben, sondern diesen »zu ihrem Lieblingsfache herüberschmeicheln«. 179 Eine solche Eigeninitiative der Frau im geistigen Miteinander der Eheleute steht im Widerspruch zu Rousseaus Forderung: »Statt ihn ihren Neigungen zu unterwerfen, nimmt sie seine an.« lSo Scheint im Brief von 1809 das Wissen der Mutter eine Begrenzung des Wissens der Tochter zu bedeuten (»was ein Mädchen nicht von der Mutter an Wißenschaft lernen kann, mag sie entbehren«), fordert Huber in ihrem Aufsatz die Mutter auf, ihren Kenntnisstand so weit auszudehnen, »wie sie bedarf, um ihre Tochter einst wieder zu unterrichten«, 181 d.h. das Wissen der Mutter richtet sich nach dem oben genannten erstrebten Bildungsziel für die Tochter und ist damit ebenfalls 176

177

178

179

lSo 181

In: Morgenblatt für gebildete Stände, N r . 2 8 9 ( 3 . 1 2 . 1 8 1 1 ) , S. 1153—1155, hier: S . 1 1 5 4 ; auch abgedruckt in: Andrea Hahn (Hg.): Die reinste Freiheitshebe, die reinste Männerliebe, S. 1 5 0 - 1 5 5 . Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5. Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5. Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5. Rousseau: Emil, S.449. Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5. 218

keiner inhaltlichen Begrenzung mehr unterworfen. Die Konzession an den Diskurs besteht in Hubers Mahnung zur »größern Häuslichkeit«, d.h. »Brotwissenschafft treiben« oder »Belletristinn«, Schriftstellerin werden, soll die Frau nicht.182 Nicht die Begrenzung weiblichen Wissens, wie sie bei Campe und anderen zu finden ist, sondern das Wissen selbst führt, so Huber, zur Liebe für die >weibliche< Bestimmung und damit zur Einhaltung der Geschlechterordnung. Mutter und Tochter sind frei in ihrer intellektuellen Ausbildung. Das geistige Miteinander zwischen Ehefrau und Ehemann nähert sich dem einer ebenbürtigen Partnerschaft, in der der eine an den Interessen des anderen Anteil nimmt. Die Aufteilung in eine Berufswelt für den Mann (»Bürger und Staatsmann«183) und eine auf die Familie zentrierte Welt für die Frau (»Pflegerinn der Kinder, Vorsteherinn des Haushalts«184) bleibt nicht nur analog zum Diskurs auch bei Huber bestehen, sondern wird durch die mütterlich-häusliche Ausbildung der Tochter erst erreicht. In diesem Szenario hatte die tatsächlich von Huber durchgeführte Ausbildung ihrer Tochter Luise ihren Platz - vielleicht mit Ausnahme des Reisens. Und auch Hubers eigenes Interesse für Politik usw. war durch dieses System der Töchtererziehung gerechtfertigt, denn als Mutter einer zu erziehenden Tochter mußte sie sich z.B. über Politik informieren. Was sie noch brauchte, war die Zustimmung des Mannes zu ihren Ideen. Und die erhielt sie auch: »ein Aufsaz über weibliche Bildung der von mir ist (im Dez ember) hat sogar Emils entschiedne Abneigung gegen mein Geschreibsel überwunden - er hat mir Huldvoll sein, und Lerchenfelds Beifall bezeigt«.185 Sie bedankte sich bei Herder für sein Lob: »Dein u Maxens [= Maximilian von Lerchenfeld, PW] Beifall über den Aufsaz im Morgenblatt ist mir lieb.«186 Denkt man z.B. an Hubers Auseinandersetzungen mit Herder über das Thema >Frau und Politik< (Kap. 7.2), überrascht diese Einigkeit doch ein wenig. Allerdings hat sich Huber bei ihrer Argumentation alle erdenkliche Mühe gegeben, um die Zustimmung ihrer männlichen Leser zu gewinnen. An den Beginn ihrer Ausführungen stellt sie die dem Diskurs 182

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Huben Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes kultur, S. 1 1 5 5. Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes kultur, S. 1 1 5 3 . Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes kultur, S. 1 1 5 3 . Therese Huber an Therese Forster, 24. Januar 1 8 1 2 ( B T H , Kapitälchen zur Markierung eines Schriftwechsels). Therese Huber an Emil von Herder, 22. Januar 1 8 1 2 ( B T H ,

zu höherer Geisteszu höherer Geisteszu höherer GeistesBd. 5, N r . 6; hier in Bd. 5, N r . 5).

