Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens 9783110353983, 9783110307641

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Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens
 9783110353983, 9783110307641

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens
I Praxeologie der Literaturwissenschaft: Die Science Studies als Vorbild?
Epistemische Dinge der Literaturwissenschaft?
Das „Laboratorium“ der Philologie?. Das philologische Seminar als Raum der Vermittlung von Praxiswissen (circa 1850–1900)
Close reading in den science studies
II Praktiken des Interpretierens in historischer Perspektive
Der Umgang mit Texten im antiken Rom. Einige Überlegungen zu Form und Stellung von ‚Interpretation‘
Kondensierte Interpretationen in Poetik und Literaturtheorie seit Opitz. Mit einem Plädoyer für die wohlwollende Interpretation literaturwissenschaftlicher Interpretationen
Emotion und Empathie in der Interpretationspraxis der Klassischen Philologie um 1900
Goethes Wahlverwandtschaften in Interpretationen von der Geistesgeschichte bis zum Poststrukturalismus. Zu einigen Kontinuitäten in der Argumentationspraxis
Die Praxis der Interpretation mittelalterlicher deutscher Texte und die Geschichte der Interpretationen – am Beispiel Walthers von der Vogelweide
Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest. Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode
Analogieschlüsse und metaphorische Extensionen in der interdisziplinären literaturwissenschaftlichen Praxis
Vor der Interpretation. Hermeneutische Heuristiken
III Praktiken der Vermittlung von Interpretationswissen
‚Unvollständiges Verstehen‘ am Beispiel einer Goethe-Parodie in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. Ein Beitrag zur Erforschung interpretatorischer Praxis
Zur Praxis von literaturwissenschaftlichen ‚Modellinterpretationen‘
IV Theorien und Methoden des Interpretierens: Historische Perspektiven
Literatur verstehen. Über die Unterscheidung einer der Literatur angemessenen Form der Rationalität durch Aristoteles
Das Sich-Hineinversetzen und der sensus auctoris et primorum lectorum. Der Beitrag kontrafaktischer Imaginationen zur Ausbildung der hermeneutica sacra und profana im 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts
Rekonstruktion als Interpretation. Überlegungen zu Roman Ingardens Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft
V Theorien und Methoden des Interpretierens: Systematische Überlegungen
Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literaturwissenschaftlicher Interpretationen
Die Bestätigung von Interpretationshypothesen zu fiktionalen literarischen Werken
Beliebigkeit der Literaturwissenschaft?. Literaturtheorie zwischen Pluralismus und Verdrängungswettbewerb
Takt als heuristische Kategorie in Erkenntnis- und Interpretationsprozessen
Literatur als Theorie – Theorie als Literatur. Chancen und Grenzen der Deutung literaturtheoretischer Komponenten in literarischen Werken
Zu den Autorinnen und Autoren

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Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Sara Kathrin Landa

Volume 49

Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens Herausgegeben von Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer und Carlos Spoerhase

ISBN 978-3-11-030764-1 e-ISBN [PDF] 978-3-11-035398-3 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-038349-2 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Olav Krämer und Carlos Spoerhase Einleitung: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens

I

1

Praxeologie der Literaturwissenschaft: Die Science Studies als Vorbild?

Steffen Martus Epistemische Dinge der Literaturwissenschaft?

23

Carlos Spoerhase Das „Laboratorium“ der Philologie? Das philologische Seminar als Raum der Vermittlung von Praxiswissen (circa 1850–1900) 53 Claus Zittel Close reading in den science studies

81

II Praktiken des Interpretierens in historischer Perspektive Gregor Vogt-Spira Der Umgang mit Texten im antiken Rom Einige Überlegungen zu Form und Stellung von ‚Interpretation‘

103

Sandra Richter Kondensierte Interpretationen in Poetik und Literaturtheorie seit Opitz Mit einem Plädoyer für die wohlwollende Interpretation literaturwissenschaftlicher Interpretationen 121 Constanze Güthenke Emotion und Empathie in der Interpretationspraxis der Klassischen Philologie um 1900 145 Olav Krämer Goethes Wahlverwandtschaften in Interpretationen von der Geistesgeschichte bis zum Poststrukturalismus Zu einigen Kontinuitäten in der Argumentationspraxis 159

VI

Inhaltsverzeichnis

Tobias Bulang Die Praxis der Interpretation mittelalterlicher deutscher Texte und die Geschichte der Interpretationen – am Beispiel Walthers von der Vogelweide 205 Marcus Willand Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode 237 Andrea Albrecht Analogieschlüsse und metaphorische Extensionen in der interdisziplinären literaturwissenschaftlichen Praxis 271 Marcel Lepper Vor der Interpretation Hermeneutische Heuristiken

301

III Praktiken der Vermittlung von Interpretationswissen Dirk Werle ‚Unvollständiges Verstehen‘ am Beispiel einer Goethe-Parodie in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt Ein Beitrag zur Erforschung interpretatorischer Praxis 345 Claudius Sittig Zur Praxis von literaturwissenschaftlichen ‚Modellinterpretationen‘

367

IV Theorien und Methoden des Interpretierens: Historische Perspektiven Arbogast Schmitt Literatur verstehen Über die Unterscheidung einer der Literatur angemessenen Form der Rationalität durch Aristoteles 387

Inhaltsverzeichnis

VII

Lutz Danneberg Das Sich-Hineinversetzen und der sensus auctoris et primorum lectorum Der Beitrag kontrafaktischer Imaginationen zur Ausbildung der hermeneutica sacra und profana im 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts 407 Jørgen Sneis Rekonstruktion als Interpretation Überlegungen zu Roman Ingardens Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft 459

V Theorien und Methoden des Interpretierens: Systematische Überlegungen Simone Winko Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literaturwissenschaftlicher Interpretationen 483 Benjamin Gittel Die Bestätigung von Interpretationshypothesen zu fiktionalen literarischen Werken 513 Kai Büttner Beliebigkeit der Literaturwissenschaft? Literaturtheorie zwischen Pluralismus und Verdrängungswettbewerb 565 Thomas Petraschka Takt als heuristische Kategorie in Erkenntnis- und Interpretationsprozessen 591 Erik Schilling Literatur als Theorie – Theorie als Literatur Chancen und Grenzen der Deutung literaturtheoretischer Komponenten in literarischen Werken 609 Autorenverzeichnis

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Andrea Albrecht, Stuttgart, Lutz Danneberg, Berlin, Olav Krämer, Freiburg und Carlos Spoerhase, Berlin

Einleitung: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens I Zur Konzeption: Grundannahmen und Ziele Das Interpretieren von Texten – verstanden als ein Sprechen oder Schreiben über Texte, in dem ihnen auf methodische und argumentierende Weise Bedeutungen zugeschrieben werden – gehört weiterhin zu den Haupttätigkeiten von Literaturwissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftlern. Die vielfältigen Infragestellungen und teils polemischen Angriffe, denen das Interpretieren in den vergangenen Jahrzehnten ausgesetzt war, haben an diesem Umstand kaum etwas geändert. Ein großer Teil der neu erscheinenden Forschungsarbeiten hat zumindest partiell interpretierenden Charakter; in der literaturwissenschaftlichen Lehre haben Einführungen in das Interpretieren lyrischer, dramatischer und narrativer Texte einen festen Platz, was sich auch in Neuauflagen oder Neuerscheinungen entsprechender Einführungsbücher niederschlägt; regelmäßig erscheinen neue Sammelbände mit Interpretationen der Werke einzelner Autorinnen und Autoren sowie Sammlungen von Modellinterpretationen. Angesichts dieser fortdauernden Prominenz des Interpretierens im Alltag der Disziplin erscheint auch die Reflexion auf diese Tätigkeit als eine Aufgabe von unverminderter Aktualität. Der vorliegende Band will zu dieser Reflexion beitragen und legt dabei den Gedanken zugrunde, dass das literaturwissenschaftliche Interpretieren aus drei Perspektiven betrachtet werden kann, die durch die Titelbegriffe „Theorien“, „Methoden“ und „Praktiken“ bezeichnet werden. Das Interpretieren literarischer Texte ist erstens stets durch explizite oder implizite theoretische Annahmen geleitet: durch Annahmen über Sprache und Bedeutung, durch Autor- und Leserkonzepte und durch Auffassungen über die Spezifika, die literarische von nicht-literarischen Texten unterscheiden. In einer deskriptiven Betrachtungsweise können die bestimmenden theoretischen Prämissen existierender Interpretationen rekonstruiert werden, während präskriptiv orientierte Untersuchungen Auffassungen etwa über Bedeutung, Autor und Literatur entwickeln können, die wohlgeformte Interpretationen berücksichtigen sollten. Zweitens ist die Tätigkeit des Interpretierens bis zu einem gewissen Grad durch Methoden charakterisiert, also durch eine Verknüpfung von Verfahren etwa des Paraphrasierens, der rhetorischen und stilistischen, narratologischen oder metrischen Analyse, der Kontextbildung und Kontextver-

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wendung.1 Gemeint sind hier also Verfahren, die in abstrakter, allgemeiner Weise beschrieben werden können, die häufig in Interpretationstexten selbst ausdrücklich als solche benannt und in theoretischen Abhandlungen sowie in Lehrbüchern beschrieben und vermittelt werden. Drittens schließlich kann das literaturwissenschaftliche Interpretieren als eine Praktik oder als eine komplexe Verbindung von Praktiken betrachtet werden, wobei dieser Begriff hier in dem spezifischen Sinne gemeint ist, der im Zusammenhang des sogenannten practice turn etabliert worden ist:2 Praktiken sind in diesem Verständnis routineförmige Tätigkeiten, die oftmals nicht vollständig durch explizierbare Regeln oder Methoden bestimmt sind, sondern in hohem Maße auf implizitem Wissen und Können – auf einem Know-how – beruhen, das durch Imitation und Beispiele erworben wird. Zusammen mit der Implizitheit des zugrunde liegenden Wissens werden häufig seine ‚Inkorporiertheit‘ und seine Angewiesenheit auf bestimmte materielle Objekte betont: Eine Praktik manifestiert sich in kompetenten körperlichen Bewegungen, die meist auch den Umgang mit spezifischen Artefakten einschließen. Eine Leitthese des practice turn besagt, dass auch „intellektuell ‚anspruchsvolle‘ Tätigkeiten wie die des Lesens, Schreibens oder Sprechens“3 als Praktiken in diesem Sinne aufzufassen sind. Doch die Vermutung, dass auch das literaturwissenschaftliche Interpretieren als Praktik analysiert werden kann, lässt sich nicht nur mithilfe dieser allgemeinen praxistheoretischen Prämisse begründen. Vor allem kann man relativ einfach einige Teilaktivitäten des Interpretierens identifizieren, deren Vollzug nicht oder nicht vollständig durch explizite Methoden angeleitet wird, die aber von professionellen Literaturwissenschaftlern – so zumindest eine plausible Hypothese – nicht in je zufälliger, sondern in routinierter und somit auch bis zu einem gewissen Grad regelmäßiger Weise vollzogen werden. Dazu gehören etwa das Finden von Fragestellungen und die Auswahl relevanter Textstellen, die Einschätzung der Begründungsbedürftigkeit einzelner Deutungsschritte, der zitierende und argumentierende Umgang mit der Forschung, die Disposition, die rhetorische Gestaltung und das ‚Aufschreiben‘ des Interpretationstextes.

1 Für eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Zwecken der Kontextverwendung und Verfahren der Kontextbildung vgl.: Lutz Danneberg, „Interpretation: Kontextbildung und Kontextverwendung. Demonstriert an Brechts Keuner-Geschichte Die Frage, ob es einen Gott gibt“, in: SPIEL. Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft, 9/1990, 1, S. 89–130, vor allem S. 101–105. 2 Vgl. zum Folgenden die resümierende Darstellung der einschlägigen Konzeptionen bei: Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, 32/2003, 4, S. 282–301, hier S. 289–293. 3 Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken“, S. 290.

Einleitung

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Dieser Band will theoretisch, methodologisch und praxeologisch ausgerichtete Untersuchungen des literaturwissenschaftlichen Interpretierens versammeln, diese Perspektiven zusammenführen und ihre Fragestellungen und Befunde aufeinander beziehen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der praxeologischen Perspektive, die in der Selbstreflexion der Literaturwissenschaft erst in jüngerer Zeit entwickelt und bisher noch am wenigsten erprobt worden ist. Der Sammelband sucht die Potentiale dieser Betrachtungsweise mithilfe grundsätzlicher Überlegungen auszuloten und sie in Fallstudien fruchtbar zu machen; er schließt sie aber auch an theoretische und methodologische Diskussionen an, die bereits auf eine längere Vorgeschichte zurückblicken können. Mit dem Ziel, das literaturwissenschaftliche Interpretieren aus praxeologischer Sicht zu analysieren und diese Untersuchung auch mit theoretischen und methodologischen Fragen zu verknüpfen, eröffnet man ein sehr weites Forschungsfeld, dessen Grenzen und innere Gliederung zunächst wenig deutlich sind. Die Einleitung soll im Folgenden dieses Feld knapp konturieren, indem sie leitende Fragestellungen benennt, sie theoretisch begründet, forschungsgeschichtlich einordnet und in Teilfragen zerlegt. Zu vielen der im Weiteren vorgestellten Fragen finden sich in dem vorliegenden Band substantielle Beiträge. Die Einleitung spricht aber bewusst auch Probleme und Aufgaben an, die über den durch die Beiträge bearbeiteten Bereich hinausgehen. Damit soll der explorative Charakter des Bandes betont werden, dem es maßgeblich darum geht, alte Sichtweisen auf das Interpretieren zu hinterfragen, neue zu entwerfen und zu prüfen und damit auch Anregungen für weitere Untersuchungen zu geben.

II Der practice turn und die Literaturwissenschaft Unter dem Begriff practice turn werden Forschungsentwicklungen in verschiedenen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen zusammengefasst, die sich teilweise untereinander beeinflusst haben, teilweise durch Rekurse auf dieselben philosophischen Traditionen verbunden sind oder auch nur Konvergenzen aufweisen, die eine solche begriffliche Zusammenfassung rechtfertigen.4 In inhaltlicher Hinsicht liegt das Gemeinsame der Entwicklungen zum einen, wie der

4 Für knappe Darstellungen dieser Forschungsentwicklungen vgl. etwa: Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken“; David G. Stern, „The Practical Turn“, in: Stephen P. Turner/Paul A. Roth (Hrsg.), The Blackwell Guide to the Philosophy of the Social Sciences, Malden (MA) [u.a.] 2003, S. 185–206; Theodore R. Schatzki, „Introduction: practice theory“, in: Ders./Karin Knorr Cetina/Eike von Savigny (Hrsg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London, New York 2001, S. 1–14.

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Name sagt, in einer Hinwendung zur Praxis oder zu Praktiken als zentralem Forschungsgegenstand bzw. als einer ‚Ebene‘, auf der vielfältige Gegenstände betrachtet werden können, zum anderen in ähnlichen Konzeptualisierungen der Praxis. Die Kontrastbegriffe, die man in programmatischen Entwürfen den Begriffen der Praxis oder der Praktiken gegenübergestellt hat, waren in verschiedenen disziplinären Kontexten unterschiedliche: Grenzt sich die praxeologische Orientierung in der Soziologie vor allem von den Theorietraditionen ab, die Strukturen, das Handeln von Individuen oder auch Diskurse und Symbole als konstitutive Einheiten ‚des Sozialen‘ konzipieren,5 so profilierten Vertreter der Wissenschaftsgeschichte und der science studies die Auffassung von „Science as Practice“ durch die Kontrastierung von „Practice“ mit „Knowledge“ oder mit „Theory“.6 Erst in jüngerer Zeit hat man begonnen, die Prämissen, Fragestellungen und Konzepte des practice turn auch für die Selbstreflexion der Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen.7 Der vorliegende Sammelband setzt diese Bestrebungen fort und stellt eine besonders wichtige literaturwissenschaftliche Praxis, die des Textinterpretierens, ins Zentrum. Damit dieser Transfer eines Forschungsansatzes in möglichst aussichtsreicher Weise konkretisiert werden kann, erscheint es ratsam, sich relevante Besonderheiten sowohl der als Vorbild dienenden Disziplin (II.1) als auch der transferierten Konzepte und Verfahren selbst (II.2) bewusst zu machen.

II.1 Die science studies als Vorbild? Die Historiographie der Naturwissenschaften und die science studies sind zwei eng benachbarte oder sich überlappende Disziplinen, in denen ein practice turn auf besonders breiter Front durchgeführt wurde und vielbeachtete, über die Disziplinengrenzen hinweg einflussreiche Resultate gezeitigt hat. Die wissenschaftlichen Praktiken, denen im Rahmen dieses turn besonders große Aufmerk-

5 Vgl. im Einzelnen dazu: Reckwitz, „Grundelemente“, S. 286–289. Vgl. auch Schatzki, „Introduction: practice theory“, S. 3. 6 Für den Kontrast mit „Knowledge“ vgl.: Andrew Pickering, „From Science as Knowledge to Science as Practice“, in: Ders. (Hrsg.), Science as Practice and Culture, Chicago, London 1992, S. 1–26. Für eine Kontrastierung der Studien zu naturwissenschaftlichen Praktiken, insbesondere Praktiken des Experimentierens, mit „Theory-Dominated Accounts of Science“ vgl.: Timothy Lenoir, „Practice, Reason, Context: The Dialogue Between Theory and Experiment“, in: Science in Context, 2/1988, 1, S. 3–22, Zitat S. 3. 7 Für grundsätzliche Überlegungen hierzu vgl. vor allem Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, in: Geschichte der Germanistik, 35/36/2009, S. 89–96; dort auch Hinweise auf einzelne jüngere Studien, die sich der Analyse literaturwissenschaftlicher Praktiken widmen (vgl. ebd., S. 91 f.).  

Einleitung

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samkeit zuteil wurde, waren Praktiken des Experimentierens, und eine der für diese Interessenverschiebung leitenden Vermutungen lautete, dass das Konzipieren, Durchführen und Auswerten von Experimenten nicht vollständig durch theoriengeleitete Fragen und Hypothesen determiniert ist, sondern eigenständige Dynamiken und Regeln herausbildet. Neben und in Verbindung mit dem Experimentieren rückten außerdem Praktiken des Beobachtens und (Auf-)Schreibens in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wie Lorraine Daston prägnant festgestellt hat, können für Praktiken der Geisteswissenschaften analoge Fragen formuliert werden wie für die naturwissenschaftlichen Praktiken: Historians of science have written about how biologists learned to see under the microscope, how botanists learned to characterize plants in succinct Latin, how physicists learned to abstract from messy phenomena to mathematical models. But how do art historians learn to see, historians learn to read, philosophers to argue?8

Und wie, so ließe sich ergänzen, lernen Literaturwissenschaftler zu interpretieren? Die exemplarisch formulierten Fragen können einerseits als Fragen danach verstanden werden, wie eine bestimmte Praktik innerhalb einer Disziplin entwickelt und institutionalisiert wurde,9 andererseits als Fragen danach, wie einzelne junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in das Repertoire etablierter Praktiken eingeführt werden. Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird im günstigen Fall den Praktiken einen Teil ihrer Selbstverständlichkeit nehmen und ein reicheres Bild davon liefern, was Kunsthistoriker, Historiker und Literaturwissenschaftler tun, wenn sie Gemälde beschreiben, Quellen analysieren oder literarische Texte interpretieren. Die Forschungen der science studies liefern nun eine Fülle von Anregungen für die Untersuchung geisteswissenschaftlicher Praktiken, nicht aber ein Rezept, das man einfach befolgen könnte, oder ein fertiges Programm, das man nur noch auszuführen hätte. Zunächst gilt es hervorzuheben, dass die einschlägigen Untersuchungen zu naturwissenschaftlichen Praktiken kein homogenes Forschungsunternehmen bilden, sondern hinsichtlich ihrer Erkenntnisinteressen und Verfahren durchaus markante Unterschiede aufweisen. Auf diesen Punkt wird weiter unten zurückzukommen sein (Abschnitt III). Abgesehen davon ergeben sich bei dem Vorhaben, etwa das literaturwissenschaftliche Interpretieren als eine Praxis im oben erläuterten Sinne zu analysieren, verschiedene Probleme, die den Eigen8 Lorraine Daston, „Whither Critical Inquiry?“, in: Critical Inquiry, 30/2004, 2, S. 361–364, hier S. 363. 9 Vgl. die bei Daston direkt im Anschluss formulierten Fragen: „What is the history of the arthistorical slide collection, the initiation into archival research, the graduate seminar?“ (Ebd.)

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heiten der Literaturwissenschaft oder allgemein textorientierter Geisteswissenschaften geschuldet sind. So kann man etwa – zumindest dem ersten Eindruck nach – beim Handeln experimenteller Naturwissenschaftler relativ gut distinkte Arbeitsschritte oder Teilpraktiken unterscheiden (Konzipieren und Durchführen von Experimenten, Datenerhebung, Datenauswertung, Verfassen eines Artikels), die sich anhand je spezifischer Quellentypen oder Beobachtungsverfahren rekonstruieren lassen.10 Beim literaturwissenschaftlichen Interpretieren wie vermutlich bei anderen geisteswissenschaftlichen Tätigkeiten auch erscheint schon die Untergliederung in distinkte Arbeitsschritte oft als schwierig, und zudem stellt sich die Frage nach den Dokumenten, mit deren Hilfe die zur ‚fertigen‘ Interpretation hinführenden Schritte rekonstruiert werden können.11 Diese Schwierigkeiten haben auch damit zu tun, dass das literaturwissenschaftliche Interpretieren wie auch die charakteristischen Tätigkeiten von Historikern und Philosophen – wiederum: jedenfalls prima facie – weitgehend individuell organisierte Tätigkeiten von Einzelpersonen sind. Als solche sind sie nicht in demselben Maße auf interpersonelle, womöglich schriftlich verfasste und somit rekonstruierbare Kommunikation angewiesen wie die Forschungsaktivitäten in naturwissenschaftlichen Arbeitsgruppen. Andererseits lässt sich aber auch argumentieren, dass das Lesen am heimischen Schreibtisch und das Nachdenken auf einsamen Spaziergängen zwar unbestreitbar wichtige Teile des literatur- oder allgemein geisteswissenschaftlichen Forschens sind, dass sie aber gleichwohl ‚nur‘ Abschnitte innerhalb längerer Handlungssequenzen bilden, zu denen auch besser beobachtbare Tätigkeiten wie das Einreichen von Projektanträgen, Exposés und Abstracts sowie öffentliche Vorträge und Diskussionen gehören. Ferner wäre darauf hinzuweisen, dass es neben den publizierten Endprodukten literaturwissenschaftlicher Interpretationsarbeit durchaus noch weitere Quellen gibt, deren Bedeutung und Stellenwert innerhalb der disziplinären Praxis erst noch ausgeleuchtet werden muss: etwa Einladungen zu Konferenzen, Förderungsanträge oder Vortragshandouts. So unleugbar also die oben skizzierten Schwierigkeiten sind, dürften sie doch keine unüberwindbaren Hindernisse für das Projekt einer Praxeologie der Literaturwissenschaft darstellen und auch den Versuch, von den Praxisforschungen der science studies zu lernen, nicht als

10 Tatsächlich ist es auch hier keineswegs in allen Fällen offenkundig, was die für bestimmte Praktiken aussagekräftigen Quellen sind und ob es für die entscheidenden Episoden innerhalb des Forschungsprozesses überhaupt Quellen gibt. Vgl. dazu die Bemerkungen in einer Pionierarbeit aus dem Bereich der praxisorientierten Naturwissenschaftsgeschichte, einer Studie zur Physik des 20. Jahrhunderts: Peter Galison, How Experiments End, Chicago, London 1987, S. x („Preface“). 11 Vgl. hierzu auch die Überlegungen in Carlos Spoerhases Beitrag zum vorliegenden Band.

Einleitung

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abwegig erweisen. Ein Vorbild könnten in dieser Hinsicht womöglich die praxeologischen Untersuchungen zur Mathematik darstellen,12 deren Gegenstand ebenfalls die experimentelle Praxis weitgehend fehlt. Die Praxisforschungen erscheinen somit eher als Anstoß, zum einen die Fragestellungen der Praxeologie und der science studies in disziplinadäquater Weise zu konkretisieren beziehungsweise zu modifizieren, zum anderen die verfügbaren Dokumente der literaturwissenschaftlichen Praxis auf ihre Aussagekraft hin zu prüfen. Die Aufgabe, die Fragestellungen der Praxisforschungen aus den science studies in angemessener Weise zu modifizieren, schließt auch eine Auseinandersetzung mit der Frage ein, welche der dort geprägten Begriffe und Untersuchungskategorien für die Analyse literaturwissenschaftlicher Praktiken fruchtbar gemacht werden können: Inwiefern lassen sich Konzepte wie das der ‚epistemischen Dinge‘13 sinnvoll für die Erforschung literaturwissenschaftlicher Praktiken (und insbesondere der Verfahren des Interpretierens, aber auch des Edierens) verwenden und inwiefern sind hierfür Fragen wie die nach den Verfahren der Begriffsbildung und der Gegenstandskonstitution relevant? Ist die Frage nach der Art und Weise, wie ‚Objektivität‘ und ‚Reliabilität‘ hergestellt werden, auch im Bereich der Geisteswissenschaften und speziell der Literaturwissenschaft sinnvoll – oder sind dort andere epistemische Wertbegriffe (wie z.B. ‚Plausibilität‘14) wichtiger? Inwieweit ist bei der Beschreibung von Interpretationsverfahren mit der Existenz von interpretive communities oder Denkkollektiven zu rechnen? Ein weiteres Problem, das wiederum auf einer anderen Ebene liegt, sei zumindest kurz benannt: Zu fragen ist, ob sich eine Praxeologie der Geisteswissenschaften überhaupt aus geisteswissenschaftlicher Perspektive, also als Selbstbeobachtungsprozess, entwickeln lässt oder ob nicht vielmehr die „disciplinary morality“ den Blick für das Wesentliche verstellt.15 Dagegen steht der Eindruck, dass Fremdbeobachtungen mitunter in spektakulärer Weise den ‚Eigensinn‘ der beschriebenen Wissensproduktion verfehlen. Ohne das hiermit umrissene Problem negieren zu wollen, vertraut der vorliegende Sammelband darauf, dass wichtige Merkmale literaturwissenschaftlicher Praktiken und speziell interpretierender Praktiken der disziplinären Selbstreflexion zugänglich sind. Damit soll aber nicht bestritten werden, dass eine Untersuchung dieser Praktiken etwa aus wissenschaftssoziolo-

12 Vgl. Bettina Heintz, Die Innenwelt der Mathematik. Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin, Wien, New York 2001. 13 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a.M. 2006 [zuerst 2001]. 14 Vgl. hierzu den Beitrag von Simone Winko in diesem Band. 15 Vgl. Paul Forman, „Independence, Not Transcendence, for the Historian of Science“, in: Isis, 82/1991, 1, S. 71–86.

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gischer Sicht zu signifikant anderen Befunden kommen dürfte und dass eine Konfrontation dieser unterschiedlichen Perspektiven erhellend sein könnte.

II.2 Zu Konzepten, Verfahren und Ansprüchen der Praxeologie Ganz unabhängig von der Frage, inwiefern sich der praxisorientierte Ansatz der science studies auf die Untersuchung literaturwissenschaftlicher Praktiken übertragen lässt, stellen sich mit Blick auf diesen Ansatz und auf verwandte Vertreter des practice turn eine Reihe von grundsätzlichen theoretischen Fragen, die ihr konzeptuelles Instrumentarium, ihre Verfahrensweisen und ihre Erklärungsansprüche betreffen. Während das (rationale) methodologische Rekonstruieren das jeweilige Ganze in den Blick nimmt (top down), beschreitet die praxeologische Beschreibung im Allgemeinen den entgegengesetzten Weg (bottom up). Gelangt beim Ersten oftmals die Praxis nicht in den Blick, liegt das Problem beim Zweiten darin, wie sich die Befunde, Praktiken, Routinen, Verkettungen von Routinen und Praktiken aggregieren lassen. Hier stellt sich erstens die Frage, um was für eine Art von ‚Wissen‘ es sich bei solchen Praktiken handelt, sowie die, in welcher Weise sie sich als regelhaft oder in ähnlicher Weise beschreiben lassen. Auch wenn es zweitens beispielsweise keine Frage wäre, dass solche Praktiken auf tacit knowledge beruhen, erscheint ungeklärt, was die Annahme eines solchen Wissens tatsächlich erklärt oder ob es nicht nur Ausdruck dessen ist, was der Beobachter nicht versteht, aber mit einem Ausdruck zu belegen weiß.16 Es würde sich dann nur um eine theoretische Redeskription, aber nicht um eine ‚Erklärung‘ handeln.17 Da auf ein solches Konzept in den science studies, aber auch in anderen Bereichen wie des Handelns überhaupt, nicht selten zurückgegriffen wird,18 stellt sich die Frage nicht

16 Zur jüngeren Diskussion um den Begriff ‚tacit knowledge‘ vgl.: Harry Collins, Tacit and Explicit Knowledge, Chicago 2010; Stefan Tolksdorf/Holm Tetens (Hrsg.), In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin 2010. 17 Ein Beispiel ist die Annahme eines ‚Hintergrundes‘ nicht-intentionaler Fähigkeiten (capacities). Vgl. z.B. Paul Nightingale, „If Nelson and Winter Are Only Half Right about Tacit Knowledge, Which Half? A Searlean Critique of ‚Codification‘“, in: Industrial and Corporate Change, 12/2003, 2, S. 149–183, hier S. 149: „[T]acit knowledge is a category of unconscious neurophysiological causation that provides the basis and context to actions and conscious mental states.“ 18 Zur Kritik vgl. Nigel Pleasants, „Nothing is Concealed: De-centering Tacit Knowledge and Rules From Social Theory“, in: Journal of the Theory of Social Behavior, 26/1996, 3, S. 233–255; Ders., „The Epistemological Argument Against Socialism. A Wittgensteinian Critique of Hayek and Giddens“, in: Inquiry, 40/1997, 1, S. 23–45; Ders., Wittgenstein and the Idea of a Critical Social Theory. A Critique of Giddens, Habermas and Bhaskar, London 1999, vor allem Kap. 4 und 5.

Einleitung

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allein beim Textinterpretieren. Hinzu kommt drittens die Frage, inwieweit es als angemessen erscheint, komplexe Praktiken in elementare Teilpraktiken zu zerlegen und dann die komplexeren Gebilde danach zu analysieren. Das ist gleichbedeutend mit der Frage, inwieweit sich Praktiken isoliert von dem Kontext, in dem sie sich jeweils eingebunden finden, analysieren und beschreiben lassen. Dazu tritt viertens die Frage nach den Beziehungen, in denen Praktiken, gesehen etwa als Routinen, zu solchen Tätigkeiten stehen, die sich gerade nicht als Routinen auffassen lassen, die sich aber analysieren oder rekonstruieren lassen. Dabei zeigt sich dann mitunter, welche Komplexität unausgesprochener Annahmen diesen Praktiken zugrunde liegt. Fünftens stellt sich die Frage nach dem ‚Status‘ von Praktiken: Sie könnten als eine Art kollektiver Entitäten angesehen werden, die einen überindividuellen Kontext für die konkreten Vollzüge darstellen,19 so dass auch wichtige Elemente des tacit knowledge eher als ‚kollektiv‘ denn als ‚individuell‘ erscheinen.

III Methodologie und Praxeologie in ihrer Verschränkung Als etwa seit den 1980er Jahren die Praktiken naturwissenschaftlicher Forschung, insbesondere die experimentellen Praktiken, mit zunehmender Intensität untersucht wurden, waren an dieser Entwicklung sowohl Wissenschaftshistoriker als auch Philosophen und Soziologen beteiligt. Hinsichtlich der Erkenntnisinteressen der einschlägigen Studien lassen sich durchaus Differenzen feststellen, die zumindest teilweise als disziplinär bedingt erscheinen.20 Neben wissenschaftstheoretisch orientierten Untersuchungen, die sich vor allem für den epistemischen Status von Experimenten, ihre Funktion beim Bestätigen oder Falsifizieren von Hypothesen oder ihre Rolle beim Finden von Theorien oder Fragestellungen interessierten, standen historische Studien, die die Verankerung konkreter Praktiken in spezifischen sozialen, politischen und kulturellen Kontexten nachzuweisen suchten, und schließlich soziologische Arbeiten, die etwa das naturwissenschaftliche Labor als eine Lebensform analysierten.21

19 Zuerst wohl bei Richard R. Nelson/Sidney G. Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge 1982. 20 So jedenfalls: Michael Hagner, „Ansichten der Wissenschaftsgeschichte“, in: Ders. (Hrsg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. 2001, S. 7–39, hier S. 21. 21 Die Unterscheidung dieser Richtungen orientiert sich grob an derjenigen Hagners; vgl. ebd., S. 21. Für Beispiele für diese Richtungen vgl.: Ebd., S. 37, Anm. 32, 33 und 34. – Vgl. auch die Vorstellung einschlägiger Studien zu Praktiken des Experimentierens und die Beschreibung ihrer unterschiedlichen Erkenntnisinteressen bei: Lenoir, „Practice, Reason, Context: The Dialogue Between Theory and Experiment“.

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Die Praktiken der Geisteswissenschaften, etwa die Praxis des Interpretierens, können ebenfalls mit unterschiedlichen Interessen zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden. Das Streben nach einer Anbindung der praxeologischen Perspektive an theoretische und methodologische Fragen, wie es für den vorliegenden Band in weiten Teilen leitend ist, bewirkt eine Schwerpunktsetzung innerhalb der denkbaren Ausrichtungen; aber auch diese Verbindung von theoretischen, methodologischen und praxeologischen Fragestellungen kann verschiedene Erkenntnisziele verfolgen. Erstens können solche Untersuchungen dem Ziel einer epistemologischen Selbstaufklärung der Disziplin dienen. Unter diesem Gesichtspunkt sollen methodologische und praxeologische Analysen der Interpretationsverfahren ein möglichst differenziertes Bild dessen bieten, was Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler alltäglich tun. Etwas genauer gesagt: Sie sollen Aufschluss etwa darüber geben, in welchem Verhältnis routineartige Praktiken zu expliziten methodischen Regeln und zu Theorien stehen. Selbstaufklärungen dieser Art sind offenkundig eine notwendige Voraussetzung für alle Vorschläge zur Reformierung der gegenwärtigen wissenschaftlichen Praxis, sofern diese sachangemessen sein wollen. Damit ist bereits die zweite mögliche Zielsetzung angesprochen: Methoden und Praktiken der Literaturwissenschaft können in evaluativer und kritischer Absicht untersucht werden, also mit dem Ziel, Defizite festzustellen und Vorschläge zu ihrer Korrektur zu entwickeln. So kann man die Interpretationspraxis von der Warte der Methodologie aus kritisch beleuchten, implizite (problematische) Vorannahmen aufzeigen sowie auf Unzulänglichkeiten hinweisen. Ebenso kann die Methodologie aber auch an der Praxis gemessen werden: Ausgehend von der Annahme, dass es eine ‚Eigenlogik‘ oder auch ein ‚Eigenrecht‘ der Praxis gibt, ist zu fragen, ob sie Leistungen erbringt – zum Beispiel, indem sie die Komplexität von Problemstellungen bewahrt oder der Spezifik von Gegenständen Rechnung trägt –, die von bestimmten Versuchen der methodologischen Reglementierung verkannt werden oder bestimmten Maßnahmen der ‚Verwissenschaftlichung‘ zum Opfer fallen würden. Drittens sind methodologische und praxeologische Untersuchungen von zentralem Interesse für die Wissenschaftsgeschichte der Literaturwissenschaft, insbesondere für Fragen nach der Dynamik wissenschaftshistorischer Entwicklungen. Wie methodologische und literaturtheoretische Debatten sich auf die Interpretationspraxis auswirken, ob es ein feedback der Praxis in die methodologischen Diskurse gibt, ob die Zäsuren der ‚Theoriegeschichte‘ mit denen der ‚Praxisgeschichte‘ zusammenfallen und wie sich gegebenenfalls das Verhältnis zwischen Brüchen auf der einen und Kontinuitäten auf der anderen Ebene modellieren lässt – alle diese Fragen können noch als weitgehend ungeklärt gelten, und ihre Beantwortung erfordert zunächst eine genauere beschreibende wie rekonstruierende Untersuchung der beim Interpretieren zur Anwendung kommenden Verfahren.

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IV Interpretationsverfahren: Methoden und Praktiken In den Literaturwissenschaften haben Interpretationsmethoden und -praktiken ihre Funktion für die (1) Herstellung (Heuristiken, Begriffsbildungen, etc.), (2) Validierung (Bestätigungstheorie, Argumentationstheorie, etc.), (3) Darstellung (wissenschaftliche Textsorten, Strategien, etc.) und (4) Vermittlung (Lehre, Popularisierung, intra- und interdisziplinäre Propagierung, etc.) von Interpretationswissen. Analysieren, das heißt beschreiben und (rational) rekonstruieren, lassen sich diese Funktionen sowohl im Hinblick auf die Methodologie als auch im Hinblick auf die Praxis. Diese doppelte Perspektivierung erlaubt es, sowohl analysierende und rekonstruierende als auch hypothetisch normierende Ansätze, die ihren Ausgang bei expliziertem Methoden- und Regelwissen nehmen,22 mit neueren Ansätzen der literaturwissenschaftlichen Praxeologie23 zu verknüpfen, denen als Ausgangspunkt konkrete interpretierende Praktiken und Interpretationsvollzüge dienen. Im Folgenden sollen einige speziellere Fragen skizziert werden, die sich im Hinblick auf verschiedene (Teil-)Praktiken des Interpretierens oder der Findung, Begründung, Darstellung und Vermittlung von Interpretationswissen stellen.

IV.1 Heuristiken Heuristische Praktiken gehören wohl zu den bislang am wenigsten bearbeiteten Feldern interpretatorischer Verfahren. Das dürfte nicht zuletzt seine Gründe in den disziplinär belangvollen Unterschieden haben, die oben in Abschnitt II angedeutet wurden. Aber dass es im engeren Sinn heuristische Praktiken beim Erzeugen eines für das Interpretieren relevanten Wissens geben kann, ist nicht zu bezweifeln – wie es im Rahmen der unterschiedlich bestimmbaren Verwendungen von ‚Kontexten‘ deutlich wird.24 Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Analyse oder Beschreibung heuristischer Praktiken in allen Disziplinen liegt zum einen in ihrer fehlenden Sichtbarkeit. Sie hinterlassen nämlich in dem fertigen Produkt, also der Darstel-

22 Vgl. u.a. Werner Strube, „Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation“, in: Paul Michel/ Hans Weder (Hrsg.), Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik I, Zürich 2000, S. 43–69; vgl. auch die Sektionen 1 und 2 in Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte“, Stuttgart 1992. 23 Vgl. Martus/Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“. 24 Zu den Unterscheidungen vgl. Danneberg, „Interpretation: Kontextbildung und Kontextverwendung“.

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lung, kaum Spuren, und wenn sie es doch tun, dann nur etwa in der Form einer Benennung leitender Forschungsannahmen. Die Darstellung, wie man zu seinen Ergebnissen gelangt ist, erscheint als wenig aufschlussreich, solange solchen Beschreibungen kein epistemischer Wert für die vorgetragenen Wissensansprüche eingeräumt wird. Zum anderen ist es so, dass typische heuristische Mittel (wie z.B. Analogiebildung) oftmals gerade als Resultat der Interpretation erscheinen oder gelten. In den textinterpretierenden Disziplinen zeigt sich der heuristische Aspekt am deutlichsten in der Begriffsbildung und -verwendung: Begriffe können beim Textinterpretieren eine beschreibende und klassifizierende Aufgabe erfüllen, sie können resultativ verwendet werden, indem durch sie, zumeist durch Spezifizierung der traditionellen Begrifflichkeit, das Ergebnis des Interpretierens, wenn man so will, ‚auf den Begriff‘ gebracht wird. Sie können aber auch, aufgrund von Texteigenschaften zur Klassifizierung verwendet, eine heuristische Funktion hinsichtlich der Bedeutungssuche für das Interpretieren besitzen.

IV.2 Argumentieren Argumentationsverfahren sind von zentraler Bedeutung für die Herstellung wie für die Validierung von Interpretationen. Im Rahmen der für diesen Band leitenden Ziele sind sie von besonderem Interesse, weil man vermuten kann, dass sie sich in einer methodologischen Perspektive deutlich anders darstellen als in einer praxeologischen, dass mit Bezug auf sie also die Frage nach dem Verhältnis von methodologischen zu praxeologischen Betrachtungsweisen besonders angebracht und relevant ist. Die bisher vorliegenden Untersuchungen zu Argumentationsweisen literaturwissenschaftlicher Interpretationen sind überwiegend einem methodologischen Erkenntnisinteresse verpflichtet. Sie verfolgen größtenteils entweder evaluativkritische Absichten25 oder zielen auf die Aufstellung einer Typologie von Interpretations- und Argumentationsweisen.26 Praxeologisch ausgerichtete Analysen kön-

25 Beginnend mit Günther Grewendorf, Argumentation und Interpretation. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen am Beispiel germanistischer Lyrikinterpretationen, Kronberg im Taunus 1975; Walther Kindt/Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Interpretationsanalysen. Argumentationsstrukturen in literaturwissenschaftlichen Interpretationen, München 1976; Eike von Savigny, Argumentation in der Literaturwissenschaft. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zu Lyrikinterpretationen, München 1976. 26 Vgl. Werner Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn u.a. 1993.

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nen an die deskriptiven Teile dieser Arbeiten anschließen, gehen aber aufgrund ihrer andersartigen Zielsetzung in verschiedenen Hinsichten über sie hinaus: Sie haben auch solche Merkmale der Argumentationsweisen zu beschreiben und auf ihre spezifischen Leistungen und Funktionen hin zu befragen, die in Untersuchungen der eben genannten Arten lediglich als Mängel vermerkt und kritisiert oder als akzidentielle und für den jeweiligen Interpretationstyp nicht konstitutive Züge ausgeblendet werden. Als theoretische Grundlage für solche praxeologischen Analysen eignen sich sowohl wissenschaftstheoretisch orientierte als auch an Pragmatik und Rhetorik angelehnte Richtungen der Argumentationsforschung.27 Allerdings wird man beim Versuch, das literaturwissenschaftliche Argumentieren als eine Praxis oder als ein Ensemble von Praktiken zu untersuchen, kaum einfach auf ein schon bereitliegendes argumentationstheoretisches Analyseinstrumentarium zurückgreifen können. Vielmehr gilt es, zunächst grundsätzliche Überlegungen darüber anzustellen, was die relevanten Spezifika dieser Argumentationspraktiken sind und wie sie rekonstruiert werden können. Inwiefern lassen sich die Voraussetzungen und Implikationen dieser Praktiken überhaupt explizit machen? Interpretations- und Argumentationsverfahren,28 etwa die der symptomatischen Lektüre, sind oftmals hochkomplex, ohne dass die Praktizierenden diese Komplexität unbedingt durchschauen müssten. Welche Lese- und Interpretationspraktiken liegen dem zugrunde?29 Gibt es explizierbare Leitmetaphern/ Leitbegriffe, die implizite Vorannahmen enthalten (Oberfläche–Tiefe, close reading, surface reading, distant reading, etc.), Evidenzen erzeugen und die methodischen Differenzen transzendieren? Lässt sich das aggregierte Verfahren des Interpretierens überhaupt angemessen in elementare Teilpraktiken zerlegen und in entkontextualisierter Form beschreiben? Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie eine literaturwissenschaftliche Interpretationshypothese validiert wird: Etwa indem sie sich gegen Falsifikationen bewährt (Popper), durch positive Einzelfälle bestätigt wird (Hempel) oder da-

27 Für einen Überblick über verschiedene Zweige der jüngeren Argumentationsforschung vgl. Frans H. van Eemeren/Rob Grootendorst/Francisca Snoeck Henkemans [u.a.], Fundamentals of Argumentation Theory. A Handbook of Historical Backgrounds and Contemporary Developments, Mahwah (NJ) 1996. 28 Amanda Anderson, The Way We Argue Now. A Study in the Cultures of Theory, Princeton 2006. 29 Vgl. zu Lektürepraktiken u.a.: Stephen Best/Sharon Marcus, „Surface Reading. An Introduction“, in: Representations, 108/2009, S. 1–21; Franco Moretti, „Conjectures on World Literature“, in: New Left Review, 1/2000, S. 54–68; John Guillory, „How Scholars Read“, in: ADE Bulletin, 146/ 2008, S. 8–17; Guglielmo Cavallo/Roger Chartier (Hrsg.), A History of Reading in the West, übers. von Lydia G. Cochrane, Cambridge 1999; Benedikt Descourvières, Utopie des Lesens. Eine Theorie kritischen Lesens auf der Grundlage der Ideologietheorie Louis Althussers – dargestellt an den Texten Georg Büchners, Theodor Fontanes, Ödön von Horváths und Heiner Müllers, St. Augustin 1999.

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durch, dass ihre Wahrscheinlichkeit durch das Beibringen weiterer Belege erhöht wird (Bayes)? Oder sind die Ziele des Validierens von Interpretation zumindest zum Teil so ausgerichtet, dass solche (methodologischen) Normierungen zwar grundsätzlich möglich sind, aber für bestimmte Ziele nicht als zielführend erscheinen? Was gilt überhaupt als ein philologischer Beleg? Hierbei kommt auch das ins Spiel, was die traditionelle nachklassische Hermeneutik (Gadamer) als sogenannten hermeneutischen Zirkel zu schnell zum Signum bestimmter disziplinärer Praktiken erklärt hat. Jedes (lokale) Argumentieren für eine Interpretation kann, wenn es bestimmte Voraussetzungen erfüllt, prinzipiell nicht-zirkulär gestaltet sein.30 Zirkuläres Argumentieren könnte dann eine Praktik sein, die sich methodologisch untersuchen ließe, für deren Verständnis aber die praxeologische Beschreibung und Analyse ertragreicher sein könnte. Wie verhalten sich objektive, intersubjektive und subjektive Validierungsstandards zueinander? Gibt es in der Literaturwissenschaft die Anerkennung von Evidenzerfahrungen, etwa ästhetischer Art? Sind solche Evidenzerfahrungen mit bestimmten Praktiken mehr oder weniger fest verknüpft oder beruhen sie geradezu auf ihnen?

IV.3 Darstellungsformen Während in den Experimentalwissenschaften „Doing Science“ und „Writing Science“ in einer signifikanten Spannung zueinander stehen31 und das „Aufschreiben“32 in der Regel ein der Experimentalpraxis nebengeordneter Vorgang

30 Die Behauptung, diese Voraussetzungen seien nicht realisierbar, setzt die Begründung einer Alles-und-Es-gibt-Behauptung voraus, also einer Behauptung der Form: ‚Für alle Dinge, die eine bestimmte Eigenschaft haben, gibt es eine andere Eigenschaft (oder mehrere andere Eigenschaften), die sie auch besitzen.‘ Da Alles-und-Es-gibt-Behauptungen weder falsifizierbar noch verifizierbar sind, kann es eine solche Begründung nicht geben, ergo lässt sich nicht zeigen, dass die Voraussetzungen für ein nicht-zirkuläres Vorgehen beim Interpretieren (prinzipiell) nicht erfüllt sein können. In jedem einzelnen Fall muss also immer wieder entschieden werden, ob eine lokale Argumentation für eine Interpretation zirkulär ist. Dabei lässt sich nur zeigen, dass sie zirkulär, nicht aber, dass sie nicht-zirkulär ist. Hier gibt es eine Asymmetrie, denn ein Nachweis der NichtZirkularität würde in der Begründung einer Es-gibt-nicht-Behauptung bestehen, also etwa der Behauptung: ‚Es gibt in der konkreten Argumentation keine verborgene Prämisse, die, expliziert, die Argumentation zirkulär macht.‘ Vgl. ausführlicher zur Problematik der Zirkularität von Interpretationen: Lutz Danneberg, „Die Historiographie des hermeneutischen Zirkels: Fake und fiction eines Behauptungsdiskurses“, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 3/1995, S. 611–624. 31 Vgl. Jutta Schickore, „Doing Science. Writing Science“, in: Philosophy of Science, 75/2008, S. 323–343. 32 Vgl. u.a. Karin Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Wie Wissen produziert wird, Frankfurt a.M. 2002; Lutz Danneberg/Jürg Niederhauser (Hrsg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kon-

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ist, ist die literaturwissenschaftliche Wissensproduktion33 in geradezu konstitutiver Weise auf sprachliche Manifestationen angewiesen. Darstellungsverfahren zählen daher zum Kern des literaturwissenschaftlichen Praxisrepertoires. Welche Formen, Strategien und Funktionen literaturwissenschaftlicher Darstellungstechniken lassen sich empirisch beobachten?34 Welche historischen Verlaufsformen sind zu identifizieren?35 Welche Rolle spielt die akademische ‚SelbstDarstellung‘,36 die textuelle Inszenierung einer wissenschaftlichen ‚Haltung‘, eines ‚Ethos‘,37 einer ‚Person‘?38 Was lässt sich für die spezifischen Belange der Untersuchung geisteswissenschaftlicher Rhetorik von der rhetoric of science lernen?39 Gibt es eine ‚literarische Struktur literaturwissenschaftlicher Darstellungen‘?40 Dabei liegt auch ein Problem darin, dass der Ausdruck ‚literarisch‘ zur

trast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen 1998; Michael Lynch/Steve Woolgar (Hrsg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge, London 1990. 33 Wie zum Beispiel auch die mathematische; vgl. die praxeologische Studie zur Mathematik von Heintz, Die Innenwelt der Mathematik. Vgl. ferner: Alex Csiszar, „Stylizing Rigor: or, Why Mathematicians Write So Well“, in: Configurations, 11/2003, 2, S. 239–268. 34 Vgl. u.a. Thorsten Pohl, Die studentische Hausarbeit. Rekonstruktion ihrer ideen- und institutionengeschichtlichen Entstehung, Heidelberg 2009; Anthony Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin, New York 1995; Jennifer Wolfe Thompson, „The Death of the Scholarly Monograph in the Humanities? Citation Patterns in Literary Scholarship“, in: Libri, 52/2002, 3, S. 121–136; Jeanne Fahnestock/Marie Secor, „The Rhetoric of Literary Criticism“, in: Charles Bazerman/James Paradis (Hrsg.), Textual Dynamics of the Professions. Historical and Contemporary Studies of Writing in Professional Communities, Madison 1991, S. 76–96. 35 Vgl. etwa Otto Kruse, „The Origins of Writing in the Disciplines. Traditions of Seminar Writing and the Humboldtian Ideal of the Research University“, in: Written Communication, 23/2006, 3, S. 331–352. 36 Felix Steiner, Dargestellte Autorschaft. Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten, Tübingen 2009. 37 Ruth Amossy, „Ethos at the Crossroads of Disciplines. Rhetoric, Pragmatics, Sociology“, in: Poetics Today, 22/2001, 1, S. 1–23; Judy Segal/Alan W. Richardson, „Introduction. Scientific Ethos: Authority, Authorship, and Trust in the Sciences“, in: Configurations, 11/2003, 2, S. 137–144. 38 Lorraine Daston, „Die wissenschaftliche Persona. Arbeit und Berufung“, in: Theresa Wobbe (Hrsg.), Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2003, S. 109–136. 39 Zur rhetoric of science vgl. etwa die (größtenteils wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten) Studien in: Timothy Lenoir (Hrsg.), Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communication, Stanford 1998. Für linguistische Analysen zu Wissenschaftsstilen und zu Gattungen des wissenschaftlichen Diskurses vgl.: Peter Auer/Harald Baßler (Hrsg.), Reden und Schreiben in der Wissenschaft, Frankfurt a.M. [u.a.] 2007. 40 Für Studien zu ‚literarischen Technologien‘ oder ‚literarischen Strukturen‘ in wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftlichen Texten vgl.: Steven Shapin, „Pump and Circumstance. Robert Boyle’s Literary Technology“, in: Social Studies of Science, 14/1984, 4, S. 481–520; Frederic L. Holmes, „Scientific Writing and Scientific Discovery“, in: Isis, 78/1987, S. 220–235;

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Charakterisierung der wissenschaftlichen Argumentation oftmals nur als ex negativo bestimmtes Konzept der ‚Reste‘ fungiert. Es stellt sich daher sowohl für die methodologische Rekonstruktion als auch für die praxeologische Analyse und Beschreibung die Frage, wie eine positive Bestimmung des ‚Literarischen‘ oder auch ‚Ästhetischen‘ wissenschaftlicher Argumentationen aussehen könnte.41

IV.4 Vermitteln Interpretationswissen ist sowohl innerhalb der Universität, d.h. in der Lehre und der intra- wie interdisziplinären Kommunikation, als auch außerhalb der Universität, in außeruniversitären Bildungseinrichtungen sowie in journalistischen und popularisierenden Medien des Literaturbetriebs ein zentraler Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Wissensvermittlung. Welche Implikationen haben methodologische und praxeologische Fragestellungen für die Reflexion dieser unterschiedlich gelagerten und historisch hochgradig varianten Vermittlungsanforderungen?42 Wenn es zutrifft, dass „[ü]ber die Zukunft der deutschen Geisteswissenschaften […] in der Lehre entschieden [wird]“,43 stellt sich vor allem die Frage nach den hochschuldidaktischen Konsequenzen, etwa im Hinblick auf die in den letzten Jahren häufiger geäußerten Plädoyers für eine stärkere Einbindung von Darstellungs- und auch Schreibpraktiken in den Seminarunterricht. Wie bildet sich der historische Wandel geisteswissenschaftlicher Vermittlungsansprüche im Unterrichtsmaterial, beispielsweise in Einführungstexten44 sowie in fach-

Peter Dear (Hrsg.), The Literary Structure of Scientific Argument. Historical Studies, Philadelphia 1991. Mit Fokus auf die Historiographie, insbesondere auch die Wissenschaftshistoriographie: William Clark, „Narratology and the History of Science“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 26/1995, S. 1–71. 41 Für eine wenig überzeugende, da ganz unspezifische Verwendung des Ausdrucks ‚literarisch‘ vgl. etwa: Peter Dear, „Introduction“, in: Ders. (Hrsg.), The Literary Structure of Scientific Argument, S. 1–9. ‚Literarisch‘ scheint dort gleichbedeutend etwa mit ‚rhetorisch‘ oder ‚sprachlich geformt‘ gebraucht zu werden. 42 Vgl. Carsten Kretschmann (Hrsg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin 2003; Rudolf Stichweh, Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, insbesondere S. 28–31. 43 Ulrich Herbert, „Geisteswissenschaftliche Standards in Forschung und Lehre“, in: Klaus W. Hempfer/Philipp Antony (Hrsg.), Zur Situation der Geisteswissenschaften in Forschung und Lehre. Eine Bestandsaufnahme aus der universitären Praxis, Stuttgart 2009, S. 31–42, hier S. 42. 44 Vgl. Jörg Schönert, „‚Einführung in die Literaturwissenschaft‘. Zur Geschichte eines Publikationstypus der letzten 50 Jahre“, in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik, 2001, S. 63–72.

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spezifischen Studien- und Schreibratgebern ab,45 und wie verhält sich dazu die Lehr- und Lernpraxis? Auch mit Blick auf Praktiken der Darstellung und der Argumentation dürfte es ergiebig sein, die Textsorten zu vergleichen, in deren Rahmen Studierende in verschiedenen Ländern Interpretationsverfahren lernen und einüben: Im deutschsprachigen Raum wäre das vor allem die Hausarbeit, im angloamerikanischen der essay oder das term paper und im französischen die explication de texte oder der commentaire stylistique. Für diese Textsorten sind jeweils spezifische Arten der Fragestellung, des Aufbaus, der Argumentationsstruktur und des Umgangs mit der Forschungsliteratur charakteristisch, und diese besonderen Anforderungen werden in einschlägigen Anleitungen und Einführungen ausführlich thematisiert und/oder an Beispielen demonstriert.46 Zudem ist zu fragen, in welchem Verhältnis sachliche und methodische Richtigkeit wissenschaftlichen Wissens zur Repräsentation eines wissenschaftlichen Ethos, einer Haltung, eines Habitus stehen? Wie verhält sich das Selbstverständnis der geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu ihrem gesellschaftlichen ‚Image‘? Wie verträgt sich die Szientifizierung des Faches mit den Aufgaben der ‚Literaturpflege‘ und Literaturvermittlung? Während Teile der humanities in den USA ihre gesellschaftspolitische Relevanz durch die Ausrichtung an vermeintlich sekundären Zielen, der Allgemeinbildungserfahrung der liberal arts education oder speziellen Interessen der identity politics, zu behaupten suchen und sich zu interdisziplinären Verbünden (area studies) zusammengeschlossen haben,47 scheinen sich in Europa die divergierenden anerkennungspolitischen Strategien der Geisteswissenschaften eher an den Disziplinengrenzen zu orientieren,48 so

45 Vgl. Torsten Steinhoff, Wissenschaftliche Textkompetenz, Sprachgebrauch und Schreibentwicklung in wissenschaftlichen Texten von Studenten und Experten, Tübingen 2007. 46 Vgl. Claudius Sittig, Arbeitstechniken Germanistik, Stuttgart 2008; David B. Pirie, How to Write Critical Essays. A Guide for Students of Literature, London, New York 1996; Jean-Louis de Boissieu/ Anne-Marie Garagnon, Commentaires stylistiques, Paris 1987; Helmut Hatzfeld, Initiation à l’explication de textes français, München 1969; zur Hausarbeit vgl. u.a. Pohl, Die studentische Hausarbeit; zu dem – letztlich gescheiterten – Versuch, diese Textsorte in die Hochschulen der USA zu exportieren, vgl. ebd., 139–146; zur explication de texte vgl. G. Barthel, [Art.] „Explication de texte“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Eup–Hör, Darmstadt 1996, Sp. 149–153. 47 Vgl. Michael Bérubé/Cary Nelson (Hrsg.), Higher Education under Fire. Politics, Economics, and the Crisis of the Humanities, New York 1995; Haun Saussy (Hrsg.), Comparative Literature in an Age of Globalization, Baltimore 2006. 48 Vgl. Florian Keisinger (Hrsg.), Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte, Frankfurt a.M. 2003; Till R. Kuhnle, „Plaidoyer pour les intellectuels? Eine Polemik in Sachen Geisteswissenschaften“, in: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik, 18/2002, S. 138–146.

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dass hier nicht nur die Berücksichtigung eines historischen, sondern auch eines interkulturellen, disziplinenspezifischen Vergleichshorizonts geboten scheint.

V Interdisziplinäre und interkulturelle Vergleiche Neben interkulturellen Vergleichsfragestellungen, wie sie oben speziell mit Blick auf Praktiken der Vermittlung von Interpretationswissen vorgestellt wurden, sind mit Bezug auf Praktiken des literaturwissenschaftlichen Interpretierens generell auch interdisziplinäre Vergleiche von Interesse. Als Vergleichsgrößen bieten sich dabei in erster Linie Praktiken des Interpretierens in anderen textorientierten Geisteswissenschaften an, so etwa in der Geschichtswissenschaft oder der Philosophie; aber auch Vergleiche mit Interpretationsverfahren in den Sozialwissenschaften, der Rechtswissenschaft sowie schließlich in den Naturwissenschaften können dabei helfen, die differentiae specificae literaturwissenschaftlicher Verfahren zu identifizieren. International oder interkulturell angelegte Vergleiche wiederum können dazu beitragen, die variablen, in verschiedenen Kontexten unterschiedlich ausgeprägten Komponenten dieser Verfahren zu eruieren.49 Die Hoffnung wäre, darüber Einblicke in die spezifischen Koordinaten unterschiedlicher ‚Wissenskulturen‘ zu gewinnen. Der empirische Aufwand solcher Untersuchungen aber wäre hoch, selbst wenn man dies nur im Rahmen von Fallstudien angehen wollte – von unserem Band kann er nicht geleistet werden.

VI Zum Aufbau des Sammelbandes Die Beiträge der ersten Sektion greifen die oben skizzierte Frage auf, ob und inwiefern die Praxisuntersuchungen der science studies ein Vorbild für Analysen literaturwissenschaftlicher Praktiken sein können, und konkretisieren sie durch die Fokussierung einzelner theoretischer Konzepte, Analyseverfahren und Typen von Untersuchungen. Die zweite Sektion versammelt historische Fallstudien zu Praktiken des Interpretierens, die von der Antike bis zur Gegenwart reichen. Viele dieser Fallstudien

49 Einige vergleichende Studien dieser Art, die als Vorbereitung dienen können, liegen bereits vor: Peter Uwe Hohendahl, „Nationale Ausdifferenzierung der Germanistik. Das Beispiel der USA“, in: Jörg Schönert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, Stuttgart, Weimar 2000, S. 357–381; David Foster, Writing with Authority. Students’ Roles as Writers in CrossNational Perspective, Carbondale 2006.

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verfolgen rein oder vorwiegend deskriptive Zielsetzungen, einige liefern aber auch kritische Bewertungen der behandelten Interpretationspraktiken. Obwohl die Beiträge im Einzelnen divergierende Ziele verfolgen und je spezifische Akzente setzen, werden sie durch ein Interesse daran verbunden, die behandelten Interpretationsweisen auf ihre theoretischen Prämissen und methodischen Maximen hin zu befragen und darüber hinaus ihre nicht auf explizite Theorien oder Methoden rückführbaren Regelmäßigkeiten zu identifizieren. Die Praktiken, die in den meisten Beiträgen der zweiten Sektion im Zentrum stehen, sind argumentative Praktiken, die der Validierung von Interpretationen dienen. Da im Verhältnis zu ihnen die Praktiken der Vermittlung von Interpretationswissen spezifische Fragen aufwerfen, sind die ihnen gewidmeten Beiträge in einer eigenen Sektion, der dritten des Bandes, zusammengefasst. Die vierte und fünfte Sektion schließlich stellen theoretische und methodologische Fragen des Interpretierens ins Zentrum. Dabei nehmen die Beiträge der vierten Sektion eine primär historisch-rekonstruierende Perspektive ein und analysieren Bedeutungs- und Interpretationskonzeptionen sowie methodische Maximen, die zwischen der Antike und dem 20. Jahrhundert entwickelt wurden. Die Beiträge der fünften Sektion haben dagegen eine primär systematische Ausrichtung; sie widmen sich einzelnen Aspekten des Findens und – vor allem – des Begründens und Bewertens von Interpretationshypothesen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Koexistenz vielfältiger theoretischer Ansätze in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft als Hintergrund voraussetzen oder diese Pluralität ausdrücklich zum Thema machen, indem sie etwa nach theorienübergreifenden Bewertungskriterien für Interpretationen fragen. Wie alle Beiträge des vorliegenden Bandes reflektieren sie dabei verschiedene Aspekte der komplizierten Beziehungen zwischen literaturtheoretischen und methodologischen Diskussionen einerseits und interpretatorischer Praxis andererseits. * Viele Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen auf eine im September 2011 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) veranstaltete Tagung zurück; andere Beiträge haben wir, motiviert durch die lebhaften und anregenden Tagungsdiskussionen, später hinzugewonnen. Der Dank der Herausgeber geht daher zuerst an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung sowie an die Autorinnen und Autoren dieses Bandes. Ganz besonders bedanken möchten wir uns bei den Verantwortlichen des FRIAS, ohne die unsere Tagung nicht hätte stattfinden können und auch dieser Band nicht zustande gekommen wäre: zuerst und vor allem bei Werner Frick, dem Direktor der School of Language and Literature, aber auch bei Gesa von Essen, Heike Meier und Simone Zipser. Ein

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Gleiches gilt für die Fritz Thyssen Stiftung, die uns großzügig und unbürokratisch gefördert und auch diese Publikation finanziell unterstützt hat. Dankbar zu erwähnen ist zudem die wertvolle Hilfe von Isabelle Gerlach, Katrin Hudey, Sandra Schell, Alexandra Skowronski, Jørgen Sneis, Friederike Zenker, Sara Kathrin Landa und Frauke Janzen bei der Redaktion und Drucklegung des Bandes. Schließlich schulden wir auch den beiden sachkundigen anonymen Gutachtern im Rahmen des Peer-Review-Verfahrens der Reihe linguae & litterae Dank für ihre akribische Kommentierung des Manuskripts.

I Praxeologie der Literaturwissenschaft: Die Science Studies als Vorbild?

Steffen Martus, Berlin

Epistemische Dinge der Literaturwissenschaft? Der Begriff des „epistemischen Dings“ ist ein Suchbegriff, mit dem die Komplexität von naturwissenschaftlichen Forschungsprozessen erfasst werden soll. Er betont Momente wie die Eigendynamik, die Produktivität und das durch explizite Anweisungen Ungeregelte epistemischer Praktiken. Das Konzept wurde von Hans-Jörg Rheinberger im Blick auf einen bestimmten Bereich der Naturwissenschaften etabliert und von dort aus in unterschiedliche Kontexte importiert. Ob dieser Import reibungslos funktioniert und ob der Begriff insbesondere seinen Transfer in den Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften ohne Einbußen übersteht, ist allerdings offen. Im Folgenden soll daher nach den „epistemischen Dingen“ der Literaturwissenschaft gefragt werden, um Empfehlungen für einen vorsichtigen Gebrauch des Begriffs im Rahmen einer Praxeologie der Literaturwissenschaft zu formulieren. Es geht also gerade nicht um eine direkte Übertragung und die entsprechende umstandslose Analogisierung von Natur- und Geisteswissenschaften. Das „epistemische Ding“ gehört zu einer Reihe von zentralen Konzepten in materialreichen historischen Studien (s.u.), die zugleich methodologische Interessen verfolgen. Bei der Adaptation von Rheinbergers wissenschaftstheoretischem und ‑historischem Instrumentarium für literaturwissenschaftliche Interessen sind einige Missverständnisse zu vermeiden: Der Wert von Rheinbergers Konzept liegt nicht in Empfehlungen, wie Wissenschaft funktionieren sollte, sondern in Beobachtungen dazu, wie sie ‚normalerweise‘ funktioniert – es erhöht die Erfolgsaussichten von normativen Empfehlungen, wenn diese sich an die etablierte Praxis richten. Es gibt Alternativen zu Rheinbergers Wissenschaftstheorie, mit der er deutlich markiert auf ein bestimmtes Reservoir von Wissenschaftstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgreift – ob daher alle terminologischen Neuerungen pragmatisch gerechtfertigt sind, wäre eigens zu diskutieren. Leerstellen bei der Konzeptualisierung des „epistemischen Dings“ liegen insbesondere in der – programmatischen – Vernachlässigung institutioneller oder auch wissenschaftspolitischer Momente. Dies gilt allerdings primär für den Bereich der theoretischen Abstraktion und Verallgemeinerung, wohingegen die materialreichen wissenschaftshistorischen Studien solche Aspekte einbeziehen.

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I Was sind epistemische Dinge? Den Begriff des „epistemischen Dings“ hat der Wissenschaftstheoretiker und -historiker Hans-Jörg Rheinberger als Teil seiner Theorie der „Experimentalsysteme“ geprägt. Im Zentrum seiner wissenschaftshistorischen Arbeiten steht die Geschichte der Naturwissenschaften, genauer eine „Archäologie“ der Humangenetik, wie Rheinberger im Anschluss an Foucault formuliert. Diese naturwissenschaftliche Konstellation untersucht er in der Tradition und Weiterentwicklung der Laborstudien bzw. im größeren Kontext der historischen Epistemologie.1 Die historischen und systematischen Ergebnisse sind zusammengefasst in Toward a History of Epistemic Things. Synthesizing Proteins in the Test Tube (Stanford 1997) bzw. in Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas (Göttingen 2001; auch als Taschenbuch Frankfurt am Main 2006).2 In der einfachsten Fassung lautet die Definition eines epistemischen Dings bei Rheinberger: „Epistemische Dinge sind die Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt […]“.3 Damit verbindet sich u.a. die Frage, wie Objekte beschaffen sein müssen, um als forschungsrelevant aufgefasst bzw. für interpretationsrelevant, für interpretationsbedürftig, interpretierenswert oder interpretationsfähig gehalten zu werden. Wann also dürfen wir uns legitimiert fühlen, solchen „Dingen“ Zeit, Arbeit, personale, infrastrukturelle, mediale u.a. Ressourcen zu widmen? Welcher Aspekt der Interpretationsarbeit erscheint mehr oder weniger

1 Vgl. dazu Hans-Jörg Rheinberger selbst in: Historische Epistemologie. Eine Einführung, Hamburg 2007. 2 An diese Studie, die von der Krebsforschung zur Genetik führt, schließt wissenschaftshistorisch an: Staffan Müller-Wille/Hans-Jörg Rheinberger, Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt a.M. 2009. 3 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a.M. 2006, S. 27. Ähnlich spricht auch Günter Abel – ohne auf Rheinberger Bezug zu nehmen – von „epistemischen Objekten“ als demjenigen, „worauf sich in den Wissenschaften, in der Philosophie und in anderen Künsten unsere epistemische, d.h. unsere wissens- und erkenntnis-orientierte Aufmerksamkeit und Neugierde, unsere Wissens- und Denkanstrengungen richten. Sie sind Objekte der intellektuellen Begierde in Theorie und Praxis“ (Günter Abel, „Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte“, in: Holm Tetens/Stefan Tolksdorf [Hrsg.], In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin, New York 2010, S. 127–156, hier S. 127 f.; vgl. auch Ders., „Epistemische Objekte – was sie sind und was macht sie so wertvoll? Programmatische Thesen im Blick auf eine zeitgemäße Epistemologie“, in: Kai-Michael Hingst/Maria Liatsi [Hrsg.], Pragmata. Festschrift für Klaus Oehler zum 80. Geburtstag, Tübingen 2008, S. 285–298, hier S. 285). Die Geisteswissenschaften spielen bei Abel eine geringe Rolle (vgl. z.B. Ders., „Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte“, S. 128, 141).  

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relevant und taugt zum Gegenstand forschender Anstrengung? So kann der Akzent z.B. eher auf die Erschließung historischer Textbestände gelegt werden, die immer auch theorieimprägniert ist, oder eher auf die virtuose Erkundung von Theoriehorizonten, die dann – schon aus rein arbeitsökonomischen Gründen – dazu tendieren, Quellen zum Belegmaterial zu degradieren. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie man eigentlich zeigt, dass man sich überhaupt ‚angestrengt‘ hat. Bestimmte Objekte erlauben es mehr, andere weniger, Forschungskompetenzen und Forschungsanstrengungen zur Geltung zu bringen, also zu zeigen, ‚was man kann‘ und ‚was man geleistet hat‘. Dieser legitimatorische Aspekt epistemischer Dinge verweist mithin darauf, in welcher Weise Interpretationen ins Reputationsmanagement einer Disziplin eingebaut sind. Dies gilt für die Seite des Forschers ebenso wie für die Seite der Forschungsgegenstände, deren Reputation dann wiederum in die Plausibilisierung von weiterer Forschung eingehen kann. Für den Umgang mit dem legitimatorischen Aspekt epistemischer Dinge lohnt es sich beispielsweise, die Begründungsrituale und -rhetorik in literaturwissenschaftlichen Studien anzusehen. Insbesondere der Vergleich zwischen Schriften von Adepten und von Könnern sowie von Schriften, die sich an Adepten, und solchen, die sich an Könner richten, ist hierfür aufschlussreich. In Hausarbeiten von literaturwissenschaftlichen Anfängern oder in Einführungs- und Lehrbüchern4 wird typischerweise der Eindruck erzeugt, dass Gegenstand und Fragestellung einer Arbeit gegeben sind und nicht eigens begründet werden müssen. Die Kommunikation innerhalb der scientific community zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass Wissensansprüche modalisiert, ein gewisser persuasiver Aufwand getrieben und ein epistemisches Ding in dialogischer Aushandlung mit einer vielstimmigen ‚Forschungssituation‘ zu verhandeln ist. Ähnliches gilt bei der Bewertung insbesondere von Qualifikationsschriften, die gelegentlich danach befragt werden, ob ihr Gegenstand die investierte Zeit und Arbeit wert war, ob er als promotions- oder habilitationswürdig gelten kann und welche Rolle die Wahl des Gegenstands und der daraus abgeleitete Anspruch eines Forschers für die Notengebung hat. Ein ‚schwieriger‘ oder ‚anspruchsvoller‘ Gegenstand verlangt demnach andere Bewertungsverfahren als ein ‚einfacher‘ oder ‚anspruchsloser‘. Wie weit aber trägt die Vorstellung, ein Gegenstand erhebe ‚Ansprüche‘? Mit anderen Worten: Literaturwissenschaftler müssen an einigen Stellen ihrer Forschungstätigkeit explizit und stets beiläufig zeigen, dass sie wissen, was es

4 Vgl. dazu Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Eine praxeologische Perspektive auf ‚Einführungen‘“, in: Claudius Sittig/Jan Standke (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Lehrbuchkultur. Zur Geschichte und Gegenwart germanistischer Bildungsmedien, Würzburg 2013, S. 25–40.

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heißt, in Forschungsprozesse und entsprechende Arbeitsformen involviert zu sein, einem „Ding“ die „Anstrengung des Wissens“ und dabei eben auch die Arbeit der Interpretation zu widmen. Das Attribut „epistemisch“ weist darauf hin, dass die so markierten „Dinge“ im Rahmen von Forschungsprozessen eine Rolle spielen, dass ihre Erkundung mithin Zeit in Anspruch nimmt. Dieser prozessuale Aspekt macht epistemische Dinge konstitutiv vage und unklar.5 Die Miterzeugung von Forschungsbedarf gehört zum Geschäft der wissenschaftlichen, mithin auch der literaturwissenschaftlichen Arbeit. Forschung und Interpretationen haben also nicht den Sinn, ein Objekt gleichsam zu erschöpfen, sie dienen zumindest nicht allein dazu, Antworten und Ergebnisse zu produzieren, sondern sie dienen dazu, ein epistemisches Ding weiterhin erforschenswert und interpretierenswert zu halten. Der prozessuale und der legitimatorische Aspekt gehören zusammen. Dieser prozessuale Aspekt, die Offenheit und Vagheit epistemischer Dinge und damit der Charakter ihrer Erforschbarkeit unterscheidet sie in der Terminologie Rheinbergers von „technischen Objekten“, zu denen sie gegebenenfalls im Lauf der Zeit werden und dann als stabilisierte und routinisierte Elemente der Forschung dazu dienen, neue epistemische Objekte zu etablieren. Ohne weiteren Forschungsbedarf verlieren epistemische Dinge ihren Status als Gegenstände, denen die „Anstrengung des Wissens“ gilt. Man muss sich zum einen Gedanken darüber machen, wie Ergebnisse plausibilisiert werden, und zum anderen darüber, wie plausible Ergebnisse trotz ihrer Überzeugungskraft dafür sorgen, dass epistemische Dinge nicht zu technischen Objekten werden. Damit schlägt Rheinberger ein Erzählmodell für die Historiographie von Disziplinen vor: In diesen tauchen epistemische Dinge auf, denen man angestrengte Forschung widmet; diese epistemischen Dinge werden in technische Objekte transformiert, die gleichsam mühelos mitgeführt werden können; das Interesse an solchen technischen Objekten verblasst schließlich, so dass eine Disziplin sie vernachlässigt und vielleicht sogar vergisst oder die Epistemizität von bestimmten Objekten nicht mehr plausibel erscheint. Auf diese Weise lässt sich etwa die Verschiebung von philologischen zu literaturwissenschaftlichen und von dort zu kulturwissenschaftlichen Ausprägungen der Germanistik beschreiben: Das für die Philologie des 19. Jahrhunderts zentrale epistemische Ding „Edition“ verwandelt sich im Übergang zum 20. Jahrhundert in ein technisches Objekt im Rahmen der Konzentration auf literaturhistorisches Wissen; die Literaturgeschichte verliert im Rahmen der Verkulturwissenschaftlichung der Germanistik an der Wende zum 21. Jahrhundert ihren Status

5 Vgl. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, z.B. S. 28 f.  

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als epistemisches Objekt und läuft bei der Erzeugung kulturhistorischen Wissens allenfalls noch mit. Andere Beispiele sind die Vernachlässigung von etablierten Epochenbegriffen oder die Trivialisierung, Normalisierung und Routinisierung von bestimmten Theoriebegriffen (z.B. „literarisches Feld“). Interessant ist zudem die Frage, wie in einzelnen Interpretationen das Verhältnis von Epistemizität und Technizität von Dingen und Objekten austariert wird – wo und wie also Plausibilität und Evidenz vorausgesetzt oder Forschungsbedarf behauptet, wo Klarheit unterstellt und Unklarheit inszeniert wird. Bereits mit dem Terminus „Ding“ weist Rheinberger auf den legitimatorischen und prozessualen Aspekt epistemischer Dinge hin. Der Terminus soll anzeigen, dass es nicht um „Objekte“ geht, die einfach vorhanden sind und nur noch entdeckt werden müssen, sondern um etwas, was den Unterschied zwischen aktivem, forschendem und entdeckendem Subjekt und passivem, zu entdeckendem und zu erforschendem Objekt erschwert. Rheinberger greift dabei neben Beobachtungen des Kunsthistorikers George Kubler insbesondere auf Konzepte von Bruno Latours Wissenschaftstheorie zurück. Wiederum kurz gefasst unterscheiden sich „Objekte“ und „Dinge“ dadurch, dass „Dinge“ nicht einfach vorliegen (was auch immer damit genau gemeint sein könnte), sondern dass „Dinge“ „uns angehen“ – so unterscheidet Latour etwa im Anschluss an Heideggers Überlegungen zum „Ding“ Fakten oder Tatsachen als „matters of fact“ von „matters of concern“ („Dinge, die uns angehen“, „Dinge von Belang“) und behauptet: Die Wirklichkeit ist nicht durch Tatsachen definiert. Tatsachen, matters of fact, machen nicht die ganze Erfahrung aus. Tatsachen sind nur eine sehr partielle und, wie ich meine, sehr polemische, sehr politische Wiedergabe der Dinge, die uns angehen, der matters of concern, und bloß eine Teilmenge dessen, was man auch den ‚state of affairs‘, den Stand der Dinge nennen könnte.6

Ein „Ding“ sei „ein Objekt da draußen“ und zugleich „ein Anliegen da drinnen“, das sich im Zusammenwirken (in einer „Versammlung“) von affektiven, institutionellen, technischen u.a. Verfahren einstellt und erst anschließend und gegebenenfalls zu etwas wird, „was für sich steht“.7 Wissenschaftstheoretisch und -historisch besteht Latours Projekt darin, die epistemischen „Dinge“ als Elemente eines „Assoziationsgewebe[s]“ zu beschreiben.8 Man könnte dies den hybriden Aspekt epistemischer Dinge nennen und dem „Assoziationsgewebe“ mit Rheinberger eine konkrete Gestalt geben: Episte6 Bruno Latour, Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich, Berlin 2007, S. 21. 7 Ebd., S. 30 f. 8 Ebd., S. 35.  

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mische Dinge ergeben sich nicht unabhängig von den Mitteln und Medien, mit denen sie erforscht werden – in den Naturwissenschaften gehören epistemische Dinge daher typischerweise zu einem Experimentalsystem, zu einem lokalisierten Ensemble von u.a. sozialen, institutionellen, technischen und medialen Gegebenheiten.9 Ob dies zugleich bedeutet, dass die Dinge nicht „da draußen“ sind, kann dabei offen bleiben. Die Pointe der Philosophie und Wissenschaftstheorie der „Dinge“ besteht darin, dass „Dinge“ im Unterschied zu „Objekten“ eine Art Eigenleben, eine spezifische Eigendynamik zu entwickeln scheinen. Während die gleichsam normalkonstruktivistische Sicht der Literaturwissenschaft davon ausgeht, dass diese ihre „Gegenstände […] erschafft“, und zwar „durch die Art ihres Fragens und Vorgehens“,10 empfiehlt Rheinberger, die Perspektive umzukehren und den autopoietischen Aspekt epistemischer Dinge in den Vordergrund zu rücken: Man müsste also untersuchen, wie die literaturwissenschaftlichen „Dinge“ bestimmte Arten des Fragens und Vorgehens stimulieren. In der literaturwissenschaftlichen Rede erscheint diese Auffassung der „Dinge“ in Wendungen wie „Der Text fordert / verlangt eine bestimmte Behandlung oder Interpretation“. Bereits Begriffe wie „Interpretationsbedarf“ oder allgemeiner „Forschungsbedarf“ deuten in diese Richtung – hier wird zumindest rhetorisch die Legitimation von Tätigkeiten an die Welt delegiert, auch wenn diese sich an ihrer wissenschaftlichen Erkundung desinteressiert zeigt. Selbst wenn man die Kulturalisierung der Naturwissenschaften für problematisch halten sollte, ist die „Ding“-Philosophie für die Literaturwissenschaft akzeptabel und weist auf einen wichtigen Aspekt hin: Literatur und Literaturwissenschaft entwickeln sich gemeinsam und mit vielfältigen wechselseitigen Bezugnahmen. Tatsächlich erheben Gegenstände der Literaturwissenschaft Anforderungen, legen bestimmte Textumfangsformen mehr oder weniger nahe, etablieren ein Normsystem für die Behandlung von Werken etc.11 Dies gilt auch in

9 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 9. 10 Thomas Wiemer, „Ideen messen, Lektüren verwalten? Über Qualitätskriterien literaturwissenschaftlicher Forschung“, in: Journal of Literary Theory, 5/2011, 2, S. 263–278, hier S. 264. 11 Vgl. im Überblick über Fragestellungen und Forschungsbeiträge Steffen Martus, „‚In der Hölle soll sie braten‘. Zur Literatur der Literaturwissenschaft mit einem Seitenblick auf Matthias Polityckis Weiberroman und die Computerphilologie“, in: Zeitschrift für Germanistik N.F., 17/2007, S. 8–27 – in diesem Heft der Zeitschrift für Germanistik finden sich nachfolgend einige Fallstudien zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft. Vgl. weiterhin Steffen Martus, „Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933“, in: Michael Ansel/Hans-Edwin Friedrich/Gerhard Lauer (Hrsg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin, New York 2009, S. 47–84, sowie Mark-Georg Dehrmann/Alexander Nebrig (Hrsg.), Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert,

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einem sehr einfachen und direkten Sinn: Autoren können sich auf die Erforschung ihres Werks einstellen, Hinweise liefern, Blockaden einbauen oder solche Komplikationen zur Verfügung stellen, die dem Forscher gute Möglichkeiten dafür bieten, seine Fähigkeiten zu beweisen. Literarische Kommunikation findet in Deutschland seit rund 150 Jahren unter Bedingungen einer etablierten Neugermanistik statt, die seit etwa 100 Jahren auch die Gegenwartsliteratur in ihre Aufmerksamkeitsspanne einbezieht. Der „Ding“-Begriff weist mithin auf die normalen Bestände einer gleichsam magischen Weltsicht hin (also nicht auf Restbestände, die noch aufzuklären und zu beseitigen wären). Hartmut Böhme vermutet, dass in diesem Glauben an die Macht der Dinge Bindekräfte stecken, auf die auch die moderne Gesellschaft nicht verzichten kann, weil selbst sie auf „gehaltvolle[] Identifikationen“ angewiesen bleibt.12 Aus dieser Perspektive geht es mehr um Erkundung als um Desillusionierung; es geht eher darum, sich von der Komplexität der Vorgänge faszinieren zu lassen, die die „Dinge“ machen, als diese zu denunzieren (z.B. als ‚bloße‘ Konstruktion). Epistemische Akteure verwalten die „Dinge“ also weniger instrumentell oder steuern diese souverän; sie werden vielmehr von den Dingen motiviert, gefordert, geführt oder gelenkt (oder sie haben zumindest den Eindruck, dass dies so sei; sie fassen „Dinge“ in dieser Weise auf). Rheinberger rekurriert dabei zum einen auf die Selbstbeschreibung erfahrener Naturwissenschaftler, die davon berichten, wie die Experimentalanordnung die Regie bei der Forschung übernimmt. Zum anderen bezieht Rheinberger sich auf das wissenschaftshistorische Phänomen, dass sich in der Forschung Dinge „ergeben“ und Forschungsrichtungen eingeschlagen werden, die von den beteiligten Akteuren nie geplant waren. Im Fall seines Paradebeispiels, der Proteinsynthese, bedeutet dies: Zu Beginn der folgenden Fallgeschichte war die Untersuchung der Proteinsynthese Teil eines Krebsforschungsprogramms. […] In der sich rapide wandelnden Landschaft der neuen Biologie wurde ihre Verbindung mit der Krebsforschung, aus der sie hervorgegangen war, zunächst völlig in den Hintergrund gedrängt. Statt dessen landete das Forschungsprojekt über mehrere unvorhergesehene Verschiebungen hinweg bei einem Nukleinsäuremolekül, der Transfer-RNA, das sich als einer der entscheidenden experimentellen Angriffspunkte zur

Bern [u.a.] 2010; Alexander Nebrig, Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin 2011; Jan Behrs, Literatur und Literaturwissenschaft – Rekonstruktion ihrer Beziehung am Beispiel des Realismus und des Expressionismus. Studien zum Zusammenhang von Wissenschaft und Literaturgeschichte, Berlin 2012. 12 Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 21 f.  

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Lösung des zentralen Rätsels der Molekularbiologie erweisen sollte: des genetischen Codes.13

So „ergab“ sich eine „Verbindung der biochemischen Forschung über die Proteinsynthese mit dem Diskurs der Molekulargenetik“,14 und zwar auf eine Weise, die keiner der Akteure intendiert hatte: Die Fallstudie dieses Buches zeigt, daß weder die allgemeinen Vorgaben eines institutionellen Rahmens noch die ursprüngliche Formulierung eines Forschungsprogramms, noch die bloße Einführung einer neuen Technologie festlegen, welche Richtung ein Forschungsprogramm nimmt und welche wissenschaftliche Produktivität es schließlich entfaltet. Das bedeutet, daß auch die Darstellung auf Determinismen, gleich ob sozialer, theoretischer oder technischer Natur, besser verzichtet.15

Nach vergleichbaren Fällen in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik wäre zu suchen. Zumindest müssten sich in den Geisteswissenschaften Äquivalente zu „Experimentalsystemen“ finden (s.u.). In derart konzipierten Forschungsprozessen bilden stabile „technische Dinge“, die einen „Routine-Charakter“ haben, die Folie, auf deren Hintergrund sich „epistemische Dinge“, also Forschungsgegenstände, abzeichnen und bedeutungsvoll werden.16 Experimentalsysteme weisen eine gewisse voraussagbare Stabilität auf, lassen aber zugleich Abweichungen zu oder erzeugen diese sogar. Daraus ergibt sich dann typischerweise eine unvorhersehbare Eigendynamik. Diese Eigenschaft bezeichnet Rheinberger mit dem Begriff der „differentiellen Reproduktion“. Er rekurriert damit u.a. auf den „différance“-Begriff von Jacques Derrida, wie dieser ihn in der von Rheinberger und Hans Zischler während ihres Philosophiestudiums ins Deutsche übersetzten Grammatologie geprägt hat. Es handelt sich mithin um ein denkbar voraussetzungsreiches Konzept. Rheinberger schultert das ganze Gewicht der poststrukturalistischen Theoriebildung von Lacan über Derrida und Foucault bis hin zu Serres oder Deleuze, fügt dieser Theoriekonstellation bei Gelegenheit noch Verweise auf die deutschen Vordenker Nietzsche, Freud und Heidegger hinzu und verknüpft sein intertextuelles Theoriearrangement nicht nur mit Latours Thesen zur Funktionsweise von Wissenschaft, sondern auch mit den Empfehlungen Bachelards und Canguilhems, Flecks und Polanyis zur Wissenschaftsgeschichtsschreibung.

13 14 15 16

Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 36 f.; vgl. auch S. 85 f. Ebd., S. 177. Ebd., S. 39. Ebd., S. 33 f.  





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II Epistemische Dinge und Praktiken Die Forschung richtet sich also an jenen epistemischen Dingen aus und lässt sich von ihnen leiten, die in der Forschung zum Erscheinen gebracht werden. Zu den legitimatorischen, prozessualen, hybriden und autopoietischen Aspekten epistemischer Dinge kommt daher der praktische Aspekt hinzu. Rheinberger legt darauf wert, dass epistemische Praktiken und epistemische Dinge untrennbar zusammen gehören. Der „Ding“-Begriff bringt auf der Objektseite das zur Geltung, was auf der Subjektseite (etwa bei Pierre Bourdieu) die Theorie des Habitus zur Geltung zu bringen versucht: Haltungen sind Effekt und Sediment einer bestimmten intersubjektiven Geschichte. Für den praktischen Aspekt epistemischer „Dinge“ soll dies bedeuten, dass sie ihre Gebrauchsgeschichte inkorporieren.17 Zu dieser prominenten Position zwischen den Objekt- und Subjektwelten wird ein „Ding“ weder durch sich selbst noch durch eine Person, sondern aufgrund seiner hybriden Qualitäten. „Dinge“ ergeben sich in komplexen Netzwerken, in die Subjekte und Objekte eingelassen sind (bestehend aus Pädagogik, Medien, Wissenschaft u.v.a.m.). Diese Netzwerke verpflichten Akteure auf bestimmte Einstellungen und Handlungen, wenn sie ein „Ding“ identifizieren, sich um dieses „Ding“ bemühen, sich damit befassen etc. Mit Hartmut Böhme formuliert: Ein „Ding“ „enthält funktionale Koppelungen mit Operationen […]“,18 und zwar im Kontext von „kulturelle[n] Konfigurationen“, „zu denen Dinge, Menschen, Institutionen gehören“.19 Daraus ergibt sich die grundsätzliche Empfehlung, auch die Literaturwissenschaft vom Primat der Praxis aus aufzufassen. Die „Praxeologie der Literaturwissenschaft“20 reagiert damit insbesondere auf drei Probleme, die konventionelle Beschreibungen der Literaturwissenschaft nicht oder nicht besonders erfolgreich in den Griff bekommen: zum einen auf krisenhafte Erfahrungen im Bereich der Lehre, zum zweiten auf die eigentümliche Folgenlosigkeit von Theoriedebatten und zum dritten auf die bemerkenswerte Diskrepanz zwischen programmatischen

17 Andreas Reckwitz spricht von interobjektiven Beziehungen oder von Interobjektivität: „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, 32/2003, S. 282–301, hier S. 292; Ders., „Auf dem Weg zu einer kultursoziologischen Analytik zwischen Praxeologie und Poststrukturalismus“, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hrsg.), Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, Wiesbaden 2010, S. 179–205, hier S. 191. 18 Böhme, Fetischismus und Kultur, S. 55. 19 Ebd., S. 70. 20 Vgl. Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, in: Geschichte der Germanistik, 35/36/2009, S. 89–96.

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Äußerungen und konkreter Textarbeit. Um nur auf den zuletzt genannten Punkt einzugehen: So haben beispielsweise Simone Winko und Marcus Willand am Beispiel der Autortheorie gezeigt, dass literaturtheoretische Entscheidungen gegen den Autor bzw. für oder gegen bestimmte Autorkonzepte keinen oder einen nur gebrochenen Eingang in die Interpretationspraxis finden.21 Der Autor mag theoretisch tot sein, im interpretierenden Textumgangsverhalten ist er sehr lebendig. Ähnliches wurde für den Literaturbegriff dargelegt.22 Es besteht Anlass zu der Vermutung, dass sich dies pauschalisieren lässt und dass es kaum gute Gründe für eine instruktionsoptimistische Einschätzung von Literaturtheorien gibt, zumindest nicht im Sinn einer schlichten Anweisungsfunktion. Dies gilt schon deswegen, weil bei der Anwendung von Theorien und Regeln Probleme auftreten, die sich nicht ihrerseits wieder mit Theorien und Regeln regeln lassen. Theorien oder andere explizite Normen, Anweisungen etc. steuern die Praxis (z.B. die der Interpretation) nicht direkt und nicht ausschließlich. Praktiken erweisen sich vielmehr als eigentümlich robuste Einheiten. Produktiver könnte es daher sein, auch das Theoretisieren als eine Praxis i.S. einer spezifischen Verbindung von Praktiken neben anderen Praxen, die die Literaturwissenschaft ausmachen, zu behandeln und ihr keine höhere Dignität zuzuschreiben. Es kann funktionale Koppelungen zwischen verschiedenen Praktiken oder Praxen geben. Oder anders: Praktiken lassen sich auf unterschiedlichen Niveaus identifizieren – man könnte z.B. von Mikro- und Makropraktiken sprechen oder davon, dass es ubiquitär verfügbare oder ‚wandernde‘ Praktiken (z.B. Lesen, Schreiben) gibt, die aber in der spezifischen Kombination mit anderen Praktiken eine besondere Funktion und einen besonderen Sinn bekommen und dann z.B. eine literaturwissenschaftliche Praxis bilden. Freilich besteht das Problem, dass literaturwissenschaftliche Praktiken eine große Variationsbreite aufweisen, verhältnismäßig unscharf sowie (disziplinär u.a.) wenig spezifisch sind und somit definitorisch nicht leicht zu fassen sein dürften. Gleichwohl ließe sich von hier aus eine praxeologische Analyse der Literaturwissenschaft nicht allein zu deskriptiven und diagnostischen Zwecken verwenden, sondern sie erwiese auch ihre evaluative Qualität im Blick auf Programme

21 Simone Winko, „Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis“, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar 2002, S. 334–354; Marcus Willand, „Autorfunktionen in literaturwissenschaftlicher Theorie und interpretativer Praxis. Eine Gegenüberstellung“, in: Journal of Literary Theory, 5/2011, S. 279–302. 22 Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Simone Winko, „Geschichte und Emphase. Zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs“, in: Jürn Gottschalk/Tilmann Köppe (Hrsg.), Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, Paderborn 2006, S. 123–154.

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der Interdisziplinarität oder der interdisziplinären Anleihen. Denn wenn Forschungskompetenz wesentlich damit zu tun hat, dass man zeitintensiv in einem bestimmten Forschungszusammenhang zugange war und dann dazu in der Lage ist, die entsprechenden Praktiken zu realisieren, dann könnte man dies auch als Qualitätskriterium für die Fähigkeit zum Übertrag zwischen den Disziplinen verwenden: Wenn man es also als Literaturwissenschaftler wagt, z.B. – wie im Beitrag von Andrea Albrecht zum vorliegenden Band gezeigt – auf Erkenntnisse aus dem Bereich der mathematischen Wissenschaften zuzugreifen, dann sollte man auch mit den Praktiken der Mathematik vertraut sein. Ähnliches lässt sich über kognitionswissenschaftliche Ausrichtung der Literaturwissenschaft sagen – nur wer auch von den Geräten und Laboren der Kognitionswissenschaften etwas versteht, sollte ein hartes kognitionswisssenschaftliches Arbeitsprogramm verfolgen; wer dazu nicht in der Lage ist, sollte sich vorsichtshalber mit Anleihen aus dem Bereich der Heuristik bescheiden. Aus praxeologischer Sicht spricht jedenfalls für Rheinbergers Theorie epistemischer Dinge, dass sich solche Phänomene und solche Aspekte der Literaturwissenschaft mit dem von ihm angebotenen und geisteswissenschaftlich abgerüsteten Vokabular beschreiben lassen. Forschung, so Rheinberger, geht nicht von Theorien aus, sondern von „epistemische[n] Praktiken“. Der praktische und der prozessuale Aspekt epistemischer Dinge hängen insofern zusammen, als sich „wissenschaftlich relevante einfache Dinge“ nicht naturgemäß abzeichnen, sondern erst nach zeitintensiven Erfahrungen in Forschungszusammenhängen.23 Für Forschungs- wie für Lehrzusammenhänge ist dabei charakteristisch, dass sie fehlerhaft, irrtümlich, umwegig, auf eine normale Art unkontrolliert verlaufen. Man könnte dies als Hinweis auf den multi- oder polynormativen Aspekt von epistemischen Dingen verstehen, darauf also, dass im Blick auf epistemische Dinge unterschiedliche Normen auf- und abgeblendet und unterschiedliche normative Hierarchien gebildet werden können. Bei der Ausführung von Praktiken spielen etwa Momente wie „Vertrautheit, Befriedigung, Erschließung und Beschränkung“ eine große Rolle.24 „Pausibilität“25 könnte daher ein Label für sehr Vieles sein, was man z.B. bei Interpretationen tut, ein pastoser Begriff, der gerade die Vielfalt von Teilpraktiken und die damit verbundenen Normen und Werte bezeichnet, die in der Interpretationspraxis ‚zur Geltung gebracht‘ werden. Bei der „differentiellen Reproduktion“ muss der Forscher z.B. „Geschicklichkeit“ (Michael Polanyi im Anschluss an Gilbert Ryle)26 oder „Erfahrenheit“ (Ludwik 23 24 25 26

Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 25. Ebd., S. 22. Vgl. dazu den Beitrag von Simone Winko im vorliegenden Band. Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985, S. 16.

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Fleck)27 beweisen, d.h. er muss ein Gespür dafür haben, wo lediglich ein Fehler vorliegt oder wo eine produktive Irritation stecken könnte; er muss eine Intuition dafür haben, inwiefern er den „Dingen“ ihren Lauf lassen darf und wie er sich – angeleitet von den Ereignissen – dabei verhalten muss. Für diese Virtuosität gibt es kein Regelwerk, weil sie eine über lange Zeit hinweg erworbene routinierte Haltung und Teil einer „Tätigkeits- und Lebensform“ ist.28 Erst wenn man ‚in‘ der Forschung steckt, kann demnach sagen, was zur Forschung gehört. Man entwickelt ein Gespür dafür, was relevant ist oder sein könnte, was man wissen und was man nicht oder nicht unbedingt wissen muss, was passt und sich fügt, was fruchtbar sein könnte oder hilfreich etc. – mit anderen Worten: Man realisiert ein ganzes Arsenal an Normen und Werten, die sich nur locker um wissenschaftliche Zentralwerte wie Richtigkeit oder Wahrheit gruppieren. Ein praxeologisch besonders aufschlussreicher Bereich für dieses Taktge29 fühl und den damit verbundenen multinormativen Aspekt von epistemischen Dingen bilden Prüfungen oder andere Bewertungspraktiken. In solchen Zusammenhängen wird z.B. deutlich, dass der wahr/falsch-Code, der die Wissenschaft theoretisch anleitet, von anderen Codes begleitet, gestützt oder in Frage gestellt wird, mit denen wir – mit Gilbert Ryle gesagt30 – eher das knowing how anstelle des knowing that qualifizieren. In Prüfungen muss man z.B. nicht nur Wahres oder Richtiges wissen, sondern man muss zudem das Passende wissen, so dass mit dem Sachgehalt der Antwort zugleich Informationen darüber geliefert werden, inwiefern die literaturwissenschaftliche Sozialisation erfolgreich war. Der Prüfling muss also den legitimatorischen Aspekt epistemischer Dinge zur Geltung bringen. Er muss zeigen, dass er eine Ahnung davon hat, was es heißt, zu forschen oder in ein Forschungsprojekt engagiert zu sein, sich mithin in jenen „hybride[n] Anordnungen“ und „dynamische[n] Gebilde[n]“, zurechtzufinden, die „den epistemischen Dingen Gestalt“ geben, und zwar indem man sich mit ihnen beschäftigt.31

27 Z.B. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980, S. 125 f. 28 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 92. 29 Vgl. dazu Lutz Danneberg, „Dissens, ad-personam-Invektiven und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts: Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche“, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern [u.a.] 2007, S. 93–147. 30 Vgl. das zweite Kapitel in Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1992. 31 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 9.  

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Als Prüfer kennt man den Fall von Studierenden, die auf Fragen keine angemessene Antwort haben, bei denen man also den Eindruck hat, dass die Kommunikation als solche inkompetent fortgesetzt wird. Prüfer rekonstruierten dies oft so, als wisse der Prüfungskandidat nichts. Aber das greift zu kurz. Vielmehr dürfte es sich oftmals so verhalten, dass der Prüfling durchaus eifrig gelernt hat (vielleicht sogar nicht weniger eifrig als der Kandidat, der eine Prüfung mit einer guten oder sehr guten Note besteht). Das Problem liegt jedoch darin, dass er nicht das Relevante oder Passende gelernt hat. Weiterhin sollte man – wie Andreas Kemmerling im Anschluss an Ryle fordert – sagen können, „wie jemand, der mit einschlägigem Wissen vollgestopft ist, dennoch dumm handeln kann“.32 Und man sollte eine Erklärung dafür zur Verfügung haben, warum jemand, der über einen bestimmten Bereich nur sehr wenig Wissen hat, trotzdem intelligent handelt. Ähnlich verhält es sich im Übrigen mit dem Auftritt von Liebhabern, also von Dilettanten z.B. bei wissenschaftlichen Diskussionen. Man erlebt hier oft Personen mit einem immensen Wissen (z.B. über bestimmte biographische, lebensgeschichtliche Zusammenhänge), das sogar wahr ist, aber nichts ‚zur Sache‘ tut – mit Rheinberger gesagt: das sich nicht auf ein „epistemisches Ding“ bezieht. Ein solcher Auftritt wirkt auf die epistemischen Akteure unpassend, uninteressant, vielleicht fühlen sie sich auch peinlich berührt, und in der Regel wird ein solcher Beitrag mehr oder weniger freundlich übergangen und ignoriert, und zwar unabhängig von seinem Wahrheitsgehalt. Auch die wissenschaftlichen Evaluationsverfahren für Forschung und Forschungsprojekte sind in diesem Zusammenhang ein interessantes Untersuchungsfeld, weil sich – wie Thomas Wiemer ausgeführt hat – in der „Praxis“ der Geisteswissenschaften stabile Bewertungsroutinen herausgebildet haben, weil es dabei „um Urteile geht, die Komplexeres als die Feststellung von richtig oder falsch verlangen“ und weil Kriterien wie „Stimmigkeit, Sachangemessenheit, Ausgewogenheit des Urteils“ eine wichtige Rolle spielen.33 Entscheidend ist, dass sich die Vielfalt dieser Normen in der Regel nicht konfliktfrei realisieren lässt.

32 Andreas Kemmerling, „Gilbert Ryle: Können und Wissen“, in: Josef Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart III. Moore, Goodmann, Quine, Ryle, Strawson, Austin, 2. durchges. Aufl., Göttingen 1984, S. 127–167, S. 141. 33 Wiemer, „Ideen messen, Lektüren verwalten?“, S. 269 f., 274. Vgl. zur eigentümlichen Konsensfähigkeit der scheinbar so dissenten Literaturwissenschaft auch Axel Horstmann, „Qualität und Qualitätsprüfung in den Geisteswissenschaften. Perspektiven der Wissenschaftsförderung“, in: Journal of Literary Theory, 5/2011, 2, S. 209–228, hier S. 212, 218. – Horstmann weist auf die Konsensualität hin, vermisst jedoch die Fähigkeit oder Bereitschaft dazu, „die eigene Einschätzung explizit zu vertreten“. Vgl. hier auch die Kriterien für „Wissenschaftlichkeit“ im Anschluss  

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Das literaturwissenschaftliche Können wird also auch nach seiner Ausführung, Tüchtigkeit, Richtigkeit oder seinem Erfolg eingeschätzt.34 In diesem Sinne Intelligent-Sein bedeutet, richtig erwägen, Relevanzen erkennen (Was gehört dazu, was nicht?), Gründe auf Situationen passend anwenden u.a.35 Entscheidend ist dabei zweierlei: Zum einen, dass wir oftmals (noch) nicht sagen können, worin die Regeln für gelungene literaturwissenschaftliche Praxis bestehen;36 zum zweiten, dass in gewissen, näher zu bestimmenden Fällen der Wahr-falsch-Code der Literaturwissenschaft zwar nicht verabschiedet, aber doch zweitrangig wird. Man kann eine falsche Aussage auf eine richtige Art und Weise treffen. Und man kann eine wahre Aussage auf eine falsche Art und Weise treffen. In Ausbildungskontexten oder auch in für innovativ oder fruchtbar eingeschätzten Forschungsfeldern stört faktisch gelegentlich eine sachlich falsche Aussage nicht in dem Maß, dass man z.B. einer Interpretation die Zustimmung radikal entzieht oder den Anschluss verweigert. Wichtig ist dabei, dass „epistemische Dinge“, aber auch „technische Objekte“ in Forschungszusammenhängen ihren Ort haben. Wie verhält es sich hierbei mit der unterschiedlichen Normativität von Stationen des Forschungsprozesses? Die literaturwissenschaftliche Praxis ist demnach wie andere wissenschaftliche Praxen tendenziell holistisch angelegt oder zumindest projektförmig organisiert – dies ist eine wichtige Konsequenz aus der prozessualen Auffassung epistemischer Dinge. Mikropraktiken erhalten ihre Bedeutung im Kontext von Makropraktiken. Die projektförmige Organisation von Praxis erklärt z.B. bestimmte problematische Schwellensituationen und -erfahrungen mit und von Studierenden insbesondere in den ersten Semestern des Studiums. Initiationen wären möglicherweise weniger problematisch, wenn es nur darum ginge, Praktiken mit Theorien abzustimmen. Mit Rheinberger lässt sich vermuten, dass Praktiken mit Praktiken abgestimmt werden müssen,37 und zwar z.B. als Verlernen von bereits routinisierten (z.B. schulischen) Praktiken (worauf Rheinberger nicht achtet) und im Rahmen der zeitintensiven Herausbildung von „Vertrautheit“ mit den Forschungsmöglichkeiten, bei denen man „durch die ‚eigene Arbeit vorangetrieben‘“ wird.38 Man muss „lange herumgetappt haben“, um ein kompetenter Forscher zu sein – wie Rheinberger mit Claude Bernard betont – bzw. um „stummes Wissen“ oder die „stumme

an Helwig Schmidt-Glintzer: Neuigkeit, Professionalität, Verständlichkeit, Reflexivität, Referentialität, Adressatenbezug, Ein- oder Mehrsprachigkeit (ebd., S. 213). 34 Ryle, Der Begriff des Geistes, S. 31. 35 Ebd., S. 34. 36 Ebd., S. 33. 37 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 76. 38 Ebd., S. 79, 91.

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Dimension“ angemessen und geschickt zu verkörpern.39 Auch dieser Zeitbedarf ist ein wichtiges Moment des prozessualen Aspekts epistemischer Dinge. Möglicherweise sollte man Polanyis Begriff des tacit knowledge an dieser Stelle vermeiden. Denn wissen wir tatsächlich mehr, als wir sagen können? Oder sollten wir in Übereinstimmung mit Ryle und der neueren Lernforschung eher davon ausgehen, dass wir mehr können, als wir zu sagen wissen?40 Interessant ist Rheinbergers Hinweis, dass es dabei „keineswegs wahl- und regellos“ zugeht, nur, dass „die Wirksamkeit solcher Regeln […] auf ihrer beiläufigen Gegenwärtigkeit bei der Anlage und Durchführung der Versuche“ beruht.41 Dies bedeutet auch, dass es wenig Grund für Instruktionsoptimismus oder – wenn so will – Instruktionsnaivität gibt, derzufolge ‚bessere Argumente‘ die literaturwissenschaftliche Praxis sehr schnell (oder noch pessimistischer: überhaupt) verändern würden. Gleichwohl: Die wissenschaftliche Praxis funktioniert nicht regellos. Für diesen regulativen Aspekt verweist Rheinberger auf eine Reihe „einfache[r] Handlungsanweisungen“ wie das „Symmetrieprinzip“, das „Homogenitätsprinzip“ oder das „Exhaustionsprinzip“,42 also auf Faustregeln. In diesen Bereich gehört auch die Rekognitionsheuristik, also z.B. die intuitive Orientierung an prestige- bzw. reputationsreichen Namen sowie überhaupt am Bekannten.43 In der Literaturwissenschaft werden solche Faustregeln nebenbei und informell vermittelt. Richard Moritz Meyer hat 1905 in Gestalten und Probleme44 auf solche mächtigen Faustregeln auch des Interpretationsgeschäfts von Könnern hingewiesen, als er die Vorwegnahme von „Erfahrung“ im Forschungsprozess behandelt und dabei auf ästhetische Prinzipien verweist: Der „wissenschaftliche Takt“, so formuliert er seine Theorie des tacit knowledge, „besteht in dem Vorgefühl einer gewissen künstlerisch abgerundeten Gesamtordnung“. Die historische Dimension ergibt sich aus den je wechselnden ästhetischen Leitorientierungen, denn „[…] jede Zeit strebt ein künstlerisch wohlgefälliges Gesamtbild auch der wissenschaftlichen Tatsachen an“, und zwar je relativ dazu, was kulturhistorisch gerade als „wohlgefällig“ gilt.45

39 Vgl. ebd., S. 92–95; das Zitat „lange herumgetappt haben“ auf S. 92, die anderen Zitate auf S. 93. 40 Manfred Spitzer, Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2007, S. 59. 41 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 94. 42 Ebd., S. 95 f. 43 Dazu insgesamt Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, 3. Aufl, München 2007. 44 Ich danke Myriam Richter, die an einer umfassenden Studie zu Meyer arbeitet, für den Hinweis auf diese Schrift. 45 Richard M. Meyer, Gestalten und Probleme, Berlin 1905, S. 11, 13 f.  



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In diesem Zusammenhang verweist Meyer auf Techniken für das „Auffinden von Tatsachen“ wie Symmetriebildungen, Chiasmus, Rhythmus oder Steigerung. In diesem Fall kann der wissenschaftliche Leitwert der Wahrheit erneut auf bemerkenswerte Weise zurückgestellt werden. So kommentiert Meyer die Vorstellung seines Lehrers Wilhelm Scherer über einen wellenförmig angelegten Kulturrhythmus: Den „großen Forscher“ habe diese falsche These „zu Entdeckungen geführt […], die ihm sonst vielleicht entgangen wären“.46 Meyer sieht allerdings die „Gefahr“ der „Ausschreitung“ bei ästhetisch imprägnierten wissenschaftlichen Verfahren: „Bei dieser drückenden Herrschaft, die die Gesamtanschauung über die Einzeltatsachen ausübt, können Fehler leicht verjähren, falsche Analogien sich festigen, irreführende Methoden sich einbürgern“.47 Wie aber wird man ein „großer Forscher“, der sich Falsches erlauben darf, weil es ihn weiter bringt? Und woran erkennt man den „großen Forscher“ und vermeidet, auf Scharlatanerie hereinzufallen? Faktisch scheint dies über Prozesse des Reputationsaufbaus zu laufen, für die sich Rheinberger wegen der systematischen Ausblendung der personalen Dimension des Wissens nicht interessiert. Dabei verbinden sich legitimatorische, prozessuale und praktische Aspekte von epistemischen Dingen, weil Reputationsaufbau über die wechselseitige Legitimierung von Forschersubjekt und Forschungsobjekt stattfindet, weil dies nicht instantan, sondern über die Inanspruchnahme von Zeit geschieht, und weil es dabei insbesondere um Momente von Könnerschaft geht, die die Übertragung von erworbener Reputation auf neue Situationen erlaubt. So kann man mit Gilbert Ryle zwischen einer aus bloßer „Gewohnheit“ und einer „geschickt“ ausgeführten Handlung unterscheiden. Dieser Unterschied ist jedoch situativ nicht ersichtlich.48 „Daß jemand die Fertigkeit besitzt, etwas gut, erfolgreich, richtig usw. zu tun, läßt sich nicht allein daraus ersehen, dass er es jetzt und hier so getan hat“. Wenn man sagt, jemand handle intelligent, bezieht man sich nicht nur auf „einzelne Situationen“, sondern sagt „auch etwas Hypothetisches über viele verschiedene Verhaltensweisen des Handelnden in verschiedenen Situationen“.49 Solche – wiederum oftmals intuitiv formulierten – Hypothesen gehören zum Geschäft der Literaturwissenschaft, wobei wiederum evaluative Prozesse dafür besonders wichtig sind. Dies gilt etwa für die Einschätzung, ob Promotionsfähigkeit vorliegt, ob Studierende oder Promovierende für ein Stipendium empfohlen werden können, ob ein Forschungsprojekt fruchtbar und durchführbar erscheint oder für wie belastbar man die Versprechungen vielfältiger Art im Rah46 47 48 49

Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Ryle, Der Begriff des Geistes, S. 47. Kemmerling, „Gilbert Ryle“, S. 155.

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men eines Antrags hält. Auch in der Verwendung von Interpretationen ist es beispielsweise wichtig, wie viel Vertrauensvorschuss man zu geben bereit ist. Zumal in Zeiten der drittmittelfinanzierten Forschung, um die es sich bei modernen Experimentalsystemen notwendigerweise handelt, sollten Prozesse des Reputationsaufbaus nicht vernachlässigt werden. Wann attestieren die Forschungsgemeinschaften und dann vor allem auch die Förderinstanzen einem Wissenschaftler und Antragsteller das Gespür für relevante Probleme? Welche Gründe gibt es dafür? Wie wird es sichtbar gemacht? Aufwändige Experimentalsysteme, die den erfahrenen Forscher auf eine fruchtbare Weise bei der Hand nehmen und zu epistemischen Dingen führen, sind eine Sache. Wie man das Geld, die Räume, das Personal etc. bekommt, um ein solches Experimentalsystem aufzubauen, ist etwas ganz anderes. An diesem Punkt bestehen zudem erhebliche Unterschiede zwischen den Natur- und den Geistes- und Kulturwissenschaften.

III Selbststeuerung von Forschung Mit Thomas S. Kuhn betont Rheinberger immer wieder die Erfahrung, dass Forschung sich nicht in der Antizipation von Ergebnissen, also durch die projektierte Zukunft ‚von vorn‘ selbst organisiert, sondern durch ihre eigene Vergangenheit: durch die Möglichkeiten, die sie sich selbst durch die Forschung eröffnet hat, und die entsprechenden Beschränkungen. Dieser bereits angeführte autopoietische Aspekt führt zu der Empfehlung, auch Interpretationen nicht so aufzufassen, als schreibe man auf eine anfangs gefasste These zu, sondern vielmehr so, als erschreibe man sich eine These. Der Forschungszusammenhang wird demnach im Rückgriff auf Vorhandenes und durch Wiederholung hergestellt, nicht durch ausholende Antizipation und Voraussicht. Die Entwicklung einer solchen Anordnung ist aber, soll das Ganze nicht in repetitivem Leerlauf enden, abhängig von der tastenden Suche nach Differenzen.50

Und tatsächlich sind gerade in der Literaturwissenschaft ‚wiederholte‘ und je differierende Lektüren, das ‚wiederholte‘ und je differierende Schreiben u.a. epistemisch fruchtbar, und zwar verbunden mit dem Eindruck, dass sich stets etwas zeigt, das zuvor nicht sichtbar war und mit dem so auch nicht gerechnet wurde.51

50 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 89. 51 Zu überlegen ist, inwiefern diese Einschätzung historischen Konjunkturen unterliegt. Anlässlich des unten zitierten Sammelbandes mit Egodokumenten von Historikern unter dem Titel Geschichte als Passion (2011) bemerkt Caspar Hirschi, „Wenn man die Gespräche in diesem Band liest, könnte man zumindest den Eindruck gewinnen, Historiker dürfen sich auf keinen Fall als

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Dieser Eindruck der (Fremd-)Bestimmung durch die eigene Arbeit bzw. durch die eigene Vergangenheit kann auf unterschiedlichen Ebenen rekonstruiert werden. Formen der Passivität epistemischer Akteure jedenfalls finden sich auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung – dass Interpretationen ‚sich ergeben‘, dürfte zum Erfahrungshaushalt vieler Literaturwissenschaftler gehören. Es handelt sich um „unvorwegnehmbare Ereignisse“, um „Dinge[] und Zusammenhänge[], nach denen man nicht gesucht hat“, die „überraschend“ kommen. Wichtig ist wiederum: Sie passieren „nicht einfach so“, sondern ergeben sich aus der „inneren Mechanik der experimentellen Zukunftsmaschine heraus[]“.52 Gibt es auch in der Literaturwissenschaft ‚experimentelle Zukunftsmaschinen‘? Und welche Fähigkeiten gehören dazu, aus den anfallenden Beobachtungen, Gedanken und Ideen jene herauszugreifen und festzuhalten, die sich retrospektiv als „Signale“53 von Erkenntnis erweisen? Wie ‚kommt man‘ auf Ideen, ‚stößt man‘ auf Texte, ‚findet‘ etwas, ‚entdeckt‘ eine Textstelle? Wie routinisiert man Formen von „beiläufiger Aufmerksamkeit“,54 die für Überraschungen sorgen, und dies vielleicht sogar in einem Maß, dass sich Betriebsblindheit einstellt oder eine hochgradig idiosynkratische Aufmerksamkeitsform und Plausibilitätseinschätzung? Wann läuft es gut, so dass man zur Leitfigur einer neuen Forschungsrichtung wird, wann schlecht, so dass man zum Idioten im wörtlichen Sinn mutiert? Forschungserfolge bedeuten aus dieser Perspektive die „iterative[] Selbstverstärkung eines zunächst lokalen Forschungssystems und seine[] anschließende[] Verbreitung“.55 Jedenfalls fehlen noch Fallstudien zur Geschichte der Literaturwissenschaft, die zeigen, dass „weder die allgemeinen Vorgaben eines institutionellen Rahmens, noch die ursprüngliche Formulierung eines Forschungsprogramms, noch die bloße Einführung einer neuen Technologie festlegen, welche Richtung ein Forschungsprogramm nimmt und welche wissenschaftliche Produktivität es schließlich entfaltet“.56

wohl organisierte, weitsichtig planende oder gar kühl kalkulierende Menschen porträtieren. Damit verhält sich die Beziehung zwischen wissenschaftlichen Werten und Praktiken genau umgekehrt zur Situation bis vor wenigen Jahrzehnten, als es wichtig war, disziplinierte Arbeit und methodische Strenge zu demonstrieren, während die Forschungstätigkeit spontaner und ungerichteter verlaufen konnte“ (Caspar Hirschi, „Gedankenblitze aus der Zettelwirtschaft“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 110, 12.05.2011, S. 32). 52 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 167. 53 Ebd., S. 168. 54 Ebd., S. 93. 55 Ebd., S. 100. Hier stellt sich die Frage, ob man dies als Ausbreitung eines „Denkstils“ begreifen könnte – vgl. dazu den Beitrag von Claus Zittel im vorliegenden Band. 56 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 39.

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Sehr viel einfacher ist die Bestimmung der Forschung aus ihrer eigenen Vergangenheit, wenn man den sozialen Aspekt epistemischer Dinge einbezieht, denn der Selbstverpflichtung des epistemischen Akteurs durch die eigenen Tätigkeiten korreliert die Fremdverpflichtung auf bestimmte Themen, deren Behandlung einem Forscher als Erfolg oder Kompetenz zugeschrieben wird. Wieder geht es um Erzeugung, Funktion und Verwaltung von Kompetenz und Reputation. Einladungen zu Tagungen, Sammelbänden oder Forschungsverbünden beziehen sich dann, wenn Reputation nicht abstrakt gehalten wird und nicht Phänomene von Allzuständigkeit erzeugt, auf das, was in der Vergangenheit gemacht wurde.57 Dieser Aspekt wirkt sich insbesondere dann aus, wenn die „Zukunftsfähigkeit“ eines Forschers z.B. im Rahmen von Drittmittelanträgen oder Berufungsverfahren herausgestellt werden soll. Wie muss die Forschungsvergangenheit aussehen, um eine Forschungszukunft auf einer Juniorprofessur, einer W2- oder W3-Professur, als Heisenberg-Stipendiat oder Nachwuchsgruppenleiter zugestanden zu bekommen? Wann ist das Versprechen, in absehbarer Zeit ein opus magnum abzuliefern, so überzeugend, dass einem Forscher die entsprechenden finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden?58 Prozesse der „differentiellen Reproduktion“ sind zudem, auch wenn es bisweilen den gegenteiligen Anschein haben mag, keine individuellen Prozesse. An der Steuerung von Forschung hat nicht allein die Vergangenheit eines Forschers, sondern auch die Vergangenheit von Forschungsgemeinschaften, vielleicht sogar eines ganzen Fachs ihren Anteil. Man könnte dies möglicherweise im Kleinen am Seminar als einem Ort beobachten, an dem für geteilte, kollektive, fach- und vielleicht sogar themenspezifische Intentionalität mit unterschiedlichen Subkollektiven gesorgt wird. Gerade in der Arbeit unter Gleichen wird jedenfalls ausgetestet, wie anschlussfähig das eigene Vorgehen ist bzw. ob das, was für eine Person relevant ist, auch für andere Relevanz hat. Man lernt, von der eigenen Individualität abzusehen im Blick auf eine gemeinsame Sache, im Blick auf bestimmte Aspekte an einem Gegenstand und im Blick auf eine Verfahrenslogik.59 Bei dieser gemeinsamen Manipulation von und Konkurrenz um Aufmerksamkeit wird deutlich, wie schwer es ist, bei der Sache zu bleiben. Typischerweise verschiebt sich der sachliche Bezug ständig. Man kann dies als Kreativität „differentieller Reproduktion“ verbuchen – dies gilt allerdings nur dann, wenn „technische Objekte“ und „epistemische Dinge“ in einem vernünftigen Verhältnis 57 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 245–251. 58 Wiemer, „Ideen messen, Lektüren verwalten?“, S. 271 f. 59 Dies wird z.B. durch die Forderung nach „außerplanmäßiger Zuwendung“ („Ich habe da eine ganz andere Frage …“ etc.) reflektiert: Jürgen Kaube, „Sich melden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 286, 08.12.2010, S. N 3.  

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zueinander stehen. Andernfalls handelt es sich eher um den Verzicht auf Orientierung an einer klaren Fragestellung. In größerem Format lässt sich Rheinbergers These, epistemische Dinge ‚verkörperten‘ Begriffe, aus der Perspektive differentieller Reproduktion beschreiben.60 Wenn man sich den Umgang mit Begriffen i.S. einer gleichsam experimentell angelegten Theorie kultureller Evolution vor Augen führt, dann findet die literaturwissenschaftliche Ausbildung in einer „kulturellen Umgebung“ statt, die Adepten mit den „Werkzeugen und Symbolen“ versieht, die ihnen ihre wissenschaftlichen „Vorfahren“ hinterlassen haben und dadurch kumulative Effekte ermöglichen.61 Gruppenspezifische Terminologiekompetenz erfordert im Blick auf die Wissenschaften ein fachtypisches Rollenverständnis, die Erkenntnis kommunikativer Absichten und die Fähigkeit, anderen gegenüber dieselben kommunikativen Absichten an den Tag zu legen, mithin gemeinsame Hinsichten auf die Welt. Michael Tomasello spricht davon, dass Fachtermini eine „bestimmte Auffassung von Dingen“ „verkörpern“, dass der gekonnte Gebrauch von etablierten Begriffen, rhetorischen Mustern usw. dem Adepten etwas darüber vermittle, wie seine wissenschaftlichen „Vorfahren“ die problematisierende „Aufmerksamkeit der anderen in der Vergangenheit steuerten“.62 Entscheidend ist daher – z.B. in Prüfungssituationen –, dass man ein Verständnis für das „intentionale Angebot“ demonstriert, das bestimmte Fragen oder Aufgaben darstellen. Da es für die Erkenntnis von solchen stets situativ bestimmten „kommunikativen Angeboten“ und „Absichten“ keine festen Regeln gibt, kann man den Erwerb entsprechender Fertigkeiten als Integration in eine „Lebensform“ beschreiben.63 Zur Rekonstruktion „differentieller Reproduktion“ ist dann entscheidend, dass die Vertrautheit mit solchen Formen gemeinsamer Problematisierung es erlaubt, auf gruppenspezifische bzw. anschlussfähige Weise ein Interesse bzw. Gespür für alternative Zugänge zu ‚Gegenständen‘ zu entwickeln sowie den anschlussfähigen Zugang zu unterschiedlichen ‚Gegenständen‘ zu finden.64

60 Zum Folgenden vgl. Michael Kämper-van den Boogaart/Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Entproblematisieren: Überlegungen zur Vermittelbarkeit von Forschungswissen, zur Vermittlung von ‚falschem‘ Wissen und zur Funktion literaturwissenschaftlicher Terminologie“, in: Zeitschrift für Germanistik N.F., 21/2011, S. 8–24, hier S. 20–24. 61 Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a.M. 2006, S. 16 f., 254. 62 Ebd., S. 156, 163. 63 Ebd., S. 111, 114, 142. 64 Ebd., S. 30, 32, 34 f., 38.  



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IV Literaturwissenschaftliche Labore und Experimente? Rheinberger entwickelt den Begriff des epistemischen Dings im Rahmen seiner Theorie des Experimentalsystems, also der in Laboren situierten und mit Experimenten in diesen Laboren durchgeführten Forschung. Auch wenn der Status von Räumen und Instrumenten bzw. technischer Ausrüstung in der Literaturwissenschaft offensichtlich ein anderer als in den Naturwissenschaften ist, erscheint dieser Transfer von den Naturwissenschaften zu den Geistes- und Kulturwissenschaften bei allen Unschärfen von Analogien zumindest heuristisch empfehlenswert, damit die Wissenschaftstheorie der Literaturwissenschaft die Fragestellungen der science studies aufgreift – die „Fabrikation der Erkenntnis“, um es mit Katrin Knorr-Cetina zu sagen,65 ist im Fall der literaturwissenschaftlichen (oder auch der philologischen) Erkenntnis noch wenig erhellt; der literaturwissenschaftliche Alltag ist zu wenig erforscht.66 Wo aber liegen die Grenzen der Übertragbarkeit einer aus der naturwissenschaftlichen Forschung heraus entwickelten Wissenschaftstheorie von Experimentalsystemen auf die Literaturwissenschaft?67 Ist es nicht beispielsweise entscheidend, dass die Gegenstände der Literaturwissenschaft anders als die Dinge der Naturwissenschaften seit rund 200 Jahren die Möglichkeit haben, sich auf ihre Erforschung einzustellen? Dass Autoren sich und ihre Werke als epistemisches Objekt geradezu anbieten können, indem sie mehr oder weniger gezielt die Koevolution des literarischen und des literaturwissenschaftlichen Feldes ausnutzen (s.o.)? Vor allem aber: Wie sehen literaturwissenschaftliche Experimente und Experimentalsysteme aus?

65 Katrin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, erw. Neuauflage. Mit einem Vorwort von Rom Harré, Frankfurt a.M. 2002. 66 Vgl. als Ausnahmen insbesondere Peter J. Brenner (Hrsg.), Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1993; Marie Antoinette Glaser, Literaturwissenschaft als Wissenschaftskultur. Zu den Praktiken, Mechanismen und Prinzipien einer Disziplin, Hamburg 2005; Dies., „Kommentar und Bildung. Zur Wissenschaftskultur der Literaturwissenschaft“, in: Markus Arnold/Roland Fischer (Hrsg.), Disziplinierungen. Kulturen der Wissenschaft im Vergleich, Wien 2004, S. 127–164. 67 Ansätze dazu bei Michael Gamper, „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010, S. 9–14 – hier allerdings liegt der Akzent auf dem ‚literarischen‘, nicht auf dem literaturwissenschaftlichen Experiment; trotz anderer Ausrichtung gilt dies auch für Falko Schmieder, „‚Experimentalsysteme‘ in Wissenschaft und Literatur“, in: Gamper (Hrsg.), Experiment und Literatur, S. 17–39 – charakteristisch ist bei Schmieder, dass er zwar den „Ensemblecharakter“ von „Experimentalanordnung[en]“ richtig betont (S. 23), diesen aber bei der Übertragung auf das „Feld der Geisteswissenschaften“ (S. 28; dazu S. 28–30) nur sehr eingeschränkt übernimmt.

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Zunächst gehe ich davon aus, dass es im literaturwissenschaftlichen Normalbetrieb keine Experimente in dem Sinn gibt, wie sie in den Naturwissenschaften stattfinden – ganz abgesehen davon, dass die Antwort auf die Frage nach Experimenten in der Literaturwissenschaft dadurch erschwert wird, dass in der Wissenschaftsforschung keine Einigkeit über die Definition eines Experiments besteht. Literaturwissenschaftliche Forschung hängt von technischen und räumlichen Bedingungen ab, aber diese sind doch deutlich kontingenter als im naturwissenschaftlichen Labor. Wenn das „Experimentieren viel mehr ein Geschehenlassen als ein streng geregeltes, direktes Ausgreifen und Vorpreschen“ ist,68 dann gilt dies für literaturwissenschaftliches Arbeiten nicht in demselben Maß wie in den Experimentalwissenschaften. Interessant ist der Reflexionshintergrund des Labors gleichwohl im Blick auf den räumlichen Aspekt epistemischer Dinge in der Literaturwissenschaft. Die gedankenlose Eingliederung von Fachbibliotheken in Universitätsbibliotheken beispielsweise führt aus dieser Perspektive einige Probleme mit sich, denn es ist durchaus relevant, ob Seminarpraktiken auf Bibliothekspraktiken verweisen können, wenn die Qualität epistemischer Dinge vermittelt werden soll. Wilhelm Scherer hatte daher in seinem ‚Promemoria‘ betreffend das Germanische Seminar, die Müllenhoffsche Bibliothek und Müllenhoffs Nachlaß vom 14. September 1884 die These aufgestellt, dass „[m]it Bibliotheken ausgestattete Seminare, in denen die vom Direktor aufgenommenen Mitglieder von Morgens bis Abends ungestört arbeiten können, in denen auch die vom Direktor geleiteten Übungen stattfinden, […] einen ähnlichen Vortheil für die philologischen und historischen Wissenschaften wie die Laboratorien für die Naturwissenschaften“ hätten.69 Scherer behauptet nicht, dass germanistische Bibliotheken die Laboratorien der Literaturwissenschaft sind, sondern dass beide Räume und Institutionen „einen ähnlichen Vortheil“ bieten – es geht also auch ohne diese räumlichen Bedingungen, nur eben nicht so gut. Der „Vortheil“, den Scherer behauptet, besteht insbesondere für die Unterweisung in „wissenschaftlicher Untersuchung“. Bibliotheken sind privilegierte Orte, in denen man sich „in der selbstständigen Forschung unter Anleitung des Lehrers“ versuchen kann.70 Worin genau besteht dieser von Bibliotheken gewährte „Vortheil“ bei der Ausbildung eines Forschers?

68 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 95. 69 Vgl. Wilhelm Scherer, „Promemoria betreffend das Germanische Seminar, die Müllenhoffsche Bibliothek und Müllenhoffs Nachlaß“, in: Uwe Meves (Hrsg.), Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess, Berlin, New York 2011, S. 843–849, Zitat S. 843. 70 Ebd., S. 843. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Carlos Spoerhase im vorliegenden Band.

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Die Qualitäten der seminaröffentlichen Bibliothek ergeben sich zunächst daraus, dass mehrere unterschiedlich qualifizierte epistemische Akteure, viele epistemische Dinge und viele technische Objekte darin anwesend sein können, so dass ein komplexer, aber gleichwohl begrenzter Beobachtungsraum entsteht. Die Bibliothek eignet sich daher in besonderer Weise zur Ausführung und damit zur Ausbildung von literaturwissenschaftlicher oder philologischer Praxis, die aus einem Ensemble von Praktiken besteht. Hier lassen sich Praktiken von Könnern und Adepten besonders gut koordinieren: Endlich gewährt das Seminar die Möglichkeit, daß der Direktor, mitten unter den Büchern, die Mitglieder in den manchmal schwierigen und gar nicht von vornherein zu treffenden Gebrauche der litterarischen Hilfsmittel unterweise […]. Es ist ein großer Unterschied, ob der Direktor einfach das richtige sagt oder ob es der Schüler in Gegenwart des Direktors durch eigene Bemühung ermittelt, wobei nebenbei der Direktor Gelegenheit erhält, die vorhandenen Wörterbücher nach ihrer Zuverlässigkeit und speciellen Brauchbarkeit zu charakterisiren und durch die lebendige Thätigkeit, an welche sich seine Worte knüpfen, eine viel eindringlichere Belehrung zu ertheilen.71

In der Bibliothek kann man also sehr gut sehen, wie epistemische Dinge aufgefasst werden sollen bzw. wie sich erfahrene und geschickte epistemische Akteure verhalten. Die Dauer der Arbeit („von Morgens bis Abends“) oder die Konzentrationsfähigkeit („ungestört arbeiten“) belegen eine angemessene Auffassung von wissenschaftlichem Arbeiten. Die Arbeitsleistung wird plausibel, weil epistemische Dinge in Bibliotheken als Teil eines Arbeitsgebiets erscheinen: Ihre epistemische, technische und kommunikative Umgebung und Eingebundenheit ist sichtbar und damit auch die Zumutung, zum Verständnis eines Buchs viele andere Bücher sowohl nacheinander als auch nebeneinander zur Kenntnis zu nehmen. In Bibliotheken kann man am Beispiel anderer erfahrener und geschickter Benutzer sehen, wie schnell man mit einem Buch fertig werden oder wie lange man sich damit befassen sollte, wie viele Bücher auf einem Tisch liegen können, entweder im Stapel zum sukzessiven Abarbeiten oder nebeneinander zur parallelen Nutzung. Die Bibliothek bietet, mit Scherer formuliert, „Orientierung auf dem Gesammtgebiete“ – oder anders: Sie suggeriert, dass es so etwas wie ein „Gesammtgebiet[]“ überhaupt gibt, das als Horizont kleinteiliger Forschung mitzureflektieren ist. Dies gilt sowohl für den Forschungsgegenstand als auch für die disziplinäre Gemeinschaft. Zu solchen aufwendigen Arbeitsleistungen gehört eine gewisse Frustrationstoleranz – vielfach werden Bücher umsonst gelesen,

71 Scherer, „Promemoria“, S. 844 f.  

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weil sie den Forscher nicht weiterbringen. Und dazu gehört die Fähigkeit, ein Gespür dafür zu entwickeln, was – vielleicht zufälligerweise – relevant ist und was relevant sein oder werden könnte. Auch die Fähigkeit, Lücken der Bibliothek zur Kenntnis zu nehmen, also ihre Grenzen zu erkennen, sind für deren kompetente Nutzung notwendig: Die Müllenhoff’sche Bibliothek, deren Kauf Scherer der Berliner Universität empfiehlt, muss seiner Ansicht nach z.B. im Bereich der „neueren Litteratur“ ergänzt werden.72 Für die Frage nach der Angleichung von literatur- und naturwissenschaftlichen Praktiken dürften freilich die Entwicklungen im Rahmen der digital humanities am interessantesten sein. Möglicherweise diktieren hier die technischen Bedingungen in einer zu Experimentalsystemen eher vergleichbaren Weise die Richtung, in die Forschungen laufen, ohne dass die Forschenden dies selbst wollen. Dies gilt insbesondere für Projekte des distant reading, von Projekten also, die große, interpretatorisch sehr unspezifische Datenmengen verwalten und dabei nicht nur corpus based, sondern auch corpus driven vorgehen – hier jedenfalls will die Literaturwissenschaft direkt an das „Erkenntnispotential“ der „Naturund Sozialwissenschaften“ anschließen, wie Franco Moretti betont, da enorme Textmengen einen hermeneutischen Zugang zum Einzeltext nicht mehr erlauben.73 Quantitative Forschung übernimmt so die Aufgabe der Problemstellung und lässt es zu, die Literaturgeschichte, so Moretti, „wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment“ zu behandeln.74 Rheinberger verfolgt einen anderen Ansatz: Er sieht das geisteswissenschaftliche Analogon zum naturwissenschaftlichen Experimentalsystem im Schreiben, so wie er Archiven die Funktion des „Labors“ zutraut – „[d]as Schreiben hat etwas mit Fixieren zu tun, aber eben auch mit offen lassen, wie das auch für Experimente und für Experimentalsysteme gilt“; die „Eigenmächtigkeit des Sprachlichen ist im Idealfall auch das Pfund, mit dem Geisteswissenschaftler wuchern können […]“.75 Dies verweist auf den medialen Aspekt epistemischer Dinge, u.a. auf die

72 Ebd., S. 846. 73 Franco Moretti, Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte. Mit einem Nachwort von Alberto Piazza, Frankfurt a.M. 2009, S. 8; skeptisch zu Morettis Programm der Literaturgeschichtsschreibung Katja Mellmann, „Evolutionsgedanken als Factory Outlet. Franco Morettis ‚Stammbäume‘ der Literaturgeschichte“, in: literaturkritik.de, Nr. 2, Februar 2009, http:// www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12719 (Stand: 23.02.2012). Im Blick auf die 20000 oder 30000 Romane im England des 19. Jahrhunderts schreibt Moretti: „Ein Feld dieser Größe kann schlichtweg nicht verstanden werden, indem einzelne Wissensfetzen über vereinzelte Teilelemente aneinandergereiht werden“ (Moretti, Kurven, Karten, Stammbäume, S. 11). 74 Moretti, Kurven, Karten, Stammbäume, S. 34, 78. 75 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, „Vom Schreiben, ohne zu wissen, wie es endet“, in: Alexander Kraus/Birte Kohtz (Hrsg.), Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergan-

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Fähigkeiten des kompetenten Forschers, geschickt mit „wissenschaftlichen Repräsentationen“ umzugehen, also diese Repräsentationen im Sinne der differentiellen Reproduktion aufzufassen und so zu verketten, dass sie auf die „Spur“ von epistemischen Dingen führen.76 Freilich bestehen zwischen der schriftlichen Aufzeichnung von Laborergebnissen und der schriftlichen Aufzeichnung von literaturwissenschaftlichen Interpretationsergebnissen Unterschiede, und dies schon deswegen, weil im Fall der Literaturwissenschaft vielfach nicht die Notwendigkeit einer Übertragung „zwischen den Materialitäten der Experimentalsysteme und den begrifflichen Gebäuden“ besteht, „die als sanktionierte Forschungsberichte schließlich der Wissenschaftlergemeinschaft übergeben werden“. Der Zwang zur „Redimensionalisierung“ entfällt in gewisser Weise, also der Zwang zur Übersetzung von raumzeitlichen Ereignissen in das Seitenbild77 – literarische Texte lassen sich in literaturwissenschaftlichen Texten zitieren. Immerhin betrifft die Redimensionalisierung den Ort einer „Stelle“ innerhalb einer dreidimensionalen Anordnung von Zeichen, die Papiere (als Konvolut, Buch u.a.) ergeben, und selbstverständlich ist auch ein Zitat nicht lediglich die ‚Fixierung‘ von Text, sondern in gewisser Weise ein differierender Akt der Übertragung zwischen unterschiedlichen „Materialitäten“. Rheinberger schlägt in diesem Zusammenhang eine begriffliche Entschärfung vor: In einem Aufsatz über die „epistemische Funktion“ von Notizen78 im Forschungsprozess setzt er anstelle des schärfer konturierten Begriffs des „Experiments“ den offeneren Begriff des „Versuchs“ ein i.S. des Ausprobierens, des vorläufigen Arrangierens, des noch nicht publikationsreifen Ausformulierens etc. Diese Hinweise sind hilfreich für Antworten auf die Frage, wie literaturwissenschaftliches Arbeiten sich über Zwischenstufen entwickelt, die zwischen dem Forschungsgegenstand und der fertigen Analyse liegen und welche „epistemische Funktion“ solche Zwischenstufen haben (können): Die versuchende Konstellierung eines epistemischen Dings nutzt die Möglichkeiten der Multinormati-

genheit. Zehn Gespräche, Frankfurt a.M., New York 2011, S. 267–291, hier S. 270, 279–283 (Zitate S. 280 und 283). 76 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 130. 77 Hans-Jörg Rheinberger, „Kritzel und Schnipsel“, in: Bernhard J. Dotzler/Sigrid Weigel (Hrsg.), „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, S. 343–356, hier S. 344 f. 78 Vgl. dazu (Literatur-)Hinweise bei Christoph Hoffmann, „Schreiben als Verfahren der Forschung“, in: Gamper (Hrsg.), Experiment und Literatur, S. 181–207, hier S. 182. Inwiefern „Aufzeichnen, Durcharbeiten, Veröffentlichen“ als zentrale „Zweckbestimmungen, unter denen Schreiben im Forschen vorkommt“, in der Literaturwissenschaft „epistemische[] Effekte[]“ haben (S. 189), lässt sich bislang nur vermuten.  

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vität von Forschung aus, weil es dabei um Kriterien geht wie ‚anschlussfähig‘, ‚brauchbar‘, ‚passend‘, ‚fruchtbar‘, ‚weiterführend‘, ‚illustrativ‘, ‚plausibel‘, ‚unterhaltsam‘, ‚geeignet‘ etc. Auch Literaturwissenschaftler erweisen sich dabei als „‚Bastler‘, Bricoleure“ und genügen nicht dem Bild des Wissenschaftlers als „Ingenieur“, der Daten einfach „festhält“ und „ablegt“.79 Bei Prozessen des vorläufigen Festhaltens und versuchsweisen Ablegens im Rahmen von Forschungszusammenhängen erfüllen Exzerpte „epistemische Funktionen“. Ähnlich wie Zusammenfassungen oder Abstracts erzielen sie „Effekte der Kondensation“ über „Stufen der Reduktion“, die „neue Muster wahrnehmbar“ werden lassen (wobei der Prozess reversibel ist, wenn alles gut gemacht wurde, so dass man einen oder mehrere Schritte zurück gehen und „die Kompression in eine andere Richtung“ versuchen kann).80 Es handelt sich um eine „Reduktion des Erinnerungsvorgangs“, die Materialien handhabbar macht und sie in „Ressourcen und Materialien“ verwandelt, „mit denen epistemisch umgegangen werden kann“.81 Als Ersatz für empirische Daten, die für diesen wie für fast alle anderen Bereiche einer literaturwissenschaftlichen Praxeologie fehlen, können Niklas Luhmanns (Selbst‑)Beobachtungen zum (wissenschaftlichen) Lesen-Lernen dienen, die den Charakter eines Erfahrungsberichts haben: Luhmann setzt bei der Beobachtung ein, dass moderne Gesellschaften sehr viele unterschiedliche Textsorten und ebenso diverse Lektüreformen hervorbringen. Eine Lektüreform kann zur „spezialisierte[n] Gewohnheit“ werden und „verdirbt“ dann „den Leser für die Lektüre andersartiger Texte“ – „da es sich um weitgehend unbewußt ablaufende, habituell gewordene Routinen handelt, sind solche Spezialisierungen schwer zu korrigieren“.82 Eine zentrale Kompetenz beim wissenschaftlichen Lesen besteht darin, ein Gespür dafür zu entwickeln, was relevant und wichtig ist, vor allem aber, was relevant und wichtig werden könnte: Auch Wissenschaftler müssen, wenn sie publizieren wollen, Sätze bilden. In der der dafür notwendigen Wortwahl herrscht jedoch ein für die meisten Leser unvorstellbares Maß an Zufall. Auch die Wissenschaftler selbst machen sich dies selten klar. Der weitaus größte Teil der Texte könnte auch anders formuliert sein und wäre auch anders formuliert, wenn er am nächsten Tag geschrieben worden wäre. Die Füllmasse der Worte, die zur Satzbildung erforderlich sind, entzieht sich jeder begrifflichen Regulierung. Zum Beispiel ‚entzieht sich‘ im vorangehenden Satz. Das läßt sich nicht vermeiden, selbst dann nicht, wenn man auf die Unterscheidbarkeit und Wieder-

79 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 34. 80 Rheinberger, „Kritzel und Schnipsel“, S. 345. 81 Ebd., S. 346. 82 Niklas Luhmann, „Lesen lernen“, in: Ders., Schriften zu Kunst und Literatur, Niels Werber (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2008, S. 9–13, hier S. 9.

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erkennbarkeit von Worten, die mit begrifflicher Bedeutung aufgeladen sind, äußerste Sorgfalt verwendet. Sie machen stets nur einen geringen Teil der Textmasse aus. Wie aber soll ein Leser diese Worte, auf die es ankommt, finden?83

An Namen kann man sich noch relativ leicht orientieren. Schwieriger ist es, Begriffszusammenhänge und Probleme kognitiv zu realisieren. Für die Erschließung von Themenbereichen gibt Luhmann lediglich den Rat, viel und parallel zu lesen, „dann entwickelt man allmählich ein Gefühl für schon Bekanntes und kennt sich im ‚Stand der Forschung‘ aus. Neues fällt dann auf“. Methodisch rät er – mit dem Ablageziel seines legendären Zettelkastens – dazu, Notizen zu machen, nicht im Sinn von Exzerpten, sondern von „verdichtete[n] Reformulierungen des Gelesenen“ als „Trainieren einer Aufmerksamkeit für ‚frames‘, für Schemata des Beobachtens“.84 Entscheidend ist auch hier die zunehmende Selbstlimitierung der Aufmerksamkeit bei der Konstellation epistemischer Dinge, die bisweilen stärker auf den sozialen und kommunikativen Zusammenhang der Wissenschaft abgestimmt ist, bisweilen überraschend idiosynkratisch ausfällt. Aber befassen sich idiosynkratische Lektüren mit „epistemischen Dingen“? Wenn „wissenschaftliche Repräsentationen […] letztlich nur in Ketten von Darstellungen Bedeutung erhalten“,85 wie Rheinberger vermutet, und epistemische Dinge nicht einfach in der Welt da sind, sondern „bedeuten, was sie bedeuten, soweit sie im Darstellungsraum verkettet werden können“,86 dann stellt sich immerhin die Frage, wie viele epistemische Akteure an solchen Verkettungen beteiligt sein müssen.

V „Arbeitseinheiten“ der Literaturwissenschaft „Experimentalsysteme“, so Rheinberger, sind die „Arbeitseinheiten der gegenwärtigen Forschung“.87 Rheinbergers Empfehlung für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung lautet im Blick auf den organisatorischen Aspekt epistemischer Dinge, nicht etwa Disziplinen, sondern Experimentalsysteme als die maßgeblichen „Arbeitseinheiten der gegenwärtigen Forschung“ zu akzeptieren und zu beobachten, wie sich Experimentalsysteme über bestimmte „Konjunkturen“ zu „Experimentalkulturen“ verbinden, verdichten und stabilisieren. Dies 83 84 85 86 87

Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 130. Ebd., S. 282. Ebd., S. 9.

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entspricht der Vermutung, Disziplinen ließen sich als „communities of practice“ rekonstruieren,88 wobei der Plural der Formulierung entscheidend ist. Durch diese Clusterungen, so Rheinberger, organisiert sich die Wissenschaft intern. Wissenschaft ist demnach nicht im Singular zu haben, auch nicht im Rahmen von Fächern oder Disziplinen. Vielmehr besteht sie aus Experimentalsystemen, die heterogene regionale Ausprägungen mit je eigenen Zeiten haben.89 Selbst wenn man den Begriff des „Experimentalsystems“ vorsichtshalber für geisteswissenschaftliche Belange streicht, kann man somit noch immer fragen, was die „Arbeitseinheiten“ der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Forschung sein könnten. Rheinbergers Perspektive dient dabei als Beitrag zur Entspannung für zu hoch gesteckte und daher nicht selten frustrierte Erwartungen von Geisteswissenschaftlern: Immer wieder wird der Literaturwissenschaft ein Mangel an methodischer Schärfe und Präzision nachgesagt; man vermisst explizit gültige Normen und Standards.90 Aber ist es angemessen, von Literaturwissenschaft im Singular zu sprechen, also eine sehr hohe Homogenitätserwartung an die gesamte Disziplin zu stellen?91 Rheinberger empfiehlt eine andere Sichtweise der Organisation von Wissenschaft: Wissenschaft organisiert sich demnach nicht nach Disziplinen, sondern unterhalb der Disziplinen und zwischen diesen in Experimentalkulturen im Sinn von „lokale[n] Formen des Denkens und Wissens“.92 Wenn also alternative Arbeitseinheiten unterschiedliche Normen und Standards pflegen, dann heißt dies eben nicht, dass eine von ihnen – wie oftmals impliziert – keinen Normen und Standards folgt. Und vor allem bedeutet dies nicht, dass die Geisteswissenschaften sich damit normativ laxer verhalten als die Naturwissenschaften. Für solche „Arbeitseinheiten“ müsste dann gelten, dass sich ihr je spezifisches „Alter“ daran bemisst, ob sie fähig sind, „Differenzen zu produzieren, die als unvorwegnehmbare Ereignisse gelten und in ihrer Rückwirkung auf das System die Maschinerie in Gang halten“.93 „Jung“ sind Arbeitseinheiten, die

88 Andrew Cox, „What are communities of practice? A comparative review of four seminal works“, in: Journal of Information Science, 31/2005, S. 527–540. 89 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 175. 90 Vgl. dazu fast alle Beiträge in: Journal of Literary Theory, 5/2011, 2. 91 So fordert Jörg Schönert zwar die Ausarbeitung „disziplinenspezifischer“ Standards, um nicht von ‚der‘ Wissenschaft auszugehen (Ders., „Normen und Standards als notwendige Regulierungen [literatur‑]wissenschaftlicher Praxis“, in: Journal of Literary Theory, 5/2011, 2, S. 233–244, hier S. 234), aber selbst dies ist Rheinbergers Einschätzung zufolge noch zu hoch angesetzt. Die Differenzierung in „bereichsübergreifende und bereichsspezifische Standards zum Erzeugen, Sichern und Vermitteln von Wissen“ ist demnach der wissenschaftlichen Realität angemessener (ebd., S. 238). 92 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 287. 93 Ebd., S. 226.

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Unvorhergesehenes, mithin epistemische Dinge produzieren; alt sind parallel dazu laufenden Arbeitseinheiten, die dazu nicht oder weniger gut in der Lage sind. Im Blick auf „epistemische Dinge“ bedeutet dies: Auf dieser Grundlage lässt sich eine Geschichte der epistemischen Dinge schreiben, die als Normalfall von Wissenschaftsgeschichte das Auftauchen und Verblassen von „Wissenschaftsobjekten“ behandelt, eine netzwerkförmige Verteilung des mehr oder weniger intensiven forschenden Engagements für „Dinge“, denen – um auf die eingangs zitierte Definition zurückzukommen – „die Anstrengung des Wissens gilt“ oder eben nicht.94 Weder also sind optimistische Einschätzungen oder ambitionierte Forderungen von Forschungskontinuität angebracht noch die Vorstellung einer gleichsam eruptiven Wissenschaftsentwicklung von radikalen Turns. Es ist normal, und zwar für alle Wissenschaften, dass „epistemische Dinge“ der Interpretation ihre Geschichte haben, dass also z.B. die Lyrik der Aufklärung, die Rhetorik des Barock oder die Narratologie mehr oder weniger forschungsrelevant erscheinen. Mit anderen Worten: Epistemische Dinge haben ihre Zeit. In der Regel ist es allerdings nicht so, daß sie eines Tages zu bloßen Illusionen zusammenschrumpfen. Vielmehr könnten sie in einem veränderten wissenschaftlichen Kontext ganz unbedeutend werden, weil niemand mehr in ihnen etwas sieht, woraus unvorwegnehmbare Ereignisse hervorgehen können. Sie können aber auch einfach als Forschungsobjekte verstummen und als schlichte technische Werkzeuge überdauern.95

Dies gilt gewiss auch für den Begriff des „epistemischen Dings“.

94 Vgl. zum Altern „epistemischer Objekte“ auch eine Bemerkung bei Günter Abel, „Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte“, S. 138. 95 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 283.

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Das „Laboratorium“ der Philologie? Das philologische Seminar als Raum der Vermittlung von Praxiswissen (circa 1850–1900) Es ist einfach, ein paar äußere Merkmale des Seminars zu skizzieren, aber schwierig, sein inneres Leben darzustellen. Herbert B. Adams (1884)

Welche Rolle spielt das philologische Seminar in der Konstitutionsphase der Germanistik? Ist es, wie Wilhelm Scherer behauptet, das „Laboratorium“ der Philologie? Wie die in diesem Aufsatz untersuchten Schriften Wilhelm Scherers, Julius Zachers und Wilhelm Diltheys zeigen, werden im Rahmen der Diskursivierung des philologischen Seminars in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Aspekte dieser akademischen Institution berührt: Der Diskurs über den epistemologischen Raum des Seminars dient der Diskussion der handwerklichen Dimension der Auffindung und Anwendung von Wissen (Scherer), der Beschreibung der personalen Dimension der Wissensübertragung (Zacher) und der Charakterisierung der institutionellen Dimension der Ausbildung eines Habitus (Dilthey). Aus der Perspektive Scherers, Zachers und Diltheys ermöglicht das Seminar durch unentwegtes Üben anhand kopräsenter Quellentexte und Forschungsliteratur den Erwerb einer Urteilskraft, die dem Auffinden und Anwenden von philologischem Wissen dient; es gewährleistet durch die Kopräsenz von Meister und Schüler die implizite Übertragung von philologischem Praxiswissen; schließlich erlaubt es als Immersionsraum für eine als Lebensform verstandene Philologie die Herausbildung und Festigung eines philologischen Habitus. Die Etablierung epistemischer Praxisformen und kognitiver Habitusformationen in einem als Lebensform verstandenen philologischen Seminar ist Scherer und Zacher zufolge nur dann möglich, wenn Seminarübung, Seminarbibliothek und Seminarräumlichkeit miteinander zu einer übergreifenden akademischen Formation verknüpft werden, die von einem Stipendiensystem flankiert wird. Diese Formation erweist sich als ein Raum, in dem mittels einer Lehrsammlung intensive philologische Übungen betrieben werden und in dem (aufgrund großzügiger Öffnungszeiten und räumlicher Nähe) ein unmittelbarer Zugang zu Quellentexten und Forschungsliteratur gewährleistet ist. Das Seminar, das häufig von den Seminaristen mitbetrieben und (gerade auch, was die Anschaffung der Literatur betrifft) von dem Seminarleiter betreut wird, erweist sich als ein Raum, in dem auch außerhalb der seminaristischen Übungen ein enger Kontakt zwischen

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Lehrenden und Lernenden hergestellt wird. Die Anwesenheit in einem geteilten Arbeitsraum erlaubt es den Philologen, wechselseitige Aufmerksamkeit dafür aufzubringen, in welcher Weise Philologie lokal praktiziert wird.

I Das Seminar als „Laboratorium“: Wilhelm Scherer, 1884 Wilhelm Scherer (1841–1886), eine der Gründungsfiguren der Neugermanistik, der 1877 auf die neugeschaffene Professur für neuere deutsche Literaturgeschichte an die renommierte Berliner Universität berufen wird, findet ein Umfeld vor, in dem weder ein Seminar noch eine Seminarbibliothek vorhanden sind. Für Scherer, der zuvor in Straßburg vorteilhaftere Arbeitsbedingungen gewohnt war, ist dies ein unhaltbarer Zustand. Nachdem im September 1884, mittlerweile sind sieben Jahre vergangen, immer noch keine Seminarbibliothek angeschafft worden ist (auch das Seminar ist noch nicht gegründet), verfasst er ein „Promemoria betreffend das Germanische Seminar“.1 In diesem Schreiben setzt er detailliert auseinander, weshalb die germanistische Ausbildung auf eine Seminarbibliothek angewiesen ist. Scherer schlägt in seinem Schreiben vor, die Privatbibliothek des kurz zuvor verstorbenen Kollegen Karl Müllenhoff (1818–1884) aufzukaufen und als Grundstock einer germanistischen Seminarbibliothek zu verwenden. Er schreibt: Mit Bibliotheken ausgestattete Seminare, in denen die vom Direktor aufgenommenen Mitglieder von Morgens bis Abends ungestört arbeiten können, in denen auch die vom Direktor geleiteten Übungen stattfinden, haben einen Vortheil für die philologischen und historischen Wissenschaften wie die Laboratorien für die Naturwissenschaften. Den hier Lernenden wird das Arbeitsmaterial selbst in die Hand gegeben.2

1 Vgl. zur Geschichte der Berliner Seminargründung, die Scherer nicht mehr erleben sollte, die Hinweise bei Uwe Meves, „Die Gründung germanistischer Seminare an den preußischen Universitäten (1875–1895)“ [1987], in: Ders. (Hrsg.), Ausgewählte Beiträge zur Geschichte der Germanistik und des Deutschunterrichts im 19. und 20. Jahrhundert, Hildesheim 2004, S. 279–327; Wolfgang Höppner, „Wilhelm Scherer, Erich Schmidt und die Gründung des Germanischen Seminars an der Berliner Universität“, in: Zeitschrift für Germanistik, 9/1988, S. 545–557. Vgl. zur Geschichte germanistischer Seminargründungen Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Paderborn 2003 [1989], S. 421–432. – Für Hinweise und Kritik danke ich Uwe Meves (Oldenburg) und Klaus Weimar (Zürich) sowie Andrea Albrecht (Stuttgart), Hans-Harald Müller (Hamburg) und Dirk Werle (Jena). 2 Wilhelm Scherer, „Promemoria betreffend das Germanische Seminar, die Müllenhoffsche Bibliothek und Müllenhoffs Nachlaß“, in: Uwe Meves (Hrsg.), Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess, Berlin, New York 2011, S. 843–849, hier S. 843. – Vgl. zum späteren Umgang mit der Bibliothek Müllenhoffs auch den Brief von Wilhelm Scherer an Althoff vom 17. April 1885, in: Wilhelm Scherer. Briefe und

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Scherer verwendet hier eine Analogie, die heute ebenso reizvoll wie klärungsbedürftig scheint: In welcher Hinsicht ist das philologische Seminar, präziser: das um eine Seminarbibliothek ergänzte philologische Seminar, genau das, was das Laboratorium für die Naturwissenschaften ist? Im Hinblick worauf ist diese Analogisierung epistemischer ‚Räume‘ sinnvoll? Ein erster Versuch, diese Analogie zu verstehen, kann darauf abstellen, dass in den Seminarräumlichkeiten, die eine Seminarbibliothek enthalten, wie in einem Labor die ‚Instrumente‘ und ‚Apparaturen‘ geisteswissenschaftlicher Arbeit stehen: Dort werden sie allen Seminaristen „von Morgens bis Abends“ zur Verfügung gestellt und stehen immer als Übungsobjekte bereit, wenn der Direktor eine Seminarübung veranstaltet. Scherer nennt eine Vielzahl von Gründen, weshalb die Präsenz von philologischen ‚Instrumenten‘ und ‚Apparaten‘ auch für das geisteswissenschaftliche Arbeiten unabdingbar ist. Erstens verlangt die historisch-philologische Arbeit nach einem „sofortigen und gleichzeitigen“ Zugang zu einer großen Menge an Büchern: Es giebt wohl keine wissenschaftliche Untersuchung auf dem Gebiet der Philologie und Geschichte, die mit einem oder wenigen Büchern geführt werden kann. […] Zur Durchführung einer Untersuchung […] ist der unbehinderte, sofortige und gleichzeitige Gebrauch vieler Bücher […] nothwendig.3

Da dieser „sofortige und gleichzeitige“ Zugang an öffentlichen Bibliotheken nicht gewährleistet sei, müsse es häufig zu Stockungen, gelegentlich sogar zum Abbruch der geisteswissenschaftlichen Arbeit kommen: Es kommt vor, daß der Arbeitseifer eines Studenten im Keim erstickt wird, wenn gleich die ersten Bücher, die er verlangt, verliehen sind, oder wenn er zwar ein Buch B bekommt, aber das Buch A, mittelst dessen er allein B verstehen könnte, erst nach 4 Wochen erhalten kann, wo er B schon wieder abliefern muß.4

Dokumente aus den Jahren 1853–1886. Hrsg. und kommentiert von Mirko Nottscheid und HansHarald Müller unter Mitarbeit von Myriam Richter, Göttingen 2005, S. 343–344. – Die Gründung des germanischen Seminars an der Berliner Universität verzögerte sich nicht aufgrund von Einwänden der preußischen Bürokratie, sondern weil Müllenhoff der Ansicht war, dass die Ausbildung der Germanisten weiterhin in dem philologischen Seminar (d.h. in dem Seminar der klassischen Philologen) zu erfolgen habe. 3 Scherer, „Promemoria“, S. 843. Vgl. dazu auch den Hinweis von Scherer in: „Bericht über das Seminar für deutsche Philologie in Straßburg während der ersten drei Semester seines Bestehens, 25. Mai 1874“, in: Nottscheid/Müller (Hrsg.), Briefe und Dokumente, S. 377–381, hier S. 379: „Eine streng wissenschaftliche Interpretation Goethescher Gedichte z.B. setzt das Vorhandensein einer vollständigen Goethebibliothek voraus, wie sie weder die Universitäts- noch die Seminarbibliothek bis jetzt besitzt.“ 4 Scherer, „Promemoria“, S. 844.

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Zweitens erlaubten nur größere Präsenzbestände im Seminarraum, dass während der dort stattfindenden Seminarübungen jederzeit auf die wissenschaftlichen ‚Instrumente‘ und ‚Apparate‘ zurückgegriffen werden könne.5 Erst dieser Präsenzbestand erlaube es den Seminaristen, sich zunächst angeleitet und dann selbsttätig in deren Gebrauch zu üben: Es ist ein großer Unterschied ob der Direktor einfach das richtige sagt oder ob es der Schüler in Gegenwart des Direktors durch eigene Bemühung ermittelt […].6

Drittens erlaube nur ein breiter Präsenzbestand den Erwerb einer materiellen Übersicht über das Fach und ermögliche überhaupt erst, auch dem Zufall eine funktionale Rolle im Forschungsprozess zuzuweisen.7 Scherer schreibt: Die glückliche Durchführung einer Untersuchung hängt oft davon ab, daß man Bücher liest, von denen man nicht bestimmt vorauswissen kann, daß sie einschlägiges Material enthalten, sondern bei denen man gleichsam dem Zufall Gelegenheit geben will, uns zu dienen. Eine solche ins allgemeinere gehende Lektüre stellt sich bei strebsamen Studenten innerhalb einer Seminarbibliothek ganz von selbst ein.8

Scherers „Promemoria betreffend das Germanische Seminar“ war erfolgreich: Ein Dreivierteljahr nach der Eingabe bewilligt der Deutsche Kaiser Wilhelm I. 9000 Mark aus seinem Dispositionsfonds für den Ankauf der Privatbibliothek Karl Müllenhoffs, die dann auch den Grundstock der neuen Seminarbibliothek bildete. Obwohl in Scherers Überlegungen zum Status der philologischen Seminarbibliothek, die Seminar und Labor auf analogische Weise verknüpfen, eine Vielzahl von Gründen genannt werden, die für die Einrichtung einer Seminarbibliothek sprechen, macht er interessanterweise darauf aufmerksam, dass es sicherlich viele weitere Gründe gebe, die sich ihm aber (um einen anachronistischen Terminus zu verwenden) aus praxeologischen Gründen entzögen: Mit dem vorstehenden wird nicht alles erschöpft sein, was sich über die Nützlichkeit von Seminarbibliotheken sagen läßt. Denn es ist oft sehr schwer, wo man den Nutzen praktisch

5 Ebd.: „[…] gewährt das Seminar die Möglichkeit, daß der Direktor, mitten unter den Büchern, die Mitglieder in den manchmal schwierigen und gar nicht von vornherein zu treffenden Gebrauche der litterarischen Hilfsmittel unterweise […].“ 6 Ebd., S. 844 f. 7 Vgl. dazu die klassische Studie von Robert K. Merton und Elinor Barber, The travels and adventures of serendipity: A study in sociological semantics and the sociology of science, Princeton 2004. 8 Scherer, „Promemoria“, S. 844.  

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kennen gelernt hat, sich dann theoretisch auf die einzelnen Momente zu besinnen, durch welche das glückliche praktische Resultat erzielt wurde.9

Scherer hebt hervor, dass die mit dem gelungenen Praxisvollzug verknüpfte Könnerschaft sich selbst häufig im Wege steht, wenn es darum geht, von den komplexen Praxisvollzügen und der ihnen zugrundeliegenden Rationalität Rechenschaft abzulegen. Praktiken – im Sinne von normativ imprägnierten impliziten Handlungsroutinen – erscheinen hier als das, was sich ‚von selbst‘ versteht und deshalb für die Handelnden weitgehend ‚unsichtbar‘ bleibt; sie können nur mit großer Mühe verbalisiert und zum Gegenstand expliziter Analysen und theoretischer Diskussionen gemacht oder (wie bei Scherer) in einen konkreten Investitionsvorschlag überführt werden. Das, was Scherer in seinen Überlegungen zu Seminarbibliothek und Laboratorium als „sehr schwer“ charakterisiert, verweist auf das Anliegen dieses Aufsatzes: die theoretische Reflexion auf das Seminar als maßgebliche „praktische“ Rahmenbedingung, der die philologische Arbeit ihre glücklichen Resultate verdankt, die sich meist aber unserer unmittelbaren Aufmerksamkeit entzieht.

II Vom Labor zum Seminar Scherer stellt seine Verknüpfung von geisteswissenschaftlichem Seminar (bzw. geisteswissenschaftlicher Seminarbibliothek) und naturwissenschaftlichem Labor in einen hochschulpolitischen Kontext. Scherers Analogie könnte aber über ihre präzisierbaren strategischen Ziele hinaus eine fruchtbare Heuristik für die Untersuchung des philologischen Seminars abgeben. Im Rahmen der akademischen science studies, die seit längerem intensive Laborstudien betreiben,10 ist die von Scherer hergestellte Verbindung allerdings nicht wirklich gesehen und nie umfassender untersucht worden. Hängen die science studies vielleicht noch genau dem Bild der Geisteswissenschaften nach, gegen das sich Scherer mit seinen Hinweisen zu Seminar und Labor nachdrücklich wendet? Man kann jedenfalls den Eindruck gewinnen, dass die science studies in den Geisteswissenschaften keinen reizvollen Untersuchungsgegenstand zu finden vermögen, weil sie in den historisch-philologischen Wissenspraktiken nicht viel mehr als einige evidente Handlungen erkennen können: an

9 Ebd., S. 845. 10 Vgl. für einen breiten Überblick Jan Golinski, Making Natural Knowledge. Constructivism and the History of Science [1998]. With a New Preface, Chicago 2005.

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Schreibtischen sitzen, Bücher lesen, Aufsätze kopieren, Textpassagen exzerpieren usw. Dies alles umfasst Artefakte und Handlungsvollzüge, die jeder bereits aus dem Alltag kennt und deren geheime Bedeutung mutmaßlich nicht erst durch aufwändige und mühsame Studien der Wissenschaftsforschung zu enthüllen ist. Und wäre es, so könnte der entsprechende Einwand lauten, auch nicht etwas hochgestochen, einen Notizblock oder eine Schreibtischlampe als ein ‚Instrument‘ und das Fotokopieren oder Exzerpieren als eine epistemische Praxisform zu bezeichnen?11 Wie Lorraine Daston zu Recht in einem für diese Fragestellung maßgeblichen Aufsatz hervorgehoben hat, ist die historische Forschung über wissenschaftliche Praktiken bis in die Gegenwart überwältigend einseitig an den Naturwissenschaften ausgerichtet: The philosophical literature on epistemology and the historical literature on scientific practices, especially in English, is overwhelmingly slanted towards the natural sciences. […] Insofar as any epistemological question about the knowledge of humanists has been posed, it has centered on the objects of that knowledge […]. But what about an epistemology based upon the practices of humanists, on what they do?12

Während inzwischen eine stattliche Anzahl von praxisorientierten Untersuchungen für die Naturwissenschaften vorliegt, die die epistemologische Diskussion nachhaltig bereichert haben, gibt es bislang tatsächlich nur vereinzelte Studien zu geisteswissenschaftlichen Praxisformen.13 Dort, wo überhaupt Fragen zu den spe-

11 Nicht selten hat auch die methodologische Reflexion (oder jedenfalls eine bestimmte Form der methodologischen Reflexion) in der Methodenlehre der Geisteswissenschaften einen Anteil an der Praxisferne der Perspektiven auf die Geisteswissenschaften gehabt: Eine stark normativ ausgerichtete Wissenschaftstheorie, die sich vorwiegend für logisch einwandfreie argumentative Verknüpfungen interessierte, beobachtete das geisteswissenschaftliche Ensemble von ‚handwerklichen‘ Arbeitsformen und wissenschaftlichen Alltagspraktiken eher als eine methodologisch erst zu läuternde, meist revisionsbedürftige Praxis, die über keine Eigenrationalität verfügte. 12 Lorraine Daston, „Whither Critical Inquiry?“, in: Critical Inquiry, 30/2004, 2, S. 361–364, hier S. 363. 13 Erst im letzten Jahrzehnt beginnt man auf breiter Basis die von Geisteswissenschaftlern benutzen Geräte zu erforschen, die nur dann einen angemessenen Einsatz finden, wenn der Geisteswissenschaftler über ein ‚handwerkliches‘ Praxiswissen verfügt: Beispiele wären der Umgang mit Bibliotheken und Archiven, das Anlegen von Sammlungen und Kollektaneen, die Produktion und Rezeption von Büchern, die komplexe Text-Text-Ensembles (man denke etwa an philologische Editionen mit Text und Kommentar) enthalten. Hier kommen die Impulse meist aus der Frühe-Neuzeit-Forschung: Anthony Grafton, Forgers and Critics. Creativity and Duplicity in Western Scholarship, Princeton 1990; Ders., Defenders of the Text: The Traditions of Scholarship in the Age of Science, 1450–1800, Cambridge (MA) 1991; Glenn W. Most (Hrsg.), Aporemata. Kritische Studien zur Philologiegeschichte, 6 Bde., Göttingen 1997–2002; Martin Mulsow/Helmut Zedelmaier (Hrsg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001; Ralph Häfner

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zifischen Wissensformationen der Geisteswissenschaften aufgeworfen wurden, hat man sich zudem meist auf die Theorien der Geisteswissenschaften konzentriert. Das, was Daston für die Geisteswissenschaften im Allgemeinen konstatiert hat, gilt im Besonderen für die historisch-philologischen Disziplinen: Eine grundsätzliche Reflexion über die Chancen und Grenzen von praxeologischen Fragestellungen für die philologische Epistemologie steht ebenso aus wie eine umfassendere Verhältnisbestimmung von philologischen Praktiken einerseits und methodologischen sowie theoretischen Diskursen in den Philologien andererseits. Nun könnte es Gründe für die Annahme geben, dass sich der praxisorientierte Ansatz der science studies nicht ohne Weiteres auf die Erforschung der Geisteswissenschaften übertragen lässt, dass sich den Laborstudien keine Seminarstudien an die Seite stellen lassen. Niemand würde bestreiten wollen, dass zwischen den Praktiken der experimentellen Naturwissenschaften und denen der historisch-philologischen Geisteswissenschaften Unterschiede bestehen; die Frage ist nur, ob aus diesen Differenzen die Unübertragbarkeit des in den science studies gepflegten praxeologischen Ansatzes folgt. Welche Implikationen ergeben sich etwa in methodischer Hinsicht aus den Besonderheiten geisteswissenschaftlicher Verfahrensweisen? Erstens stellt sich die ‚methodische‘ Frage, auf welcher Quellengrundlage sich praxeologische Beschreibungen der Beschäftigung mit Texten stützen lassen: Wie ist der konkrete Vollzug historisch-philologischer Arbeit überhaupt sichtbar zu machen? Wie ist also mit der Tatsache umzugehen, dass zumindest auf den ersten Blick beim historisch-philologischen Arbeiten die Teilpraktiken des Forschens einerseits und der Darstellung der Forschungsergebnisse etwa in Aufsatzform andererseits (‚doing science‘ vs. ‚writing science‘)14 nicht so klar voneinander zu trennen sind wie dies für einige experimentelle Naturwissenschaften behauptet wurde?15 Laboratory studies dürften in diesem Bereich nur

(Hrsg.), Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher Philologie, Tübingen 2001; Roy K. Gibson/Christina Shuttleworth Kraus (Hrsg.), The classical commentary: histories, practices, theory, Leiden 2002; Ralph Häfner/Markus Völkel (Hrsg.), Der Kommentar in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006; Ann Blair, Too Much to Know: Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven 2010. – Vgl. zur Untersuchung von Praxisformen in den Geistes- und Sozialwissenschaften der Gegenwart v.a. Charles Camic/Neil Gross/Michèle Lamont (Hrsg.), Social Knowledge in the Making, Chicago 2011. 14 Vgl. für einen kompakten Überblick zu dieser Unterscheidung, der auch die Laborstudien berücksichtigt, den Aufsatz von Jutta Schikore, „Doing Science. Writing Science“, in: Philosophy of Science, 75/2008, S. 323–343. 15 Vgl. zu diesem Problem Christian Jacob, „Introduction“, in: Ders. (Hrsg.), Les Mains de l’intellect (Lieux de Savoir, Bd. 2), Paris 2011, S. 11–28, hier S. 23.

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von begrenztem Wert sein: Schreibtischarbeiter führen keine extensiven Laborjournale. Und ihr beobachtbares Tun beschränkt sich auf wenige unscheinbare Gesten. Und wenn es uns schon unklar scheint, wie man diese kleinen Gesten (wie das Unterstreichen von Textpassagen, das Platzieren von Lesezeichen) rekonstruieren soll, so scheint noch unklarer, wie man eine ebenso zentrale wie flüchtige Praxis wie die des wiederholten Lesens erfassen können sollte. Wenn überhaupt, so die Vermutung, dann lässt sich dies alles nur sehr indirekt über andere, sichtbarere Gesten erschließen. – Aber: Wenn schon nicht die teilnehmende Beobachtung von Geisteswissenschaftlern, die den gesamten Arbeitstag bewegungslos an ihrem Schreibtisch vor einem Bildschirm verbringen, eine vielversprechende Untersuchungsperspektive bietet, so mag doch vielleicht die Beobachtung der Interaktion von Geisteswissenschaftlern mit ihren Rechnern ungenutzte Erkenntnischancen bieten.16 Zweitens stellt sich die ‚strategische‘ Frage, welches Erkenntnisinteresse jeweils mit der praxeologischen Perspektive verbunden ist. Mit Blick auf die ‚Übertragung‘ des Forschungsansatzes vom naturwissenschaftlichen ins geisteswissenschaftliche Feld ist nämlich zu bedenken, dass die praxeologischen Forschungen der science studies meist mehr oder minder deutlich auf eine Kritik naturwissenschaftshistorischer ‚Mythen‘ oder ‚Ideologeme‘ hinausliefen – also etwa darauf, die Relevanz der ‚offiziell‘ proklamierten Normen und Prinzipien für die tatsächliche wissenschaftliche Alltagstätigkeit in Frage zu stellen; die Diskrepanz von textuell dargestellter und faktisch vollzogener Wissenschaft herauszustellen; die Dissonanz zwischen den Selbstbildern von Naturwissenschaftlern im Hinblick auf ihre Arbeitspraxis und ihren tatsächlichen tagtäglichen Verhaltensweisen zu beschreiben; die Thesen und Narrative einer whig history of science zu kritisieren; oder die Naturwissenschaften kulturalistisch einzugemeinden und damit die gesellschaftliche Deutungshoheit der Kulturwissenschaften zu behaupten. – Steven Shapin hat dieses umfassende Programm als das einer „Dämpfung der Tonlage“ („lowering the tone“) beschrieben.17

16 Diese Praxisformen sind auch selbstverständlicher Teil der Naturwissenschaften; bei diesen kommt aber meist noch die Experimentalpraxis oder, wie bei den Medizinern, die Diagnosepraxis hinzu, auf die dann auch der Fokus der science studies gerichtet wurde. Vereinzelt aber gibt es auch hier schon Untersuchungen der nicht-experimentellen Praktiken, etwa zum „Aufschreiben“ in der Reihe Wissen im Entwurf: Christoph Hoffmann (Hrsg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich, Berlin 2008; Barbara Wittmann (Hrsg.), Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Zürich, Berlin 2009; Karin Krauthausen/Omar W. Nasim (Hrsg.), Notieren, Skizzieren. Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs, Zürich, Berlin 2010. 17 Steven Shapin, „Lowering the Tone in the History of Science. A Noble Calling“, in: Ders., Never Pure: Historical Studies of Science as if It Was Produced by People with Bodies, Situated in Time,

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Auf der Seite der Geisteswissenschaften scheint es kein ähnlich fest etabliertes und klar definiertes, auch kein ähnlich affirmatives Selbstbild mehr zu geben, dessen Revision oder Subversion praxeologische Forschungen sich zum Ziel setzen könnten. Die „Dämpfung der Tonlage“ scheint, wenn man die gedämpfte Stimmung in den Fluren mancher geisteswissenschaftlicher Institute bedenkt, nichts zu sein, wofür es einer ambitionierten Wissenschaftsforschung der Geisteswissenschaften bedürfte. Ganz in diesem Sinne hat Daston darauf hingewiesen, dass eine Hinwendung zu den Praktiken im Bereich der Geisteswissenschaft vielmehr einer ‚stabilisierenden‘ Selbstvergewisserung dienen könnte – nämlich dabei helfen könnte, in den Geisteswissenschaften die erheblichen theoretischen Verunsicherungen zu bewältigen, die in den letzten Jahrzehnten vom Poststrukturalismus und linguistic turn ausgingen.18 Die historisch-philologischen Fächer, so die These Dastons, verfügen über eine meist unsichtbare Praxisrationalität, die von den Theorieprogrammen und Methodendebatten der letzten Jahrzehnte weder angemessen zur Kenntnis genommen noch (und das wäre dann ihre gute Nachricht) substantiell angegriffen wurden. Nur: An welchem Ort wäre die philologische Praxisrationalität, die in der Wissenschaftsforschung der Naturwissenschaften im Laboratorium ausfindig gemacht wurde, in den historisch-philologischen Disziplinen zu finden?19 Hier kann man dem Hinweis Scherers folgen und das voll ausgerüstete Seminar als den Ort

Space, Culture, and Society, and Struggling for Credibility and Authority, Baltimore 2010, S. 1–14, hier S. 5. 18 Lorraine Daston, „Die unerschütterliche Praxis“, in: Rainer Maria Kiesow/Dieter Simon (Hrsg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 13–25, hier S. 21 f. 19 Die zur Verfügung stehenden Praxistheorien verwenden ein äußerst heterogenes terminologisches Repertoire, das so unterschiedliche Begriffe wie Erfahrungswissen, Vollzugswissen, praktisches Wissen, implizites Wissen, tacit knowing, knowing how, skills, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Kompetenzen, Gewohnheiten, Ethos, habitus usw. beinhaltet. – Unter einer praxeologischen Perspektive ist hier zunächst die Analyse praktischer, oftmals nicht-explizierter Routinen und handwerklicher Verfahren zu verstehen. Es geht um Fähigkeiten, die in der Regel nicht direkt (d.h. explizit, durch verbales Beschreiben) lehr- und lernbar sind, sondern durch Imitation und Lernen an Exempeln erworben werden. Praktisches geisteswissenschaftliches Wissen manifestiert sich in „Könnerschaft“, in „Expertise“ und „Urteilskraft“. Die Muster, die für diese „Könnerschaft“ immer wieder angeführt werden, sind körperliche Fähigkeiten wie Fahrradfahren oder der Spracherwerb. Hauptmerkmale dieser „Könnerschaft“ sind, dass sie sich nicht in formalisierten Handlungsabläufen, sondern in informellen Verhaltensroutinen ausprägen; dass die „Könner“ in diesen Routinen nicht expliziten Regeln, sondern impliziten Normen folgen; dass der Erwerb der „Könnerschaft“ nicht über die formelhafte Anwendung von fixierten Regeln, sondern u.a. durch wiederholtes Beobachten und Imitieren sowie über das Einüben in gemeinsame Verhaltensrouti 

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in den Blick nehmen, an dem das, was gerade nicht direkt lehrbar und lernbar ist, trotzdem gemeinsam praktiziert wird. Das seminarium philologicum ist nicht für Scherer allein, sondern für viele Philologen des 19. Jahrhunderts ein maßgeblicher akademischer Ort, an dem nicht das Vermitteln von Faktenwissen oder Regelkenntnissen im Vordergrund steht, sondern das wiederholte Einüben von Fertigkeiten und Fähigkeiten im gemeinsamen praktischen Umgang mit disziplinspezifischen ‚Artefakten‘ und ‚Instrumenten‘.