219

über die Geschlechterpolarität entnommene These von der natürlichen Andersartigkeit, unterschiedlichen Bestimmung und der erst durch diese Verschiedenheiten ermöglichten gegenseitigen Ergänzung von Mann und Frau. Indem sie von einem nie zu vereinigenden, nie zu vertauschenden Unterschied beider Geschlechter spricht, 187 zeigt sie sich als Anhängerin von Rousseau und Campe und nicht als Sympathisantin Schlegels (vgl. Kap. 6.2). Auf dieser Basis baut sie eine Argumentation auf, die sich im Vokabular und methodisch konsequent an den Diskurs anlehnt. So unterscheidet sie zwischen natürlichen, liebenswürdigen, weiblichen Frauen und solchen, die unnatürlich, also unliebenswürdig und unweiblich sind. Analog dazu gibt es >männliche< und >ausgearteteunmännliche< Männer. Erstere wissen, »daß wahre Geistesbildung das Gefühl für die Pflicht erhöht«, 189 und stimmen daher Hubers Ideen zu, während die >ausgearteten< Männer, zu denen Herder und Lerchenfeld sich offensichtlich nicht zählen wollten, dies nicht tun. Es fallen also die gleichen Stichworte, wie sie im Diskurs zu finden sind und mit denen Rousseau und seine Nachfolger ihre weiblichen Leser zu überzeugen und zu disziplinieren suchten - nur, daß diesmal ein weiblicher Autor sich dieses Argumentationsmusters bediente, um auf die männlichen Leser Einfluß zu nehmen. Wirkungsvoll an Hubers Argumentation ist auch, daß sie nicht direkt um die Zustimmung der Männer wirbt und keine direkten Forderungen an sie stellt. Sie wendet sich explizit an eine weibliche Leserschaft, genauer: an die Frauen, die sich von den Männern in ihrer geistigen Entwicklung unterdrückt fühlten und diese deswegen angriffen. Die >männlichen< Männer, die ja derlei Vorwürfe nicht verdienen, weil sie die Frauen in ihrer Intellektualität nicht beschneiden würden, nimmt sie vor diesen Angriffen in Schutz. Von Huber erfuhren die Männer, soweit sie sich als >männlich< im Sinne der Autorin betrachten wollten, also Zuspruch und Verteidigung. Was ist aber mit dem im Brief an Herder 1809 angesprochenen »Misverhältniß zwischen so genannten gebildeten Weibern, und ungebildeten Gatten«, das Huber durch ihre Art der Töchtererziehung bekämpfen wollte? Immerhin wird in dem Aufsatz von 1 8 1 1 den Frauen ein unbegrenztes Bildungsniveau zugebilligt, so daß die Gefahr solcher quer zur 187

188

189

Huben Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 3 . Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 4 . Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 4 .

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Geschlechterordnung stehenden Konstellationen hier größer ist als nach dem von ihr 1809 vorgestellten Konzept. U n d wenn H u b e r den Mann nicht mehr als Lehrer seiner Frau vorsah, bedeutet dies vielleicht, daß sie seine Überlegenheit gar nicht mehr voraussetzte? Waren ihr die Dominanzverhältnisse inzwischen gleichgültig geworden? In ihrem Aufsatz aus dem Jahr 1 8 1 1