III Das Seminar als „Originalbelehrung“: Julius Zacher, 1875 Das Seminar war im 19. Jahrhundert – in dem sich viele der philologischen Praxisformen, die wir noch heute kennen, langsam etablieren – allerdings nicht der Veranstaltungstyp, der den heutigen Universitätsalltag prägt.20 Das Seminar

nen erfolgt. Vgl. dazu auch Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, in: Geschichte der Germanistik, 35/36/2009, S. 89–96. 20 Vgl. zur Geschichte des philologischen Seminars vor allem Lutz Danneberg, „Dissens, adpersonam-Invektiven und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts: Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche“, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern [u.a.] 2007, S. 93–147; Rainer Kolk, „Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert“, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 14/1989, S. 50–73. Vgl. weitere knappe Hinweise bei Nikolaus Wegmann, „Im Seminar“, in: Thomas Rathmann (Hrsg.), Texte, Wissen, Qualifikationen. Über epistemologische, wissenschaftspragmatische und kulturpolitische Aspekte eines Studiums der Germanistik, Berlin 2000, S. 120–127; Pier Carlo Bontempelli, Storia della germanistica. Dispositivi e instituzioni di un sistema disciplinare, Rom 2000, S. 28–32. – Vgl. für das geschichtswissenschaftliche Seminar die Aufsätze in Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Vorlesung, Seminar, Repetitorium. Universitäre geschichtswissenschaftliche Lehre im historischen Vergleich, München 2006; Anthony Grafton, „In Clio’s American Atelier“, in: Camic/Gross/Lamont (Hrsg.), Social Knowledge, S. 89–117. – Vgl. zur disziplinübergreifenden Genealogie des Seminars William Clark, „On the Dialectial Origins of the Research Seminar“, in: History of Science, 27/1998, S. 111–154; Gert Schubring, „Kabinett – Seminar – Institut: Raum und Rahmen des forschenden Lehrens“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 23/2000, S. 269–285. Waquets überblicksartiger Versuch, unterschiedliche ‚Räume‘ der praktischen Wissensübertragung (u.a. Seminar, Labor, Klinik, Feld) zu vergleichen, verdiente weiterverfolgt zu werden; vgl. Françoise Waquet, Les enfants de Socrate. Filiation intellectuelle et transmission du savoir. XVIIe–XXIe siècle, Paris 2008, S. 213–228. Keine weiterführenden Hinweise zum Seminar enthält Heidrun Friese/Peter Wagner, Der Raum des Gelehrten. Eine Topographie akademischer Praxis, Berlin 1993. Ein etwas irreführender Hinweis, der das Seminar als „dialogische“ Form von der Vorlesung als einer monologischen abgrenzt, findet sich bei Rudolf Stichweh, „Die Einheit von Forschung und Lehre“, in: Ders., Wissenschaft, Universität, Profession. Soziologische Analysen, Frankfurt a.M. 1994, S. 228–245, hier S. 236–238. – Eine nähere Betrachtung verdiente die franzö-

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war eine komplexe Institution, die die folgenden Dimensionen umfassen konnte: Eine akademische Verwaltungseinheit mit einem Budget (z.B. für Stipendien); eine bestimmte universitäre Lokalität (d.h. ein Seminarraum mit Arbeitsmitteln und Arbeitsplätzen); und eine (neue) Arbeitsform (d.h. von der Vorlesung unterschiedene Form des akademischen Lehrens und Lernens). Wenn dank wegweisender jüngerer Arbeiten wenigstens für bestimmte Bereiche des deutschsprachigen Raums die ‚äußeren‘ (institutionellen und räumlichen) Dimensionen des Seminars in ersten Ansätzen rekonstruierbar sind, so fehlt es doch weiterhin an einer ‚inneren‘ Geschichte des Seminars, die die „Praxis der Seminartätigkeit“ erfasst.21 In dem Seminar der klassischen und später auch der modernen Philologien kam zu festgesetzten Stunden eine kleine Gruppe von Seminarmitgliedern zusammen, um unter Anleitung des Seminardirektors forschungsorientiert zu lernen. Ordentliches Seminarmitglied konnte nur werden, wer eine mündliche Prüfung absolviert oder eine schriftliche Eingangsarbeit verfasst hatte. Wurde man zugelassen, so übte man in den Seminarstunden philologische Praktiken ein und verfasste zwischen den Sitzungen eigenständig schriftliche Seminararbeiten.22

sische Diskussion über das Seminar, die im Kontext der Universitätsreformen des 1970er Jahre geführt wurde: Vgl. u.a. Roland Barthes, „Au séminare“ [1974], in: Ders., Œuvres complètes. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, 5 Bde., Paris 2002, Bd. 4, S. 502–511; Michel de Certeau, „Qu’est-ce qu’un séminaire“, in: Esprit, 1978, 11/12, S. 176–181; Henri Meschonnic, „Enseignement, séminaire“, in: Esprit, 1978, 11/12, S. 182–187. 21 Uwe Meves, „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert, S. IX–XXIV, hier S. XV. – Dass gerade diese ‚innere‘ Geschichte des Seminars nur sehr schwierig zu erfassen ist, haben bereits zeitgenössische Beobachter betont: „It is easy to outline a few external characteristics of the seminary, but difficult to picture its inner life.“ Herbert B. Adams, Methods of Historical Study, Baltimore 1884, S. 107. 22 Für die Praxis der universitären Ausbildung stellte Friedrich August Wolfs Seminar in Halle entscheidende Weichen. Das Seminar Wolfs ist nicht nur ein Ort der Vermittlung von Faktenwissen oder Normkenntnissen, sondern vor allem von Fertigkeiten und Fähigkeiten. An erster Stelle stand für Wolf dabei die „Interpretation“. Sie bestand aus Textkritik und grammatischer wie lexikalischer Erklärung. An zweiter Stelle stand das Schreiben von Aufsätzen und Disputieren. Schriftliche ‚Hausarbeiten‘ wurden von Seminarteilnehmern zu selbst gewählten Themen verfertigt. Mitunter enthielten die Abhandlungen auch Thesen. Beide konnten wiederum Gegenstand von mündlichen Disputationen sein. Dann verteidigte ein Student seine Thesen gegen die Einwände eines Opponenten, den er selbst aus den anderen Mitgliedern des Seminars bestimmt hatte. Der Seminarleiter präsidierte dem Streitgespräch. Die mündliche Entfaltung von Wissen in der Disputation war die traditionelle akademische Prüfungsform. Das Seminar griff sie auf und verstetigte sie zu einer beständigen mündlichen Übung. Als dritte Form der Praxis muss das persönliche Gespräch ergänzt werden. Integraler Teil der Seminarausbildung war es, dass Wolf den persönlichen Kontakt zu den Seminarteilnehmern suchte, sie auf ihren Zimmern besuchte, mit ihnen spazieren ging. Hinweise auf die mündlichen Praxisformen Interpretation, Disputation

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Der Germanist Julius Zacher (1816–1887) bemühte sich in den 1870er Jahren mit einem „Entwurf einer Verfassung und eines Jahrgeldes für ein Seminar für deutsche Philologie zu Halle“,23 ein derartiges Seminar zu gründen. Zu diesem Zweck entwarf er, vermutlich auf ministeriellen Auftrag, ein umfangreiches Reglement für ein Seminar, das auch einige Hinweise auf das Seminar als Praxisform zu geben vermag.24 Die Daseinsberechtigung des Seminars, das idealerweise zwischen acht und zehn Seminaristen aufnehmen sollte,25 war für Zacher in Abgrenzung zum Vorlesungswesen („Kolleg“) die Aktivierung des Studenten „zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit“: Im gewöhnlichen Kolleg ist der Zuhörer nur aufnehmend, also passiv. Das liegt in der Natur der Sache und läßt sich nicht ändern. Im Gegensatze dazu soll das Seminar ihn anleiten, activ zu werden, d. h. zunächst selbstthätig und dann, mit wachsender Einsicht, Kraft und Uebung, auch selbständig zu arbeiten. Erst dadurch wird die Wissenschaft ein wirklicher Besitz, denn: ‚was man nicht erarbeitet hat, das hat man nicht‘. In dieser Anleitung und Erziehung zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit liegt der Kern der Seminaraufgabe.26

Der Zweck des Seminars, die „Erlernung […] fruchtbarer eigener und selbstständiger [sic] Arbeit“,27 soll laut Zacher durch „Uebung in Textkritik und Texterklärung, Referate, Kritiken, Erörterungen wissenschaftlicher und practischer Fragen,

und Gespräch sind allenfalls indirekt in Seminarregeln, Programmtexten oder Erzählungen von Beteiligten (d.h. Egodokumenten) überliefert. Zu diesen mündlichen Praxisformen kam aber die häusliche schriftliche Bearbeitung von Aufgaben hinzu, die um 1800 ein Novum darstellte. Das Seminar etablierte die Praxisform ‚Seminararbeit‘ und trug entscheidend dazu bei, dass Schriftlichkeit zum Leitmodus der akademischen Lehre wurde. Wissenschaftliches Schreiben war im Studium aber nur für die Seminaristen obligatorisch; für alle anderen Studenten war das Schreiben von Seminararbeiten (wie auch der Besuch des Seminars überhaupt) keine Vorbedingung für die Zulassung zum Abschlussexamen. Vgl. zur Genealogie der Seminararbeit Otto Kruse, „The Origins of Writing in the Disciplines: Traditions of Seminar Writing and the Humboldtian Ideal of the Research University“, in: Written Communication, 23/2006, S. 331–352; Thorsten Pohl, Die studentische Hausarbeit. Rekonstruktion ihrer ideen- und institutionengeschichtlichen Entstehung, Heidelberg 2009; Mark-Georg Dehrmann/Carlos Spoerhase, „Die Idee der Universität: Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 5/2011, 1, S. 105–117. 23 Julius Zacher, „Entwurf einer Verfassung und eines Jahrgeldes für ein Seminar für deutsche Philologie zu Halle. Halle, 23. Mai 1875“, in: Meves (Hrsg.), Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert, S. 789–820. 24 Zacher, „Entwurf“, S. 817 (Kommentar von Meves). Vgl. ebd. die Hinweise zum administrativen Erfolg des „Entwurfs“, S. 819, Anm 40 (Kommentar von Meves). 25 Ebd., S. 790 (vgl. dazu auch S. 808 f.). 26 Ebd., S. 793. 27 Ebd., S. 789.  

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Vorträge und schriftliche Ausarbeitungen“ erfolgen.28 Wie bereits in der Gründungsphase der Seminare in der klassischen Philologie kommt der akademischen „Selbsttätigkeit“ eine zentrale Rolle zu;29 diese „Selbsttätigkeit“ manifestiert sich vor allem in der seminaristischen Schriftlichkeit, d.h. in der akademischen Gattung der Seminararbeit: Besonders wünschenswerth und wichtig ist die Abfassung einer schriftlichen wissenschaftlichen Arbeit, denn sie vor allem erzieht zum lebendigen Erfassen der Wissenschaft und zu eigener selbständiger wissenschaftlicher Forschung.30

Das Ziel des Seminars ist das Verfassen von „tiefer eindringenden selbständigen Studien“;31 diese bedürfen zweier „Hilfsmittel“: „Bibliothek und baare Studienunterstützung“.32 Im Folgenden möchte ich nur Zachers Hinweisen zur Notwendigkeit einer Seminarbibliothek nachgehen, da diese näher zu spezifizieren erlauben, weshalb Scherer auf „[m]it Bibliotheken ausgestattete Seminare“ so großen Wert gelegt hat.33 Seminare hatten anfangs nämlich keine Räume, sie waren Institutionen ohne Ort. Seminare fanden laut Zacher meist in den Vorlesungssälen statt: Gewöhnlich werden Seminarübungen in einem Auditorium der Universität gehalten. Dann ist man aber jedesmal beschränkt auf die spärlichen litterarischen Hilfsmittel, welche Vorsteher und Mitglieder gerade für diese Stunde mit zur Stelle gebracht haben.34

28 Ebd., S. 791. 29 Karl Weinhold hebt in seiner posthumen Würdigung der Seminaraktivitäten Zachers hervor, dass für Zacher die beste Voraussetzung für den Besuch des germanistischen Seminars der vorangehende Besuch des philologischen Seminars (d.h. des Seminars für klassische Philologie) gewesen sei; Zacher habe die Seminarteilnehmer früh zur „selbsttätigkeit“ angetrieben; am meisten am Herzen gelegen habe ihm „[m]ethodisch arbeiten zu lehren“. Karl Weinhold, „Julius Zacher. Beitrag zur geschichte der deutschen philologie“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 20/1888, S. 385–429, hier S. 421 f. 30 Zacher, „Entwurf“, S. 799. Zacher hebt zudem die Bedeutsamkeit der persönlichen Betreuung für das Verfassen von schriftlichen Seminararbeiten hervor: „[…] überdies muß jedem Seminaristen die Möglichkeit zu persönlichem Verkehr mit dem Vorsteher auch außerhalb der Seminarstunden in liberaler Weise geboten sein. Namentlich muß er Rath und Belehrung des Vorstehers vor dem Beginn und während der Ausführung der schriftlichen Arbeit einholen können. Den Segen eines solchen persönlichen Verkehrs, der weit über das hinausreicht, was Vorlesungen und Seminararbeiten bieten können, habe ich einst an mir selbst im Verkehre mit Lachmann, Grimm, Gerhard u. a., und habe ihn später oft und reichlich an meinen Zuhörern erfahren“ (ebd., S. 814). 31 Ebd., S. 810. 32 Ebd., S. 791 (Kursivierungen im Original gesperrt). 33 Scherer, „Promemoria“, S. 843. 34 Zacher, „Entwurf“, S. 795.  

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Da für Zacher aber der praktische Umgang mit Buch und Bibliothek im Zentrum der seminaristischen Arbeitsform stand, veranstaltete er sein Seminar in privaten Räumen: Ich habe seit 20 Jahren mein Privatissimum in meiner Studierstube mitten unter meinen Büchern gehalten, und bezahle deshalb aus diesem Grunde gegenwärtig eine höhere Wohnungsmiethe, um in der Nähe der Universität eine Wohnung zu haben mit einer Studierstube, die geräumig genug ist für eine Bibliothek und ein Privatissimum von 10 Teilnehmern.35

Die Alternative, das Seminar in der Seminarbibliothek abzuhalten, stellt sich für Zacher nicht. Wie die Öffnungszeiten der akademischen Bibliotheken zeigen, sind diese nicht als Arbeitsräume sondern als reine Archivierungsorte konzipiert.36 Die bescheidene Ausstattung der Seminarbibliothek37 lässt Zacher zudem unterstreichen, dass seine „[…] eigene Bibliothek erheblich reicher ist, und so lange ich als Docent wirke, auch bleiben wird, als die eben erst gegründete Seminarbibliothek.“38 Die Hilfsmittel philologischer Forschung sind in privater Hand; der Besitz oder doch wenigstens der Zugang zu einer persönlichen Gelehrtenbibliothek ist nach wie vor unverzichtbar.39 Das Anliegen, „die Seminarübungen im Locale der Seminarbibliothek abzuhalten“, stellt sich für Zacher als ein innovatives institutionelles Vorhaben dar, das bisher nirgendwo „wirklich zu practischer Ausführung gekommen“ sei.40 Zacher fordert in diesem Sinne, dass das philologische Seminar (als eigene Arbeitsform, die häufig in den Privaträumen des Professors situiert war) und die philologische Seminarbibliothek (als Wissensspeicher, der häufig nicht viel mehr

35 Ebd. 36 Ebd., S. 803, zufolge war die Hallische Studentenbibliothek „wöchentlich zweimal je eine Stunde geöffnet“. 37 Ebd., S. 800, berichtet, dass sich auch die örtliche „Academische Hand- und Studentenbibliothek“ nur auf ein „Parterrezimmer“ erstreckte. 38 Ebd., S. 795. 39 Die Rolle der privaten Gelehrtenbibliotheken wurde bisher vor allem für die Frühe Neuzeit (inklusive des 18. Jahrhunderts) rekonstruiert; vgl. für einen knappen Überblick mit weiterführenden Literaturhinweisen Manfred Komorowski, „Bibliotheken“, in: Ulrich Rasche (Hrsg.), Quellen der frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2011, S. 55–81, hier S. 57–60. 40 Zacher, „Entwurf“, S. 795: „Deshalb hat man wohl auch daran gedacht, die Seminarübungen im Locale der Seminarbibliothek abzuhalten, um stets die gesammte Bibliothek zu augenblicklicher Verfügung zur Hand zu haben. Doch ist mir nicht bekannt geworden, daß dieser Gedanke irgend wo wirklich zu practischer Ausführung gekommen sei, und noch weniger, welchen Erfolg er gehabt habe.“

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als ein Bücherschrank in einem Universitätsraum sein konnte) an einem universitären Ort für Seminarübungen zusammengeführt werden sollen: Man richte unmittelbar neben der allgemeinen Studentenbibliothek und sämmtlichen Seminarbibliotheken ein heizbares Zimmer ein, welches von den Studenten zu wissenschaftlichen Arbeiten, und auch von den Professoren zur Abhaltung der Seminarübungen gebraucht werden kann.41

Das germanistische Seminar findet, wenn man Zacher folgt, erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an der Universität einen adäquaten Raum.42 Die Nähe der Studentenbibliothek und der Seminarbibliotheken einerseits und der universitären Unterrichtsräume andererseits ist dabei für Zacher von zentraler praxeologischer Bedeutung: Man wende nicht ein, es sei gleichgültig, ob die Bibliothek im Universitätsgebäude selbst, oder ob sie 10 oder 15 oder 20 Minuten davon entfernt aufgestellt sei. Das ist, mit Verlaub, ganz und gar nicht gleichgiltig. Da ich aus reicher vierzigjähricher Erfahrung urtheile, wird man mir wohl glauben können. Die Benutzung wird ganz unvergleichlich reicher und fruchtbarer, je bequemer sie ist.43

Auffällig ist, wie häufig Zacher in seinem „Entwurf“ mit seiner langjährigen „Erfahrung“ argumentiert.44 Die adäquate Einrichtung des Seminarwesens kann für ihn ebenso wie auch der angemessene philologische Umgang mit literarischen Texten nur ein Ergebnis von „Erfahrung“ und „Gewohnheit“ sein. Die Frage, wie die als studentisches Arbeitsumfeld projektierte Seminarbibliothek zur Förderung der „Bücherkenntniß“ eingerichtet werden soll, wird von ihm dann auch mit einem Hinweis auf die etablierte Praxis beantwortet: Wie das in praxi zu machen sei, darüber lassen sich Vorschriften nicht aufstellen; ein geschickter und humaner Custos der Handbibliothek wird es aber richtig einzurichten wissen, und daraus wird sich schließlich eine gute Gewohnheit herausbilden; gute Gewohnheiten aber sind besser als die schönsten Gesetze.45

41 Ebd., S. 804. 42 Vgl. dazu Klaus Dieter Bock, Strukturgeschichte der Assistentur. Personalgefüge, Wert- und Zielvorstellungen in der deutschen Universität des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1972, S. 162–165. – Wie stark diesbezüglich die Situation an den unterschiedlichen deutschen Universitätsstandorten divergieren konnte, macht Petersens Vergleich der Seminare in München, Leipzig und Berlin deutlich; vgl. Julius Petersen, „Der Ausbau des Seminars“, in: Das Germanische Seminar der Universität Berlin. Festschrift, Berlin, Leipzig 1937, S. 29–35, hier S. 29. 43 Zacher, „Entwurf“, S. 806. 44 Ebd., S. 808, S. 811, S. 812 und S. 814. 45 Ebd., S. 805.

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Die in der Seminarbibliothek und in den Seminarsitzungen wiederholt eingeübte Praxis im Umgang mit Quellen und Forschungen lässt sich nicht durch andere Lehrverfahren wie etwa die Vorlesung ersetzen.46 Wie Zacher im gleichen Jahr in einem Aufsatz in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift für deutsche Philologie schreibt, erlernen die Studenten den „richtigen blick[]“ des vorbildlichen Philologen nur im Seminar: Sehen, richtig sehen ist eine gar schwere kunst, und der universitätslehrer kann seinen zuhörern keinen grösseren und wichtigeren dienst leisten, als wenn er sich bemüht, sie sorgfältig und zweckmässig zur erlernung und übung dieser schweren kunst anzuleiten. Die anlage dazu muss der studierende freilich mitbringen als eine naturgabe, und ohne solche solte [sic] er überhaupt nicht studieren. Aber stärken und ausbilden lässt sich diese wie jede anlage durch belehrung und übung.47

Zacher geht zwar wie viele andere Philologen des 19. Jahrhunderts davon aus, dass es einer „naturgabe“ bedürfe, um in den Philologien „richtig sehen“ zu können; aber er benennt auch die erwerbbare Dimension des richtigen „blickes“. Diese fällt in den Bereich der „belehrung und übung“. Der Ort, an dem der „universitätslehrer“ den Studierenden in die „schwere[] kunst“ des „richtigen blickes“ indirekt einführen kann, an dem der nicht direkt lernbare ‚richtige Blick‘ übend erworben werden kann, ist das mit einer Bibliothek ausgestattete philologische Seminar. Das Praxiswissen, das im philologischen Seminar erworben werden sollte, ist von den Philologen schon des 19. Jahrhunderts immer wieder umschrieben worden.48 Zachers Hinweise auf den meisterhaften „blick[]“ seines Lehrers Karl Lachmann (1793–1851)49 und auf die „großen Meisterwerke von Grimm, Lachmann“50 lassen sich als Hinweise darauf deuten, dass sich die philologische Ausbildung auch am Ende des 19. Jahrhunderts an erster Stelle als ein übender Umgang mit philologischen Meisterleistungen verstand. Die Notwendigkeit eines übenden Umgangs mit diesen „Meisterwerke[n]“ ergibt sich, so Zacher, aus ihrem „esoteri-

46 Ebd.: „[…] ob man Bücher nur aus Titeln kennt, oder ob man sie selbst in den Händen gehabt hat und durchblättert hat, das macht einen ganz gewaltigen Unterschied.“ 47 Julius Zacher, „Ein Fehler Lachmanns in seiner Kritik und Erklärung von Hartmannes Iwein“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 7/1876, S. 175–207, hier S. 202. – Die Bemerkungen, die Zacher über Lachmann äußert, fallen im Rahmen des sogenannten „Nibelungenstreits“; vgl. zu Zachers Rolle in diesem Kontext Kolk, „Wahrheit – Methode – Charakter“, S. 62–73. 48 Vgl. Danneberg, „Dissens“, S. 98–107. 49 Zacher, „Ein Fehler“, S. 202. 50 Ders., „Entwurf“, S. 795.

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schen“ Charakter.51 In den editionsphilologischen Meisterwerken sei das Entscheidende meist nur „[…] aufs knappste ausgedrückt, oft nur sowie der mathematiker seine formeln schreibt, die jeder nichtmathematiker ratlos anstarrt […].“52 Die entscheidenden Hinweise für die „Methode“ Lachmanns sind, wie Lutz Danneberg zu Recht hervorgehoben hat, für Zacher nicht in den veröffentlichten Schriften niedergelegt;53 die Methode kann nur im Seminar erworben werden.54 Die Erschließung der vorbildlichen philologischen Editionen setze die mündliche Vermittlung philologischen Praxiswissens voraus. Zacher betont in einem autobiographischen Exkurs, dass auch er zunächst die Lachmann’sche Editionsphilologie „ohne hilfe guter mündlicher belehrung“ nicht zu verstehen vermochte.55 Das richtige „sehen“ sei „für den, der eine gute unterweisung und anleitung nicht erhalten hat, […] fast unmöglich“.56 Erst als er „zu dem meister selber kam“ und in dessen Seminar „eine mündliche belehrung empfieng“ sei es ihm „[w]ie schuppen […] von den augen“ gefallen.57 Die von Zacher benutzte Redewendung stammt nicht umsonst aus der Apostelgeschichte, denn sie schildert ein Bekehrungserlebnis.58 Erst nachdem Zacher das Seminar des Meisters besucht hatte, ward er sehend. Erst durch die mündliche Instruktion im Umgang mit Texten, die im philologischen Seminar Lachmanns erfolgte, hat Zacher „Sehen, richtig sehen“ gelernt. Schließlich habe Lachmann selbst über das Vermögen eines „treffenden blickes“59 verfügt: „grade diesen blick besass Lachmann in der ausgezeichnetsten weise“.60 Ohne diesen „Blick“ könne der Philologe auch seine „gelehrsamkeit“ und „übung des technischen“ kaum zur Geltung bringen:

51 Ebd.: „[…] weil die großen Meisterwerke […] durchaus esoterisch gehalten sind, werden sie bei geeigneter Gelegenheit herbeigelangt und wird gelehrt, wie sie zu erschließen und auszunutzen seien.“ 52 Zacher, „Ein Fehler“, S. 206. 53 Danneberg, „Dissens“, S. 104. 54 Charles Gross, ein amerikanischer Promotionsstudent, der über seinen Besuch des Historischen Seminars zu Göttingen einen Bericht verfasste, betonte, dass die enge Verknüpfung von wissenschaftlicher Methode und persönlichem Seminarbesuch für das deutsche Seminarwesen charakteristisch sei. Adams, Methods, S. 71, zitiert aus diesem Bericht: „[…] the scientific method, the German maintains, is the gift of time and the seminary only, – the result of long contact between the mind of the master and the mind of the disciple.“ 55 Zacher, „Ein Fehler“, S. 206. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Apg, 9,18. 59 Zacher, „Ein Fehler“, S. 175. 60 Ebd., S. 202.

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Der kritiker […] bedarf neben ausreichender gediegener gelehrsamkeit und neben tüchtiger kentnis [sic] und übung des technischen, vor allem des richtigen blickes […].61

Stellt man das philologische Praxiswissen ins Zentrum der eigenen Analyse und situiert man den eigentlichen Ort dieser Wissensform im philologischen Seminar, so besteht die Gefahr einer von der Selbstbeschreibung der Akteure beförderten Auratisierung des Seminars. Sollten sich bestimmte Fähigkeit und Fertigkeiten wie ein feiner „Blick“ (wenn überhaupt) nur indirekt und implizit im Seminar erwerben lassen, so kann sich schnell der Eindruck einstellen, das Seminar sei ein geheimnisvoller Ort, wo der Seminarist die Weihe des philologischen Amtes gleichsam durch ‚Handauflegung‘ des Professors vermittelt bekommt. Aber auch wenn es nicht darum gehen kann, die epistemologische Präsenzemphase der Akteursperspektive für die eigene Rekonstruktion des Seminars zu übernehmen,62 sondern darum, das philologische Seminar des 19. Jahrhunderts als eine komplexe akademische Institutionalisierungsform herauszuarbeiten, so hat doch das Akteursverständnis des Seminars als einer charismatischen Übertragungsszene das Selbstverständnis der philologischen Fächer und vermutlich auch die institutionelle Realität des Seminars geprägt. Die Schilderungen Zachers, im Lachmann’schen Seminar habe er eine „authentische originalbelehrung aus des meisters eigenem munde“ erfahren63 und „vom meister selbst den schlüssel zur eröffnung und ausnutzung der reichen von ihm erworbenen und aufgehäuften schätze“,64 die ihm zuvor „ein buch mit sieben siegeln“65 gewesen seien, erhalten, evozieren eine philologische Wissensvermittlung und -erschließung, die nur als persönliche Übertragung vom Meister zum Schüler erfolgen kann. Das Seminar ist aus dieser Perspektive ein Ort, an dem, wie Dilthey später in seinem einflussreichen Aufsatz über Die Entstehung der Hermeneutik schreiben wird, das Wissen „in persönlicher Berührung mit dem grossen Virtuosen“ übermittelt werde:

61 Ebd. 62 Diese Perspektive auf das Seminar ist gelegentlich für die Rekonstruktion übernommen worden: Etwa dort, wo das Seminar als Ort verstanden wird, an dem das schlechthin NichtLernbare in charismatischen Instruktionsszenen vermittelt wird (vgl. George Steiner, Lessons of the Masters, Cambridge [Mass.] 2003). Einer epistemologischen Präsenzpanegyrik, die sich meist auf emphatische Erlebnisberichte von Seminaristen stützen kann, soll hier aber kein Vorschub geleistet werden. 63 Zacher, „Ein Fehler“, S. 203. 64 Ebd., S. 207. 65 Ebd., S. 206.

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Sie [d.i. die Kunst der Interpretation, C.S.] entstand und erhält sich in der persönlichen genialen Virtuosität des Philologen. So wird sie auch naturgemäss vorwiegend in persönlicher Berührung mit dem grossen Virtuosen der Auslegung oder seinem Werk auf Andere übertragen.66

Der „richtige Blick“ oder „treffende Blick“, den Zacher nur im Seminar Lachmanns erwerben konnte, wurde in der methodologischen Diskussion des 19. Jahrhunderts auch als „Takt“ bezeichnet.67 Wie Lutz Danneberg in zwei Studien herausgearbeitet hat, verweist der „Takt“ im methodologischen Diskurs sowohl der Philologien als auch der Mathematik des 19. Jahrhunderts auf die Aneignung eines Repertoires an miteinander verknüpften Kompetenzen und Haltungen, also auf die Inkorporation eines Praxiswissens, das nicht direkt lernbar oder lehrbar ist, wohl aber erwerbbar und vermittelbar sein kann.68 Das, was mit Ausdrücken 66 Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“, in: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage, Tübingen [u.a.] 1900, S. 185–202, hier S. 190. – Allerdings verweist Dilthey darauf, dass auch Regeln den „Ertrag persönlicher Kunst“ übertragen können (ebd.). 67 Nur am Rande eingegangen werden kann hier auf die wissenschaftstheoretischen Herausforderungen der Konstruktion eines systematisch tragfähigen Begriffs des „Takts“ oder des „richtige Blicks“. – Welches Problem versuchen die Philologen mit diesen Begriffen zu lösen? „Weshalb“, so ließe sich eine Problemstellung imaginieren, „schafft es ein bestimmter Editionsphilologe mit bewundernswerter Sicherheit, die richtigen Konjekturen vorzunehmen?“ Oder: „Weshalb schafft es ein bestimmter Literaturwissenschaftler, eine bestimmte hermeneutische Hypothese aufzustellen, die bisher von allen anderen, die über das gleiche Material verfügen, ‚übersehen‘ wurde?“ Gerade dann, wenn man den erklärungsbedürftigen Erfolg nicht mehr der konsequenten Befolgung einer philologischen Methode zurechnen kann, lässt sich dieser Erfolg immer noch mit dem Hinweis auf den „Takt“, das „Gespür“ oder das „Gefühl“ beantworten. Aber damit ist dann nicht viel mehr gesagt, als dass ein bestimmter Philologe eben die Disposition besitzt, genau das zu tun, wofür wir ihn bewundern, also: dass er die Fähigkeit besitzt, richtige Textverbesserungen vorzunehmen oder treffende hermeneutische Hypothesen zu formulieren – was wir aber die ganze Zeit über schon wussten, sonst wäre es ihm ja nicht gelungen. Dort, wo ein bestimmtes Praxiswissen angesetzt wird, um Handlungserfolge zu ‚erklären‘, ist also eine gewisse Vorsicht geboten: ‚Praxiswissen‘ erweist sich nicht selten als ein dispositionaler Ausdruck, der das Problem mit sich bringen kann, dass er eigentlich nichts erklärt, sondern eher das (weiterhin bestehende) Ausgangsproblem mit einem neuen Ausdruck versieht. 68 Wie Danneberg, „Dissens“, S. 98–107, herausarbeitet, verwenden die Philologen des 19. Jahrhunderts, wenn sie das souveräne Verfügen über ein philologisches Praxiswissen charakterisieren, eine Vielzahl von Ausdrücken: Hier ist ein ganzes semantisches Feld zu rekonstruieren, in dem neben dem philologischen „Takt“ auch Begriffe wie das „gebildete Gefühl“, der „gesunde Sinn“, der „feine Blick“ oder der „richtige Blick“ eine zentrale Rolle spielen. Vgl. zum Takt als einer disziplinübergreifenden methodologischen Kategorie die maßgebliche Studie von Lutz Danneberg, „‚ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein‘. Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden im kulturellen Behauptungsdiskurs

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wie dem philologischen „Takt“ oder philologischen „Blick“ umschrieben wird, erweist sich auf individueller Seite als komplexes Gefüge weitgehend implizit erworbener philologischer Fertigkeiten und Fähigkeiten; auf institutioneller Seite erweist es sich als Ausbildungserfolg einer konkreten epistemischen Formation: des Seminars. Dort können „Blick“ oder „Takt“ in dem von einem Meister angeleiteten übenden Umgang mit vorbildlichen und mustergültigen Arbeiten erworben werden.69

IV Von der Theorie zur Praxis „[G]ute Gewohnheiten“ schrieb Zacher – immerhin in seinem „Entwurf“ an die Preußische Ministerialbürokratie – „sind besser als die schönsten Gesetze“. Dieser Satz ließe sich durchaus als Leitspruch des erneuten Interesses für geisteswissenschaftliche Praktiken verstehen. Die Epoche der Theorie, die es auf „die schönsten Gesetze“ abgesehen hatte, wird, so beschreibt wenigstens Daston die Situation, nun von einer Epoche abgelöst, die es auf „gute Gewohnheiten“ abgesehen hat. Während die Epoche der „Theoriediskussionen“ zu einer weithin spürbaren Fraktionierung der Geisteswissenschaften in unterschiedliche Schulen und Richtungen führte, während auch die „Methodendebatten“ zu der Verfestigung genau desjenigen „Methodenpluralismus“ führten, den sie meist doch eigentlich überwinden wollten, soll nun also die Beschäftigung mit den „guten Gewohnheiten“, d. h. den bewährten Praktiken oder „best practices“ wieder das Gemeinsame der Geisteswissenschaften betonen. Ganz in diesem Sinne weist Daston darauf hin, dass die „Solidarität“ der Geisteswissenschaften, vielleicht sogar ihre fundamentale Solidität entgegen al 

der Mathematik und der Naturwissenschaften im 19., mit Blicken ins 20. Jahrhundert“, in: Andrea Albrecht/Gesa von Essen/Werner Frick (Hrsg.), Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur, Berlin, New York 2011, S. 600–657. – Vgl. auch den Beitrag von Thomas Petraschka in diesem Band. 69 Möglicherweise ist es nicht nur kontingenten Umständen geschuldet, dass einige der großen philologischen und historischen Methodenlehren des 19. Jahrhunderts (man denke etwa an Boeckh oder an Droysen) erst posthum publiziert wurden: Möglicherweise ist dies auch dem Umstand geschuldet, dass man sich der Grenzen einer Vermittlung von Methodenwissen im Rahmen einer Vorlesung (oder gar einer publizierten Vorlesung) bewusst war. Historisch-philologisches Methodenwissen bedurfte hier, so könnte man spekulieren, immer einer Einbettung in die Übungsabläufe des Seminarunterrichts. – Um Rankes „Methode“ kennenzulernen, scheint es für Dilthey unabdingbar gewesen zu sein, dessen Seminar zu besuchen; vgl. dazu Wilhelm Dilthey an Wilhelm Scherer, Mai 1870, in: Wilhelm Dilthey: Briefwechsel, Bd. 1 (1852–1882), Gudrun KühneBertram/Hans-Ulrich Lessing (Hrsg.), Göttingen 2011, S. 549–552, hier S. 550.

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ler theoretischen Versprechen primär „auf der Ebene der Praxis“ gesucht werden müsse. Für die Geschichte, die Daston hier exemplarisch herausgreift, bedeutet das dann folgendes: In der Erforschung der historiographischen Praktiken liegt der Ausweg aus der sterilen und unentscheidbaren Debatte, ob Geschichte eine Wissenschaft oder eine Kunst ist. Die kognitiven Ansprüche der Geschichte liegen nicht in umfassenden Theorien über Ursachen, sondern eher in den Praktiken der Forschung und der Überprüfung, wie sie jeder Doktorand lernen muß. […] Das Spezifische an Geschichte als Wissenschaft liegt in ihren charakteristischen Praktiken der Untersuchung und Verifikation, und diese sind auch die Basis für ihre Gültigkeit.70

Während die Theoriedebatten und Methodendiskussionen, so scheint es hier, weitgehend zur Verunsicherung der Geisteswissenschaften beigetragen haben, könnte eine erneute Reflexion auf die leisen und unscheinbaren Praktiken des tagtäglichen geisteswissenschaftlichen Arbeitens zeigen, dass man sich hier doch immer auf sicherem Terrain bewegt habe und dass über die Fundamentalpraktiken, allen lauten Theorie-Debatten zum Trotz, doch weitgehend Einigkeit bestehe. Diese Vorstellung ist sicherlich attraktiv: Die Praxis wäre so etwas wie ein Ruhepunkt – ein ebenso stiller wie fundamentaler Konsens am Grunde des tagtäglichen Dissenses in theoretischen und methodischen Fragen. Aber werden hier von Daston und anderen, die ähnliche Argumentationslinien aufbauen,71 die Leitpraktiken geisteswissenschaftlicher Arbeit nicht auf einem Abstraktionsniveau angesetzt, das dem situativen Charakter der Praxis gerade nicht gerecht zu werden vermag? Daston gibt einige Beispiele für geisteswissenschaftliche Fundamentalpraktiken: die „Unterscheidung zwischen Quellen und Literatur“, der „Kult des Archivs“, das „Handwerk der Fußnoten“ und das „intensive[] und kritische[] Lesen von Texten“.72

70 Daston, „Die unerschütterliche Praxis“, S. 21 f. 71 Eine ähnliche Position scheint Ulrich Herbert zu vertreten, wenn er in seinen Überlegungen zur Praxis der Beurteilung von Forschungsergebnissen darauf hinweist, dass die „Qualitätsstandards in den Geisteswissenschaften“ allenfalls „informell formuliert“ würden, dass sie auf der informellen Ebene der Praxis aber unstrittig seien: „Natürlich gelten überall die Breite der Materialkenntnis, das Ausmaß der Belesenheit, die analytische Schärfe, die Findigkeit und Originalität der Recherche, die Plausibilität des Urteils, schließlich die Ästhetik der Sprache, in welcher der Text verfasst ist.“ Ulrich Herbert/Jürgen Kaube, „Die Mühen der Ebene: Über Standards, Leistung und Hochschulreform [Interview]“, in: Elisabeth Lack/Christoph Markschies (Hrsg.),What the Hell is Quality? Qualitätsstandards in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 37–51, hier S. 40. 72 Daston: „Die unerschütterliche Praxis“, S. 19 f.  



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Auf den ersten Blick leuchten die Beispiele ein: So mag der „Kult des Archivs“ tatsächlich eine implizite Praxisnorm historisch-philologischen Arbeitens sein. Nur scheint aber das Urteil, wie genau Archivarbeit konkret auszusehen habe oder in welchem Umfang und nach welchen hermeneutischen Protokollen sie zu erfolgen habe, wie sie schließlich im wissenschaftlichen Text argumentativ einzusetzen und darzustellen sei, auch von einem guten „Blick“ abhängig zu sein – und damit potentiell viel umstrittener zu sein als die abstrakte (implizite) Norm, dass Archivarbeit grundsätzlich wünschenswert ist. Und gilt das nicht auch für das „Handwerk der Fußnoten“, das hier zu den unstrittigen Fundamenten der geistes- und kulturwissenschaftlichen Praxis gehören soll? Dass Nachweise grundsätzlich durch ‚Fußnoten‘ zu leisten sind, mag eine etablierte Praxisnorm sein; aber: das angemessene Setzen von Fußnoten, das sich nicht vollends formalisieren lässt, verlangt praktische Urteilskraft. Diskussionen darüber, ob und aus welchen Gründen jemand zu wenige oder zu viele Anmerkungen gesetzt hat, sind (wenn man von dem Bereich eklatanter Normverstöße absieht) auch Fragen einer historisch situierten „Urteilskraft“.73 Sicherlich setzen wir alle ohne Unterlass Fußnoten, in denen wir auf unsere Quellen und andere Forschungsliteratur verweisen. Aber: Welche dieser Verweise erscheinen uns notwendig? Welche überzeugen uns? Welche erfüllen tatsächlich ihre Funktion, eine bestimmte Hypothese zu stützen? – Wie genau das „Handwerk der Fußnoten“ zu betreiben ist, stellt sich möglicherweise als viel stärker von einem guten „Blick“ abhängig und damit auch als viel umstrittener heraus, als es aus der Perspektive einer abstrakten Rekonstruktion erscheinen mag. Ob man durch die intensive Untersuchung von Praktiken philologischen Arbeitens irgendwie zur einvernehmlichen „Solidarität“ der einen Philologie gelangen oder gar zu einem fundamentalen Konsens geisteswissenschaftlicher Arbeitsformen durchdringen wird, ist, so wenig wie wir über dieses Ensemble im Moment noch wissen, eine offene Frage. Sollte das Seminar tatsächlich eine der zentralen Instruktionsorte der historisch-philologischen Disziplinen sein, sollte sich die für eine erfolgreiche For-

73 Wichtig ist hier zudem, dass das Fußnotensetzen nicht nur der pflichtschuldige Hinweis dafür ist, im eigenen Text stamme eine Textpassage von jemand anderem (einem anderen Forscher). Die Praxis des Fußnotensetzens verweist weit darüber hinaus auf die Frage, wie in den Philologien (und vor allem in philologischen Interpretationen) das Verhältnis von Interpretationsgegenstand (Quelle) und Interpretation (Forschung) organisiert wird. Das Fußnotensetzen verweist auf ein komplexes Ensemble von Strategien, mit denen Philologen ihre Deutungsvorschläge belegen. Diese Frage des philologischen Belegs verweist aber nicht nur auf die methodologische Herausforderung einer philologischen Bestätigungstheorie bzw. Rechtfertigungstheorie, sondern auch auf die nicht ohne „Takt“ beantwortbare Frage, was überhaupt eines Belegs bedarf.

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schungspraxis unabdingbare Urteilskraft (der gute „Blick“) tatsächlich primär im Seminar herausbilden, so wäre nicht auszuschließen, dass der spezifische „praktische“ Sinn,74 der von einem Forscher ausgebildet wird, sehr stark von dem konkreten Seminar abhängt, das er besucht hat. Unterschiedliche Seminare bilden möglicherweise abweichende Formen des „Blicks“ aus und befördern damit gerade nicht einen fundamentalen Konsens, der alle geisteswissenschaftliche Arbeit trägt, sondern führen in praxi zu stark voneinander abweichenden Stilen geisteswissenschaftlichen Forschens: bis hin zur Praxis der Archivarbeit und des Fußnotensetzens.

V Das Seminar als „Zusammenleben“: Wilhelm Dilthey, 1859 Am 11. Mai 1859 verbietet Wilhelm Dilthey (1833–1911) in einem Brief einem Studienanfänger der klassischen Philologie das Biertrinken. Der Studienanfänger, der diesen Brief wenig später in Bonn erhält, ist sein fünfeinhalb Jahre jüngerer Bruder Karl (1839–1907). Wie Dilthey vorher erfahren hatte, hatte sich sein Bruder entschieden, sich in Bonn einer Studentenverbindung anzuschließen – was für Dilthey gleichbedeutend mit Blödeleien und vor allem Biertrinken war. „Im Korpsleben“, schreibt der große Bruder, finde man „im besten Fall ein selbstzufriedenes, in den studentischen Witzen sich breit ergehendes Dahinleben“.75 Aber der große Bruder wird noch deutlicher: Karl gebe sich „mit einem Korps ab, das jeden Schafskopf mit Freude empfängt, um Abends gemüthlich Bier mit gutmüthigen Gesellen zu trinken und sonst mit ihnen in Bonn hin und her zu steigen.“76 Warum verbietet Dilthey seinem Bruder das Biertrinken? Geht es Dilthey darum, seinen jüngeren Bruder vom gemütlichen Biertrinken abzuraten und zum fleißigen Vorlesungsbesuch anzuleiten? So einfach liegen die Dinge nicht: Denn Karl besucht in Bonn Vorlesungen. Sein Besuch von Vorlesungen bzw. Kollegien ist für den älteren Bruder aber nur die Kehrseite eines Lebensmodells, das sich am studentischen „Korpsleben“ orientiert.77 „Korpsleben“ und „Colleg“ erweisen sich aus Diltheys Perspektive als zwei Merkmale eines falschen Studienverständnisses.

74 Dieser Begriff Pierre Bourdieus wird von Christian Jacob für eine Praxeologie der Geisteswissenschaften fruchtbar gemacht, vgl. dazu Jacob, „Introduction“, S. 16 f. 75 Wilhelm Dilthey an seinen Bruder Karl, 11.05.1859, in: Dilthey: Briefwechsel, Bd. 1, KühneBertram/Lessing (Hrsg.), S. 96–99, hier S. 97. – Erste Überlegungen zu Wilhelm Diltheys Brief an seinen Bruder finden sich in Verf., „Das philologische Seminar als Lebensform“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.04.2012, S. N 3. 76 Dilthey an seinen Bruder Karl, 11.05.1859, S. 97. 77 Ebd.  

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Mit dem Beitritt zu einem „Korps“ ist der pflichtschuldige Besuch des „Collegs“ für Wilhelm schon deshalb vereinbar, weil der Kollegienbesuch ein bloßes „Durchochsen“ oder ein „umher tappendes von dem sonstigen Leben vollständig abgesondertes Thun“ sei.78 Gegen dieses falsche Verständnis formuliert der ältere Bruder seinen akademischen Imperativ: „Du mußt ins Seminar gehn“.79 Diltheys Bemühungen, seinen Bruder vom Biertrinken abzuhalten, müssen im Kontext einer historischen Epistemologie der Philologien des 19. Jahrhunderts situiert werden: Denn sie verweisen auf den Praxiszusammenhang des philologischen Seminars, der auf den vorangehenden Seiten anhand von zwei Beispielfällen für die Konstitutionsphase der Germanistik rekonstruiert wurde. Wie genau ist Diltheys brüderliche Mahnung im Kontext des philologischen Seminars des 19. Jahrhunderts zu situieren? Wenn Wilhelm Dilthey seinen in Bonn studierenden Bruder drängt, nicht die Vorlesungen („Collegien“), sondern das philologische Seminar Friedrich Ritschls (1806–1876) zu besuchen, so ist diese Aufforderung mit der Vorstellung verknüpft, dass das Seminar mehr als eine universitäre Veranstaltungsform sei; das Seminar ist für Dilthey eine wissenschaftliche Lebensform. Dilthey geht es darum, dass das Studium kein „mechanisches Thun“ sein dürfe,80 sondern dass das gesamte Leben des Studenten ‚organisch‘ von seiner intellektuellen Arbeit geprägt sein müsse. Erzielt werde diese Zusammenführung von intellektueller Arbeit und Leben nur durch den Besuch des philologischen Seminars: Du mußt ins Seminar gehn, nicht allein drin sein, sondern Dich darin auszeichnen. Mußt also des Lateinischen zum Sprechen und Schreiben in diesem Halbjahr vollkommen mächtig werden und irgend einen Autor von allen Seiten durcharbeiten; dann kommen Fragen und Einzelstudien von selbst. Du mußt demnach einen Verkehr haben von solchen, die Dir theils Anleitung und Anregung geben, an denen Du täglich was Du zu erstreben hast vor Augen siehst, theils von solchen, mit denen Du gleiche Wege gehst, vielleicht mit ihnen zusammen Dich im Lateinsprechen üben kannst, das eine oder andre mit ihnen treiben, obgleich beim Zusammenleben nicht viel herauskommt.81

Tatsächlich verbietet Wilhelm Dilthey seinem Bruder also nicht das Biertrinken. Weshalb auch? Wie die von Erich Schmidt Jahrzehnte später in Berlin etablierte „Philologenkneipe“ zeigt,82 lassen sich Seminar- und Kneipenbesuch durchaus

78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Vgl. dazu Hans-Harald Müller/Mirko Nottscheidt, „‚Ordnung‘ und ‚Geselligkeit‘ – Seminar und Kneipe. Neue Dokumente zur Topographie der Berliner Germanistik“, in: Brigitte Peters/

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produktiv miteinander verknüpfen. Diltheys Hinweis hat vielmehr einen präzisen praxeologischen Sinn: Philologe wird man, wenn überhaupt, nur im übergreifenden Sozialzusammenhang des philologischen Seminars. Das Ärgernis ist aus Wilhelms Perspektive also, dass Karl mit den falschen Leuten Bier trinkt, d.h. dass er sich für das falsche akademische Geselligkeitsmodell entschieden hat. Nicht das „gemüthlich[e] Bier“, sondern die „gutmüthigen Gesellen“ sind das Problem. Gegen das „Korpsleben“ wird vom größeren Bruder das „herrliche gemeinsame Leben eines wahrhaft zusammengehörigen Kreises“ im universitären Seminar in Stellung gebracht: Studentenverbindung und Seminarbesuch schließen sich gegenseitig aus, weil beides miteinander konkurrierende Sozialmodelle bzw. Lebensformen sind. Das Seminar ist für Dilthey eine Arbeitsgruppe, deren Tätigkeit mit der herkömmlichen Form des universitären Lernens wenig gemein hat. Während die übrigen Studenten weiterhin ausschließlich Kollegien hören, üben sich die Seminaristen vor allem in philologischer Praxis. Aber im Seminar muss nicht immer „viel“ herauskommen. Die seminaristische „Geselligkeit“83 und das „Zusammenleben“ erlauben nämlich jenseits konkreter Arbeitsvorhaben, den eigenen Habitus am Beispiel des Seminarleiters und der fortgeschrittenen Seminaristen auszurichten, die „täglich was Du zu erstreben hast vor Augen“ führen. Diltheys wohlmeinende Hinweise münden in den Merksatz: „Studien bedürfen der Gemeinsamkeit; Leben und Studiren soll auf der Universität nichts Geschiedenes sein […].“84 Wilhelm Dilthey schickte Karl zu den „wohlgesattelte[n] Ritschlianer[n].“85 Wie Wilhelm Dilthey hat auch Friedrich Ritschl das philologische Seminar als Erhard Schütz (Hrsg.), 200 Jahre Berliner Universität – 200 Jahre Berliner Germanistik. 1810–2010, Bern [u.a.] 2011, S. 105–120. – Schmidt ahmte damit das bereits in Straßburg von Scherer praktizierte Modell einer „Germanistenkneipe“ nach; vgl. Edward Schröder, „Aus der Vorgeschichte und den Anfängen des Germanistischen Seminars“, in: Das Germanische Seminar, S. 1–7, hier S. 3; Robert Petsch, „Erich Schmidts Seminar“, in: Das Germanische Seminar, S. 13–18, hier S. 14. 83 Dilthey an seinen Bruder Karl, 11.05.1859, S. 97. 84 Ebd., S. 98. 85 In der zeitgleich stattfindenden Korrespondenz mit anderen Familienmitgliedern äußert Dilthey allerdings gewisse Zweifel an der Eignung Karls für das anspruchsvolle Seminar Ritschls: „[…] im Bonner Seminar aufzukommen, ist gewiß sehr schwer, wie ich von hiesigen Bekannten höre; es sind ein paar eingefleischte und wohlgesattelte Ritschlianer da, die dem jungen Nachwuchs das Leben sehr sauer machen.“ Wilhelm Dilthey an seine Schwester Marie, März 1859, in: Dilthey: Briefwechsel, Bd. 1, Kühne-Bertram/Lessing (Hrsg.), S. 83 f., hier S. 83. Noch deutlicher wird Dilthey einige Monate später: „Ob er [Karl, C.S.] je Ritschls Seminar wird genießen können ist mehr als zweifelhaft.“ Wilhelm Dilthey an seinen Vater, Sommer 1859, in: Dilthey: Briefwechsel, Bd. 1, Kühne-Bertram/Lessing (Hrsg.), S. 107–110, hier S. 109.  

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eine Lebensform wahrgenommen. In Ritschls Überlegungen Zur Methode des philologischen Studiums charakterisiert er das Verhältnis von Seminarleiter („Hodeget“) und Seminarist auf die folgende Weise: […] der Hodeget soll gleichsam mit dem Studierenden aufstehen, Kaffee trinken, Mittag essen, zu Bett gehen, ihn immer begleiten, für die ganze Zeiteintheilung, für die Art wie er die Feder in die Hand nehmen, ins Tintenfass eintauchen, das Buch aufschlagen etc. soll – bildlich gesprochen.86

Das, was Ritschl hier noch „bildlich“ meint, hat Wilhelm Scherer umzusetzen versucht. Scherer verfolgte nämlich die Idee, ein „Collegium für deutsche Philologie“ zu gründen, in dem der Professor und die Studenten gemeinsam wohnen und arbeiten.87 Das Seminar erweist sich damit im Idealfall für alle Beteiligten als eine Institution, die ihre gesamte Lebensführung prägt. Um es mit einem treffenden epistemologischen Begriff Ludwik Flecks zu pointieren: Wilhelm drängt seinen Bruder Karl dazu, sich für die ganz eigene „Stimmungskameradschaft“88 des philologischen Seminars zu entscheiden.89

VI Das Seminar als „Laboratorium“: Übungsform, Fachbibliothek, Arbeitsraum In dem gleichen Jahr, in dem Wilhelm Scherer in Berlin das „Promemoria“ formuliert, macht in Baltimore ein einflussreicher nordamerikanischer Historiker und Wissenschaftsorganisator darauf aufmerksam, dass geisteswissenschaftliche 86 Friedrich Ritschl, „Zur Methode des philologischen Studiums (Bruchstücke und Aphorismen)“, in: Kleine philologische Schriften, Vermischtes, Bd. 5, Leipzig 1879, S. 19–32, hier S. 26. – Vgl. auch Ritschls Abgrenzung der akademischen Lehrformen des Seminars und der Vorlesung in: „Gutachten über philologische Seminarien“, in: Kleine philologische Schriften, Vermischtes, S. 33–39, hier S. 35 f. Vgl. zu Ritschls methodologischem Profil die Rekonstruktion von Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin 2005, S. 46–68. 87 Dies hat Hans-Harald Müller anhand des unpublizierten Briefwechsels von Wilhelm Scherer und Herman Grimm herausgearbeitet, vgl. dazu Hans-Harald Müller, „Zwischen Gelehrtenbehavioristik und Wissenschaftsethik“, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase/Dirk Werle (Hrsg.), Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750 (erscheint 2015). 88 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], Lothar Schäfer/Thomas Schnelle (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1980, S. 140. 89 Karl Dilthey folgte dem Rat des großen Bruders und wurde später Professor für klassische Philologie; vgl. „Karl Dilthey“ [Artikel], in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche biographische Enzyklopädie (DBE), 2. Ausg., Bd. 2, München 2005, S. 633.  

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Seminare wie „Laboratorien“ seien, in denen Bücher wie mineralogische Proben aufmerksam von Hand zu Hand gereicht, untersucht und geprüft würden.90 Der in Heidelberg promovierte Herbert Baxter Adams (1850–1901) nimmt hier eine Analogisierung von geisteswissenschaftlichen Seminaren und naturwissenschaftlichen Laboratorien vor, die nicht nur darauf hindeutet, dass die Naturwissenschaften zu diesem Zeitpunkt eine prestigeträchtige Bezugsgröße innerhalb der Universität geworden sind,91 sondern vor allem darauf aufmerksam macht, dass sich das geisteswissenschaftliche Seminarwesen in diesem Zeitraum umfassend verändert. Die Charakterisierung des historischen oder philologischen Seminars als eines „geisteswissenschaftlichen Laboratori[ums]“92 wird nämlich erst in dem Moment plausibel, in dem das Seminar nicht mehr nur eine historische oder philologische „Übung“ ist (die sowohl in privaten als auch in öffentlichen Räumen stattfinden kann), sondern zu einer universitären Arbeitsstätte mit eigenen Betriebsmitteln wird. Die Analogisierung des Seminars mit dem Laboratorium oder der Klinik, die Rede von einer übergreifenden „Seminar- oder Labormethode“93 des Studiums greifen erst zu einem Zeitpunkt, an dem sich das Seminar zu einer universitären Räumlichkeit sowohl für Seminarübungen als auch für gemeinsames forschungsorientiertes Arbeiten wandelt. Das ‚neue‘ Seminar zeichnet sich, wie Adams genau gesehen hat, vor allem dadurch aus, dass die Seminarräumlichkeiten mit einer an disziplinspezifischen Erfordernissen ausgerichteten „Arbeitsbibliothek“ („working-library“) ausgestattet sind; die seminaristische „Arbeitsbibliothek“ ist der „Laborapparat“ des Geisteswissenschaftlers:

90 Adams, Methods, S. 103. Vgl. für eine knappe Einbettung der Überlegungen Adams’ im Kontext der Fachgeschichte der nordamerikanischen Historiographie Grafton, „In Clio’s American Atelier“, S. 95–97; weitergehende Informationen bei Bonnie G. Smith, „Gender and the Practices of Scientific History: The Seminar and Archival Research in the Nineteenth Century“, in: The American Historical Review, 100/1995, S. 1150–1176, hier vor allem S. 1154–1164. 91 Gabriele Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003, S. 671 f. 92 Bock, Strukturgeschichte, S. 164. 93 Unterschieden werden von Adams: Methods, S. 25, vier Methoden des historischen Studiums: „the Topical method, the Comparative Method, the Co-operative method, and the Seminary or Laboratory method.“ Über die Seminar-Methode berichtet er am ausführlichsten (ebd., S. 64–137). Sein Bericht enthält eine detaillierte Illustration der Räumlichkeiten des von ihm an der Johns Hopkins University (Baltimore) gegründeten historischen Seminars (ebd., S. 137); eine aufschlussreiche historische Photographie des dortigen zentralen Seminarraums mit anwesenden Seminaristen findet sich in Raymond J. Cunningham, „Is History Past Politics? Herbert Baxter Adams as Precursor of the ‚New History‘“, in: The History Teacher, 9/1976, S. 244–257, hier S. 248.  

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One of the most […] important features of the German […] seminaries is the special library, distinct from the main university collections. […] The privileges of this working-library are regarded as analogous to the privileges of using laboratory apparatus or attending a clinique.94

Wilhelm Scherer beschreibt den entscheidenden Umschlagpunkt in der Geschichte des philologischen Seminars präzise, wenn er hervorhebt, dass nur die mit „Bibliotheken ausgestattete[n] Seminare“, in denen die Seminaristen „von Morgens bis Abends ungestört arbeiten können“, weil ihnen das „Arbeitsmaterial selbst in die Hand gegeben“ wird, als philologische „Laboratorien“ bezeichnet zu werden verdienen.95 Nunmehr gilt auch für die Germanistik: keine Philologie ohne die Labor-Praxis des Seminars.

94 Adams, Methods, S. 77 f. – Auch Andrew Abbott hebt hervor, dass die im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum etablierte Seminarbibliothek ein „crucial laboratory“ gewesen sei; vgl. Andrew Abbott, „Library Research Infrastructure for Humanistic and Social Scientific Scholarship in the Twentieth Century“, in: Camic/Gross/Lamont (Hrsg.), Social Knowledge, S. 43–87, hier S. 43. 95 Scherer, „Promemoria“, S. 843.  

Claus Zittel, Stuttgart

Close reading in den science studies I Einleitung Zu den erklärten Zielen des vorliegenden Bandes gehört es, durch eine Untersuchung der alltäglichen Arbeitsweisen der Literaturwissenschaft eine „epistemologische[] Selbstaufklärung der Disziplin“ voranzutreiben.1 Praxisorientierte Untersuchungen zu geisteswissenschaftlichen Wissenschaftskulturen seien äußerst selten, die Folgen praxeologischer Fragestellungen für die philologisch-geisteswissenschaftliche Epistemologie weitgehend unklar. Die Herausgeber hoffen daher, auf dem Wege einer Klärung, „in welchem Verhältnis routineartige Praktiken zu expliziten methodischen Regeln und zu Theorien stehen“, mögliche „Defizite“ ausmachen und „Vorschläge zu ihrer Korrektur […] entwickeln“ zu können.2 Zwei ihrer Leitfragen möchte ich in meinem Beitrag aufgreifen: Inwiefern können die Literaturwissenschaften bei ihrem Versuch, einen practical turn zu vollziehen, sich Modelle aus den science studies zum Vorbild nehmen, und welche „Analogiebildungen und Übertragungen von Konzepten und Verfahren aus der Praxeologie der science studies in die Geisteswissenschaften erscheinen in heuristischer Hinsicht sinnvoll?“3 Die Herausgeber selbst lassen hinsichtlich der Reichweite einer geisteswissenschaftlichen Adaption von in den science studies entwickelten Methoden eine leise Skepsis erkennen. Diese Skepsis teile ich nicht nur, sondern bezweifle darüber hinaus, dass in den sciences studies die methodische Avantgarde anzutreffen ist, der die Geisteswissenschaften hinterherhinkten. Suspekt ist mir überhaupt die häufig bei Geisteswissenschaftlern anzutreffende tiefsitzende Gläubigkeit gegenüber naturwissenschaftlicher Theoriebildung. Man sollte die Perspektive vielmehr umkehren, denn bevor man einer an den Naturwissenschaften orientierten Verwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften das Wort re-

1 Einleitung der Herausgeber zu dem vorliegenden Band, S. 10. 2 Ebd. 3 Die zitierte Formulierung entstammt dem Exposé zu der Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist. Vgl. zu den zwei Leitfragen die Einleitung der Herausgeber, S. 4–8. – Zum Begriff der Praxeologie und zum Projekt einer Praxeologie der Literaturwissenschaft vgl.: Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, in: Geschichte der Germanistik, 35/36/2009, S. 89–96.

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det,4 wären erst einmal mit Hilfe geisteswissenschaftlicher Methodenreflexion die Interpretationsstandards in den science studies zu überprüfen, zumal unter deren Dach sich sehr verschiedene Ansätze aus der neueren Wissenschaftsforschung geflüchtet haben. Schon allein deshalb droht jeder geisteswissenschaftliche Zugriff auf dieses Methodensammelsurium Opfer des Zufalls und von Missverständnissen zu werden. Am Ende dieses Beitrags werde ich mit Ludwik Flecks Denkstiltheorie ein Modell vorstellen, das vielleicht doch eine attraktive Perspektive verheißt.

II Practical turns und ihre Folgen: Selbstaufklärung oder Selbsttäuschung? Bereits 1993 hatte Peter Brenner darauf hingewiesen, dass „die Ansätze zur geisteswissenschaftlichen Selbstreflexion […] traditionell in eine andere Richtung“ weisen, „als sie die naturwissenschaftsorientierte Wissenschaftsforschung eingeschlagen hat“.5 Auch wenn man seitens jener Wissenschaftsforschung unter dem Titel eines practical turn heute kunterbunte Ansätze präsentiert bekommt und mit den science studies die Abspaltung einer ganzen Bewegung sich nach dem vagen Vorbild der cultural studies vollzog, liegen einige markante Unterschiede weiterhin auf der Hand: In den science studies wurde die Abkehr von Theorien und von nachträglich idealisierten Entdeckungsgeschichten zwar nicht immer konsequent vollzogen, doch war sie zumindest anvisiert. Der Fokus verschob sich weg von den Resultate präsentierenden Texten hin zu den Forschungspraktiken, Laborsituationen, materiellen Objekten und Apparaturen, und in ihm zeigen sich wissenschaftliche Prozesse als mit sozialen und kulturellen Praktiken intim verschlungen. Mit Ausnahme der Kunstgeschichte blieben hingegen die Geisteswissenschaften bis heute textorientiert und disziplinimmanent. Dies gilt auch für viele der in jüngerer Zeit in den Literaturwissenschaften vermehrt auftauchenden Projekte etwa zur Materialität und Medialität, in denen naturwissenschaftliche Texte und Praktiken zwar evoziert, aber meist überhaupt nicht weiter untersucht

4 Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, „Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft. Ansprüche, Strategien, Resultate“, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 10/1979, S. 162–191. 5 Peter J. Brenner, „Das Verschwinden des Eigensinns. Der Strukturwandel der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft“, in: Ders. (Hrsg.), Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeitsund Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 21–65, hier S. 27. Siehe auch Ders: „Einleitung. Die ‚Lebenswelt‘ der Literaturwissenschaft als Forschungsgegenstand“, in: ebd., S. 7–17.

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werden, was einem Etikettenschwindel gleichkommt. Häufiger beschränkt sich das Interesse an der Materialität auf Text-Bild-Beziehungen oder die sogenannte materiale Textstruktur,6 die als ontologische Bezugspunkte benutzt werden, ohne sie jedoch als solche auszuweisen. Ohnehin wird die sogenannte Materialität gerne flugs semiotisch, rhetorisch und performanztheoretisch aufgelöst.7 Die Einbettung von Forschungspraktiken in soziale Kontexte erfolgte in den science studies mit dem kritischen Impetus, durch das Aufzeigen der sozialen Faktoren bei der Wissensproduktion die Geltungsansprüche naturwissenschaftlicher Aussagen und Theorien zu relativieren.8 In den Geisteswissenschaften wird mit dem Nachzeichnen der Genese von Forschungsresultaten in der Regel kein vergleichbarer Prozess der Selbstaufhebung in Gang gesetzt, allein schon deshalb nicht, weil von vornherein keine objektiven Geltungsansprüche erhoben werden. Mir scheint, dass dies die Relevanz einer Selbstkritik via practical turn erheblich mindert. Zudem steht man nach dem Aufdecken einer von nicht rationalen Faktoren beherrschten Wissensgenese vor einer Alternative, die man vereinfacht beschreiben kann als die zwischen einer selbstzersetzenden nietzscheanischen Schule des Verdachts und einer habermasianisch gefärbten Vision einer Selbstaufklärung des geisteswissenschaftlichen Geistes über seine eigenen Voraussetzungen, die zu einer Emanzipation der Resultate gegenüber ihrer Genese führen solle. Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, hatte sich auch das selbstkritische Programm zur Tagung, aus der dieser Band hervorgeht, diesem Idealismus verschrieben. Dieser Idealismus wäre indes nicht nur erst zu rechtfertigen, sondern zudem wäre dabei auch zu zeigen, inwiefern z.B. transparent gemachte Routinen oder enthüllte Argumentationstraditionen entsprechende Effekte auf die Bewertung der bisherigen und den Fortgang der weiteren Forschungspraxis haben, und drittens, wie überhaupt der Anteil der Routinen an dieser Forschungspraxis zu taxieren wäre, – gerade im Hinblick auf andere mehr oder weniger verdeckte Faktoren wie Kollegenneid, Intrigen, Moden, Seil- und Liebschaften, Verwandtschafts- und Patronagebeziehungen, Zitier- und Berufungskartelle, institutionelle

6 Vgl. Gerhard Pasternack, „Empirische Literaturwissenschaft und ihre wissenschaftsphilosophischen Voraussetzungen“, in: Achim Barsch/Gebhard Rusch/Reinhold Viehoff (Hrsg.), Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion, Frankfurt a.M. 1994, S. 55–81, hier S. 62. 7 Stellvertretend für viele: Thomas Strässle/Caroline Torra-Mattenklott (Hrsg.), Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, Freiburg 2005; Sigrid G. Köhler/Jan Christian Metzler/Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.), Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte, Königsstein/Taunus 2004. 8 Vgl. dazu den Überblick in Claus Zittel, „Konstruktionsprobleme des Sozialkonstruktivismus“, in: Ders. (Hrsg.), Wissen und soziale Konstruktion, Berlin 2002, S. 87–108.

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Normierungsmechanismen, aber auch die ungeprüfte Indienstnahme von Hilfskraftarbeiten für Recherchen und Korrekturen und die wissenschaftliche Ausbeutung von Assistenten etc. Ließe man diese Faktoren beim practical turn außer Acht und konzentrierte sich nur auf die Tugenden, Routinen, Schulen, Argumentationslinien, droht, dass die Selbstidealisierung des Faches unter dem Deckmantel der Praxeologie mit anderen Mitteln fortgesetzt wird. Wer jedoch sie auszusprechen sich vornimmt, sollte sich entweder auf historisch weit zurückliegende Fälle beschränken oder auf einer Dauerstelle sitzen und fürderhin in akademischer Einsamkeit leben können. Zudem stellt sich mit dem Hinabtauchen in die Sphäre der empirischen Existenz gerne die Erwartung ein, man könnte nachträglich blinde Flecken füllen, Routinen brechen, Fehler korrigieren und ausfiltern. Das durch den practical turn seitens der science studies als illusorisch attackierte Programm des logischen Empirismus, durch nachträgliche rationale Rekonstruktionen die Forschungslogik von sozialen Faktoren zu reinigen, schleicht sich so unversehens durch die Hintertür wieder ein. Ein entscheidender Punkt ist des Weiteren, ob wir unter dem Primat der Praxis beginnen, Texte anders zu lesen. Hier wären relevante von irrelevanten Faktoren zu scheiden. Lesen wir Benjamins Trauerspielbuch anders, wenn wir die Habilitationsakte kennen? Führt der Blick in die akademische Werkstatt zu einer Entzauberung oder zumindest zu einem anderen Verständnis einer geisteswissenschaftlichen Arbeit, z.B. einer Dissertation? Natürlich kann man auf die Beispiele aus dem Bereich der Politik verweisen, doch diese Arbeiten werden nur aufgrund der Prominenz ihrer Verfasser gelesen, und die praxelogische Untersuchung zielt primär auf die Kritik an Personen, nicht auf ein besseres Verständnis des Textes. Jedenfalls wäre von der Praxeologie zu fordern, dass sie konkret vorführt, wie durch das Aufdecken etwa von Arbeitsroutinen sich neue Interpretationshorizonte für die Texte eröffnen. Besonders lohnend wären gewiss Studien zu Danksagungen, epigonalen Doktorarbeiten oder zum Rezensionswesen, die soziale Abhängigkeitsverhältnisse und Belohnungen miteinbezögen. Doch auch hier sollte man die Erwartungen nicht zu hoch ansetzen. In kleinen Fächern wie der Kunstgeschichte z.B., wo jeder jeden kennt, ändert der Umstand, dass dies natürlich auch alle wissen, nichts daran, dass Gefälligkeitsrezensionen florieren. Es wäre aber interessant herauszufinden, warum eine Praxis, die sich selbst in ihrem Wissenschaftsanspruch ad absurdum führt, dennoch fröhlich weiterexistiert. Doch zurück zu den zu notierenden Differenzen: Wenn ein Abgesandter der science studies ins Labor geht, um den Fremden zu spielen, der ethnologische Forschung betreibt, betritt er in der Tat ein für ihn unbekanntes Terrain. Wir Geisteswissenschaftler aber bleiben unter uns und es ist klar, dass, wenn wir so tun, als könnten wir mit fremdem Blick das eigene Treiben betrachten, dies ein absurd künstliches Unterfangen ist, dem die Betriebsblindheit zwangsläufig an-

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haftet. Playing the stranger ist jedoch auch in den science studies eine artifizielle Veranstaltung mit überaus fragwürdigen Prämissen, zuerst weil ein Spiel eigens inszeniert wird, doch es im Physiklabor anders zugeht als in einer Dorfgemeinschaft auf den Andaman-Inseln, zweitens, weil die vermeintlich unschuldigen Augen des Ethnologen keineswegs so neutral sind, wie sie vorgeben, drittens, weil den eingeborenen Physikern schlichtweg alles geglaubt wird, zum Vierten, weil der kausale Schluss vom sozialen Setting auf die Einstellungen der Protagonisten meist von Nebelwolken umhüllt ist, und fünftens, weil es unzählige ethnologische Konzepte gibt, die ihrerseits eine lange Problemgeschichte haben, die regelmäßig zugunsten einer naiven Beschreibung ausgeblendet wird. Wie es scheint, besteht das Problem nicht darin, dass Vertreter der science studies nichts von Physik verstehen, sondern dass sie nichts von Ethnologie verstehen. Diese Verschiebung des Fokus der Kritik ist im Auge zu behalten, wenn ich nun dazu übergehe, auf ähnliche Weise ein anderes Genre zu beleuchten. Ein Ausweg wäre zu sagen, practical turns in den Geistes- und Naturwissenschaften seien grundsätzlich verschieden, also kümmern wir uns besser gar nicht weiter um die Möglichkeit des Übertragens von Modellen aus einem Bereich in den andern. Andererseits bedienen sich aufgrund des Siegeszuges der science studies einige ihrer Vertreter selbstverständlich und unbekümmert geisteswissenschaftlicher Methodologien. Denn wenn in deren Perspektive die Naturwissenschaften als kulturelle Praktiken unter vielen erscheinen und ihnen keineswegs ein privilegierter Zugang zur Wirklichkeit eingeräumt wird, kann das ganze Arsenal der kulturwissenschaftlichen Methodologien auch auf die Naturwissenschaften angewandt werden.9 Entsprechend wurde weitgehend die kontrastive Rede von den zwei Kulturen durch die vereinheitlichende und häufig diffus bleibende Rede von Wissens- und Wissenschaftskulturen10 ersetzt. Die Frage nach dem Vorbild der science studies wird so hinfällig. Vice versa ist aber unter diesen Vorzeichen auch die literaturwissenschaftliche Konvention, Texte aus den Naturwissenschaften weitgehend als Untersuchungsgegenstände auszuschließen, nicht mehr zu rechtfertigen und eine „Spezifik geisteswissenschaftlicher Praxis“11 nur schwer theoretisch

9 Vgl. dazu die Beiträge in: Moritz Epple/Claus Zittel (Hrsg.), Science as Cultural Practice, Berlin 2010. 10 Zur Geschichte und Kritik des Begriffs ‚Wissenskultur‘ siehe: Claus Zittel, „Wissenskulturen, Wissensgeschichte und Historische Epistemologie“, in: Rivista Internazionale di Filosofia e Psicologia, 5/2014, 1, S. 29–42, online: http://www.rifp.it/ojs/index.php/rifp/article/view/rifp.2014. 0003/276 (zuletzt abgerufen am 04.12.2014). 11 Die Formulierung stammt aus dem Exposé zu der Tagung, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist.

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zu begründen. Brenners Analyse wäre also unter neuen Voraussetzungen zu wiederholen.

III Science studies Interpretations Ich kann hier keinen Überblick über die vielfältigen Variationen mehr oder weniger reflektierter Adaptionen geisteswissenschaftlicher Interpretationsmethoden seitens der science studies geben und versuche lieber – ganz im Geiste der angemahnten praxeologischen Selbstverständigung – zunächst zwei aus dieser Ecke kommenden Studien zu den Darstellungsformen von Wissenschaften näher zu betrachten. Dieses Forschungsfeld wurde einst von Lutz Danneberg als terra incognita12 beschrieben, ist aber nicht zuletzt auch unter dem Einfluss des gleich näher zu betrachtenden Autors, nämlich Steven Shapin, immer weiter erkundet worden. Die damalige Lage beschrieb Danneberg unverblümt so: Neigen Wissenschaftstheoretiker dazu, die Vielfalt von Bedeutungs- und Interpretationskonzepten in den Textwissenschaften schlicht zu ignorieren und an einem naiv als selbstverständlich angesehenen autorintentionalen Programm für die Interpretation festzuhalten, so neigen literaturwissenschaftliche Praktiker zu einem degenerierten Pluralismus […].13

Inwiefern nun Dannebergs Verdikt auch jene seither aufgetauchten Verfechter der science studies trifft, die sich expressis verbis auf ihre Fahnen schreiben, die Bedeutung der Darstellungsform für die Naturwissenschaften aufzuweisen, sei nun anhand zweier Aufsätze von Autoren geprüft, die im Literaturverzeichnis der Tagungsskizze als Kronzeugen firmieren: Steven Shapin: Pump and Circumstance. Robert Boyle’s Literary Technology14 und Peter Dear: Totius in verba: Rhetoric and Authority in the Early Royal Society.15 Beide Studien sind zwar über 25 Jahre alt, doch vor allem Shapins Arbeiten hatten Vorbildcharakter für ein ganzes Genre der Wissenschaftshistoriographie und können nach wie vor als exemplarisch

12 Lutz Danneberg, „Darstellungsformen in Natur- und Geisteswissenschaft“, in: Brenner (Hrsg.), Geist, Geld und Wissenschaft, S. 99–139. 13 Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, „Wissenschaftstheorie, Hermeneutik, Literaturwissenschaft. Anmerkungen zu einem unterbliebenen und Beiträge zu einem künftigen Dialog über die Methodologie des Verstehens“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 58/1984, S. 177–237, hier S. 200. 14 Steven Shapin, „Pump and Circumstance. Robert Boyle’s Literary Technology“, in: Social Studies of Science, 14/1984, 4, S. 481–520. 15 Peter Dear, „Totius in verba: Rhetoric and Authority in the Early Royal Society“, in: Isis, 76/ 1985, S. 145–161. Vgl. auch Ders. (Hrsg.), The Literary Structure of Scientific Argument. Historical Studies, Philadelphia 1991.

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gelten. Signifikant für die Wirkungsgeschichte Shapins ist auch, dass sein bekanntestes, gemeinsam mit Simon Schaffer verfasstes Buch, Leviathan and the Air-Pump (Princeton 1985) Eingang in die dritte Auflage von Kindlers Literaturlexikon gefunden hat.16 Betrachtet man Wissenschaft als Form der Literatur, so ist es konsequent, auch wissenschaftshistoriographische Texte als Beiträge zur Literaturwissenschaft zu behandeln. Die beiden Aufsätze von Dear und Shapin untersuchen einen ähnlichen Gegenstand, es geht um die Gründungsphase der Royal Society und die damit einhergehende Etablierung eines neuen Konzeptes der Begründung empirischen Wissens durch faktische Evidenz. Dieses Konzept habe sich nicht durch überlegene Argumente oder neue Forschungsresultate durchgesetzt, sondern es bedurfte Shapin zufolge dreier sozialer Technologien zur Erzeugung von Fakten, um die Experimentalphilosophie zu ihrem Triumph zu führen: eine materielle Technologie, bestehend aus dem Bau und demonstrativen Gebrauch der Vakuumpumpe, eine soziale Technologie des Aushandelns von Wissensansprüchen und eine literarische Technologie, durch welche die beobachteten Phänomene denjenigen vermittelt werden konnten, die keine Augenzeugen der Experimente gewesen waren. Für letztere müsste eigentlich eine Literaturanalyse in Form eines close reading durchgeführt werden. Wie sieht diese bei Shapin und Dear aus? Beide Autoren sind Historiker, die natur- und experimentalphilosophische Texte lesen, um sie auf ihre literarischen Strategien hin zu befragen. Sie verstehen dies nicht als Beiträge zur Fachsprachenforschung, ihre Leitidee ist vielmehr, dass mit dem Aufweis der literarischen Verfasstheit wissenschaftlicher Texte sich zugleich auch die wissenschaftlichen Positionen als kulturelle und soziale Inszenierungen erweisen. Der Stil der Wissenschaft sei hier wichtiger als ihre tatsächliche Substanz.17 Dear und Shapin behaupten zudem, die wissenschaftliche Interpretation müsse die ästhetischen Aspekte naturphilosophischer Texte beachten,

16 Vgl. Claus Zittel, „Steven Shapin/Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Kindlers Literatur-Lexikon, 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart 2009, Bd. 15, S. 65 f.; zur wissenschaftstheoretischen Kritik an Shapins und Schaffers Historiographie vgl. Ders., „Konstruktionsprobleme des Sozialkonstruktivismus“; Wolfgang Detel, „Der Sozialkonstruktivismus und die Wissenschaftsgeschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts“, in: Zittel (Hrsg.), Wissen und soziale Konstruktion, S. 67–86. 17 „The style of science espoused by the Fellows of the Royal Society was more important than the substance of that science. The form of their research reports, as well as prefatory and programmatic statements, demonstrates an ethic of investigation suitable to the ideal of cooperative research. This form also indicates that a fundamental change in concepts of experience and authority in natural philosophy had occurred in the seventeenth century, a change that underlay contemporary charges of scholastic vassalage to ancient authority.“ Dear, „Totius in verba“, S. 159.  

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doch es finden sich bei ihnen keine Ansätze zu einer methodischen Reflexion darüber, wie die ästhetische Wahrnehmung in naturphilosophischen und literarischen Texten organisiert wird. Beide rekonstruieren die historischen Praktiken über Texte, was kein Wunder ist, da man heute an den Experimenten nicht mehr teilnehmen kann. Somit rücken Shapin und Dear ihrerseits in die Position der virtuellen Zeugen und nehmen teil am Beglaubigungsspiel. Diese Rolle indes wird von ihnen selbst nicht reflektiert, also nicht wahrgenommen, inwiefern sie ihrerseits Opfer von den von ihnen beschriebenen Texteffekten sein könnten. Dies scheint jedoch der Fall zu sein, denn es werden vorzugsweise aus Schriften Boyles und des Propagandisten der Royal Society, Thomas Sprat, Selbstaussagen zitiert. Weder wird jedoch die Selektion der untersuchten Texte begründet noch lassen sich Anzeichen eines Problembewusstseins hinsichtlich der Interpretation sogenannter vermeintlicher ‚Schlüsselstellen‘ bei beiden Autoren entdecken. Noch schwerer wiegt, dass die im Spiele sich befindenden Textsorten, nämlich Programmschrift, Bericht, Buch, Dialog und Brief, weder gattungsspezifisch charakterisiert noch funktional geschieden werden. Die möglichen Funktionen der verschiedenen Darstellungsformen bleiben folglich unbefragt. Shapin zieht es vor, von Narrativen und Diskursen zu sprechen,18 doch was er darunter versteht und wie sich beide zueinander verhalten, bleibt ungeklärt. Das Narrativ wird überhaupt als wichtigstes Mittel der Textorganisation vorausgesetzt, andere Aspekte, Strukturen und Faktoren wie die Architektur des Textes, sein Stil (s.u.), Binnenrelationen, Topik oder Intertexte geraten nicht in den Blick. Überhaupt fehlt ein differenzierendes Beschreibungsvokabular. Ähnliches ist zu beobachten, wenn Shapin auf TextAbbildungen eingeht. Diese sollen die Realität imitieren und als „naturalistic images“ oder „pictorial representations“ die virtuelle Zeugenschaft ermöglichten: Thus, visual representations, few as they necessarily were in Boyle’s texts, were mimetic devices. By virtue of the density of circumstantial detail that could be conveyed through the engraver’s laying of lines, the images imitated reality and gave the viewer a vivid impression of the experimental scene. The sort of naturalistic images that Boyle favoured provided a greater density of circumstantial detail than would have been proffered by more schematic representations.19

Es regiert ein naiver Bildbegriff, der Bilder einzig über ihre Ähnlichkeitsbeziehungen definiert.

18 Vgl. Shapin, „Pump and Circumstance“, S. 491: „experimental report as a narration of some prior visual experience“. 19 Ebd., S. 492.

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Eine analoge Naivität kennzeichnet den Umgang mit der Autorfunktion, denn hier sind Shapin und Dear keineswegs bereit, den Preis zu zahlen, der eigentlich infolge der von ihnen geforderten ästhetischen Betrachtung der Wissenschaftsprosa zu entrichten wäre. Shapin begründet seine Deutung stets unter Rekurs auf die textvorgängigen Intentionen des Autors (ebd., S. 493 u.ö.) sowie auf das vermeintliche Selbstverständnis der angeblich von ihm in ihrer Gänze repräsentierten Institution. Wenn Dear und Shapin auf einzelne Textelemente Bezug nehmen, so im Glauben, diese könnten unmittelbar erfasst werden. Damit folgen sie „einem unkritischen Konzept der Sprachanalyse: Zitieren wird als wörtliche, das Paraphrasieren als sinnangemessene Wiedergabe des intentionalen Gehalts des Textes aufgefaßt.“20 Dass ein in einem vergangenen Denkstil formulierter Satz andere Bedeutungen und Konnotationen als heute haben kann, wird ausgeblendet. Welche frühneuzeitlichen Autorkonzepte und Autorfunktionen es gab, thematisiert weder Shapin noch Dear, vielmehr setzen sie ein modernes Autorverständnis voraus,21 ohne jedoch die literaturtheoretische Problematisierung, die das Autorkonzept zur Zeit der Abfassung ihrer Studien bereits durchlaufen hatte, auch nur von Ferne zu erahnen. Damit nicht genug, sie unterstellen zudem, dass frühneuzeitliche Texte wie heutige Texte organisiert seien.22 Anachronistisches Vokabular wie „rationalistisch“ wird selbstverständlich bei der Analyse eingesetzt. Es kommt daher zwangsläufig zu interpretatorischen Zirkelschlüssen, bei denen die Kohärenz der Interpretationstätigkeit in den interpretierten Text hineinokuliert und diesem als Eigenschaft unterstellt wird. Doch nicht nur die Selbstdarstellungen Boyles und Sprats werden von Shapin schlicht eins zu eins übernommen, auch für die sogenannte Stilanalyse bilden die entsprechenden Selbstcharakteristiken Boyles die Basis der Interpretation. Shapins Stilanalysen begnügen sich mit Feststellungen wie z.B., dass Boyles Sätze „lang und kompliziert“ seien. Dabei wird nicht ein Satz von Boyle genauer betrachtet, geschweige denn die anderen Darstellungsmodi seiner Texte, sondern es werden nur Äußerungen Boyles über seine Darstellungsformen zusammenge-

20 Bernd Switalla, Interpretationstheorien (Problemskizze), 1998, www.uni-bielefeld.de/lili/personen/switalla/Interpretationstheorien (Stand: 15.11.2012). 21 Vgl. dazu z.B.: Klaus Garber, „Der Autor im 17. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 11/1981, 42, S. 29–45. Zur Autorrolle in der Wissenschaft heute: Mario Biagioli/Peter Galison (Hrsg.), Scientific Authorship. Credit and Intellectual Property in Science, New York 2003. 22 Vgl. dazu z.B.: Dominik Perler, „Was ist ein frühneuzeitlicher philosophischer Text? Kritische Überlegungen zum Rationalismus/Empirismus-Schema“, in: Helmut Puff/Christopher Wild (Hrsg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 55–80.

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sucht: Boyle entschuldige sich für die Weitschweifigkeit (prolixity) seiner Ausführungen, die weder rhetorisch elegant noch dem nackten Stil Sprats entsprächen. Die genaue Angabe der Umstände sei indes bei neuen und überraschenden Experimenten nötig, damit der Leser, der selbst nicht dabei gewesen war, alles genau nachvollziehen könne. Nun bekäme man gerne von Shapin vorgeführt, dass, wie und mit welchem Erfolg Boyle die Technik der Weitschweifigkeit einsetzt oder wie er konkret andernorts sein Ideal des nackten Stils in einem Bericht umsetzt. Dann erst könnte man abzugleichen versuchen, inwiefern Boyles Darstellungsformen nicht auch bereits in anderen Texten, etwa in den Experimentberichten der Jesuiten, Gassendis oder Descartes’ ähnlich anzutreffen waren und somit überhaupt nicht in ihrer Besonderheit konstitutiv für die Gründung einer neuen Wissenschaftsrhetorik innerhalb der Royal Society reklamiert werden könnten.23 Boyles Rhetorik des Neuen wird stattdessen schlicht geglaubt und nicht überprüft, ob die von ihm als neu deklarierten Verfahren nicht bereits andernorts zum Einsatz gekommen waren bzw. inwiefern seine Rhetorik ihrerseits topischen Mustern folgt. Überdies wären auch noch andere Texte von frühen Mitgliedern der Royal Society zu analysieren, denn wenn etwa Henry More, John Wilkins, Samuel Pepys, John Evelyn oder Kenelm Digby in ganz anderem Stile schrieben (was sie taten), bliebe – selbst wenn man einen besonderen Stil Boyles herausarbeiten könnte – die Frage zu klären, wie repräsentativ sein Stil für die bunte Truppe der Fellows der jungen Royal Society war. Legen wir Peter Dears Aufsatz daneben, springt dessen analoge Vorgehensweise ins Auge. Dear, der sich explizit der Analyse der Boyle’schen Rhetorik widmet, versteht Rhetorik gemäß der heute umgangssprachlichen Bedeutung. An keiner Stelle wird auf das Wissenssystem der Rhetorik im England des 17. Jahrhunderts eingegangen, kein einziger Rhetoriktraktat der Tradition zitiert, nicht eine rhetorische Figur oder Trope identifiziert, noch der Aufbau und die Organisation des Textes in den Blick genommen. Dear zitiert zudem – mit Ausnahme eines lateinischen Traktates von Hobbes – ausschließlich Texte aus der Primär- und Sekundärliteratur, die in englischer Sprache vorliegen, und das ist ein unter praxeologischen Gesichtspunkten symptomatischer Befund. Die – leider nicht nur für Dear, sondern für das Gros anglo-amerikanischer Wissenschaftshistoriographie bezeichnende – parochiale Begrenzung des eigenen Interpretationsstandpunktes durch ein regionales monolinguales Weltbild geht allzu häufig einher mit einem gleichwohl erhobenen globalen Hegemonieanspruch. Das eigene implizite Textverständnis und dessen Relation zu einer bestimmten historiographischen Schule des Sozialkonstruktivismus (bei gleichzeitiger Orientierung an der Führungsachse

23 Shapin, „Pump and Circumstance“, S. 493 f.  

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der angloamerikanischen Philosophiegeschichtsschreibung von Bacon zu Locke), bleibt unausgesprochen und wird von Dear wie von Shapin in seiner Relevanz für die Interpretation weder genetisch noch logisch oder theoretisch reflektiert. Kennzeichnend sind für diese Untersuchungen ein signifikanter Beschreibungs-, Verstehens- und Erklärungsoptimismus sowie damit einhergehend kühne Generalisierungen in Bezug auf die untersuchten Gegenstände als auch auf die historischen Schlussfolgerungen. Die ausgewählte Textbasis ist überaus schmal und zeitlich wie örtlich eng begrenzt, auf ihrer Basis werden indes Aussagen über die allgemeine Etablierung des Erfahrungsdiskurses in der frühen Neuzeit in ganz Europa getroffen. Eine marginale Kontroverse um ein Nebenwerk von Hobbes wird zur Entscheidungsschlacht um die Zukunft des Empirismus hochstilisiert.24 Shapins und Dears Analysen, die Texte in ihrem kulturellen und sozialen Setting betrachten wollen, zerreißen zu diesem Zweck gerade jene komplexen intertextuellen Verweisungszusammenhänge, in denen diese Texte stehen. Diese wissensgeschichtliche Dekontextualisierung der Texte ermöglicht erst deren reduktionistische Interpretation über das Andocken an soziale Institutionen. Kontextualisierte man indes die Rhetorik Boyles, wäre man wieder weg von der Praxis und untersuchte das intellektuelle Problemfeld, die epistemischen Konfigurationen. Kurzum, diese beiden Texte, deren Interpretationsverfahren, soweit ich sehe, symptomatisch auch für gegenwärtige Studien aus diesem Bereich sind, sollten einer Praxeologie allenfalls als Negativmodelle zur Abschreckung dienen.25 Der Dilettantismus, mit dem Dear und Shapin Texte auf ihren Stil und ihre Rhetorik hin untersuchen, spricht nicht gegen das Vorhaben als solches, das womöglich

24 Zum Problem, dass je nachdem, wie man kontextualisiert, man andere Interpretationen eines Textes erhält, siehe: Jim Ritter, „Reading Strasbourg 368: A thrice-told tale“, in: Karine Chemla (Hrsg.), History of Science, History of Text, Dordrecht [u.a.] 2004, S. 177–200. 25 Dass leider zumeist positiv an sie angeschlossen wird, mag zum Abschluss dieser Überlegungen ein aktuelles Fallbeispiel belegen, in welchem wieder ‚Das Narrativ‘ herumgeistert, doch nun endlich als Kategorie terminologisch dingfest gemacht werden soll. Norton Wise beruft sich in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Science as (Historical) Narrative“ (in: Erkenntnis, 75/ 2011, S. 349–376) dazu vage auf Hayden White, doch ein Narrativ meint bei ihm nichts weiter als eine Darstellung historisch sich wandelnder Objekte, und hier: die Repräsentationsweisen der Formation von Schneeflocken oder des Quantenchaos. Wir verstehen etwas, indem wir es historisch einbetten und sein Entstehen nachvollziehen können, dafür brauchen wir das historische Narrativ. Warum nicht historische Analyse? Die Narrativität fungiert als Weichspüler, um erstens zwar den fiktionalen Status dieser Erzählungen anzuzeigen, aber ohne daraus ernstere Konsequenzen für den Status des Erzählten zu ziehen (wie dies Hayden White tat), und um zweitens die historische Kontextualisierung als ein nachträgliches Erzählen über Experimente, ein Nacherzählen, zu charakterisieren, ohne aber hierfür eine narratologische Analyse wissenschaftlicher Texte einzufordern, in deren Folge die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen hinfällig würde.

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gerettet werden könnte, würden sich Vertreter der science studies an den methodisch avancierteren Konzepten der Literaturwissenschaften orientieren. Nun sind sowohl Shapin als auch Dear Träger des Ludwik Fleck-Preises und Ludwik Fleck selbst gilt als einer der wichtigsten Ahnherren der science studies. Betrachtet man seine Wissenschaftssoziologie jedoch näher, zeigt sich, dass er in Bezug auf die Methoden des Interpretierens und deren theoretische Grundlegung weit weniger simplizistische Ansätze als seine Nachfolger entwickelt hatte.

IV Close reading bei Fleck Fleck ist in der Tat ein exemplarischer Vertreter des practical turn.26 Sein Fokus richtet sich nicht auf die offizielle papierne Gestalt der Wissenschaften, auch nicht auf die Hagiographie großer Entdecker, sondern auf die alltäglichen Praktiken und Routinen, die in Laboren die Forschungsprozesse prägen. Die Laborwelt begreift er indes nicht als einen von der Gesellschaft isolierten Raum, in dem zweckfreie Forschung sich ereignet, sondern er beschreibt, wie soziale und kulturelle Ideen in den Köpfen der beteiligten Forscher herumspuken, ihre Sprache und Beobachtungsweisen ausrichten und unbewusste gruppendynamische Prozesse in Gang setzen, die Weg und Resultate ihrer Arbeit bestimmen.27 Fleck möchte also nicht nur die äußeren Umstände der Wissensproduktion erfassen, sondern auch die Erkenntnisakte, Gehalte, Problemstellungen, Überprüfungs- und Rechtfertigungsverfahren der Wissenschaften in ihrer sozialen und

26 „Es ist eine ungewöhnlich interessante Sache, wie weit Gelehrte, die ihr ganzes Leben der Aufgabe widmen, Täuschungen von der Wirklichkeit zu unterscheiden, nicht dazu imstande sind, die eigenen Träume über die Wissenschaft von der wirklichen Gestalt der Wissenschaften zu unterscheiden. Vor allem gibt es außerhalb der Träume keine irgend eine Wissenschaft, es gibt heute nur einzelne Wissenschaften, die in vielen Fällen keine Verbindung miteinander haben und von denen einige in ihren grundlegenden Eigenschaften auseinanderlaufen. Über die Wissenschaft kann man nur so sprechen wie wir das Wort ‚die Kunst‘ verwenden, um das Gemeinsame in den Bestrebungen von Musik, Malerei und Dichtung usw. zu belegen.“ Ludwik Fleck, „Wissenschaftstheoretische Probleme (1946)“, in: Ders., Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, Sylwia Werner/Claus Zittel (Hrsg.), Berlin 2010, S. 369–389, hier S. 369. 27 Ausgangspunkt für ihn ist die Frage, „ob das Mitteilen eines Wissens, seine Wanderung von Mensch zu Mensch, vom Zeitschriftenaufsatz zum Handbuch nicht prinzipiell mit […] besonders gerichteter Transformation verbunden ist“. Denn „obwohl Forscher ihre Erkenntnisse doch vor allem aus Büchern bezögen, wisse man nicht ‚wie weit ein Wissensbestand den Erkenntnisakt beeinflusst‘“. So fänden „sich auch in der historischen Entwicklung des Wissens einige merkwürdige allgemeine Erscheinungen, wie z.B. die besondere stilmäßige Geschlossenheit jeweiliger Wissenssysteme, die eine erkenntnistheoretische Untersuchung fordern“. Ludwik Fleck, „Brief an Moritz Schlick“, in: Ders., Denkstile und Tatsachen, S. 561 f., hier S. 562.  