spricht sie das »Mißverhältnis intellektueller Ausbil-

dung« 190 zwischen Eheleuten nur am Rande an, als ein Problem, das nicht die >männlichen< Männer, ja nicht einmal die von ihr direkt angesprochenen Leserinnen betrifft, die sich über ihre mangelnden Bildungsmöglichkeiten beklagen, sondern bloß jene »Weiber«, die aus »Verblendung oder Nothwendigkeit« den falschen Ehemann wählten. So erscheint das Problem als ein zu vernachlässigender Ausnahmefall. Die im Brief an Herder noch explizit genannten »ungebildeten Gatten« werden im Aufsatz dementsprechend nicht erwähnt. Es scheint fast, als gebe es sie gar nicht. D o c h diese Leerstelle hat nichts mit Vergesslichkeit oder Verdrängung seitens Hubers zu tun. Denn gerade diese »ungebildeten Gatten«, die sich intellektuell auch nicht weiterentwickeln wollten oder konnten, waren für sie das Hauptproblem. Konkret hatte sie dabei die Verhältnisse im eigenen Haus vor Augen, den Dauerkonflikt zwischen den Eheleuten G r e y erz, von dem sie Herder immer wieder berichtete: Ich sehe täglich wie weh das einem Weibe [= Ciaire von Greyerz, PW] thut wenn der Mann ihre Freude am Lernen nicht theilt - und wirklich Emil, ich weiß nicht ob das nicht abhalten sollte Mädchen in mehr als im Haushalt zu unterrichten? — Doch der Gedanke klingt mir wie Unrecht. Verzeih mir ihn! 191 Der ungebildete, intellektuell uninteressierte Ehemann stellte H u b e r und ihre Töchtererziehung in mehrfacher Hinsicht vor schwerwiegende Probleme. H u b e r legitimierte die den Töchtern zukommende gute Bildung unter anderem ja dadurch, daß sie durch sie befähigt würden, »ihres Mannes Gesellschafterinn zu seyn«. 1 ' 2 Die Frau als »bescheidne aber theilnehmende Zuhörerinn«, 1 9 3 wie es im Aufsatz heißt, entspricht ganz dem beispielsweise von Brandes beschriebenen Ideal. Im Falle des ungebildeten und geistig nicht interessierten Gatten entfällt diese Legitimation allerdings. Warum sollten die Mädchen dann mehr lernen, als sie zur 190

191 192

193

Huben Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1154. Therese Huber an Emil von Herder, 13. Juli 1811 (BTH, Bd. 4, Nr. 240). Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 115 5. Huben Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1154. 221

Führung des Haushaltes benötigten? Für die diskurskonforme theoretische Rechtfertigung einer besseren Mädchenbildung war der T y p des gebildeten Mannes daher wichtig, während die Existenz ungebildeter und nicht bildungsfähiger Männer besser nicht angesprochen wurde. Da im Diskurs dieser T y p Mann sowieso nur als Ausnahme Erwähnung fand, ansonsten konsequent das Bild vom geistig überlegenen und interessierten Mann vertreten wurde, dürfte diese Leerstelle in Hubers Aufsatz von den Lesern auch nicht wahrgenommen worden sein. Neben dem theoretischen Problem ergab sich aber auch ein praktisches: Bessere Bildung sollte mit größerer Häuslichkeit einhergehen. In Hubers Vorstellung heißt das aber nicht, daß die Frau sich allein bildet. Lernen bedeutete für Huber immer auch einen kommunikativen Akt, einen Austausch von Gedanken, wie sich etwa anhand ihrer Beziehung zu Herder zeigt während seines Besuches im Jahr 1808 oder ihrer Ehe mit Ludwig Ferdinand Huber (Kap. 7.3). Greyerz hingegen war offensichtlich nicht daran interessiert, mit seiner Frau Ciaire zu lernen. Letztere hätte nun mit einer anderen Person in einen geistigen Austausch treten können. Doch Hubers Konzept schließt eine solche Option weitgehend aus: Unter der Bedingung der Häuslichkeit wird der Ehemann zur wichtigsten, vielleicht einzigen Bezugsperson für die Frau. Daß hier ein großes Konfliktpotential entstand, wenn der Mann als Bezugsperson ungeeignet war, liegt auf der Hand. Huber hat bei ihrer Forderung nach größerer Häuslichkeit der Frauen die realen Verhältnisse, wie sie sich im Hause Greyerz darstellten, allerdings nicht vergessen oder ignoriert. Für das Problem der ungebildeten Männer gab es ihrer Ansicht nach nur eine Lösung: Nicht die Aufgabe des Konzepts von der geistigen Gemeinschaft zwischen Mann und Frau, nicht der Verzicht auf Häuslichkeit und auch nicht die Senkung des Bildungsniveaus der Frau, sondern die »Besserung« 194 der Männer. Die mütterliche Erziehung sollte tatsächlich dafür sorgen, daß das »Misverhältniß zwischen so genannten gebildeten Weibern, und ungebildeten Gatten nicht so schreiend« wird, aber Objekte dieser Erziehung waren de facto in erster Linie die Schwiegersöhne, die einem Bildungsprogramm unterworfen wurden (Kap. 7.3), nicht die Töchter. Im Brief von 1809 stellt Huber daher den »ungebildeten Gatten« die Männer gegenüber, die »sind wie ich sie will«, d.h. deren Überlegenheit es ihnen ermöglicht und die Willens sind, ihre Ehefrauen »auszubilden«. Im Aufsatz von 1 8 1 1 verzichtet sie zwar aus gutem Grund auf die explizite Erwähnung der

194

Huben Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5.

222

»ungebildeten« Ehemänner, aber gewisse, von der Autorin nicht näher beschriebene »Mängel«1'5 hätten die Männer bei sich selbst ja bemerkt und Erziehungsprogramme entworfen, um sie zu beheben. Auf diese Programme bezieht sie sich: »Ein Mann, wie F i c h t e ihn gebildet haben will, wie Pestalozzi ihn zu erziehen verspricht«,1'6 wird zum Ideal erklärt. Diese Bezugnahme dient der Absicherung der Argumentation: Nicht wie die Frau oder die Autorin den Mann haben will, sondern wie die Männer sich selbst erziehen wollen, wird in dem Aufsatz angeblich verhandelt. Huber erwartete aber insbesondere von der Pestalozzischen Methode nicht die Erziehung des geistig interessierten und gebildeten Mannes, den sie für ihr Konzept einer intellektuellen Partnerschaft benötigte beziehungsweise dem die Frau als teilnehmende Zuhörerin hätte dienen können. Vielmehr war das Ergebnis dieser hochgerühmten Methode ihrer Erfahrung nach ein »mechanischer Hohlkopf«.197 Das Anknüpfen an Fichte und Pestalozzi verschleiert nur den für Huber tatsächlich als entscheidend erachteten Faktor in der Erziehung der Männer, nämlich den Einfluß der Frauen: »Besser muß es also mit den Männern werden und mit uns, und wir müssen mit der Besserung anfangen, denn in unsre Hände legte der Schöpfer die erste Entwicklung von der Menschheit Wohl.«1'8 Dieser Satz bezieht sich, wie die folgenden Ausführungen zeigen, auf den Erwerb einer »höhern Geistesbildung«1'? durch die Frau. So gebildet kann die Frau in intellektuellen Austausch mit ihrem Ehemann kommen und durch ihr Beispiel verbessernd auf ihn wirken: »Wenn wir liebevoll und ohne Anmaßung diesen Weg betreten, wird das Männergeschlecht in seiner Besserung auch nicht zurückbleiben«.200 Die Frau geht auf dem Weg der Besserung voran, der Mann wird ihr folgen. So allgemein gesprochen stand Hubers Idee nicht im Widerspruch zum Diskurs. Rousseau beispielsweise setzt mit seinem im Emil entwickelten 195

Huben Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5. 196 Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5. 197 Therese Huber an Therese Forster, 15. und 19. oder 20.Januar 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 10); zu Hubers »Spott über Fichte« s. Therese Huber an Johann Gotthard Reinhold, 13. und 23. Juli 1809 ( B T H , Bd. 3); an Emil von Herder, 1. und 2. Juli 1 8 1 0 ( B T H , Bd. 4, N r . 80). 198 Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5 . I9 ? Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5. 200 Huber: Ueber die Ansprache des weiblichen Geschlechtes zu höherer Geisteskultur, S. 1 1 5 5.

Erziehungsplan zur Verbesserung der Gesellschaft ausdrücklich bei den Frauen an. 201 Ebenso kann man bei Campe nachlesen, daß die Frau »die erste mächtige Triebfeder« im Staat sei, von der das Funktionieren der »äußerlichen Glieder desselben, das männliche Geschlecht« 202 abhänge (s. Kap. 6.1). Konkret konnte die Vorreiterrolle der Frau aber wie folgt aussehen: la clarete extreme de la raison de Louise son esprit superieur, la force de son ame, son activite, un penchant naturel ä etre maitresse, la rendrera souveraine, [...] la societe' de Louise donnera un peu d'energie a la molesse de son mari, Sa raison ennemie, ou plutot superieure ä tout fanatisme, exaltation, reverie bridera la fantaisie vicieuse d'Emile. ses bonnes qualites prendront le dessus, [...] Son esprit orne de tout de manie'res, la purete de son coeur, retrouvera vite la force de jouir des beaux arts, des sciences, de la nature, Ε mile est bien capable de la suivre dans ces occuppations, son ame s'en fortifie'ra et l'e'levera ä la hauteur de celle de sa femme. 2 0 3