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kulturellen Bedingtheit aufweisen. Er legt materialgesättigte, dichte Beschreibungen vor, die zeigen, wie die konkrete Forschungspraxis in unterschiedlichen Kontexten sich je anders zu Denkstilen ausformt und wie dabei die wissenschaftliche Vorstellungswelt mit Hilfe materieller Dinge und Praktiken konstituiert und kodifiziert wird. Das Ziel ist, eine regelrechte Phänomenologie und Psychologie des wissenschaftlichen Sehens und Handelns auszuarbeiten. Flecks Denkstiltheorie versucht, der Komplexität ihres Gegenstands insofern Rechnung zu tragen, als sie diese mit in ihre eigene Methodologie aufnimmt und dabei wissenschaftshistorische, philosophische, soziologische, kunsthistorische, kultur- und literaturwissenschaftliche Perspektiven verschränkt. Sein Vorgehen ist weder autor- noch werk- oder institutionenzentriert, sondern verfolgt werden die Prozesse, in denen sich Wissensformen allmählich ausbilden. Einige Wissenschaftsphilosophen werden die Einsicht nur ungern zur Kenntnis nehmen, dass sich Fleck zufolge die Entwicklung und Formierung der Wissenschaften nicht primär unter Bezug auf allgemeine Erkenntniskriterien und Methoden rekonstruieren lässt, sondern dass auch die jeweilige wissenschaftliche Tatsachenproduktion erst mit kultur- und literaturwissenschaftlichen Analysetechniken aufgeklärt werden kann. Als erstes wird hierbei von Fleck die Autorkategorie verabschiedet: Kein Forscher könne voraussehen, wie der „Status seiner eigenen Forschungsergebnisse sein wird – nachdem sie von der riesigen Mühle des Kollektivs zermahlen worden sind.“28 Das Kollektiv ist daher für ihn der eigentliche wissens- und stilgeschichtliche Protagonist, er nennt es eine „Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ und „Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils“.29 Kollektive sind für Fleck keine fest umrissenen Gruppen, sondern sie bilden sich über gemeinsame Praktiken zunächst als lose Ensembles. Personen, mit denen man nicht in Denkverkehr steht, können zwar womöglich der gleichen Schule, Institution oder Nation angehören, doch zählen sie nicht zum Kollektiv. Es kommt also primär

28 Ders., „Wissenschaft und Umwelt (1939)“, in: Ders., Denkstile und Tatsachen, S. 327–339, hier S. 334. Vgl. auch Flecks Nacherzählung einer Diskussion über eine überlieferte Krankengeschichte in einer medizinhistorischen Gesellschaft: „[S]ehr oft findet man keinen Autor des Gedankens, der während der Diskussion und während der Kritik entstand, seinen Sinn einige Male änderte, sich anpaßte und Allgemeingut wurde. In dieser Eigenschaft erwirbt er sich überpersönlichen Wert: er wird zu Axiom und Richtlinie des Denkens.“ Ders., Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 1980, S. 160. 29 Ebd., S. 54 f.  

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darauf an, dass es einen Denkverkehr gibt und nicht, wie man sich definiert, oder darauf, ob man sich wechselseitig versteht. Verständigung sei „grundsätzlich nur innerhalb eines Kollektivs möglich, zwischen verwandten Gemeinschaften“ kommt es bereits zu Komplikationen, da die Worte beim Transfer ihre Bedeutung ändern, die Begriffe eine andere „Stilfärbung“ erhalten, die Sätze einen „anderen Sinn, die Anschauungen einen anderen Wert“. Bereits im intrakollektiven Denkverkehr laufe die Kommunikation nach dem Prinzip der stillen Post. „Das, was ich ausdrücke, ist immer anders als das, was ich denke. Das, was verstanden wird, ist auch immer verschieden von dem, was ich gesagt habe.“30 Sind die Gruppen weit entfernt, kann die Transformation eines Gedankens „in seiner völligen Vernichtung“ bestehen.31 Entscheidend sei daher zu erkennen, dass der Gedanken-Kreislauf nie ohne Transformation stattfindet und dass es verschiedene Phasen gibt, in denen ein Denkstil offener oder geschlossener auftritt – wird der Denkverkehr verstetigt, erhält er durch Wiederholung eine bestimmte Form. Die gemeinschaftsinterne Wanderung eines Gedankens verstärkt diesen, das erzeugt eine kollektive Stimmung der Selbstbestätigung, ein besonderer Denkstil formt sich aus, wird fixiert und schließt die Gruppe ab. Nur die Mitglieder des eigenen Kollektivs sind in der Lage, spezifische Stilfärbungen herauszufühlen.32 Wissenschaftliche Termini entfalteten einen „eigentümlichen Stilzauber“, der ihnen eine sakramentale Kraft verleihe.33 Diejenigen, die diesem „Denkzauber“ erliegen, bilden eine Gemeinschaft, es kommt zur „Stimmungskameradschaft“.34 Die Suggestivkraft wissenschaftlicher Schlagworte, die wie Karotten vor den Augen der Forscher hängen, lässt ganze Gruppen von Forschern in eine gemeinsame Richtung marschieren: practical turn wäre hier ein Beispiel. Die Stimmung ist Kitt und Sprit des Kollektivs, sie erzeugt eine Bereitschaft zum gerichteten Wahrnehmen, Bewerten und Anwenden des Wahrgenommenen, sie ist die Triebkraft denkstilgemäßen kollektiven Handelns. „Erkennen“ heiße also, „bei gewissen gegebenen Voraussetzungen die zwangsläufigen Ergeb-

30 Fleck, „Wie entstand die Bordet-Wassermann-Reaktion und wie entsteht eine wissenschaftliche Entdeckung im allgemeinen? (1934)“, in: Ders., Denkstile und Tatsachen, S. 181–210, hier S. 198. 31 Zum Problem einer Theorie des Erkennens: Ders., „Das Problem einer Theorie des Erkennens (1936)“, in: Ders., Denkstile und Tatsachen, S. 260–309, hier S. 267. 32 Ebd., S. 286. 33 Ebd. 34 Ebd.

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nisse feststellen“.35 Ein Denk-Stil beschränkt sich folglich keineswegs auf das Denken, sondern schließt das Wahrnehmen sowie die Praktiken und Instrumente eines Kollektivs mit ein, und alle diese Faktoren sind bei der Wissensproduktion immer mit im Spiel. Damit es zum Denkstilwandel kommt, muss die Stimmung nachhaltig gestört werden, etwa durch immanente Transformationen oder Einflüsse fremder Stile. Diese sorgen für eine „Zeit der Unruhe“,36 in welcher dann neue Gedanken eingeführt werden können. Wanderungen von Gedanken gibt es innerhalb des Denkkollektivs vom esoterischen Kreis zum exoterischen Kreis der Laien, dort werden sie zu Tatsachenwissen und kehren dann als solches zurück.37 Damit ist angezeigt, was ein close reading für Fleck zu leisten hat, nämlich gerade nicht, den argumentativen Aufbau oder die Begriffskonstellationen eines einzelnen wissenschaftlichen Textes zu rekonstruieren, sondern die in solchen Zirkulationsprozessen sich schleichend vollziehenden Veränderungen von kollektiven Stimmungen und die unbewusste stilgemäße Konditionierung von Wahrnehmung, Denken und Handeln der Forscher sichtbar zu machen.38 Fleck hebt hervor, dass literarische Technologien hierbei eine Rolle spielen, doch sieht er diese nicht als bewusste Strategien eines Autors, sondern als stillschweigend und nicht nur auf der Textebene wirkende Faktoren. So führt er anhand von Beispielen aus der mikrobiologischen Laborpraxis vor, wie sich in einem Forscherkollektiv unter der Hand eine gemeinsame Sprache ausbilden muss, bevor überhaupt erst der Beobachtungsgegenstand als solcher in den Blick genommen werden kann – dass dieser also keineswegs bereits in bestimmter Gestalt vorliegt und dann neutral beschrieben werden kann. Aus anfänglichen chaotischen Wahrnehmungen einzelner Forscher wird durch das Zirkulieren von metaphorischen Beschreibungen und Vergleichen im Kollektiv der Forscher allmählich das Sehen so geschult, dass gezielte Beobachtungen möglich werden. Auch diese werden kommuniziert, Abbildungen treten hinzu, die ihrerseits niemals in einem objektiven Sinn naturtreu sind, sondern nur innerhalb eines Denkstils als naturtreu wahrgenommen werden.

35 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 56. 36 Ders., Denkstile und Tatsachen, S. 134, 229 f., 232, 330 – hier präludiert Thomas Kuhns zur Erklärung von Paradigmenwechsel eingeführtes Krisentheorem. Siehe dazu: Sylwia Werner, „Denkstil – Paradigma – Avantgarde. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in Wissenschaftstheorien Ludwik Flecks und Thomas Kuhns“, in: Jürgen Bohm/Andrea Sakoparnig/Andreas Wolfsteiner (Hrsg.), Paradigmenwechsel. Wandel in Kunst und Wissenschaft, Berlin, Boston 2014, S. 53–66. 37 Vgl. Fleck, „Wie entstand die Bordet-Wassermann-Reaktion“, S. 199 f. 38 Vgl. Claus Zittel, „Ludwik Fleck und der Stilbegriff in den Naturwissenschaften. Stil als wissenschaftshistorische, epistemologische und ästhetische Kategorie“, in: Horst Bredekamp/ John Krois (Hrsg.), Sehen und Handeln, Berlin 2011, S. 171–206.  



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Ohne ontologische Hypostasen von tatsächlichen Wirklichkeiten jenseits der Denkstile auszukommen, ist ein großer Vorzug der Konzeption Flecks. Im Unterschied zu Dear und Shapin zeigt Fleck konkret, wie die von der Wissenschaftstheorie ansonsten getrennten Sphären des context of discovery und des context of justification in der Forschungspraxis ineinander verschlungen sind, und vermag so zu begründen, dass Schreib- und Experimentierpraxis keineswegs nebengeordnete Tätigkeiten darstellen. Aus dem Zirkulationskonzept ergibt sich für Fleck als methodische Konsequenz, dass er – vermutlich als erster Wissenschaftstheoretiker überhaupt – wissenschaftliche Zeitschriftenaufsätze einem vergleichenden close reading39 unterzieht, um so zu studieren, welche Metaphern in der Beschreibung von Beobachtungen eingeführt werden, welche unbewussten Kollektivideen in den Köpfen der Forscher herumspuken40 und die Beschreibungssprache und Suchrichtung prägen, welche Metaphern und Analogien sich beim Kursieren in der Fachliteratur sukzessive durchsetzen, wie sie dabei geschliffen und vor allem an eine vorherrschende soziale Stimmung angepasst werden, bis sich Begriffe herauskristallisieren, die ihrerseits wieder einen Denkzauber41 ausüben können,

39 Zum close reading als Verfahren gibt es überraschend wenige metatheoretische Überlegungen, siehe aber: Andrew DuBois, „Close Reading: An Introduction“, in: Ders./Frank Lentricchia (Hrsg.), Close reading: the reader, London 2003, S. 1–40. 40 Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 102. 41 Vgl.: „Der grundlegende Punkt ist, daß ein technischer Terminus innerhalb seines Denkkollektivs etwas mehr ausdrückt, als seine logische Definition enthält: Er besitzt eine spezifische Kraft, er ist nicht bloß Name, sondern auch Schlagwort oder Symbol, er besitzt etwas, das ich einen eigentümlichen Denkzauber nennen möchte. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man an die Stelle des technischen Terminus eine bedeutungs-gleiche Beschreibung einsetzt, die aber nicht über jene spezifische sakramentale Kraft, jenen Zauber verfügt […]. Wird in einer Gruselgeschichte für das Wort ‚Geist‘ die Beschreibung: ‚der seinen Tod überlebende menschliche Bestandteil‘ gesetzt, wird die ganze Stimmung zerstört, wird sie lächerlich gemacht. Dasselbe trifft für ein patriotisches Gedicht zu, in dem ‚Oberfläche des Globus‘ für ‚Erde‘ gesetzt wird. Doch auch moderne wissenschaftliche Termini besitzen diesen spezifischen Stilzauber, diese spezifische sakramentale Kraft. Sie steckt in solchen Termini wie ‚Art‘ (Zoologie und Botanik), ‚Atom‘ (Physik und Chemie), ‚Analyse‘ (Chemie), ‚Diagnose‘ (Medizin), ‚Keimblätter‘ (Embryologie), ‚Organ‘ (Anatomie), ‚Funktion‘ (Mathematik) usw. Keiner dieser Termini läßt sich restlos durch eine logische Explikation ersetzen, denn die Tradition der betreffenden Disziplin, ihre historische Entwicklung haben sie mit jener spezifischen sakramentalen Kraft umhüllt, die die Mitglieder des Kollektivs stärker anspricht als der logische Inhalt. Gäbe es nicht die Kraft des Terminus ‚Art‘, wäre der Kampf um den Evolutionismus und Darwinismus nicht möglich gewesen, gäbe es nicht eine ähnliche Kraft des Terminus ‚Quadratur des Kreises‘, hätte sich vielleicht niemand um sie gekümmert.“ Fleck, „Problem einer Theorie des Erkennens“, in: Ders., Denkstile und Tatsachen, S. 285 f. Vgl. auch ebd., S. 201, 254, und: „Man vermag kein Märchen zu erfinden, das nicht zwangsläufige Koppelungen enthielte. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Mythus  

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wie die zunächst nur hypothetisch eingeführten Begriffe dann in Lehrbüchern zu fixen Wissenstatbeständen petrifiziert werden und dann aus der exoterischen Sphäre der Wissenschaftspopularisierung und Kanonisierung wieder in die esoterische Wissenschaftlergemeinschaft zurückkehren und auf diese so einwirken, dass auch die betroffenen Forscher an die Tatsachen zu glauben beginnen und von nun die Aufnahme junger Forscher in ihre Denkgemeinschaft „von gewissen Vorbedingungen und gewissen Zeremonien (Aufnahmesakramente) abhängig machen“.42 Fleck betreibt sein close reading peinlich genau, und das, was viele der heutigen Leser aus der Wissenschafts- und Kulturgeschichte ermüdet und zum Überblättern verleitet, das seitenlange Zitieren von serologischer Fachprosa, ist die eigentliche Sensation seiner Texte, etwa in der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache oder in den Aufsätzen Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im Allgemeinen und Wie entstand die Bordet-Wassermann-Reaktion und wie entsteht eine wissenschaftliche Entdeckung im allgemeinen. Fleck enthüllt beispielsweise anhand einer langen Analyse eines Lehrbuchtextes von Julius Citron43 die suggestive Kraft einzelner scheinbar neutraler Termini und Mitteilungen, um dann anhand eines vergleichenden close reading späterer Darstellungen des gleichen Sachverhalts kleinste Veränderungen und Nuancierungen zu registrieren und in ihren Effekten zu beschreiben. Dadurch wird zum ersten Mal konkret und luzide nachvollziehbar, wie die Rhetorik oder der Stil einer Fachdisziplin sich ausbildet und wie der Nimbus der wissenschaftlichen Objektivität aufkommt. Im Kontrast zu Shapin oder Dear zitiert Fleck ausführlich aus einem Fachartikel, analysiert die gewählte Beschreibungssprache, untersucht, welche Begriffe, Metaphern, Vergleiche mit welchem Status und welcher Färbung eingeführt werden und registriert im Folgeartikel die sich einstellenden minimalen Veränderungen sowie was gleich bleibt und schließlich sich zum Lehrstoff sedimentiert. Er sieht zu und führt vor, wie allmählich ein Wissensgebiet abgezirkelt wird und sich ein spezifischer Denkstil herausschält. Zugute kommt ihm hier, dass wenige Jahre zuvor dem noch unbekannten Mikrobiologen Fleck zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auf den Fachkongressen die undankbare Aufgabe übertragen worden war, Forschungsreferate zu halten. Die Themen von Flecks Berichten waren: Der moderne Begriff der Ansteckung und der ansteckenden Krankheit (1930) und Über den Begriff

von der Wissenschaft nur durch den Stil“. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 125. Zur magischen Kraft der Worte, der Zahlen oder der „einfachen Angabe“ in der Wissenschaft siehe auch: Ebd., S. 59, und Ders., Denkstile und Tatsachen, S. 249, 278, 296. 42 Ders., „Wie entstand die Bordet-Wassermann-Reaktion“, S. 187. 43 Ders., Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 74–108.

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der Art in der Bakteriologie (1931). Diese Sammelreferate mutierten unter seiner Hand bereits zu begriffskritischen Abhandlungen und sind als Vorläufer seines die Wissenschaft demystifizierenden close reading anzusehen.

V Beschluss In Flecks Augen reicht es nicht, einzelne Forschungsroutinen oder Argumentationslinien zu beschreiben, sondern es müssen die sie ausrichtenden wissensgenerierenden Faktoren in den Blick genommen werden. Erst wenn gezeigt ist, wie diese – geleitet von unbewussten sozialen Stimmungen und subkutanen Traditionslinien – sich zu einem bestimmten Denkstil formen, lässt sich nachzeichnen, welche Denkzwänge sich mit welchen Effekten einstellen, und aufgrund welcher Denkzwänge also bestimmte Forschungspositionen vertreten werden. Genau dadurch könnte sein Denkstil-Konzept auch als Modell für eine praxeologische Untersuchung der Geisteswissenschaften attraktiv werden. Statt auf Autorintentionen abzuheben, untersucht Fleck die Formierungsprozesse eines Forschungsfeldes; statt einzelne Texte in Blick zu nehmen, studiert er, welche Transformationen sich zwischen ihnen ereignen. Mit Fleck wird damit sogar eine Revision des literaturwissenschaftlichen close-reading-Verfahrens möglich, das eben bei ihm kein komplexitätsreduzierendes textimmanentes Verfahren ist, welches die Kontexte ausblendet, sondern eine Lektüre, die die textkonstituierenden Prozesse in gegebenen Denkstilen sichtbar macht. Fleck braucht keine ontologischen Hypostasen irgendeiner Wirklichkeit jenseits der Denkstile. Die Denkstile konstituieren sich ihre Wirklichkeiten, und innerhalb dieser kommt es zu „Harmonien der Täuschung“, die denkstilkonforme Inhalte als wahr und die fremder Denkstile als falsch erscheinen lassen. Einzelne Denkstile vermag Fleck in ihrer Entwicklung und ihrer Differenz zueinander zu betrachten. Er verzichtet auf das Festzurren von Interpretationen, seine Denkstilanalyse ist nicht verstehens- und kommunikationsorientiert, sondern funktionsanalytisch. Begriffe werden ebenso wie Metaphern und Bilder in ihren Zirkulationen beobachtet. Hier steht keine naive Metapherntheorie im Hintergrund: Metaphern sind wie Begriffe Elemente in Relationsnetzen, bilden horizontale und vertikale Linien aus und verknoten sich zu „Netzwerken in beständiger Fluktuation“.44 Flecks Anti-Hermeneutik propagiert keine Sinnsuche – Sinn liegt nicht als Bedeutung vor, sondern konstituiert sich erst innerhalb der Wechselwirkungen eines Denkstils. Die ästhetischen Aspekte der Texte und Praktiken werden in der

44 Ebd., S. 105.

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Fleck’schen Praxeologie nicht ausgeblendet, sondern als konstitutive Faktoren der Produktion, Rechtfertigung und Etablierung von Wissen in Gestalt von Stilzwängen transparent gemacht. Sie lassen sich nicht nachträglich herauskürzen. Die daraus sich ergebenden unauflösbaren Inkommensurabilitäten von Aussagen aus verschiedenen Denkstilen werden akzeptiert. Ein Einfühlen oder andere Formen des unmittelbaren Erfassens anderer Denkstile scheitert ebenso wie der Umweg über eine universale Verständigungsebene, die in Flecks Augen eben für Denkstile nicht vorausgesetzt werden könne. Es gibt für Fleck daher keine Akte der heroischen Selbstaufklärung über die eigene Befangenheit in einem Denkstil. Die Einsicht in diese Befangenheit hebt sie nicht auf. Gleichwohl gibt es auch in Flecks Konzeption einen immensen Bedarf an literaturwissenschaftlicher Verfeinerung seiner Analysen. Flecks Denkstillehre könnte so zu einem vorzüglichen Ausgangspunkt werden, um einen Prozess des wechselseitigen Sich-Bereicherns und Infragestellens von praxeologischen Modellen aus den science studies und den Geisteswissenschaften in Gang zu setzen.

II Praktiken des Interpretierens in historischer Perspektive

Gregor Vogt-Spira, Marburg

Der Umgang mit Texten im antiken Rom Einige Überlegungen zu Form und Stellung von ‚Interpretation‘ I Interpretation ist einer jener Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, die in hohem Grade historischem Wandel unterliegen, ja geradezu Gradmesser für epistemologische Umbrüche sind. Sucht man ihre Form und ihren Ort im antiken Rom näher zu bestimmen, so stellen sich vorab eine Reihe von Fragen. Zunächst bleibt zu klären, ob man überhaupt von derselben Sache spricht, wenn man den Begriff ‚Interpretation‘ für die Antike gebraucht. Denn im praktischen Selbstverständnis der Literaturwissenschaft ist dieser Begriff, ähnlich wie es für den verwandten Leitbegriff ‚Literaturgeschichtsschreibung‘ zu beobachten ist,1 so festgelegt, dass er von den Implikationen moderner Hermeneutik kaum mehr ablösbar erscheint. In solcher Perspektive hat die Antike nur mit dem Wortstamm hermeneuein bzw. dem lateinischen Äquivalent interpretari eine semantische Grundlage geliefert. Die Einschätzung hängt allerdings nicht zum wenigsten von den Modellen für jenen Transformationsprozess ab, den Theorie und Praxis von ‚Interpretation‘ durchlaufen haben. Während der Logik eines Umbruchs entspricht, dass etwas konstitutiv Neues einsetzt, wird ein solcher Ansatz inzwischen eher durch das Modell von Ausdifferenzierungen, Verschiebungen und Umponderierungen abgelöst. Das lenkt den Blick auf Traditionslinien und ihre verwickelten Wege, die dann tatsächlich bis nach Griechenland und Rom führen. Darüber hinaus ist, da Interpretation konstitutiv widerständig ist gegenüber einer Reduktion auf Eindeutigkeit, auch mit einer gewissen ‚Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem‘ zu rechnen in dem Sinne, dass neben jüngeren auch ältere Formen des Interpretierens über die Umbrüche hinweg erhalten bleiben. Neben solche Überlegungen, die sich auf die historischen Transformationsprozesse richten, tritt eine zweite Fragerichtung, die die konkrete jeweilige historische Praxis zum Ausgangspunkt nimmt. Hier liegt die Vorannahme zugrunde, dass eine Kultur, die in so hohem Maße wie die hellenistisch-römische auf Schrift 1 Vgl. dazu J. P. Schwindt, Prolegomena zu einer Phänomenologie der römischen Literaturgeschichtsschreibung. Von den Anfängen bis Quintilian, Göttingen 2000; Gregor Vogt-Spira, „Literaturgeschichtsschreibung in Rom. Ein Leitkonzept neuerer Literaturwissenschaft und die Antike“, in: Herbert Jaumann [u.a.] (Hrsg.), Domänen der Literaturwissenschaft, Tübingen 2001, S. 61–83.

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basiert, auch Formen entwickelt hat, mit ihren Texten umzugehen. Daraus ergibt sich die Frage, wie Verstehen vorgestellt wird, inwieweit es Techniken der Sicherung, Vereindeutigung, Regulierung oder Konventionalisierung von ‚Sinn‘ gibt und welcher Stellenwert solchen Techniken in der Gesamtheit des Literatursystems zukommt. Eine gewisse Gefahr liegt hier allerdings darin, implizit von einem modernen Interpretationsbegriff auszugehen und ihn in der Antike wiederzufinden. Bei der Frage, in welchem Sinne man für das antike Rom überhaupt von ‚Interpretation‘ sprechen kann, wird im Folgenden öfter von der hellenistischrömischen Kultur die Rede sein. Denn Rom hat Theorie und Praxis des Umgangs mit Texten zu erheblichem Maße aus dem Hellenismus rezipiert, jener Phase der griechischen Kultur vom dritten bis zum ersten vorchristlichen Jahrhundert, in der nicht zuletzt prägende philologische Zentren in Alexandria und Pergamon entstanden sind. Da der Hellenismus wiederum nicht nur politisch-geographisch einen Einschnitt darstellt, sondern auch in epistemologischer Hinsicht einen Wandel gegenüber der ‚klassischen‘ griechischen Zeit einleitet, lässt sich für die Schriftkultur von einer hellenistisch-römischen Phase mit gemeinsamer epistemologischer Basis sprechen, und in diesem Sinne ist im Folgenden von einem hellenistisch-römischen Textmodell die Rede.

II Beschreitet man zunächst den Weg der Begriffsgeschichte, stellt sich der moderne Gebrauch des Begriffs ‚Interpretation‘ als Spezifizierung aus einem erheblich weiteren Bedeutungsfeld dar. An den frühesten Zeugnissen, die aus dem Rom des zweiten Jahrhunderts v. Chr. stammen, ist ein Dreifaches hervorzuheben: ‚Interpretieren‘ richtet sich auf gesprochene oder geschriebene Sprache, es wird insbesondere dann ins Spiel gebracht, wenn das Verständnis auf Schwierigkeiten stößt, und es enthält schließlich keinerlei nähere Bestimmung zur Methode.2 Am

2 Vgl. Manfred Fuhrmann, „Interpretatio. Notizen zur Wortgeschichte“, in: Detlef Liebs (Hrsg.), Sympotica Franz Wieacker, Göttingen 1970, S. 80–110, hier bes. S. 81–86. Für die lateinische Wortgeschichte ist festzuhalten, dass das Stammwort interpres, das in der Grundbedeutung den Vermittler, spezieller den Ausleger und Erklärer, schließlich den Übersetzer bezeichnet, die Grundbedeutung ‚vermitteln‘ nicht an das davon abgeleitete interpretari sowie das zugehörige nomen actionis ‚interpretatio‘ weitergibt, die im Gegenzug die Semantik um die Bedeutung ‚auffassen, verstehen‘ erweitern – ein besonders in der Rhetorik häufiger Gebrauch, in der interpretari oftmals synonym zu accipere oder intellegere steht. Fuhrmanns Skizze nimmt dies zum Ausgangspunkt, um die Wendungen der Bedeutungsentwicklung in verschiedenen Feldern herauszuarbeiten; die

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Ende der römischen Republik im ersten Jahrhundert v. Chr. lässt sich sodann ein Eindringen des Begriffs in zwei Fachdisziplinen beobachten: die Rechtswissenschaft und die Philologie. Für die zweite wird sogar ein Ansatz unternommen, ihr gesamtes Geschäft unter den Begriff der Interpretation zu fassen. Wenn die Philologen als poetarum interpretes bezeichnet werden und klärend angefügt wird, es handele sich um jene, die von den Griechen Grammatiker genannt würden, so schließt das insbesondere die dort ausgebildete exegetische Methode ein, für die folglich der Begriff ‚Interpretation‘ als passend erachtet wurde.3 Indes gilt es gleichzeitig festzuhalten, dass sich interpretari bzw. interpretatio nicht als Leitbegriff durchsetzen. Dies liegt nicht daran, dass andere Begriffe die Tätigkeit präziser bezeichnet hätten; vielmehr findet die methodische Sicherung von Textverständnis, wenngleich sie eine weithin geübte Praxis ausbildet, keine begriffliche Verdichtung in einem übergreifenden terminus technicus: Neben interpretari treten eine Reihe anderer Begriffe wie enarrare, explicare oder explanare bzw. ihre griechischen Äquivalente, die zum terminologischen Grundbestand gehören.4 Ist Textverständnis auch, wie oben festgehalten, als elementare Anforderung in einer Kultur zu begreifen, die in so hohem Maße textorientiert ist wie die hellenistisch-römische, so stammen ihre Leitbegriffe doch aus dem Feld der Textproduktion, und hier hat sich sehr wohl eine theoretisch fundierte Pragmatik herausgebildet. Dies liefert den Kontext, in den das Ergebnis einzuordnen ist, dass offensichtlich nicht die Notwendigkeit einer eigentlichen, disziplinär ausgrenzbaren und begrifflich geschlossenen ‚Auslegungskunst‘ gesehen worden ist.5

lateinische Wortgeschichte erweist sich dabei als differenzierter als bei Jean Pépin, [Art.] „Hermeneutik“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 14, Stuttgart 1988, Sp. 722–771, bes. Sp. 723–728, dargestellt; die volle Parallelität zum griechischen Wortfeld hermeneia scheint sich erst später hergestellt zu haben. 3 Suet. Gramm. et rhet. 4, mit Bezug auf Cornelius Nepos; den Kontext bildet die Frage der lateinischen Denomination litteratus für das griechische grammatikos: vgl. im Einzelnen den Kommentar z.St. von Robert A. Kaster, C. Suetonius Tranquillus. De grammaticis et rhetoribus, Oxford 1995, S. 93 f. Fuhrmann, „Interpretatio“, S. 91, vermerkt mit Recht, dass der Verweis auf die Profession auch die Methodik einschließe. 4 Bezeichnend die Bemerkung im Eingang des umfangreichen Artikels zur antiken Hermeneutik von Pépin, „Hermeneutik“, Sp. 724: „Gewiß macht die antike H.[ermeneutik] noch von vielen anderen Wörtern Gebrauch, trotzdem scheint es angebracht, den Inhalt des vorliegenden Artikels zur Hauptsache auf diese Wortfamilie zu konzentrieren, um Wiederholungen oder Überschneidungen […] zu vermeiden.“ 5 Fuhrmann, „Interpretatio“, S. 98, vertritt allerdings die Position, dass das Lehrgebäude der Rhetorik die Bezeichnung ‚Theorie der Auslegung‘ verdiene, wenn es auch keinen klar umrissenen Begriff besessen habe, der die Auslegungsregeln auf einen Generalnenner gebracht hätte. Auf dem Hintergrund, dass der Interessenfokus der Rhetorik ganz anders ausgerichtet ist (vgl. dazu etwa die Gegenüberstellung bei Glenn W. Most, „Rhetorik und Hermeneutik. Zur Konstitution der  

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Von daher lässt sich nunmehr die Frage präzisieren, in welcher Weise man für die Antike von ‚Interpretation‘ sprechen oder nicht sprechen kann: Tatsächlich hat sie in Hinblick auf literarische Texte keine allgemeine ars interpretationis hervorgebracht; dies geschieht erst in der Renaissance. Selbst die Allegorese, deren epochenübergreifende Wirkungsgeschichte am ehesten nahezulegen scheint, dass hier eine veritable ‚Hermeneutik‘ vorliegen könnte, hat keine Systematik ausgebildet: Aus einem praktischen Impuls heraus entwickelt, um Texte vor Bedeutungsverlust zu schützen, besteht ihre Kehrseite in einer methodisch unregulierten Offenheit für neue Bedeutungszusammenhänge.6 Gleichwohl, wenn eine eigentliche ‚Interpretationskunst‘ im umfassenden Sinne also ein Produkt der frühen Neuzeit ist, so schließt das nicht aus, dass diese allgemeine Hermeneutik doch wiederum auf antiken Interpretationstraditionen ruht. Neben solchen der spätantiken neuplatonischen Aristoteleskommentierung ist dies insbesondere jene der hellenistisch-römischen Grammatik. Denn die Ars grammatica unterliegt im 15. und 16. Jahrhundert komplexen Ausdifferenzierungsprozessen, in deren Folge sich nicht zuletzt der Hermeneut als eine Herauslösung aus dem grammaticus beschreiben lässt.7 Die Verhältnisse liegen damit komplexer und die Traditionen sind stärker verflochten, als es sich unter der Perspektive der Neuschaffung einer ‚Interpretationskunst‘ darstellt. Das gilt auch in Hinblick auf den Begriff selbst. Denn es ist

Neuzeitlichkeit“, in: Antike und Abendland, 30/1984, S. 62–79, hier S. 68–73), verkürzt dies zwar um der Pointierung willen die Zusammenhänge; gleichwohl ist festzuhalten, dass die Rhetorik ohne Zweifel eine ‚Auslegungslehre‘ im Sinne einer Theorie über die Wirkungsweise von Sprache (mit besonderer Berücksichtigung der Steuerung) enthält; aber sie enthält sie nur und geht, insofern sie in einem Kommunikationsmodell gründet, nicht darin auf, weshalb sie eben ohne eine klar umrissene begriffliche Fassung eines ‚Generalnenners‘ auskommen kann. Der Hinweis, dass hier implizite Vorstellungen zur Auslegung enthalten sind, ist richtig und wichtig – wir werden in unserem vierten und fünften Abschnitt darauf zurückkommen –, doch ist dies von einer eigenen ‚Theorie der Auslegung‘ klar zu unterscheiden. Fuhrmann geht es allerdings um die Konstruktion einer prägnanten Antithese: Während die Rhetorik eine ‚Auslegungstheorie ohne klar umrissenen Begriff‘ sei, gelte für die andere Fachdisziplin, in deren Nomenklatur der Begriff interpretari als Fachterminus eingedrungen ist, die Jurisprudenz, das Fehlen einer in sich geschlossenen Doktrin, wohingegen sie durch den Terminus die Zusammengehörigkeit der einschlägigen Verfahrensweisen zu erkennen gegeben habe. 6 Pointiert Most, „Rhetorik und Hermeneutik“, S. 66 f. 7 Vgl. Lutz Danneberg, „Vom ‚grammaticus‘ und ‚logicus‘ über den ‚analyticus‘ zum ‚hermeneuticus‘“ in: Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin, New York 2005, S. 281–363, der unter der Leitfrage, warum die Hermeneutik „scheinbar plötzlich auftritt und sich im 16. Jahrhundert das Problem der Unterbringung im disziplinären Gefüge stellt“ (S. 290), den komplexen Verschiebungen und Verschränkungen nachgeht.  

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keineswegs so, dass eine ‚Klärungs- oder Darlegungshermeneutik‘, die auf den Text orientiert ist mit dem Ziel, ihn in Struktur und Verfahrensweise durchsichtig zu machen und zugleich den präsentierten Sachverhalt zu klären, dann allmählich um die andere Seite einer ‚Verstehens- oder Auslegungshermeneutik‘ erweitert würde, die auf den Verstehens- und Erkenntnisprozess der Sache gerichtet ist, die durch den Text bezeichnet wird.8 Denn nicht nur in der spätantiken Auslegungstheorie philosophischer Texte, auch in der exegetischen Praxis der Ars grammatica lassen sich Text- und Sachverständnis nicht trennen. Das gilt durchaus in einem integralen Sinne, anders als wenn poetische Texte, wie es oft der Fall ist, einem exterioren philosophischen Interpretationsinteresse unterzogen werden, bei dem sich der Dichter unter der Hand zu einem Philosophen wandelt; Seneca mokiert sich einmal darüber, dass Homer infolgedessen Stoiker, Epikureer, Peripatetiker und Akademiker in einem sein müsste.9 Jener empirischen Praxis der Dichterinterpretation, die in der hellenistischrömischen Antike ausgebildet worden ist, wollen wir uns im Folgenden zuwenden. Sie wird gelegentlich als scientia interpretandi poetas bezeichnet, wobei scientia als Entsprechung zu empeiria im Sinne empirischen Wissens zu verstehen und damit in der Hierarchie unterhalb von ars angesiedelt ist.10 Sie hat ihren pragmatischen Ort im Grammatikunterricht gefunden, in der mittleren Stufe des hellenistisch-römischen Bildungswesens, die für die Altersgruppe der Elf- bis Fünfzehnjährigen bestimmt ist. Gleichzeitig jedoch prägt sie weit über die Schule hinaus, wie viele Zeugnisse erweisen, die literarische Kultur, indem sie eine Leseund Verstehenshaltung vorformt. Der Rhetoriklehrer Quintilian, dessen am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts entstandenes Lehrbuch der Rhetorik auch einen Abschnitt zur Grammatik enthält, stellt zu ihr fest, sie sei unabdingbar für die Jungen, angenehm für die Älteren und ein erfreulicher Begleiter, wenn man sich zurückzieht.11 Zunächst sei exemplarisch knapp der Typus des Zugangs vorgeführt. In einem zweiten Schritt wird es um die epistemologische Fundierung der hier

8 Ein heuristischer Ansatz zweier solcher idealtypischer Grundformen bei Thomas Leinkauf, „Spätantike ‚Hermeneutik‘ und ihre Bedeutung für die frühe Neuzeit“, in: kunsttexte.de, 1/2012, S. 1–16. Leinkauf zeigt für die spätantike Interpretationstheorie in Hinblick auf philosophische Texte das enge Ineinandergreifen dieser beiden Modi und entwirft ein erhellendes Modell, wie das eine auf das andere aufbaue. 9 Sen. Epist. mor. 88, 5. 10 Marius Victorinus, „Ars grammatica“, in: Grammatici Latini, Bd. 6, Heinrich Keil (Hrsg.), Leipzig 1847, S. 188. Zu scientia als empirisches Wissen vgl. Danneberg, „Vom ‚grammaticus‘ und ‚logicus‘ über den ‚analyticus‘ zum ‚hermeneuticus‘“, S. 324. 11 Quint. Inst. 1, 4, 5.

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angenommenen Form des Verstehens in Zusammenhang mit ihrer texttheoretischen Grundlegung gehen. In einer letzten Überlegung gilt es, die Interpretationspraxis in den Rahmen des Leitdiskurses der Textkultur zu stellen.

III Die Behandlung literarischer Autoren, insbesondere von Dichtern, nimmt einen erheblichen Anteil in der hellenistisch-römischen Grammatik ein, die in ihrer kanonisch gewordenen Form zweigeteilt ist: Auf der einen Seite steht die recte loquendi scientia, bisweilen unter besonderer Abgrenzung des Schreibens auch in ratio recte scribendi loquendique geschieden, auf der anderen die enarratio poetarum oder auctorum, die auch unter die Begriffe exegetice oder scientia interpretandi poetas atque historicos gefasst wird. Die beiden Teile unterscheiden sich in methodischer Hinsicht tiefgreifend: Während die ‚Kunde vom richtigen Sprechen und Schreiben‘ als methodice beschrieben, ihr also eine systematische und in Regeln fassbare Verfahrensweise zuerkannt wird, figuriert die Dichterexegese unter dem Stichwort historice: Damit ist eine nichtsystematisierbare Wissensform beschrieben – historia bezeichnet speziell das Sachwissen –, was eine kasuistische, dabei auf die Einzelheiten des Textes gerichtete Verfahrensweise nach sich zieht.12 Die Autorenlektüre wird unter dem Oberbegriff des Verstehens eingeführt, was sich zunächst auf das Lesen im technischen Sinne bezieht: Es geht um die fehlerfreie Artikulation eines Textes, indem die Worte richtig abgetrennt und Sinnabschnitte gesetzt werden; aus den materiellen Bedingungen der scriptio continua erhellt, dass es als erhebliche Anforderung beschrieben werden kann, Augenbewegung und stimmliche Artikulation zu koordinieren.13 Doch wird zugleich explizit festgehalten, es reiche nicht aus, die Dichter laut lesen zu können; man müsse vielmehr jede Art von Schriftstellern durcharbeiten.14 An diese Forderung des Durcharbeitens wird noch ein aufschlussreicher Zusatz angefügt: Damit würden die Fundamente des künftigen Redners gelegt.15

12 Das erste Zeugnis für die Zweiteilung bei Quint. Inst. 1, 4, 2 und 1, 9, 1, doch ist sie älter: vgl. Wolfram Ax, Quintilians Grammatik (‚Inst. or.‘ 1, 4–8). Text, Übersetzung und Kommentar, Berlin, New York 2011, S. 95 (dort auch die konkurrierenden Systeme). Zur Methodik sowie zur kulturellen ‚Systemstelle‘ im Diskurs Herbert Jaumann, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden 1995, S. 52–57. 13 Quint. Inst. 1, 8, 1–2 wird als Quintessenz der lectio festgehalten: intellegat – der Lesende solle den Text verstehen. Der Hinweis auf die technischen Anforderungen ebd. 1, 1, 34. 14 Ebd. 1, 4, 4: „Nec poetas legisse satis est: excutiendum omne scriptorum genus.“ 15 Ebd. 1, 4, 5.

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Hier wird in aller Klarheit festgehalten, dass solches interpretari nicht Selbstzweck ist. Die Funktion der Autorenlektüre auf der nächsthöheren Stufe, dem Rhetorikunterricht, besteht darin, Muster zur Nachahmung zu liefern, um mit ihrer Hilfe den eigenen sprachlichen Ausdruck zu üben. Dazu allerdings ist es notwendig, jene Autoren vorher möglichst genau verstanden zu haben. Verstehen bildet damit im Rahmen eines produktionsorientierten Literatursystems eine hierarchisch untergeordnete Voraussetzung – ein Bedingungsgefüge, dessen Aufhebung einen durchaus spannungsvollen Prozess darstellen wird. Den umfassendsten praktischen Einblick, welche Form des Verstehens von Dichtung in der römischen Antike als Standard eingeübt worden ist, gibt der Vergilkommentar des Servius, der aus der Wende des vierten zum fünften Jahrhundert stammt. Institutionell in den Rahmen des Grammatikunterrichts gehörig, schöpft er zugleich aus vier Jahrhunderten kritischer Auseinandersetzung mit Vergil. Nicht zuletzt durch die vielen Spuren vorangehender Kontroversen ist er ein vorzügliches Zeugnis der exegetischen Kultur der römischen Kaiserzeit. Wie solches ‚Durcharbeiten‘ konkret vonstatten geht, sei exemplarisch an der Behandlung der beiden Anfangsverse des vierten Aeneis-Buchs näher verfolgt.16 Zunächst die zur Rede stehenden Verse:17 „At regina gravi iamdudum saucia cura / vulnus alit venis et caeco carpitur igni.“ Es wird im Folgenden nicht ohne Einzelheiten abgehen, wie sie eben jenes ‚Durcharbeiten‘ kennzeichnen; es ist mit Bedacht auch die Reihenfolge des ‚Interpretierens‘ beibehalten und nicht durch eine systematische Ordnung ersetzt. Der Exegese der Verse steht zunächst eine praefatio voran, in der allgemeinere Fragen zum Buch behandelt werden. Sie liefert damit einen ersten Aufschluss über den Problemhorizont; als Felder lassen sich Vorlage, Inhalt und narrative

16 Text in: Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, Bd. 1, Georg Thilo/ Hermann Hagen (Hrsg.), Leipzig 1881, S. 459 f. (hiernach, wenn nicht anders angegeben, zitiert); vgl. auch die editio Harvardiana: Servianorum in Verg. carm. comm., Bd. 3, Arthur F. Stocker [u.a.] (Hrsg.), Oxford 1965, S. 247–249. Die komplexe Frage der Danielis-Scholien wird hier nicht näher verfolgt, da es um den Typus der Erklärungsmethode geht; infolgedessen sind jedoch, insofern keine homogene Verfasserschaft vorliegt, die gelegentlich alternativen Erklärungsansätze an dieser Stelle nicht unter dem Kriterium der Konsistenz untereinander zu betrachten. Einen guten Zugang zu Servius bietet Anne Uhl, Servius als Sprachlehrer. Zur Sprachrichtigkeit in der exegetischen Praxis des spätantiken Grammatikunterrichts, Göttingen 1998. In jüngerer Zeit wird Servius’ Exegese zunehmend auch als ‚Interpretation‘ betrachtet: Vgl. die einzelnen Beiträge in Sergio Casali/Fabio Stok (Hrsg.), Servio. Stratificazioni esegetiche e modelli culturali/Servius: Exegetical Stratifications and Cultural Models, Brüssel 2008. 17 Verg. Aen. 4, 1–2, in wörtlicher Übersetzung: „Die Königin [sc. Dido] indes, längst schon versehrt von schwerer Liebessorge, nährt in ihren Adern die Wunde und wird von blindem Feuer ergriffen.“  

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Strukturen ausmachen. Es beginnt mit einem Hinweis auf Apollonius Rhodius’ Behandlung der liebenden Medea in dem Epos Argonautica, aus deren drittem Buch das gesamte vierte Aeneis-Buch übertragen sei.18 Die Angabe ist überraschend. Zwar ist unter der Rahmenbedingung einer Kompositionstechnik, die vermittels imitatio und aemulatio verfährt, die Frage nach vorausliegenden Mustern durch das Literatursystem vorgegeben, doch tritt sie auf der Stufe der Grammatik in der Regel in den Hintergrund. Hier hingegen scheint der Erklärer die Strategie zu verfolgen, mit dem Stichwort Medea eine Interpretationslinie für das Buch vorzugeben.19 Denn im Fortgang wird es dadurch charakterisiert, dass es fast zur Gänze in Liebe bestehe, möge es zum Schluss auch, wo Aeneas’ Weggang Schmerz auslöse, Leid haben. Mit Nachdruck wird also das Liebesthema ins Zentrum gerückt, um dies schließlich noch aus einer Gesamtphysiognomie des Buchs heraus zu bekräftigen: „nam paene comicus stilus est; nec mirum, ubi de amore tractatur.“ Hier einen komischen Stil zu erkennen erscheint dem Pathos des Buchs gegenüber unangemessen, indes geht es um eine klare und deutliche Markierung des Inhalts.20 Die Aussage ist gattungstheoretisch wohlfundiert, da Liebesthematik als das charakteristische inhaltliche Merkmal der Komödie gilt; und in einem nach dem Redekriterium geordneten Gattungsschema, in dem das Epos, insofern es narrative und dramatische Bauelemente verbindet, als genus mixtum klassifiziert wird, gehört die Übertragung von Merkmalen und Bauelementen zwischen den Gattungen zum Argumentationsrepertoire. Gleichwohl ist die Akzentsetzung auffällig – ganz anders etwa die Lektüre des Augustinus, dem in der Erinnerung Didos Tod als das zentrale Ereignis erscheint.21 Das interpretatorische Interesse wird hier entschieden auf die Ausgestaltung des Zentralmotivs selbst gelenkt und nicht auf einen Sinnhorizont, in den dieses nochmals eingebettet wäre. Bei dem dritten vorab behandelten Problem schließlich bezieht Servius explizit in einer Diskussion Position. Es geht um die Frage, wie das vierte Buch an

18 Serv. Aen. 4 praef.: „Apollonius Argonautica scripsit et in tertio inducit amantem Medeam: inde totus hic liber translatus est.“ 19 Auf dem Hintergrund, dass Vergils Hauptreferenz Homer ist – dies hatte auch Servius selbst in der praefatio seines Kommentars festgestellt –, ist der Verweis bereits von der Sache her auffällig, wenn auch nicht singulär und ohnehin in dem Grundsatz begründet, dass imitatio sich auf eine Pluralität von Modellen richtet: vgl. Macr. Sat. 5, 17, 4, wo allerdings vom vierten Buch der Argonautica die Rede ist. 20 Systematisch zu der Passage William S. Anderson, „Servius and the ‚Comic style‘ of Aeneid 4“, in: Arethusa, 14/1981, S. 115–125; vgl. auch Ulrich Schmitzer, „Theater ohne Bühne. Macrobius und Servius über das Drama“, in: Joachim Fugmann [u.a.] (Hrsg.), Theater, Theaterpraxis, Theaterkritik in der römischen Kaiserzeit, München 2004, S. 59–81, hier S. 72–76. 21 Augustin. Conf. 1, 13, 20.

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das vorangehende angeschlossen ist; die Erläuterung belegt rege Auseinandersetzungen bis hin zu der Extremposition, die beiden Bücher seien völlig unverbunden.22 Servius selbst folgt beim Aufweis, welch subtile Technik des Anschlusses der Autor anwende, einer Betrachtungsweise, die am Kriterium struktureller Konzinnität ausgerichtet ist. Nach diesen einleitenden Klärungen folgt der Hauptteil der Exegese, die von Vers zu Vers und darin wieder einzelwortbezogen vorgeht. Auch hierin zeigt sich ein Zugriff, in dem unterschiedliche Interpretationsebenen ineinandergreifen. Das wird bereits an der ersten Erläuterung zum Wort regina deutlich. Die Wortwahl wird zunächst gelobt: „sane bene REGINA “; der Exeget ist zugleich Kritiker und argumentiert innerhalb eines normativen Gerüsts, das solche Wertung erlaubt, wobei allerdings eine gewisse Rekursivität besteht, da die Musterautoren und zumal Vergil wiederum Garanten dieser Norm sind und späterhin nachgerade zu Zeugnissen werden, aus denen sie abgeleitet wird. Zur Begründung des Lobs wird das semantische Feld ausgefaltet, das mit jener Wortwahl aufgerufen werde: Die zentrale Liebesthematik sei durch das einleitende regina, das ihre dignitas evoziere, bereits in ein Spannungsfeld gesetzt, das die Grundbewegung des Buchs enthalte. Zunächst wird dies in Hinblick auf Denken und Handeln der Protagonistin ausgeführt: Aus dieser Bezeichnung erhelle der Grund für Didos Scham und ihre Gedankenbewegungen. Daran schließt sich die Perspektive des Handlungsverlaufs – in dem Wort sei bereits die Schwierigkeit enthalten, dass die Liebe zum Erfolg komme –, um schließlich die narrative Makrostruktur daraus abzuleiten: Zuletzt erscheine nach dem Verlust der Keuschheit von daher auch ihr Tod gerechtfertigt. Für die Verfahrensweise lässt sich damit festhalten, dass die Eingangsjunktur in einem umfassenden interpretatorischen Zugriff als perspektivische Voreinstellung auf das gesamte Buch verstanden wird. Die nächste Erläuterung gilt der elementaren Anforderung des genauen Wortverständnisses. Zu iamdudum wird die Alternative geboten, entweder sei es im Sinne der Intensivierung („sehr “ oder „allzu sehr“) oder zeitlich („schon längst“) zu verstehen. Die Deutung war in der antiken Philologie umstritten, wie der Verweis auf eine Parallelstelle bei Terenz erweist, die hier als Zeugnis für die erste Bedeutung angeführt wird.23 Für die zweite Möglichkeit hingegen wird ein Argument aus der Narrativik beigezogen, indem nach dem exakten Anfangspunkt gesucht wird, ab dem Dido von Liebe erfasst worden sei. Auch dies geschieht wieder in alternativer Form: entweder mit dem ersten Erblicken des Aeneas, wozu

22 Vgl. dazu auch Uhl, Servius als Sprachlehrer, S. 278. 23 Ter. Eun. 448, mit dem Kommentar von Donat.

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der entsprechende Vers aus dem ersten Buch aufgerufen wird; oder mit dem Einsatz von Aeneas’ Erzählung im zweiten Buch; oder schließlich mit dem Auftreten Cupidos in der Gestalt des Ascanius, die zu Ende des ersten Buchs ausführlich geschildert wird. Die dritte Erklärung immer noch zum Eingangsvers gilt dem Schlüsselwort saucia, zu dem zunächst eine syntaktische Vervollständigung aus Vers 2 (vulnus alit) gegeben und daran eine inhaltliche Interpretation geknüpft wird, wiederum durch die Wertung bene hervorgehoben. „Versehrt“ sei als Anspielung auf Cupidos Wirken mit seinen Pfeilen und mit seiner Fackel zu verstehen. Mit den Pfeilen wird der Bogen zur bereits erwähnten Szene aus dem ersten Buch geschlagen, mit dem zweiten auf die Wendung et caeco carpitur igni im nächsten Vers vorausgewiesen: Die Aufmerksamkeit gilt also der narrativen Verankerung der Metaphorik. Schließlich das letzte Wort dieses ersten Verses, cura, das hier in der ungewöhnlichen Nebenbedeutung ‚Liebessorge‘ verwandt und von daher erklärungsbedürftig ist. Dazu wird ein dreifacher Anlauf unternommen: Zunächst wird es mittels Paraphrase erklärt, die durch einen Pleonasmus noch nachdrücklicher erscheint: Es bedeute hier „unerträgliche Liebe, die einer nicht ertragen könne“, durch eine Parallelstelle aus dem Buchende zusätzlich belegt. Daran schließt sich eine etymologische Herleitung, wie sie fest zum Erklärungsrepertoire der antiken Philologie gehört: Es heiße cura daher, weil sie cor urat, „das Herz verbrenne“. Und schließlich folgt noch die Urform einer rein grammatikalischen Betrachtungsweise, die nur auf die Wortform achtet: cura sei hier unter Vermischung von Verb und Nomen gesagt, da von der Form her beides nicht auseinanderzuhalten sei; denn cura sei auch ein Verb – wobei der Imperativ durch die Konjunktivform cures verdeutlicht wird –, wenn es nicht ein Nomen sei.24 Aus dieser außerordentlich detaillierten Interpretation des ersten Verses dürften bereits einige Grundzüge der Vorgehensweise des Exegeten deutlich geworden sein: Zum einen werden semantische Implikationen im Blick auf narrative Struktur und Motivation entfaltet; zugleich soll das genaue Verständnis jedes einzelnen Worts sichergestellt werden, was sowohl lexikalisch wie durch narrative Kontextualisierung geschehen kann.

24 Dies ist eine Sichtweise, die ihre eigene Wirkungsgeschichte entfalten wird: An einer Nahtstelle in der Ausdifferenzierung von Sprach- und Literaturwissenschaft erklärt Franciscus Sanctius, Verfasser der wirkungsmächtigsten Renaissancegrammatik, ein vollkommener ‚Interpret‘ in seinem Sinne sei jener, der in den Schriften Ciceros oder Vergils erkenne, welches Wort ein Nomen und welches ein Verb sei, auch wenn er den Sinn der Wörter nicht verstehe (Franciscus Sanctius, Minerva seu de causis linguae Latinae [1587]. Nachdruck der editio princeps, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1986, I 2, S. 8 v).

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Wir wollen uns noch einem weiteren Typus zuwenden, der Sacherklärung, der in der exegetischen Praxis eine herausgehobene Bedeutung zukommt; bei Quintilian firmiert sie unter dem Stichwort historice nachgerade als methodischer Oberbegriff der gesamten Dichterinterpretation.25 Eine solche Sacherklärung findet sich etwa gleich anschließend beim zweiten Vers zu der Wendung, die Königin nähre die Liebeswunde in ihren Adern: vulnus alit venis. Venis, so wird erläutert, sei gewählt, weil die Liebe durch die Adern laufe. Doch scheint dem Erklärer noch nicht ohne Weiteres deutlich, wie denn genau die Liebe durch die Adern fließe, weshalb der Sachverhalt weiter veranschaulicht wird, wiederum in Form einer Alternative: zunächst „wie das Blut“. Da jedoch auch das noch nicht klar genug erscheint, wird die Brücke mittels eines Syllogismus hergestellt: Denn im Blut sei die anima, und in der anima wieder die Liebe, weshalb, wie zu ergänzen ist, im Blut die Liebe sei. Der Schluss führt hier allerdings an die Grenzen logischer Abbildung metaphorischer Bezüge, da er mit verschiedenen Abstraktionsebenen des Worts anima arbeitet, das im ersten Fall die Lebenskraft, im zweiten die Seele als Ort der Lebenskraft meint, weshalb die Lebenskraft in anderer Weise ‚im Blut‘ ist als die Liebe ‚in der Seele‘. Alternativ wird dann angeboten, Liebe fließe durch die Adern wie Gift: eine Analogiebildung, die in der Sache für nicht weiter erklärungsbedürftig gilt. Stattdessen führt Servius zwei einschlägige Stellen im ersten Aeneis-Buch an: Als Venus Cupido den Auftrag erteilt, er solle in Aeneas Liebe zu Dido entzünden, fasst sie das in das Bild, er solle sie durch Gift täuschen; wenig später findet sich diese Bildebene in der Wendung aufgenommen, Dido trinke die Liebe.26 Aus solchen Zeugnissen wird klar, dass der Detailreichtum der Beobachtungen des Exegeten das interpretatorische Äquivalent der Sorgfalt darstellt, mit der die Aeneis bis ins Einzelne hinein durchkomponiert ist: literarästhetisch somit die alexandrinischen Prämissen der ‚Arbeit der Feile‘ vorliegen. Die ausführliche Erklärung zielt hier offensichtlich darauf, den geschilderten Vorgang bildhaft vorstellbar zu machen. Aus diesem Ziel entwickelt sich in der exegetischen Praxis nun eine veritable Realienkunde unter der Vorannahme, dass man einen Text nur verstehen könne, wenn man auch über alle Dinge genau Bescheid wisse, von denen er handele. Aus solcher Erklärungsrichtung entsteht der Impuls, jeden genannten Gegenstand oder Sachverhalt möglichst präzise in der Wirklichkeit zu verorten, handele es sich um einen Vorgang aus der Natur, eine geographische Angabe oder einen sonstigen Gegenstand. Das kann in eine Anhäufung von Wissensschätzen münden – eine Tendenz, von der spätere Kom-

25 Quint. Inst. 1, 9, 1; vgl. Anm. 12. 26 Verg. Aen. 1, 688 und 749.

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mentare nicht immer frei sind –, so dass Quintilian den Stoßseufzer tut, er rechne es unter die Tugenden des Philologen, manche Dinge nicht zu wissen.27

IV Es bleibt näher zu fragen, auf welchen epistemischen Voraussetzungen solcherart Dichterinterpretation ruht. Jene Praxis der Erklärung, die es hier exemplarisch an zwei Aeneis-Versen vorzuführen galt, mag auf den ersten Blick als eine Anhäufung von Einzelheiten erscheinen – und dass dies tatsächlich eine Gefahr darstellt, ist nicht zu übersehen. Methodisch zielt die enarratio offenkundig darauf ab, jedes einzelne Wort deutlich werden zu lassen: in lexikalischer Hinsicht, in seinen textuellen Bezügen und in Hinblick auf die bezeichnete Sache. Dies stellt eine bestimmte Stufe des Textverstehens dar, die über jener ersten angesiedelt wird, einen Text in lauter Lektüre fehlerfrei zu artikulieren. Beim ‚Durcharbeiten der Dichter‘ geht es vielmehr darum, res und verba zu erfassen und in Hinblick auf sie möglichst vollständige Klarheit herzustellen. Res und verba sind die beiden Basisbegriffe des hellenistisch-römischen Textmodells – noch Julius Caesar Scaliger, dessen Poetik in diesem Textkonzept gründet, hält fest, dies sei eine vollständige Disjunktion.28 Es liegt nun auf der Hand, dass bei einem Textmodell, das auf einer solchen Disjunktion beruht, ein bestimmter Horizont für die Tätigkeit des interpretari bereits mitgegeben ist. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das Gebiet der Realien, bei dem mit großem Nachdruck das Kriterium der Sachrichtigkeit angewandt wird. Ein hervorgehobenes Zeugnis ist wieder die Vergilkritik, wobei sich im Zuge der exegetischen Praxis und in gewisser Weise als Effekt der Kanonisierung das Urteil herausgebildet hat, dass sich der Dichter nicht irre. Dem entspricht, dass die beiden Gipfelwerke der höchstrangigen Gattung – denn dieselbe Vorannahme gilt für Homer – als gültige Belege für die Verhältnisse in Natur und Lebenswelt behandelt werden: Man kann die Realien aus ihnen lernen – und man tat es in breitem Umfang. Auf dem Hintergrund der impliziten dichtungstheoretischen Voraussetzungen erscheint das allerdings durchaus erstaunlich, denn der Interpretation von Dichtung liegt zugleich ein klares Fiktionsmodell zugrunde. Ein extremer Realis-

27 Quint. Inst. 1, 8, 21. 28 Julius Caesar Scaliger, Poet. 3, 1 (Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hrsg., übers., eingel. und erl. von Luc Deitz/Gregor VogtSpira, 6 Bde., Stuttgart/Bad Cannstatt 1994–2011, Bd. 2, S. 60, Z. 15 f.).  

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mus auf der einen Seite und eine klare Zuordnung von Dichtung zum Bereich der Fiktionalität: Es bleibt zu fragen, wie dies zusammenpasst. Bei Servius findet sich zu einem Vers aus dem ersten Aeneis-Buch eine bemerkenswerte Ausführung zum Thema:29 Et sciendum est, inter fabulam et argumentum, hoc est historiam, hoc interesse, quod fabula est dicta res contra naturam, sive facta sive non facta, ut de Pasiphae, historia est quicquid secundum naturam dicitur, sive factum sive non factum, ut de Phaedra.

Hier ist zunächst die etablierte Dreiteilung in historia, argumentum und fabula – in anderer Terminologie res vera, res ficta und res fabulosa – vorausgesetzt, wie sie sich seit dem ersten Jahrhundert v. Chr. in Rom beobachten lässt.30 Sie steht im Kontext der Einführung lateinischsprachiger Rhetorenschulen und wird dann zu einem Grundwissen. Dass dabei res fabulosae, mythische Stoffe, die weder wahr noch wahrscheinlich seien, mit solcher Entschiedenheit abgegrenzt werden, erklärt sich aus der Genese der Dreiteilung im Zusammenhang der Theorie der narratio, des erzählend-darlegenden Teils der Gerichtsrede: Denn hier ist der Umstand, dass eine Sache sich tatsächlich so abgespielt haben könnte, für die Glaubwürdigkeit unabdingbar. Die ficta res andererseits – was, insofern fingere einer der geläufigen Begriffe für ‚dichten‘ ist, rasch zum Terminus wird, der den Gegenstand von Literatur insgesamt bezeichnet – findet sich dadurch charakterisiert, dass sie geschehen könne: Sie ist zwar nicht wahr, doch wahrscheinlich; dabei wird ihr zunächst speziell die Gattung der Komödie aufgrund ihres lebensweltlichen Stoffes und dem Ideal der Lebensechtheit zugeordnet. Das Auffällige an der Erläuterung, die Servius bietet, ist nun, dass hier die traditionelle Dreiteilung in eine Zweiteilung überführt wird nach dem Kriterium des Verhältnisses zur Natur (secundum / contra naturam). Das Unterscheidungsmerkmal hingegen, ob etwas geschehen ist oder nicht (sive factum sive non factum), wird ausdrücklich aufgehoben; dem Geschehenen wird die Möglichkeit, dass etwas geschehen sei, gleichgestellt. Damit sind Fiktionales und Historisches zusammengeführt: Poetologisch, also im Kontext der Interpretation von Texten,

29 Serv. Aen. 1, 235 Th.-H.: „Und man muß wissen, daß zwischen fabula und argumentum, d.h. historia, folgender Unterschied besteht, daß fabula eine Sache genannt wird, die widernatürlich ist, sei sie geschehen oder sei sie nicht geschehen, wie die Geschichte von Pasiphae, historia hingegen etwas ist, was naturgemäß erzählt wird, sei es geschehen oder nicht geschehen, wie die Geschichte von Phaedra.“ Dazu Caterina Lazzarini, „Historia/fabula: forme della costruzione poetica virgiliana nel commento di Servio all’Eneide“, in: Materiali e discussioni, 12/1984, S. 117–144, hier S. 120–126, die darin den „tono enunciativo di una formula teorica“ (S. 121) erkennt. 30 Die Hauptquellen sind: Auctor ad Her. 1, 13; Cic. De inv. 1, 27; Quint. Inst. 2, 4, 2.

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macht es keinerlei Unterschied, ob Reales außertextlich gegeben ist oder ob es literarisch dargestellt und durch den Leser oder Hörer entsprechend vorgestellt wird. Solche Neutralisierung der Opposition ‚geschehen – nicht geschehen‘ und das komplementäre Zusammenfallen von res vera und res ficta in eine einzige Kategorie erschien manchem als Gefahr eines perspektivischen Irrtums – und könnte in der Tat auch so erscheinen, wenn es an den Distinktionen in der aristotelischen Poetik gemessen wird.31 Indes hat das grammatisch-rhetorische Textmodell eine andere literaturtheoretische Basis als die aristotelische Poetik, deren eigentliche Wirkungsgeschichte ohnehin erst mit der Kommentierung durch Robortello 1548 beginnt. Denn verständlich wird die Aufhebung des Realitätskriteriums auf dem Hintergrund der spezifisch hellenistisch-kaiserzeitlichen Poetik, die in einem Wahrnehmungsmodell gründet und bei dem die maßgebliche Zielvorstellung des literarischen Verfahrens darin besteht, dem Dargestellten sinnliche Präsenz zu verschaffen. An dieser Stelle können nur die großen Linien knapp ausgezogen werden.32 Eine vielfach wiederholte Grundanforderung lautet, die Dinge so darzustellen, dass es ist, als sähe man sie deutlich vor sich: ein Verfahren, das sich unmittelbar mit den Sinnesorganen in Verbindung gebracht findet. Eine Gerichtsrede beispielsweise leiste nicht genug, wenn ihre Kraft nur bis zu den Ohren reiche; ein Richter dürfe von dem, worüber er zu Gericht sitze, nicht glauben, es werde erzählt, vielmehr es werde herausmodelliert und zeige sich vor dem geistigen Auge.33 Jenes ‚geistige Auge‘ ist das Vorstellungsvermögen, die Imaginationskraft, „durch die die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt werden, dass wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben.“34 Darin steckt, wie die geläufige etymologische Verbindung von Präsenz mit den Sinnen zeigt, nichts weniger, als dass Worte, wenn sie Abwesendes gegenwärtig machen, es prae sensibus stellen.35 Dieselbe Konzeption ist auch in

31 Lazzarini, „Historia/fabula“, S. 123; bei allen scharfsinnigen Beobachtungen ist sie in ihrer Orientierung am „principio aristotelico della verosimiglianza“ (S. 133) von der Rückprojektion der frühneuzeitlichen Uminterpretation der ‚aristotelischen Wahrscheinlichkeit‘ auf den kaiserzeitlichen Text geprägt. 32 Ausführlicher dazu Gregor Vogt-Spira, „Secundum verum fingere. Wirklichkeitsnachahmung, Imagination und Fiktionalität: Epistemologische Überlegungen zur hellenistisch-römischen Literaturkonzeption“, in: Antike und Abendland, 53/2007, S. 21–38. 33 Quint. Inst. 8, 3, 62. 34 Ebd. 6, 2, 29. 35 Isid. Etym. 11, 1, 19.

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der Auffassung des Buchstabens zu erkennen, dem die Kraft beigemessen wird, die Worte Abwesender ohne Stimme sprechen zu lassen.36 Das Textmodell gründet mithin in dem Leitideal, dass eine von außen induzierte sowie eine durch Texte auf dem Weg über das Vorstellungsvermögen stimulierte Sinneswahrnehmung nicht als verschieden erlebt werden: Ziel und Leitbild ist die Aufhebung der Differenzwahrnehmung – nicht die Differenz, sondern ihre Eliminierung und das Absehen von ihr organisieren das Modell, was im übrigen eine poetische Artistik entbindet, die bis zu außerordentlichem spielerischen Raffinement reicht. Die Zeugnisse erweisen klar, dass nicht die dyadische Differenz von Text und Wirklichkeit, mag sie auch aus ontologischer Perspektive unhintergehbar sein, sondern die triadische Problemkonstellation ‚Text – Wirklichkeit – Wahrnehmung‘ für das hellenistisch-römische Textmodell relevant ist. Solches Leitbild der Aufhebung der Differenzwahrnehmung hat nun wiederum epistemologische Voraussetzungen: Es erhellt aus dem Kognitions- oder Seelenmodell, durch das Beschreibungsoptionen für den Zusammenhang von physisch-physiologischer Welt und jener des Denkens geschaffen werden. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Imaginationsvermögen (phantasia) zu, deren Einführung in das Seelenmodell als eine Art Zwischenglied, das die Verbindung zwischen sinnlicher Anschauung einerseits und Denken andererseits gewährleisten soll, eine eigentümliche aristotelische Innovation darstellt. Die systematische Begründung wirft eine Reihe von Problemen auf, gleichwohl erlangt phantasia in Hellenismus und Kaiserzeit den Status eines allgemeinen Basiswissens, konzipiert als Scharnierstelle zwischen Sinnen und eigentlichem Erkenntnisakt gemäß der Dreigliederung der Erkenntnisvermögen der Seele in aisthesis, phantasia und noesis, deren Leistungen jeweils aufeinander aufbauen; als solche findet sie sich etwa auch bei Servius.37 Wir können dies hier nicht im einzelnen verfolgen; es sei nur darauf hingewiesen, dass phantasia als Schlüsselfähigkeit konzipiert ist, die den Lautbereich mit Bedeutung versieht, wobei diese Semantisierung als eine Art Bildgestaltung vorgestellt wird. Ferner wird für aisthemata und phantasmata eine Ähnlichkeitsbeziehung angenommen, woraus erhellt, dass das Denken, wenn ihm das eine gleichwie das andere ist, von dem ontologischen Unterschied abzusehen vermag. Die Konsequenz, dass die naturalistische Frage, ob etwas dingliche Existenz besitzt oder nicht, unter bestimmten Voraussetzungen unerheblich wird, hat wiederum unmittelbare Folgen für die Gegenstände der Literatur. Das rhetorischpoetische Textmodell, das Hellenismus und Kaiserzeit beherrscht, mit seinem

36 Ebd. 1, 3, 1. 37 Serv. Verg. Ecl. 2, 60.

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Leitideal, dass eine von außen induzierte sowie eine durch Texte auf dem Weg über phantasia stimulierte Sinneswahrnehmung nicht als verschieden erlebt werden, zeigt sich somit umfassend verankert in einer geläufigen Vorstellung, wie Wahrnehmen und Denken ablaufen. Damit ist nun der Rahmen gegeben, in dem Verfahren und Zielrichtung jener scientia interpretandi poetas stehen, von der wir im vorangehenden Abschnitt eine Probe vorgeführt haben. Der Typus von Interpretation, den die exegetische Methode der Ars grammatica ausgebildet hat, findet sein theoretisches Fundament in der mimesis-Konzeption des hellenistisch-römischen Textmodells, das auf den beiden Grundbausteinen res und verba ruht. Das ‚Durcharbeiten der Dichter‘ besteht eben darin, den Text bis ins Detail hinein für die Vorstellungsbildung verfügbar zu machen.38 Es gilt ihn zum einen als Gegenstand, in seiner Struktur und seinen technischen Mitteln, zu erfassen und darüber hinaus alle grammatikalischen, semantischen und wissensmäßigen Hindernisse auszuräumen, die einer durch phantasia stimulierten Sinneswahrnehmung im Wege stehen könnten. Der Vorstellungsaufbau ist dabei wiederum auf die konkrete dargestellte Sache bezogen. Insofern deren Darstellung nicht punktuell, sondern wie etwa bei Personen komplex ‚komponiert‘ ist, gehören auch Beobachtungen zur Narration und zu weiträumigeren Strukturen in das Repertoire der Interpretation, wie das beispielsweise anlässlich des kunstvoll ausgefalteten Zentralmotivs ‚Liebe‘ bei Dido festzustellen war. Der Neutralisierung des Gegensatzes factum – non factum entspricht dabei, dass die einzelnen Themen wie etwa Liebe als etwas Allgemeines behandelt oder vorausgesetzt werden können, ohne dass die Frage nach einem Allgemeinen selbst im Blickfeld jener Art von Interpretation stehen müsste.39

V Es ist daran zu erinnern, dass das ‚Durcharbeiten der Dichter‘ nicht den Leitdiskurs darstellt, sondern im funktionalen Horizont der imitatio steht: Ziel ist der

38 Damit ist die Vergegenwärtigungsleistung im Übrigen nicht prinzipiell von jener verschieden, die bei jeder Übersetzung eines Textes zu erbringen ist – ohnehin heißt interpretari auch ‚übersetzen‘. 39 Zur aristotelischen Konzeption des Allgemeinen Arbogast Schmitt, „Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik (1451 a 36 – b 11)“, in: Jörg Schönert/Ulrike Zeuch (Hrsg.), Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin, New York 2004, S. 65–95, der den tiefgreifenden Umbruch betont, der mit dem Hellenismus einsetzt.

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souveräne Umgang mit einem Repertoire von Mustern. Darin allerdings bildet solches ‚Durcharbeiten‘ ein notwendiges Zwischenstadium, denn der umfassende Bezug auf vorgängige Texte, der mit imitatio konstitutiv gegeben ist, zieht eine intensive Auseinandersetzung mit jenen Vorlagen nach sich – das Lateinische kennt im Sprachgebrauch sogar einen fließenden Übergang zwischen interpretari und imitari.40 Daher lässt sich aus diesem Bereich der imitatio das Bild über die Interpretationspraxis, die den römischen Umgang mit Texten charakterisiert, noch weiter vertiefen. Die Zeugnisgruppe ist umso aufschlussreicher, als der Vergilkommentar des Servius nur ein ausschnitthaftes Bild von jener empirischen Praxis der Dichterinterpretation liefert und sich die Programmpunkte, die sich für das Verfahren insgesamt erschließen lassen, darin höchst ungleichmäßig behandelt finden. Die Art und Weise zu beschreiben, in der ein Text auf einen vorgängigen Text Bezug nimmt, ihn ‚interpretiert‘, gehört gleichfalls in das Aufgabenfeld der Dichterbehandlung: Es hat seinen Ort in der ‚Beurteilung der Dichtungen‘, der krisis poematon, die im ersten erhaltenen Lehrbuch der Grammatik sogar als deren schönster Teil bezeichnet wird und aus der sich dann später eine eigene Ars critica ausdifferenzieren wird.41 Den umfassendsten Einblick darein bietet die Vergilkritik. Ein besonders ergiebiges Zeugnis ist eine Schrift, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Servius’ Vergilkommentar steht, die Saturnalien des Macrobius, in denen über zwei Bücher hinweg Vergil direkt mit seinen Vorlagen verglichen wird. Die Vorgehensweise erweist sich dabei im Kern als parallel zu jener, die bei Servius festzustellen war. Sie ist ebenso einzelstellenbezogen, dabei sogar ausgesprochen dekontextualisierend, und in diesem Rahmen vorrangig auf die elocutio gerichtet, die das Kriterium liefert, an der imitatio festgestellt und bewertet wird.42 Eines wird dabei überaus deutlich: Innerhalb des Leitdiskurses des Literatursystems und mithilfe des dafür zur Verfügung stehenden Instrumentariums sind Auslegungsfragen weder von Interesse noch beschreibbar. Es verwundert wenig, dass dies in der frühen Neuzeit zunehmend als Mangel betrachtet wird; doch hat es eine hermeneutische Kehrseite, die im Rahmen der

40 Vgl. Arno Reiff, interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern, Bonn 1959, mit der Besprechung von Manfred Fuhrmann, in: Gnomon, 33/ 1961, S. 445–448; vgl. auch Fuhrmann, „Interpretatio“, S. 89 f. 41 Dion. Thrax, Ars grammatica 1; zu den Veränderungen und Verschiebungen der critica umfassend Jaumann, Critica. 42 Zu Macrobius’ Homer-Vergil-Vergleich Gregor Vogt-Spira, „Ars oder Ingenium? Homer und Vergil als literarische Paradigmata“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F., 35/1994, S. 9–31.  

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Verschiebungen unter den artes und der allmählichen Diskreditierung des imitatio-Diskurses in den Hintergrund getreten ist: Denn indem die imitatio-Doktrin und -Praxis Deutungsfragen nicht berührt, lässt sie in dieser Hinsicht auch Freiheit. Der nachahmende Dichter ist nicht im Mindesten durch eine Deutung oder Deutungsabsicht seiner Vorlage gebunden, da diese gar nicht Gegenstand der Nachahmung ist.43 So kann der augusteische Dichter Vergil ein völlig anderes Programm als Homer verfolgen und ihm doch auf das Engste durch die imitatioTechnik verbunden sein, die wiederum auf einer detaillierten Exegesetradition aufruht, wie sie seit dem Hellenismus ausgebildet worden und elementare Voraussetzung aller römischen aemulatio ist. Die Zielrichtung und Spezifik des exegetischen Verfahrens wird damit auch komplementär von der Praxis der literarischen imitatio her begreiflich: Aus dem Leitdiskurs erhellt, dass innerhalb des hellenistisch-römischen Literatursystems für einen eigenen, begrifflich geschlossenen Auslegungsbereich kein Regelungsbedarf besteht.

43 Dies wird in der Interpretationspraxis von Imitationen oft vernachlässigt, indem Maßstäbe einer kontextualisierenden Hermeneutik angesetzt werden, und bedarf dringend einer systematischen Untersuchung.

Sandra Richter, Stuttgart

Kondensierte Interpretationen in Poetik und Literaturtheorie seit Opitz Mit einem Plädoyer für die wohlwollende Interpretation literaturwissenschaftlicher Interpretationen Poetiken, literaturtheoretische Abhandlungen und Literaturgeschichten leben von einem gattungstypischen Phänomen: kondensierten Interpretationen, die als intersubjektiv verbindlich dargestellt und für die eigene Argumentation funktionalisiert werden. Solche Interpretationen, die als Interpretationen an sich einen Anspruch auf vollständige Textdeutung signalisieren, nehmen üblicherweise die Gestalt von Propositionen an. Sie verknüpfen komplexe Sachverhalte, Daten zu oder aus einem Text mit rhetorischen, ästhetischen, poetischen, stilistischen, psychologischen, literatur-, kultur-, sozial- oder mediengeschichtlichen Kontexten. Kondensierte Interpretationen weisen dabei folgende Merkmale auf: 1 Selektivität. Sie wählen selektiv einen Aspekt aus einem Text aus (z.B. eine Figur oder einen bestimmten Abschnitt). 2 Illustrativität/Pauschalität. Ein Aspekt oder Ausschnitt wird stellvertretend für den Gesamttext, mitunter auch für das Gesamtwerk eines Autors gemustert. Solche Musterung bleibt häufig pauschal. Zwar wird zitiert, aber die Zitate dienen vornehmlich illustrativen Zwecken, auch um dem Theoretisieren ausreichend Platz einzuräumen. 3 Simulation von Vollständigkeit und Suffizienz. Kondensierte Interpretationen spiegeln trotz ihrer relativen Kürze vor, einen Text vollständig und zureichend zu erfassen. Nicht selten geht damit die implizite Voraussetzung einher, solche Interpretationen ruhten auf zuvor erfolgten ausführlichen Auseinandersetzungen mit einem Text, die aber aufgrund des hohen Interpretationswissens, der Expertise und der sicheren Urteilskraft des Interpreten nicht transparent gemacht und nachvollziehbar sein müssen. 4 Finalität. Das Ergebnis solcher kondensierten Interpretationen wird mit dem Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit für bestimmte poetologische oder literaturtheoretische Auffassungen gedeutet. Kondensierte Interpretationen laufen daher Gefahr, teleologisch oder final angelegt und gebraucht zu werden. So entstehen zwar nicht interpretative Donnerworte, aber doch Sätze mit dem Anspruch, im Rahmen eines poetologischen, literaturtheoretischen oder literatur-

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geschichtlichen Gesamtkonstrukts plausibel zu sein. Kondensierte Interpretationen beglaubigen die jeweilige Poetik, Literaturtheorie oder Literaturgeschichte. Sie verbinden abstrahierende Überlegungen, die in der Regel in bestimmten fachlichen Traditionen stehen, mit einem für das Fach relevanten Beleg: dem Bezug auf einen oder mehrere Texte. Solcher Bezug muss eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruchen können, wenn er nicht nur einzelne Phänomene verstehbar machen will. Durch kondensierte Interpretationen (ebenso wie auch durch reflektierte Auseinandersetzungen mit der Forschung) demonstrieren Poetologen, Literaturtheoretiker und -historiker ihr Ethos,1 wobei sie in der Regel auf nicht weiter erklärte Routinen und ihr „tacit knowledge“ zurückgreifen.2 Doch können kondensierte Interpretationen die jeweilige Poetik, Literaturtheorie oder Literaturgeschichte auch konterkarieren oder unterlaufen, entweder, weil sie zu schwach und knapp sind, oder auch, weil sich die jeweilige Theorie komplexeren Interpretations- und Bedeutungskonzeptionen verschreibt und die kondensierte Interpretation das vorgesehene Niveau nicht einlöst. Struktur, Entwicklung und Geltungsanspruch solcher kondensierten und selektiven Interpretationen möchte ich am Beispiel von zwei Gattungen untersuchen, die historisch ineinander übergehen: Poetik und Literaturtheorie.3 Bei Poetiken handelt es sich um Texte, die sich der Literatur seit der Antike in beschreibender, mitunter auch normativer Absicht widmen. Solche Poetiken kennen (im Ausgang von den poetologischen Überlegungen Platons, der Poetik des Aristoteles und der Epistula ad Pisones des Horaz) zunächst vornehmlich die Vorstellung vom Textkommentar, die jedoch, weitgehend parallel mit der Subjektivierung des Denkens und der Entwicklung der Literaturkritik erweitert, und im 19. Jahrhundert in ‚Interpretationen vor der Erfindung der literaturwissenschaftlichen Interpretation‘ überführt wird. Seit der zunehmenden Reflexion auf

1 Vgl. Ruth Amossy, „Ethos at the Crossroads of Disciplines. Rhetoric, Pragmatics, Sociology“, in: Poetics Today, 22/2001, 1, S. 1–23; Alan W. Richardson/Judy Segal, „Introduction. Scientific Ethos: Authority, Authorship, and Trust in the Sciences“, in: Configurations, 11/2003, 2, S. 137–144; Carlos Spoerhase, „Prosodien des Wissens: Über den gelehrten Ton. 1794–1797“, in: Lutz Danneberg/ Carlos Spoerhase/Dirk Werle (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissensgeschichte, Wiesbaden 2009, S. 39–80. – Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit meinem BMBF-Projekt „ePoetics – Korpuserschließung und Visualisierung deutschsprachiger Poetiken (1770–1960) für den Algorithmic criticism“. 2 Vgl. Harry Collins, Tacit and Explicit Knowledge, Chicago 2010. 3 Damit entfallen auch die spezifischen Probleme der Literaturgeschichtsschreibung, wie sie heute unter dem Begriff des distant reading verhandelt werden; siehe dazu Franco Moretti, Graphs, Maps, Trees. Abstract Models for a Literary Theory, London, New York 2005; Jonathan Goodwin/John Holbo (Hrsg.), Graphs, Maps, Trees. Critical Responses to Franco Moretti, Anderson 2011.

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das Problem der Interpretation steigt der methodische Anspruch der Poetiken; seit den 1950er Jahren gebrauchen ihre Autoren zunehmend das Etikett ‚Literaturtheorie‘, um sich von der als prä-reflexiv empfundenen Poetik der Vorzeit abzugrenzen – eine Abgrenzung, die mitunter auf der geringen Wahrnehmung vorhergehender, durchaus anspruchsvoller Ansätze beruht.4 Gleichwohl unterscheiden sich Poetik und Literaturtheorie unter einem hier zentralen Aspekt: der Aufmerksamkeit für das Problem der Interpretation. Poetiken versuchen, einen methodischen und begrifflichen Kanon für die Untersuchung – mitunter auch für die Verfertigung – von (literarischen) Texten zu erproben. Literaturtheorien verengen und erweitern dieses Vorhaben zugleich auf spezifische Interpretationsprobleme und Fragen der Begriffsexplikation. Poetiken und Literaturtheorien überlagern sich dabei mit philosophischen Ästhetiken und Methodologien, einer in der Literaturwissenschaft vornehmlich in den 1910/20er Jahren wichtigen Gattung, sowie der sogenannten Einführungsliteratur, die nach der NS-Zeit zunächst einen ideologisch entschlackten methodischen und begrifflichen Kanon für das Fach formuliert und seitdem vielfach in je anderer Gestalt auflebt. Ziel des Beitrags ist erstens, das Phänomen der kondensierten Interpretation als Praktik der Literaturwissenschaft vor und nach ihrer Erfindung als Disziplin zu skizzieren. Zweitens soll nach Unterschieden der jeweiligen kondensierten Interpretationen im Blick auf repräsentative Beispiele aus Poetik oder Literaturtheorie gefragt werden: Bringt ein poetologischer oder literaturtheoretischer Ansatz spezifische Arten der kondensierten Interpretation mit sich? Drittens ist wissenschaftsethisch abzuwägen, wie mit dem interpretationspraktischen und -theoretischen Phänomen der kondensierten Interpretation umzugehen ist.

I Kondensierte Interpretationen in Poetik und Literaturtheorie: Anfänge Beginnt man mit der langen Geschichte der Poetik in der Volkssprache, so fällt der Blick zunächst auf zwei Texte, von denen jeweils behauptet wird, sie hätten das Deutsche als Literatursprache erst geschaffen: Martin Opitz’ Buch von der Teutschen Poeterey (1624) und Johann Christoph Gottscheds rund 100 Jahre später publizierte Critische Dichtkunst (1730). Beide Texte stehen noch in der Kommentartradition, sind aber unterschiedlich angelegt: Opitz widmet seine Apologie der

4 Zur Entwicklung von Poetik und Literaturtheorie Sandra Richter, A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770–1960, Berlin, New York 2010.

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Poesie dem Bürgermeister von Buntzlaw, zielt damit auf öffentliche Wirkung und möglicherweise auf ein politisches Amt. Gottsched hingegen hat das Lese- und Theaterpublikum des frühen 18. Jahrhunderts im Sinn und wendet sich an eine adlige, bürgerliche, auch akademisch gebildete Öffentlichkeit. Wenn Opitz Verstexte oder Dramen zitiert, dann nutzt er diese in erster Linie als Belege für seine Erörterungen zu den Begriffen der Poesie und des Poeten oder als Illustration für seine Thesen zur Verslehre. Opitz aber kommentiert nicht, sondern bietet seine Texte als autoritative Dokumente dar: Auszüge aus Ronsards Sonnets pour Hélène stehen für die Freiheit der Poesie,5 Extrakte aus Vergils Georgica und dem eigenen Trostgetichte in Widerwertigkeit des Krieges für gelungene heroische Gedichte usf.6 Wenn Negativbeispiele benötigt werden, schreckt Opitz nicht davor zurück, die Originale zu Anschauungszwecken zu entstellen. So geschieht es zum Beispiel im Fall des Sprichworts „Der darff nicht sorgen für den spot / Der einen schaden krieget hot“, das (anders als im Original des Burkhard Waldis) mit einer dialektalen Wendung von „hat“ endet und für Sprachunreinheit in der Dichtung dokumentiert.7 Am Beginn der deutschsprachigen Poetik findet sich also ein zeittypisch autoritativer und applikativer, zugleich aber freier Umgang mit Originaltexten, wie er etwa aus Julius Caesar Scaligers in Teilen satirischen Poetices libri septem (1561) bekannt ist, auf die sich Opitz durch die Nennung von Scaligers Namen bezieht.8 Von Interpretationen aber kann bei Opitz ebenso wenig die Rede sein wie von Kommentaren. Die Poetik zeugt eigene Umgangsweisen mit Texten, und diese Umgangsweisen gehen insofern mit den Textpraktiken der Kommentarliteratur konform, als die allermeisten Autoren und Texte noch als Autoritäten einund angeführt werden oder als Negativbeispiele dienen. Die betreffenden literarischen Texte erweisen sich dabei – dem Textverständnis der Zeit entsprechend – weniger als originelle fiktionale Dokumente denn als poetische exempla. Im Fall Gottscheds liegt die Sache anders. Er entwickelt seine Critische Dichtkunst im Ausgang von einer antiken Autorität, einem kanonisch gewordenen poetischen Text: von der Epistula ad Pisones, vulgo Ars poetica des Horaz. Schon aus diesem Grund scheint Gottscheds Poetik unmittelbar an die Kommentartradition anzuknüpfen. Die Epistula wird Gottsched Vorbild und Korrektiv. Um sie zu erörtern und in den eigenen Text einzubeziehen, nutzt er vor allem drei Verfahren: erstens kontextualisiert er die Epistula. Er ordnet sie in den Zusammen-

5 Martin Opitz, Buch von der Teutschen Poeterey, Breßlaw [Breslau] 1624, 3. Kapitel, C recto. 6 Ebd., 5. Kapitel, Ciiii recto–Dii recto. 7 Ebd., 6. Kapitel, E recto. 8 Ebd., 1. Kapitel (Vorrede), B recto. Den satirischen Gestus Scaligers übernimmt Opitz allerdings nicht.

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hang literarischen Verfalls im zeitgenössischen Rom ein und beschreibt Horaz als Reformator der Dichtkunst,9 der seine Regeln aus der Lektüre der Alten schöpft. Dabei vernachlässigt Gottsched bewusst den literarischen Kontext der Verssatire und beschreibt die Epistula – anknüpfend an eine lange Tradition der EpistulaKommentare – als regelpoetisches Werk, eben als eine ‚ars poetica‘.10 Der Kommentartradition ist auch ein zweites Verfahren des Umgangs mit dem Text abgeschaut: das Rezeptieren.11 Gottsched variiert die bekannten Verse, die in der Kommentartradition als Lehren des Horaz identifiziert, zum Merksatz gekürzt und tradiert wurden. So pflichtet Gottsched Horaz emphatisch bei, wenn es um den Zweck der Dichtkunst geht: Der wird vollkommen seyn, der theils ein lehrreich Wesen, Und theils was liebliches durch seinen Vers besingt; Zum theil dem Leser nützt, zum theil Ergetzung bringt. Dichtk. v. 495.12

9 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig 1730, Horatius von der Dicht-Kunst. Vorbericht, S. 3–9, hier: S. 4 f.: „In dieser Absicht [der Absicht, die zeitgenössische Dichtkunst zu reformieren] nun trug er aus den griechischen Scribenten, so vor ihm davon geschrieben hatten, die vornehmsten Hauptregeln zusammen, und verfertigte ein herrliches Gedichte daraus. Er richtete solches an die Pisones, das ist an den Vater Piso, der mit dem Drusus Libo im Jahr der Stadt Rom 738, als Horatius ein und funfzig Jahr alt war, Bürgermeister geworden; und an dessen Söhne. Dieser Piso war ein Liebhaber und grosser Kenner der Poesie, und sein ältester Sohn mochte selbst viel Lust und Naturell dazu haben, wie aus dem Gedichte sattsam erhellen wird. Diesen ansehnlichen Leuten, die am Käyserlichen Hofe in grossen Gnaden stunden, wollte Horatz eine Richtschnur in die Hand geben, darnach sie sich in Beurtheilung aller Gedichte achten könnten; zu gleicher Zeit aber den guten Geschmack des Hofes in gantz Rom und Italien ausbreiten: nachdem er sich selbst, durch unabläßigen Fleiß in Griechischen Büchern, sonderlich durch Lesung der critischen Schrifften Aristotelis, Critonis, Zenonis, Democriti und Neoptolemi von Paros, in den Regeln desselben recht fest gesetzet hatte.“ 10 Zur Tradition der Horaz-Kommentare Sandra Richter, „Außer Konkurrenz? Die Ars poetica des Horaz in Kommentar und Poetik des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Ulrich Heinen [u.a.] (Hrsg.), Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, Bd. 2, Wiesbaden 2011, S. 933–956. 11 Gottsched, Critische Dichtkunst, S. 5: „Indessen muß niemand dencken, daß hier der Poet ein vollständiges systematisches Werck habe machen wollen. Die größten Bewunderer desselben gestehen, daß es ohne alle Ordnung geschrieben sey, und bey weitem nicht alle Regeln in sich fasse, die zur Poesie gehören. Der Verfasser hat sich an keinen Zwang einer philosophischen Einrichtung binden wollen; sondern als ein Poet nach Veranlassung seiner Einfälle, bald diese bald jene Poetische Regel in einer edlen Schreibart Vers-weise ausgedrückt. Aber alles was er sagt ist höchstvernünftig, und man kann sich von seinen Fürschrifften kein Haar-breit entfernen, ohne zugleich von der Wahrheit, Natur und gesunden Vernunft abzuweichen. Die unordentliche Vermischung seiner Regeln dienet nur dazu, daß durch diese Mannigfaltigkeit, und unvermuthete Abwechselung der Sachen, der Leser destomehr belustiget und eingenommen werde.“ 12 Ebd., Capitel I., § 32, S. 77.  