Stehen in Hubers Brief an Herder von 1809 der ungebildete Mann und das Ideal des lehrenden, gebildeten Mannes unverbunden nebeneinander, so zeigt sie in ihrem zwei Jahre später abgefaßten Aufsatz, wie aus dem ungebildeten oder in seiner Bildung zurückgebliebenen Mann ein gebildeter werden soll über die eine Vorbildfunktion einnehmende Frau. Den letzten Schritt, die Frau als Lehrerin des Mannes auftreten zu lassen und die Ordnung der Geschlechter, wie sie von Rousseau und anderen vertreten wurde, damit auf den Kopf zu stellen, wagte Huber aber nicht, obwohl sie ihn selbst faktisch gegenüber Herder und Greyerz schon vollzogen hatte (Kap. 7.3). Die Frage ist, ob Herder den appellativen, an die Männer gerichteten Teil von Hubers kunstvoller Argumentation wirklich verstand, als er Hubers Aufsatz lobte; ob er begriff, daß seine Zustimmung zu dieser theoretischen Abhandlung für ihn und seine Ehe praktische Auswirkungen haben könnte: Daß er zwar von der teilweise lästigen Aufgabe des Lehrens (s. Kap. 7.3) entbunden war, aber von ihm erwartet wurde, sich, dem Vorbild seiner Frau und deren inhaltlich nicht begrenzten Interessen folgend, ständig mit dieser weiterzubilden. Herders konsequente Weigerung während seiner ersten Ehe, sich in irgendeiner Form mit seiner Frau geistig auszutauschen, und seine Versuche, sie zu einem dem Diskurs entsprechenden >weiblichen< Verhalten zu zwingen, legen nahe, daß ihm 201

Rousseau: Emil, S. 20. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 16. 20 - Therese Huber an Therese Forster, 18. bis 20. November 1 8 1 3 ( B T H , Bd. 5, N r . 213). 202

224

die Tragweite seiner Anfang 1 8 1 2 gegebenen Zustimmung damals nicht bewußt war oder seine Einwilligung nicht seiner wirklichen Uberzeugung entsprach: il ne partage plus aucun des interets de sa femme. Ii ne lit pas avec eile, il n'entre dans aucune conversation sur un sujet de litterature, Sentiment pp. s'il lui arrive rarement de s'y engager, il se fache et a deja fini plusieurs fois ä coupe le sifflet ä sa femme, declarant qu'il ne lui convenoit point de juger de tel objet, ou de s'exprimer de la Sorte vis ä vis de lui. 204

Hubers und Herders Ehekonzepte erwiesen sich hinsichtlich des intellektuellen Miteinanders der Eheleute als unvereinbar. Hatte Huber eine Partnerschaft vor Augen, in der unter Umständen die Frau die Führung übernahm und der Mann ihr folgte, versuchte der Schwiegersohn hingegen, jeden geistigen Austausch zu unterbinden, ähnlich wie es Campe in seinem Ehemodell vorsah. Es ging um den Führungsanspruch in Herders Ehe, und nach dessen bisherigen Erfahrungen hatte es keinen Sinn, diesen Anspruch in Diskussionen durchzusetzen. Zu oft hatte Huber sich über seine Disziplinierungsversuche hinweggesetzt, so daß es galt, derartige Ambitionen ihrer Tochter im Keim zu ersticken. Das Muster einer Lehrer-Schülerin-Beziehung nach dem Vorbild Emil-Sophie, wie es Huber in ihrem Brief an Herder aus dem Jahr 1809 vertrat und das von ihrem A d ressaten vermutlich auch akzeptiert worden war, wollten beide nicht mehr realisieren. Im Hinblick auf diese Ergebnisse kann Hubers Töchtererziehung nicht so beschrieben werden, wie es beispielsweise Eva Walter tut: Die Töchter »wurden dazu angehalten, verständnisvolle und unterhaltsame Partnerinnen ihrer zukünftigen Ehemänner zu sein. Das Wesentliche an der Erziehung der Töchter war ihre Qualifikation als gute Ehefrau und Mutter«. 20 ' Uberspitzt gesagt könnte man festhalten, daß das Gegenteil der Fall war: Huber bildete nicht ihre Töchter für deren Ehemänner, sondern umgekehrt. Denn die geistigen Bedürfnisse der Töchter waren zentral für Hubers Überlegungen und Handeln: Den Mädchen, insbesondere Luise, wurde eine gute Bildung zuteil. Diese Bildung war von einer derartigen Qualität, daß die durch den Diskurs über Weiblichkeit und Gelehrsamkeit sensibilisierte Umwelt hier Anlaß zu Kritik und Sorge sah. 204