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Vergleichbares gilt für das proprium der Literatur. Gottsched diskutiert das Diktum des Aristoteles, dass die Poesie vor allem der Mimesis (bei Gottsched heißt es: „Nachahmung“) geneigt sei.13 Gottsched notiert gleichwohl mit Horaz: Die Fabel laute so, daß sie der Wahrheit gleicht, Und fordre nicht von uns, daß man ihr alles gläube: Man reisse nicht das Kind der Hexen aus dem Leibe, Wenn sie es schon verzehrt. Dichtk. v. 489.14 Kinder und Unwissende bleiben am äusserlichen kleben, und sehen auch eine scandirte und gereimte Prose vor ein Gedichte, und jeglichen elenden Versmacher vor einen Poeten an: Kenner aber halten es mit Horatio […].15

Aus dieser begeisterten Anlehnung darf geschlossen werden, was die Critische Dichtkunst insgesamt bestätigt: Gottsched inszeniert sich als ein neuer Horaz, als Reformator der – aus seiner Sicht – degenerierten Dichtkunst und plädiert für eine klassizistische Orientierung an Regeln, wie sie bei Horaz in dieser Form nicht beabsichtigt war. Wenn Gottsched sich damit zwar an die Kommentartradition anlehnt, weicht er aber mit dem Anspruch der aemulatio von ihr ab: Das Werk des Horaz soll durch eine eigene Poetik erneuert werden; dem Vorbild wird auch insofern nachgeeifert, als es dieses zu überbieten gilt. Die Applikation auf Gegenwärtiges dominiert – präziser und gerichteter als bei Opitz – den Dienst am Alten. Es geht Gottsched um ein eigenes Verständnis von Dichtkunst – aus der Revitalisierung des Überkommenen. Opitz hingegen zielt vielmehr auf Partikulares: auf eine Rettung der Dichtkunst gegen Vorwürfe und auf Vorschläge, wie man im Deutschen gelungen versifizieren könnte. Gottscheds Kommentieren geht zwar noch nicht in Interpretieren über, legt aber doch eine Fährte hin zu einem eigenständigen Umgang mit dem Urtext. Vergleichbar orientieren sich die Ästhetiker und Poetologen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Als beste Beispiele können Werke aus dem Umfeld der sogenannten Popularphilosophie gelten, die sich – anders als die Systemphilosophie der Zeit – auch in ihren akademisch ambitionierten Werken mit Literatur auseinandersetzt. Bedeutsam und vielfach gelesen wurden in diesem Zusammenhang vor allem Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste

13 Dazu Ulrike Zeuch, „Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur – Scaligers Begriff des Allgemeinen und seine stoischen Prämissen“, in: Poetica, 34/2002, 1/2, S. 99–124; Dies., „Dichtungstheorie der Frühaufklärung“, in: Aufklärung, 17/2005, S. 117–140. 14 Gottsched, Critische Dichtkunst, Capitel I., § 32, S. 77. 15 Ebd., § 33, S. 78.

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(1771–1774, besonders der Artikel „Dichtkunst“), Johann Joachim Eschenburgs Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783), Johann August Eberhards Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1783) und Johann Jacob Engels Poetik (1806). Sulzer gibt die Richtung vor: Er lehnt die frankophone Ästhetik (Voltaire, Wieland) ab, orientiert sich an Horaz, den er als Gesetzgeber der Dichtkunst auffasst, plädiert für eine Renovierung der deutschen Schriftsprache und Literatur aus einer mehr oder minder an Gottsched anknüpfenden Deutung der Epistula ad Pisones und studiert diese zugleich vor dem Hintergrund einer rationalpsychologischen Theorie der Empfindungsvermögen.16 Mit Eschenburg, Eberhard und Engel tritt eine weitere Differenzierung des Feldes ein, was die textuellen Autoritäten betrifft, denen man sich aber nach wie vor bewundernd zuwendet: Der englische Briefroman, die Form des Gesprächs, des Briefs sowie die Literaturkritik der Insel werden zu Vorbildern der deutschen Theoretiker. Alle drei Popularphilosophen fordern eine Reform der deutschen Dichtkunst aus der Lektüre dieser Vorbilder.

II Kondensierte Interpretation nach klassizistischen Normen: Vischer und Goethe Mit dem Ende der System- und Popularphilosophie sowie dem Aufstieg der neuphilologischen Wissenschaften gewinnen in Poetik und Ästhetik auch die Verfahren der Interpretation und die Absichten, die sich mit solchen Interpretationen verbinden, an Bedeutung. Wohl auch weil die systematisierende Absicht der System- und Popularphilosophie zunehmend in den Hintergrund tritt und Literatur kulturelle Orientierung oder Verstörung verspricht, geraten literarische Werke in verstärktem Maße ins Visier der theoretisierenden Interpreten; sie stimulieren und festigen nun den Geltungsanspruch der Poetik. Die Frage nach der literarischen Qualität entpuppt sich als ein Zentrum der Poetik des 19. Jahrhunderts; das zweite Zentrum liegt in der methodischen Frage, wie sich solche Qualität ermitteln lässt: vermittels rhetorischer Kategorien, spekulativer geschichtsphilosophischer Begriffe oder empirisch, durch die sich in Richtung auf die moderne Psychologie entwickelnde Erfahrungsseelenlehre, die Physiologie oder die Soziologie.

16 Elisabeth Décultot, „Kunsttheorie als Theorie des Empfindungsvermögens. Zu Johann Georg Sulzers psychologischen und ästhetischen Studien“, in: Dies./Gerhard Lauer (Hrsg.), Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2012, S. 81–102.

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An der Wegscheide zwischen beiden methodischen Ausrichtungen steht die sechsbändige Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen (1846–1858) aus der Feder des schwäbischen Dichters und Wissenschaftlers Friedrich Theodor Vischer. Die Forschung hat seine Aesthetik vielfach als inkohärentes Epigonenwerk aus der Hegel-Schule beschrieben17 – und damit die verschiedenen Ansätze sowie den transitorischen Charakter der ästhetischen Überlegungen Vischers verpasst.18 Vischer wendet sich – und dies ist im Gang durch die Bände der Aesthetik sowie aus den mit ihr in Zusammenhang stehenden Texten sichtbar – aus den beobachteten Defiziten im (interpretierenden) Umgang mit der hegelschen Metaphysik19 den empirischen Wissenschaften zu. Seine Aesthetik gibt damit beispielhaft über die Argumentations- und Interpretationsweisen von Poetik und Ästhetik im 19. Jahrhundert Auskunft. Außerdem erweist sich Vischers Aesthetik als eine Enzyklopädie ästhetischer und literarischer Texte. Seine Verarbeitungsleistung ist – gemessen am Stand der Zeit – beeindruckend und wird in der Poetik erst wieder von Wilhelm Scherer (Poetik, postum 1888) eingeholt. Vischers Interpretationsverfahren wandeln sich im Laufe der Zeit jedoch kaum – und auch damit steht sein Werk paradigmatisch für kondensierte Interpretationen, wie sie sich in der Poetik und Ästhetik des Zeitraums, gleich ob der spekulativen, empirischen oder auch der formalistischen finden. Seine Interpretationsverfahren lassen sich als kategorisierend und gattungstheoretisch interessiert, historisierend und wertend beschreiben. Ein Realismus ästhetischer Prä-

17 So etwa die Auffassung von Fritz Schlawe, Friedrich Theodor Vischer, Stuttgart 1959, S. 198. 18 Dazu Sandra Richter, „Die ‚Gunst des Zufalls‘. Friedrich Theodor Vischers ästhetische Schriften als transitorische Dokumente der Wissenschaft vom Schönen“, in: Barbara Potthast/Alexander Reck (Hrsg.), Friedrich Theodor Vischer. Leben – Werk – Wirkung, Heidelberg 2011, S. 261–275. 19 Annemarie Gethmann-Siefert, „Heinrich Gustav Hotho. Kunst als Bildungserlebnis und Kunsthistorie in systematischer Absicht. Oder entpolitisierte Version der ästhetischen Erziehung des Menschen“, in: Dies./Otto Pöggeler (Hrsg.), Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, Bonn 1983, S. 229–261; Dies., „Ästhetik oder Philosophie der Kunst. Die Nachschriften und Zeugnisse zu Hegels Berliner Vorlesungen“, in: Hegel-Studien, 26/1991, S. 92−110; Dies., „Hegels Ästhetik. Die Transformation der Berliner Vorlesungen zum System“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 56/2002, 2, S. 274−292. Speziell zu Vischer: Dies., „Friedrich Theodor Vischer. ‚Der große Repetent deutscher Nation für alles Schöne und Gute, Recht und Wahre‘“, in: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hrsg.), „O Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard“. Politik, Kultur und Gesellschaft in deutschen Südwesten um 1800, Stuttgart 1988, S. 329−351; Francesca Iannelli, „Friedrich Theodor Vischer zwischen Hegel und Hotho. Edition und Kommentar der Notizen Friedrich Theodor Vischers zu Hothos Ästhetikvorlesung von 1833“, in: Hegel-Studien, 37/2002, S. 11–53. Vgl. auch Christoph Hubig, „Reflexion, Rückzug und Entwurf – Vom klassischen Genius zum existierenden Ich. Zur Philosophie und Kunst nach Goethes Tod“, in: Propyläen. Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt, Bd. 5: Das bürgerliche Zeitalter 1830–1914, Frankfurt a.M., Berlin 1988, S. 45−67, hier S. 53.

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gung wird als normatives Ideal gepriesen; im Mittelpunkt einer gelungenen literarischen Darbietung hat der Mensch zu stehen. Dabei werden die einzelnen Texte jedoch spekulativ geordnet; das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität spielt eine wichtige Rolle bei solchen Einordnungen. Jede Einzeltextinterpretation ist durch die heuristische Annahme geleitet, dass mit ihr zugleich das Gesamtwerk interpretiert wird. Mitunter klingt dabei die neuhumanistische Fiktion an, dass das Werk den Charakter seines Autors ausdrückt. Die einzelnen kondensierten Interpretationen sind also in ein weitreichendes Netz von Annahmen eingebunden und wirken ebenso auf das Gesamtsystem zurück wie dieses auf die Interpretationen. Der Autor, den Vischer am häufigsten behandelt, heißt typischerweise Goethe. Zwar wird auch Uhland mit positiven Äußerungen bedacht; zahlreiche seiner Werke gelten als paradigmatisch für die Gattung der Ballade, die sich durch ihren dramatischen Gang, gepaart mit lyrischen Elementen, komischen und dialogischen Formen auszeichne.20 Aber allein quantitativ unterliegt Uhland Goethe deutlich. Vor allem Goethes Dramen als auch seine Beiträge zu poetologischen Fragen faszinieren Vischer. Seine Dramen gelten Vischer als exemplarisch unter den Aspekten der Figurencharakterisierung und des Stils. So repräsentiert Gretchens Leid bei Vischer die Verbindung von Subjektivem und Objektivem, die ästhetischen Donnerworte geschichtsphilosophischer Provenienz. Gretchens erstes Lied aus Faust I („Mein Herz ist schwer; […] Mein armer Kopf / ist mir verrückt, / Mein armer Sinn / ist mir zerstückt“; Verse 3375 und 3382–3385) drücke subjektives Leid aus – jedoch in objektiven Worten („Ich wein’, ich wein’, ich weine / Das Herz zerbricht in mir.“; Verse 3606 f.).21 Gretchen wird Klärchen aus Egmont parallelisiert: „Klärchen folgt dem Geliebten durch freien Entschluß in den Tod, Gretchen im Faust wird erst innerlich zerrissen, um dann in erhabener Fassung zu sterben.“22 Hier ist es der Begriff des Erhabenen, der Goethes Drama für die ästhetische Auseinandersetzung anschlussfähig macht.  

20 Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauch für Vorlesungen, Bd. 6: Kunstlehre: Dichtkunst. Register, 2. Aufl., München 1926 [1857], VI, § 893, S. 247: „Man lese nun von Uhland: der Traum, des Sängers Vorüberziehn, der nächtliche Ritter, der kastilische Ritter, S. Georgs Ritter, Romanze vom kleinen Däumling, Ritter Paris, der Räuber und was in der Sammlung folgt bis zu Bertran de Born, so wird man das eine oder andere dieser Merkmale oder die sämtlichen zutreffen sehen.“ 21 Die kontrollierten Faust-Zitate entstammen Johann Wolfgang Goethe, Faust, Albrecht Schöne (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1994. 22 Vischer, Aesthetik, Bd. 6, VI, § 900, S. 278.

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Vischer gewinnt seine kondensierten Interpretationen aus einer Gesamtschau der Figur in ihrem Kontext und deutet sie im Blick auf ästhetische und poetologische Begriffe. ‚Gesamtschau der Figur‘ meint in diesem Zusammenhang den Versuch, das Denken, Fühlen und Handeln einer Figur final, hinsichtlich der vom Autor beabsichtigten oder nicht-beabsichtigten Beschreibung ihres irdischen ‚Seins‘ zu kennzeichnen. Als Kontexte kommen andere Dramen oder auch das Gesamtwerk des Dichters, literarische, politische und ideelle Referenzen infrage. Potentiell, so suggeriert Vischers Argumentation, sind schlechthin alle GoetheTexte mit den markigen Sätzen gemeint, die seiner Interpretation von GoetheTexten Ausdruck verleihen. Vischers Satz zu Klärchen und Gretchen zeigt außerdem, dass solche Interpretationen an Entwicklungen im Drama Goethes interessiert sind, Gegensätze in den Dramen zu ermitteln suchen und aus ihnen weitreichende Folgerungen für Goethes Gesamtwerk ziehen. Dieses Interesse spiegelt sich in den Interpretationen der klassischen Dramen Egmont und Tasso. „Als Goethe und Schiller nach Egmont, Fiesko, Don Carlos, Wallenstein, Maria Stuart griffen, zeigten sie dem neueren Drama den richtigen Weg“,23 notiert Vischer enthusiastisch. Er bekennt sich zu einer fortschrittsorientierten, modernen Literaturgeschichtsschreibung und Poetik. Den Rahmen für seine Einschätzung bietet die poetologische Debatte über Regeltreue und Individualität, die sich seit Gottsched mit der Auseinandersetzung über Shakespeare verband. Hinzu kommt das Nachwirken der klassischen Konzepte, des „ganzen Menschen“ und der Idealität: Um was es sich eigentlich handelt, kann man sich auf empirischem Weg am besten veranschaulichen, wenn man deutlich das Schwanken zwischen zwei Stilen in Goethes Egmont beobachtet, wenn man in Schillers Wallenstein genau unterscheidet, wo unter dem Einfluss des großen Briten [d.i. Shakespeare] die gesättigte Farbe der vollen Lebenswahrheit und wo dagegen die generalisierende Allgemeinheit des Idealismus durchdringt […].24

Vischer würdigt Tasso für die Zeichnung des Dichters und Egmont für einen der bei Goethe seltenen dramatischen Momente.25 In der Lyrik korrespondiert solchen Wertungen die Favorisierung des Erlebnisgedichts. Stichwortgeber für diese poetologische Präferenz ist Goethe selbst, der einmal meinte, „daß ein wahres

23 Ebd., VI, § 910, S. 318. 24 Ebd., VI, § 849, S. 65. 25 Ebd., VI, § 901, S. 280: „Goethe hat in all seinen Dramen keinen Moment, der so rein und echt dramatisch wäre wie der, wo Alba den Egmont in den Palast reiten, vom Pferde steigen sieht, und den folgenden, wo er ihn verhaftet. Iphigenie und Tasso sind unsterbliche Seelengemälde ohne wahrhaft dramatische Spannung und Überraschung. Schiller dagegen ist überall reich an solchen Momenten, wo alle Herzen klopfen, jeder Nerv sich spannt und dann der Blitz der Entscheidung zuckt.“

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Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne des Wortes sei“.26 Dieses Diktum wird noch die Gedichtauffassung des gesamten 19. Jahrhunderts leiten, die Entwicklung des Begriffs Lyrik stimulieren und diesen zugleich auf die subjektive Aussprache des Ich verengen.27 Vischers kondensierte Interpretationen, seine Textauswahl, -behandlung und -bewertung erweisen sich damit nicht nur als typisch, sondern auch als prägend für die Poetiken seiner Zeit. Seine Textauswahl speist sich aus einer großen Kenntnis deutschsprachiger Texte, die Textbehandlung hingegen ist konzentriert auf Figurenzeichnung, Plot und Momente der Spannungserzeugung. Kultur-, sozial-, politik- oder wissenshistorische Kontexte kommen nur vage in den Blick. Unter dem Aspekt der Wertung dominieren – selbst beim späteren, seit dem zweiten Band seiner Aesthetik der empirischen Ästhetik geneigten Vischer – klassische Vorstellungen von Literatur. Unter den Poetiken der Folgezeit weichen nur wenige von diesen Vorstellungen ab. Zu diesen Ausnahmen zählt Rudolph Gottschalls sechsmal aufgelegte Poetik (1. Aufl. 1858). Theoretisch und methodisch erweist sich Gottschalls Poetik – wiewohl erheblich schmaler als diejenige Vischers – als ähnlich variantenreich. Gottschall nimmt die Literaturkritik (anders als die meisten Vorgängertexte, die Popularphilosophie ausgenommen) als relevantes Bezugsgebiet ernst; wie Vischer wendet er sich der empirischen Ästhetik zu. Im Zentrum seiner kondensierten Interpretationen aber steht nicht mehr der klassische Kanon, sondern vielmehr Literatur, die er in gewissem Sinne als reflexiv und kritisch betrachtet. Die bevorzugten Autoren heißen Lessing, Herder, Schiller und Jean Paul. Zur impliziten Poetik ihrer Texte will Gottschall vorstoßen, um eine Poetik zu schreiben, die nicht bloß ignorant auf Metaphysik vertraut, wie er es den Vorgängern vorwirft. Doch gehen methodische und theoretische Ambitionen nicht immer – wie bei Vischer oder Gottschall – mit für ihre Zeit vergleichsweise informierten (kondensierten) Interpretationen einher. Vielmehr ist gerade für einen der ‚Meisterdenker‘ der Poetikgeschichte, Wilhelm Dilthey, ein Auseinanderdriften von methodischem und theoretischem Anspruch und Textbezug festzustellen. Daraus

26 „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden.“ Johann Peter Eckermann, „Gespräche mit Goethe, Jena, Donnerstag, 18. September 1823“, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, Abt. II, Briefe, Tagebücher und Gespräche, die letzten Jahre, Teil II, vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode, Bd. 39, Horst Fleig (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 50; Vischer, Aesthetik, VI, § 886, S. 209. 27 Vgl. Sandra Pott [d.i. Sandra Richter], „Poetologische Reflexion. ‚Lyrik‘ in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik (19. Jahrhundert)“, in: Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Historische Gattungspoetik als Reflexionsmedium einer kulturwissenschaftlichen Germanistik, Bern 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, NF 11), S. 31–60.

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folgt auch, dass sich eine Geschichte der (kondensierten) Interpretation in der Poetik nicht oder jedenfalls nicht nur als Geschichte des Zugewinns von Komplexität schreiben lässt, sondern vielmehr als eine Geschichte, die auch Komplexitätsgewinne und -verluste kennt.

III Interpretierende Textallusion: Dilthey und Goethe In einer Steigerung und zugleich raffinierten Umkehr klassizistischer Wertungen erweisen sich beim frühen Dilthey (Die Einbildungskraft des Dichters, 1887) die Psyche des Dichters, beim späten das Erlebnis des Dichters als Gegenstände der Theoriebildung (Das Erlebnis und die Dichtung, 1906). Der frühe Dilthey suchte Poetik durch Erfahrungsseelenlehre zu ersetzen, oder, vorsichtiger formuliert, die Poetik – auf den Spuren Vischers, Gottschalls und Scherers – mit den Mitteln der Naturforschung und Biologie zu empirisieren. Der späte Dilthey hingegen vertraute auf die Lebensphilosophie; sie löst die Begeisterung für das Empirische ab, für die Dilthey vielfach als Psychologist kritisiert worden war.28 Werkbezüge beim frühen Dilthey sind selten. Das Verfahren des späten Dilthey ist biographisch und idealisierend; Werke tauchen nur vage am Horizont der poetologischen Darlegung auf. Von kondensierten Interpretationen kann daher nur in dem Sinne gesprochen werden, dass Dilthey scheinbar vorgefertigte Urteile über Dichter und Text nutzt, um darauf seine Theorie zu gründen. Von der Interpretation bleibt dabei nur mehr ein holzschnittartiges Urteil über einen Text im Zusammenhang mit dem Erlebnis des Autors. Denn nicht der Dichter selbst oder seine Psyche sollen im Mittelpunkt der Theoriebildung stehen, sondern etwas außerhalb des Dichters, das zugleich in sein Innerstes verlegt wird: das Erlebnis – „Poesie ist die Darstellung und Ausdruck des Lebens. Sie drückt das Erlebnis aus, und sie stellt die äußere Wirklichkeit des Lebens dar.“29 De facto aber ist doch immer wieder und angelehnt an den 1887er Text von der Einbildungskraft oder Phantasie des Dichters die Rede. Der Rohstoff ‚Erlebnis‘, so scheint es, setzt im Dichter Phantasie in Gang, wird vollständig umgeformt und neu zusammengesetzt.30 Im Ergebnis finden sich nicht selten enthusiasmierte Spekulationen über den Genius des Dichters – obwohl anderes beabsichtigt ist. Auf diese Weise verpasst Dilthey das selbstgesetzte methodische Ziel. Das Erlebnis und die Dichtung hebt mit großen literaturhistorischen Spekulationen an. 28 Richter, A History of Poetics, S. 136–164 u. 190–194. 29 Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Vier Aufsätze, 16. Aufl., Göttingen 1985 [1906], S. 126. 30 Ebd., S. 178.

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Großzügig werden die Epochen seit der Renaissance auf ihre Modernität hin abgeklopft, Dilthey fahndet nach der dynamisierenden Kraft der Phantasie und ihrem Zusammenhang mit ‚dem Leben‘, veranschaulicht durch die „Bilder“ einzelner Dichter, die den „Stufengang[] der Dichtung“ dokumentieren sollen.31 Dieser „Stufengang[]“ aber scheint nur undeutlich auf. Vergleichsweise plastisch wird er noch am Beispiel Goethes illustriert, der als Exempel für ungewöhnliche Phantasietätigkeit gilt.32 Der Generalbass des poetologischen Erstlingswerks Diltheys schwingt in dieser Einschätzung mit. Unterstützt wird sie durch morphologische Vorstellungen, die dem Denken des Autors selbst entnommen sind.33 Werkbezüge hingegen bleiben rar; es dominiert die verallgemeinernde Nennung größerer Textmengen. Im Zentrum steht der folgende Satz: „So führen uns die Dichtungen Goethes immer zurück auf den großen Menschen, der in ihnen zu uns redet.“34 Der Mensch und das Leben – beide Vokabeln stiften den Bezugshorizont der kondensierten Interpretation, die hier interpretierende Textallusion ist: „Prometheus, Mohammed, Faust ziehen ihn [Goethe] an, und der Seelengehalt dieser Gestalten ist ihm eine zeitlose Modifikation der Menschennatur.“35 Dabei springt die Perspektive beliebig vom literarischen Text und seinen Figuren zum Leben des Autors und allgemeinen Aussagen über das Leben an sich: „Faust und Wilhelm Meister begleiteten ihn [Goethe] durch sein ganzes Leben und blieben doch unfertig wie das Leben selbst.“36 Andere Einschätzungen Diltheys wirken, als seien sie Vischers Aesthetik abgeschaut – und es handelt sich in diesen Fällen um die ausführlichsten Textbezüge. Goetz und Egmont erscheinen danach zwar als historische und politische Figuren, in erster Linie aber jedoch als (große) Menschen: Goetz und Egmont lassen uns tiefer in Goethes geschichtliches Denken hineinblicken. […] Aber in die Helden verlegt Goethe sein eigenes Erlebnis, und die historischen Verhältnisse, die auf sie einwirken, sind in der Stimmung eines Beschauers dargestellt, der auch in vergangenen Zeiten mit Behagen Menschentreiben, wie es immer ist, wiedererkennt. Eben hierin liegt der unvergängliche Reiz des Götz, wie die Abenteuer, die der Alte mit der eisernen Hand einst aufgezeichnet hatte, bildhaft, genremäßig am Zuschauer vorübergehen, hingestellt mit dem Gefühl überströmender deutscher Kraft und Lebendigkeit, aus dem sie

31 Ebd., S. 17. 32 Ebd., S. 124: „An keinem neueren deutschen Dichter wird diese zentrale Stellung der Phantasie im dichterischen Schaffen so deutlich als an Goethe, und keiner fordert zu seinem Verständnis so die Einsicht in das Wesen der Phantasie.“ 33 Ebd., S. 133. Goethes frühen Aussagen und Werke seien „erfüllt von Keimen werdender Dichtungen, die sich ans Licht drängten.“ 34 Ebd., S. 186. 35 Ebd., S. 162. 36 Ebd., S. 181.

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hervorgegangen waren, und daher unbedürftig einer objektiven Erkenntnis ihres Zusammenhanges in sich und mit den geschichtlichen Kräften um sie her. Egmont ist in der Reife des historischen Denkens geschrieben, Szenen wie das Gespräch zwischen Oranien und dem Helden, der Regentin und Machiavel sind wohl das historisch Tiefste von Goethe, es ist in ihnen ein Extrakt seiner Erfahrungen in Hof- und Staatsleben. Aber der Held selbst ist frei zu einem Menschlich-Persönlichen gebildet und dadurch unglaubhaft im geschichtlichen Zusammenhang, ja im Grunde ungeschichtlich.37

Wie Vischer ist Dilthey außerdem der Auffassung, dass sich Goethe vor allem auf die Seele seiner Figuren, nicht jedoch auf dramatische Effekte konzentriere. Dabei erlangen um 1900 neue Begriffe wie ‚Stimmung‘ und ‚Kraft‘ eine besondere Bedeutung. Anders als Schiller, dem der Jubel entgegenbrandete, wählte Goethe einen stillen Weg […] in letzte Tiefen, in die sich damals auch unsere Musik und Philosophie eingegraben haben. Diese Grundrichtung der Dichtung Goethes durchläuft nun bemerkenswerte Veränderungen. Bis zum Abschluß der Lehrjahre Wilhelm Meisters 1796 entspringen alle seine Dichtungen aus dem persönlichen Erlebnis. […] Wie tief auch jetzt noch seine Verhältnisse wirken auf seine Dichtung, sie beruht nun doch auf der Summe des Erlebten, auf der Stimmung der Welt gegenüber, die aus demselben erwachsen sind. Diese Lebensweisheit, welche das Verhalten eines reifen Gemütes zum Leben ist, beseelt und vergeistigt die großen epischen Dichtungen der zweiten Lebenshälfte Goethes. Die gesammelte dauernde Kraft derselben in seiner Seele ist das Subjekt seiner didaktischen Lyrik, und sie macht auch den zweiten Faust zum Abbild der Welt selber.38

Wiewohl die Lyrik bei Dilthey auch eine gewisse Rolle spielt (im Sinne einer Auffassung von derselben, die auf Anschaulichkeit zielt),39 gibt doch das Drama die Richtung vor. Ihm entnimmt Dilthey die Stichworte. Text und Interpretation sind dabei Nebensache, Durchgangsstadien zum Kern des lebensphilosophischen Anliegens.

37 Ebd., S. 163. 38 Ebd., S. 169. 39 Ebd., S. 133: „Wer brächte sich den Sinn der Worte ganz zum Bewußtsein, wenn er etwa Goethes Gedicht An den Mond vor sich hinspricht! Nur leise und geheimnisvoll klingen ihre Bedeutungen mit an. Darin beruht nun die Sprachphantasie des Dichters, daß er an diesen Wirkungen anhaltend mit starker Fixierung der Aufmerksamkeit bildet und formt, wie der Maler an denen seiner Linien und Farben. Goethe waltet königlich in diesem Reich der Sprache.“ Zur Relevanz des poetologischen Diktums der Anschaulichkeit Sandra Richter, „Anschaulichkeit vs. Sprachlichkeit. ‚Ästhetische Paradigmen‘ um 1900“, in: Dies./Oliver Huck/Christian Scholl (Hrsg.), Konzert und Konkurrenz. Die Künste und ihre Wissenschaften im 19. Jahrhundert [Tagungsakten der gleichnamigen Veranstaltung, Universität Göttingen, 19.–21. Mai 2006], Göttingen 2010, S. 157–178.

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Blieb Diltheys Entwurf durch seine bloß interpretierenden Textallusionen auch philologisch wenig befriedigend, so wirkte er doch anregend. Wenn die Autor- und Textdarstellungen, die in Das Erlebnis und die Dichtung dargestellt sind, auch wenig revolutionär erscheinen, so nutzen sie gleichwohl eine neue, emotional gefärbte Beschreibungssprache, die auch den Gegnern des jungen empirischen Dilthey gefiel. Möglicherweise genügte dies als Inspiration, um Poetik neu zu denken. Emil Ermatinger beispielsweise – und er war nur einer unter vielen – entwickelte in Das dichterische Kunstwerk (1921) eine subtile Typologie der Erlebnisse des Dichters. Er unterscheidet das „Gedankenerlebnis“, das „Formerlebnis“ und das „Stofferlebnis“, um die unterschiedlichen Sphären zu kennzeichnen, aus denen die dichterische Phantasie schöpft. Auch Emil Staigers Zeit als Einbildungskraft des Dichters (1939) und seine Grundbegriffe der Poetik (1946) speisen sich noch aus dieser lebensphilosophischen Tendenz. Staiger, der Zürcher Star der Literaturtheorie der 1930er und 40er Jahre, bezieht sich damit jedoch – anders als Ermatinger – nicht mehr explizit auf Dilthey.

IV Philologenfiktion und kontextbewusstes Interpretieren: Staiger und Goethe Der große Meisterdenker, der Staigers Poetik prägt, heißt Martin Heidegger. Dem Bekenntnis nach gilt die Lebensphilosophie (oder vermittelt über Kierkegaard auch: der Existentialismus) zwar nicht als theoretischer Anknüpfungspunkt solchen, sich der Ontologie verschreibenden Denkens – de facto hallt ihr Impuls aber nach, in der Schweiz auch vorangetrieben durch die Romanisten Ernest Bovet und Theophil Spoerri. Eine erste Welle der literarischen Anthropologie entsteht: Als Fluchtpunkt der Untersuchung gilt auch Staiger, der mit Bovets und Spoerris Ansätzen vertraut ist, der Mensch. Staiger will seiner Erkenntnis Ausdruck verleihen, dass es sich bei Stilen und Gattungsbegriffen um anthropologische Entitäten handelt. Gleichwohl weist Staiger sein Interpretandum klar aus: Es geht um literarische Texte, oder besser: Textausschnitte, denen er mit den Verfahren der Stilanalyse, der generalisierenden Anthropologisierung und selektivem Interpretationsinteresse zu Leibe rückt. Lyrik, Epik und Drama, so der Obersatz, aus dem die Interpretationen einesteils abgeleitet, zu dem sie anderenteils hingeführt werden, erweisen sich als „fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt“.40 Sie symbolisieren und spiegeln die Bereiche des Emotionalen, Bildlichen, Logischen und die Lebensstadien der Kindheit, Jugend, Reife.

40 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946, S. 226.

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Aussagen literarischer Figuren werden – wie in der Poetik spätestens seit der Begeisterung für Goethe gängige Praxis – mit den Anschauungen ihrer Autoren identifiziert. Will Staiger erklären, dass Unterschiede zwischen den gattungsbezogenen Attributen lyrisch, episch und dramatisch kontextabhängig sind, nimmt er Eichendorffs Rückkehr zur Hand und löst einen Vers aus dem Textzusammenhang heraus: „Da hört’ ich geigen, pfeifen“.41 Staiger spekuliert, wie dieser im Original melancholische Satz in einem heroischen Versepos klänge und transponiert den Vers entsprechend in einen Hexameter: „Abends kam ich ins Dorf. Da hört’ ich geigen und pfeifen.“42 Aus der Spannung, die der Hexameter des fiktionalen Versepos erzeugt, schließt Staiger auf die Relevanz des Kontextes. Solche Verfahren der selektiven Interpretation durch Philologenfiktion sind heute unüblich geworden, waren aber in den 1940er Jahren noch gängige poetologische Praxis. Zugleich aber ist eine erhöhte Sensibilität für die Texte selbst, sowohl für die Literatur im Kontext als auch für die schriftlich festgehaltenen Interpretationen der Fachwelt zu bemerken. Letztere wird in den eigenen Deutungen mitreflektiert, zustimmend wie kritisch erwähnt; die Poetik professionalisiert sich und reagiert auf die Fachöffentlichkeit. Der Interpretation wird mehr Raum gegeben, so dass mehr bleibt als das bloße Kondensat. Wiederum lassen sich diese neuen Aspekte am besten an Darlegungen zu Goethe demonstrieren. So behandelt Staiger etwa Auf dem See als lyrisches Paradebeispiel. Und frische Nahrung, neues Blut Saug ich aus freier Welt; Wie ist Natur so hold und gut, Die mich am Busen hält! Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertakt hinauf, Und Berge, wolkig himmelan, Begegnen unserm Lauf. Aug, mein Aug, was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? Weg, du Traum! So gold du bist; Hier auch Lieb und Leben ist. Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne

41 Joseph von Eichendorff, „Rückkehr“, in: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorf. Historisch-kritische Ausgabe, Bd 1.1, Helmut Koopmann/Hermann Kunisch (Hrsg.), Stuttgart, Berlin, Köln 1993, S. 30, Vers 13. 42 Ebd., S. 221 f.  

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Weiche Nebel trinken Rings die türmende Ferne; Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht. Das Ganze ist in drei Teile gesondert: der erste, mit Auftakt, klingt keck und frisch; der zweite, mit den längeren Versen, ist eine Erinnerung, die zurückhält; im dritten wird die Fahrt mit leicht gedämpftem Entzücken fortgesetzt. Dreimal findet das „punktuelle Zünden der Welt“ im Dichter statt, jedesmal anders, so daß nicht eigentlich von drei Strophen die Rede sein kann. Die Eingebungen werden nur aneinandergereiht, weil sie sachlich und zeitlich zusammengehören. Wir wissen nun aber nicht recht, ob ein Gedicht oder ein Zyklus vorliegt. Für einen Zyklus ist der Abstand der Teile zu gering, für ein Gedicht zu groß. Es sind lyrische Momente einer Fahrt.43

Staiger folgt Vischers Diktum, Gedichte seien „das punktuelle Zünden der Welt im lyrischen Subjekt“.44 Als erwiesen gilt es, da Staiger in Goethes Gedicht eine Momentaufnahme ausmacht – aus einer für die Poetik vergleichsweise detaillierten und gründlichen Textanalyse. Staigers Generalisierungen gehen (bei aller Applikation anthropologischer Thesen) – und das ist im Blick auf die Interpretationsgeschichte der Poetik bemerkenswert – vom individuellen Text und von spezifischen Textbeobachtungen aus. Dabei ist das Demonstrieren von philologischer Könnerschaft in einer Weise bedeutsam geworden, die zuvor unbekannt war. Seit den 1930er Jahren aber wird Interpretieren in der Poetik ideologischer, jedenfalls in der deutschen. Literarische Texte lassen sich nicht mehr deuten, ohne eine Entscheidung über die Relevanz der NS-Doktrin zu treffen, indem man sie entweder ignoriert oder befördert. Biologistische und rassistische Ansätze (Obenauer, Kindermann u.a.) treten auf den Plan, beanspruchen Wissenschaftlichkeit, setzen auf ‚große Theorien‘ – und verschwinden nach 1945 schnell wieder. Doch Staiger gilt – im Krieg und danach, jedenfalls bis zu seiner problematischen Zürcher Preisrede von 1966 –45 unangefochten als Autorität. So

43 Staiger, Grundbegriffe, S. 27 f. 44 Vischer, Aesthetik, Bd. 6, VI, S. 208: „sie [die Lyrik] ist ein punktuelles Zünden der Welt im Subjekte“; Staiger, Grundbegriffe, S. 24. 45 Michael Böhler, „Der ‚neue‘ Zürcher Literaturstreit: Bilanz nach zwanzig Jahren“, in: Helmut Koopmann/Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit [Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985], Tübingen 1986, S. 250–262; Robert Weninger, Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, München 2004, S. 68–83.  

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erweisen sich auch die Nachkriegspoetiken als durch Staiger und seinen anthropologischen Ansatz geprägt – in Zustimmung wie in Ablehnung. Eine differenzierte Position nimmt dabei Walther Killy ein. In seinem poetologischen Text Wandlungen des lyrischen Bildes (1956) wendet er sich einer – wenn man so will typisch deutschen – sowohl formalistischen als auch anthropologischen Deutungsrichtung zu, die schon seit Ernst Elster (Prinzipien der Literaturwissenschaft, 1897) üblich war und durch Hermann Pongs (Das Bild in der Dichtung, I 1927, ²1960, II 1939, ²1967, III 1969, IV 1973) braun gefärbt wurde. Es handelt sich um den Versuch, aus einer Ausdrucksweise der Lyrik, dem Bild, auf anthropologische und kulturelle ‚Urformen‘ zu schließen. Als Interpretandum gelten Killy lyrische Texte selbst, u.a. diejenigen Goethes. Killy dämpft die Emphase für das Erlebnisgedicht, wie sie die Poetik mindestens seit Vischer kennzeichnete und zitiert einen anderen goetheschen Satz: „Die höchste Lyrik ist entschieden historisch.“46 Diese Historizität der Lyrik komme eben durch das „große[] lyrische[] Bild“ zustande.47 Am Beispiel des Dornburger Gedichts Früh, wenn Thal, Gebirg und Garten erweist Killy das Gemeinte. Bei aller Unterschiedlichkeit speisen sich Staigers und Killys Ansätze aus vergleichbaren Tugenden der Interpretation: dem Beobachten des Textes im Detail – und beide leben von theoretischen und methodischen Ansätzen, die zu Jahrhundertbeginn en vogue waren, in den späten 1940er und den 50er Jahren jedoch wie ein Rekurs auf eine vergleichsweise ideologiefreie, jedoch verzopfte Poetik vor der Nazi-Zeit wirkten. Befreiungsschläge waren solche Ansätze gleichermaßen nicht, vielmehr Gehversuche auf ideologisch belastetem Gebiet. Ambitionierte neue Ansätze kamen zunächst aus Übersee und auch aus Frankreich. Die ‚neue‘ Literaturtheorie ersetzte die ‚alte‘ Poetik – auch hinsichtlich der Praktiken des Interpretierens: zum einen ist das Bewusstsein für die Bedeutung von Interpretationen noch gewachsen, zum anderen haben sich die Ansprüche, komplexe, auf Text, Forschung und Interpretationsgeschichte reflektierende Darstellungen zu bieten, erhöht. Komplexitätsgewinne legen dabei den Eindruck nahe, dass die Praktiken des Interpretierens in der Literaturtheorie einen qualitativen Sprung erlebt haben, der sich allerdings evolutionär aus der Poetik erklärt.

46 Johann Wolfgang Goethe, „Theilnahme Goethe’s an Manzonis Adelchi, Tragedia, Milano 1822“, in: Goethes Werke, Abt. I, Bd. 42.I, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1904, S. 173. 47 Walther Killy, Wandlungen des lyrischen Bildes, Göttingen 1998, S. 17.

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V Kondensierte Interpretationen in der Literaturtheorie: De Man und Rousseau Als ein Beispiel dafür möchte ich die theoretischen Ansätze eines belgischen Literaturwissenschaftlers herausgreifen, der durch Kollaboration mit dem Nationalsozialismus beschädigt war, aber gleichwohl wissenschaftlich aktiv blieb und weithin populär wurde. Gemeint ist Paul de Man, der in den USA forschte und lehrte und als Vertreter der „Yale Critics“ berühmt wurde. Seine Kernannahme lief darauf hinaus, dass literarische Texte aufgrund ihrer rhetorischen und logischen Doppelstruktur in immanente Widersprüche gerieten (Blindness and Insight, New York 1971). Infolgedessen seien Texte Gefangene ihrer Sprache; sie zerstörten sich mehr oder minder selbst. Literarische Texte aber – und dies sei ihre besondere Leistung – zeigten ihre eigene ‚Blindheit‘ an sich selbst auf. Seine Annahme von der Widersprüchlichkeit der Texte will de Man durch zahlreiche Einzeltextinterpretationen belegen. Bei de Man dominiert – anders als bei Staiger oder Killy – nicht so sehr der Fokus auf den Text als vielmehr die Interpretationskritik, das agonale Moment in der Auseinandersetzung mit vorliegenden Interpretationen. Dieser Umstand erklärt sich auch aus der gewachsenen Quantität und Qualität von Textinterpretationen, denen der Literaturwissenschaftler der 1970er Jahre (und später) Herr zu werden sucht, indem er die eigene Position im Interpretationsgeschehen in Abgrenzung zu anderen entwickelt. De Man bestimmt seine Position durch Kontextualisierungen der jeweils zu interpretierenden Texte und durch die Untersuchung ihrer ‚Gemachtheit‘. Als Kardinalbeispiel gelten ihm die Texte Rousseaus, schon weil der Autor immer wieder betont hatte, dass seine Texte vermutlich der Fehlinterpretation anheimfallen werden. Besonders ausführlich stellt sich de Mans Interpretation von Julie ou la Nouvelle Heloïse dar; der Beitrag, wiewohl mit theoretischem Anspruch verfasst, kommt hier einer Textinterpretation gleich. Julie ou la Nouvelle Heloïse wird als erster romantischer Briefroman in französischer Sprache beschrieben – und gerade die Zuordnung zur Romantik erscheint als Problem. Allzu häufig nämlich neigten die Interpreten dazu, Textausschnitte als Plädoyers für ein naives Landleben misszuverstehen. De Man hingegen – und das ist seine Leistung – arbeitet die rhetorische Gemachtheit des Textes am Beispiel des Abschnittes aus dem vierten Teil des Romans heraus, der Saint-Preux’ Besuch bei der einstigen Geliebten und nun tugendhaften Ehegattin Julie am Genfer See schildert. Die Einsamkeit am Nordufer des Genfer Sees hat die Phantasie der Interpreten beflügelt; doch wird der Garten, die Meillerie, zwar als natürliche, aber vom Menschen erst vervollkommnete Stätte nach allen Regeln der idyllischen Topik beschrieben, wie sie aus der Gartenliteratur und dem Roman de la

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rose bekannt ist. Im Ergebnis steht eine komplexe und vielfach fehlgedeutete Allegorie. Damit ist nun zwar eine einleuchtende Interpretation von Rousseaus Julie ou la Nouvelle Heloïse vorgeschlagen, aber sein Theorem hat de Man nicht bewiesen. Die logische und rhetorische Struktur von Rousseaus Roman widersprechen sich gerade nicht; vielmehr widerlegt de Mans Interpretation sein Theorem geradezu. Selbst von einer besonderen Reflexivität des Textes auf das Phänomen der topischen Idylle lässt sich nur unter Vorbehalt sprechen, denn diese war zeittypisch und üblich. Gleich wohin man seit den 1970er Jahren in der Literaturtheorie schaut – die Textinterpretation wird zum Prüfstein der Theorie. Was de Man Rousseau, ist Iser (Der implizite Leser, 1972) James Joyce, speziell der Roman Ulysses. Iser will ermitteln, was der Text nicht ‚schafft‘. Es geht um die Leerstellen (anknüpfend an Roman Ingardens Überlegungen über Unbestimmtheitsstellen in der Literatur), die im Text angelegt sind: „Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.“48 Hier ist jeweils der Leser gefragt, will er die Textsegmente miteinander verbinden. Die Leerstelle erweist sich als Grundbegriff der Rezeptionsästhetik. An die Einzeltextinterpretation schließt Iser ein historisches Evolutionsmodell an, demzufolge Romane seit dem 18. Jahrhundert der kreativen Tätigkeit des Lesers immer mehr Raum geben, indem sie in zunehmenden Maße Leerstellen aufweisen. Anders als de Man unterläuft Iser kein problematischer Beleg – möglicherweise auch, weil er ex negativo Merkmale seines Bezugstextes beschreibt. In beiden Fällen aber ist es nurmehr der Text, der im Zentrum der Theoriebildung steht. Aufgrund der gesteigerten Bedeutung des Textes und seiner Interpretation für die Literaturtheorie wurde in den 1980er Jahren eine neue literaturwissenschaftliche Gattung erfunden, die sich zwischen Theoriebildung und Interpretationsgeschäft ansiedelt. Gemeint sind die sogenannten theoriegeleiteten Modellanalysen, die sich erstmals am Beispiel von Kleists Erdbeben in Chili in einem Sammelband von David Wellbery (1985, 52007) versammelt finden.49 Vorhaben dieser Art wie Klaus Michael Bogdal Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen zu Kafkas ‚Vor dem Gesetz‘ (1993, ²2005) folgten.50 Solche Modellanalysen orientieren sich zumeist an einer doppelten Vorgabe: Literaturtheorie aus dem Text heraus- und in ihn hineinzulesen. Aus den kondensierten Interpretatio-

48 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 1976, S. 302. 49 David Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“, 5. Aufl., München 2007. 50 Klaus Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen zu Kafkas ‚Vor dem Gesetz‘, 2. Aufl., Göttingen 2005 (1. Aufl. Opladen 1993).

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nen in der Poetik sind hier komplexe Textinterpretationen geworden. Literatur galt – mehr oder minder – als Inspirationsquelle und Prüfstein der Theorie: ein Doppelanspruch, der die methodische und interpretative Komplexität potentiell ins Unendliche steigerte. Theorie stand nunmehr im Dienst ihrer Interpretation, und mehrere Interpretationen konkurrierten darum, die für den Text angemessenste und für den Leser überzeugendste zu sein. Auf diese (notorisch unvollkommene) Weise hielt die Theorie die Literatur und ihre Interpretation lebendig. Heute erinnern Sammelbände wie derjenige Wellberys an eine vergangene Epoche: Zum einen ist die Zeit der grand theory, die es interpretierend zu erproben galt, vorüber. Zum anderen nahm die Begeisterung für mehr oder minder vollständige Textinterpretationen ab. Interpretative Vorsicht hat dazu geführt, dass ‚Lektüren‘, bewusst unvollständige Beobachtungen zu Texten, vielfach Interpretationen mit ihrem Anspruch auf relative Vollständigkeit ersetzen.51 Daraus wiederum folgt, dass Texte in ihrer Bedeutungsbreite und -vielfalt als absolute Größe gelten, die Metatextuelles überhaupt als problematisch und wenig verbindlich erscheinen lässt. Im Gegenzug steht auch Theoriebildung immer unter dem Vorbehalt, dass sie auch anders ausfallen könnte, wenn man nur anders ‚lese‘. Ein literarischer Text erscheint demzufolge zwar noch als Inspirationsquelle für Theorie, nicht mehr jedoch als ihr Prüfstein. Vielmehr begibt sich gegenwärtige Theoriebildung, sofern sie Literaturtheorie sein will, in eine doppelte Offenheit: eine Offenheit hinsichtlich sowohl des Textes als auch seiner Deutung. Solche Offenheit ist produktiv, weil sie Überlegungen erlaubt, welche eine strikte Interpretationstheorie nicht zulässt, gesteigerte Offenheit auch zu anderen, nicht-literarischen Genres hin ermöglicht und Streit über verbindliche Deutungen vermeidet. Doch kennt solche Offenheit umgekehrt keine Grenze der Angemessenheit; die umfassende oder gar vollständige Erörterung eines Textes (wie sie die Interpretation als Korrektiv der eigenen Interpretationspraktiken und -ziele voraussetzt) ist kein Ziel mehr. Möglicherweise gehört die Epoche der entschieden text- und interpretationsorientierten Literaturtheorie einer Vergangenheit an, die in ihrer komplexesten Form gerade einmal 20 oder 30 Jahre währte – und für die Literaturwissenschaft so schwer auszuhalten war, dass sie sich nunmehr mit Lektüretheorien bescheidet?

51 Simone Winko, „Lektüre oder Interpretation?“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 49/2002, 2, Sonderheft: Interpretation, S. 128–141; Carlos Spoerhase, „‚Mere reading‘: Über das Versprechen eines ‚posthermeneutischen‘ Verstehens“, in: Marcel Lepper/Steffen Siegel/Sophie Wennerscheid (Hrsg.), Jenseits des Poststrukturalismus? Eine Sondierung, Frankfurt a. M. 2005, S. 15–36.

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VI Interpretations- und wissenschaftsethische Konsequenzen Interpretationen in der neusprachlichen Poetik und Literaturtheorie wandelten sich im Laufe der vergangenen fast 400 Jahre erheblich, insofern die Aufmerksamkeit für Interpretationen wuchs, nicht linear, aber doch kontinuierlich. Poetiken vor Dilthey stellten Texte dar, deren methodisches Bewusstsein von der eigenen Tätigkeit erst begann. Ihre typischerweise kondensierten Interpretationen sind daher eher symptomatisch als problematisch. Gerade auch in der ‚vormethodischen‘ Zeit der Poetik gab es bemerkenswerte Kontinuitäten und offenbar intersubjektiv geteilte Ansichten in der Poetik, wie der vielfache Rückgriff auf Vischers Aesthetik zeigt. Anscheinend werden die Poetiken des 19. Jahrhunderts weniger durch methodische Einsichten als vielmehr durch bestimmte philologische und poetologische Praktiken stabilisiert: Goethe gilt als Identifikationsfigur, dessen Wort – sei es literarisch oder poetologisch – man vertraut. Auch werden gewisse Setzungen der hegelschen Philosophie, das Begriffspaar subjektiv/objektiv etwa, weithin akzeptiert, so sehr auch die neuere empirische Wissenschaft fasziniert. Diese scheint als Hoffnungsschimmer am Horizont auf – man möchte offenkundig dereinst genauer und besser informiert interpretieren. Solcher Impetus überträgt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch auf Poetiken, die sich (wie diejenigen Diltheys, Ermatingers oder Staigers) aus der Lebensphilosophie unterschiedlicher Provenienz speisen. So wenig überzeugend diese Praktiken und Deutungen heute sind, so hilfreich waren sie offenkundig bei der Erfindung der Literaturwissenschaft als Disziplin und der Literaturtheorie als Form ihrer Reflexion. Poetiken waren, was ihre Praktiken der Interpretation betrifft, nicht bloß ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Literaturtheorie, sondern vielmehr ermöglichten sie erst deren Komplexitätsgewinne. Was Poetik und Literaturtheorie betrifft, so liegen mit kondensierten Interpretationen spezifische Praktiken vor, die im Fach akzeptiert und eingespielt sind. Sie können offenkundig ihre eigene Legitimität beanspruchen, weil sie im Rahmen einer Gattung, die nicht per se auf Interpretation angelegt ist, Inspirations-, Beweis- oder Kontrollfunktion für die Theorie erhalten. Solche Funktionen werden durch mehrere Aspekte ermöglicht: Erstens handelt es sich dem Anspruch nach um lang gereifte Interpretationen, die auf gründlicher Kenntnis auch eines größeren Textkorpus beruhen, wenn auch de facto und methodisch korrekter von bloßen Textbeobachtungen aus erster, mitunter jedoch auch bloß zweiter Hand zu sprechen ist, an die sich allerlei generalisierende Behauptungen knüpfen. Zweitens können solche Interpretationen auf die philologische Reputation, das Ethos, die Könnerschaft des sie verfertigenden Poetologen oder Literaturwissenschaftlers vertrauen, der mit der kondensierten Interpretation zugleich signalisiert, dass es sich um bloße Abbreviaturen für

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abundant Bedachtes handelt. Drittens zeigt dieser mit kondensierten Interpretationen eine andere Absicht an, nämlich die, das Fach und die Textdeutung in bis dato wenig bekannte, um nicht zu sagen: ‚neue‘ Richtungen zu treiben. Kondensierte Interpretationen erweisen sich damit als besonders riskante Praktiken der Interpretation, da sie auf zahlreichen Voraussetzungen ruhen und zugleich Großes versprechen. Unter welchen Voraussetzungen genügen kondensierten Interpretationen ihren wissenschaftlichen Ansprüchen? Der Gang durch die verschiedenen Ansätze der Poetik und Literaturtheorie zeigt, dass ein Gelingen (oder zumindest ein hohes Interpretationsniveau) vor allem dann wahrscheinlich ist, wenn sich der Rechtfertigungsdruck erhöht. Im Fall der Literaturwissenschaft der 1970er Jahre ist dies durch die gewachsene Zahl der professionellen und d.h. zunächst einmal nur anspruchsvollen Interpretationen der Fall. Die zuvor geglaubten Voraussetzungen kondensierter Interpretationen werden strittig. Man muss sich mit anderen Interpretationen auseinandersetzen, den eigenen Ansatz reflektieren, die eigene Position bestimmen und selbst in theoretischen Abhandlungen vergleichsweise extensive Interpretationen vorlegen – wobei die Ausführlichkeit der Interpretation nur insofern gesteigerte Qualität garantiert, als sie eine längere Einlassung mit einem literarischen Text dokumentiert. Das Interpretieren – das kondensierte wie das extensive – ist folglich nicht nur eine verwissenschaftlichbare Kunst, sondern auch ein agonales Geschäft, ein regelgeleiteter Streit. Für solchen Streit bedarf es der gemeinsamen Praktiken des Lesens, Analysierens, Interpretierens und Deutens – und des wechselseitigen Respekts. Das Prinzip der wohlwollenden Interpretation ist nicht nur auf Literatur, sondern auch auf Literaturtheorien anzuwenden, um Interpretationen wie Lektüren, extensive wie kondensierte, auf ihre Angemessenheit hin befragen zu können.

Constanze Güthenke, Princeton

Emotion und Empathie in der Interpretationspraxis der Klassischen Philologie um 1900 In Deutschland wie auch im Ausland schien die Fachgeschichte der Klassischen Philologie lange von einem im Grunde biographischen Ansatz geprägt (und scheint es in mancher Hinsicht noch immer), ob es sich dabei um individuelle Wissenschaftler, um individuelle Institutionen oder um Objektbiographien handelt. Nach und nach sind wir vielleicht von der „Jubiläumspanegyrik“ abgekommen, auf die sich Manfred Fuhrmann nach die disziplinäre Selbstreflexion zu lange beschränkt hat.1 Aber die Altphilologie bleibt doch ein besonders symptomatisches Beispiel dafür, dass die History of Science im Bereich der Naturwissenschaften mittlerweile mit größerer Bereitschaft rhetorische und metaphorische Argumentationsstrategien zu untersuchen weiß, also im Grunde philologisch „liest“, als dies generell in den Geisteswissenschaften der Fall ist. Unter den Geisteswissenschaften, deren Definition durch oder in Nachfolge von Dilthey natürlich selbst historisch bedingt ist, kommt der Altphilologie eine besondere historische Rolle als begründende Disziplin zu (ihre frühe und weitreichende Institutionalisierung, der Modellcharakter für andere Philologien im Inland und Ausland und der damit verbundene Legitimitätsanspruch als Humanwissenschaft par excellence). So ist es bemerkenswert, dass ein hermeneutisches Modell, das ganz auf die narrative Entwicklung des Individuums ausgerichtet ist, sich sowohl historisch in ihrer Interpretationspraxis als auch in ihrer Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung noch immer niederschlägt. Wenn solches Beharren zunächst eher irritieren als verwundern mag, so deutet der Titel dieses Aufsatzes zugleich ein weiteres Spannungsfeld an: Emotionalität und Empathie, beziehungsweise eine Sprache des subjektiven Affektes, das wollen auf den ersten Blick Aspekte scheinen, welche die Altphilologie als Inbegriff der Wissenschaftlichkeit gemeinhin nicht evoziert (sicher nicht im Ausland, wo der Blick auf die deutsche Tradition zwar mit Ironie, aber nicht ohne echte Bewunderung auch weiterhin gepflegt wird). Ich möchte versuchen zu zeigen, dass das fachliche Selbstverständnis der deutschen Klassischen Philologie im 19. Jahrhundert, der Gründerzeit der Disziplin, wie wir sie noch immer kennen, sehr stark von einer Rhetorik geprägt ist, in der die Antike als Ganzes als

1 Manfred Fuhrmann, Alte Sprachen in der Krise? Analysen und Programme, Stuttgart 1976, S. 62.

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Individuum vorgestellt und die Erforschung der Antike im Gegenzug im Sinne eines intersubjektiven, zwischenmenschlichen Verhältnisses behandelt wird, eines Verhältnisses, in dem die Sprache von individuellem Erleben und Verlebendigung eine wichtige Rolle einnimmt. Mein Hauptanliegen ist zu zeigen, wie akademische Diskurse in ihrer Bildlichkeit nachhaltig Interpretationspraktiken lenken und zur Konstitution von Wissensobjekten und ihrer Kanonbildung beitragen – in einer Sprachlichkeit, in der hoher objektiver Wissenschaftlichkeitsanspruch und eine starke Affektprägung in selten offen anerkannter Spannung standen – und das Denken und die Praxis der Philologie auch weiterhin prägen.2

I Personifizierte Antike – der Bildungsdiskurs Für das lange 19. Jahrhundert war das Verstehen des Anderen, des Selbst und der historischen Vergangenheit ein konstituierendes und nicht spannungsfreies Anliegen. Literaturwissenschaftliche, soziologische und geschichtliche Studien haben eine charakteristische Aufmerksamkeit für die Sprache interpersoneller Beziehungen und Emotionen diagnostiziert, die eine aktive Rolle spielt in der Bewältigung der Interpretation und ihrer Herausforderungen.3 Doch hat diese Einsicht bislang wenig Transfer gefunden in der Betrachtung des Feldes und der Disziplin, der Philologie, die gleichzeitig den zentralen Platz in einer gesellschaftlich und institutionell bestätigten Ordnung für sich in Anspruch nahm. Natürlich ist 1900 nicht das gleiche wie 1800, aber die Zwillingsdiskurse von Bildung und Individualität hatten, bei allen Unterschieden, einen dauerhaften Einfluss sowohl auf die Selbstdarstellung der Altertumswissenschaft als auch in der Folge auf die Terminologie der Geisteswissenschaften als solche. Von Anfang an fungierten die Bildung des Forschers und des modernen Individuums einerseits und der Antike im Ganzen und ihrer eigenen Individuen andererseits als Spiegelkonzepte. Der Bildungsbegriff strukturierte sowohl die Bedingungen und Inhalte von Interpretationen als auch die Rechtfertigung der eigenen Praxis. In der Logik eines neuen erzieherischen Modells, geprägt durch Historisierung,

2 Als gutes Beispiel für die historische Wirkung einer Sprache der Emotionen und der methodischen Annäherung an eine solche Sprachlichkeit siehe William Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001. Eine gute Einleitung mit weiterführender Bibliographie in Bettina Hitzer, „Emotionsgeschichte. Ein Anfang mit Folgen“, in: H-Soz-uKult, 23.11.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-11-001 (Stand: 06.05.2012). 3 Für eine weiterführende Bibliographie siehe Constanze Güthenke, „The Potter’s Daughter’s Sons. German Classical Scholarship and the Language of Love ca. 1800“, in: Representations, 109/2010, 1, S. 122–147.

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wurde das Verstehen der Menschheitsgeschichte ein Nachvollziehen der Bildung, wie sie sich in einzelnen Epochen, Nationen und Gesellschaften manifestierte. Das antike Griechenland insbesondere stellte eine geschichtliche Erscheinung dar, in der sich Vernunft, Schönheit und Selbstrealisierung auf das Harmonischste äußerten. Bildung, als Programm der Selbstwerdung und Selbstverbesserung, verband sich somit mit dem Verstehen der Antike als ihr Hauptinhalt wie auch als Methode und Ziel des Verstehensprozesses. Gerade die griechische Antike, die den ganzen Kreislauf von Werden, Reifen und Vergehen einzuschließen schien, wurde so zum Instrument des geschichtlichen Verstehens und damit des Fortschritts. In dem Maße, in dem Bildung mit der Entwicklung des Individuums zu tun hat, wurde die Antike als Ganzes als Individuum imaginiert. Sie zu erforschen beinhaltete also, ihren Charakter und ihr Wesen zu verstehen, ein Programm, das vielleicht am eindrücklichsten Wilhelm von Humboldt formuliert hat, der später mit der Entwicklung der Struktur und des wissenschaftlichen Programms der neuen Universität Berlin betraut wurde. Sein Aufsatz Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondre (1793) fordert: Das Studium einer Nation gewährt schlechterdings alle diejenigen Vortheile, welche die Geschichte überhaupt darbietet, indem dieselbe durch Beispiele von Handlungen und Begebenheiten die Menschenkenntniss erweitert, die Beurtheilungskraft schärft, den Charakter erhöht und verbessert; aber es thut noch mehr. Indem es nicht sowohl dem Faden auf einander folgender Begebenheiten nachspürt, als vielmehr den Zustand und die gänzliche Lage der Nation zu erforschen versucht, liefert es gleichsam eine Biographie derselben.4

Humboldts Spiegelung des Biografischen und des Individuellen sind symptomatisch, insofern sie vorausweisen auf die nachhaltige Rolle, die ein biografisches, organisches, entwicklungsorientiertes Modell im Selbstverständnis des Faches gespielt hat. In jedem Fall waren die geisteswissenschaftliche und vor allem die literaturwissenschaftliche Praxis um 1900 fraglos und großflächig am Biografischen als heuristischem Modell orientiert. Hinzu kommt, dass zu diesem Zeitpunkt (zu dem der Bildungsdiskurs mittlerweile fest institutionalisiert ist) auch die begriffliche Unterscheidung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften sich kristallisiert hat, am prominentesten (zumindest in der Rückschau) im Werk Wilhelm Diltheys. Dilthey selbst war kein Altphilologe im strengen Sinne, hatte aber doch bei August Boeckh in Berlin studiert, der dort über fast 50 Jahre den 4 Wilhelm von Humboldt, „Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondre“ [1793], in: Gesammelte Schriften, Bd. 1 = Erste Abteilung: Werke. Erster Band: 1785–1795, Albert Leitzmann (Hrsg.), Berlin 1968 (Photomechanischer Nachdruck der 1. Aufl, Berlin 1903), S. 255–281, hier S. 257.

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Stuhl für Altertumswissenschaft inne hatte und dessen regelmäßig gehaltene programmatische Vorlesungen zur Enzyklopädie der Altertumswissenschaften weit über Berlin hinaus das Feld geprägt hatten.5 Die Dilthey-Forschung hat gezeigt, dass die Rezeption seiner Schriften zu seinen Lebzeiten noch unausgewogen erscheint und in ihrer systematischen Natur in weiten Teilen erst im 20. Jahrhundert einsetzte. Es steht jedoch fest, dass seine erste Publikation, der erste Band einer groß angelegten intellektuellen Biografie Schleiermachers (1870), des Theologen, Philosophen und Platon-Übersetzers, auf ein breites Echo stieß, gerade auch unter den Altphilologen, und dass seine Werke Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), Das Erlebnis und die Dichtung (1905) sowie seine Terminologie der geistesgeschichtlichen Interpretation mit ihrer Triade von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen allgemein anerkannt waren.6 Ich möchte gerade im Zusammenhang mit der Bildlichkeit der Einfühlung (die sich auch schon bei Schleichermacher findet) unterstreichen, dass ich Dilthey keine naive Herangehensweise an ein emotionales Nacherleben historischer Gestalten unterstellen will: Sein System, für wie schlüssig und konsistent auch immer man es halten will, schlägt ein komplexes Wechselverhältnis von Nähe und Distanz vor.7 Im Bezug auf die Selbstdarstellung der Altertumswissenschaft ist wichtig, dass mit Diltheys Formulierung, und generell zum Ende des 19. Jahrhunderts, sich auch außerhalb der Philologie die Ansicht durchsetzt, dass das Individuum die beste Wissenseinheit im Hinblick auf geschichtliches Verstehen bildet und dass Erlebnis und Nacherleben repräsentativer und ausgezeichneter Individuen bei aller Distanz die Möglichkeit und das Ziel der Geisteswissenschaften als Wissenschaft darstellen. Die biografische Darstellung solcher Individuen und ihres Nachlebens ist damit zu jener Zeit die angemessenste Methode zur Interpretation literarischer Werke, in denen sich gleichermaßen, so die Annahme, der individuelle Geist äußert. Es sei dahingestellt, wie sehr Diltheys Hermeneutik von Schleichermacher und dessen eigenem Studenten Boeckh geprägt ist (dies im Detail nachzuvoll-

5 August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, Ernst Bratuschek (Hrsg.), Leipzig 1877. 6 Einleitend zu Diltheys Methode und System generell siehe Rudolf A. Makkreel, Dilthey. Philosopher of the Human Studies, 3. Aufl., Princeton 1992 [1975]; Matthias Jung, Dilthey zur Einführung, Hamburg 1996; Hans-Ulrich Lessing, „Dilthey als Historiker“, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Wiesbaden 1988, S. 113–130. 7 Zu Ditheys Gefühlsmethode und den Kontinuitäten in seinem historischen und psychologischen Denken siehe Daniel Morat, „Verstehen als Gefühlsmethode. Zu Wilhelm Diltheys hermeneutischer Grundlegung der Geisteswissenschaften“, in: Uffa Jensen/Daniel Morat (Hrsg.), Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008, S. 101–118.

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ziehen soll hier nicht geleistet werden) und inwieweit daher mit Diltheys Ansatz eine Hermeneutik, die vor allem nach dem Vorbild des Verstehens klassischer antiker Texte formuliert ist (sicherlich der Fall für Schleiermachers Platon), wieder zurück in die Philologie zirkuliert. Doch finden wir beispielsweise schon bei Boeckh die programmatische Annahme, dass philologisches, menschliches und wissenschaftliches Verstehen, die sich alle aneinanderreihen, sowohl technischer Methode als auch eines nicht-rationalen Moments der Einfühlung und Widerspiegelung bedürfen.8 Die Anforderungen an den idealen Philologen etwa, der Ciceros idealem Orator nachempfunden ist, fasst Boeckh so zusammen: Ein reines Gemüth, ein allem Guten und Schönen nur offner Sinn, gleichempfänglich für das Höchste und Uebersinnliche und für das Kleinste, Gefühl und Phantasie verbunden mit Schärfe des Verstandes, eine harmonische Ineinanderbildung des Gefühls und Denkens, des Lebens und Wissens, sind für jede Wissenschaft und nebst rastlosem Fleiss auch für die Philologie Grundbedingungen des wahren Studiums.9 Wenn also die fremde Individualität nie vollständig verstanden werden kann, so kann die Aufgabe der Hermeneutik nur durch unendliche Approximation d.h. durch allmähliche, Punkt für Punkt vorschreitende, aber nie vollendete Annäherung gelöst werden. […] Für das Gefühl wird jedoch in gewissen Fällen ein vollständiges Verständniss erreicht, und der hermeneutische Künstler wird umso vollkommener sein, je mehr er im Besitz eines solchen den Knoten zerhauenden, aber freilich keiner weiteren Rechenschaft fähigen Gefühls ist. Dies Gefühl ist es, vermöge dessen mit einem Schlage wiedererkannt wird, was ein Anderer erkannt hat, und ohne dasselbe wäre in der That keine Mittheilungsfähigkeit vorhanden. Wenngleich nämlich die Individuen verschieden sind, stimmen sie doch auch wieder in vielen Beziehungen überein; daher kann man eine fremde Individualität bis auf einen gewissen Grad durch Berechnung verstehen, in manchen Aeusserungen aber vollständig durch lebendige Anschauung begreifen, die im Gefühl gegeben ist.10

Die Autorbiografie als hermeneutische Methode ist nicht Diltheys Erfindung – sehen wir über die Landesgrenzen hinweg, so sind die Parameter von Biografie und Literatur als normativer, bewusst moderner und eng verbundener Begriffe weit verbreitet, z.B. in Sainte-Beuves Schlagwort des l’homme et l’œuvre.11 Was

8 Vgl. auch den Beitrag von Thomas Petraschka zu „philologischem Takt“ im vorliegenden Band. Zum Element von nicht-rationalem Talent und ingenium in der Textkritik bereits vor Boeckh siehe z.B. Sean Alexander Gurd, Iphigenias at Aulis. Textual Multiplicities, Radical Philology, Ithaca 2005; oder Kristine Louise Haugen, Richard Bentley. Poetry and Enlightenment, Cambridge (MA) 2011. 9 Boeckh, Encyklopädie, S. 26. 10 Ebd., S. 86. 11 Für das Argument, dass die Terminologie von Biografie und Literatur sich in Frankreich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts im Dialog miteinander herausbilden und stark auf die Konzeptualisie-

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Diltheys Fokus auf die Wissenschaftlichkeit (und wissenschaftliche Gleichwertigkeit) des menschlichen Geistes als Kategorie auszeichnet, sind die Folgen, die dies auch für das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftler und Künstler haben wird. Sobald die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften auf einer Interpretationsweise von Kunst beruht, in der ein kognitiver Sprung vorausgesetzt wird, der sich von der Methode des naturwissenschaftlichen Beweises qualitativ unterscheidet, so ist auch das Verhältnis von Künstler und Wissenschaftler neu und anders zu bestimmen – ein Zwiespalt im Übrigen, der in der deutschen Wissenschaftspraxis bis heute stärker gefühlt oder artikuliert wird als in anderen nationalen Traditionen.

II Das Studium der antiken Biographie Im Folgenden sollen einige dieser Spannungen an zwei Phänomenen aufgezeigt werden: an der Welle wissenschaftlichen Interesses an der antiken Biografie um 1900 sowie am Beispiel des Klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Letzterer gilt gerade auch im Ausland nach wie vor als Inbegriff des deutschen Altertumswissenschaftlers, wird aber in der spärlichen Literatur zur Lage der Altphilologie in der Hermeneutiklandschaft um 1900 für gewöhnlich als völlig unberührt von dem Dilthey’schen Einflussbereich einer Sprachlichkeit des Erlebnisses und der Einfühlung dargestellt – zu Unrecht.12 Seine umfangreiche Platonbiografie von 1919, auch wenn sie vergleichsweise wenig erfolgreich rezipiert wurde, stellt die Individualität des Philosophen in den Mittelpunkt und bietet darin eine Reflexion der Identität des modernen Wissenschaftlers und der affektiven Widersprüche wissenschaftlicher Praxis. Um 1900 sehen wir eine ganze Reihe von Publikationen, die sich auf einmal der antiken Biografie und Autobiografie zuwenden. Das prominenteste Beispiel ist vielleicht der erste Band der Geschichte der Autobiographie von Georg Misch (1907), der im Übrigen Diltheys Schwiegersohn war und seine Affinität zu dessen

rung von Fachbereichen und Autorschaft wirken siehe Ann Jefferson, Biography and the Question of Literature in France, Oxford 2007. 12 Klaus Oehler, „Dilthey und die Klassische Philologie“, in: Hellmut Flashar/Karlfried Gründer/ Axel Horstmann (Hrsg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979, S. 181–198; gegenteilige Beweise z.B. in William Calder III/Sven Rugullis, „Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff on Wilhelm Dilthey: His letters to Georg Misch (1914–1928)“, in: Illinois Classical Studies, 17/1992, 2, S. 337–345; Manfred Landfester, „Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und die hermeneutische Tradition des 19. Jahrhunderts“, in: Flashar/Gründer/Horstmann (Hrsg.), Philologie und Hermeneutik, S. 156–180.

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Werk offen eingestand. Für Misch „spezialisierte sich“ mit der „Erneuerung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert […] das wissenschaftliche Interesse an der Selbstbiographie“.13 Für Misch ist die Autobiografie ein dezidiert moderner Ausdruck, verbunden mit der Erwartung an ein entwickeltes Selbstverständnis, und er zitiert Dilthey: „Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt“.14 In der dritten, stark vermehrten Auflage von 1949 räumt Misch jedoch auch der Biografie, die ihm im Gegensatz zur Autobiografie ganz die Domäne der Wissenschaft ist, eine nicht weniger relevante Position ein: Im Autobiographen steigen zugleich mit den Tatsachen in der Erinnerung spontan die Gefühle und Strebungen wieder auf, die zu dem einstigen vollen Erlebnis gehörten, wogegen der Heterobiograph einen hohen Grad von Phantasie und Einfühlungsvermögen haben muß, um in seiner Darstellung solche Regungen unverkünstelt zu vergegenwärtigen, die durch die geschilderten Ereignisse ausgelöst wurden. Schließlich hat, wer es unternimmt, die Geschichte seines eigenen Lebens zu schreiben, dieses als ein Ganzes vor sich, das seine Bedeutung in sich trägt.15

Mischs monumental angelegte Studie weist gleichzeitig auf ein Spannungsverhältnis hin: Einerseits legt Misch offen dar, dass sich die biografische Praxis in der antiken Welt in vieler Hinsicht radikal von einem modernen Verständnis des Biografischen als dem narrativen Entfalten eines Charakters unterscheidet. Andererseits will er gerade griechische Werke als zentrale und bereits entwickelte Momente eines individuellen Selbstverständnisses moderner Art sehen. Die Lösung, auf die er zurückgreift und die er mit altphilologischen Vorgängern seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und Nachfolgern auf relativ lange Sicht teilt, ist jene, Sokrates und Platon als die Figuren zu betonen, die die Anwendbarkeit moderner Kategorien der Individualität auf antike Materialien garantieren können. Das sokratische Vorbild scheint persönliche Entwicklung und das reflektierte Leben in den Mittelpunkt zu stellen. Die Einsicht der Seele in höhere Dinge – als eine hermeneutische Erfahrung mit starkem Erlebnischarakter – wird dann direkt in dem platonischen, philosophischen Eros und im Aufsteigen zur Form wiederentdeckt. Ein Text wie das platonische Symposium kann daher auch bei Misch eine repräsentative Rolle einnehmen als Abbild einer individuellen „See-

13 Georg Misch, Geschichte der Autobiographie. Erster Band: Das Altertum, Leipzig, Berlin 1907, S. VI. 14 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Berlin 1911, S. 10. 15 Georg Misch, Geschichte der Autobiographie. Erster Band: Das Altertum. Erste Hälfte, 3., stark vermehrte Auflage, Frankfurt a.M. 1949, S. 9 f.  

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lengeschichte“, die im philosophischen Diskurs den „Liebeseffekt “ zum Ausdruck bringt, der die rationale Einsicht noch intuitiv übertrifft.16 Ein zweites Beispiel zeigt vielleicht noch besser, wie Mischs Einsicht in die Andersartigkeit antiker biografischer Texte in Konflikt gerät mit seinem eigenen Paradigma, sogar im Falle von Platon. Dies ist der sogenannte Siebte Brief, dem in der dritten, erweiterten Ausgabe von Mischs Geschichte der Autobiographie fast fünfzig Seiten gewidmet sind.17 Der Brief gehört zu einer ganzen Reihe von Briefen, die im platonischen Corpus überliefert sind und deren Authentizität Gegenstand einer schon um 1900 bereits langjährigen Debatte war. Misch stellt zunächst die Echtheit des Siebten Briefs als zeitgenössischen, wenn auch nicht einstimmigen, wissenschaftlichen Konsens vor.18 Der Brief ist in der vorgeblich autobiografischen Stimme Platons verfasst und berichtet von dessen Besuchen am Hofe des syrakusischen Tyrannen Dionysus II, dem sich Platon auf Erbeten des eigenen Freundes Dion als Lehrer und Mentor für einen zukünftigen Philosophenkönig zur Verfügung stellt. Dass wir es mit einem Platon zu tun haben, der hier ausdrücklich über seine Stellung als Lehrer zwischen der politischen Welt und der Akademie reflektiert, mag dem Text zusätzliches Interesse entgegengebracht haben, nicht zuletzt innerhalb einer Disziplin, aus der sich das gesamte Beamtentum rekrutierte und die sich in ihrer Stellung von Anfang an sowohl selbstbewusst zeigte als auch als bedroht empfand.19 Wenn wir Misch nun allerdings vorsichtig lesen, so wird deutlich, dass er selbst die Grenzen des Materials für eine Biografie Platons, „wie hervorragende klassische Philologen es wollen“, erkennt.20 Er selbst lässt zunächst die Frage nach der Autorschaft offen und konstatiert:

16 Misch, Geschichte der Autobiographie. Erster Band (1907), S. 82. 17 Ders., Geschichte der Autobiographie. Erster Band: Das Altertum. Erste Hälfte, 3. Auflage (1949), S. 114–158. Die Tatsache, dass Platons Brief so breiter Raum in der 3. Auflage eingeräumt wird, spricht für die stetige Beschäftigung Mischs mit dem Autor, sowie für seine zentrale Rolle in der altertumswissenschaftlichen Literatur als Inbegriff antiker Geistesgeschichte. 18 Der Konsens, von dem Misch spricht, ist relativ. Für einen Überblick über die Fachliteratur vor 1910 siehe Reginald Hackforth, The Authorship of the Platonic Epistles, Manchester 1913, S. 84–131. Die Fachliteratur, so ist vielleicht anzumerken, war und ist noch vor allem von der deutschsprachigen Diskussion geprägt. Verantwortlich dafür ist die Rolle des Briefes als Quelle für eine esoterische (d.h. mündliche) Lehre Platons, eine These, die vor allem in der deutschen Wissenschaft Vertreter gefunden hat. 19 Für eine gute Diskussion dieses Themas und seiner anhaltenden Gültigkeit siehe Johannes Haubold, „‚Wars of Wissenschaft‘. The New Quest for Troy“, in: International Journal of the Classical Tradition, 8/2002, 4, S. 564–579. 20 Misch, Geschichte der Autobiographie. Erster Band: Das Altertum. Erste Hälfte, 3. Auflage (1949), S. 126.

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Einem modernen Leser, der der Wirklichkeit des Lebens am nächsten zu sein glaubt, wenn er den Menschen mit all seinen Widersprüchen sieht, mag es lebenswahr erscheinen, daß Plato sich nicht als den Philosophen stilisiert wie Dionys als den Tyrannen und Dio als den idealen Staatsmann. Aber mit diesem positivistischen Begriff von Wirklichkeit an die Rechtfertigungsschrift heranzugehen, bedeutet, ihren literarischen Charakter in sein Gegenteil verkehren und ihre Verbindung mit der platonischen Gedankenwelt zerreißen. Wie die Analyse gezeigt hat, ist der Stoff bewußt geformt: nur nicht aus dem Ganzen von Platos Persönlichkeit heraus, sondern stückweis, je nach den Haltungen, in denen er sich vorführt oder den Rollen, die er spielt. Wir bekommen Teile eines Plato-Bildes in die Hand ohne ein geistiges Band; […]. Alles weist darauf hin, daß die Selbstdarstellung hier eine andere Funktion hat als die uns geläufige: sie schließt nicht die autobiographische Intention in sich, die für uns der Selbstdarstellung eine philosophische Würde gibt, das Leben aus dem Leben selbst zu verstehen.21

Misch erkennt an, dass der Siebte Brief uns zwar einen Platon zeigt, dessen Komplexität wir als ein modernes Phänomen verstehen und schätzen können, dass der Brief aber gleichzeitig seinen (Mischs) Kategorien widerspricht: Das Material scheint auf ein klares Ziel hin konstruiert, und es mangelt ihm an geistiger Verbindung mit dem Restwerk und an erzählerischer Entwicklungslinie. Seine Schlussfolgerung allerdings ist nicht die, zu der wir heute vorwiegend gelangen, nämlich, dass antikes biografisches Material einer anderen Funktionalität unterliegt, in der Authentizität selbst eine ganz andere Rolle einnimmt. Stattdessen bewahrt Misch die Verbindungslinie zwischen den eigenen methodischen Parametern und dem Erlebnis der Antike, indem er zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Brief, leider, unauthentisch sein müsse. Der hermeneutische Ansatz will sich im antiken Material widergespiegelt sehen, und noch heute ist, nebenbei bemerkt, der augenscheinliche Mangel an Sympathie, der in antiken biografischen Texten oft dem behandelten Subjekt entgegengebracht wird, ein offensichtlicher Stolperstein für klassische Philologen.

III Wilamowitz’ Platon Einer der „hervorragenden klassischen Philologen, die [den Siebten Brief] für echt halten wollen“, war Wilamowitz, der 1919 seine eigene, 500 Seiten starke Platonbiografie veröffentlichte. Wilamowitz’ Platon mag ein Extrem sein, aber ein symptomatisches Extrem, sowohl für die Spannungen und die Erwartungshaltung, die mit dem biografischen Moment als Interpretationsmodell verbunden waren, als auch für die zentrale Stellung, die Platon einnehmen konnte, um die

21 Ebd., S. 157 f.  

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Verbindung zu moderner Individualität herzustellen. Dazu kommt, dass sein Platon als Figur des Wissenschaftlers vorgestellt wird, der sein Verlangen überkommen muss, selbst Künstler zu sein. Wilamowitz hatte Mischs Geschichte der Autobiographie noch im Jahr ihrer Publikation besprochen. Auch er stellte ihre Verbindung zu Dilthey her,22 und auch er betonte generell immer wieder die Bedeutung des Erlebens als hermeneutische Kategorie. Noch mehr als Misch allerdings diagnostizierte er zunächst in seiner Besprechung einen enttäuschenden Mangel echter Individualität und echten Verstehens derselben in biografischen Texten der Antike: Die gelehrte Biographie sammelt Einzelzüge, ordnet sie nach bestimmten Kategorien und versucht kaum ihre Zusammenfassung zur Einheit. Die Schule des Aristoteles, die so vortrefflich Pflanze und Tier zu beobachten und zu beschreiben weiß, tut es auch für die Menschen. Sie erfaßt die Kennzeichen, die Charaktere (sie hat dies Wort für uns umgeprägt) und verfolgt das Spezifische durch die ganze Lebensführung. Aber das Individuelle kommt dabei selten in Betracht, immer zu kurz. […] Die Fähigkeit, das Typische zu sehen, bleibt der hellenistischen Wissenschaft; aber ein Fortschritt wird nicht gemacht. […] Wir dürfen nicht verschleiern, dass die Hellenen, ebensowenig wie sie eine wirkliche Geschichtsforschung erzeugt haben, einen Menschen ganz wirklich aufzufassen nicht verstanden haben. Immer bleibt der Betrachter draußen stehen, wo er sich doch in die fremde Seele versetzen sollte. Statt zu verstehen, lobt oder tadelt er. Und immer ist ihm der Mensch etwas Fertiges, Ganzes, niemals wird er als etwas Werdendes betrachtet. Wo hätten sie je die Widersprüche erfaßt, die sich in jeder reicheren Seele finden, und deren Vereinigung erst ihre Individualität macht?23

Zwei Ausnahmen gibt es: die Tragödie und, natürlich, Platon. Es ist die attische, klassische Tragödie (die übrigens auch erst im Laufe des 19. Jahrhunderts ihren kanonischen Status in den Lehrplänen von Schulen und Universitäten erhält), die uns „ganze Menschen“ zeigt, „bei denen wir empfinden, wie sie so werden mussten“.24 Wilamowitz’ eigene Platonbiografie steigert diese Ansicht und zeigt dabei, wie weitreichend die Konsequenzen sind für das hermeneutische Verlangen, die Antike als Individuum zu personifizieren und zu biografisieren. Wilamowitz’ Aufmerksamkeit gilt explizit „Platon dem Menschen“, nicht dem Inhalt und allen Details des philosophischen Werkes.25 Dies ist ein Echo des Vorsatzes, der durch

22 Die Besprechung war ursprünglich veröffentlicht als „Die Autobiographie im Altertum“, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 1/1907, S. 1105–1114; nachgedruckt in Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Kleine Schriften, Bd. VI, Berlin 1972, S. 120–127 (hier zitiert). 23 Wilamowitz, „Autobiographie im Altertum“, S. 123 f. 24 Ebd., S. 124. 25 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Platon, Berlin 1919, S. ix.  

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das 19. Jahrhundert hindurch gehört wurde, dass der Autor als Schlüssel zum Werk oder gar über das Werk hinaus das Objekt des Verstehens ist. Im Gegensatz zu antiken Autoren charakterisiert Wilamowitz seine Methode mit den Worten „so sehe ich den Dichter, in dessen Seele ich mich einzufühlen versuche“,26 und selbst wenn er anerkennen muss, dass Platon in seinen Schriften selbst wenig Interesse an psychologischer Entwicklung erkennen lässt, so besteht er auf dem „starken Gefühl“, das sich in seinen Schriften Bahn bricht, „weil Platon selbst eine so stark individuelle Seele besaß“.27 Repräsentativ für seine Methode ist vielleicht das „Ein glücklicher Sommertag“ überschriebene Kapitel, welches sich mit der Entstehung von Platons Dialog Phaedrus beschäftigt – ein Dialog, dem übrigens schon Schleiermacher eine Vorrangstellung als Schlüssel zu Platons Entwicklung und zur Entwicklung seiner Philosophie einräumte.28 Wilamowitz präsentiert uns einen Platon, der sich noch im stetigen Widerstreit zu seinem Verlangen nach einem Dichterleben befindet und in diesem Moment nach Fertigstellung des Staates in einem Zustand mentaler „Ermattung“ und „Befreiung“ steht: „Es war wieder ein solcher glücklicher Moment, wo all dies, was in seiner Seele war, in eins zusammenschoß, in ein Gefühl zugleich und ein Wissen. Das mußte er sich von der Seele schreiben, und so entstand ein neues Werk, unmittelbar nach dem Staat“ – ein Werk, gekennzeichnet von „Freudigkeit, Wohlgefühl, Befriedigung“.29 Wilamowitz’ Platon ist ein Philosoph, der sich der wissenschaftlichen Pädagogik verschrieben hat, der aber auch noch sein eigenes Erleben von Dichtung nicht verwerfen will oder kann. In einem bemerkenswerten Moment von Ventriloquismus wird Platons Schreiben um des eigenen Vergnügens willen – der Phaedrus – mit dem Handeln der jungen Mädchen verglichen, die für das Adonisfest nur kurz blühende Blumen ziehen: Jetzt ist ihm Schreiben das Spiel, in dem er sich erfrischt. Mag es nicht mehr Wert haben und so vergänglich sein wie die Blumen, die sich die Mädchen zum Adonisfeste in einer Scherbe ziehen, auf daß sie den einen Festtag in bunter Pracht stehen, um zu welken, wenn Adonis sterben muß. Er sät den fruchtbaren Samen in die Seelen seiner Jünger; aber die lieben bunten Blümlein seiner Dichtungen zieht er sich zur eigenen Freude. Er kann nicht anders;

26 Ebd., S. 454. 27 Ebd., S. 470. 28 Siehe z.B. Andreas Arndt, „Schleiermacher und Platon“, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Über die Philosophie Platons, Peter Steiner (Hrsg.), Hamburg 1996, S. vii–xxii; Jan Rohls, „Schleiermachers Platon“, in: Niels Jørgen Cappelørn [u.a.] (Hrsg.), Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit, Berlin 2008, S. 709–732. 29 Wilamowitz, Platon, S. 361.

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in der Verurteilung der Schriftstellerei, die er doch als Schriftsteller ausspricht, liegt dies Geständnis.30

Das folgende Kapitel trägt den Titel „Nur noch Lehrer“. Gleichzeitig bleibt die Spannung zwischen Wissenschaft und ihrem Anderen konstituierender Teil der Erzählung wie auch ihrer Struktur. Um Platons Phaedrus, wie auch alle seine anderen Werke, zu studieren, bedarf es, so Wilamowitz, wissenschaftlicher philologischer Kenntnis und Ausbildung – gerade um das Persönliche zu erfahren: Der Hauptwert und Hauptreiz des Phaidros liegt gerade in dem Persönlichen, das hier am vernehmlichsten zu uns spricht; er ist am allerwenigsten mit Berechnung auf die Leser geschrieben. In die platonische Dialektik muss man schon eingedrungen sein; dann aber wird uns der Phaidros am meisten das ersetzen, was Platons Schüler als das Beste von ihm empfingen; die Berührung mit dem lebendigen Menschen.31

Der „lebendige Mensch“ wiederum ist gekennzeichnet durch seinen Drang nach Wissen und Wissenschaft. Ziel unserer eigenen Wissenschaft ist es somit, die Unzertrennlichkeit von Platons Biografie und seiner Wissenschaft zu verstehen: „Diesen Platon und diese Philosophie zu zeigen, ist meine Aufgabe. Der Weg, den er geht und den er weist, ist die strenge Wissenschaft“.32 Das „Allerletzte und Höchste“ allerdings „ist wissenschaftlich nicht beweisbar“, sondern wird „angeschaut durch inneres Erleben“ – eine Sprache, die teils platonisch ist, teils Boeckh und teils Dilthey verpflichtet, ohne genaue Passform.33 Wissenschaft, Erlebnis und Dichtung verschwimmen und gehen als Methode und Wissensobjekt völlig ineinander auf – jedoch nicht, ohne ihre Verankerung in der Welt der akademischen Wissenschaft zu lösen: Niemand wird ein gut Teil seines Lebens und seiner Kraft an eine solche Aufgabe setzen, wenn er nicht den Menschen und seine Philosophie liebt; […]. Der Philologe ist nun einmal Interpret, Dolmetsch, aber nicht nur der Worte; die wird er nicht voll verstehen, wenn er nicht die Seele versteht, aus der sie kommen. Er muß auch der Interpret dieser Seele sein. Denn weil sie ihre ganze Kunst im Interpretieren bewährt, ist die Biographie recht eigentlich Philologenarbeit, nur in höherer Potenz.34

30 31 32 33 34

Ebd., S. 356 f. Ebd., S. 384. Ebd., S. ix. Ebd. Ebd., S. xi.  

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Wie gehen wir nun mit solcher affektiv besetzten und vielleicht in ihrer Rhetorik befremdlichen Nähe im Werk eines Wissenschaftlers um? In seiner Einleitung in die literarische Hermeneutik hat Peter Szondi vor 35 Jahren auf ein Muster in der deutschen hermeneutischen Tradition hingewiesen, die so eng mit der Entwicklung der Philologie als Disziplin verbunden war. Er unterscheidet zwischen zwei grundlegenden, jedoch niemals völlig voneinander getrennten Tendenzen: der „historisch-grammatischen“ einerseits, bei der wir versuchen, einen Gegenstand oder Text so gut und vollständig wie möglich in seinem entfernten historischen Kontext zu rekonstruieren; und anderseits der „allegorischen“, bei der wir Einzelteile absichtlich aus ihrem Kontext lösen und nach ihrer Bedeutung für die Gegenwart befragen.35 Szondi zieht daraus in einem nächsten Schritt einen kontraintuitiven und wichtigen Schluss im Hinblick darauf, was dies über die relative Nähe der Methode zum Objekt aussagt: Es sei die historisch-kritische Methode, die strukturell, wenn auch nicht explizit, eine viel stärkere Vergegenwärtigung verfolge in dem Versuch, sich einem originalen und unmittelbaren Kontext so weit wie möglich anzunähern, trotz aller Distanz. Die allegorische Tendenz im Gegensatz kann trotz ihres punktuellen Insistierens auf den Gegenwartsbezug viel leichter eine letztendlich unverfügbare Vergangenheit des Objekts als Ganzem bestehen lassen. Mit der jüngsten Wiederentdeckung der powers of philology vor allem im anglo-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb und mit der gleichzeitigen Notwendigkeit, die Humanities rechtfertigen zu müssen, ist in den letzten Jahren oft ein neues Hochlebenlassen ihres Vermögens des presencing einhergegangen,36 und ihres Vermögens, direkt auf die individuelle Entwicklung einzuwirken. Dies muss nicht selbstverständlich oder selbstverständlich richtig sein. Zu zeigen, dass ein Diskurs und eine Bildlichkeit der Einfühlung und der affektiven Nähe weder neu sind noch ohne Folgen waren für die Konstitution des Fachinhaltes, ist ein erster Schritt, der uns helfen mag, eine gewisse, in die Philologie strukturell einbeschriebene und heute oft wieder gefeierte Nostalgie, die unter der Verlebendigung lauert, besser verstehen und besser einordnen zu können.

35 Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Jean Bollack/Helen Stierlin (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1975, S. 21–23. 36 Vgl. z.B. Hans-Ulrich Gumbrecht, The Powers of Philology. The Dynamics of Textual Scholarship, Urbana (IL) 2003, und Ders., The Production of Presence. What Meaning Cannot Convey, Stanford 2004; dazu kritisch: Jan Ziolkowski, „Metaphilology“, in: The Journal of English and Germanic Philology, 104/2005, 2, S. 239–272; zur Nostalgie im augenblicklichen Philologie-Revival auch Geoffrey Galt Harpham, „Roots, Races, and the Return to Philology“, in: Representations, 106/2009, 1, S. 34–62.

Olav Krämer, Freiburg

Goethes Wahlverwandtschaften in Interpretationen von der Geistesgeschichte bis zum Poststrukturalismus Zu einigen Kontinuitäten in der Argumentationspraxis I Einleitung Die Geschichte der germanistischen Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert wird in Überblicksdarstellungen häufig in Phasen unterteilt, die durch die Dominanz oder Prominenz bestimmter Theorien, Methoden, Schulen oder Forschungsrichtungen gekennzeichnet sind. Darüber, welche Theorien, Methoden oder Richtungen in welchen Zeiträumen besonders wichtig waren – wann also etwa die Hochzeiten der Geistesgeschichte, der werkimmanenten Interpretation oder sozialgeschichtlicher Ansätze waren –, sind sich die Darstellungen im Großen und Ganzen einig.1 Mit der Aussage, dass die Theorien oder Methoden in bestimmten Zeiträumen einflussreich waren, ist offensichtlich in der Regel auch gemeint, dass sie die literaturwissenschaftliche Interpretationspraxis beeinflussten. Dass dies in irgendeiner Weise und irgendeinem Maße der Fall war, dass sich die verschiedenen Richtungen also nicht allein in theoretischen Abhandlungen und Programmschriften manifestierten, dürfte wiederum unstrittig sein; in welcher Weise genau sie sich in der Interpretationspraxis niederschlugen, kann aber noch nicht als geklärt gelten. Selbst bei Interpretationen, deren Verfasserinnen oder Verfasser sich explizit zu einer bestimmten Theorie bekennen, kann nicht einfach vorausgesetzt werden, dass sie diese Theorie und die ihr zugeordnete Methode tatsächlich konsequent befolgen. Vor allem aber ist zu bedenken, dass Interpreten sich ausdrücklich nur lose an einer Theorie orientieren können, dass sie eine Theorie modifizieren oder auch verschiedene theoretische und methodische Ansätze kombinieren können.2 So findet sich in literaturtheoretischen Untersuchungen und in

1 Vgl. etwa die Darstellungen in: Benedikt Jeßing/Ralph Köhnen, Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 2003, S. 192 f.; Jochen Vogt, Einladung zur Literaturwissenschaft. Mit einem Hypertext-Vertiefungsprogramm im Internet, 5. Aufl., München 2002, S. 193–212; Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., München 1997 [zuerst 1996]. 2 Mit solchen Kombinationen oder freien Abwandlungen von Theorien und Methoden ist umso mehr zu rechnen, als sie – unter Titeln wie ‚reflektierter Eklektizismus‘ – in Einführungen und  

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Einführungen in Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft denn auch nicht selten der Hinweis, dass die Theorien und Methoden in der Praxis kaum einmal in der „Reinheit“ begegnen, in der sie – zu analytischen oder didaktischen Zwecken – in diesen Untersuchungen oder Einführungen präsentiert werden.3 Wie aber diese ‚Unreinheiten‘ der interpretatorischen Praxis im Einzelnen aussehen und ob sie nicht bloß idiosynkratische Abweichungen darstellen, sondern Regelmäßigkeiten aufweisen, ist bisher kaum untersucht worden. Die vorliegende Fallstudie widmet sich an einem konkreten Beispiel der Frage, wie sich verschiedene literaturwissenschaftliche Ansätze in der Interpretationspraxis manifestieren, und sucht dabei auch einige ‚Unreinheiten‘ dieser Praxis näher zu beleuchten. Analysiert werden im Folgenden Interpretationen eines kanonischen Textes, die – ihrer Selbstpositionierung oder der Einordnung durch spätere Forschungsarbeiten zufolge – unterschiedlichen Ansätzen oder theoretischen Richtungen zugeordnet werden können. Es soll gezeigt werden, dass es zwischen den Argumentationen dieser Interpretationen erhebliche Kontinuitäten gibt, und zwar sowohl hinsichtlich der zentralen Interpretationsthesen als auch hinsichtlich der Argumentationsverfahren, anhand derer die Thesen entwickelt und gestützt werden. Die Interpretationen weisen somit gerade auf jenen Ebenen keine klaren Unterschiede auf, auf denen in Einführungen und literaturtheoretischen Untersuchungen oft die spezifischen Differenzen zwischen verschiedenen Theorien oder Richtungen verortet werden: auf der Ebene der Ziele der Interpretationen sowie auf der Ebene der Argumentationsweisen.4 Zugleich soll aber auch deutlich werden,

Handbüchern gelegentlich explizit gefordert oder zumindest befürwortet werden; vgl. etwa Vogt, Einladung zur Literaturwissenschaft, S. 214 f. 3 So heißt es in der Einleitung eines vielfach neu aufgelegten Überblicks über literaturwissenschaftliche Methoden: „Es wurden sechs abgrenzbare Methodenformen ausgewählt, die sich zwecks Klarstellung der Prinzipien eine gewisse Purifizierung gefallen lassen müssen. In der Praxis kommen sie in der hier aufgezeigten Reinheit nicht vor.“ (Manon Maren-Grisebach, Methoden der Literaturwissenschaft, 2., veränderte und erweiterte Auflage, München 1972 [zuerst 1970, 10. Aufl. 1992], S. 7). – Vgl. auch: Werner Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn [u.a.] 1993, S. 69. 4 Für eine Typologie von Interpretationsarten, die (unter anderem) das Ziel und die Argumentationsform der Interpretation als Unterscheidungsgesichtspunkte verwendet, vgl.: Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft, S. 67–96 (Anm. S. 169–178), zu den Unterscheidungskriterien ebd., S. 68 f. Für eine Einführung in die Literaturtheorie, die sich ähnlicher Unterscheidungskriterien bedient, vgl.: Tilmann Köppe/Simone Winko, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2008. Jeffrey Stout hat die Vermutung geäußert, dass die Differenzen zwischen literaturwissenschaftlichen Ansätzen wie Marxismus, Psychoanalyse, Intentionalismus und New Criticism großenteils – wenn auch nicht vollständig – darin bestehen, dass diese Ansätze sich für unterschiedliche Aspekte literarischer Texte interessieren und folglich  



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dass die Zuordnungen der Interpretationen zu den jeweiligen Ansätzen nicht beliebig sind, sondern sich auf benennbare Merkmale der Interpretationen stützen können. In diesem Sinne kann man die untersuchten Interpretationen als Beispiele für ‚unreine‘ Umsetzungen der Ansätze betrachten. Man kann aber auch trotz der vorgestellten Befunde weiterhin annehmen, dass es sich um ‚reine‘ oder zumindest typische Umsetzungen handelt, und die Befunde als Indiz dafür sehen, dass das, was eine Interpretation – für ihren Verfasser wie für die Fachgemeinde – zu einer werkimmanenten, sozialgeschichtlichen oder poststrukturalistischen macht, eben nicht spezifische Ziele oder Argumentationsverfahren sind. Als Untersuchungsbasis dienen hier Interpretationen von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften,5 die ihrer Selbstpositionierung oder der Klassifikation durch spätere Forschungsarbeiten und Forschungsberichte zufolge6 einem von vier literaturwissenschaftlichen Ansätzen zugeordnet werden können: Geistesgeschichte,7 werkimmanente Interpretation,8 sozialgeschichtliche Ansät-

verschiedene Ziele verfolgen. Von diesen divergierenden Interessen und Zielen seien dann die Methoden der Interpretationen bestimmt. Vgl. Jeffrey Stout, „What Is the Meaning of a Text?“, in: New Literary History, 14/1982, 1, S. 1–12, vor allem S. 5–8. 5 Goethes Roman wird zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe, „Die Wahlverwandtschaften“, in: Ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6: Romane und Novellen I. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Erich Trunz und Benno von Wiese, München 1998, S. 242–490. 6 Die Fremdzuordnungen der hier behandelten Interpretationen sind den folgenden Überblicksdarstellungen zur Wahlverwandtschaften-Forschung oder zu Teilen derselben entnommen: Astrida Orle Tantillo, Goethe’s ‚Elective Affinities‘ and the Critics, Columbia (SC) 2001; Martin Stingelin, „Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften im Spiegel des Poststrukturalismus“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997 (Germanistische Symposien-Berichtsbände, 18), S. 399–411; Ewald Rösch, „Einleitung“, in: Ewald Rösch (Hrsg.), Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘, Darmstadt 1975 (Wege der Forschung, 113), S. 1–34; Werner Schwan, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als exemplarischer Text im Einführungskurs“, in: Hermann Müller-Solger (Hrsg.), Modelle der Praxis, Tübingen 1972, S. 37–55. 7 Als Beispiele für den geistesgeschichtlichen Ansatz dienen hier: H. A. Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. II. Teil: Klassik, Leipzig 1930, S. 374–392; Paul Hankamer, Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt, Tübingen 1943; zu Die Wahlverwandtschaften vor allem S. 207–343. 8 Vgl. Paul Stöcklein, „Stil und Sinn der ‚Wahlverwandtschaften‘“, in: Ders., Wege zum späten Goethe. Dichtung, Gedanke, Zeichnung. Interpretationen, Hamburg 1949, S. 7–55; Hennig Brinkmann, „Zur Sprache der ‚Wahlverwandtschaften‘“, in: Benno von Wiese/Karl Heinz Borck (Hrsg.), Festschrift für Jost Trier. Zu seinem 60. Geburtstag am 15. Dezember 1954, Meisenheim/Glan 1954, S. 254–276; Kurt May, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als tragischer Roman“, in: Ders., Form und Bedeutung. Interpretationen deutscher Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1957, S. 107–115 [gekürzte und veränderte Fassung eines zuerst 1940 erschienenen Aufsatzes].

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ze,9 Poststrukturalismus.10 Es handelt sich hier also um Ansätze, deren Hochkonjunkturphasen zeitlich aufeinander folgten (wobei sie sich im Falle von Sozialgeschichte und Poststrukturalismus vermutlich überlappten), und diese chronologische Reihenfolge wird auch durch die Veröffentlichungsdaten der behandelten Wahlverwandtschaften-Interpretationen widergespiegelt. Folgt man den Darstellungen dieser vier Ansätze in Handbüchern oder literaturtheoretischen Arbeiten, so unterscheiden sie sich relativ klar hinsichtlich ihrer Ziele und Vorgehensweisen: Demnach geht es geistesgeschichtlichen Interpretationen darum, literarische Texte einerseits als gestalteten Niederschlag des Erlebens des Autors und andererseits als Manifestation eines überindividuellen Typs oder einer epochalen Geisteshaltung zu deuten. Werkimmanente Interpretationen hingegen betrachten den Text als in sich geschlossenes sprachliches Kunstwerk und suchen die Gestaltungsprinzipien sichtbar zu machen, durch die sich formale und inhaltliche Momente zu einer Einheit verbinden. Sozialgeschichtliche Interpretationen setzen sich das Ziel, die gesellschaftliche Bedingtheit literarischer Texte aufzuzeigen, etwa indem sie die ideologische Prägung der Botschaften oder ästhetischen Prinzipien des Textes deutlich machen. Unter dem Label ‚Poststrukturalismus‘ schließlich werden unterschiedliche theoretische Ansätze versammelt, unter denen Dekonstruktion und Diskursanalyse besonders prominent sind. Gemeinsam ist ihnen die Annahme und die Akzentuierung von ‚Brüchen‘ innerhalb literarischer Texte:

9 Vgl. Stefan Blessin, Die Romane Goethes, Königstein/Taunus 1979, S. 59–109, Anm. 319–327; Hans-Rudolf Vaget, „Ein reicher Baron. Zum sozialgeschichtlichen Gehalt der ‚Wahlverwandtschaften‘“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 24/1980, S. 123–161; Werner Schwan, Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Das nicht erreichte Soziale, München 1983. 10 Vgl. Jochen Hörisch, „Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins. Marginalien zu Derridas Ontosemiologie“, in: Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Jochen Hörisch, Frankfurt a.M. 1979 [frz. Orig. 1967], S. 7–50; Ders., „‚Die Himmelfahrt der bösen Lust‘ in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Versuch über Ottiliens Anorexie“, in: Norbert W. Bolz (Hrsg.), Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Hildesheim 1981, S. 308–322; Ders., „‚Die Begierde zu retten‘. Zeit und Bedeutung in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“, in: Jochen Hörisch/Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München 1985, S. 78–90; Friedrich A. Kittler, „Ottilie Hauptmann“, in: Bolz (Hrsg.), Goethes Wahlverwandtschaften, S. 260–275; Waltraud Wiethölter, „Legenden. Zur Mythologie von Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 56/1982, 1, S. 1–64; David E. Wellbery, „Die Wahlverwandtschaften (1809)“, in: Paul Michael Lützeler/James E. McLeod (Hrsg.), Goethes Erzählwerk, Stuttgart 1985, S. 291–318; Gerhard Neumann, „Bild und Schrift. Zur Inszenierung von Fiktionalität in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“, in: Freiburger Universitätsblätter, 28/1989, 103, S. 119–128.

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Dekonstruktionistischen Analysen oder Lektüren geht es nach einer geläufigen Charakterisierung darum, zu zeigen, wie die intendierten Aussagen oder Botschaften eines literarischen Textes innerhalb des Textes selbst subvertiert wird; Diskursanalysen begreifen, mit einer verbreiteten Metapher gesprochen, den literarischen Text als einen Knotenpunkt von Diskursen und suchen nachzuweisen, dass der Text nicht oder nicht nur das Produkt des Gestaltungswillens seines Autors ist, sondern das Ergebnis eines kontingenten Zusammentreffens verschiedener Diskurse. Wie im Folgenden dargelegt werden soll, entsprechen die Wahlverwandtschaften-Interpretationen mit Ausnahme der geistesgeschichtlichen Arbeiten diesen Charakterisierungen nur sehr bedingt. Sie weisen vielmehr beträchtliche Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Struktur ihrer zentralen Thesen auf (dazu unten, Abschnitt II), und diese Gemeinsamkeiten werden von Ähnlichkeiten zwischen den zur Stützung dieser Thesen gebrauchten Argumentationsverfahren begleitet (dazu Abschnitt III). Zugleich soll aber auch deutlich werden, dass die Zuordnung der Interpretationen zu den vier Ansätzen nicht abwegig ist; aber ihre Zugehörigkeit oder Affinität zu diesen Ansätzen macht sich auf andere Weise geltend als durch die Verfolgung spezifischer Ziele oder die Verwendung spezifischer Argumentationsverfahren. Zwei Vorbemerkungen zur Begrifflichkeit dieser Untersuchung sind angebracht. Erstens: Ich werde Geistesgeschichte, werkimmanente Interpretation, Sozialgeschichte und Poststrukturalismus von nun an durchgehend als Ansätze, nicht als Theorien oder Methoden bezeichnen. Der Grund dafür ist oben bereits angedeutet worden: Die Begriffe ‚Geistesgeschichte‘, ‚werkimmanente Interpretation‘ usw. werden hier zunächst behandelt als geläufige Bezeichnungen für fachgeschichtliche Phasen und für Richtungen der Literaturwissenschaft. Betrachtet man als definierende Merkmale dieser Phasen und Richtungen spezifische Theorien oder Methoden, so werden die meisten hier behandelten Wahlverwandtschaften-Interpretationen sich vermutlich als ‚unreine‘ Umsetzungen dieser Theorien und Methoden und die Selbst- oder Fremdverortungen, nach denen ich mich in meinen Zuordnungen der Interpretationen richte, sich somit als nur partiell zutreffend darstellen. Man kann aber gerade angesichts der (vermutlich) beträchtlichen Häufigkeit von ‚unreinen‘ Interpretationen in diesem Sinne auch die Ansicht vertreten, dass die als ‚werkimmanente Interpretation‘, ‚Poststrukturalismus‘ usw. bezeichneten Phasen und Richtungen sich jeweils in mehreren unterschiedlichen Interpretationsweisen manifestierten und ihre Identität auf anderem Wege als durch die Verpflichtung auf eine charakteristische Theorie und Methode der Interpretation gewannen. Um eben diese Frage, welcher Art die wesentlichen Charakteristika von Werkimmanenz, Poststrukturalismus usw. sind, offen zu lassen, verwende ich den relativ unbestimmten Ausdruck

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‚Ansatz‘.11 – Zweitens: Diese Untersuchung verwendet den Begriff der Argumentation als zentralen Analysebegriff, weil sie Begründungszusammenhänge innerhalb von Interpretationen rekonstruieren will, also die Interpretationen besonders im Hinblick darauf betrachtet, welche Arten von Thesen mithilfe welcher Arten von Aussagen gestützt werden.12 Der Ausdruck ‚Argumentationsverfahren‘ wird in Abschnitt III verwendet als – zugegebenermaßen unscharfer – Oberbegriff für Muster von Aussagenverknüpfungen, in denen bestimmte Arten von Textdaten mit bestimmten Weisen der Bedeutungszuschreibung verbunden werden. Als ‚Argumentationsverfahren‘ werden diese Muster bezeichnet, weil ihre Realisierungen in den Interpretationen als Begründungen zentraler Interpretationsthesen dienen; sie selbst enthalten aber neben argumentativen auch andere Sprachhandlungen, etwa beschreibender oder erklärender Art. Diese Untersuchung ist primär einem wissenschaftsgeschichtlichen Interesse verpflichtet, sucht also in erster Linie eine Interpretationspraxis zu beschreiben, nicht sie zu bewerten. Diese deskriptive Untersuchung soll aber auch Grundlagen oder Anregungen für eine kritische Prüfung einzelner Ausprägungen dieser Praxis bieten, und an einigen Stellen wird sie selbst schon eine evaluative Perspektive einnehmen: In der Analyse der Argumentationsverfahren soll gezeigt werden, dass die Anwendungen dieser Verfahren in Interpretationen verschiedener Ansätze häufig ähnliche Begründungslücken aufweisen. Auch wenn die Zahl der untersuchten Interpretationen recht klein ist und die Analysen einzelner Argumentationen knapp gehalten sind, erlauben diese kritischen Beobachtungen doch die Vermutung, dass zusammen mit den beschriebenen Argumentationsverfahren auch das Überspringen bestimmter Begründungen eine Art von Routinecharakter13 erhalten hat.

11 Die Ausdrücke ‚Theorie‘ und ‚Methode‘ werden in der Literaturwissenschaft zwar nicht selten in einem ebenso unbestimmten Sinn gebraucht wie ‚Ansatz‘ oder ‚Richtung‘, aber es dürfte nicht sinnvoll sein, sich diesem Sprachgebrauch in einer wissenschaftsgeschichtlichen oder theoretischen Untersuchung anzupassen. 12 Unter ‚Argumentation‘ wird hier also eine sprachliche Handlung verstanden, die darauf zielt, eine Behauptung zu begründen und somit zu stützen. Mit dieser Verwendung des Ausdrucks folge ich u.a.: Werner Sökeland, „Erklärungen und Argumentationen in wissenschaftlicher Kommunikation“, in: Theo Bungarten (Hrsg.), Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription, München 1981, S. 261–293, hier S. 263. Für eine präzisere Definition des Begriffs der Argumentation, die aber ebenfalls das Ziel der Begründung einer Behauptung als ein Kernelement enthält, vgl.: Frans H. van Eemeren/Rob Grootendorst/Francisca Snoeck Henkemans [u.a.], Fundamentals of Argumentation Theory. A Handbook of Historical Backgrounds and Contemporary Developments, Mahwah (NJ) 1996, S. 5. 13 Für eine Theorie sozialer Praktiken, die eine auf implizitem Wissen basierende „Routinisiertheit“ als einen Grundzug solcher Praktiken betrachtet, vgl.: Andreas Reckwitz, „Grundelemente

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II Argumentationsziele: Der Charakter der zentralen Thesen II.1 Aussagen über den Autor und seine Absichten Eine bemerkenswerte Kontinuität zwischen den hier analysierten Gruppen von Wahlverwandtschaften-Interpretationen entsteht dadurch, dass Interpretationsthesen über die Absichten des Autors Goethe sowie Argumentationen, die der Stützung dieser Thesen dienen, in Interpretationen aller Gruppen einen zentralen Platz einnehmen. Solche intentionalistischen Thesen und Argumentationen finden sich nicht in allen hier untersuchten Interpretationen; aber sie finden sich sowohl in geistesgeschichtlichen als auch in formanalytischen, in sozialgeschichtlichen wie in poststrukturalistischen Interpretationen. Das Erfassen von Absichten, Überzeugungen oder geistigen Haltungen individueller Autoren gehörte in Verbindung mit dem Erfassen der überindividuellen, epochalen Geisteshaltungen, die sich in den einzelnen Autoren verwirklichen, zu den expliziten Zielen geistesgeschichtlicher Interpretationen.14 Eine Version dieser Zielsetzungen ist auch für die Konzeption der ‚Ideengeschichte‘ kennzeichnend, die Hermann August Korff seiner dreibändigen Studie Geist der Goethezeit zugrunde legte,15 und so mündet die darin enthaltene Interpretation der Wahlverwandtschaften in Thesen darüber, welche „Idee“ Goethe in diesem Roman gestaltet habe und wie in demselben Goethes „Gesinnung“ und sein „Gefühl“ zum Ausdruck kommen.16 Das Thema des Romans ist nach Korff der „Konflikt zwischen Ordnung und Leidenschaft“.17 Goethe stehe der „Gesinnung“ nach eindeutig auf Seiten der Ordnung und verteidige dementsprechend „die absolute einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, 32/2003, 4, S. 282–301, hierzu v.a. S. 294. Als „an impliziten Normen orientierte Handlungsroutinen“ werden Praktiken auch verstanden bei: Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, in: Geschichte der Germanistik, 35/36/2009, S. 89–96, Zitate S. 89. 14 Diese Zielsetzungen wurden von verschiedenen Vertretern der Geistesgeschichte allerdings unterschiedlich ausgearbeitet. Diese heterogenen Momente der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft betont: Max Wehrli, „Was ist/war Geistesgeschichte?“, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt a.M. 1993, S. 23–37; zustimmend hierzu: Rainer Kolk, „Reflexionsformel und Ethikangebot. Zum Beitrag von Max Wehrli“, in: ebd., S. 38–45, hier S. 39. 15 Vgl. hierzu: H. A. Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen Literaturgeschichte. I. Teil: Sturm und Drang, Leipzig 1923, S. 1–8. 16 Vgl. Korff, Geist der Goethezeit. […] II. Teil, S. 374–392; zu der „Idee“ oder dem „Gesinnungskomplex“, die beziehungsweise der in den Wahlverwandtschaften dargestellt werde, ebd., S. 376; zu dem „Gefühl“, mit dem Goethe der „Idee“ seiner Dichtung gegenübergestanden habe, und zu dem Widerstreit zwischen seiner „Gesinnung“ und dem Gefühl vgl. ebd., S. 387–392, Zitate S. 387. 17 Ebd., S. 376.

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Heiligkeit der Ehe“18 als einer Institution, in der sich die Ordnung realisiert; der Roman lasse aber gleichwohl erkennen, dass Goethe sich „mit seinem letzten Gefühl“ über diesen Konflikt erhebe und die „ganze Tragik des Lebens“ empfinde, „die eben in der Antinomie von Ordnung und Leidenschaft besteht.“19 – Auch Paul Hankamers 1943 veröffentlichtes Buch Spiel der Mächte und die darin vorgestellte Wahlverwandtschaften-Interpretation20 waren einem geistesgeschichtlichem Ansatz verpflichtet, wobei das Bemühen um eine Beschreibung epochaler Geisteshaltungen hier gegenüber den auf den einzelnen Dichter gerichteten Fragestellungen zurücktrat. Den Gegenstand der Studie bildet ein Abschnitt von Goethes Leben, den Hankamer als eine krisenhafte Übergangsphase deutet, der Zeitraum von 1805 bis etwa 1810; zum Ziel setzte Hankamer es sich, die „Einheit“ erkennbar zu machen, die alle „Schicksale und Leistungen“ Goethes in diesen Jahren verband.21 Diese Einheit ergibt sich nach Hankamer zum großen Teil aus Goethes Einsicht in die Existenz und das Wesen jener rätselhaften „Mächte“, die er mit dem Namen des Dämonischen belegt habe. In dem Roman Die Wahlverwandtschaften ebenso wie in anderen Werken des genannten Zeitraums habe Goethe das teils schöpferische, teils zerstörerische Wirken des Dämonischen innerhalb des menschlichen Lebens gestaltet.22 Auch die werkimmanenten Studien räumen zwar der Analyse der Form und der ‚inneren‘ Strukturen des Romans eine wichtige Stellung und gewissermaßen ein Primat ein, integrieren diese Formanalysen aber in umfassende Interpretationsthesen, die Aussagen über den Autor Goethe und seine leitenden Absichten enthalten. Das gilt etwa für die Interpretationen, die Paul Stöcklein und Kurt May in den späten 1940er und den 1950er Jahren vorgelegt haben.23 Beide Forscher stellen Analysen des Stils und der Erzählweise an den Anfang ihrer Interpretation, um dann über die Untersuchung von Figuren und Handlungsverlauf und die Einbeziehung historischer Kontexte zu Thesen über die Erfahrungen, Auffassungen und Intentionen Goethes zu gelangen, die für die Gestaltung des Romans im Ganzen bestimmend gewesen seien.24 Stöcklein zufolge übt Goethe in Die Wahlverwandt-

18 Ebd., S. 389. 19 Ebd., S. 388. 20 Vgl. Hankamer, Spiel der Mächte; zu Die Wahlverwandtschaften vor allem S. 207–343. 21 Vgl. ebd., S. 9 f. 22 Vgl. ebd., vor allem S. 275–277. 23 Vgl. Stöcklein, „Stil und Sinn der ‚Wahlverwandtschaften‘“; May, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als tragischer Roman“. 24 In Mays Aufsatz heißt es im Anschluss an die Analysen zur Erzählweise: „Durch Beobachtungen an der Sprache so vorbereitet, suchen wir jetzt erst nach dem letzten bindenden Sinn des tragischen Romans.“ (May, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als tragischer Roman“, S. 111). Am Anfang von Stöckleins Studie stehen zwei Abschnitte, die „Der Stil“ und „Schichten“ überschrie 

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schaften Kritik an der romantischen Natur-, Welt- und Lebenssicht.25 May hingegen vertritt die These, Goethe habe mit dem Roman auf eine Reihe von Leidens- und Krisenerfahrungen der Jahre nach 1800 geantwortet, indem er die Geschichte einer unbedingten Liebe und ihres katastrophalen Endes erzählt habe,26 eine Geschichte, die ganz im Zeichen einer „tragischen Weltansicht“ stehe.27 Die sozialgeschichtliche Richtung der Literaturwissenschaft, die in den 1970ern und 1980ern die Theorien- und Methodendiskussionen in wesentlichem Maße prägte, umfasste Programme mit unterschiedlichen theoretischen Grundlagen und Zielsetzungen, in denen auch die Autorinstanz unterschiedliche Rollen spielte. Eine prominente Variante dürfte der Ansatz der Ideologiekritik darstellen, der Autorabsichten primär im Hinblick auf ihre sozialen Bedingtheiten und ideologischen Prägungen untersucht. In der Wahlverwandtschaften-Forschung findet sich eine (im weiten Sinne) ideologiekritische Analyse in Gestalt eines Aufsatzes von Heinz Schlaffer aus dem Jahr 1972, in dem allerdings die Frage nach der sozialen Bedingtheit der Goethe zugeschriebenen und kritisierten Auffassungen nur am Rande gestreift wird.28 Aber dieser Aufsatz stellt innerhalb der Gruppe von

ben sind; der dritte, „Die Charaktere“ betitelte Abschnitt beginnt mit dem Satz: „Auf dem Verständnis von Stil und Aufbau fußt das Verständnis der Charaktere.“ (Stöcklein, „Stil und Sinn“, S. 14) 25 Vgl. Stöcklein, „Stil und Sinn“, vor allem S. 27–33, 45–50. 26 Vgl. May, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als tragischer Roman“, S. 107 f. 27 Ebd., S. 115. 28 Vgl. Heinz Schlaffer, „Namen und Buchstaben in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ “, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, 7/1972, S. 84–102. Schlaffer sucht hier zu zeigen, dass die Symbolik des Romans wesentlich alchemistischen Traditionen verpflichtet sei und dass Goethe mit ihrer Hilfe seine Überzeugung von der Einheit der Natur gestalten wollte, die er der Separierung von Mensch und außermenschlicher Natur in der neuzeitlichen Naturwissenschaft und dem neuzeitlichen Denken überhaupt entgegengehalten habe (vgl. ebd., S. 99–102). Dass diese Goethe zugeschriebene Haltung einen spezifischen sozialen Hintergrund habe, deutet Schlaffer nur mit einem Satz an: „Dabei kommt jenem System geheimer Beziehungen, wie es sich in ‚Otto‘ kristallisiert, die Aufgabe zu, das aristokratische Beieinander der vier Figuren gegen die übrige, längst bürgerliche Realität abzuschirmen […]“ (ebd., S. 102). Dass Schlaffers theoretische Prämissen unter anderem sozialgeschichtlichen Ansätzen verpflichtet sind, wird aber auch dort deutlich, wo er die Goethe zugeschriebenen Positionen kritisiert: Was in Goethes Roman als ein „übermächtige[r], dem Subjekt weitgehend unverfügbare[r] Grund“ evoziert und als „‚Natur‘“ tituliert werde, sei „in Wahrheit aus einem Syndrom psychischer und sozialer Zwänge gebildet“ (ebd., S. 101). – Schlaffers Aufsatz hat großen Einfluss entfaltet; was dabei aber meistens aufgegriffen wurde, waren nicht die zentrale These oder die ideologiekritische Betrachtungsweise, sondern die detaillierte Analyse der Namengebung und der Buchstabenverwendungen im Roman sowie die These über den Bezug zur Alchemie. Diese Teile des Aufsatzes wurden nicht zuletzt in poststrukturalistischen Arbeiten rezipiert; Stingelin zufolge hat Schlaffers „Analyse der buchstäblichen Poetik“ von Goethes Roman sogar den „wichtigsten Schritt auf dem Weg zu einer poststrukturalistischen  

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Wahlverwandtschaften-Interpretationen mit sozialgeschichtlicher Ausrichtung eine Ausnahme dar. Drei sozialgeschichtliche Interpretationen, die zwischen 1979 und 1983 erschienen, münden alle in Thesen über die leitenden Absichten Goethes und suchen dabei nicht (oder nicht primär) die soziale Bedingtheit, sondern den gesellschaftskritischen oder -analytischen Gehalt dieser Absichten aufzuzeigen. Die Verfasser zweier dieser Arbeiten deuten den Roman als kritische Auseinandersetzung Goethes mit dem zeitgenössischen deutschen Adel, wobei sie die Form und die Substanz dieser Kritik allerdings unterschiedlich bestimmen.29 In einer dritten Studie wird der Bezug des Romans zum sozialgeschichtlichen Hintergrund etwas anders aufgefasst, aber ebenfalls mittels einer These über die Absichten Goethes hergestellt: In den Wahlverwandtschaften, wie schon in vielen seiner Werke der vorangegangenen Jahre, habe Goethe sich mit der Französischen Revolution und ihren Folgen auseinandergesetzt.30 Dabei habe Goethe in der Handlung dieses Romans eben das nicht gelingen lassen, was er zuvor in verschiedenen Werken als „Heilmittel gegen die politischen Wirren der Zeit“ präsentiert habe: eine „Einordnung des Privaten, Individuellen in ein Soziales“.31 Intentionalistische Thesen und Argumentationen finden sich schließlich auch in einigen Arbeiten zu den Wahlverwandtschaften, die auf poststrukturalistische Theorien rekurrieren. So hat Jochen Hörisch in mehreren Studien, die sich auf Theorien Derridas und Lacans stützen, die These vertreten, Goethe habe in diesem Roman die Subjektkonzeptionen der zeitgenössischen Philosophie, insbesondere der Transzendentalphilosophie, einer radikalen Kritik unterzogen.32 Auf Derrida und Lacan bezieht sich auch Waltraud Wiethölter in einem Aufsatz, in dem sie sich allerdings von den Wahlverwandtschaften-Lektüren Hörischs und anderer postLektüre“ der Wahlverwandtschaften geleistet und „den Anstoß sowohl zu dekonstruktionistischen wie zu diskursanalytischen und lacanianischen Lektüren dieses Textes gegeben“ (Stingelin, „Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften im Spiegel des Poststrukturalismus“, S. 402). 29 Vgl. Blessin, Die Romane Goethes, S. 59–109, Anm. 319–327; Vaget, „Ein reicher Baron“. 30 Vgl. Schwan, Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, S. 217; zu Goethes Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution in anderen Werken vgl. ebd., S. 222–244. 31 Ebd., S. 250, 249. 32 Hörisch, „Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins“, etwa S. 28 f.; ferner: Ders., „‚Die Begierde zu retten‘“, S. 84. – Vgl. auch: Ders., „‚Die Himmelfahrt der bösen Lust‘ in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘“. Die zentralen Thesen dieses zuletzt genannten Aufsatzes, in dem es unter anderem heißt, Goethes Roman sei von einem „antihermeneutischen Impuls“ (ebd., S. 309) getragen und führe die Ohnmacht hermeneutischer Anstrengungen vor, haben keine eindeutig autorintentionalistische Form; in einer späteren Studie aber hat Hörisch ausdrücklich die Auffassung vertreten, Goethe habe mit diesem Roman die zeitgenössische Hermeneutik, wie sie etwa von Schleiermacher vertreten wurde, „einer gleichermaßen schroffen wie esoterischen Kritik unterzogen“ (Ders., Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1988, S. 43–49, 101–103, Zitat S. 44).  

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strukturalistischer Forscher ausdrücklich abgrenzt.33 Auch sie formuliert aber eine Interpretationsthese mit autorintentionalistischer Struktur: In dem Roman habe Goethes Auseinandersetzung mit einem Problem, das ihn „vom Beginn seiner naturkundlichen Forschungen an in zunehmendem Maße beschäftigt hat“, „gleichsam“ ihren „Schlußstein“ und die „der Sache angemessenste Form“ gefunden;34 dieses Problem bestehe in der Differenz zwischen Zeichen und Sache und in der Schwierigkeit, „das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen“.35 –

33 Vgl. Wiethölter, „Legenden“. Für zustimmende Bezugnahmen auf Lacan und Derrida vgl. ebd., S. 2 f. (mit Anm. 6), 7. Wiethölter präsentiert die „durch psychoanalytische und zeichentheoretische Fragestellungen gekennzeichnete[] poststrukturalistische[] Methodendiskussion“ (ebd., S. 3, Anm. 8; vgl. S. 1–7) als Hintergrund ihrer eigenen Untersuchung und vermeidet fast gänzlich die Auseinandersetzung mit theoretisch ‚traditionellen‘ Interpretationen. Zu der Abgrenzung von anderen poststrukturalistischen Wahlverwandtschaften-Interpretationen, etwa denen Hörischs und J. Hillis Millers, vgl. ebd., S. 6 f.; Wiethölters Kritik gründet in dem Vorwurf, diese Interpreten seien ihren eigenen theoretischen Vorgaben und Absichtserklärungen untreu geworden, indem sie den Roman auf eindeutige Lesarten fixiert hätten (vgl. ebd., ferner S. 9, 14). Gustav Seibt und Oliver R. Scholz haben in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Wiethölters Studie den Eindruck formuliert, Wiethölters Analyse sei „dekonstruktionistischen Ansätzen“ verpflichtet (Gustav Seibt/Oliver R. Scholz, „Zur Funktion des Mythos in Die Wahlverwandtschaften“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 59/1985, 4, S. 609–630, hier S. 610); Wiethölter hat in ihrer Antwort diese ‚pauschale‘ Zuordnung zu einem ‚dekonstruktionistischen Ansatz‘ zurückgewiesen (Waltraud Wiethölter, „Zum Beitrag von Gustav Seibt und Oliver R. Scholz: Analyse und/oder Lektüre“, in: ebd., S. 631–634, hier S. 631). 34 Wiethölter, „Legenden“, S. 51. 35 So lautet eine von Wiethölter zitierte Stelle aus der Farbenlehre; vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Entwurf einer Farbenlehre“, in: Ders., Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 16: Naturwissenschaftliche Schriften. Erster Teil, Ernst Beutler (Hrsg.), Zürich 1949, S. 7–719, hier S. 204. Das Zitat und die weiteren Ausführungen hierzu bei: Wiethölter, „Legenden“, S. 51. – Vgl. für weitere Aussagen über Goethes Annahmen und Absichten auch: Ebd., S. 55–58. – Auch die Eigenschaften der Textstruktur, deren Analyse der größte Teil von Wiethölters Studie gewidmet ist, werden von ihr als vom Autor intendierte Eigenschaften präsentiert. Wiethölter zufolge überlagern sich in Die Wahlverwandtschaften Bezugnahmen auf drei mythologische Erzählmuster, die durch Analogien verbunden sind und die auf den thematischen Kern des Romans hindeuten. Wo Wiethölter diese These erstmals formuliert, verweist sie auf die Goethe zugeschriebene Aussage, der Roman müsse dreimal gelesen werden, die also von der Verfasserin offenbar als tauglich angesehen wird, ihre These zu stützen. Dem Wortlaut zufolge nimmt sie sogar an, Goethe habe dies gesagt, weil der Roman aus diesen drei vorgeprägten Erzählmustern oder ‚Lektüren‘ zusammengesetzt ist; sie schreibt: „Hat nicht Goethe einem Wielandschen Brief zufolge selbst gesagt, sein Buch müsse ‚dreimal gelesen werden‘? Dreimal, weil es das Kompositum dreier Lektüren ist: einer antiken, einer christlichen und, bezogen auf ein seltsames Amalgam antiker und christlicher Mythen, einer alchemistischen Lektüre […].“ (Ebd., S. 7; vgl. auch ebd., S. 1 [Abstract]). Vgl. hierzu auch: Seibt/Scholz, „Zur Funktion des Mythos in Die Wahlverwandtschaften“, S. 609 f.; Wiethölter, „Zum Beitrag von Gustav Seibt und Oliver R. Scholz“, S. 633.  





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Gerhard Neumann schließlich erklärt zu Beginn eines Aufsatzes36 über Die Wahlverwandtschaften, Goethe habe „Zeit seines Lebens“ über das Verhältnis zwischen Lektüre und Imitation einerseits, Leben und schöpferischer Erfindung andererseits nachgedacht und dieses Thema in seinen Werken von vielen Seiten beleuchtet.37 Im Folgenden legt Neumann dar, wie diese Problematik im Roman Die Wahlverwandtschaften gestaltet werde, ohne dabei weitere explizite Aussagen über Goethe zu machen.38 Der hier vorgestellte Befund zu einigen Wahlverwandtschaften-Interpretationen ähnelt den Ergebnissen anderer Studien zur Verwendung des Autorbegriffs in der Literaturwissenschaft: Während in der literaturtheoretischen Diskussion etwa zwischen 1945 und 1990 verschiedene Verurteilungen des autorintentionalistischen Interpretierens breite Zustimmung fanden, wurde in der Interpretationspraxis der Autorbegriff weiterhin intensiv genutzt, und zwar auch zum Zweck der Zuschreibung von Autorintentionen. Solche Aussagen über die Absichten von Autoren finden sich dabei auch in Untersuchungen, die sich ausdrücklich auf

36 Vgl. Neumann, „Bild und Schrift“. – Neumanns Aufsatz enthält keine ausdrückliche theoretische Positionierung, weist aber in seiner Begrifflichkeit große Affinitäten zum Poststrukturalismus auf und ist in der späteren Forschung denn auch als eine poststrukturalistische Interpretation oder Lektüre eingeordnet worden. Neumann spricht in dem Aufsatz an einer Stelle von „differente[n] ‚générateurs‘“ und gibt in einer Fußnote an, er übernehme diesen Begriff von Julia Kristeva (Neumann, „Bild und Schrift“, S. 121 und Anm. 11). Als Ausdruck einer Affinität zu poststrukturalistischen Theorien erscheinen außerdem Formulierungen wie „das Feld aporetischer Ununterscheidbarkeit“ (S. 127), „Inauthentizität der Zeichen“ und „[e]in nicht abschließbarer Prozeß der Umschichtung von Zeichenordnungen“ (S. 128). Als eine poststrukturalistische Interpretation wird Neumanns Aufsatz eingeordnet bei: Stingelin, „Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften“, S. 404, Anm. 34. 37 Vgl. Neumann, „Bild und Schrift“, S. 120: „Goethe hat Zeit seines Lebens über diese Frage nachzudenken nicht aufgehört. Seine Schriften spiegeln sie auf mannigfache Weise wider.“ Eine eigentliche „Frage“ allerdings wird in dem vorangegangenen Passus nicht formuliert; Neumann deutet dort die Episode von Francesca und Paolo aus Dantes Göttlicher Komödie als „Urszene“ für das „Entstehen einer Liebe aus der Fiktion“ und als Beispiel für die „Dialektik von Lektüre und Erfindung der Wirklichkeit“. Als Beleg dafür, dass Goethe sich „dessen bewußt“ gewesen sei, zitiert Neumann dann einen Abschnitt aus Dichtung und Wahrheit (ebd., S. 120). 38 Für eine poststrukturalistische Untersuchung zu Die Wahlverwandtschaften, deren zentrale These nicht autorintentionalistischen Charakter hat, vgl.: J. Hillis Miller, „A ‚buchstäbliches‘ Reading of The Elective Affinities“, in: Glyph, 6/1979, S. 1–23. Miller vertritt die These, dass der Roman zwei Interpretationen anbiete, die sich widersprechen: eine ‚ontologische‘ Deutung, der zufolge der Roman eine totalisierende Ontologie und einen substanzialistischen Subjektbegriff veranschaulicht und propagiert, und eine ‚semiotische‘ oder ‚linguistische‘ Deutung, der zufolge der Roman das Subjekt als eine von wechselnden Zeichen durchwanderte Leere entlarve. Goethes Selbstanzeige des Romans im Morgenblatt für gebildete Stände stütze nur die erste, ‚ontologische‘ Deutung (oder scheine sie zu stützen). Vgl. ebd., S. 9–12.

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literaturtheoretische Positionen mit einer anti-intentionalistischen Ausrichtung berufen.39

II.2 Der Roman als Vermittler von Wahrheiten Eine weitere Gemeinsamkeit, die die Hauptthesen vieler Interpretationen unterschiedlicher Ansätze verbindet, kann man wie folgt beschreiben: Der Wahlverwandtschaften-Roman wird als eine Darstellung bestimmter Wirklichkeitsausschnitte oder als eine Gestaltung bestimmter Themen gedeutet, die vom Interpreten für zutreffend erklärt wird. Anders gesagt: Dem Roman wird bescheinigt, Wahrheiten über die Welt zu vermitteln. In den Interpretationen, die sich in ihrer Beschreibung der romanintern dargestellten Vorgänge auf Theorien wie den Marxismus, die Psychoanalyse oder poststrukturalistische Zeichentheorien stützen, sind die zentralen Thesen daher immer wieder mit der Annahme gekoppelt, Goethe habe diese späteren Theorien oder zumindest einige ihrer Grundzüge vorweggenommen. Stöcklein vertrat in seiner 1949 veröffentlichten Interpretation die These, Goethe habe in dem Roman eine Warnung vor der Romantik ausgesprochen, und bescheinigte ihm in dieser Hinsicht ein sicheres Urteilsvermögen. Am Ende des Untersuchungsabschnitts, in dem er die These von der Romantikkritik entwickelt, schreibt Stöcklein: „Heute erkennen wir wohl, daß Goethe die der Romantik innewohnenden Gefahren richtig eingeschätzt hat.“40 In den folgenden Sätzen stellt er einen genealogischen Zusammenhang zwischen der Romantik und späteren Tendenzen eines begeisterten Aufgehens im ‚großen Ganzen‘ der Nation oder anderer Gemeinschaften her, wobei er unverkennbar auch auf den Nationalsozialismus anspielt.41 Die von ihm für wahr gehaltenen Lehren, die Stöcklein dem Roman entnimmt, haben einen historischen Gehalt, sind aber in erster Linie anthropologische und

39 Vgl. mehrere Beiträge des Sammelbandes: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/ Simone Winko (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999; ferner: Simone Winko, „Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis“, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar 2002 (GermanistischeSymposien-Berichtsbände, 24), S. 334–354. 40 Stöcklein, „Stil und Sinn“, S. 33. 41 Vgl. ebd. Vgl. zu diesem Aspekt von Stöckleins Interpretation: Tantillo, Goethe’s Elective Affinities and the Critics, S. 164; W. J. Lillyman, „Affinity, Innocence and Tragedy: The Narrator and Ottilie in Goethe’s Die Wahlverwandtschaften“, in: The German Quarterly, 53/1980, 1, S. 46–63, hier S. 59, Anm. 6.

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ethische Aussagen über die Bestandteile der menschlichen Natur und den richtigen Umgang mit ihnen. In den Vordergrund rücken historische Thesen hingegen in mehreren sozialgeschichtlichen Untersuchungen und einer diskursanalytischen Lektüre, die dem Roman (und damit in der Regel auch dem Autor Goethe) attestieren, historische Vorgänge der Zeit um 1800 oder auch allgemeinere soziale und sozialpsychologische Phänomene zutreffend darzustellen. Einer sozialgeschichtlichen Interpretation zufolge „dokumentiert“ der Roman „ein sehr waches und tiefblickendes Bewußtsein der durch die Französische Revolution endgültig veränderten gesellschaftlichen Situation“,42 indem er anhand der Hauptfiguren vor Augen führe, wie der zeitgenössische deutsche Adel sich „gegen die Konsequenzen bürgerlichen Denkens abzukapseln versucht“, mithin „sich den Forderungen des gesellschaftlichen Wandels nicht gewachsen zeigt“.43 Eine andere sozialgeschichtliche Deutung sucht zu zeigen, dass Goethe in seinem Roman die wirtschaftliche Situation des deutschen Adels um 1800 richtig charakterisiere und dass seine Konzeption der Figuren Ottilie und Eduard auf einer materialistischen, in wesentlichen Aspekten mit Marx konvergierenden Auffassung vom Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Verhältnissen und individualpsychologischer Entwicklung beruhe; die marxistische Gesellschaftstheorie gehört zugleich zu den explizit genannten theoretischen Bezugsgrößen des Interpreten.44 Friedrich Kittlers diskursanalytische, auf Lacan und Foucault rekurrierende Studie zu Die Wahlverwandtschaften besitzt hinsichtlich der herangezogenen Theorien wie des sprachlichen Duktus so gut wie keine Berührungspunkte mit den eben genannten sozialgeschichtlichen Studien, und zumindest dem materialen Gehalt nach liegen auch die zentralen Thesen der Interpretationen weit auseinander. Der Form oder Struktur nach aber ähnelt die zentrale These Kittlers durchaus den eben referierten Thesen der sozialgeschichtlichen Arbeiten oder auch der werkimmanenten Interpretation Stöckleins: Kittler zufolge entsteht um 1800 in Deutschland ein neues Machtsystem mit dem Namen „Bildung“, das von „Beamten und Müttern“ getragen werde;45 Goethes Roman setze die pädagogischen Prinzipien und die Herrschaftstechniken dieses Systems in Szene.46

42 Vaget, „Ein reicher Baron“, S. 160. 43 Ebd., S. 161. 44 Vgl. Blessin, Die Romane Goethes, zu den Thesen über Die Wahlverwandtschaften vor allem S. 100 f.; der Verweis auf Marx als einen theoretischen Bezugspunkt der Arbeit ebd., S. 8 f. 45 Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 262. 46 Vgl. ebd., vor allem S. 262–265, 269–271. Die Formulierung vom In-Szene-Setzen ebd., S. 263: „Der Roman setzt das Pädagogenwort in Szene.“ Zu dem gemeinten „Pädagogenwort“ ebd., S. 262. Ferner widerspricht Kittler jenen Interpreten, die das ‚zeitgeschichtliche Interesse‘ in Die Wahlverwandtschaften nebensächlich finden, mit der Behauptung, der Roman sei ein „Protokoll“,  



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Andere poststrukturalistische Arbeiten deuten den Roman als Illustration oder Inszenierung von Theorien der Sprache, des Zeichens und des Subjekts oder des Mythos, denen die Verfasserinnen und Verfasser dieser Arbeiten selbst zustimmen. So sucht Hörisch in einem Aufsatz zu zeigen, dass „Derridas Theoreme sich mit Einsichten der Wahlverwandtschaften Goethes decken“.47 Gemeint ist dabei vor allem „Goethes Einsicht in die Nicht-Ursprünglichkeit des Subjekts“,48 die mit der Auffassung Derridas übereinstimme, dass Subjekthaftigkeit nicht durch Selbstbewusstsein und Präsenz konstituiert werde und somit ursprünglich gegeben sei, sondern erst als Effekt von Differenz und Absenz entstehe und somit prinzipiell ‚exzentrischer‘ und ‚nachträglicher‘ Natur sei.49 – Wiethölter vertritt eine verwandte These, nämlich die These, dass Goethes WahlverwandtschaftenRoman eine „Erkenntnis“ „praktizier[e]“, die Derrida auf die Formulierung gebracht habe, „‚daß Rede und Schrift […] immer einer Lektüre entlehnt sind.‘“50 Der Roman biete nämlich mit seinen intertextuellen Anspielungen auf diverse Mythen drei unterschiedliche, wenn auch partiell übereinstimmende Lesarten an. Darüber hinaus erklärt Wiethölter, Goethes intertextueller Umgang mit Mythen in dem Roman sei von einer Konzeption von Mythos und Mythologie getragen, die

„das Protokoll einer Nötigung nach Plan und Neigung, Beamtenethos und Mütterlichkeit“ (ebd., S. 271). 47 Hörisch, „Das Sein der Zeichen“, S. 15. 48 Ebd., S. 29. 49 Vgl. dazu ebd., S. 16–45. Nach Hörisch handelt es sich bei diesen Gedanken um Erkenntnisse Nietzsches, Husserls, Freuds und Heideggers, die von Derrida zusammengeführt, pointiert und eigenständig weitergedacht wurden. Vgl. ebd., S. 13–15, 28–45. Hörischs eigene Positionsnahme zeigt sich unter anderem in seiner wiederholten Rede von der „Einsicht“ (S. 13, 29, 33) oder den „Einsichten“ (S. 15) Goethes, Nietzsches, Freuds und Lacans einerseits, von der „Verfehlung“ (S. 18) oder den „Befallsstellen“ (S. 30, 40) und „Inkonsistenzen“ (S. 40) des ‚klassischen‘ Subjektdenkens andererseits. 50 Wiethölter, „Legenden“, S. 7; das Derrida-Zitat entstammt: Jacques Derrida, „Die soufflierte Rede“, in: Ders., Die Schrift und die Differenz. Aus dem Französischen von Rodolphe Gasché. Frankfurt a.M. 1972 (frz. Orig.: Paris 1967), S. 259–301, hier S. 272. Wiethölter zufolge handelt es sich bei diesem von Derrida formulierten Gedanken auch um eine der „besten Einsichten“ anderer poststrukturalistischer Interpreten von Die Wahlverwandtschaften, die sie aber „bei ihrer Lektüre […] zu Unrecht vergessen, wenn sie dann doch auf Eindeutigkeit pochen“ (Wiethölter, „Legenden“, S. 7). Wiethölters affirmative Einstellung zu Derridas (oder verwandten) Auffassungen von Zeichen und Bedeutung kommt auch zum Ausdruck, wenn sie an anderer Stelle schreibt: „[…] [A]ls Teil eines differentiellen Systems zersprengt das Zeichen in jedem Falle die Bedeutung und verleiht der Exegese mangels eines transkommunikativen Wahrheitskriteriums einen hypothetischen, oder wie Kant mit Bezug auf die ästhetischen Urteile sagt: den Charakter eines ‚Ansinnens.‘“ (Wiethölter, „Zum Beitrag“, S. 634).

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der Position Freuds und den – auch von ihr geteilten – Annahmen der jüngeren Mythenforschung nahekomme.51 Die zuletzt genannten poststrukturalistischen Interpretationen sowie eine der sozialgeschichtlichen Arbeiten – jene, die Parallelen zwischen Positionen Goethes und Marx’ herauszustellen sucht – entsprechen ungefähr dem Interpretationstyp, den Göran Hermerén als „[t]heoretical (or allegorical) re-interpretation“ bezeichnet und wie folgt charakterisiert hat: The main task in this type of interpretation is to re-interpret the text (or work) in question in terms of some theory, political ideology or religious doctrine. […] The general idea is that the interpreter tries to show that the theory, ideology or doctrine he favors can be found in or ‚read into‘ the text, or even, as in the case of Virgil, that the text anticipates or predicts events described in later Christian religious works.52

Nun erscheint es allerdings als ein durchaus relevanter Unterschied, ob ein Interpret zu zeigen versucht, dass eine Theorie in dem interpretierten Text ‚gefunden‘ werden kann und somit – falls es sich um eine später entstandene Theorie handelt – von dem Text antizipiert wird, oder aber zeigen will, dass die Theorie in den Text ‚hineingelesen‘ werden kann. Die Verfasserinnen und Verfasser der oben behandelten Interpretationen, die Goethes Roman mithilfe von marxistischen, psychoanalytischen oder poststrukturalistischen Theorien deuten, präsentieren ihr Ziel alle eher als ein Finden denn als ein Hineinlesen. Da die Interpreten diesen Theorien selbst zustimmen, ergibt sich eine Gemeinsamkeit zwischen diesen ‚theoretischen Re-Interpretationen‘ im Sinne Hermeréns und anderen, meist älteren Interpretationen, deren Verfasser ebenfalls zu zeigen versuchten, dass der Roman wahre Auffassungen vermittelt. Eine ähnliche Kontinuität hat Gerhard Lauer bei Kafka-Interpretationen aus verschiedenen Phasen und theoretischen ‚Lagern‘ der Forschung beobachtet. Lauer zufolge formulieren sowohl Benno von Wiese als auch Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihren einschlägigen Studien Variationen der These: „Die Welt

51 Vgl. Wiethölter, „Zum Beitrag“, S. 633. Goethes Umgang mit den Mythen komme den Auffassungen Freuds und der jüngeren Mythenforschung insofern nahe, als Goethe Mythen wie etwa den von Narziss nicht „in ein Geschehen und dessen psychologische Deutung“ gespalten, sondern „die Rückbindung des rationalisierenden Zugriffs an die Fabel, der Mythologie an den Mythos, zu bewahren gesucht“ habe (ebd.). 52 Vgl. Göran Hermerén, „Interpretation: Types and Criteria“, in: Joseph Margolis (Hrsg.), The worlds of art and the world, Amsterdam 1984 (Grazer philosophische Studien, 19), S. 131–161, hier S. 148 f.  

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wird, so wie sie ist, in Kafkas Werk repräsentiert.“53 In vergleichbarer Weise kann man mit Blick auf die Wahlverwandtschaften-Forschung konstatieren, dass in Interpretationen ganz unterschiedlicher Phasen und Ansätze der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts Thesen begegnen, denen zufolge Goethes Roman Ausschnitte der Welt zutreffend repräsentiert, also Wahrheiten vermittelt; in vielen Fällen wird die Mitteilung dieser Wahrheiten dabei auch als Absicht des Autors gedeutet. Eine Anschlussfrage, die diese Beobachtungen nahelegen, ist die nach einem Zusammenhang zwischen dem kanonischen Rang der interpretierten Werke und der Häufigkeit von Interpretationsthesen dieses Typs: Es wäre etwa zu überprüfen, ob diese Thesen in Interpretationen zu Werken Goethes und Kafkas (oder auch Kleists, Büchners und Musils) signifikant häufiger vorkommen als in Interpretationen zu Werken von geringerer Reputation.

III Argumentationsverfahren Die Argumentationen von Wahlverwandtschaften-Interpretationen der vier hier betrachteten Ansätze ähneln sich nicht nur insofern, als sie teilweise Interpretationsthesen desselben Typs begründen sollen; darüber hinaus und vor allem bedienen sie sich zum Teil derselben Verfahren der Bedeutungszuschreibung. Drei solcher Verfahren, die in den untersuchten Interpretationen in unterschiedlicher Häufigkeit begegnen, sollen im Folgenden vorgestellt und diskutiert werden.

III.1 Romanfiguren als Repräsentanten historischer Typen In Interpretationen mehrerer Ansätze werden Figuren des Romans als Repräsentanten von historischen Personentypen, Gruppen oder Tendenzen gedeutet. Die argumentativen Schritte, aus denen solche Deutungen zusammengesetzt sind, lassen sich allgemein so rekonstruieren: Erstens werden einer Romanfigur bestimmte Eigenschaften zugeschrieben; zweitens werden Ähnlichkeiten herausgestellt, die sich aufgrund dieser Eigenschaft zwischen der Figur und historischen Typen, Gruppen oder Tendenzen ergeben; und drittens wird angenommen, dass

53 Gerhard Lauer, „Kafkas Autor. Der Tod des Autors und andere notwendige Funktionen des Autorkonzepts“, in: Jannidis/Lauer/Martínez/Winko (Hrsg.), Rückkehr des Autors, S. 209–234, Zitat S. 222.

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die Figur diese Eigenschaften nicht nur besitzt, sondern auch exemplifiziert.54 Aus diesen Annahmen wird dann der Schluss abgeleitet, dass die betreffende Figur den historischen Typus oder die Tendenz ‚verkörpert‘. Stöcklein deutet, wie oben bereits erwähnt, in seiner um 1950 erschienenen Studie den Roman als eine „Warnung“ vor und als ein „Agon mit der Romantik“.55 Als Wesensmerkmale der Romantik gelten ihm dabei eine Haltung, die die bereitwillige Hingabe des Subjekts an die Elementarkräfte der Natur, also an die Triebe, als ein Ideal feiert sowie die diesem Ideal zugrunde liegende Naturauffassung. Im Roman werde eine solche Haltung durch Eduard verkörpert, insofern er sich generell stets von seinen Wünschen beherrschen lasse und sich nach dem Beginn seiner Leidenschaft für Ottilie ganz seinen Trieben hingebe.56 Deutungen von Romanfiguren als Verkörperungen historischer Typen begegnen ferner in mehreren Studien der Jahre um und nach 1980, die sich gegen die in der früheren Forschung mehrfach vertretene Auffassung wenden, in Die Wahlverwandtschaften spielten größere gesellschaftsgeschichtliche Prozesse keine oder nur eine marginale Rolle. Dieser Auffassung wird etwa in den 1980 beziehungsweise 1981 erschienenen Aufsätzen von Hans Rudolf Vaget und Friedrich Kittler widersprochen.57 Was die zugrunde gelegten Sichtweisen auf die Zeit um 1800 betrifft, gibt es zwischen ihnen kaum Gemeinsamkeiten; aber beide stützen ihre Thesen, denen zufolge die gesellschaftlichen Prozesse der Zeit um 1800 sehr wohl in der Romanhandlung präsent seien, in erster Linie auf Deutungen von Figuren als Repräsentanten historischer Gruppen und Tendenzen. Vaget zufolge sind die vier Hauptfiguren von Goethe als Repräsentanten des deutschen Landadels der Jahre um 1800 entworfen worden.58 Diese These begründet er einzeln für jede der Hauptfiguren, indem er jeweils die im Roman gegebenen Informationen über das soziale Herkunftsmilieu der Figur zusammenträgt und darlegt, inwiefern ihr Verhalten standestypische Züge aufweise.59 Kittler konzentriert sich in seinem Aufsatz auf

54 Zum Begriff der Exemplifikation vgl.: Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis 1968, S. 52–57. Goodmans Definition des Begriffs lautet in knappster Form: „Exemplification is possession plus reference.“ (Ebd., S. 53) 55 Stöcklein, „Stil und Sinn“, S. 29 („Warnung“), 49 („Agon mit der Romantik“). 56 Vgl. ebd., S. 20–24, 27–33. 57 Vaget nennt als Vertreter dieser Auffassung u.a. Hans Reiss und Eric A. Blackall (Vaget, „Ein reicher Baron“, S. 124, Anm. 3); Kittler nennt Emil Staiger (Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 271, 275 [Anm. 80]). 58 Vgl. etwa die Zwischenüberschriften „Ottilie als Adelige“ (Vaget, „Ein reicher Baron“, S. 136) und „Eduard als Repräsentant des Landadels“ (ebd., S. 139), ferner die Aussage, Charlotte sei „ein lebendiges Beispiel für die in der ökonomischen Krise des Adels besonders ausgeprägte Neigung, Eheschließungen wirtschaftlichen Überlegungen unterzuordnen.“ (Ebd., S. 134) 59 Vgl. Vaget, „Ein reicher Baron“, S. 132–156, vor allem S. 132–146.

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Ottilie und den Hauptmann. Sie repräsentieren für ihn die „zwei Berufe, die Deutschland um 1800 zu neuen Kultur- und Staatsträgern ernannte“ und zur Grundlage des Machtsystems namens ‚Bildung‘ machte, die Berufe des Beamten und der Mutter.60 Ottilie sei im Pensionat durch dieses System zur Pädagogin geformt worden und propagiere in der Folge das neue Ideal von Mutterschaft und Kleinfamilie, wenn sie sich um die Erziehung der Bauernmädchen im benachbarten Dorf kümmere oder die Pflege von Charlottes und Eduards Kind übernehme.61 Der Hauptmann hingegen verkörpere mit seinen reformerischen Aktivitäten auf dem Landgut die Ziele, Methoden und das Ethos der Beamten des neuen Machtsystems.62 Kittler verweist auch auf eine reale Person des 18. Jahrhunderts, deren Tätigkeiten offenbar als typisch für die Herausbildung dieses Machtsystems gelten sollen, und hebt einige Parallelen zwischen den Biographien und Aktivitäten dieser Person und des Hauptmanns hervor.63 Dass Kittler sich hier eines auch in ‚traditionellen‘ Interpretationen geläufigen Deutungsverfahrens bedient, wird implizit deutlich in einem Satz, in dem er die marxistische Interpretation des Wahlverwandtschaften-Romans von Hans Jürgen Geerdts zitiert: „So ist der Hauptmann in der Tat ‚das lebende Beispiel der beschränkten und problematischen bürgerlichen Emanzipation‘ um 1800. Nur liegen seine Probleme anderswo als bei Interpreten, die ihn gern noch sozialistischer hätten.“64

60 Vgl. Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 262 f., Zitat S. 262. 61 Vgl. ebd., S. 263–266. 62 Vgl. ebd., S. 269 f. Als Beleg dafür, dass Kittlers Deutung des Hauptmanns in dem hier beschriebenen Sinne rezipiert wurde (und zwar von Forschern, die sich zustimmend auf Kittler beziehen), vgl. Wellbery, „Die Wahlverwandtschaften (1809)“, S. 298, Anm. 5: „Zum historischen Typus, den der Hauptmann verkörpert, s. Friedrich Kittler, ‚Ottilie Hauptmann‘, […].“ 63 Vgl. Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 269 f. Bei der realen Person handelt es sich um Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805), einen Angehörigen einer altmärkischen Adelsfamilie, der zunächst am Siebenjährigen Krieg teilnahm, ab 1760 die Verwaltung der Familiengüter übernahm und diese grundlegend reformierte; er gründete mehrere Modellschulen und ein Lehrerbildungsseminar und verfasste pädagogische Schriften und Lesebücher. Vgl. Annegret Völpel, [Art.] „Rochow, v., Friedrich Eberhard“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 21: Pütter – Rohlfs, Berlin 2003, S. 683 f. – In einem erweiterten Neuabdruck seines Aufsatzes hat Kittler „noch einen zweiten Kandidaten für Goethes Hauptmann oder Major“ vorgestellt; vgl. Friedrich A. Kittler, Dichter – Mutter – Kind, München 1991; der Wiederabdruck von „Ottilie Hauptmann“ auf S. 119–148, die hier interessierende Ergänzung S. 134–147, das Zitat auf S. 134. Kittler greift dort eine Gesprächsaussage Varnhagens von Ense auf, der zufolge zeitgenössische Leser Karl Freiherr von Müffling (1775–1851) als „Modell von Goethes fiktivem Hauptmann“ identifiziert hätten (vgl. ebd., S. 134–136, Zitat S. 136). 64 Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 270. – Die hier von Kittler zitierte Aussage Geerdts’ findet sich in: Hans Jürgen Geerdts, Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘. Eine Analyse seiner künstlerischen Struktur, seiner historischen Bezogenheit und seines Ideengehalts, 2. Aufl., Berlin, Weimar  







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Überblickt man die Reihe dieser Deutungen, so fällt auf, dass ein argumentativer Schritt in ihnen kaum einmal explizit begründet und das mit ihm verbundene methodische Problem nirgends ausdrücklich diskutiert wird. Gemeint ist der Schritt, mit dem der Interpret von der These, dass eine Romanfigur bestimmte Eigenschaften mit einer historischen Schicht oder Gruppe gemeinsam hat, weitergeht zu der These, dass die Figur diese Schicht oder Gruppe repräsentiere. Eine Diskussion der Frage, wie dieser Schritt begründet werden kann, hätte sich etwa zu dem Zeitpunkt der Forschungsgeschichte angeboten, als neben Interpretationen, die Eduard als Romantiker und den Roman als Romantikkritik deuten, auch solche vorlagen, die Eduard und die anderen Hauptfiguren als Repräsentanten des Adels und den Roman als Adelskritik deuten. Denn dass Eduard und Charlotte Adlige sind, ist unbestreitbar, und dass Eduard einige Eigenschaften besitzt, die mit der Romantik und ihren Idealen oder Werten assoziiert werden können, ist, soweit ich sehe, kaum einmal explizit bestritten worden. Damit stellt sich aber die Frage, woran zu erkennen ist, ob Eduard nun für den Adel oder für die Romantik ‚stehen soll‘ – und ob man folglich, wenn man im Roman oder beim Autor eine kritische Sicht auf Eduard zu beobachten meint, diese Kritik als gegen den Adel oder gegen die Romantik gerichtet zu verstehen hat.65 Diese methodologische Frage wird, wie gesagt, in den hier untersuchten Interpretationen nicht ausdrücklich thematisiert. Es gibt aber ein Argumentationsverfahren, das in mehreren Interpretationen implizit auch den Zweck zu erfüllen scheint, solche Deutungen von Figuren zu plausibilisieren: Die Interpreten suchen zu zeigen, dass es die adelstypischen oder aber die typisch romantischen Motivationen und Handlungen bestimmter Figuren sind, die den katastrophischen Ausgang der Romans herbeiführen, und dieser Nachweis soll dann offenbar auch die These stützen, dass diese Figuren als Adlige oder Romantiker ‚gemeint sind‘ und als solche kritisiert werden sollen. Damit ist eine interpretierende Aktivität genannt, die in so gut wie allen hier behandelten Interpretationen eine wichtige Rolle spielt, nämlich die Untersuchung der Handlungen und Hand-

1966, S. 50 f. (Allerdings heißt es bei Geerdts nicht „das lebende Beispiel“, sondern „als lebendiges Beispiel“.) 65 Vgl. allgemein zu dem mit der Exemplifikation verbundenen methodologischen Problem, „wie man erkennt, dass nicht nur eine bestimmte Eigenschaft vorliegt, sondern zugleich auch die Bezugnahme auf diese Eigenschaft“: Lutz Danneberg/Carlos Spoerhase, „Wissen in Literatur als Herausforderung einer Pragmatik von Wissenszuschreibungen: sechs Problemfelder, sechs Fragen und zwölf Thesen“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin, New York 2011, S. 29–76, hier S. 64–71, Zitat S. 66 (Hervorhebungen im Text). Danneberg und Spoerhase weisen hier auch darauf hin, dass dieses methodologische Problem von Goodman und anderen Autoren in ihren Ausführungen zur Exemplifikation nicht eigens erörtert wird (vgl. ebd., S. 66).  

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lungsantriebe der Figuren, die oft verbunden ist mit der Suche nach den Ursachen des unglücklichen Romanausgangs.

III.2 Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Figurenhandlungen Thesen über historische Schichten, Gruppen oder Tendenzen, die von den Romanfiguren repräsentiert werden, finden sich in Interpretationen verschiedener Ansätze, aber bei weitem nicht in allen hier betrachteten Interpretationen. Eine andere Art von Aussagen und Argumentationen dagegen begegnet tatsächlich in so gut wie allen Interpretationen und erfüllt in den meisten von ihnen eine wichtige Funktion innerhalb der Gesamtargumentation: Gemeint sind Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Handlungen, Verhaltensweisen und Einstellungen der Figuren.66 Diese Aussagen über die Figurenhandlungen sind oft eng verbunden mit Thesen über die Ursachen des unglücklichen Ausgangs des Romans: sei es, dass der Interpret die entscheidenden Fehler von Figuren zu benennen sucht, sei es, dass er eine über- oder unpersönliche, das Handeln der Figuren determinierende Instanz wie das Schicksal oder das Dämonische für das katastrophische Ende verantwortlich macht.67 Diese Thesen zusammen dienen dann häufig als Begründung für übergeordnete Thesen dazu, was Goethe in dem Roman kritisieren oder demonstrieren wollte. Im Folgenden konzentriere ich mich auf ein Segment dieses komplexen Musters, nämlich auf die Begründung übergeordneter Interpretationsthesen (wie sie oben in Abschnitt II behandelt

66 Die meisten dieser Aussagen, insbesondere die Handlungserklärungen, sind Beispiele für die interpretierende Aktivität, die Beardsley als „elucidation“ bezeichnet hat; vgl. Monroe C. Beardsley, Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism, 2. Aufl., Indianapolis 1981, S. 242–247. Diese Tätigkeit der „elucidation“ im Sinne Beardsleys weist große Überschneidungen mit dem Interpretationstyp „Psychological extrapolation“ in der Typologie Hermeréns auf (vgl. Hermerén, „Interpretation: Types and Criteria“, S. 147 f.). Ein knapper Hinweis darauf, dass „sich literarische Interpretation, besonders bei Erzähltexten, […] oft auf Dinge wie die Erklärung von Handlungsmotiven und Ereignissen in der fiktionalen Welt des Textes [richtet]“, findet sich bei: Dieter Freundlieb, „Literarische Interpretation. Angewandte Theorie oder soziale Praxis?“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte“, Stuttgart 1992, S. 25–41, hier S. 26. 67 Ein vergleichbares Interpretationsmuster ist Els Andringa zufolge auch in der Forschung zu Kafkas Vor dem Gesetz häufig und von Vertretern verschiedener methodischer Richtungen variiert worden; vgl. Els Andringa, Wandel der Interpretation. Kafkas ‚Vor dem Gesetz‘ im Spiegel der Literaturwissenschaft, Opladen 1994, vor allem S. 100–106, 147–152, 179–184. Dort haben Interpreten immer neue Thesen dazu entwickelt, welche Fehler des Mannes vom Lande für sein Scheitern verantwortlich seien, und daraus dann Thesen über die durch die Erzählung vermittelte Kritik oder Warnung abgeleitet.  

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wurden) mithilfe von Beschreibungen, Bewertungen und Erklärungen von Figurenhandlungen. Außerdem sollen in diesem Abschnitt noch weitere Ähnlichkeiten herausgestellt werden, die die Interpretationen in ihrem Umgang mit den Figurenhandlungen erkennen lassen: Die Thesen über die Figurenhandlungen hängen oft entscheidend von interpretativen Schritten ab, die nicht oder kaum begründet werden; dabei sind es in Interpretationen verschiedener Ansätze vielfach dieselben Schritte oder Operationen, die solche Begründungslücken aufweisen. So werden erstens in Interpretationen unterschiedlicher Ansätze häufig Handlungen von Figuren durch die Rückführung auf grundlegende Motive, Einstellungen oder Anlagen erklärt, ohne dass eigens gesagt und begründet würde, dass und warum die betreffenden Handlungen erklärungsbedürftig sind. Zweitens bleiben die psychologischen oder sonstigen Theorien, auf die sich die Erklärungen stützen, in mehreren Fällen unexpliziert. Insbesondere bedienen sich die Erklärungen nicht selten einer Unterscheidung zwischen den bewussten oder ausdrücklichen Absichten einer Figur und ihren nicht ausdrücklichen ‚eigentlichen‘ Antrieben, ohne dass klar wäre, wie diese Unterscheidung genau gemeint und wie ihre Anwendung methodisch geregelt ist. Es ist zu betonen, dass Erklärungen dieses Typs sich auch in Interpretationen finden, die sich nicht auf psychoanalytische Theorien berufen. Drittens ist hinsichtlich der Bewertungen der Figurenhandlungen zu konstatieren, dass sie oft mit den Beschreibungen dieser Handlungen verwoben sind und dass die Grenze zwischen Textparaphrase oder Textbeschreibung einerseits und Interpretation andererseits dabei vielfach nicht klar markiert wird.68 Das bedeutet zugleich, dass diese Bewertungen und die Verwendung bestimmter Wertungsmaßstäbe in vielen Fällen nicht eigens begründet werden. Diese allgemeinen Behauptungen sollen im Folgenden konkretisiert und belegt werden. Dazu werde ich für jeden der hier untersuchten Ansätze knapp wiedergeben, wie die Interpretationen dieses Ansatzes das Handeln der Figuren – und, in manchen Fällen: die Ursachen des katastrophalen Ausgangs – deuten und wie sich diese Deutungen in die Gesamtargumentation einfügen. Im Anschluss an diese kurzen Resümees werde ich einschlägige Passagen aus einer Interpretation des jeweiligen Ansatzes etwas eingehender untersuchen, um im Detail nachzuvollziehen, wie die Erklärungen und Bewertungen von Figurenhandlungen präsentiert und begründet werden; dabei werde ich vor allem die eben beschriebenen Begründungslücken hervorzuheben suchen. Mit der Aussage, dass bestimmte Schritte in den Interpretationen nicht begründet werden,

68 Zu der Abgrenzung von deskriptiven und interpretativen Aussagen vgl. den Beitrag von Benjamin Gittel in diesem Band.

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soll dabei nie behauptet werden, dass sie nicht begründet werden könnten; es soll also auch kein Urteil über die Plausibilität der Interpretationen gefällt werden. Es geht nur darum, ein Überspringen von Begründungen aufzuzeigen, das gewissermaßen Routinecharakter erhalten zu haben scheint. Zunächst zu geistesgeschichtlichen Interpretationen des Romans: Korff bestimmt als das „Thema“ der Wahlverwandtschaften, wie bereits erwähnt, den „Konflikt zwischen Ordnung und Leidenschaft“.69 Dieser Konflikt werde mit einer entschiedenen Wertung zugunsten der Ordnung gezeigt, und das heißt konkret, zugunsten der Institution der Ehe als einer Verkörperung der Ordnung. Diese Thesen zur Gesamtdeutung stützen sich vor allem auf Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Figurenhandlungen: Die „Leidenschaft“ einerseits und der „Ordnungssinn“ andererseits werden von Korff als die bestimmenden Antriebe Eduards, Ottilies, Charlottes und des Hauptmanns dargestellt und in den Ausführungen zu den einzelnen Figuren wiederum mit klaren Wertungen versehen. Von Eduard heißt es, er sei nach dem Erwachen seiner Liebe zu Ottilie „von seiner Leidenschaft im wahren Sinne des Wortes ‚besessen‘ […], so besessen, daß er für jede Vernunft unzugänglich, für jede Unvernunft aber zugänglich wird, wofern sie nur seiner Leidenschaft entgegenkommt.“70 Charlotte und der Hauptmann hingegen sind für Korff „die schönen Beispiele dafür, daß der Mensch, in welchem Blut und Ordnung sich im schönen Gleichgewichte befinden, imstande ist, der Leidenschaft zu widerstehen […].“71 – Hankamer gelangte in seinem Buch Spiel der Mächte vor allem dadurch zu einer anderen Gesamtdeutung des Romans, dass er die zwischen Eduard und Ottilie – und zwischen Charlotte und dem Hauptmann – waltende Anziehungskraft anders erklärte und bewertete. Betrachtete Korff diese Anziehungskraft schlicht als eine blinde Leidenschaft, so ist sie nach Hankamer als Äußerung einer überpersönlichen, rätselhaften und ‚jenseits von Gut und Böse‘ angesiedelten Macht zu verstehen, nämlich des Dämonischen.72 Die Annahme von der zentralen Rolle des Dämonischen sowie seine Deutung dieses Goethe’schen Begriffs bilden die Grundlage für Hankamers Thesen über den tragischen Charakter des Romans und über Ottilie als tragische, zugleich schuldige und unschuldige Heldin.73 Als Beispiel für den interpretierenden Umgang mit den Figurenhandlungen sei hier ein Abschnitt aus der Interpretation Korffs näher betrachtet. Seine These, dass der Roman anhand eines Konflikts zwischen Ordnung und Leidenschaft den

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Korff, Geist der Goethezeit […]. II. Teil, S. 376 (Hervorhebung im Text). Ebd., S. 380. Ebd., S. 383. Vgl. Hankamer, Spiel der Mächte, S. 276. Vgl. dazu vor allem ebd., S. 286–319.

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hohen Wert der Ehe als einer „Grundform menschlicher Ordnung“74 vor Augen führe, stützt sich unter anderem auf seine Deutung des Grundes, um dessen willen Charlotte zunächst eine Scheidung ihrer Ehe mit Eduard ablehnt. In dieser Weigerung und ihrem Beweggrund, so Korff, „kommt das Gesinnungsfundament der Dichtung völlig zutage: die Ehrfurcht vor der Institution.“75 Aber in dem Gespräch mit Eduard, in dem Charlotte eine Scheidung zurückweist, beruft sie sich nicht auf eine solche Ehrfurcht vor der Institution der Ehe, sondern nennt andere Gründe. So heißt es denn auch bei Korff direkt im Anschluss an die eben zitierte Formulierung: Das wird zwar nicht mit diesen Worten ausgesprochen, denn Charlotte ist keine Ideologin und ist sich der Grundsätzlichkeit ihres Tuns nicht völlig bewußt. Allein es scheint ihr so selbstverständlich, es aus Liebesleidenschaft nicht zum Bruche einer Ehe kommen zu lassen, daß diese Selbstverständlichkeit, die dem ‚gesunden Menschenverstande‘ unter den besonderen Umständen gerade das Gegenteil des Selbstverständlichen erscheinen muß, die reine Idealität ihres Motivs beweist.76

Im Folgenden räumt Korff nochmals ein, dass Charlotte statt dieses rein idealen Motivs andere, und zwar weniger ideale Gründe gegen eine Scheidung anführt, nämlich die drohende Missbilligung der Gesellschaft sowie ihren Verlust des Ehemanns und damit ihres persönlichen Glücks. Aber Korff zufolge handelt es sich hier nur um vorgeschobene Gründe, in die Charlotte ihr tatsächliches, ideales Motiv kleidet. In Wahrheit sei es ihr „Ordnungssinn“, der eine Scheidung nicht „erlaubt“ und der „stärker als ihr Blut“ ist. Das, so Korff, „ist der tiefere Sinn ihrer ursprünglichen Stellung“.77 Korff liefert mithin eine Erklärung für eine Handlung Charlottes (ihre Ablehnung einer Scheidung), die im Romantext bereits durch Charlotte selbst begründet und somit erklärt wird, wobei er knapp und eher indirekt zu erkennen gibt, weshalb er die textinterne Erklärung für nicht befriedigend und die Handlung somit für erklärungsbedürftig hält. Er postuliert die Existenz eines ‚tieferen Sinns‘ und eines wahren Motivs der Handlung, die sich von Charlottes explizit geäußerten Gründen unterscheiden; für diese Differenz liefert er verschiedene, eher angedeutete Erklärungen, deren Prämissen teilweise verborgen bleiben und die nur bedingt kompatibel erscheinen.78

74 Korff, Geist der Goethezeit […]. II. Teil, S. 376. 75 Ebd., S. 384. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Eine verborgene Prämisse enthält etwa die folgende Argumentation: „Wie groß muß daher das Gewicht der reinen Idee in ihr [i.e. Charlotte; O.K.] sein, wenn sich ihr sonst so gesunder Sinn dem scheinbar Selbstverständlichen widersetzt!“ (Ebd.) Weshalb der Widerstand gegen etwas

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Auch die dem Ansatz der Werkimmanenz nahe stehenden Interpretationen aus den Jahren zwischen 1945 und 1970, die der Analyse des Stils und der Erzählweise eine fundierende Rolle innerhalb der Romaninterpretation zuweisen, ergänzen diese Formanalysen vielfach um Ausführungen über die Figuren, ihre Handlungen und Antriebe, um zu Thesen zur Gesamtdeutung des Romans zu gelangen. Stöcklein stützt seine These, dass Goethe in dem Roman die Lebensund Naturauffassung der Romantik kritisieren wollte, vor allem auf wertende Beschreibungen und Erklärungen der Einstellungen und Handlungen Eduards einerseits, Ottilies andererseits. Eduard werde in seinem Handeln und Denken schließlich ganz durch ein in ihm wohnendes „dunkle[s] Wesen“, durch seinen Trieb und durch die Elementarkräfte beherrscht.79 Ottilie gerate zeitweilig auch in den Bann dieser ‚dunklen‘, elementaren Gewalten der Leidenschaft, erkenne aber nach dem Tod des Kindes ihre Verfehlung und Gefährdung und lege „sich nun selbst als Pflicht die Zurücksammlung und Wiedergewinnung ihres geistigen Selbst aus den Wogen des Vitalen auf“.80 Dass ihr diese Läuterung gelinge, verdanke sie einer dem ‚Heiligen‘ entstammenden Kraft, an der sie, die eigentlich nicht in der verdorbenen Gegenwart, sondern in einer „versunkenen Glaubenswelt“ heimisch sei, noch teilhabe.81 – Mays Deutung unterscheidet sich grundlegend von derjenigen Stöckleins, indem sie den Roman nicht als Mittel der kämpferischen Kritik und der Warnung, sondern als Ausdruck einer tragischen Weltsicht begreift. Die entscheidende Begründung für diese These Mays liefert

‚scheinbar Selbstverständliches‘ bei einer Frau mit ‚gesundem Sinn‘ nur auf das große Gewicht einer ‚reinen Idee‘ zurückführbar sein sollte, ist nicht offensichtlich. – Nicht ganz kompatibel erscheinen Korffs angedeutete Erklärungen insofern, als er einerseits behauptet, dass Charlotte ihr wahres oder tieferes Motiv nicht aussprechen könne, weil sie „sich der Grundsätzlichkeit ihres Tuns nicht völlig bewußt“ sei, andererseits aber auch nahelegt, dass sie dieses wahre Motiv nicht offen aussprechen wolle und bewusst ein anderes vorschütze, indem sie sich „Eduard gegenüber […] den Schein [gibt], auf ihn aus natürlichen Gründen nicht verzichten zu können“ (ebd.). 79 Vgl. Stöcklein, „Stil und Sinn“, S. 20–24, Zitat S. 24. 80 Vgl. ebd., S. 34–38, Zitat S. 38; die Ausdrücke „das dunkel Stürmende“, „in einem dunklen Vorgang“ S. 36 f. 81 Vgl. ebd., S. 33–44, Zitat S. 39. Zu Ottilies Verhältnis zum „‚Heilige[n]‘“ (ebd., S. 41) vgl. ebd., S. 33–44, vor allem 39–41.– Laut Stöcklein entwickelt Goethe in dem Roman auch eine umfassende Gesellschaftskritik, die in der Kritik an dem Romantiker Eduard eine besondere Zuspitzung erhalte und von der nur Ottilie ausgenommen bleibe (vgl. ebd., S. 50–55). Auch diese These von der Gesellschaftskritik stützt sich auf Erklärungen und Bewertungen von Figurenhandlungen: Die Handlungen und Verhaltensweisen der Haupt- und Nebenfiguren des Romans zeugen laut Stöcklein auf verschiedene Weisen von einem fatalen Verlust an ‚Gestaltungskraft‘ und ‚Instinktsicherheit; die Mitglieder dieser Gesellschaft stehe dem Wirken der elementaren Leidenschaften so ahnungs- und wehrlos gegenüber, weil sie zu einem ‚gestaltenden‘ Umgang mit den Trieben und Leidenschaften nicht mehr fähig sind, ebenso wenig wie zu echter künstlerischer Produktivität.  

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seine Erklärung der Haltung Ottilies am Ende des Romans, unmittelbar vor ihrem Tode: Anders als Stöcklein meint May nicht, dass Ottilie ihre Leidenschaft für Eduard als böse ansehe und vor der Zudringlichkeit Eduards in den Tod fliehe; sie habe zwar um des Sittengesetzes willen auf die Erfüllung ihrer Liebe verzichtet, bleibe aber dieser Liebe selbst und der Überzeugung vom Wert des irdischen Daseins treu und stehe mithin bis zu ihrem Tod „in einer unauflösbaren Paradoxie von sittlichem Gesetz und dämonischer Leidenschaft.“82 Etwas genauer soll hier ein Abschnitt aus der Interpretation Stöckleins analysiert werden, in dem er die Gestalt der Ottilie charakterisiert; dabei bezieht er sich auf die Zeit, bevor Ottilie sich in Eduard verliebt. Zu Beginn ihres Aufenthalts auf dem Landgut erzählt Ottilie einmal Charlotte eine Anekdote über den angeklagten König Karl den Ersten von England. Mit dieser Erzählung, die sie tief beeindruckt habe, will Ottilie nur eine bestimmte, von Charlotte beanstandete Angewohnheit erklären, aber für Stöcklein lässt die Anekdote weiterreichende Rückschlüsse auf ein „Weltgefühl“ Ottilies zu, das vielen einzelnen Charakterzügen und Verhaltensweisen zugrunde liege: Ihre [d.i. Ottilies; O.K.] Güte, ihre Hilfsbereitschaft beruht auf einem Weltgefühl. Der Mensch scheint überhaupt in einer Lage wie jener König, so beklagenswert ausgesetzt, hilfsbedürftig. Der Mensch ein abgesetzter König, das alte christliche Bild (von Pascal erneuert), steht wohl im Hintergrund. […] Von hier wird ihre Enthaltsamkeit tief verständlich; daß sie wertvolle Kleider nicht will, daß sie wenig ißt, daß sie wenig trinkt, daß sie behaglicher Gesprächigkeit wenig Raum gibt. In einer Welt, die so tragisch eingerichtet ist, scheint es nicht gut zu sein, in ahnungsloser Selbstbezogenheit, in Sattheit und Genuß es sich wohl sein zu lassen. In einer solchen Welt scheint nur helfende Güte am Platz. Die Demut Ottiliens kennt keinen Anspruch; sie ist fromm und dankbar. Ihre hilfsbereite Hingabekraft kann sogar im Sinne der Marienbader Elegie gedeutet werden: In unsres Busens Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben … Wir heißens Frommsein … Diese Hingabekraft bedeutet auch Liebesbereitschaft, die sich verwirklichen möchte. Wir ahnen, daß sie den ersten Menschen, der sie ‚verstehen‘ und der ihr entgegenkommen wird, lieb haben wird.83

Diese Passage weist eine Struktur auf, die in vielen Interpretationen unterschiedlicher Ansätze zu finden ist: Der Interpret zählt Handlungen und Verhaltensweisen einer Figur auf und formuliert die These, dass sich in ihnen eine Dis-

82 May, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als tragischer Roman“, S. 112. 83 Stöcklein, „Stil und Sinn“, S. 17 f.  

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position, eine Absicht oder ein Wunsch dieser Figur äußert.84 Eine solche These hat einerseits den Charakter einer Handlungserklärung, wobei die erklärten Handlungen die einer fiktiven Figur sind; andererseits ist sie eine textinterpretierende Aussage, insofern sie einer Gruppe von Textelementen eine Bedeutung zuschreibt. Das Interpretieren beginnt in dieser Passage aber, ohne dass dies auf den ersten Blick erkennbar wäre, nicht erst in der angebotenen Erklärung, sondern schon in der Aufzählung von Ottilies Eigenschaften, Handlungen und Verhaltensweisen. Die hier verwendeten Begriffe haben fast durchgehend eine wertende Komponente: Ottilies Verhalten zeichne sich durch „Güte“, „Hilfsbereitschaft“, „Enthaltsamkeit“ und „helfende Güte“ aus; was sie vermeidet, ist „behagliche[] Gesprächigkeit“, „ahnungslose[] Selbstbezogenheit“, „Sattheit und Genuß“.85 Es ist nicht ohne weiteres erkennbar, ob die in diesen Charakterisierungen enthaltenen Wertungen von der Erzählinstanz des Romans vorgenommen werden oder allein vom Interpreten stammen; das heißt, es ist nicht deutlich, wo in der Passage die Grenze zwischen Paraphrase und Interpretation verläuft. Vergleicht man Stöckleins Charakterisierung Ottilies mit den Romanstellen, die als Basis für sie in Frage kommen, so kann man in den meisten Fällen feststellen, dass der Erzähler die Handlungen oder Verhaltensweisen Ottilies gar nicht, weniger eindeutig oder in etwas anderer Weise bewertet: Spricht Stöcklein von Ottilies „Hilfsbereitschaft“ und „Güte“, so spricht der Erzähler von ihrer „Dienstbeflissenheit“;86 wo Stöcklein von „Enthaltsamkeit“ spricht, sprechen die Pensionsvorsteherin und der Erzähler im Roman nur von „große[r] Mäßigkeit im Essen und Trinken“.87 Diese Wertungen Stöckleins werden nicht als solche kenntlich gemacht und also auch nicht begründet. Auch die Erklärung von Ottilies Handlungen und Verhaltensweisen mithilfe der Annahme eines spezifischen „Weltgefühl[s]“ weist Begründungslücken auf: Stöcklein geht nicht eigens darauf ein,

84 Vgl. Korff, Geist der Goethezeit. […] II. Teil, S. 380; Blessin, Die Romane Goethes, S. 64; Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 269 f. 85 Die meisten der hier von Stöcklein verwendeten Begriffe sind Beispiele für „thick ethical concepts“ im Sinne der jüngeren analytischen Moralphilosophie; vgl. Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy. With a commentary on the text by A. W. Moore, London, New York 2007 [zuerst 1985], S. 140 f. Kennzeichnend für diese Begriffe ist, dass sie sowohl einen deskriptiven als auch einen evaluativen Gehalt haben. 86 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 283; vgl. auch S. 284: „anständige Dienstfertigkeit“. Stöcklein führt keine konkreten Romanstellen als Belege für seine Charakterisierung an, aber diese Romanpassage, die von Ottilies Verhalten nach ihrer Ankunft auf dem Landgut handelt, ist auf jeden Fall relevant. Es ist zu bedenken, dass Ottilie auch auf das Landgut geholt wird, damit sie dort die Stelle einer „Beschließerin und Haushälterin“ ausfüllt (ebd., S. 277); daher die Rede des Erzählers von ihrer „Dienstbeflissenheit“. 87 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 263; vgl. auch ebd., S. 283.  