205

Therese Huber an Therese Forster, 19. und 22. Januar 1 8 1 4 ( B T H , Bd. 5, N r . 231); Luise von Herder bestätigte diese Beschreibung: »erinnerst Du Dich seinen Haß gegen wissenschaftliche Lecture« (Luise von Herder an Therese Huber, 19. Juni 1822, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Therese Huber 9/236). Walter: Schrieb oft, von Mägde Arbeit müde, S. 156.

Man (Mariette Hartmann, Therese Forster) befürchtete, daß es eben gerade nicht um die »Qualifikation als Ehefrau und Mutter« ging. Das Bemühen Hubers zielte nun darauf, das von ihr zu verantwortende Bildungsprogramm mit dem Diskurs auszusöhnen, ohne am Programm Abstriche zu machen. Der überlegene Intellekt des künftigen Ehemannes war dabei ein wichtiger Punkt, ebenso die im Tausch für die Gewährung einer besseren Bildung versprochene größere Häuslichkeit der Frau. Diese beiden Gedanken sind allerdings nicht als bloß verbale Zugeständnisse im Sinne der im Diskurs vertretenen Vorstellungen zu werten. Solche eher taktisch motivierten, die wahren Sachverhalte verschleiernden Äußerungen (z.B. Stichwort >LektionenMutter< und >Sohn< für Therese Huber der Anknüpfungspunkt war, von Herder Nachsicht und besondere Freiheiten zu erwarten, zeigte sich beispielsweise in der Auseinandersetzung über Boutteville. Der Rollenwechsel zwischen Lehrerin, Mitschülerin und Schülerin deutet außerdem darauf hin, daß innerhalb der Mutter-Sohn-Beziehung die im Diskurs vorgegebene hierarchische Struktur der Mann-Frau-Verbindung aufgebrochen wurde. Wie, so ist im folgenden zu fragen, verhielten sich beide Beziehungsmodelle zueinander?

228

8.