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weshalb diese Handlungen einer solchen einheitlichen Erklärung bedürfen oder zumindest eine solche Erklärung erlauben. Eine gewisse Unklarheit kommt auch schon dadurch zustande, dass der Begriff des Weltgefühls, der keiner etablierten psychologischen Theorie entstammt, nicht näher erläutert wird. In seiner Charakterisierung von Ottilies Weltgefühl schließlich spricht Stöcklein zuerst von dem Bild des abgesetzten, hilfsbedürftigen Königs, dann von „Demut“ und „fromm“ und am Ende von ‚Frommsein im Sinne der Marienbader Elegie‘, ohne dass die Voraussetzungen dieser Deutungen expliziert würden. Während die werkimmanenten Interpretationen von Goethes Die Wahlverwandtschaften inhaltlich oft eng an ältere Deutungen etwa geistesgeschichtlicher Prägung anschließen, grenzen sich die Verfasser der sozialgeschichtlichen Interpretationen der 1970er und frühen 1980er Jahre dezidiert von etablierten Deutungstraditionen generell und insbesondere auch von geistesgeschichtlichen und werkimmanenten Interpretationen ab. Die Argumentationsverfahren, mittels derer sie ihre neuartigen Gesamtdeutungen entwickeln, ähneln aber insofern denjenigen der geistesgeschichtlichen und werkimmanenten Studien, als sie ebenfalls Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Figurenhandlungen eine zentrale Stelle einräumen. Zwei dieser sozialgeschichtlichen Interpretationen, die von Hans Rudolf Vaget und Stefan Blessin, vertreten unterschiedliche Ausprägungen der These, Goethe habe in dem Roman den deutschen Adel der Jahre um 1800 kritisiert. Diese These wird in beiden Fällen durch wertende Beschreibungen und Erklärungen der Handlungen der Protagonisten begründet, denen zufolge diese schließlich zur Katastrophe führenden Handlungen wesentlich durch die Standeszugehörigkeit der Protagonisten, durch adelstypische Einstellungen und adelstypische materielle Lebensbedingungen, determiniert seien. Auch die Entstehung der Liebe zwischen Eduard und Ottilie könne auf diese Weise, also gewissermaßen sozialpsychologisch, erklärt werden.88 – Werner Schwans sozial-

88 So meint Hans Rudolf Vaget, dass Eduards Verhalten als Liebender in hohem Maße durch ein Festhalten an ‚historisch überlebten‘, nämlich ‚höfisch-aristokratischen‘ Lebensformen bestimmt sei und dass eben diese regressive Tendenz Eduards zur Entstehung seiner Liebe zu Ottilie, zu seiner Abwendung von Charlotte und zu den neuen Liebesverbindungen ‚über Kreuz‘ führe, die schließlich in die Katastrophe münden (vgl. Vaget, „Ein reicher Baron“, S. 143–146). Derselbe Mangel an Wille oder Fähigkeit zur Anpassung an die neue Zeit, verbunden mit einer selbstzerstörerischen Bereitschaft zur Gefährdung seiner Existenzgrundlagen, kennzeichne auch Eduards wirtschaftliches Handeln als Gutsbesitzer (vgl. ebd., S. 149–156, vor allem S. 154). – Auch Stefan Blessin vertritt die These, dass Goethe anhand seiner Protagonisten eine rückwärtsgewandte Einstellung des zeitgenössischen Adels kritisierte; aber für ihn manifestiert sich diese Rückwärtsgewandtheit vor allem in dem Naturbegriff der Hauptfiguren, die die Natur als eine ursprüngliche und ungeschichtliche Lebensquelle auffassen und durch eine Annäherung an sie ihr Leben zu erneuern suchen (vgl. Blessin, Die Romane Goethes, vor allem S. 100–104). Dass

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geschichtliche Interpretation hingegen deutet den Roman nicht als Adelskritik, sondern als Darstellung der scheiternden Kommunikation zwischen Personen, die es an eben jenen Fähigkeiten fehlen lassen, die Goethe als notwendig für eine Überwindung der gesellschaftlichen Wirren um 1800 erachtet habe.89 In dieser Interpretation sind es weniger Erklärungen als Bewertungen und wertende Beschreibungen der Figurenhandlungen, die die zentrale Rolle in der Argumentation übernehmen.90 Etwas genauer soll hier ein Abschnitt aus Blessins Interpretation betrachtet werden. Zu den verhängnisvollen standestypischen Einstellungen, die ihm zufolge das Handeln der adligen Protagonisten bestimmen, gehört nach Blessin ihr Festhalten an einem verfehlten ‚ontologischen‘ Naturbegriff, an der Auffassung von der Natur als einer ursprünglichen, ungeschichtlichen, Leben spendenden Instanz. Dass die Figuren einem solchen Naturbegriff anhängen, werde in den „Entscheidungssituationen“91 deutlich, aus denen das Geschehen des ersten Romanteils bestehe: Ohne hier genauer zu differenzieren, worin und auf welche Weise jeder einzelne seinen Willen hat, sei darauf verwiesen, daß die Entscheidungen [scil. der Protagonisten; O.K.] überwiegend durch den Wunsch gesteuert sind, in bestehende oder eingetretene Verhält-

dieser Naturbegriff auf einer Illusion beruht, führe der Roman anhand der Liebe zwischen Ottilie und Eduard vor Augen (vgl. ebd., vor allem S. 82–101). Ihre Liebe, die auf den ersten Blick als Wirkung einer Naturmacht erscheine, entpuppe sich auf den zweiten Blick als folgerichtiges Ergebnis ihrer in komplementärer Weise gestörten frühkindlichen Triebschicksale, die sie einerseits zueinander hintreiben, sie andererseits aber auch den jeweils Anderen verfehlen lassen (vgl. ebd., S. 81, 88 f.). Das Befangenbleiben in ödipalen Bindungen lasse sich bei beiden auf die materiellen Verhältnisse ihrer Familien zurückführen, die trotz ihrer Gegensätzlichkeit gleichermaßen typisch für den Adel seien (vgl. ebd., S. 101). Nach Blessin haben nicht nur die Ursachen, sondern auch die Folgen der gestörten Entwicklungsprozesse Ottilies und Eduards eine allgemeinere sozialgeschichtliche Signifikanz: Gelungene Beziehungen zu und Ablösungen von den Eltern seien die Voraussetzung für die Fähigkeit zu jener Art von zwischenmenschlichen Beziehungen, die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv seien, nämlich zu mittelbaren Beziehungen (vgl. ebd., S. 92–98). 89 Vgl. Schwan, Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, vor allem S. 248–250. 90 Diese Beschreibungen legen immer wieder den Akzent auf die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft der Figuren, in eine offene Kommunikation einzutreten, sich in die Positionen der anderen Figuren zu versetzen, eigene Standpunkte und Wünsche zu relativieren und Normen und Konventionen kritisch zu hinterfragen. Vgl. ebd., prägnant zusammenfassend vor allem S. 184 f.; ferner S. 50–54, 67 f., 123–125, 128, 132 f., 195. Diese „in einem Syndrom unkommunikativer Verhaltensweisen zusammenschießen[den]“ „Mängel und Fehlleistungen“ sind nach Schwan auch die eigentlichen Gründe für das Scheitern der Protagonisten und den katastrophalen Ausgang des Geschehens (ebd., S. 184). 91 Blessin, Die Romane Goethes, S. 63.  







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nisse dadurch erneuernd einzugreifen, daß man die Natur wieder in ihre Rechte einzusetzen versucht. Die Erneuerungen im Ersten Teil der Wahlverwandtschaften sind Rückbesinnungen auf die Natur und darauf, wie eine ins Stocken geratene Entwicklung sich an ihrem natürlichen Ursprung regenerieren lasse.92

Im Folgenden nennt Blessin konkrete Beispiele für solche „Erneuerungen“ oder Erneuerungsversuche, die in „Rückbesinnungen auf die Natur“ bestehen: die im Park des Landguts durchgeführten Veränderungen; die Verjüngung oder scheinbare Verjüngung Eduards durch seine Liebe zu Ottilie, die „[s]elber eine Art Naturwesen“ ist;93 die durch Ottilies Anwesenheit bewirkte Wiederbelebung der Ehe zwischen Eduard und Charlotte, die sich in Eduards nächtlichem Besuch bei Charlotte manifestiert und zur Zeugung des Kindes führt.94 Mit der Aussage, diese Entscheidungen seien „durch den Wunsch gesteuert“, die Lebensverhältnisse durch eine Wiederannäherung an die Natur zu erneuern, bietet Blessin eine Erklärung für diese Entscheidungen und Handlungen an. Dabei sagt er nicht explizit, dass und warum diese Entscheidungen erklärungsbedürftig seien. Vor allem aber ist nicht ganz klar, wie die Erklärung zu verstehen ist: In dem zitierten Passus wird angedeutet, dass die Figuren ‚auf verschiedene Weisen‘ den Wunsch nach einer Erneuerung durch die Natur haben („Ohne hier genauer zu differenzieren, worin und auf welche Weise jeder einzelne seinen Willen hat, […]“), an anderer Stelle begegnet die Formulierung von einem „mehr oder minder ausdrückliche[n] Willen“;95 es bleibt aber jeweils offen, was mit den verschiedenen ‚Weisen, einen Willen zu haben‘, oder mit einem ‚minder ausdrücklichen‘ Willen gemeint ist. Blessin rekurriert an anderer Stelle, bei der Erklärung der Liebe zwischen Eduard und Ottilie, ausdrücklich auf psychoanalytische Theoreme, aber es erscheint fraglich, ob auch die Aussagen über den ‚minder ausdrücklichen Willen‘ zur Erneuerung durch eine Rückbesinnung auf die Natur in einem psychoanalytischen Sinne zu verstehen sind.96 Unerörtert bleibt schließlich auch die

92 Ebd., S. 63 f. Vgl. auch ebd., S. 103. 93 Ebd., S. 64. 94 Vgl. ebd., S. 63 f. 95 Ebd., S. 60. 96 Eine ähnliche Unklarheit weist die folgende Formulierung auf: „[…] [F]ür den Baron und seine Frau [ist] die Absicht, die eigenen Lebensverhältnisse zu regenerieren, vorwiegend mit der Befriedigung solcher Bedürfnisse verknüpft, die unmittelbar dem persönlichen Wohlbefinden allein und zu zweit dienen. Auf eine andere Weise steckt freilich in diesem Bestreben, die ehelichen Beziehungen abseits vom Hofleben wieder stärker zu intensivieren, auch eine Anerkennung der neuen bürgerlich-intimen Lebensform.“ (Ebd.) Hier fragt sich, was damit gemeint ist, dass in einem bestimmten Bestreben ‚auf eine andere Weise‘ auch noch etwas anderes ‚steckt‘.  



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methodologische Frage, wie man als Interpret den ‚minder ausdrücklichen‘ Willen einer Romanfigur erkennt. Auch in poststrukturalistischen Interpretationen des Romans stützen sich die zentralen Thesen häufig auf Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen des Figurenhandelns und auf Aussagen über die Ursachen der Katastrophe. Die Ausführungen hierzu laufen in mehreren Interpretationen auf Variationen der These hinaus, dass das, was den katastrophalen Ausgang herbeiführt, das Wesen der Sprache oder der Zeichen selbst sowie der Umgang der Figuren mit der Sprache sei. Dabei wird dieser defizitäre Umgang der Protagonisten mit der Sprache in unterschiedlicher Weise akzentuiert, mal eher als ein schuldhaftes Verhalten, eine Verdrängung oder ein anmaßender Versuch der Selbstermächtigung, mal eher als Hilflosigkeit gegenüber der Macht der Sprache. Die übergeordnete These in einer Studie Jochen Hörischs97 besagt etwa, dass Goethe in seinem Roman eine radikale Kritik am „phonozentrische[n] Denken von konstitutiver Subjektivität und Sprache“98 vorgelegt habe, indem er gezeigt habe, dass das Subjekt keinen ursprünglichen Charakter besitze, sondern der ‚strukturalen Priorität von Absenz und Mangel‘ und der ‚Suprematie der Signifikanten‘ unterworfen sei.99 Gestützt wird diese These auf Deutungen der Figurenhandlungen, denen zufolge die Protagonisten alle versuchen, sich von „der ‚Suprematie der Signifikanten‘ zu emanzipieren“;100 damit „zitieren“ die „Sprachverfehlungen“ der Figuren aber gerade die „subjektverschlingende Macht“ des Signifikanten herbei.101 – Wiethölter vertritt die These, der Roman lasse sich „dreimal als je verschiedene Sinntotalität lesen“,102 da er das „Kompositum dreier Lektüren“ sei,103 einer antiken, einer christlichen und einer alchemistischen. Diese drei Lektüren „münden“ „schließlich in 97 Vgl. Hörisch, „Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins“. 98 Ebd., S. 14; vgl. auch ebd., S. 28 f. 99 Vgl. ebd., S. 25, 29. 100 Ebd., S. 27; ähnlich ebd., S. 18 und 21. 101 Ebd., S. 27. Vgl. zu den „Sprachverfehlungen“ der Figuren im Einzelnen ebd., vor allem S. 17 f., 20 f., 24 f. – Verwandte Thesen, aber in etwas anderer Akzentuierung und unter Rekurs auf andere Romanstellen, finden sich wieder in: Ders., „‚Die Begierde zu retten‘“; für Thesen über die leitenden Intentionen und die Verfehlungen der Figuren vgl. dort vor allem S. 82–84, 87–89. – Auch Gerhard Neumann begründet seine These, Die Wahlverwandtschaften seien ein „semiotischer Roman“, der „die Frage nach den Redeordnungen und ihrer wirklichkeit- wie identitätsstiftenden Kraft“ stellt (Neumann, „Bild und Schrift“, S. 127), vor allem mithilfe von Beschreibungen und Erklärungen der Handlungen Eduards und Ottilies. Beide versuchen ihm zufolge, durch Bücher oder Bilder vorgegebene Modelle nachzuspielen, hoffen also in diesem Sinne auf eine ‚wirklichkeit- wie identitätsstiftende Kraft‘ der Zeichen, und beide scheitern dabei (vgl. ebd., S. 120–127). 102 Wiethölter, „Legenden“, S. 1 (Abstract). 103 Ebd., S. 7.  







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eine ihnen allen implizite, im thematischen Kern der Wahlverwandtschaften verborgene Mythologie der Wissenschaft“.104 Diese „Mythologie der Wissenschaft“ aber besteht der Interpretin zufolge in einer Sündenfall-Erzählung, in der die Handelnden sich von Allmachtsphantasien dazu verführen lassen, Symbol und Sache zu vertauschen, Zeichen zu fetischisieren und die Sprache wörtlich statt bildlich zu nehmen, um auf diese Weise absolutes Wissen zu erlangen und das Leben zu beherrschen.105 Auch hier übernehmen also Beschreibungen der Figurenhandlungen und Aussagen über die Antriebe der Figuren eine maßgebliche Begründungsfunktion innerhalb der Interpretation. Etwas ausführlicher sei hier eine Passage aus einem Aufsatz von Hörisch kommentiert, in dem er die These präsentiert, es gebe in Die Wahlverwandtschaften zwei „subkutane[] Hauptthemen“, nämlich „Sprache und Tod oder Bedeutsamkeit und Zeitlichkeit“; die „Einsicht in den wesentlichen Zusammenhang von Bedeutsamkeit und Zeitlichkeit“ aber sei den Romanfiguren „versagt, weil sie einen verfehlten Kultus seiner Repräsentanten Sprache und Tod betreiben“, weil sie die „Macht“ der Sprache wie des Todes zu „brechen“ versuchen:106 „Die Sprache und den Tod zu verdrängen und nicht etwa in ein rechtes Verhältnis zu ihnen zu treten, ist die oberste Intention von Eduard und Charlotte.“107 Dass Eduards „oberste Intention“ auf die Verdrängung der Sprache und ihrer „Macht“ gerichtet sei, begründet Hörisch vor allem in der folgenden Passage: Eduard […] verdrängt […] die Suprematie der Sprache über die Subjekte. […] Eduard, der den Buchstaben E und O im Kelchglas seinen und Ottiliens Namen unterlegt; der sich selbst zum Zeichen macht; der gerne monologisiert und vorliest; der sich selbst umtaufte; der noch Ottilie in seinem Namen Wünsche souffliert – Eduard glaubt, die Sprache zu haben, die doch ihn hat.108

Hörisch führt hier eine Reihe von Handlungen und Gewohnheiten Eduards an, in denen sich sein Streben nach einer Unterwerfung der Sprache oder seine irrige

104 Ebd. 105 Vgl. ebd., S. 61–63; die Rede vom „Sündenfall“ auf S. 61 und 63. – Für Bewertungen von Figurenhandlungen innerhalb der drei Lektüren des Romans vgl. etwa S. 12 (über „Größen- und Allmachtsphantasien“ Eduards), 34 (über die „Größen- und Allmachtsphantasien“ Eduards und Ottilies). 106 Hörisch, „‚Die Begierde zu retten‘“, S. 82. 107 Ebd. – Die zitierte Passage lautet vollständig: „Mit der Macht der Sprache nämlich versuchen die wahlverwandten Figuren, deren Namen […] in den drei Buchstaben ott konvergieren, aus denen auch das Wort tot gebildet ist, die Macht des Todes zu brechen. Die Sprache und den Tod zu verdrängen und nicht etwa in ein rechtes Verhältnis zu ihnen zu treten, ist die oberste Intention von Eduard und Charlotte.“ 108 Hörisch, „‚Die Begierde zu retten‘“, S. 83.

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Überzeugung, diese schon unterworfen zu haben, manifestiere. Indem Hörisch diesen Handlungen und Gewohnheiten eine zugrunde liegende Absicht zuschreibt, bietet er eine Erklärung oder Deutung für sie an. Die meisten dieser Handlungen werden im Roman selbst als Äußerungen von Absichten, Motiven oder Dispositionen Eduards präsentiert und insofern erklärt, ohne dass dabei freilich eine spezifische Einstellung Eduards zur Sprache herangezogen würde. Weshalb diese Handlungen gleichwohl einer weiteren Erklärung bedürfen, wird von Hörisch nicht eigens erläutert. Hörisch rekurriert in dem Aufsatz zwar ausdrücklich auf psychoanalytische Theorien, aber es ist nicht klar, ob er in der zitierten Passage einen unbewussten Antrieb, der ‚hinter‘ den im Roman genannten Beweggründen oder Dispositionen liegt, eruieren will; immerhin wird das Verdrängen der Sprache als eine „Intention“, die Annahme von der Überlegenheit über die Sprache als eine Überzeugung („Eduard glaubt“) präsentiert. Was für eine Erklärung oder Deutung der Interpret hier beabsichtigt, ist auch deshalb unklar, weil die Kriterien, nach denen die aufgezählten Handlungen, Verhaltensweisen und Neigungen zu einer Gruppe zusammengestellt wurden, nicht offensichtlich sind. Diese Handlungen und Neigungen haben zwar alle mit sprachlichen oder anderen Zeichen zu tun, aber sie haben dies auf ganz unterschiedliche Weisen.109 Dass die Sprache und die Zeichen an den Handlungen, die Hörisch hier als Äußerungen derselben grundlegenden Absicht oder Überzeugung deutet, in so unterschiedlicher Weise beteiligt sind, führt zu einer Unklarheit auf ganz grundsätzlicher Ebene: Will der Interpret in der zitierten Passage Aussagen über die Absichten, Wünsche und Begierden einer fiktiven Figur machen oder über die – symbolische oder allegorische – Bedeutung, die dieser Figur und ihren Handlungen zugeschrieben werden können?110

109 Mal geht es konkret um Eduards Umgang mit Büchern (seine Neigung zum Vorlesen); mal geht es um eine Handlung Eduards, die er selbst metaphorisch mithilfe der Wendung vom ‚Sichselbst-zum-Zeichen-Machen‘ beschreibt; wieder ein anderes Mal geht es um eine Verhaltensweise Eduards gegenüber Ottilie, die der Interpret metaphorisch als ein ‚Soufflieren‘ charakterisiert. 110 Mehrere Entwürfe einer Theorie literarischer Figuren oder fiktiver Figuren allgemein haben vorgeschlagen, verschiedene ‚Ebenen‘ von Figuren oder auch verschiedene Arten von Aussagen über Figuren zu unterscheiden. Zwei dieser Ebenen finden sich in ähnlicher Form in mehreren jüngeren Theorien: Auf der einen werden Figuren als personenartige Wesen behandelt, deren psychische Zustände, Motive, Absichten und gegebenenfalls unbewusste Wünsche zum Thema gemacht werden können; auf der anderen werden Figuren als Träger symbolischer oder allegorischer Bedeutungen behandelt, gewissermaßen als ‚Personifikationen‘ etwa bestimmter Werte, Eigenschaften oder Ideologien. Wie diese Ebenen zusammenhängen, oder genauer: wie der Zusammenhang dieser Ebenen sich im Rahmen verschiedener Interpretationsweisen darstellt, kann aber noch nicht als hinreichend geklärt gelten. – Vgl. für Figurentheorien mit Unterscheidungen der genannten Art: Jens Eder, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg

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Andere poststrukturalistische Interpretationen oder Lektüren deuten Die Wahlverwandtschaften nicht als eine Auseinandersetzung mit Themen wie dem Wesen von Zeichen, Subjektivität, Fiktion oder Wissen, sondern als Darstellung eines historischen Prozesses, eines gesellschaftlichen oder kulturellen Wandels. Auch in diesen Untersuchungen, zu denen insbesondere die Studien Friedrich Kittlers und David Wellberys gehören, nehmen Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen von Figurenhandlungen einen wichtigen Platz ein. Die zentrale These der Arbeit Kittlers wurde oben bereits wiedergegeben: Ihm zufolge führt die Romanhandlung die Funktionsweise eines neuen Herrschaftssystems vor Augen, das in Deutschland um 1800 etabliert wurde, um den Begriff der Bildung zentriert war, sich wesentlich auf die Pädagogik stützte und durch Beamten und Mütter getragen wurde. Kittler begründet diese These vor allem durch Ausführungen zu Ottilie und dem Hauptmann, die zu zeigen suchen, dass die Absichten dieser zwei Figuren genau den Zielsetzungen des um 1800 etablierten Herrschaftssystems ‚Bildung‘ entsprechen: Ottilie verbreite die Ideale der Kleinfamilie, der gefühlvollinnerlichen Mutter und der zugleich begehrenswerten und unerreichbaren Frau; der Hauptmann baue auf dem Landsitz von Eduard und Charlotte ein bürokratisch organisiertes Machtsystem auf.111

2008, vor allem S. 123–129; James Phelan, Reading People, Reading Plots. Character, Progression and the Interpretation of Narrative, Chicago, London 1989, S. 2 f.; Uri Margolin, „The What, the When, and the How of Being a Character in Literary Narrative“, in: Style, 24/1990, 3, S. 453–468, hier S. 453 f. – Für eine knappe Zusammenfassung von Jens Eders Version dieser Unterscheidung vgl.: Lilith Jappe/Olav Krämer/Fabian Lampart, „Einleitung: Figuren, Wissen, Figurenwissen“, in: Dies. (Hrsg.), Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung, Berlin, Boston 2012, S. 1–35, hier S. 9 f. 111 Vgl. Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 263–270. Darüber hinaus formuliert Kittler eine These über den verborgenen, ‚tieferen‘ Antrieb hinter den zugleich sozialreformerischen und herrschaftsstabilisierenden Bemühungen des Hauptmanns: Die Frau, die er liebte, habe sich vor seinen Augen das Leben genommen, und dieses traumatische Erlebnis hindere ihn an neuen Liebesbeziehungen und treibe sein Engagement für die „Verbesserung Mitteleuropas“ an (vgl. ebd., S. 266–269, das Zitat S. 269). Es ist anzunehmen, dass Kittler mit der Aufdeckung dieser verborgenen Antriebe des Hauptmanns auch untergründige Impulse der Etablierung des ‚Herrschaftssystems Bildung‘ um 1800 aufdecken will. – Wellberys Interpretation weist in der Argumentationsweise einige Parallelen zu derjenigen Kittlers auf und knüpft auch inhaltlich an sie an: Dieser Interpretation zufolge inszeniert der Roman den historischen Wandel, in dem „aus einer nach den Symboliken der Religion und der Aristokratie organisierten Erfahrungswelt […] eine neue Welt hervor[geht], die entscheidend von theoretischen Mächten geprägt wird“ (Wellbery, „Die Wahlverwandtschaften (1809)“, S. 306); diese theoretischen Mächte werden im Roman vor allem durch den Gehülfen und den Hauptmann verkörpert, deren leitende Antriebe und Prinzipien Wellbery teilweise im Anschluss an Kittler deutet (vgl. ebd., S. 294–300).  





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Eine Passage aus dem Abschnitt von Kittlers Interpretation, in dem eben diese These über den Hauptmann präsentiert wird, sei hier noch etwas genauer betrachtet: Der Baron Eduard mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, es sei denn, er könne ihnen geradezu befehlen. Dem Hauptmann dagegen ist Befehlen so selbstverständlich geworden, daß er es auch lassen kann. Er hat begriffen, welche neue Macht denen winkt, die nach dem Wort des Gehülfen zu Dienern und nicht zu Despoten erzogen wurden. Die Genealogie dieser Macht kennt man von Wilhelm Meister, dessen erste Berufswahl eine Mutterliebe und dessen endgültige ein Unfall durch Ertrinken bestimmt. Beidemale hat das Wasser ein geliebtes Wesen entrissen und beidemale, in Wanderjahren wie Wahlverwandtschaften, beschließt der Hinterbliebene, zum Entsagenden und Therapeuten zu werden. Eine Macht nach dem Vorbild der Medizin ersetzt die Willkürherrschaft des alten Adels. Den Bauern und ihren verwahrlosten Höfen verordnet der Hauptmann eine ‚Schweizer Ordnung‘; die Hausapotheke des Schlosses bereichert [sic] derart, daß Charlotte als karitativer Arm der Bürokratie wird dienen können; einen Feldchirurgus für ‚augenblickliche Hilfe‘ ‚auf dem Lande‘ weiß der Hauptmann ihr ebenfalls zu empfehlen, von seinen ‚ausführlichen‘ Maßnahmen gegen Ertrinken zu schweigen.112

Die Aussage, dass die Aktivitäten des Hauptmanns auf die Errichtung oder Sicherung eines Herrschaftssystems zielen, erschiene für sich genommen als eine vielleicht forcierte, aber nachvollziehbare Charakterisierung dieser Aktivitäten: Indem der Hauptmann den Baron Eduard zu einer besser organisierten und damit effizienteren Verwaltung seines Besitzes anleitet, hilft er ihm letztlich – so könnte man argumentieren –, seine Herrschaft zu stabilisieren. Aber die Pointe der Analyse Kittlers liegt in spezielleren Thesen über die Beschaffenheit des vom Hauptmann errichteten Machtsystems und seiner Methoden der Machtsicherung. Dass der Hauptmann (dem Interpreten zufolge) weniger Befehle erteilt als Eduard, dass er insbesondere keine „despotischen Befehle“ gibt,113 dass er sich als „Diener“ versteht oder präsentiert – all dies ist Kittler zufolge auf seine Erkenntnis zurückzuführen, dass ein undespotischer, geradezu fürsorglicher Umgang mit den Bürgern und Bauern sowie eine bescheidene Zurücknahme der eigenen Person ein besonders hohes Maß an Macht verschaffen. Diese Behauptungen über die Ziele und Überzeugungen des Hauptmanns („Er hat begriffen, welche neue Macht denen winkt, […]“) werden selbst nicht durch Textstellen belegt, und wie sie aus den als Textbeobachtungen präsentierten Feststellungen erschlossen werden können, bleibt unklar. Eine ähnliche Unklarheit oder Lückenhaftigkeit

112 Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 269; in Anmerkungen verweist Kittler auf die folgenden Romanstellen: Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 267, 268, 285. 113 Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 270.

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weist die Deutung auf, die Kittler den Bemühungen des Hauptmanns um die medizinische Ausstattung des Schlosses gibt: Dass der Hauptmann die Hausapotheke erweitert, die Einstellung eines Feldchirurgen veranlasst und Vorkehrungen für Unfälle in den nahe gelegenen Gewässern trifft, gilt Kittler als Beleg dafür, dass die Medizin das „Vorbild“ für das gesamte vom Hauptmann aufgebaute Machtsystem darstellt. Diese Deutung erscheint nur unter der Voraussetzung plausibel, dass auch die medizinischen Vorsorgemaßnahmen selbst der Machterweiterung dienen; diese Annahme aber wird bei Kittler nicht eigens begründet, sondern scheint aus einer an Foucault orientierten Sicht auf die moderne Medizin, der auch für die Medizin in fiktionalen Texten Gültigkeit zugeschrieben wird, abgeleitet zu werden. Dieser Durchgang durch die Interpretationen sollte vor allem zeigen, dass Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen von Figurenhandlungen in Interpretationen aller vier behandelten Ansätze eine wichtige Rolle in der Begründung der übergeordneten Thesen spielen. Man kann daher den Eindruck gewinnen, dass die Interpretationen der verschiedenen Ansätze zumindest in diesen Teilen dieselben Fragen zu beantworten suchen, nämlich die Fragen danach, was die Figuren tun, warum sie es tun, wie ihr Tun zu bewerten ist und wieso es schließlich zum Tod mehrerer Figuren kommt. Diese Fragen werden tatsächlich in mehreren Interpretationen implizit als über die Grenzen zwischen Ansätzen hinweg diskutierbare Fragen behandelt: so etwa, wenn sozialgeschichtliche oder poststrukturalistische Interpreten ihre Erklärungen des unglücklichen Ausgangs oder ihre Bewertungen einzelner Figuren mit Kritik an den diesbezüglichen Positionen geistesgeschichtlicher oder werkimmanenter Interpreten verbinden.114 Allerdings finden sich solche Bezugnahmen auf Interpretationen anderer Ansätze und ihre Erörterungen des Figurenhandelns keineswegs in allen hier untersuchten Interpretationen; und es gilt ferner festzuhalten, dass längst nicht überall, wo Aussagen über die Antriebe der Figuren oder die Ursachen der Katastrophe gemacht werden, diese Aussagen als Antworten auf explizit formulierte Fragen wie die oben genannten präsentiert werden. Die Ausführungen über das Figurenhandeln erscheinen also keineswegs immer als Versuche, Fragen zu beantworten, die auch schon in anderen Interpretationen und womöglich schon in Interpretationen anderer Ansätze behandelt wurden.

114 Die Verfasser sozialgeschichtlicher Interpretationen brachten ihre soziologischen oder sozialpsychologischen Erklärungen des Figurenhandelns und der Katastrophe dezidiert gegen ältere Romandeutungen in Stellung, in denen dem Schicksal oder dem Dämonischen eine entscheidende handlungsbestimmende Rolle zugewiesen wird. Vgl. etwa: Vaget, „Ein reicher Baron“, S. 125–128, 146, 161; Schwan, Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, S. 135–148, 179–185.

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In der Analyse der Interpretationen ist auch deutlich geworden, dass die angebotenen Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Figurenhandlungen sehr unterschiedlich ausfallen. Man kann die Frage aufwerfen, wie es zu dieser Vielfalt kommen kann, obwohl es doch zumindest bei Beschreibungen und Erklärungen der Figurenhandlungen ‚nur‘ darum zu gehen scheint, was in der fiktiven Welt des Romans der Fall ist – nicht darum, welche Bedeutung den Elementen dieser fiktiven Welt zuzuschreiben ist. Bei näherem Hinsehen aber wird deutlich, dass es sich auch bei diesen Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Figurenhandlungen um interpretierende Aussagen handelt, die sich außer auf Textdaten auch auf zusätzliche Annahmen stützen, etwa auf Annahmen über psychologische Gesetzmäßigkeiten, anhand derer Figurenhandlungen zu erklären,115 oder auf Annahmen über moralische Maßstäbe, anhand derer sie zu bewerten sind. Diese Annahmen sowie das Vokabular, das für die Beschreibung der Figurenhandlungen genutzt wird, werden in den sozialgeschichtlichen und den poststrukturalistischen Interpretationen meist den Theorien entnommen, die für diese Ansätze charakteristisch oder grundlegend sind. Andersherum formuliert: Die Zugehörigkeit oder Nähe der Interpretationen zu diesen Ansätzen manifestiert sich häufig auch oder vor allem in den Annahmen und Vokabularen, die in der Beschreibung, Erklärung und Bewertung von Figurenhandlungen verwendet werden. Bei den Prämissen, auf die sich geistesgeschichtliche und werkimmanente Interpretationen in ihren Erklärungen und Bewertungen von Figurenhandlungen stützen, ist weniger offensichtlich, wie sie mit den theoretischen oder methodologischen Annahmen zusammenhängen, die als charakteristisch für diese Ansätze gelten.116 Die Divergenzen zwischen den Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Figurenhandlungen in verschiedenen Interpretationen sind jedenfalls teilweise auf die Unterschiede zwi-

115 Beardsley zufolge besteht die von ihm „elucidation“ genannte Tätigkeit, zu der unter anderem die Feststellung der Handlungsmotive von Figuren gehört, grundsätzlich in Inferenzen auf der Basis von Gesetzen oder Generalisierungen („laws“ oder „generalizations“), darunter etwa „psychological laws“ oder „psychological generalizations“ (Beardsley, Aesthetics, S. 244–247, Zitate S. 245, 247). 116 Generell ist zu bedenken, dass Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen von menschlichen Handlungen alltägliche sprachliche Aktivitäten sind. (Die philosophische Literatur zu Handlungsbeschreibungen und ‑erklärungen ist sehr umfangreich; für einen knappen systematischen Überblick über das alltagssprachliche Vokabular der Handlungsbeschreibung und ‑erklärung vgl.: P. M. S. Hacker, Human Nature. The Categorial Framework, Oxford [u.a.] 2007, S. 210–220.) Bei Interpretationen aller Ansätze ist daher prinzipiell damit zu rechnen, dass die Interpreten in ihren Ausführungen zu den Figurenhandlungen auch auf die Ressourcen der Alltagssprache und der „common sense psychology“ (so Hermerén, „Interpretation: Types and Criteria“, S. 147) zurückgreifen.

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schen den vorausgesetzten psychologischen Konzeptionen und moralischen Wertungsmaßstäben zurückzuführen; außerdem entstehen sie zum Teil auch dadurch, dass unterschiedliche Textelemente berücksichtigt werden, also unterschiedliche Handlungen oder Erlebnisse der Figuren als besonders signifikant erachtet werden. Bei Interpretationen aller hier behandelten Ansätze war festzustellen, dass die Erklärungen und Bewertungen von Figurenhandlungen, gemessen an ihrer großen Bedeutung innerhalb der Argumentation, häufig nur lückenhaft begründet werden. Bei den sozialgeschichtlichen und poststrukturalistischen Interpretationen ist oft transparenter als bei geistesgeschichtlichen oder werkimmanenten, was für Annahmen in den Erklärungen und Bewertungen als Prämissen zum Einsatz kommen und woher – das heißt aus welchen Theorien – diese Annahmen stammen; die Art und Weise, wie diese Annahmen eingesetzt werden, wie also etwa verborgene Antriebe erschlossen werden, wird dabei freilich nur selten eigens erläutert und begründet. Solche Thesen über verborgene, tiefere und eigentliche Handlungsantriebe aber, das gilt es ebenfalls zu betonen, finden sich auch schon in geistesgeschichtlichen und werkimmanenten Interpretationen, und auch dort weisen die Argumentationen, mittels derer die eigentlichen Motive oder das zugrunde liegende ‚Weltgefühl‘ einer Figur erschlossen werden, in einigen Fällen Unklarheiten oder Lücken auf. Diese Lücken entstehen zum Teil auch dadurch, dass nicht erläutert wird, wieso Figurenhandlungen, die im Roman ausdrücklich begründet oder erklärt werden, noch einer weiteren Erklärung bedürfen oder zumindest zugänglich sind und wie sich diese zusätzliche Erklärung zu der im Roman (durch den Erzähler oder die Figur) gegebenen verhält.117

III.3 Deutungen des Stils und der Erzählweise: Metaphorische Exemplifikationen Im vorigen Abschnitt wurde betont, dass die Untersuchung der Figuren und ihrer Handlungen sowie der Triebkräfte des Romangeschehens in vielen Interpretationen unterschiedlicher Ansätze breiten Raum und eine argumentativ zentrale Funktion einnehmen. Es gibt aber selbstverständlich auch Interpretationen, die sich eingehend der Analyse formaler Aspekte, des Stils etwa oder der Erzählweise, widmen. Solche Analysen finden sich in Interpretationen verschiedener

117 Diese Frage nach den im Roman gegebenen Erklärungen und nach der Möglichkeit, darüber hinausgehende Erklärungen zu ermitteln, wird explizit diskutiert in einem Aufsatz, der leider keine größere Wirkung auf den Forschungsgang ausgeübt hat: H.B. Nisbet, „‚Die Wahlverwandtschaften‘: Explanation and its Limits“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 43/1969, S. 458–486.

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Ansätze. Die Aspekte der Form oder der Erzählweise, die jeweils fokussiert werden, sind durchaus unterschiedlicher Art, aber die Deutungen formaler oder erzähltechnischer Merkmale, die in diesen Arbeiten entwickelt werden, weisen in einigen Fällen durchaus Parallelen auf, und zwar in struktureller wie inhaltlicher Hinsicht: Die Argumentationsstruktur dieser Deutungen basiert jeweils auf der Annahme metaphorischer Exemplifikationsbeziehungen;118 und was die formalen Merkmale den Interpretationen zufolge metaphorisch exemplifizieren, sind Handlungsweisen der Figuren oder determinierende Kräfte des tödlich endenden Geschehens. Als Beispiel für Stilanalysen in werkimmanent ausgerichteten Interpretationen seien hier die kurze Studie von Kurt May und die Untersuchung von Hennig Brinkmann betrachtet, die sich in ihrer Vorgehensweise wie in ihren Ergebnissen stark ähneln.119 Beide vertreten die These, dass sich in Die Wahlverwandtschaften zwei gegensätzliche „Darstellungsweisen“120, „Sprachschichten“121 oder „Erzählweisen“122 abwechseln, die vor allem durch unterschiedliche Arten des Satzbaus gekennzeichnet seien. Brinkmann zufolge charakterisieren die eine Sprachschicht der Gebrauch des Präsens, die verbindungslose Aneinanderreihung kurzer Hauptsätze, das Zurücktreten des Subjekts von der Satzspitze durch Inversionen und die Betonung des Vorganghaften gegenüber der Handlungsdimension.123 Diese Sprachschicht bezeichnet Brinkmann als „die Schicht des ‚dämonischen‘ Geschehens“.124 Die Sätze hingegen, die für die andere Sprachschicht charakteristisch sind, beginnen meist mit dem grammatischen Subjekt und enthalten oft komplexe Satzgefüge, in denen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Personen und Erscheinungen hergestellt werden.125 Diese Sprachschicht ist nach Brinkmann 118 Zum Begriff der metaphorischen Exemplifikation vgl. Noël Carroll, Philosophy of Art. A Contemporary Introduction, London, New York 1999, S. 86–92. Eine metaphorische Exemplifikation liegt demnach vor, wenn ein Kunstwerk auf eine Eigenschaft verweist oder Bezug nimmt, die ihm nicht wörtlich, aber metaphorisch zugeschrieben werden kann (vgl. ebd., vor allem S. 89 f.). Zur Rolle der Zuschreibung von (metaphorischen) Exemplifikationen in Literaturinterpretationen, die Form-Inhalt-Beziehungen aufzuzeigen suchen, vgl.: Lutz Danneberg, „Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation“, in: Wilfried Barner/Christoph König (Hrsg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 1996, S. 313–342, hierzu S. 319–321. 119 Vgl. May, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als tragischer Roman“, vor allem S. 109–111; Brinkmann, „Zur Sprache der ‚Wahlverwandtschaften‘“. 120 Brinkmann, „Zur Sprache der ‚Wahlverwandtschaften‘“, S. 254, 275. 121 Ebd., S. 260. 122 May, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als tragischer Roman“, S. 109. 123 Vgl. Brinkmann, „Zur Sprache“, S. 260. 124 Ebd. 125 Vgl. ebd., S. 260–262.  

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„die Schicht des personhaften Daseins“.126 Mays Charakterisierungen der zwei von ihm unterschiedenen Erzählweisen und Satztypen setzen etwas andere Akzente, ähneln aber insgesamt denjenigen Brinkmanns: Die erste Erzählweise bediene sich einer „Vernunftsprache“;127 sie sei geprägt durch tektonisch gebaute Sätze, die häufig durch Parallelismen oder Antithesen gegliedert sind und sich zu einer geschlossenen Ordnung zusammenfügen.128 In dieser Sprache, so May, „stellt sich ein Mensch dar, der in ein Ordnungsgefüge gestellt ist, nämlich in das Gefüge einer erstarrenden Gesellschaft der damaligen Zeit.“129 Diese „vernunftgezügelte Kunstsprache“130 aber werde immer wieder durch Satzgruppen durchbrochen, die in einer „Ausdruckssprache“131 verfasst sind; diese zweite Erzählweise sei gekennzeichnet durch schnelle Folgen kurzer, stakkato-artiger Sätze, die durch Verben oder durch „verbal-dynamische[] Sprachbestände“ dominiert sind, in denen die Handlungen aber als etwas Erlittenes und die Menschen als getrieben erscheinen; in diesen Romanpassagen werde „die vernünftige Ordnung des Menschenlebens bedrängt und erschüttert von der unheimlichen Macht des Dämonischen in der Welt.“132 Die Deutungen der Satztypen bei Brinkmann wie bei May beruhen auf der Annahme metaphorischer Exemplifikationen: Die eine Sprachschicht ist für Brinkmann die des dämonischen Geschehens, weil in ihr die Sätze eine Zurückdrängung des Subjekts durch dämonische Mächte, die sich in Vorgängen äußern, vor Augen führen.133 Für May exemplifiziert der zugleich komplexe und harmonisch gegliederte Satzbau der einen Erzählweise in metaphorischer Weise die rationale Ordnung in einer Gesellschaft oder einem Menschenleben, während die Abfolgen kurzer, unverbundener, von Verben dominierter Sätze in metaphorischer Weise die Erschütterung dieser Ordnung durch das Dämonische exemplifizieren. Im Hinblick auf den Inhalt der Deutungen Mays und Brinkmanns ist festzuhalten, dass die Begriffe, die sie als Deutungsschemata verwenden und auf die Stilmerkmale applizieren, solche sind, die menschliche Handlungs- und Verhaltensweisen sowie außermenschliche Triebkräfte des Geschehens bezeichnen.

126 Ebd., S. 260. 127 May, „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ als tragischer Roman“, S. 113. 128 Vgl. ebd., S. 109 f. 129 Ebd. 130 Ebd., S. 110. 131 Ebd., S. 113. 132 Vgl. ebd., S. 110 f.; Zitate S. 110. 133 Um eine metaphorische Exemplifikation handelt es sich, weil Sätze zwar ein nachgestelltes grammatisches Subjekt enthalten, aber nicht die Eigenschaften einer von dämonischen Mächten überwältigten Person besitzen können.  



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Schwan legt in seiner sozialgeschichtlichen Interpretation die Schwerpunkte auf eine Analyse der Romanhandlung und eine Rekonstruktion historischer Kontexte, widmet aber auch der „Erzählweise der Wahlverwandtschaften“ ein Kapitel.134 Die Relevanz der Formanalyse erläutert und begründet Schwan unter Berufung auf Adornos These, dass „die ‚ungelösten Antagonismen der Realität‘ in den Kunstwerken wiederkehren ‚als die immanenten Probleme ihrer Form‘.“135 Schwan analysiert die „Funktionalisierung der gegenständlichen Details“,136 das Verhältnis der Reflexionen und Kommentare des Erzählers zur Handlung, die Verwendung der von Brinkmann herausgearbeiteten zwei gegensätzlichen Satztypen sowie den Zusammenhang zwischen Handlungsverlauf und Kapitelgliederung. Seine Beobachtungen fasst er in der These zusammen, die Erzählweise sei auf jeder dieser Ebenen durch ein Bestreben nach Harmonisierung und Ausbalancierung geprägt, das zugleich unentwegt relativiert oder dementiert werde. Das „Formgesetz der Wahlverwandtschaften-Prosa“, so Schwan, „könnte mit einem Wort als das Gesetz der entgleitenden Balance bezeichnet werden.“137 Zwischen der so beschriebenen Form und dem Inhalt des Romans bestehe eine Korrespondenz: Das Streben nach Organisation des Erzählstoffes, nach Integration des Einzelnen und Befestigung in allgemeiner und distanzierender Reflexion ist dem kultivierenden und veredelnden Arbeiten der Romanpersonen in Gärten, Parks und an den Wasserflächen parallel zu sehen. Wie die um Gegenwehr gegen das Elementare bemühten Schloßbewohner, verstärkt der Erzähler das rationale logische Element, um Balance zu schaffen gegen das Dämonische und Irrationale.138

Die komplexe und sorgfältig ausgewogene Syntax vieler Sätze, die allgemeinen Kommentare und Reflexionen des Erzählers sowie die innerhalb des Romans mehrfach auftauchenden, mit symbolischer Bedeutung versehenen Gegenstände – diese Merkmale des Stils und der Erzählweise, so kann man Schwans Deutung rekonstruieren, exemplifizieren auf metaphorische Weise ein Bemühen um rationale Ordnung, das der Abwehr elementarer, dämonischer Kräfte dient. Wiethölter nimmt in ihrer Studie einen ganz anderen Aspekt der Erzähltechnik in den Blick als die eben betrachteten Untersuchungen, nämlich intertextuelle

134 Vgl. Schwan, Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, Kapitel I: „Die Erzählweise der Wahlverwandtschaften“ (S. 9–44, 264–269 [Anm.]). 135 Ebd., S. 11. Das Adorno-Zitat entstammt: Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Gretel Adorno (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1970, S. 16. 136 Schwan, Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, S. 23. 137 Ebd., S. 39. 138 Ebd., S. 43.

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Bezugnahmen, die sich ihrer Analyse zufolge gleichsam zu drei Erzählungen innerhalb des Romans oder zu drei Bedeutungsschichten desselben zusammenfügen. Die Art und Weise aber, wie Wiethölter schließlich dieser intertextuellen Faktur des Romans wiederum eine Bedeutung zuschreibt, ist den oben beschriebenen Deutungsoperationen verwandt. Die drei Sinnschichten, die sich nach Wiethölter am Leitfaden der intertextuellen Bezugnahmen herausarbeiten lassen, sind einerseits unaufhebbar verschieden, aber zugleich durch Analogien verbunden.139 Die wichtigste Ähnlichkeit besteht, wie im vorigen Abschnitt bereits erwähnt, darin, dass in allen drei Varianten die Romanfiguren ähnliche Fehler begehen: Sie setzen bestimmte Zeichen mit der bezeichneten Sache gleich, fetischisieren einzelne Namen oder Zeichen und verkennen somit, dass alle Zeichen ihre Bedeutung nicht an sich besitzen, sondern nur durch das freie Spiel der Differenzen erhalten; dieses freie Spiel der Signifikanten suchen die Figuren gleichsam anzuhalten, indem sie einzelne Zeichen etwa als Kundgabe einer Schicksalsmacht hypostasieren. Im Schlussteil ihrer Studie nun stellt Wiethölter einen Nexus zwischen diesem Figurenverhalten und der intertextuellen Machart des Romans her, indem sie schreibt: „Was dem Romanpersonal nicht gelingt, die Kunst der freien Kombination, das gelingt schließlich dem Roman […].“140 Denn der Roman – oder, wie Wiethölter im vorangehenden Satz schreibt: Goethe – präsentiert drei analoge, aber zugleich unterschiedliche Erzählungen, ohne eine Hierarchie zwischen ihnen herzustellen. Der Roman respektiert also, so dürfte man ergänzen können, jenes Gesetz, gegen das sich die Figuren immer wieder vergehen, das Gesetz nämlich, dem zufolge die Sprache in einer unaufhörlichen „flottierende[n] Bewegung“141 begriffen ist. Auch hier ist es eine Beziehung der metaphorischen Exemplifikation, mittels derer den herausgearbeiteten Merkmalen der Erzähltechnik eine Bedeutung zugeschrieben wird: Das Vorliegen verschiedener intertextueller Bezugnahmen, die sich in der Interpretation oder Lektüre des Romans zu verschiedenen Erzählungen zusammenfügen lassen, wird metaphorisch als eine Tätigkeit des Romans beschrieben, der eine gelingende Übung in der ‚Kunst der freien Kombination‘ vorführe. Das bei der Formdeutung verwendete Deutungsschema, so kann man ferner konstatieren, ist wiederum eines, das in derselben Interpretation auch auf die Handlungen der Figuren appliziert wird. Diese Untersuchung verschiedener Deutungen des Stils und der Erzähltechnik sollte vor allem zeigen, dass in diesen Deutungen, obwohl sie unterschiedli-

139 Vgl. Wiethölter, „Legenden“, S. 7, 62–64. 140 Ebd., S. 63. 141 Ebd.

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chen Ansätzen verpflichtet sind, ähnliche Verfahren der Bedeutungszuweisung zum Einsatz kommen. Dass diese Verfahren auf der Annahme von metaphorischen Exemplifikationsrelationen beruhen, wurde betont, weil diese strukturelle Beschreibung gut erkennen lässt, wo der spezifische Begründungsbedarf bei dieser Deutungsoperation liegt: Denn bei Deutungen dieser Art ist generell zu berücksichtigen, dass die Metaphorik, mittels derer die formalen Merkmale beschrieben werden, „immer die des Interpreten“ ist.142 Ferner wurde in den obigen Ausführungen betont, dass die Deutungsschemata, die auf die Eigenschaften des Stils oder der Erzähltechnik angewendet wurden, in allen Fällen entweder Verfehlungen der Figuren oder determinierende Kräfte des Romangeschehens bezeichnen. Damit sollte noch einmal die zentrale Rolle von Interpretationsaussagen jenes Typs, der im vorherigen Abschnitt eingehend untersucht wurde, herausgestellt werden.

IV Schluss Die vorliegende Fallstudie ging von der Frage aus, wie das Auftreten neuer literaturwissenschaftlicher Ansätze die Interpretationspraxis beeinflusst. Sie hat in bewusster Einseitigkeit eine negative Teilantwort auf diese Frage gegeben, indem sie zu zeigen versucht hat, dass sich der Einfluss der neuen Ansätze vielfach gerade nicht so geltend macht, wie man es erwarten könnte und wie es in theoretischen Untersuchungen und Handbüchern oft suggeriert wird: nämlich in der Weise, dass die Interpretationen neuartige Zielsetzungen verfolgen, also auf Thesen neuer Art zulaufen, oder in der Weise, dass sie sich auf neue Arten der Bedeutungszuschreibung und Argumentation stützen. Vielmehr lassen sich gerade hinsichtlich der Art der übergeordneten Thesen und der Verfahren der Argumentation beträchtliche Kontinuitäten feststellen. Man mag einwenden, dass diese Merkmale der untersuchten Interpretationen nur zeigen, dass es sich eben nicht um ‚echte‘ werkimmanente, sozialgeschichtliche oder poststrukturalistische Interpretationen handelt. Aber es erscheint als durchaus denkbar, dass solche ‚unechten‘ oder ‚unreinen‘ Realisierungen literaturwissenschaftlicher Ansätze in der interpretierenden Forschung mindestens ebenso häufig vertreten sind wie ‚reine‘ oder konsequente Umsetzungen. Diese Untersuchung sollte aber keineswegs die These vertreten, dass neue Ansätze keinen Einfluss auf die Interpretationspraxis ausüben; es sollte nur nahe-

142 Danneberg, „Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation“, S. 321; Hervorhebung im Text.

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gelegt werden, dass dieser Einfluss sich vielfach anders als im Aufstellen neuer Zielsetzungen oder im Gebrauch neuer Argumentationsverfahren äußert. Die Analyse der tatsächlichen Auswirkungen auf die Interpretationspraxis lag nicht im Fokus dieser Fallstudie und kann hier auch nicht mehr nachgeholt werden. Aber die Untersuchung der Kontinuitäten hat indirekt einige Hinweise dazu zu Tage gefördert, wie die Rezeption neuer Ansätze mit der Beibehaltung älterer Zielsetzungen und Argumentationsverfahren verbunden wird: Die Interpretationen, die als Beispiele für den werkimmanenten Ansatz untersucht wurden, unterscheiden sich von den geistesgeschichtlichen Interpretationen vor allem dadurch, dass sie der Analyse des Stils oder der Erzählweise größere Aufmerksamkeit schenken und ihr zudem ein Primat in der Abfolge der Deutungsschritte einräumen; aber sie integrieren diese Formanalysen letztlich in eine autorintentionalistische Argumentation. Bei den sozialgeschichtlichen und poststrukturalistischen Interpretationen gestalten sich die Kombinationen von neuen Theorien und herkömmlichen Argumentationspraktiken komplizierter, so dass sie weniger leicht pauschal charakterisiert werden können. Generell kann man aber feststellen, dass die soziologischen, psychologischen oder zeichentheoretischen Annahmen hier häufig dazu dienen, die Figurenhandlungen und Geschehnisse innerhalb der fiktiven Welt auf neue Weise zu beschreiben und zu erklären, also die fiktive Welt um neue Sachverhalte zu erweitern. Außerdem werden die Theorien und historiographischen Annahmen, deren Gebrauch die sozialgeschichtlichen und poststrukturalistischen Interpretationen von den anderen Ansätzen unterscheidet, oft zur Begründung von Auffassungen über historische Vorgänge, die Funktionsweise von Zeichen oder die Struktur der menschlichen Psyche eingesetzt, als deren erzählerische Gestaltung der Roman gedeutet wird. Die so gewonnenen Thesen darüber, was in der fiktiven Welt des Romans der Fall ist oder welche realen Sachverhalte durch den Roman dargestellt werden, werden dann häufig in übergeordnete Interpretationsthesen über den Autor und seine Absichten eingefügt. Damit wäre ein Resümee der Befunde skizziert, die der deskriptive, an wissenschaftsgeschichtlichen Zielsetzungen orientierte Teil dieser Untersuchung ergeben hat. Daneben haben die obigen Analysen aber gelegentlich auch eine evaluative Perspektive eingenommen und Interpretationen auf ihre Schlüssigkeit hin geprüft. Dabei sollte nicht die Frage aufgeworfen werden, ob die behandelten Argumentationsverfahren als solche und für sich genommen legitim und sinnvoll sind; diese prinzipielle Akzeptabilität der Verfahren wurde vielmehr vorausgesetzt. Ob eine Anwendung dieser Verfahren (sowie das Aufstellen von Interpretationsthesen der behandelten Arten) in allen Fällen mit den expliziten theoretischen ‚Bekenntnissen‘ der Interpreten vereinbar ist, ist eine andere Frage, die hier nicht verfolgt wurde. Gezeigt werden sollte in den evaluativ ausgerichteten Teilen nur, dass die Anwendungen der Argumentationsverfahren über die Gren-

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zen zwischen den Ansätzen hinweg häufig bestimmte Begründungslücken aufweisen. Das mehrfache Auftreten dieser argumentativen Sprünge erlaubt die Vermutung, dass es sich hier nicht um kontingente Versäumnisse einzelner Interpretationen handelt, sondern um gleichsam routineartig übersprungene Argumentationsschritte. Im Einzelnen: Wenn Romanfiguren als Repräsentanten historischer Gruppen oder Tendenzen gedeutet werden, so wird dabei meist nur die Ähnlichkeit zwischen den Figuren und den realen Gruppen oder Tendenzen aufgezeigt, aber nicht eigens dafür argumentiert, dass die Figuren die relevanten Eigenschaften auch exemplifizieren sollen. Wenn die Handlungen von Figuren auf grundlegende Antriebe zurückgeführt oder moralisch bewertet werden, so werden die Rückgriffe auf bestimmte Verfahren der Handlungserklärung sowie auf bestimmte Wertungsmaßstäbe meist nicht oder nur ansatzweise begründet. Wenn schließlich Korrespondenzen zwischen Merkmalen des Stils oder der Erzählweise und Grundzügen der Handlung hergestellt werden, so wird die Wahl der Metaphern, deren sich die Beschreibungen von Stil oder Erzählweise bedienen, in der Regel nicht eigens gerechtfertigt. Es soll nun nicht behauptet werden, dass in allen Fällen offensichtlich ist, wie eine Begründung der kritisch beleuchteten Schritte im Einzelnen auszusehen hätte beziehungsweise welche Art der Begründung im Rahmen bestimmter theoretischer und methodologischer Annahmen akzeptabel wäre. Zumindest einige der oben erörterten Begründungslücken betreffen interpretative Operationen, deren Struktur und deren spezifische methodische Anforderungen in der literaturtheoretischen Forschung bisher nur in geringem Maße erhellt worden sind. Das gilt etwa für die verschiedenen Arten des interpretierenden Umgangs mit Figuren und ihren Handlungen, die oben untersucht wurden, also für Erklärungen und Bewertungen von Figurenhandlungen oder für die Deutung von Figuren als Repräsentanten realer Personengruppen oder historischer Phänomene.143 In diesen Hinsichten kann die Analyse der Interpretationspraxis somit auch auf Desiderate der literaturtheoretischen Forschung aufmerksam machen.

143 Was die Deutung literarischer Figuren als Repräsentanten bestimmter Personengruppen oder historischer Vorgänge angeht, so wurde oben (Anm. 65) bereits die Bemerkung von Danneberg und Spoerhase zitiert, der zufolge das hiermit verbundene allgemeinere Problem in der theoretischen Diskussion häufig vernachlässigt wird: Vgl. Danneberg/Spoerhase, „Wissen in Literatur als Herausforderung einer Pragmatik von Wissenszuschreibungen“, S. 66. Eingehendere theoretische Diskussionen dürfte auch die Frage verdienen, was die Handlung einer Figur im Rahmen einer Interpretation erklärungsbedürftig macht; und ebenso die Frage, wie sich moralische Bewertungen einer Figur oder ihrer Handlungen innerhalb einer Interpretation begründen lassen. Zu Wertungen in literarischen Texten allgemein vgl. aber: Simone Winko, Wertungen und Werte in Texten. Axiologische Grundlagen und literaturwissenschaftliches Rekonstruktionsverfahren, Braunschweig 1991.

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Die Praxis der Interpretation mittelalterlicher deutscher Texte und die Geschichte der Interpretationen – am Beispiel Walthers von der Vogelweide I Beobachtet man mit wissenschaftsgeschichtlichem Interesse die praxeologischen Voraussetzungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, so geht dies gemeinhin mit einer Relativierung des methodischen Selbstverständnisses einher, das für die Beobachteten verbindlich ist. Wenn Praktiken der Wissenschaftler, Situationen im Labor, kollektive Mentalitäten und historische Semantiken in erheblichem Maße an der Konstitution wissenschaftlicher Ergebnisse mitwirken,1 wenn Wissenschaftsgeschichte als Abfolge von Paradigmen verstanden wird, welche Mitglieder der scientific community in einem gegebenen Zeitraum teilen,2 wenn ‚harte‘ wissenschaftliche Fakten nicht zuletzt auch durch rhetorische und poetische Momente konstituiert sind,3 dann ist dadurch die Idee von Erkenntnis im Sinne einer methodisch voranschreitenden Annäherung an die Wahrheit allenfalls mit bestimmten Einschränkungen aufrechtzuerhalten. Mit Johann Nepomuk Nestroy könnte man nach praxeologischer Relativierung eines positivistischen

1 Am Beispiel der Syphilis und der Entwicklung der Wassermann-Reaktion zur Entdeckung von Antikörpern hat Ludwik Fleck in seiner für die jüngere Wissenschaftsgeschichte klassischen Studie eine solche Relativierung positivistischer Mythologie vorgenommen: Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980 [1935]. Ich beschränke mich im Zusammenhang der Darstellung epistemologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Zusammenhänge auf die Angabe einiger Klassiker, die umfassende Debatten ausgelöst haben. 2 So – auf Überlegungen Ludwik Flecks aufbauend – Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Aufl., Frankfurt a.M. 1976. 3 Für die Historiographie zeigte dies Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991 [englisch zuerst 1973]. Programmatisch mit Blick auf die Naturwissenschaften fordert eine solche konsequente Relativierung Joseph Vogl, „Für eine Poetologie des Wissens“, in: Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Festschrift für Walter Müller-Seidel, Stuttgart 1997, S. 107–125.

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Wissenschaftsverständnisses sagen: „Ueberhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“4 Versucht man, praxeologische Fragestellungen auch für die Beobachtung des literaturwissenschaftlichen Interpretierens von Texten fruchtbar zu machen, ist mit ähnlichen Relativierungen zu rechnen. Bereits bei der synchronen Betrachtung von Interpretamenten, die innerhalb einer bestimmten Gruppe von Gelehrten in einem konkreten Zeitraum für deren Arbeit relevant werden, zeigen sich meist nicht durchschaute, auch praktisch begründete Vorannahmen als erkenntniskonstitutiv. Diese stehen in einer Spannung zur Vorstellung eines wissenschaftlich-methodisch generierten Erkenntnisgewinns. Für die Darstellung dieser Phänomene könnten hermeneutische und rezeptionsästhetische Verfahren zur Beschreibung solcher Übertragungen durch praxeologische Überlegungen gestützt und erweitert werden. Komplexer wird die Angelegenheit jedoch, wenn von der Praxis des Interpretierens von Texten vergangener Epochen die Rede ist, denn mit Blick auf den praxeologischen Aspekt wird die Geschichtlichkeit des Gegenstandes in zweifacher Weise relevant: Zum einen kommen praxeologisch generierte Vorannahmen zum Tragen, wenn die Alterität des Textes, also der erhebliche Abstand seiner Funktionslogiken vom Bestand der praktisch relevanten Regeln des Interpretierenden, durch Plausibilitätsabwägungen gegenwärtigen Rezipienten verfügbar gemacht werden soll.5 Zugleich aber ist literaturwissenschaftliches Interpretieren von Texten in den meisten Fällen von der Auseinandersetzung mit Interpretationen geprägt, denen der konkrete Text im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte ausgesetzt war. Zur gelehrten Praxis der Interpretation eines Textes gehört also auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Interpretation. Sie ist damit auch bestimmt vom Thematisieren und Hinterfragen hermeneutischer Vorannahmen, die sich mitunter auch mit Blick auf relevante gelehrte Praktiken präzisieren lassen. Im Rahmen einer hermeneutisch bzw. rezeptionsästhetisch orientierten Literaturwissenschaft war man hinsichtlich der Möglichkeit, solcherart durch Horizontverschmelzungen bzw. durch das Gespräch der Interpreten noch zur Wahrheit des Textes vordringen zu können, prinzipiell optimistisch. Mittlerweile scheint diesbezüglich eher eine gewisse Skepsis vorzuherrschen. Gerade die Literaturwissenschaften sind in ihrem fachgeschichtlichen Selbstverständnis von der Vorstellung

4 Johann Nepomuk Nestroy, Der Schützling (1847), in: Ders., Stücke 24/II. Historisch-kritische Ausgabe, John McKenzie (Hrsg.), Wien 2001, S. 91. Dieses Zitat setzte Ludwig Wittgenstein seinen Philosophischen Untersuchungen als Motto voran, in denen durch den Blick auf die Praxis der Sprachverwendung (Sprachspiel) seinerseits Relativierungen einer Metaphysik der Sprache betrieben werden. 5 Zum Alteritätskonzept zuletzt: Anja Becker/Jan Mohr (Hrsg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, 8).

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einer Abfolge von Paradigmen geprägt. Über eine die Praxis der Interpretation prägende Reihe von Paradigmen (Positivismus, Hermeneutik, Rezeptionsgeschichte, Sozialgeschichte, Mediengeschichte, Kulturwissenschaft) gibt es im Fach einen gewissen Konsens, und die Vorstellung von – sich immer rascher ablösenden – turns (linguistic, performative, pictoral, emotional, practice turn etc.) ist bis in die Praxis des Abfassens von Drittmittelanträgen hinein breit etabliert. Bei der interpretierenden Auseinandersetzung mit einem konkreten historischen Text bilden solche Reihen jedoch keineswegs das alleinige Orientierungsmodell für die Auseinandersetzung mit den am Text vorgängig erprobten Interpretationen. Anhand konkreter Fragen und Probleme, die am Einzeltext im Laufe seiner Interpretationsgeschichte herausgearbeitet wurden, rücken auch Textbezüge, die weniger von methodischen Paradigmen als vielmehr von praktisch generierten Vorannahmen geprägt sind, in den Fokus. Diese sind mit einer Methodengeschichte des Faches nicht umstandslos zu verrechnen. Der kritische Abgleich von und die Auseinandersetzung mit solchen Momenten führt vielleicht nicht notwendig zur Wahrheit des Textes, kann aber neue Fragen an den Text und neue Hypothesen erzeugen. Vollzug und Konsequenzen einer solchen Auseinandersetzung möchte ich an einem Spruch Walthers von der Vogelweide zeigen. Ich präsentiere dazu zunächst den Text und fasse den rezenten Forschungsstand knapp zusammen (II). In einem weiteren Schritt gehe ich der Genese dieses Forschungsstandes nach und zeige praxeologische Implikationen einiger Interpretationen auf, um sie zu historisieren und so neue Fragen an den Text zu gewinnen (III). Daraufhin möchte ich davon ausgehend eine eigene Interpretation erproben (IV) und diese ihrerseits auf ihre praktischen Implikationen befragen (V).

II Gegenstand meiner Untersuchung ist eine Strophe Walthers von der Vogelweide, die von der Forschung einhellig als ‚Philippschelte‘ gewertet wird. Verfasst ist sie im ersten Philipps-Ton, dessen Sprüche gemeinhin zwischen 1198 und 1204/05 datiert werden. Es handelt sich um fünf Sangsprüche, die in zwei Handschriften (C und B) in unterschiedlicher Zahl und Folge überliefert sind. Für die Strophen haben sich die Titel ‚Kronenspruch‘ (L 18,29), ‚Magdeburger Weihnacht‘ (L 19,5), ‚Philippschelte‘ (L 19,17)‚ Hofwechselstrophe‘ (L 19,29) und ‚Thüringer Hofschelte‘ (L 20,4) eingebürgert.6 Sie sind in Verbindung zu bringen mit Walthers Weg-

6 Diese Überschriften sind in Schweikles Edition von Walthers Spruchlyrik aufgenommen. Schweikle hat sich weitgehend überkommenen Titeln angeschlossen, zum Teil auch eigene Vor-

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gang vom Wiener Hof nach dem Tod Herzog Friedrichs I. von Österreich, seinem Aufenthalt am Hof Philipps von Schwaben und schließlich mit einem Aufenthalt Walthers am Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen. Literaturgeschichtlich bedeutsam sind diese Texte deshalb, weil sie unter die frühesten Sangspruchstrophen des Minnesängers Walther zu zählen sind; bereits in ihnen modifiziert Walther nachhaltig die Gattungstradition.7 Formal betrifft dies die Einführung der Kanzone. Die bis dato dem Minnesang vorbehaltene Stollenstrophe wird mit und nach Walther zur dominierenden Form auch der Sangspruchdichtung. Sie begegnet im ersten Philippston – folgt man den üblichen Strophendatierungen – erstmals;8 Walthers Reichston verwendet bekanntlich Reimpaarverse. Konzeptionell ist die nachhaltige Politisierung des Sangspruchs als Novum zu vermerken. Walthers frühe Sprüche betreiben, anders als die Sangsprüche vor ihm, keine abstrakte, auf den allgemeinen Konsens zielende ethische Diskussion, sie sind in einen konkreten historisch-politischen Raum hinein entworfen.9 Der historischpolitische Hintergrund der Strophen ist im Thronstreit nach dem Tode Kaiser Heinrichs VI. zu sehen. Einige Strophen des Tons zeigen Walther als Parteigänger des Staufers Philipp II., des Bruders des verstorbenen Kaisers, gegen Otto IV., dem Sohn Heinrichs des Löwen. Weitgehender Konsens der Forschung besteht aber auch darüber, dass Walther in einer Strophe dieses Tons als vehementer Kritiker Philipps II. in Erscheinung tritt. Dieses Urteil bezieht sich auf die hier zu besprechende Strophe, die ich zunächst nach Schweikles Edition der beiden handschriftlichen Fassungen wiedergebe:10

schläge gemacht; Walther von der Vogelweide, Werke, Bd. 1: Spruchlyrik, dritte, verb. und erw. Aufl. der Ausgabe von Günther Schweikle von Ricarda Bauschke-Hartung, Stuttgart 2009, S. 65. 7 Eberhard Nellmann, „Spruchdichtung oder Minnesang? Zur Stellung Walthers am Hofe Philipps von Schwaben“, in: Jan-Dirk Müller/Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl Heinz Borck, Stuttgart 1989, S. 37–59. 8 Vgl. aber Ashcrofts Hypothesen zum Wiener Hofton als erstem Sangspruchton Walthers: Jeffrey Ashcroft, „Die Anfänge von Walthers politischer Lyrik“, in: Helmut Birkhan (Hrsg.), Minnesang in Österreich. Vorträge des Symposions am Institute of Germanic Studies, London 29.–30. April 1982, Wien 1983 (Publications of the Institute of Germanic Studies, 31/Wiener Arbeiten zur Germanischen Altertumskunde und Philologie, 24), S. 1–24; Peter Kern, „Der Reichston – Das erste politische Lied Walthers von der Vogelweide?“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 111/1992, S. 342–362. 9 Vgl. etwa Gerhard Hahn, „Möglichkeiten und Grenzen der politischen Aussage in der Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide“, in: Christoph Cormeau (Hrsg.), Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, Stuttgart 1979, S. 338–355. 10 Skeptisch gegenüber der Möglichkeit, einen originalen Text hinter der Überlieferung zu rekonstruieren, beschränkt sich Schweikle auf den Abdruck handschriftennaher Fassungen. In seiner Ausgabe werden die Verse abgesetzt, die Sätze interpungiert, Vokallängen mit Zirkumflex angezeigt, metrische Akzente angeboten. Durch Einrückung des Abgesangs wird die Kanzonen-

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C 293 (311) (L 19,17 / 9, III) Philippes künig die nâhe spehenden zîhent dich, dun sîst niht dankes milte, des bedunket mich, wie dû dâ mite verliesest michels mêre. dû möhtest gerner dankes geben tûsent pfunt danne drîzec tûsent âne danc. dir ist niht kunt, wie man mit gâbe erwirbet prîs und êre. denke an den milten Salatîn der jach, daz küniges hende dürkel solten sîn, sô wurden si erforht und ouch geminnet. gedenke an den künig von Engellant, wie tiure man den lôste dur sîne milten hant. ein schade ist guot, der zwêne frumen gewinnet. B110 Künig phylippe dîn anesehenden zîhent dich, dû sîst dankes niht so milt, des dunket mich, sô âne dank. dir ist niht kunt umbe êre. dû möhtest dankes gerner geben tûsent pfunt danne drîzec tûsent âne danc. dir ist niht kunt, wie gebende hant erwirbet lop und êre. des sprach der wîse Salatîn, künges hende solten alles dürkel sîn, dâ von sô wurde ir hôhez lop geminnet. seht an den von Engellant, wie tiur der wart erlôst von sîner gebenden hant ein schade ist guot, der zwêne frume bringet.11

strophe gekennzeichnet. Ich folge seiner Edition, verzichte aber auf die Wiedergabe der metrischen Betonungshilfen. 11 Schweikle übersetzt die beiden Fassungen wie folgt: C: „Philipp, König, die Scharfblickenden bezichtigen Dich, Du seist aus freien Stücken nicht freigebig. Es deucht mir, daß Du damit viel mehr verlierst. Du könntest eher tausend Pfund freiwillig geben als dreißigtausend wider Willen. Dir ist nicht bekannt, wie man mit Gaben Preis und Ehre erwirbt. Denke an den freigebigen Saladin, er sagte, daß eines Königs Hände durchlässig sein sollten, so würden sie geachtet und auch geliebt. Denke doch an den König von England, um wieviel man den auslöste seiner freigebigen Hand wegen. Ein Schade ist gut, der zwei Vorteile bringt.“ B: „Philipp, König, die Dich ins Auge fassen, bezichtigen Dich, Du seist freiwillig nicht so freigebig – so scheint es mir – wie unfreiwillig. Du weißt nicht um Ehre. Du könntest eher tausend Pfund freiwillig geben als dreißigtausend wider Willen. Dir ist nicht bekannt, wie gebende Hand Lob und Ehre erwirbt. Dazu sagte der weise Saladin, Königshände sollten ganz durchlässig sein, dadurch würde ihr Lob hochgehalten. Seht den von England an, um wieviel der losgekauft wurde durch seine gebende Hand. Ein Schaden ist gut, der zwei Vorteile bringt.“ Walther von der Vogelweide, Werke, S. 88 f.  

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In beiden Handschriften folgt die Strophe auf die zwei panegyrischen Strophen, den „Kronenspruch“ (L 18,29) und die „Magdeburger Weihnacht“ (L 19,5), die jeweils unterschiedlich gereiht sind.12 Diese beiden Philipp-Preisstrophen exponieren die besondere Eignung des Staufers für den Kaiserthron. In der Forschung besteht Einigkeit darüber, dass sich L 19,17 gegenüber den beiden panegyrischen Strophen im Sprechmodus deutlich unterscheide. Dieser erscheine im Kontrast zu den vorausgehenden Preisstrophen als aggressiv. Solche Annahmen werden in der Forschung einerseits gestützt auf Walthers Aussage, Philipp verstehe nicht, wie man mit Gaben Preis und Ehre erwerbe (V. 5 f.), andererseits führt man die Verwendung des als politisch anstößig empfundenen Exempels des englischen Königs Richard Löwenherz an (V. 10 f.), um die Strophe als Schelte zu qualifizieren. Soweit in aller Kürze der Forschungsstand, dessen Genese ich mit Blick auf die praxeologischen Implikationen nun genauer nachzeichnen werde.

III Bei der Wertung dieser Strophe als Schelte handelt es sich innerhalb der Waltherforschung um ein relativ junges Phänomen. Die ältere Forschung nahm am später oft monierten ‚aggressiven Ton‘ dieser Strophe nicht im gleichen Maße Anstoß, ja sie neigte keineswegs dazu, hier Tücke oder dergleichen am Werk zu sehen. Das Gegenteil ist der Fall, denn diese Strophe hat zusammen mit einigen anderen aus der Handschrift C zunächst zu einem ganz anderen Walther-Bild beigetragen, das recht lange tradiert wurde und auf Melchior Goldasts Lektüre des Codex Manesse zurückzuführen ist. Goldast (1576–1635) hielt sich in den Jahren 1603–1605 als Erzieher des jungen Friedrich Ludwig von Hohensax auf Forstegg auf, wo sich seinerseits auch der Codex Manesse befand (die Große Heidelberger Liederhandschrift, Universitätsbibliothek Heidelberg: Cod. Pal. germ. 848).13 Hier oder bei

12 Vgl. zu diesen beiden Strophen mit Blick auf die rechtsgeschichtlichen Hintergründe Bernward Plate, „Walther, Philipp, Konrad (zu 8,28; L 18,29; 19,5)“, in: Euphorion, 93/1999, S. 293– 304. Alle Philipp von Schwaben betreffenden Strophen im Zusammenhang betrachtet Theodor Nolte, „Das Bild des Königs Philipp von Schwaben in der Lyrik Walthers von der Vogelweide“, in: Andrea Rzihacek/Renate Spreitzer (Hrsg.), Philipp von Schwaben, Wien 2010 (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 19), S. 99–111. 13 Zur Biographie zusammenfassend Wilhelm Kühlmann, „Goldast von Haiminsfeld, Melchior“, in: Ders./Walther Killy (Hrsg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 4, zweite, vollst. überarb. Aufl., Gütersloh, München 2009, S. 262–263. Zu Goldasts Auseinandersetzung mit alt- und mittelhochdeutschen Texten vgl. Bernhard Hertenstein, Joachim von Watt (Vadianus). Bartholomäus Schobinger. Melchior Goldast. Die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen von St. Gallen in Humanismus und Frühbarock, Berlin, New York 1975 (Das Althochdeutsche

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Bartholomäus Schobinger in St. Gallen, der sich den Codex von Forstegg kommen ließ, hatte Goldast Gelegenheit, den Codex durchzuarbeiten, wovon einige Adnoten in der Handschrift noch heute Zeugnis ablegen;14 er fertigte eine Teilkopie an15 und publizierte in verschiedenen Zusammenhängen Auszüge aus dem Codex Manesse. Texte Walthers von der Vogelweide werden bereits in seiner Valerianusund Isidoredition von 1601 angeführt.16 Sieben Strophen Walthers dienen hier als Belege dafür, dass die Herrscher zum rechten Verhalten verpflichtet sind, und dafür, dass bereits Walther päpstliche Herrschaftsansprüche zurückwies.17 In den

von St. Gallen, 3), S. 115–199; Horst Brunner, Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1975 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 54), S. 38–42; Anna A. Baade, Melchior Goldast von Haiminsfeld. Collector, Commentator and Editor, New York [u.a.] 1991; Ulrich Seelbach, „Mittelalterliche Literatur in der frühen Neuzeit“, in: Christiane Caemmerer [u.a.] (Hrsg.), Das Berliner Modell der Mittleren deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.–1.10.1997, Amsterdam 2000 (Chloe. Beihefte zum Daphnis, 33), S. 89–115; Lother Voetz, „Zur Rekonstruktion der verlorenen Blätter im Neidhart-Corpus des Codex Manesse“, in: Jens Haustein u.a. (Hg.), Septuaginte quinque. Festschrift für Heinz Mettke, Heidelberg 2000 (Jenaer germanistische Forschungen, N. F. 5), S. 381–408; Hubert Weber, „Melchior Goldast von Haiminsfeld und die Anfänge der Walther-Philologie im 17. Jahrhundert. Eine Würdigung“, in: Robert Luff/Rudolf Kilian Weigand (Hrsg.), Mystik – Überlieferung – Naturkunde. Gegenstand und Methoden mediävistischer Forschungspraxis. Tagung in Eichstätt am 16. und 17. April 1999, anläßlich der Begründung der „Forschungsstelle für geistliche Literatur des Mittelalters“ an der Katholischen Universität Eichstätt, Hildesheim u.a. 2002 (Germanistische Texte und Studien, 70), S. 17–35; Gundula Caspary, Späthumanismus und Reichspatriotismus. Melchior Goldast und seine Editionen zur Reichsverfassungsgeschichte, Göttingen 2006 (Formen der Erinnerung, 25); Graeme Dunphy, „Melchior Goldast und Martin Opitz. Humanistische Mittelalter-Rezeption um 1600“, in: Nicola McLelland/Hans-Jochen Schiewer/Stefanie Schmitt (Hrsg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, Tübingen 2008, S. 105–121. 14 Adnoten Goldasts im Cod. Pal. germ. 848 finden sich beispielsweise auf fol. 21, 34 (siehe das Digitalisat: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848 [Stand: 04.12.2014]); vgl. Elmar Mittler/Wilfried Werner (Hrsg.), Codex Manesse. Ausstellung der Universität Heidelberg. Katalog zur Ausstellung vom 12.6.–7. 1988, Heidelberg 1988 (Heidelberger Universitätsschriften, 30), S. 4–6, S. 372–375; Melchior Goldast von Haiminsfeld, Paraeneticorum veterum pars I (1604), im Nachdruck hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Manfred Zimmermann, Göppingen 1980 (Litterae, 64), Nachwort S. 9; Baade, Melchior Goldast, S. 55. 15 Goldasts Teilabschrift enthält 59 Sänger und befindet sich heute in der Bremer Universitätsbibliothek (Ms a 29). 16 Melchior Goldast, S. Valeriani Cimelensis episcopi De bono disciplinae sermo. S. Isidori Hispalensis episcopi De Praelatis fragmentum, Genf 1601, S. 120, S. 151–155. 17 Zitiert wird aus folgenden Walther-Strophen: L 11,30; 10,17; 9,16; 10,33; 11,6; 11,18; 10,25; vgl. Gerstmeyer, Walther von der Vogelweide, S. 52–54; siehe die Aufstellung bei Weber, „Melchior Goldast“, S. 24.

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Paraeneticorum Veterum Pars I von 1604 (ein zweiter Teil erschien nie) edierte Goldast neben lateinischen Werken auch didaktische Texte aus dem Codex Manesse (Tirol und Fridebrant, Winsbecke und Winsbeckin).18 Bei der Zusammenstellung dieser Antiquitäten spielten genealogische Interessen eine Rolle, Goldast bezweckte mit dieser Ausgabe auch eine Aufwertung deutscher Sprache und Dichtung. Zuvörderst aber galten ihm diese Texte als rechtsgeschichtlich relevante Quellen, die Aufschluss über Institutionen und Gebräuche des mittelalterlichen deutschen Adels bieten. In den Kommentaren zu den von ihm edierten Texten greift er auf heldenepische Texte ebenso zurück wie auf Minnesang und Sangspruchdichtung aus dem Codex Manesse. Dabei geht es insbesondere darum, die Bedeutungen und kulturellen Hintergründe verschiedener mittelhochdeutscher Begriffe zu erschließen, die im weitesten Sinne rechtsgeschichtlich relevant sind.19 Goldasts Ausführungen sind auch für eine Geschichte der Sprachreflexion von hohem Interesse: Spekulationen über etymologische Verwandtschaft und Lautwandel werden immer wieder begründend für eine semantische Erschließung der Begriffe hinzugezogen.20 Im Kommentar zu einem Vers der 30. Strophe aus Tirol und Fridebrant (last du din gold behalden tragen)21 führt Goldast aus: Liberalitas enim propria Principis (denn die Freigebigkeit ist dem Fürsten eigentümlich) und führt als Beleg einen an Philipp adressierten Sangspruch Walthers an. Es handelt sich dabei um L 16,39, die sogenannte ‚Alexandermahnung‘ aus dem zweiten Philippston.22 Hier fordert Walther König Philipp auf, freigebig zu sein und sich bei der Sicherung seiner Herrschaft Alexander den Großen zum Vorbild zu nehmen, der seinen Reichtum verausgabte und sich so die Reiche unterwarf. Walther kommt in den Paraeneticorum veterum besonders als Gnomiker und Moralkritiker zur Anschauung, als optimus vitiorum censor et morum castigator accerimus (vornehmster Richter der Laster und schärfster Zuchtmeister der Sitten).23 In Goldasts 1611 erschienener Replicatio gegen seinen Lehrer, den

18 Melchior Goldast, Paraeneticorum veterum. Pars I. In qua producuntur Scriptores VIII […] cum notis […], Lindau 1604, S. 259–349 (Edition), S. 350–458 (Animadversiones); vgl. den Nachdruck des Teiles mit den deutschen Texten: Goldast, Paraeneticorum veterum pars I (1604), 1980; vgl. Baade, Melchior Goldast, S. 61–93; Seelbach, „Mittelalterliche Literatur“, S. 100–106. 19 Vgl. hierzu besonders die Darlegungen bei Baade, Melchior Goldast, S. 63–93; Weber, „Melchior Goldast“. 20 Hierzu vgl. besonders Baade, Melchior Goldast, S. 63–93; Dunphy, „Melchior Goldast“, S. 108 f. 21 Goldast, Paraeneticorum veterum, S. 282 (Text), S. 381 (Kommentar); vgl. die aktuelle Edition: Winsbeckische Gedichte nebst Tirol und Fridebrant, Albert Leitzmann (Hrsg.), dritte, neubearb. Aufl. hrsg von Ingo Reiffenstein, Tübingen 1962 (Altdeutsche Textbibliothek, 9). 22 Goldast, Paraeneticorum veterum, S. 381, S. 431 [recte 413]. 23 Ebd., S. 420.  

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Ingolstädter Jesuiten Gretsner, ediert er erneut mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung aus dem Codex Manesse, insbesondere auch Sprüche Walthers von der Vogelweide, den er bei dieser Gelegenheit als popularis meus & Caesaris Philippi Consiliarius domesticus (mein Gesinnungsfreund und Kaiser Philipps geheimer Rat) bezeichnet.24 Walther diente Goldast hier als scharfer Kritiker gegen Übergriffe des Papstes, seine Strophen als Belege dafür, dass auch Päpste fehlen. Goldast führt alle im Codex Manesse vertretenen antipapistischen Sprüche Walthers an.25 Die sogenannte ‚Philippschelte‘ findet sich unter den von Goldast publizierten Walther-Sprüchen nicht. Von den anderen Strophen Walthers, welche Philipp apostrophieren und die somit Anhaltspunkte für Goldasts Berufsbezeichnung bieten könnten,26 hat Goldast nur L 16,36, die sogenannte ‚Alexandermahnung‘, zitiert; eine Vollrezeption des Walther-Corpus im Manesse-Codex ist freilich vorauszusetzen. Bei seiner Einschätzung Walthers als Geheimem Rat hat ihn – so ist anzunehmen – L 19,17 zumindest nicht beirren können. L 16,36, die Strophe, in welcher Philipp nahegelegt wird, die Welt durch besondere Freigebigkeit zu erobern und sich dazu Alexander den Großen zum Vorbild zu nehmen, könnte ihm auch das Modell angegeben haben, die sogenannte ‚Philippschelte‘ entsprechend einzuordnen. Dass ausgerechnet Saladin und Richard Löwenherz als Exempel empfohlen werden, hat Goldast nicht von seiner Einschätzung abgehalten. Dass er den „Geheimen Rat“ Walther auch als seinen Gesinnungsfreund (popularius meus) bezeichnet, gründet in Goldasts Antipapismus, der in den Zeiten der Gegenreformation (1604 gelangte St. Gallen wieder in den Einflussbereich des Konstanzer Bischofs) für Goldast biographische Konsequenzen hatte. Goldasts Zuschreibung, Walther sei kaiserlicher Geheimer Rat gewesen, wird zudem schlüssig vor dem Hintergrund der Lebensform des frühneuzeitlichen Juristen und seines Verhältnisses zum Adel bei der Verwaltung der Territorialstaaten. Graduierte Rechtsgelehrte waren im 17. Jahrhundert oft als Prinzenerzieher tätig, sie übernahmen neben dem Adel zentrale Funktionen in der Verwaltung; als Hofräte leiteten Rechtsgelehrte bei Abwesenheit des Herr-

24 Melchior Goldast, Replicatio pro sac. caesarea et regia Francorum maiestate illustrissimisque imperii ordinibus, adversus Iacobi Gretseri Jesuitae e societate Loyolitarum […], Hanover 1611, S. 281. Das Digitalisat der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel findet sich unter: http://diglib. hab.de/wdb.php?dir=drucke/19-1-pol-1 (Stand: 04.12.2014). 25 Melchior Goldast, Replicatio, S. 281–286, S. 292 f., dazwischen weitere Sangsprüche gegen die Kurie (Reinmar von Zweter, Marner, von Wengen, Meister Sigeher, der Kanzler); vgl. Gerstmeyer, Walther von der Vogelweide, S. 54 f. 26 Es handelt sich um folgende Sprüche, die ich jeweils mit der Lachmannsigle und den in Schweikles Ausgabe verwendeten Titeln angebe: L 8,28 (‚Weltklage‘); L 18,29 (‚Kronenspruch‘), L 19,5 (‚Magdeburger Weihnacht‘), L 19,17 (‚Philippschelte‘), L 16,36 (‚Alexandermahnung‘); vgl. Nolte, „Das Bild des Königs“.  



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schers zeitweise die Regierungsgeschäfte und waren auch als Diplomaten tätig.27 Der Publizist Goldast selbst, aus armen Verhältnissen stammend, konnte durch die Unterstützung von Mentoren Jurisprudenz studieren, er wirkte als Fürstenerzieher des Prinzen zu Hohensax und nach langen Jahren als Publizist erhielt er schließlich 1615 die Stellung als gräflich schaumburgischer Rat in Bückenburg, beriet viele wichtige Höfe juristisch, fasste Gutachten ab und war als Diplomat tätig.28 Walther von der Vogelweide als Kaiser Philipps Geheimer Rat – darin ist eine frühe und bis ins 20. Jahrhundert reichende Zuschreibung auszumachen. Wolfhart Spangenberg zitiert Walther nach Goldast in seiner Abhandlung Von der Musica und erwähnt (unter Angabe der ‚Alexandermahnung‘), Walther habe an Philipps Hof gewirkt und dort „ein besonnder büchlein“ geschrieben, in dem er den Kaiser „zur Freygebigkeit ermahnet“.29 Martin Opitz hat im Buch von der Teutschen Poeterey von 1624 Walther, Goldast zitierend, als „Kaiser Philippes geheimen rath“30 bezeichnet.31 Johann Christian Wagenseil beruft sich auf Goldast bei seiner Behauptung, Walther sei „dem Kaiser Philippo Rath gewesen“.32 In Uhlands Walther-Biographie wird diese Vorstellung anhand der ‚Philippschelte‘ dargelegt: Der Dichter begnügt sich nicht, Philippen zum Throne berufen und auf demselben begrüßt zu haben. Er gibt dem neuen König noch das Mittel an, seine Herrschaft zu befestigen und auszubreiten. Dieses Mittel findet er in der Milde, der dankbaren Freigebigkeit gegen diejenigen, die sich dem Könige versöhnt und verpflichtet haben, der rückhaltlosen Ausspendung von Gaben und Ehre.33

Goldasts Diktum wird weitertradiert.34 Entsprechend wurde auch die Strophe L 19,17 bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein interpretiert. Wilmanns

27 Volker Hartmann/Wilhelm Kühlmann, Heidelberg als kulturelles Zentrum der frühen Neuzeit. Grundriß und Bibliographie, Heidelberg 2012, S. 111. 28 Vgl. Kühlmann, „Goldast von Haiminsfeld“. 29 Wolfhart Spangenberg, Von der Musica. Singschul, Bd. 1, András Vizkelety (Hrsg.), Darmstadt 1971, S. 52 f. 30 Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterey, Wilhelm Braune/Richard Alewyn (Hrsg.), zweite Aufl., Tübingen 1966 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F., 8), S. 15. 31 Zu Goldast und Opitz vgl. Graeme Dunphy, „Melchior Goldast“, S. 105–121. 32 Johann Christoph Wagenseil, Buch von der Meister-Singer holdseligen Kunst, Horst Brunner (Hrsg.), Göppingen 1975, S. 510. 33 Ludwig Uhland, „Walther von der Vogelweide ein altdeutscher Dichter, 1922“, in: Ders., Werke, Bd. 4: Wissenschaftliche und poetologische Schriften, politische Reden und Aufsätze, Walther Scheffler/Hartmut Fröschle (Hrsg.), München 1984, S. 31–108, hier S. 45. 34 Vgl. die Belege bei Gerstmeyer, Walther von der Vogelweide, S. 89, 92.  