Mutterliebe und Herrschaft

8.1. M a n n versus S o h n Fassen wir einige der bisherigen Ergebnisse der Untersuchung zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Bevor Huber ihre >Mutter-Sohnsanftenstärkeren< Mann verständlich und andererseits ihre Ablehnung z.B. von Gottlieb von Greyerz wegen seiner >SchwachheitUnmännlichkeit< beweisen. Was in ihrer Beziehung zu diesem Schwiegersohn fehlte, war die erhoffte Relativierung der eigenen Stärke in der Verbindung mit einem stärkeren Mann und damit die Bestätigung der eigenen >Weiblichkeitstarken< Philipp Emanuel von Fellenberg, daß der von Huber zuvor als groß beschriebene Einfluß ihrer Person auf Fellenberg (Kap. 5) im Konfliktfall gering war (Kap. 6.5). Das Hubersche Konzept der Herrschaft über den überlegenen, >männlichen< Mann und die damit verbundene Bestätigung der eigenen >Weiblichkeit« scheiterte an Fellenbergs Widerstand. Hubers Einfluß auf ihn erwies sich damit als sehr viel weniger stabil als ihre Herrschaft im Hause Greyerz. Statt der Macht, ihren Willen im Konflikt gegen Fellenberg durchzusetzen, bot man (nämlich: Hohnbaum) ihr immerhin noch die Möglichkeit an, sich in ihrer besänftigenden Rolle als >weiblich< zu verstehen. Doch >Weiblichkeit< in diesem Sinne, d.h. ohne reale Macht, lehnte Huber genauso ab, wie ihr in Greyerz' Fall Macht ohne >Weiblichkeit< ein Stein des Anstoßes war. Hubers Machtkonzept stellte sich im Laufe der Zeit als nicht realisierbar heraus: Der >starke< Mann Fellenberg tolerierte Hubers Einmischung in die Hofwiler Angelegenheiten nicht länger, während der >schwache< Mann Greyerz von vornherein aufgrund seiner Unterlegenheit problematisch war. Die Theorie, nach der durch den überlegenen Mann die Verbindung von >weiblicher< Identität und Macht hergestellt werden könne, scheiterte in der Praxis. Wie verhielt sich nun der Fall Herder zu diesem Dilemma? Was bedeutet das Konzept Mutter-Sohn-Beziehung vor dem Hintergrund von Hubers Vorstellung von weiblicher Macht und Bestätigung der eigenen >Weiblichkeit in der Beziehung zu einem Stärkeren, eben zu einem Mann? Zunächst einmal schien Huber 1816, d.h. nach dem Scheitern ihrer Beziehung zu Herder und den übrigen >Söhnenmütterlichen< Empfindungen ihrem problematischen Verhältnis zu Frauen zuordnet und gerade nicht für die Beschreibung ihrer Beziehung zu Männern heranzieht: »ich habe gegen Weiber nur weiche mütterliche - das heißt mit Ueberlegenheit, mit Mitleid gemischte Empfinden«. 7 Nach dieser Definition der mütterlichen Gefühle, so läßt sich schließen, ist die Mutter die Überlegene, die Stärkere. Ist diese Definition auf H u bers Vorstellung von Verbindungen zwischen Muttter und Söhnen übertragbar, dann könnte Huber in ihren Mutter-Sohn-Beziehungen gerade nicht die Bestätigung ihrer > Weiblichkeit erreichen. Sie hätte mit ihren Söhnen Herder, Albrecht und Sandoz dasselbe Problem wie mit dem >schwachen< Greyerz. Tatsächlich benutzt Huber zur Charakterisierung ihrer Situation als Mutter einen Vergleich, der sich nahezu wie die Umkehrung des von Campe verwendeten Bildes vom Mann als Eiche und der Frau als Efeu (s. Kap. 6.1) liest. Im Anschluß an eine ausführlichere Beschreibung Emil von Herders und seiner enthusiastischen Aufnahme im Hause HuberGreyerz schreibt sie: »So sproßen schöne blühende Ranken an der vom Bliz getroffnen Eiche auf, umschlingen den verlezten Stamm, und decken mit zarten Leben die Ersterbende, wie diese theuern Kinder um mich blühen.« 8 Die »Kinder« sind die Töchter Hubers, der Schwiegersohn Greyerz und der Sohn Herder, d.h.: Sie macht an dieser Stelle zwischen >Sohn< und Töchtern keinen Unterschied, auch nicht zwischen Greyerz und Herder. Damit scheint letzterer in seiner Rolle als Sohn tatsächlich ebenso problematisch zu sein wie der >schwache< Gottlieb von Greyerz vor dem Hintergrund von Hubers Idee von ihrer »weiblichen« Identität. Der sonst auf den Mann bezogene Vergleich mit der Eiche wird von ihr für die Mutter verwendet. Die damit verbundene Aussage von deren Stärke und Überlegenheit wird grundsätzlich auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß Huber von einer sterbenden Eiche spricht. Denn damit spielt sie nur auf ihr persönliches Schicksal an, nämlich den Verlust ihres Ehemannes Ludwig Ferdinand Huber, und nicht auf eine generell der Mutter als solcher innewohnenden Schwäche. All die Implikationen, die Campe in seinem Vergleich zusammenfassen will - Stärke und Überlegenheit des Mannes, daher die Abhängigkeit der Frau vom Mann (und nicht umgekehrt), woraus sich wiederum die Herrschaft des Mannes über die Frau ableitet - sind damit auch in Hubers Bild der Mutter enthalten. Wie steht

7

8

Therese Huber an Friederike und Johann Gotthard Reinhold, 18. und 19. Januar 1806 ( B T H , Bd. 2, N r . 171). Therese Huber an Caroline Carus, 16. April 1808 ( B T H , Bd. 3).

es also mit Stärke, Überlegenheit, Abhängigkeit und Herrschaft in H u bers Mutter-Sohn-Beziehungen? War Herder, wie es das Manuskript von 1816 nahelegt, der Stärkere, der >Mann