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überschreibt seine Textwiedergabe mit „Mahnung zur Freigebigkeit“ und sieht in ihr „eine wohl in Dienst und Interesse eines Fürsten, vielleicht Hermanns von Thüringen, an Philipp gerichtete Strophe“. Im Kommentar zur Strophe betont Wilmanns die Wichtigkeit des freudigen Gebens, die sprichwörtliche „Milde“ Saladins und den Ruhm, der Richard Löwenherz aufgrund seiner Freigebigkeit von Dichtern zugesprochen wurde.35 Und noch Friedrich Maurer wertet 1954 die Strophe als Warnung vor der „Gefährdung der kaiserlichen Würde durch die mangelnde Milde“ und ergänzt mit Blick auf die exemplarisch angeführten Herrscher: „Diese große Herrschertugend, für die so strahlende Vorbilder, wie die Könige Saladin und Richard Löwenherz genannt werden, wird die Würde Philipps und sein Ansehen nur erhöhen […].“36 Dass die hier zu besprechende Strophe L 19,17 als ‚Philippschelte‘ qualifiziert wurde, ist im Wesentlichen auf Kurt Herbert Halbach zurückzuführen, der sich in Aufsätzen aus den Jahren 1953, 1970 und 1974 zum ersten Philippston äußerte.37 Aufschlussreich ist dabei, dass dieser Befund keineswegs als Ergebnis einer politisch-historischen Interpretation zustande kam, sondern aufgrund einer ästhetizistischen Fragestellung. Mit Friedrich Maurers These, bei den Sangspruchtönen Walthers von der Vogelweide handle es sich um Lieder (also nicht um lose verknüpfte Einzelstrophen, sondern um konzeptionell ineinander greifende Strophen wie im Minnesang), war die Frage nach Einzelstrophe oder Strophenbindung im Sangspruch erneut akut geworden.38 Halbach suchte Strophenzyklen in Walthers Sangsprüchen zu ‚restaurieren‘, bereits 1929 hatte er in den Minneliedern Heinrichs von Morungen Zyklen hypostasiert.39 Hauptmittel für den „Be35 Die Lieder und Sprüche Walthers von der Vogelweide, mit erklärenden Anmerkungen hrsg. von Wilhelm Wilmanns, vierte, vollst. umgearb. Aufl. von Victor Michels, Bd. 2, Halle 1924, S. 110 f. 36 Friedrich Maurer, Die politischen Lieder Walthers von der Vogelweide, dritte, durchges. Aufl., Tübingen 1972 [1954], S. 21. 37 Kurt Herbert Halbach, „Walther Studien II“, in: Gerhard Eis/Johannes Hansel/Richard Kienast (Hrsg.), Wolfgang Stammler Festschrift, Berlin, Bielefeld 1953, S. 45–65, hier S. 56–65 [wieder abgedruckt als „Waltherstudien“ mit einem Nachtrag in Siegfried Beyschlag (Hrsg.), Walther von der Vogelweide, Darmstadt 1971 (Wege der Forschung, 112), S. 363–396]; Ders., „Der I. PhilippsTon Walthers von der Vogelweide als Sangspruch-Pentade der Jahre 1199/1205“, in: Otmar Werner (Hrsg.), Formen mittelalterlicher Literatur – Siegfried Beyschlag zu seinem 65. Geburtstag von Kollegen, Freunden und Schülern, Göppingen 1970 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 25), S. 39–62; Ders., „Walthers Philipps-Triade. Weihnachten/Dreikönige 1199/1200“, in: Ulrich Gaier/ Werner Volke (Hrsg.), Festschrift für Friedrich Beißner, Bebenhausen 1974, S. 121–146. 38 Vgl. Kurt Ruh, „Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem“, in: DVjS, 42/1968, S. 309–324. 39 Kurt Herbert Halbach, „Ein Zyklus von Morungen,“ in: ZfdPh, 54/1929, S. 401–437; kritisch zum Verfahren: Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (ZfdPh Beiheft, 10), S. 114–117.  

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weis“ solcher Sinneinheiten war ihm die Beobachtung von Formbeziehungen (besonders Assonanz und Reimbindung) zwischen Strophen eines Tons und auch zwischen den Tönen, letztlich also ästhetizistische Kriterien. Voller philologischer Selbstgratulation ist die Rede von jener äußerst zarte[n], um so subtileren und faszinierenderen Form-Ornamentik, in deren leisen Variations-Künsten auch die Wortkünstler des dichtungs-klassischen deutschen Hochmittelalters den Reigen ihrer Strophen kunstvoll-dekorativ zu schmücken beliebten.40

Beim Nachweis, dass die Strophen des ersten Philippston „zum Zyklus der Pentade […] höchst kunstvoll gefügt sind“, beansprucht Halbach enorme „analytische Exaktheit“.41 Den Reimbindungen und Responsionen zwischen Strophen und Tönen, den rhythmischen und klanglichen „Figuren“, die übrigens – weitere Selbstgratulation des Philologen – „unbewußt dem Strom der dichterischen Schöpfung erflossen“ und so „geartetet sind, dass wir sie getrost als unbewußt zu verehren und zu schätzen alle Veranlassung haben“,42 mutet Halbach eine immense Beweislast zu: Über sie sollen zum einen Strophenfolgen gegen die Überlieferung rekonstruiert werden („wichtigste, nach Form und Thematik eklatanteste Zyklen sind in unserer Überlieferung nur noch zerschlagene kostbare Krüge“43), sie sollen zum anderen auch „Beweise“ – Halbach verwendet dieses Wort mit Nachdruck – für die Strophendatierung bieten.44 Visualisiert wird die von Halbach anhand der Klangresponsionen „erschlossene“ Zyklik durch eine Falttafel, welche den Aufsätzen von 1970 und 1974 beigegeben wurde, in welcher die klanglichen und formalen Entsprechungen durch Druckauszeichnung von Vokalen, Konsonanten und Reimen sowie durch mehr als 20 geschweifte Klammern zwischen Versen (zum Teil in gestrichelten bzw. Strichpunktlinien ausgeführt) kenntlich gemacht werden. Die Nachweise der „Abgesang-Echos“, der „Präfix-Reim-Responsionen“, der „Reim-Responsions-Bindungen“ sowie jene der strengen Form von Vers und Strophe erfolgen oft mittels eines exklamatorischen Konstatierens von strenger Geformtheit. Ich biete einen Beleg, der die hier diskutierte Strophe und ihre enge Bindung an L 20,4, die sogenannte „Thüringer Hofschelte“ im ersten Philippston, betrifft: Also: vor allem der Anfang (!) dort (bes. 2. Auf(!)gesang-Hälfte), zusammen mit den inneren (!) Reimen des Abgesang-Schlusses (mêre/pfunt/kunt/êre/…/-lant/hant) findet Entsprechung

40 41 42 43 44

Halbach, „Walthers Philipps-Triade“, S. 122. Ebd., S. 123. Halbach, „Der I. Philipps-Ton“, S. 51. Ebd., S. 43. Halbach, „Walthers Philipps-Triade“, S. 136 f.  

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(Assonanz oder Reimung, z.T. kornartig) bes. am Ende (!) hier (bes. in der 2. Ab(!)gesangHälfte), zusammen mit den äußeren (!) Stollen-Endreimen (-toeret/-hoeret/… /waere / kunt/ pfunt/laere).45 [alle Ausrufezeichen im Original! T.B.]

Im Rahmen eines solchen ästhetizistischen Vorgehens, welches sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit kühner Formmetaphern bedient, erfolgt die Qualifikation von L 19,17 als Schelte.46 Für die Abwechslung von panegyrischen mit kritischen Strophen innerhalb des Tons prägte Halbach die Formel vom Wechsel von historisch-monumentaler Idylle und Satyrspiel.47 Im ersten Philippston bilden nach Halbach drei Strophen die Idylle (L 19,29 ‚Hofwechselstrophe‘; L 18,29 ‚Kronenspruch‘; L 19,5 ‚Magdeburger Weihnacht‘) und damit eine Triade, welche durch die beiden als Satyrspiel zusammengefassten Scheltstrophen (L 19,17 ‚Philippschelte‘; L 20,4 ‚Thüringer Hofschelte‘) zur Pentade erweitert würden. Und dieses Formgesetz etabliert jenes Verdikt, welches die Strophe als Schelte klassifiziert: Man weiß es: die, gerade Philipp gegenüber, vom Standpunkte der staufischen Reichspolitik aus, unverantwortlichen milte-Werbungen an den König zugunsten der bösen Buben, der großen Hansen, der Fürsten, sind nicht, wie noch Michels meinte, ernst besorgte, kühne Mahnungen eines Gefolgmanns: das konnte sich allenfalls der alte Walther vielleicht dem ungeratenen Heinrich, Sohn Friedrichs II., gegenüber später erlauben. Sondern hier spricht in tragischer Verflochtenheit in allzu irdisches Bajazzo-Schicksal des fahrenden Sängers, der Gefolgsmann des Fürsten; ja der Sänger, „Propagandist“ und Publizist (cum grano salis) des dunkelsten Ehrenmanns in der damaligen Fürstengeschichte: der Sänger des Landgrafen Hermann.48

Halbachs Suche nach Zyklen (Dyptichen, Triaden, Pentaden) zielt dabei allenthalben auf den Nachweis Walther’scher Klassizität, wobei dieser Klassizitätsbegriff ahistorisch ist und kunstgeschichtlich vage bleibt. Letzteres zeigt sich in einer nicht untypischen Akkumulation gänzlich heterogener Projektionen auf Walthers Sangsprüche, für die folgendes Zitat charakteristisch ist: Bei der ersten Begegnung mit dem Kern der Kern-Strophen dieser Philipps-Triade könnte ja wohl der Eindruck einer gewissen Marmor-Starre, Stefan George nicht ganz fern, so wie von Mosaischen Gesetzestafeln dieses theokratischen Frühzeit-riche entstehen. Schon in den Preisstrophen selber, geschweige denn in ihrem Geleit-Vorspiel (und vollends im SatyrNachspiel der späteren Philipps-Pentade) balanciert sich jedoch eine Kontrapostik heraus,

45 Halbach, „Waltherstudien“, S. 384. 46 Ebd., S. 375 („Löwenherz-Mahnung […] die doch wohl eher eine Schelte ist“); S. 376, Anm. 5 („Sie ist eine Schelte!“). 47 Ebd., S. 385. 48 Ebd., S. 378 f.  

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die in ihrem lebensvollen Gleichgewicht näher gewürdigt, jene Klassizität offenbart, in deren Erlebnis wir den eigentlich hochklassischen Gipfel der durch und durch menschlichen, und doch idealischen, Lieder der „ebenen Minne“ vorausahnen können. Ja schon im innersten Kern selbst ist die prophetische Durchdringung der Sakralität mit der Humanität der süezen Menschen-Gestalten in unerhörter Weise gegeben.49

Das Bemühen um den Nachweis der Klassizität deutscher Dichtungen um 1200 gehörte zu den Lebensthemen Halbachs.50 Seine Herangehensweise an dieses Thema änderte sich jedoch im Laufe der Zeit. Halbachs 1939 erschienene komparatistische Studie zu den Artusromanen Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue wertete Chrétien als Klassiker, Hartmann dagegen als Klassizisten. Die Studie setzt sich zum Ziel, einen Beitrag zu leisten, „die eigentümliche Deutschheit der frühdeutschen Dichtung klarer zu fassen“, sowie „Volkheitszüge“, „geschichtliche Erbströme“ und „die Seele der Volkheit“ genauer herauszuarbeiten.51 Die Arbeit der Philologen wird dabei mitunter in martialische Bilder gefasst, wenn etwa davon die Rede ist, andere Untersuchungen würden „von anderen Ausgangspunkten aus oder mit anderem Anmarschweg den Gipfel germanisch-deutschen Wesens bestürmen.“52 Die griechische Klassik bildet dabei den „Strahl des urbildlichen Wesens“, der sich „zerlegt im Prisma des völkisch oder rassischen Wesens“ [Hervorhebungen im Original gesperrt].53 Das Buch endet mit einer schwärmerischen Reminiszenz an die Berliner Olympiade und ihre Verfilmung durch Leni Riefenstahl.54

49 Halbach, „Walthers Philipps-Triade“, S. 144, 146. 50 Vgl. neben den angeführten Waltheriana auch folgende Arbeiten zum Thema: Kurt Herbert Halbach, Franzosentum und Deutschtum in höfischer Dichtung des Stauferzeitalters. Hartmann von Aue und Chrestien de Troyes. Iwein – Yvain, Berlin 1939 (Neue Deutsche Forschungen, 225/7); Ders., „Rezension Alexander Heussler, Klassik und Klassizismus in der deutschen Literatur. Studie über zwei literarhistorische Begriffe“, Bern 1952, in: Deutsche Literaturzeitung, 77/1956, 2, Sp. 108–111; Ders., „Zu Begriff und Wesen der Klassik“, in: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider. Gewidmet zu ihrem 60. Geburtstag, hrsg. von seinen Tübinger Schülern, Tübingen 1948, S. 166–194; Ders., „‚Humanitäts-Klassik‘ des Stauferzeitalters in der Lyrik Walthers von der Vogelweide“, in: Ekkehard Catholy/Winfried Hellmann (Hrsg.), Festschrift für Klaus Ziegler, Tübingen 1968, S. 13–35; Ders., „‚Klassizität‘ um 1200: Archipoeta, Anonymus/‚Herger‘ und Walther“, in: Bernd Hüppauf/Dolf Sternberger (Hrsg.), Über Literatur und Geschichte. Festschrift für Gerhard Storz, Frankfurt a.M. 1973, S. 87–113; Ders., „Vom ‚Idealischen‘ zum ‚Realen‘, 1200/1210. Ein Weg im Walther’schen Sangspruch“, in: Werner Besch [u.a.] (Hrsg.), Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. Festschrift für Hugo Moser zum 65. Geburtstag, Berlin 1974, S. 68–87. 51 Halbach, Franzosentum, S. 9. 52 Ebd., S. 31. 53 Ebd., S. 367. 54 Ebd., S. 373; S. 396, Anm. 6. In dieser Emphase für das „Fest der Völker“ drückt sich durchaus Friedenssehnsucht aus und um ein antifranzösisches Pamphlet handelt es sich bei dieser Arbeit

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Nach dem Zweiten Weltkrieg widmet sich Halbach im Jahr 1948 erneut dem „Wesen der Klassik“. In der Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider rechtfertigt er sein Vorhaben, das „gerade im gegenwärtigen Augenblick voll ernster Besinnung und schicksalhafter Entscheidung wohl nicht lange und breit erst zu begründen“ sei.55 Halbach, der 1945 seine Innsbrucker Professur verlor und erst wieder 1955 Professor für Deutsche Philologie in Tübingen wurde,56 weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, „daß man angesichts eines halben, für den Lebensberuf verlorenen Jahrzehnts vielleicht eine gewisse besondere Berechtigung habe, auf Großmut zu rechnen.“57 Halbach entwickelt hier wieder einen überhistorischen Begriff der Klassik, der im Wesentlichen durch organologische Metaphern der Reife und Vollendung geprägt ist, ethisch als Humanitätsklassik gefasst wird, und den er auch für die Literatur um 1200 reklamiert. Halbachs Diskussionen des Klassik-Begriffs vor und nach 1945 sind ebenso wie der Ästhetizismus des sprachlichen Kunstwerks als solchem symptomatisch für germanistische Klassikkonzepte vor und nach 1945 (völkische Klassik versus Humanitätsklassik),58 sowie für den Rückzug vieler Nachkriegsgermanisten auf die Autonomie der Dichtung.59 Halbachs ästhetizistische Lektüre hat letztlich zur Qualifikation (und Betitelung) von L 19,17 als „Philippschelte“ geführt: Im „Satyrspiel“ zur „heroisch monumentalen Idylle“ der Preisstrophen „erfreche“ sich Walther „nörgelnd/ mahnend“, dem König ausgerechnet seinen Erbfeind Richard Löwenherz als Exempel vorzuhalten,60 die „Königsrüge“ zeichne sich durch „Übermut“ aus.61 Die Waltherforschung ist ihm bis heute darin gefolgt. Von einer „frechen und

des Romanisten und Germanisten keineswegs, ja die Humanitäts-Klassik wird nicht durch ein völkisch-rassisches Prinzip substituiert, vielmehr stehen beide Konzepte unabgegolten nebeneinander – solche den völkischen Eindruck etwas abmildernden Tendenzen freilich stehen in einer Spannung zu Halbachs Insistieren auf deutschem Wesen. 55 Halbach, „Wesen der Klassik“, S. 167. 56 Zur politischen Biographie siehe: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, hrsg. und eingel. von Christoph König, bearb. von Birgit Wagenbauer zusammen mit Andrea Frindt [u.a.], 3 Bde. und eine CD-Rom, Berlin, New York 2003, S. 654 f. 57 Halbach, „Wesen der Klassik“, S. 167, Anm. 3. 58 Vgl. Ernst Osterkamp, „Klassik-Konzepte. Kontinuität und Diskontinuität bei Walther Rehm und Hans Pyritz“, in: Wilfried Barner/Christoph König (Hrsg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 1996, S. 150–170; Michael Schlott, „Werkkontinuität im Werkkontinuum. Die Funktion der ‚Klassik‘ bei Walther Rehm“, in: ebd., S. 171–181. 59 Vgl. Klaus L. Berghahn, „Wortkunst ohne Geschichte“, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, 71/1979, S. 387–398; Jost Hermand, Geschichte der Germanistik, Hamburg 1994 (Rowohlts Enzyklopädie), S. 114–130. 60 Halbach, „Der I. Philipps-Ton“, S. 46. 61 Ebd., S. 47.  

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taktlosen Kränkung Philipps“62 ist bei Jungbluth die Rede. Hahn konstatiert, die Strophe sei für Philipp „verletzend“,63 „subtile Boshaftigkeit“ vermerkt Liebertz-Grün,64 von einer „gezielten Unverschämtheit“ und von einem „versteckten Seitenhieb gegen das Geschlecht der Staufer“, einer „Verunglimpfung des staufischen Hauses schlechthin“ ist bei Nix die Rede, Lauer weist zusätzlich auf das „respektlose Duzen“ hin und vermerkt Zynismus.65 Auch Kokott meint, Walther setze sich hier nicht mehr für Philipp ein, sondern beziehe Position gegen ihn.66 Aus dieser Sprechhaltung wurde geschlossen, dass die Strophe unmöglich vor Philipp vorgetragen worden sein konnte.67 Distanz zum König spräche aus der ‚Philipp-Schelte‘, inhaltlich wie räumlich, sonst – so Kokott – „hätte er sich diesen Ton nicht leisten können.“68 Dass Walther hier im Interesse eines sich von Philipp abwendenden Fürsten, vermutlich Hermanns von Thüringen, polemisiere, wird in den Studien zu diesem Spruch seit Wilmanns Vermutung, der Spruch sei im Dienst Hermanns von Thüringen vorgetragen

62 Günther Jungbluth, „Neuere Forschungen zur mittelhochdeutschen Lyrik“, in: Euphorion, 51/ 1957, S. 192–221, hier S. 217. 63 Gerhard Hahn, Walther von der Vogelweide, München, Zürich 1989 (Artemis Einführungen, 22), S. 119. 64 Ursula Liebertz-Grün, „Rhetorische Tradition und künstlerische Individualität. Neue Einblicke in L 19,29 und L 17,11“, in: Hans-Dieter Mück (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, Stuttgart 1989, S. 281–297, hier S. 291. 65 Matthias Nix, Untersuchungen zur Funktion der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide, Göppingen 1993 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 592), S. 104 f.; Claudia Lauer, Ästhetik der Identität. Sänger-Rollen in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 2008, S. 183. 66 Hartmut Kokott, „Swer nû des rîches irre gê. Politische Sprüche Walthers von der Vogelweide im Deutschunterricht“, in: Helmut Brackert/Hannelore Christ/Horst Holzschuh (Hrsg.), Literatur in der Schule. Bd. II. Mittelalterliche Texte im Unterricht – 2. Teil, München 1976, S. 130–169, hier S. 162. 67 Die Angaben bei Wilmanns sind noch widersprüchlich; er sieht die Strophen einerseits vor Philipp vorgetragen, andererseits bezweifelt er dies; die letztere Position hat sich durchgesetzt: vgl. Wilhelm Wilmanns (Hrsg.), Walther von der Vogelweide, hrsg. und erklärt 1896, vierte, vollst. umgearb. Aufl. besorgt von Victor Michels, Bd. II: Lieder und Sprüche Walthers mit erklärenden Anmerkungen, Halle 1924, S. 108; ebd., Bd. 1: Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide, Halle 1916, S. 113; Halbach, „Der I. Philipps-Ton“, S. 46; Kokott, „Swer nu des rîches irre gê“, S. 162; Nix, Untersuchungen, S. 103; Silvia Ranawake/Ralf-Henning Steinmetz, „Konturen einer neuen kommentierten Walther-Ausgabe“, in: Helmut Birkhan (Hrsg.), Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge, gehalten am Walther-Symposion der österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24.–27.09.2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), Wien 2005, S. 427–448, hier S. 445. 68 Kokott, „Swer nu des rîches irre gê“, S. 162; ähnlich Manfred Günther Scholz, Walther von der Vogelweide, Stuttgart, Weimar 1999, S. 54.  

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worden, beständig wiederholt.69 Nach Nolte kann man bei Walther den Anspruch der Fürsten heraushören, „für ihren prostaufischen Einsatz auch Gegenleistungen zu bekommen.“70 Dieser Konsens setzt die Annahme voraus, dass die Ratgeberrolle hier nicht ernst gemeint sei, dass die Mahnungen vordergründig blieben71 und in Wahrheit eine polemisch vorgetragene Kritik enthielten.72 Nicht zuletzt trug der Forschungstitel ‚Philippschelte‘ zur fortfahrenden Formulierung entsprechender Behauptungen bei.73 Vorstellungen sehr zeitgenössischer Art scheinen in den fortschreitenden Zuschreibungen unterschwellig prägend zu sein, jene der Propaganda74 und jene der politischen Lyrik75 bzw. des

69 Konrad Burdach, Walther von der Vogelweide. Philologische und historische Forschungen, Leipzig 1900, S. 52; Wilmanns/Michels, Walther von der Vogelweide, Bd. 2, S. 110; Walther von der Vogelweide, Gedichte, ausgewählt, übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Peter Wapnewski, siebente, überarb. Aufl. Frankfurt a.M. 1970, S. 254; Nix, Untersuchungen, S. 105; Scholz, Walther von der Vogelweide 1999, S. 58; Horst Brunner [u.a.], Walther von der Vogelweide. Epoche – Werk – Wirkung, zweite, überarb. und ergänzte Aufl., München 2009, S. 153. 70 Theodor Nolte, „König und Sänger. Zur Interaktion zwischen Sangspruchdichter und Herrscher“, in: Thordis Hennings/Manuela Niesner/Christoph Roth (Hrsg.), Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Festschrift für Fritz Peter Knapp zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 2009, S. 301–312, hier S. 307. 71 Vgl. Scholz, Walther von der Vogelweide, S. 58: „Und der ganze Tenor der vordergründig Sprechakte des Ratgebens aneinanderreihenden Strophe erweist sich als Schelte.“ Anders, aber ohne weitergehende Begründung Berenike Krause, Die milte-Thematik in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. Darstellungsweisen und Argumentationsstrategien, Frankfurt a.M. [u.a.] 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur, 9), S. 170, Anm. 62. 72 In der jüngeren Forschung zieht hier einzig Lauer eine ausgeprägte Ratgeberrolle in Erwägung, sieht diese in L 19,17 verbunden mit der Sozialrolle des varnden und jener des herrscherlichen Richters; vgl. Lauer, Ästhetik der Identität, S. 183 f. 73 Ähnliches trifft auf die sogenannte Thüringer Hofschelte zu, für die Peter Strohschneider – mit Blick auf milte-Konzepte – eine alternative Lektüre vorgenommen hat: Peter Strohschneider, „Fürst und Sänger. Zur Institutionalisierung höfischer Kunst anläßlich von Walthers Thüringer Sangspruch,V [L. 20,4]“, in: Ernst Hellgardt/Stephan Müller/Peter Strohschneider (Hrsg.), Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen. Mediävistisches Kolloquium auf Gut Willershausen, 11.–13. Oktober 1998, Köln [u.a.] 2002, S. 85–107. 74 Achim Masser, „Zu Walthers Propagandastrophen im ersten Philippston (L 18,29 und 19,5)“, in: Werner Besch [u.a.] (Hrsg.), Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters, S. 49–59. 75 Ulrich Müller, Politische Lyrik des deutschen Mittelalters. Texte: Von Friedrich II. bis Ludwig von Bayern, Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 68); Ders., Politische Lyrik des deutschen Mittelalters. Texte. Bd. 2: Von Heinrich von Mügeln bis Michel Beheim, von Karl IV. bis Friedrich II., Göppingen 1974 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 84); Ders., Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters, Göppingen 1974 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 55/56).  

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Protestliedes.76 Die damit verbundenen Praktiken haben zur Stabilisierung des Urteils über 19,17 beigetragen. Der Kommentar zur Neuausgabe der WaltherEdition Hermann Pauls von Silvia Ranawake fasst die Positionen zusammen: „Obwohl als Rat an Philipp adressiert, handelt es sich um eine gegen diesen gerichtete Scheltstrophe, die ihm Knausrigkeit vorwirft.“77 Noch in der letzten Publikation, Horst Brunners Herausgabe von Texten Walthers mit Übersetzung und Kommentar, firmiert Walthers Ton „fast schon am Rand der Unverschämtheit“, konstatiert wird einmal mehr die „Bosheit gegenüber Philipp“, die darin liege, dass ihm der Förderer des Rivalen als Exempel empfohlen wird.78 Somit wären die praktischen Implikationen einer Interpretationsgeschichte nachgezeichnet, innerhalb derer L 19,17 als Ratgeberstrophe, als Mahnung, als Schelte und schließlich als Protestkundgebung dimensioniert wurde. Damit ist ein Horizont von Deutungsoptionen abgesteckt, mit denen eine Interpretation von L 19,17 zu rechnen hat. Im folgenden Abschnitt sei vor diesem Hintergrund ein erneuter Interpretationsversuch unternommen.

IV Ich betrachte zunächst die C-Fassung des Spruches und wende mich später vergleichend den Abweichungen in B zu. König Philipp wird angesprochen, ihm wird ein Urteil der nâhe spehenden mitgeteilt. Das Adverb nâhe kann einerseits eine besondere Genauigkeit des Hinsehens und Beobachtens bedeuten als auch

76 Auch Peter Rühmkorf betrachtet L 19,17 als eine der „geharrnischte(n) Philippiken gegen den zahlungsunwilligen Philipp“, die Walther im Dienste Hermanns vorbrachte. Entsprechend auch die Übersetzung (Walthers Kritik an den zugenähten Taschen Philipps) und die Schlussfolgerungen: „Die Impertinenz lag nicht in den Forderungen, sie lag in den Anspielungen.“ Der „mahnende Hinweis auf den spendablen Richard“, der zuvor den Welfen unterstützt hatte, deklassiere den Staufer zum Knauser; Peter Rühmkorf, Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich, Hamburg 1975, S. 34–36. Einige der Übersetzungen Rühmkorfs wurden durch den Liedermacher Franz Josef Degenhart zum Anlass von Protestliedern mit gegenwartskritischem Bezug; vgl. Brunner [u.a.], Walther von der Vogelweide, S. 241–243. 77 Walther von der Vogelweide, Gedichte, Teil 1: Der Spruchdichter, 11. Auflage auf der Grundlage der Ausgabe von Hermann Paul, hrsg. von Silvia Ranawake mit einem Melodieanhang von Horst Brunner, Tübingen 1997 (Altdeutsche Textbibliothek, 1), S. 89. 78 Walther von der Vogelweide, Gedichte. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., übersetzt und kommentiert von Horst Brunner, Stuttgart 2012, S. 268–269; vgl. auch Nolte, „Das Bild des Königs“, S. 107 f.  

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auf räumliche Nähe zum Fürsten weisen, aus der dieses Urteil stammt.79 In jedem Falle ist von den so Bezeichneten ein differenziertes und auch ein exklusives Urteil zu erwarten. Dadurch, dass sich Walther reflektierend zu diesem Urteil in Beziehung setzt, beansprucht er eine Partizipation an jener Genauigkeit bzw. jener Nähe, die mit dem Adverb nâhe als Voraussetzung des Urteils gesetzt ist.80 Das Urteil selbst betrifft die milte des Königs. Dass hier mangelnde Freigebigkeit Gegenstand der Kritik ist, ist deutlich, darüber, wie diese Kritik genau zu fassen sei, gibt es aber keineswegs einen Forschungskonsens. Auch wenn über den „Ton“, den Walther hier gegen Philipp anschlage, Einigkeit zu bestehen scheint, so wird der konkrete Gehalt der Vorwürfe Walthers recht unterschiedlich interpretiert. Philipp sei nicht dankes milte heißt es im Text; inwiefern die milte nun mangelhaft ist, darüber finden sich in den Übersetzungen und Interpretationen des ersten Stollens grundverschiedene Annahmen. Wapnewski übersetzt, Philipp sei nicht „von Natur aus“ freigebig,81 Schaefer entsprechend, die Freigebigkeit komme nicht „von Herzen“.82 Der Aussagegehalt des Verses bleibt in solchen Metaphorisierungen vage. Davon unterscheiden sich konzeptionell genauer fokussierende Übersetzungen. Kokott übersetzt den Vorwurf wie folgt: „Du seist in Deiner Haltung nicht freigebig (genug)“. Das aber gibt die Wendung niht dankes milte so nicht her, vorsichtigerweise hat Kokott das „genug“ wohl deshalb auch in Klammern gesetzt. In den Paraphrasen der Verse sieht Kokott dann freilich durchaus einen „konkreten Vorwurf des Geizes“ artikuliert.83 Dass Philipp, wie es heißt, „in seiner Haltung“ nicht freigebig sei, trägt dem Tatbestand Rechnung, dass bei Walther die Intentionalität, welche Philipps Handeln bestimmt, mit-

79 Kokott, „Swer nu des rîches irre gê“, S. 161; Christa Ortmann, „Der Spruchdichter am Hof. Zur Funktion der Walther-Rolle in Sangsprüchen mit milte-Thematik“, in: Müller/Worstbrock (Hrsg.), Walther von der Vogelweide, S. 17–36; hier S. 29. 80 Hierin könnte man eine Strategie sehen: Gerhard Hahn hat in seinen Untersuchungen zu Möglichkeiten und Grenzen von Walthers politischer Dichtung herausgearbeitet, wie Walthers Zugang zu politischen Informationen und Informationsverarbeitung im Rahmen dessen verbleiben, was öffentlich zugänglich ist; Hahn, „Möglichkeiten“, S. 352. Vielleicht kann man ja in Walthers Relationierung zu den höfischen Experten einen Entwurf von Nähe sehen, eine Selbstinszenierung des Sangspruchdichters als Experten im Zentrum des Hofes. Anschließen ließen sich hier Überlegungen, die dem Göttinger Graduiertenkolleg über Expertenkulturen zugrundeliegen; vgl. das Forschungsprogramm: http://www.uni-goettingen.de/de/100754.html (Stand: 30.07.2013); vgl. auch Hedwig Röckelein, „Einleitung. Experten zwischen ‚experiencia‘ und ‚sciencia‘“, in: Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, 17/2012, 2), S. 3–7. 81 Walther von der Vogelweide, Gedichte, S. 139. 82 Walther von der Vogelweide, Werke: Text und Prosaübersetzung. Erläuterung der Texte. Erklärung der wichtigsten Begriffe, Joerg Schaefer (Hrsg.), zweite Aufl., Darmstadt 1987, S. 233. 83 Kokott, „Swer nu des rîches irre gê“, S. 162.

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reflektiert wird. Die Bedeutung dieses Übersetzungsvorschlags freilich bleibt vage: Was heißt es denn genau, „in seiner Haltung“ freigebig zu sein? Christa Ortmann übersetzt dagegen wie folgt: „Du seiest nicht aus freien Stücken milte“ und weist damit auf die Motivation hinter der Freigebigkeit: „der milte des Königs fehle die Freiwilligkeit“.84 Philipp wäre somit zwar milte, aber eben nicht aus freien Stücken. Auch Schweikle betont den Aspekt der Freiwilligkeit, akzentuiert aber völlig anders: „Du seist aus freien Stücken nicht freigebig“: Hier ist die mangelnde Freigebigkeit Philipps als eine vorsätzliche gefasst: Philipp ist nicht milte und er will es so.85 Die Entscheidung, die Freiwilligkeit zu betonen, begründet Schweikle im Kommentar lexikographisch damit, dass der Genitiv dankes in der Grundbedeutung „aus Dankbarkeit“ vorkomme, dass daneben aber auch die Übersetzung „freiwillig“ zulässig ist.86 Er bezieht sich dafür auf die 24. Auflage der mittelhochdeutschen Grammatik von Paul, Wiehl und Grosse. Dort wird der Fall verzeichnet unter den Substantivadverbien, die als erstarrte Kasus aus Substantiven entstanden seien. Unter den Genitiv-Substantivadverbien findet sich dort für dankes als „Genitiv der Beziehung“ die Bedeutung „freiwillig“.87 Die Übersetzung dankes milte mit „freiwillig“ erscheint plausibel, wenn man V. 5 heranzieht, wo die Wendung âne danc eindeutig mit „wider Willen“, „unfreiwillig“ u.ä. zu übersetzen ist. Ob dieser Befund aber auf dankes milte in V. 2 zu übertragen ist, halte ich für fraglich, weil sich Widersprüche zum Gehalt der folgenden Verse einstellen, wenn man den Aspekt der Freiwilligkeit solcherart für die Eingangsverse akzentuiert. Betrifft dieser Vorwurf doch das Handeln des Königs, seine milte, zugleich mit dem Erleben dieses Handelns (aus freien Stücken oder nicht). Damit ist auch die subjektive Disposition des Angesprochenen, seine Gesinnung, akzentuiert. Man könnte nun vermuten, dass hier die ethische Vorstellung relevant sei, ein Herrscher sollte vorbehaltlos freigebig sein.88 So eine Vorstellung wird auch in anderen Zusammenhängen literarisch thematisiert, z.B.

84 Ortmann, „Der Spruchdichter“, S. 29; vgl. auch Wilmanns/Michel, Walther von der Vogelweide, Bd. 2, S. 110 f. 85 Walther von der Vogelweide, Werke, S. 89 (Übersetzung), S. 352–354 (Kommentar). Im Sinne einer Verweigerung der milte durch den Fürsten liest den Vers auch Nix, Untersuchungen, S. 103. 86 Walther von der Vogelweide, Werke, Bd. 1, S. 354. 87 Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 24. Aufl., überarbeitet von Peter Wiehl und Siegfried Grosse, Tübingen 1998 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte: A. Hauptreihe 2), § 209e. 88 Etwas anders akzentuiert Wilmanns, der in seinem Kommentar vergleichend Belege für die „Forderung ein freudiger Geber zu sein“ versammelt; Wilmanns/Michels, Walther von der Vogelweide, Bd. 2, S. 110 f.  



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in den höfischen Romanen um 1200.89 Auch wenn dies ganz gut zur Forderung grenzenloser milte im Saladin-Exempel des Abgesangs zu passen scheint, steht es doch seltsam quer zu Walthers wohlkalkuliertem Rat, der König möge lieber tausend Pfund aus freien Stücken als dreißigtausend unfreiwillig verausgaben (V. 4 f.). Die Forderung bedingungslosen Schenkens und die gegensinnige Forderung nach Kalkulation der Verausgabung stünden, interpretiert man die Eingangsverse im Sinne einer herrscherlichen Ethik freiwilliger Großzügigkeit, in harter Fügung unvermittelt nebeneinander. Und diese Unabgegoltenheit stellt ein Interpretationsproblem dieser Strophe dar. Ich meine, dass man hier zu einer besseren Lösung kommen kann, wenn man die geläufigen Übersetzungen von dankes milte in V. 2 noch einmal hinterfragt. Erstaunlich ist, dass in keiner der verfügbaren Übersetzungen ein konkreter Übersetzungsvorschlag dieser Stelle aus dem Wörterbuch von Benecke/Müller/Zarncke aufgegriffen wurde: Im Mittelhochdeutschen Wörterbuch findet sich die Wendung unter danc in der Bedeutung „vorsatz, absicht, wille“. Dort wird auch der Genitiv des Dankes (ohne Possesivpronomen) abgehandelt und hier ist der Vers dun sîst niht dances milte mit Übersetzung angeführt. Für ihn wird eine von anderen Bedeutungen von danc abweichende Übersetzung veranschlagt: „mit gehöriger überlegung freigebig“.90 Diese Übersetzungsentscheidung berücksichtigt die etymologische Nähe von denken und danken, die sich bei Benecke/ Müller/Zarncke auch in der Entscheidung manifestiert, „die vollwörter denken, danken, dunken“ unter dem „verlorenen stamme Dinke, Danc, Dunken“ abzuhandeln.91 Anders als Matthias Lexers Mittelhochdeutsches Wörterbuch lemmatisiert das Wörterbuch von Benecke/Müller/Zarncke nach Wortfamilien. Auf den ersten Blick erscheint dieser Übersetzungsvorschlag nur eine Bedeutungsnuance gegenüber den vorgestellten Alternativen zu beinhalten, sie freilich macht Walthers kritische Einwendung gegen den König wesentlich greifbarer: Er kalkuliere seine Freigebigkeit nicht recht, er handle aus den falschen Motiven. Die subjektive Disposition des Königs wird somit als strategisch-rationale gefasst und

89 Vgl. Marion Oswald, „Kunst um jeden Preis. Gabe und Gesang in Gottfrieds von Straßburg Tristan“, in: Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider (Hrsg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt a.M. [u.a.] 2001 (Mikrokosmos, 64), S. 129–152; Gerd Dicke, „Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von ‚Rotte und Harfe‘ im Tristan Gottfrieds von Straßburg“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 120/1991, S. 156–184. 90 Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke, 3 Bde., Leipzig 1854–1866, Bd. I, Sp. 351b. 91 Ebd., Bd. I, Sp. 341.

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dies passt dann recht gut zu Walthers Rat, der König solle lieber aus gehöriger Überlegung tausend Pfund ausgeben als unfreiwillig dreißigtausend. Übersetzt man dankes milte in dieser Weise, stellt sich nicht nur das angesprochene Interpretationsproblem nicht ein, es öffnen sich auch weitere Interpretationsperspektiven. Der Einwand wird zunächst als Befund der anderen, der nâhe spehenden, formuliert, das Ich der Strophe setzt sich nun seinerseits dazu in Beziehung: des bedunket mich, wie dû dâ mite verliesest michel mêre. Mit dem Verb bedunken wird das dankes aufgenommen. Walther setzt also dem Kalkül Philipps ein eigenes entgegen. Es fällt ins Auge, dass sich in dieser Strophe Wörter häufen, die auf „denken“ oder „danken“ zurückgehen: dankes, bedunket (V. 2), dankes (V. 4), danc (V. 5), denke (V. 7), gedenke (V. 10). Damit wird ein Feld von Wörtern und Formulierungen durchmessen, die der strategisch klugen Abwägung gelten. Die folgenden Verse: dû möhtest gerner dankes geben tûsent pfunt danne drîzec tûsent âne danc stellen dem König hyperbolisch vor Augen, worum es geht: besser aus gehöriger Überlegung heraus tausend Pfund investieren, als wider Willen dreißigtausend ausgeben. Dies wäre als ethischer Diskurs über milte völlig missverstanden. Hier geht es um strategisch-kluges Handeln, um kalkulierte Verausgabung im politischen Raum. Die diesbezügliche Kompetenz wird Philipp abgesprochen: dir ist niht kunt / wie man mit gâb erwirbet prîs und êre. In diesem Satz hat man vor allem einen drastisch formulierten Vorwurf sehen wollen. Dagegen könnte eingewendet werden, dass doch solche Unkenntnis erst rât und helfe notwendig mache und jenes Ich auf den Plan rufe, welches vor dem Fürsten über das gebotene Handeln reflektiert. Damit aber wäre, ehe man die Strophe als Schelte qualifiziert, eine andere Hypothese zu erwägen. Inszeniert sich Walther in dieser Strophe vielleicht als Berater des Königs, der die optimale Wahl der Mittel zu bestimmten Zwecken erörtert? Diese besondere Ausformung der Ratgeber-Rolle rückt nicht in den Blick, solange man in dieser Strophe die Schelte einer ethischen Verfehlung sieht. Der Ratgeber tauchte hier nicht als lêrer aller guoten dinge oder als râtgebe aller tugent,92 nicht als Spezialist für die Formulierung des ethisch Konsensfähigen auf, sondern vielmehr in einer klar politisierten Art und Weise, als einer, der strategisch-ökonomisches Handeln reflektiert. Darin liegt eine Modifizierung der Ratgeberrolle, die mit der Öffnung der Sangspruchdichtung auf das Politische, mit der historischen Konkretisierung einhergeht. In der Sangspruchdichtung gibt es eine Reihe von Ratgeberstrophen, wobei darunter meist Sprüche über schlechte Ratgeber verstanden werden. Solche Schelten erfolgen von einer Position 92 Diese Formeln des Meißners werden in der Forschung immer wieder als Beispiel für den moralischen Anspruch der Sangspruchdichter zitiert; Der Meißner der Jenaer Liederhandschrift. Untersuchungen, Ausgabe, Kommentar, Georg Objartel (Hrsg.), Berlin 1977, XV, 4; vgl. Helmut Tervooren, Sangspruchdichtung, zweite, durchges. Aufl., Stuttgart 2001, S. 36 f.  

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außerhalb des eigentlichen Fürstenrats aus, in ihnen wird eine im Ethischen gründende Autorität behauptet, die den Ratgebern der Herren selbst gerade abgesprochen wird.93 Walthers Inszenierung zielt nicht auf eine solche moralische Evaluation der fürstlichen Ratgeber, sondern auf deren Position in der Nähe des Königs. Ulrich Baltzer wies darauf hin, dass die Autorität des Ratgebers bei Walther den niederen Stand kompensiere, aufgrund seines auf sachlicher Kompetenz basierendem Ethos.94 Diese Formulierung trifft für den hier behandelten Text nicht ganz zu: Denn die sachliche Kompetenz politisch-ökonomischer Kalkulation erscheint hier als von ethischen Positionen entkoppelt. Eine zumindest partielle Suspension des Ethischen und ein fast vollständiges Aufgehen im Historisch-Politischen halte ich für eine grundsätzlich mögliche Option einzelner Sprüche Walthers.95 Dass Walther, wie Gerhard Hahn konstatierte, in seinen politischen Strophen gerade auf die Ratgeberrolle zurückgegriffen habe, um einen sozialen Rahmen zu nutzen, in dem Kompetenz mitunter eine wichtigere Rolle spielte als Herkunft,96 wäre auch für diesen Spruch zu vermuten. Wenn sich Walther im Eingangsvers des Spruches durch einen Akt der Reflexion (bedunken) zu den nâhe spehenden in Beziehung setzt, kann dies als inszenierte Okkupation einer solchen Ratgeberposition verstanden werden. Der Sprechmodus der Schelte freilich wäre für diesen Typus von fürstlichem Ratgeber keineswegs vorgesehen. Die Angemessenheit der Lesung dieser Strophe im Sinne einer in der Ratgeberrolle ausgeführten Reflexion über strategisch kluge Funktionalisierung herrscherlicher Freigebigkeit bemisst sich nun daran, ob unter diesem Vorzeichen die beiden Exempel und die Sentenz des Abgesangs schlüssiger als bisher auf den Aufgesang und aufeinander bezogen werden können. Die beiden Exempel, in denen richtige, und das heißt nach dem Ausgeführten angemessen kalkulierte milte konkretisiert wird, haben die Forschung verstört: Warum wird Saladin, Feind der Christenheit und indirekter Verursacher von Barbarossas Tod, hier als Exemplum rechter milte dem König vor Augen gestellt, warum Richard Löwenherz, der den Rivalen im Kronstreit unterstützte? Man ist soweit gegangen, darin eine Provokation, ja eine Verhöhnung Philipps sehen zu wollen. Die Verstörung stellt sich meines Erachtens ein, wenn man hier ethische Exemplarizität veranschlagt: Die Vortrefflichkeit der

93 Krause, Die milte-Thematik, S. 112–118. 94 Ulrich Baltzer, „Strategien der Persuasion in den Sangsprüchen Walthers von der Vogelweide“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 120/1991, S. 119–139, hier S. 122. 95 Hier wäre besonders der ‚Spießbratenspruch‘ (L 17,11) anzuführen; vgl. Lutz Mackensen, „Zu Walthers Spießbratenspruch“, in: Richard Kienast (Hrsg.), Studien zur deutschen Philologie des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Panzer, Heidelberg 1950; Liebertz-Grün, „Rhetorische Tradition“. 96 Hahn, „Möglichkeiten“, S. 353.

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großen Herrscher scheint dann mit ihrer Rolle in den historisch konkreten politischen Interessenskonflikten inkompatibel. Die Behauptung der ethischen Vortrefflichkeit von Philipps Feinden mag anstößig wirken, lenkt man den Blick jedoch auf die ökonomischen und politischen Dimensionen der beiden Exempel, verschiebt sich dieser Eindruck. Weniger als ethische Vorbilder führt Walther die Feinde staufischer Politik vor, vielmehr akzentuiert er die Effizienz ihrer politischen Aktionen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sowohl Saladin als auch Richard Löwenherz zum Zeitpunkt der Entstehung der Strophe nicht mehr leben. Richard Löwenherz starb 1199, Saladin bereits 1193. Die Ereignisse, auf welche sich die Strophen des ersten Philippstons beziehen lassen, datieren auf 1198 (Tod des Babenbergers, ‚Hofwechselstrophe‘) und 1199 (Festkrönung in Magdeburg, ‚Magdeburger Weihnacht‘), eine Entstehung von L 19,17 nach dem Tode Richards Löwenherz ist also mehr als wahrscheinlich. Der Tod beider Herrscher hatte sowohl im Heiligen Land als auch in England ein empfindliches Machtvakuum hinterlassen. Walther bringt also Exempel aus der Philipp vorausgegangenen Generation großer Könige, die sich durch politisch kluges Handeln auszeichneten. Dies – so würde ich interpretieren – impliziert einen Appell an Philipp, es ihnen darin gleichzutun und das Machtvakuum der Zeit auszufüllen. Ich meine, man sollte auch hier genauer berücksichtigen, dass Walthers Diskurs in dieser Strophe ein eminent politischer ist: denke an den milten Salatîn / der jach, daz küneges hende dürkel solten sîn, / sô wurden si erforht und ouch geminnet. Hier geht es nicht um Lob und Preis, weniger um moralischen Ansehen als vielmehr um forht und minne, um Respekt und Anerkennung bei Gefolgsleuten und Gegnern.97 Statt von ethischer Exemplarizität ist von politischer auszugehen. Es ist dabei darauf hinzuweisen, dass der Respekt und die Liebe in diesem Vers den Händen des Königs gelten – sie stehen symbolisch für die herrscherliche Gewalt.98 Die Logik des guot umbe êre nemen, Rechtfertigungsformel sangspruchmeisterlicher Panegyrik, ist hier gänzlich irrelevant.99 Saladin konnte durch grenzenlose Freigebigkeit seine politischen Ziele erreichen. Der Hinweis auf die freigebigen und tatkräftigen Hände entspricht in seiner politi-

97 Gerd Althoff, „Die Bösen schrecken, die Guten belohnen. Praxis und Legitimation mittelalterlicher Herrschaft“, in: Ders./Hans-Werner Goetz/Ernst Schubert (Hrsg.), Menschen im Schatten der Kathedrale. Neuigkeiten aus dem Mittelalter, Darmstadt 1998, S. 1–99. 98 Vgl. [Art.] ‚Hand‘, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Unter Mitarbeit von Wolfgang Stammler hrsg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Bd. 1, Berlin 1964, Sp. 1927–1928. 99 Anders Lauer, Ästhetik der Identität, S. 183; vgl. auch Baltzer, „Strategien der Persuasion“, S. 128; kritisch dazu: Wernfried Hofmeister, „Das ‚Sprichwort‘ als Mittel der Agitation in der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide“, in: Thomas Bein (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zur Produktion, Edition und Rezeption, Frankfurt a.M. [u.a.] 2002 (Walther-Studien, 1), S. 59–91, hier S. 66.

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schen Logik dem Lob der herrscherlichen Hand in Walthers späterer Kaiserbegrüßung des Ottentons genau: iuwer hant ist kreftic, guotes vol, / ir wellet übel oder wol, / sô muget ir beidiu rechen unde lônen.100 Und Reinmar von Zweter greift in einem Spruch, der Herrenlehre beinhaltet, die Waltherstelle auf, wenn er herren vorhte als die Bedingung dafür benennt, dass der Mächtige gefürchtet und geliebt wird.101 Die Herrschertugend der milte erscheint bei Walther in ihrer politischen Pragmatik: Saladins Hände sind milte und deshalb bewirken sie über das Auslösen von forht und minne Erfolge im politischen Raum. Der zitierte Ausspruch Saladins formuliert die politische Norm der milte für Könige, die politisch-historische Figur des Sultans steht für eine effiziente Umsetzung dieser Regel: Beides wird dem Stauferkönig im Sinne einer vorbildlichen Übereinstimmung kalkulierender Vernunft und politischer Resultate vor Augen gestellt. Zu beachten ist ferner der Umgang der Ich-Instanz mit geschichtlichen Sachverhalten. Darauf führt der Wechsel der Verbformen vom Konjunktiv zum Indikativ: Zunächst indiziert in beiden Fassungen der Konjunktiv des Modalverbs die indirekte Rede (der jach, daz küneges hende dürkel solten sîn, C; küneges hende solten alles dürkel sîn, B). Ebenfalls in beiden Fassungen folgt sodann eine im Indikativ Präteritum formulierte Konsequenz (sô wurden si erforht, C; dâ von sô wurde ir hôhes lop geminnet, B). Dieser Vers ist somit nicht mehr der indirekt wiedergegebenen Rede Saladins zuzuordnen, sondern der Ich-Instanz. Diese konstatiert also die praktischen Konsequenzen, die sich aus den Maximen Saladins tatsächlich ergeben haben und führt somit vor, wie aus richtigen Überlegungen auch die vorweggenommenen geschichtlichen Resultate folgen. Das Ich der Strophe erscheint dabei einmal mehr als Pragmatiker, darüber hinaus öffnet sich aber auch der Raum des Geschichtlichen als der Ort, wo sich angemessene Kalkulation zu bewähren hat. Wie aber ist das Exempel Richards Löwenherz zu verstehen? Hierin eine Provokation Philipps zu sehen, ist Forschungskonsens. Ortmann konstatiert den „scharfen Affront gegen die Stauferpartei und eine fast übermenschliche Herausforderung an die politische Abstraktionsbereitschaft Philipps“,102 Scholz rügt die „bare Scheinheiligkeit“, welche darin liege, die „dem Engländer für seine Freilassung abgepreßten Unsummen als Beweis seines milte-Handelns zu deklarieren.“103

100 L 11,30; Walther von der Vogelweide, Werke, Bd. 1: Spruchlyrik, S. 106 f. (Text und Übersetzung), S. 366 f. (Kommentar). 101 Die Gedichte Reinmars von Zweter, Gustav Roethe (Hrsg.), Leipzig 1887, S. 460, Nr. 98, 12: dâ von wirt hêr ervorht und ouch geminnet. In dieser Strophe auch die Verwendung des Genitivs dankes im Sinne von „vorsätzlich“: 98,6: er (der Mächtige) minne den êrebaeren unt hazze den, der dankes missetuot. 102 Ortmann, „Der Spruchdichter“, S. 29. 103 Scholz, Walther von der Vogelweide, S. 59; vgl. auch Lauer, Ästhetik der Identität, S. 184.  



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Die betreffenden Verse lauten in der Fassung C: gedenke an den künig von Engellant / wie tiure man den lôste dur sîne milten hant. Schweikles Übersetzung: „Denk doch an den König von England, um wieviel man den auslöste seiner freigebigen Hand wegen“104 setzt die frühere Freigebigkeit von Richard Löwenherz als Bedingung dafür, dass der König später aus seiner Gefangenschaft ausgelöst wurde. In dieser Übersetzung ist auch Walthers Betonung der Hand wieder deutlich akzentuiert, die – wie bei Saladin – auch hier als Abbreviatur politischen Handelns fungiert. Das Exempel vergegenwärtigt also den Lohn der Freigebigkeit für den Geber. Weil nun die Staufer in besonderer Weise in die Gefangennahme und die Auslösung des englischen Königs involviert waren, hat man in diesem Exempel immer noch mehr sehen wollen als nur ein Lob der milte. Und hier setzen, wie gezeigt werden konnte, jene Interpretationen an, die in der Strophe eine polemische Invektive gegen den Staufer vermuten. Wie verhält sich dies zur hier vorgebrachten Hypothese einer Ratgeberrolle? An dieser Stelle ist noch einmal das Bekannte zu Festsetzung und Auslösung Richards Löwenherz zu rekapitulieren.105 Im Jahre 1192 wurde der englische König von dem österreichischen Herzog Leopold V. auf dem Rückweg von der Kreuzfahrt in Wien gefangen genommen. Was moralisch im höchsten Sinne fragwürdig war (Festsetzung eines Kreuzfahrers) wuchs sich zum politischen Coup aus. Heinrich VI. übernahm die Verhandlungen. Besonders Eleonore von Aquitanien setzt sich dafür ein, dass die astronomisch hohe Lösegeldsumme von 150 000 Mark Silber aufgebracht wurde. Dass aus dieser Zeit kaum Silberartefakte aus England existieren, zeigt das historische Ausmaß des Aufwandes. Im 1198 mit den Krönungen der Kontrahenten ausbrechenden Thronstreit zwischen Philipp II. und Otto IV. hatte Richard Löwenherz den Welfen bis zu seinem Tode 1199 unterstützt.106 Gleich in mehrfacher Hinsicht enthält die Erinnerung an die spektakuläre Lösesumme, die Richard Löwenherz an Philipps Bruder Heinrich VI. abzuführen hatte, ökonomisch-politische Implikationen. Die Zahlung der Summe liegt noch kein Jahrzehnt zurück, man kann annehmen, dass Walther die auf die Gefangennahme in der Nähe von Wien folgenden Ereignisse vom Babenberger Hof aus verfolgte. Er war mithin zeitnah im Umfeld jener beiden Parteien anzutreffen, der Babenberger und der Staufer, die unmittelbar finanziell von der Geschichte pro 

104 Walther von der Vogelweide, Werke, Bd. 1: Spruchlyrik, S. 89. 105 Vgl. Peter Csendes, Heinrich VI., Darmstadt 1993 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 115–130. 106 Zwar hatte Richard Löwenherz testamentarisch verfügt, dass sein Bruder, Johann Ohneland, die Zahlungen an Otto IV. fortführen sollte. Dieser jedoch engagierte sich im Thronstreit nicht im gleichen Maße; vgl. Peter Csendes, Philipp von Schwaben. Ein Staufer im Kampf um die Macht, Darmstadt 2003 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 90.

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fitierten. Zunächst hatte Heinrich VI. den kostbaren Gefangenen von Leopold auszulösen, daraufhin begann er mit den Verhandlungen um die Lösesumme. Man muss dabei in Erinnerung behalten, dass die Auslösung Richards für den Thronstreit nicht folgenlos geblieben war: Die mit angevinischem Silber gut gefüllte Kriegstruhe Heinrichs VI. trug wesentlich zum zügigen Erfolg der bereits lange geplanten Eroberung Siziliens bei. Am 25.12.1194 wurde Heinrich VI. zum König Siziliens gekrönt, womit ihm auch der normannische Thronschatz zufiel. Und der solchermaßen angereicherte staufische Thronschatz wiederum war die Ressource, aus der die enormen ökonomischen Aufwände von Philipps Kampf um die Krone bestritten wurden.107 So betrachtet vergegenwärtigen die beiden Exempel auch den Tod der alten Feinde, das Löwenherz-Exempel zudem die Verfügbarkeit von Ressourcen, die politischen Handlungsmöglichkeiten, die sich in solcher Situation bei wohlkalkulierter Freigebigkeit ergeben. Wer hier Scheinheiligkeit diagnostiziert, setzt einen ethischen Diskurs an, dem das exemplarisch Geschilderte sich nicht fügt. Auch die Formulierung von Nix, das Exempel wecke Erinnerungen an „eine der schändlichsten Taten, die Heinrich VI. und damit das staufische Haus auf sich geladen hatte“,108 setzt eine ethische Wertung dieser Tat voraus, welche derjenigen der Kurie entsprach. War dies Walthers Perspektive? Würdigt er hier nicht vielmehr den politischen Erfolg der Maßnahme? Kann man angesichts der ökonomischen und politischen Resultate, welche die Gefangennahme des englischen Königs nach sich zog, wirklich von einer „schmerzvollen Erfahrung der Staufer“109 sprechen? Die Niederlage der Fürstenopposition, die mit der Gefangennahme einherging, ermöglichte Heinrich VI. überhaupt erst die Festigung seiner Macht. Im Zusammenhang eines Diskurses um politische Klugheit, der die pragmatische Funktionalisierung von ethischen Diskursen über Herrschaft impliziert, ist im Exempel Richards Löwenherz die Erinnerung an einen der größten politisch-ökonomischen Erfolge der Staufer zu sehen. Mit den beiden Exempeln sind die Handlungsappelle an Philipp in zwei Richtungen perspektiviert: Zum einen geht es um die Situation des Kronstreits, zum anderen aber auch um das Heilige Land. Einen konkreten Kreuzzugsaufruf wird man nicht darin sehen wollen, die aufwendigen Operationen im Kronenstreit standen einem solchen durchaus entgegen. Aber das Thema war dennoch virulent. Auch waren sowohl Barbarossa als auch Heinrich VI. beim Kreuzzug bzw.

107 Csendes, Heinrich VI., S. 123–130. 108 Nix, Untersuchungen, S. 105. 109 Lauer, Ästhetik der Identität, S. 184.

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bei der Vorbereitung zu einem solchen zu Tode gekommen. Von dem Anwärter auf den Kaiserthron war auch auf diesem Feld Ordnungsstiftung verlangt.110 Das Sprichwort am Ende der Strophe erweist sich vor diesen Hintergründen als vielfach referenzialisierbar.111 Dass ein Schaden gut ist, der doppelten Nutzen bringt, kann – historisch konkret – auf die Auslösesumme, die Heinrich VI. dem Babenberger für die Überführung des englischen Königs zahlte, bezogen werden: In Gestalt der Lösesumme Richards Löwenherz und des normannischen Thronschatzes ist hier in der Tat doppelter Nutzen eingetreten. Der Schaden kann aber auch für die Investitionen stehen, welche Erfolge sowohl in Thronstreit als auch im Heiligen Land nach sich ziehen können. Denkbar ist auch, den Schaden auf jene ökonomischen Aufwände zu beziehen, die letztlich für forht und minne bei Feinden und Gefolgsleuten sorgen; der doppelte Nutzen bestünde dann in den politischen Folgen von Respekt und Loyalität. Insofern handelt es sich nicht, wie Christa Ortmann festhielt, um eine „Sentenz, die abgelöst von der Herrschaftsthematik, allgemeinste pragmatische Lebensweisheit formuliert“; allgemeinste pragmatische Lebensweisheit präsentieren Sprichwörter immer, in dieser Strophe aber ist solche allgemeine Lebensweisheit gerade nicht von Herrschaftsthematik abgelöst, sondern außergewöhnlich dicht auf sie bezogen. Ortmanns These, Walther ziehe sich mit der Sentenz „aus dem prekären politischen Terrain“ zurück und verberge sich in der „hieroglyphisch-gnomischen Rede“,112 kann ich deshalb nicht zustimmen, vielmehr scheint mir Kokott das Richtige zu treffen, wenn er konstatiert, dass der „allgemeine Satz“ durch „seinen Bezug zum König wie auch seine aktuell-politischen und strukturell gesellschaftlichen Momente wieder höchst zeitgebunden ist.“113 Es handelt sich hier durchaus um ein besonders gesättigtes Sprichwort.114 Und darin ist eine weitere Gattungsinnovation Walthers

110 Diesen Aspekt betont mit Blick auf die Saladin und Löwenherz-Exempel einzig Martin H. Jones, „Richard Lionheart in German Literature of the Middle-Ages“, in: Janet L. Nelson (Hrsg.), Richard Coeur de Lion in History and Myth, London 1992, S. 70–116, hier S. 89 f. 111 Im Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi ist dieses Sprichwort nicht verzeichnet, es ähnelt in seiner Aussage freilich einer ganzen Reihe von Sprichwörtern, die gebieten, kleinen Schaden in Kauf zu nehmen, wenn der Nutzen größer ist; vgl. Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, hrsg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, begründet von Samuel Singer, 13 Bde., Berlin, New York 1995–2002, Bd. 9, S. 466. Vgl. auch Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, 5 Bde. Leipzig 1867–1880, Bd. 4, S. 43: für Nr. 34 ist die Walther-Sentenz als einziger Beleg verzeichnet. 112 Ortmann, „Der Spruchdichter“, S. 30. 113 Kokott, „Swer nu des rîches irre gê“, S. 162. 114 So auch Hofmeister, der die „geballte politische Ladung“ des Sprichworts betont; Hofmeister, „Das ‚Sprichwort‘“, S. 66 f. Hofmeister folgt freilich in seiner Interpretation letztlich wieder der  



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auf dem Feld der Sangspruchdichtung zu sehen. Klaus Grubmüller hat an der frühen Sangspruchdichtung Spervogels gezeigt, wie hier durch Aufnahme einfacher Formen wie des Sprichworts eine Regel als Kommentar auf eine konkrete Situation formuliert wird. Diese Regel ist an das allgemein Konsensfähige zurückgebunden, so dass dem Ich des Spruchdichters keine andere Rolle zukommt als die des Sprachrohrs für das allgemein Verbindliche. Gattungsgeschichtlich bemerkenswert erscheint dann aber das Hervortreten eines Ich in dieser Konstellation; das vormals Allgemeinverbindliche erscheint so als Resultat von Reflexion, das Konsensuelle erscheint als Gegenstand exklusiver Unterweisung. Dieser Prozess verläuft – mit Karin Brem – von Konsenszwang zu Profilierung, von Konformität zu Autorität.115 Im hier behandelten Spruch erscheint die Unterweisungsgeste Walthers profiliert hin auf die Rolle des politischen Beraters. Entsprechend eignet dem in dieser Rolle vorgebrachten Sprichwort eine dichte politische und historische Referenzialisierbarkeit: Es bezieht sich sowohl auf historisch Vergangenes (die Taten der verstorbenen Könige) wie auf politisch Prospektiertes (Philipps und des Reiches Zukunft). Gerd Althoff hat in seinen Untersuchungen zur politischen Beratung im Mittelalter auf die Bedeutung des Apophthegmas hingewiesen, auf den gezielten und aggressiven Einsatz von Sinnsprüchen und Proverbien in Beratungen.116 Auch darin zeigt sich letztlich die Rolle des politischen Ratgebers, der aus historischen Ereignissen Konsequenzen zieht, die Zukunft und ihre Gestaltungsmöglichkeiten im Blick hat, seinen Fürsten angemessen beobachtet und sprachgewandt unterweist. Im Zusammenhang mittelhochdeutscher Sangspruchdichtung ist in der nachhaltigen Politisierung der Ratgeberrolle eine weitere Gattungsinnovation Walthers zu sehen. Gegenüber der Gattungstradition, die – wie etwa in den Herger/ Spervogel-Strophen – das Konsensfähige in sprichwortartiger Allgemeinheit wiederholt,117 fällt bei Walther eine ganz außergewöhnliche Ostentation des Ich ins Auge, der insbesondere von der Forschung des 19. Jahrhunderts mit einer Applikation anachronistischer Biographie- und Subjektivitäts-Modelle begegnet wur-

Auslegungstradition, wenn er als Aussagetendenz des Spruches eine „kritikfreudige, unterschwellig hämische Belehrung und zugleich sublimen Warnung des Staufers“ (ebd.) sieht. 115 Vgl. Grubmüller, „Die Regel als Kommentar. Zu einem Strukturmuster in der frühen Spruchdichtung“, in: Wolfram-Studien, 5/1979, S. 22–40; Karin Brem, „,Herger‘/,Spervogel‘: Die ältere Sangspruchdichtung im Spannungsfeld von Konsenszwang zur Profilierung, Konformität und Autorität“, in: Horst Brunner/Helmut Tervooren (Hrsg.), Neuere Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung, Berlin 2000, S. 10–37. 116 Gerd Althoff, „Die Bösen schrecken“, S. 43–45; vgl. zum Thema auch Ders., „Colloquium familiare – Colloquium secretum – Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des frühen Mittelalters“, in: Frühmittelalterliche Studien, 24/1990, S. 145–167. 117 Grubmüller, „Die Regel als Kommentar“; Brem „,Herger‘/,Spervogel‘“.

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de.118 Die jüngere Forschung hat solche Modelle kritisiert und ist stattdessen der Redevielfalt nachgegangen, die mit den Artikulationen dieses Ichs einhergeht, der neuen Pluralität verfügbarer Rollen und Typen.119 Walther tritt hervor in der Rolle des Panegyrikers, aber auch – moraldidaktisch, religiös oder politisch unterschiedlich dimensioniert – in jener des Unterweisenden, des Predigers und Vorbeters – in Walthers Inszenierung als Engelsbote vor dem Kaiser erscheint das Ich sogar als sakrales.120 Mit der für die deutsche Literatur neuen zeitgeschichtlichen Konkretisierung und Politisierung in Walthers Sangsprüchen ergeben sich weitere Möglichkeiten der Differenzierung der Ich-Entwürfe.121 Die Rollenvielfalt erscheint in sehr unterschiedlichen Sprechweisen, in verschiedenen Formen der Reflexion. Wenn Walther auch sicher kein kaiserlicher Geheimrat war, so hat er doch die Inszenierung als politischer Berater des Königs im Repertoire seiner Ich-Entwürfe genutzt.

V Gleicht man die Urteile untereinander ab, denen ein einzelner Text im Verlauf der Interpretationsgeschichte unterzogen wird, so zeigen sich die praktisch-politischen Rahmenbedingungen ihres Zustandekommens. Das Ergebnis eines solchen Abgleichs für L 19,17 ist zunächst negativ: Walther kann weder als Kaiserlicher Geheimrat noch als ästhetizistischer Klassiker und auch nicht als propagandistischer Protestsänger dingfest gemacht werden. Solche Zuschreibungen sind mit Blick auf die Praxis der Interpretation historisierbar. Dadurch tritt freilich ein Moment von Walthers Sangspruchlyrik deutlicher hervor: Walthers Rollenspiel, das virtuose Wechseln der Masken. Da wir nahezu alles, was wir über Walther wissen, seiner Lyrik entnehmen müssen, ist es keineswegs leicht, dieses Rollenspiel auf konkrete historische Rezeptionssituationen zu beziehen, wie die ältere Forschung es in unbekümmerten Urteilen unternahm. Eine in der Sangspruchdichtung neue, für Walther charakteristische Redevielfalt, die Pluralität verfügbarer

118 Symptomatisch etwa: Manfred Mundhenk, „Walthers Selbstbewußtsein“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 37/1963, S. 406–438. 119 Besonders Horst Wenzel, „Typus und Individualität. Zur literarischen Selbstdeutung Walthers von der Vogelweide“, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur, 8/1983, S. 1–34; Ders., „Melancholie und Inspiration. Walther von der Vogelweide L 8,4 ff. Zur Entwicklung eines europäischen Dichterbildes“, in: Mück (Hrsg.), Walther von der Vogelweide, S. 133–153. 120 Auf die Vielfalt der Rollen wies bereits Wilmanns/Michels, Walther von der Vogelweide, Bd. I, S. 298 f. hin; vgl. für die Gattung auch die Auflistung bei Tervooren, Sangspruchdichtung 2001, S. 55–57. Zuletzt erschien hierzu die Studie von Lauer, Ästhetik der Identität; vgl. dort auch den Forschungsabriss zur Rollenpluralität in der Gattung, S. 14–24. 121 Vgl. Müller, Untersuchungen, S. 342 f.  



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Rollen und Typen ist Gegenstand der jüngeren Forschungen zu Walther und zur Sangspruchdichtung. Solche Überlegungen richten sich gegen anachronistische Subjektivitätsmodelle, wie sie sich noch in den biographischen Einheitskonstrukten manifestierten. Nun – in solchen Resultaten einer forschungskritischen Bescheidung kommen freilich wieder Konzepte zum Tragen, die ihrerseits auf Übertragungen von Praktiken und Selbstverständnissen zu befragen wären. „Passen“ solche Interpretationen nicht wiederum nahtlos in eine Gegenwart, die sich als pluralistisch erfährt und in ihren soziologischen Selbstbeschreibungen (mit denen Philologen oft gut vertraut sind) diese Pluralität bis in die Fassung des Individuums selbst hineinverlagert? Dessen Identität wird als Exklusionsidentität beschrieben, als Rest gewissermaßen, der mit allen anderen eingenommenen Rollen und Funktionen inkompatibel ist.122 Zu solchen Selbstbeschreibungen gehören Theatermetaphern zudem ganz prominent dazu.123 Hat jede Zeit ihren eignen Walther? Die Sache ist komplizierter, denn zur Praxis der Interpretation gehört auch die Auseinandersetzung mit der Interpretationsgeschichte. Praxeologische Implikationen der Text-Interpretation erscheinen aufgrund dieses spezifischen Geschichtsbezugs nicht ungebrochen. Aber der Selbstbeobachtung des Interpreten sind diesbezüglich Grenzen gesetzt. Im akuten Vollzug der Interpretation bilden die praxeologischen Rahmenbedingungen gewissermaßen den blinden Fleck der Wahrnehmung. Erst über den historischen Beobachtungsabstand werden genauere Aussagen über die Praxis der Interpretation möglich. Für die Literaturwissenschaften bedeutet ein practice turn deshalb die Schärfung der Aufmerksamkeit für die praxeologischen Implikationen der Interpretationsgeschichte des je konkreten Textes.124

122 Aus der umfassenden Literatur zu Inklusions- und Exklusionsidentität erwähne ich nur: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1998, S. 618–634; Alois Hahn, „Theoretische Ansätze zu Inklusion und Exklusion“, in: Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch, 16/2002, 3, S. 67–88; Cornelia Bohn, Inklusion, Exklusion und die Person, Konstanz 2006 (Theorie und Methode, 28). 123 Vgl. u.a. Victor Turner, „Theaterspielen im Alltagsleben und Alltagsleben im Theater“, in: Ders.: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Aus dem Englischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M. 1995, S. 161–195; Erving Goffman, Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag. Aus dem Amerikanischen von Peter Weber-Schäfer. Vorwort von Ralf Dahrendorf, achte Aufl., München, Zürich 2010. 124 Ich habe jenen Studierenden der LMU München zu danken, die im Sommersemester 2010 Walthers ‚Philippschelte‘ mit mir diskutierten, ebenso allen, die bei Vorträgen meiner Überlegungen an den Universitäten Kiel und Regensburg kritisch nachfragten. Für kritische Hinweise und Rückfragen danke ich besonders Andrea Grafetstaetter, Beate Kellner, Holger Runow und Lothar Voetz.

Marcus Willand, Stuttgart

Isers impliziter Leser im praxeologischen Belastungstest Ein literaturwissenschaftliches Konzept zwischen Theorie und Methode I Fragestellung und Vorgehen Im folgenden Beitrag soll das 1972 von Wolfgang Iser in die Literaturwissenschaft eingeführte Modell des impliziten Lesers untersucht werden. Dabei wird insofern praxeologisch vorgegangen, als die interpretativ-praktischen Anwendungen dieses Lesermodells streng von theoretischen Bezugnahmen unterschieden werden. So kann ein sich auf zwei unabhängige Analysen stützender Vergleich der Funktionen und des Erkenntnispotentials des impliziten Lesers erreicht werden. Die Reflexion dieser Ergebnisse ermöglicht es dann, Aussagen über die Praktikabilität des Modells zu formulieren. Die dabei in einem ersten Schritt zu leistende Rekonstruktion des theoretischen Umgangs mit dem impliziten Leser besteht aus drei Teilen: der Darstellung bei Iser, der Aufnahme in der deutschen Literaturtheorie und der Kontrastierung mit dem Modell des impliziten Autors bei Wayne Booth. Die Rekonstruktion der praktischen Dimension des Konzepts beginnt ebenfalls bei Iser, der mit Der implizite Leser (1972) bereits vier Jahre vor der umfassenden theoretischen Ausarbeitung seines Ansatzes in Der Akt des Lesens eine Kompilation von Aufsätzen herausgab, die durch ihre Analysen englischsprachiger Romane von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zu Beckett das Modell des impliziten Lesers in praxi einführten. Anschließend soll untersucht werden, auf welche Weise das Konzept in der Interpretationspraxis anderer literaturwissenschaftlicher Arbeiten Anwendung fand. Wenngleich in Der implizite Leser noch vieles am theoretischen Fundament des gleichnamigen Lesermodells unklar bleibt, so macht Iser zumindest ex negativo eines deutlich: Das Modell beschreibt keine „Typologie möglicher Leser“1 und besitzt, wie Iser später konkretisiert, daher auch „keine reale Existenz“.2 Ebenso wenig ist es vollständig durch eine der explizit genannten oder zu erschließenden

1 Wolfgang Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972, S. 9. 2 Ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 60.

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Figuren, Stimmen im Text3 oder durch fiktionale Leser charakterisiert. Diese Form der negativen Definition wurde bereits an Booths Bestimmung des impliziten Autors moniert,4 von Tom Kindt und Hans-Harald Müller aber auch noch einmal explizit auf den impliziten Leser umgemünzt. Sie resümieren völlig richtig, dass durch Isers Vorgehen eine präzise Definition nahezu ausgeschlossen wird: „Iser considers the status and function of the implied reader in considerable detail, but his treatment of its definition is glaringly nondescript in comparison, being almost entirely restricted to ex negativo characterizations of the concept“.5 Die wenigen ‚positiven‘ Bestimmungsversuche finden sich gerade dann, wenn das Leser-Konzept als Teil der in ihrer Allgemeinheit recht unklaren „Struktur der Texte selbst“ verhandelt wird.6 Diese Minimaldefinition – der ‚Gewalt‘ nicht nur durch Iser, sondern ebenso durch seine Kritiker wie Eleven bis hin zur völligen terminologischen Aufweichung angetan wurde – lässt mindestens eine Gemeinsamkeit mit anderen Lesermodellen erkennen. Eine Beobachtung, die übrigens bereits Ansgar Nünning den Titel eines Aufsatzes zum impliziten Autor lieferte: „Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des ‚implied author‘“. Bemerkenswerterweise disqualifiziert Nünning darin dieses Autorkonzept zugunsten der Rede über die „Gesamtheit der strukturellen Merkmale eines Werks“,7 was der gerade genannten Minimalbestimmung des impliziten Lesers bei Iser auf frappante Weise ähnelt. Impliziter Autor und impliziter Leser scheinen demnach konzeptionell eng mit der Textstruktur verknüpft zu sein. Die angesprochene Gemeinsamkeit beider Instanzen geht aber darüber hinaus, da sie, wie Nünning andeutet, beide anthropomorphisierende Konstrukte sind. Weitere Beispiele solcher Konstrukte finden sich im näheren Umfeld Isers, den Leser- und

3 Ders., Der implizite Leser, S. 9. 4 Vgl. sehr knapp Thorsten Hoffmann/Daniela Langer, „Autor“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart 2007, S. 131–170, hier S. 134. 5 Tom Kindt/Hans-Harald Müller, The Implied Author. Concept and Controversy, Berlin 2006, S. 142. Die Autoren führen weiter aus: „Iser is primarily concerned with rebutting two understandings of the implied reader […]: the suggestion that it be explicated as a component of an intentionalistic theory of interpretation on the one hand, and attempts to characterize it with reference to the programme of historical semantics on the other. Iser […] has not […] explained exactly what he does mean by the implied reader“. 6 Iser, Akt des Lesens, S. 60. 7 Ansgar Nünning, „Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des ‚implied author‘“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 67/1993, S. 1–25, hier S. 1.

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Rezeptionstheorien, und verdeutlichen den Modus dieser Anthropomorphisierung: Michael Riffaterres deviationsstilistisch funktionalisierter Archileser etwa repräsentiert ein durchschnittliches Rezipientenwissen, das sich in der von ihm postulierten „Gemeinsamkeit der Reaktionen“ realer Leser ausdrückt.8 So ist es nicht mehr der reale Einzelleser, sondern die Summe der konvergierenden Textinterpretationen vieler Einzelleser – gewonnen aus unterschiedlichsten Rezeptionszeugnissen –, die ein Argument für sein Untersuchungsziel bildet: den Nachweis der Existenz eines ‚stilistischen Faktums‘.9 „Leser“ bezeichnet hier bloß noch ein probabilistisch eruiertes Modell, das auf der behavioristischen Prämisse funktionierender stimulus- und response-Schemata beruht. Ebenso ist das von William E. Tolhurst, aber auch von Peter J. Rabinowitz beschriebene auktoriale Publikum (authorial audience) eine theoretische Modellannahme, die der autorintentionalen Hermeneutik zur Absicherung der historischen Adäquatheit von Intentionszuschreibungen dient.10 „Publikum“ meint hier wieder nicht den ontologisch realen Leser, sondern ein theoretisches Lesermodell, das den angenommenen „autorintentional identifizierten Adressatenkreis“ repräsentiert.11 Gleiches gilt für Stanley Eugene Fishs Interpretationsgemeinschaft (interpretive community). Diese ist „not so much a group of individuals“,12 also keine reale Lesergruppe, sondern ein konzeptionelles Sammelbecken konventionalisierter interpretive strategies, die durch linguistische, soziale, psychologische usw. Parameter bestimmt werden.13 Es zeigt sich also, dass die Rede vom „Leser“ in literaturwissenschaftlichen Ansätzen nicht zwangsläufig auf eine reale Instanz referiert, sondern ebenso eine Vielzahl unterschiedlicher interpretationstheoretischer Prämissen ‚verkörpern‘ kann.14 Dabei ist die Modellierung dieser Prämissen zu einem Lesermodell nicht unbedingt dem interpretativen Vorhaben selbst geschuldet, sondern muss gleich-

8 Michael Riffaterre, Strukturale Stilistik, München 1973, S. 29. 9 Ebd. 10 Vgl. Peter J. Rabinowitz, „Truth in Fiction. A Reexamination of Audience“, in: Critical Inquiry, 4/1977, S. 121–141 und William E. Tolhurst, „On What A Text Is And How It Means“, in: The British Journal of Aesthetics, 19/1979, S. 3–14. 11 Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin, New York 2007, S. 129. 12 Stanley Eugene Fish, „Change“, in: Ders., Doing What Comes Naturally. Change, Rhetoric and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, Oxford 1989, S. 141–160, hier S. 141. 13 Ders., Is There a Text in This Class?, Cambridge (MA) [u.a.] 1980, S. 13 f. 14 Empirische Positionen der Rezeptionsforschung bilden solch eine Ausnahme. Vgl. auch Heiner Willenberg, Zur Psychologie literarischen Lesens. Wahrnehmung Sprache und Gefühle, Paderborn 1978, S. 7: „Die Rezeptionswissenschaft kalkuliert mit dem Leser – aber sie untersucht ihn nicht“.  

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sam als Darstellungs- und Vermittlungsprinzip verstanden werden. Hier lässt sich vor allem das sprachökonomische Prinzip der vereinfachenden Darstellung erkennen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um theoretische oder interpretierende Kontexte handelt. Es ist wohl schlicht weniger umständlich, könnte man beispielsweise Eco unterstellen, den Satz zu schreiben „Der Modell-Leser versteht X als Y“, anstelle von „Unter der Annahme der Möglichkeit eines historisch adäquaten und idealen Verstehens aller in einem Text chiffrierten sprachlichen und kulturellen Codes ist anzunehmen, dass X als Y zu verstehen ist“. Doch stellen sich prompt Zweifel ein, ob diese Form der ‚ökonomiegeleiteten‘ Anthropomorphisierung komplexe Literaturtheorien nicht unzulässig vereinfacht. Gerade in Bezug auf Eco ließe sich etwa fragen: Wäre es angesichts der Idealität seiner semiotisch fundierten Historisierung von Textbedeutungen nicht plausibler, von einer idealen „Kompetenz“ literarischen Verstehens und nicht von einem „Leser“ zu sprechen? Da die theoretische Einsetzung solch eines Lesers darüber hinaus trotz der einschränkenden Bedingung (als ‚idealer‘; ‚Modell-‘; ‚intendierter‘ usw. Leser) Gefahr läuft, als Rede von realen und nicht von idealen Lesern verstanden zu werden, muss geprüft werden, warum Literaturtheoretiker sich dieser Gefahr reihenweise aussetzen. Eine mögliche Antwort könnte das erwähnte Vermittlungsprinzip liefern. Da Isers impliziter Leser ebenfalls ein theoretisches Lesermodell ist,15 ist anzunehmen, dass es auch mit vergleichbaren Problemen behaftet ist. Um diese Probleme zu erkennen, soll das Konstrukt in seiner theoretischen und interpretationspraktischen Verwendung untersucht werden. Zwar nimmt im Folgenden die Rekonstruktion des Modells bei Iser den meisten Raum ein, der Verweis auf die Funktionalisierung des Konzepts durch andere Wissenschaftler darf aber nicht ausbleiben. Wo es sinnvoll ist, soll der Vergleich mit einer weiteren literaturwissenschaftlich ‚erfolgreichen‘ impliziten Instanz – dem impliziten Autor – zwischengeschaltet werden. Erweist sich dabei die Anthropomorphisierung des impliziten Lesers als deutlich komplexer und funktional differenzierter als beispielsweise bei Humpty Dumpty, ‚Gevatter Tod‘ oder K.I.T.T. aus Knight Rider, so lässt sie sich als Element literaturwissenschaftlicher Modellbildung rechtfertigen. Das muss jedoch ebenso geprüft werden wie die grundsätzliche Annahme, der implizite Leser könnte einige zentrale literaturwissenschaftliche Probleme zu lösen helfen.

15 Hier nicht weiter zu verfolgende Ähnlichkeiten zwischen den Leserkonzepten von Iser und Eco sind schon häufiger bemerkt worden, so etwa von Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin 2004, S. 30: „Ecos Terminus ‚Modell-Leser‘ dient, ohne direkten Bezug auf Iser, der Beschreibung des gleichen Phänomens“.

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II Der implizite Leser als Theorie Betrachtet man Isers Prämissen aus theoriegeschichtlicher Perspektive, so wird schnell deutlich, dass er große Teile seiner interaktionistischen Annahmen – und diese bestimmen laut Iser den Akt des Lesens – aus dem phänomenologischen Denken Roman Ingardens rekrutiert.16 Wie Peter V. Zima richtig aufzeigt, nimmt Ingarden jedoch noch eine diskursive Trennung zwischen phänomenologischer und psychologischer Rede vor, je nachdem ob er sich auf den Text oder auf den Leser bezieht.17 Iser amalgamiert nun diese beiden ursprünglich getrennten Diskurse in einen einzigen Theoriebau, der die zentralen Instanzen der literarischen Kommunikation unter einem Dach vereinen soll: Rezeption, Text und Produktion.18 Dabei muss er jedoch textphänomenologische und leserpsychologische Erklärungen vermengen. Für die folgende Rekonstruktion ist dabei relevant, dass der so tradierte Begriff der Konkretisation19 eine objektivistische Texttheorie im Sinne eines der Wahrnehmung vorgängigen und historisch unveränderlichen Objekts präsumiert. Dieses ermöglicht dann historisch variable Interpretationsansätze,20 woraus wiederum folgt: Einerseits ist die phänomenologisch betrachtete „Sache selbst so immer schon erfasste Sache“,21 also durch die Rezeption bestimmt; andererseits – und hier wird deutlich, warum Iser auch den Textproduzenten mitdenken möchte – ist der Text als Sache auch in den „schöpferischen Bewusstseinsakten seines Verfassers“ begründet. Beide Akte machen ihn zu einem intentionalen Objekt,22 das zwar abgeschlossen, aber abgeschlossen nur in seiner spezifischen Unbestimmtheit sein kann.

16 Dies erörtert ausführlicher u.a. Kenneth Chandler, „Dewey’s Phenomenology of Knowledge“, in: Philosophy Today, 21/1977, S. 43–55. 17 Peter V. Zima, Kritik der Literatursoziologie, Frankfurt a.M. 1978, S. 83. 18 Eben dies betont Iser zu jedem Zeitpunkt seiner akademischen Karriere, etwa noch 1992: „Der Verzicht auf eine Wesensbestimmung der Literatur schlägt in die Ausfaltung seiner Aspekte um. Daher rücken Produktion, Rezeption, Konstituiertsein und Kommunikationsfähigkeit, die mediale Beschaffenheit, die Verarbeitungsangebote, die Wirkungsmöglichkeiten sowie die in der Literatur zur Geltung kommenden anthropologischen Befunde in den Blick“ (Wolfgang Iser, Theorie der Literatur. Eine Zeitperspektive, Konstanz 1992, S. 9). 19 Zu Ingardens Konkretisation vgl. Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968 [1937], bes. S. 91–94 u. 312–344, und Ders., „Konkretisation und Rekonstruktion“, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 42–70. 20 Vgl. hierzu u.a. Hans Ulrich Gumbrecht, „Besprechung: Wolfgang Iser. Der Akt des Lesens“, in: Poetica, 9/1977, S. 522–534, hier S. 522. 21 Erwin Leibfried, Kritische Wissenschaft vom Text. Manipulation, Reflexion, transparente Poetologie, Stuttgart 1972, S. 72. 22 Ingarden, Vom Erkennen, S. 12. Diese Annahme ist seine 9. Grundbehauptung. Ingarden betont, dass die materielle Fixiertheit der Intention nicht als neue Schicht zu verstehen sei (wie es

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Wie Norbert Groeben und S. J. Schmidt richtig sehen, gibt es für Ingarden zwar keinen literarischen Text, der nicht von einem subjektiven Bewusstsein konkretisiert wurde, allerdings schließen sie zu Unrecht aus diesem Sachverhalt, dass „für Ingarden notwendig eine Hinwendung auf’s Subjekt“ hätte folgen müssen.23 Berücksichtigt man ihre empirisch ausgerichtete Perspektive, die den realen Leser ins Zentrum ihrer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rückt und seine Bedeutungszuschreibungen an den Text als einzig greifbare Form der Textbedeutung versteht, wird diese Kritik verständlich. Doch ist diese Perspektive nicht die Isers. Er bleibt dem realen Leser gegenüber völlig indifferent und versucht, sich dem „transzendentalen Charakter“ von Textstrukturen durch eine prozessuale bzw. interaktionale Beschreibung des Leseaktes im Allgemeinen anzunähern.24 So gibt er in dem Kapitel „Die Interaktion von Text und Leser“ (Der Akt des Lesens, S. 257–327) zwar kaum zu übersehende Hinweise, dass er sein Modell als interaktional verstanden wissen will,25 doch übergeht dies die literaturwissenschaftliche Kritik an Iser nahezu vollständig. Darauf werde ich in Teil III dieses Aufsatzes noch zu sprechen kommen. Im Gegensatz zu Jauß, für dessen Rezeptionsästhetik der Prozessbegriff eine „sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials“ bedeutet,26 betont Iser weniger historische Unterschiede als vielmehr transzendentale Gemeinsamkeiten literarischer Rezeption (die ich im Folgenden mit Hans Ulrich Gumbrecht „metahistorisch“

etwa Nicolai Hartmann vertrat), sondern lediglich das physische Fundament des Werkes bildet (vgl. ebd., S. 13). In Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel, Tübingen 1960 [1931], S. 7, untersuchte er einige Jahre zuvor die Seinsweise des literarischen Kunstwerks, das er als intentionalen Gegenstand bestimmte. Er fragt, ob es als real oder ideal zu begreifen sei und kommt zu dem Schluss, dass „in diesem ‚Entweder-Oder‘ keine Entscheidung zu treffen“ sei. Die dort besprochenen Funktionen der ‚gegenständlichen Schicht‘ beziehen sich nicht auf die Materialität des Textes, sondern auf die dargestellte Welt (S. 307–310). 23 Siegfried J. Schmidt, Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft. Zur Grundlegung einer rationalen Literaturwissenschaft, München 1975, S. 114, der sich auf Norbert Groeben, Literaturpsychologie. Literaturwissenschaft zwischen Hermeneutik und Empirie, Stuttgart [u.a.] 1972, S. 159 ff. stützt. 24 Iser,Akt des Lesens, S. 67. 25 Vgl. auch Ders., „The Interaction Between Text and Reader“, in: Inge Crosman/Susan R. Suleiman (Hrsg.), The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation, Princeton (N.J.) 1980, S. 106–119. 26 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, S. 186; vgl. hierzu die detaillierte Rekonstruktion rezeptionsgeschichtlicher Positionen durch Gunter E. Grimm, „Rezeptionsgeschichte. Prämissen und Möglichkeiten historischer Darstellungen“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2/1977, S. 144–186.  

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nennen werde27). Beide Konstanzer Ansätze präsupponieren aber, wie Gumbrecht richtig beobachtet, eine vergleichbare Texttheorie, die Iser zu formulieren unternimmt. Sie beruht auf der geteilten Annahme, dass „aus den verschiedenen Sinngebungen über jeweils identische[] Texte[] Rückschlüsse auf die Verschiedenheit des sozialen Wissens verschiedener Rezipientengruppen“ zu ziehen seien.28 Damit setzt die Iser’sche Texttheorie, so fährt Gumbrecht fort, „eine konstante Textstruktur als Vergleichshintergrund für die verschiedenen Konkretisationen […] zu einem Text“ voraus.29 Diese stabile Struktur wird von Iser nicht als creatio ex nihilo gedacht, sondern durch textgenetische Überlegungen an den Autor gebunden. Zwar verteidigt sich Iser gegen diesen „Vorwurf“,30 aber letztlich kann im Folgenden aufgezeigt werden, dass Iser Autor und Autorintention als wesentliche Elemente seiner Theorie funktionalisiert. Dabei soll über die in diesem Kontext sonst üblicherweise genannte Auseinandersetzung von Hannelore Link mit Iser hinausgegangen werden. Um die Position Isers so knapp wie möglich zusammenzufassen und um sie in seinem Sinn und in seinen Worten als ‚interaktionistisch‘ herauszustellen: Er möchte den impliziten Leser verstanden wissen als „Gesamtheit der Vororientierungen“ des Textes (Wie aber – so wäre zu fragen – kommt diese in den Text?), als das vom Text offerierte „Rollenangebot“ (Versteht Iser dieses Angebot als ‚objektiv‘ erfassbar?) und ebenso als „Übertragungsvorgang“ (Wie kann der Text etwas an den Leser weitergeben?).31 Um diese zentralen kommunikativen Elemente in und mit einer einzigen (Text‑)Theorie verträglich zu machen, führt er einen Werkbegriff ein, der über den Text insofern hinausgeht, als er dem interaktionistischen Charakter literarischer Wirkung gerecht werden soll: Das literarische Werk besitzt zwei Pole, die man den künstlerischen und den ästhetischen Pol nennen könnte, wobei der künstlerische den vom Autor geschaffenen Text und der ästhetische die vom Leser geleistete Konkretisation bezeichnet. Aus einer solchen Polarität folgt, daß das literarische Werk weder mit dem Text noch mit dessen Konkretisationen ausschließlich identisch ist. Denn das Werk ist mehr als der Text, da es erst in der Konkretisation sein Leben gewinnt, und diese wiederum ist nicht gänzlich frei von Dispositionen, die der Leser in sie einbringt, wenngleich solche Dispositionen nun zu den Bedingun-

27 Gumbrecht, „Besprechung: Wolfgang Iser. Der Akt des Lesens“, S. 522. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Vgl. hierzu Sabine Kuhangel, Der labyrinthische Text. Literarische Offenheit und die Rolle des Lesers, Wiesbaden 2003, S. 122. 31 In der o.g. Reihenfolge bei Iser, Akt des Lesens, S. 60, 64, 67. Dass Iser diese Chronologie der Elemente literarischer Kommunikation in der eigenen Textchronologie übernimmt, sieht schon Gumbrecht, Besprechung, S. 524, wenn er von den „sukzessiven Bestimmungen [des] Begriffs“ des impliziten Lesers spricht.

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gen des Textes aktiviert werden. Dort also, wo Text und Leser zur Konvergenz gelangen, liegt der Ort des literarischen Werks, und dieser hat zwangsläufig einen virtuellen Charakter, da er weder auf die Realität des Textes noch auf die den Leser kennzeichnenden Dispositionen reduziert werden kann.32

Die drei für die literarische Wirkung als relevant erachteten Merkmale zur Bestimmung eines rezeptionsästhetischen Werkbegriffs – künstlerischer (Autor‑)Pol auf der Produktionsseite des Werks → das Werk selbst → ästhetischer (Leser‑)Pol auf der Rezeptionsseite des Werks –, kurz Autor, Text und Leser, werden von Iser jedoch nicht nur für die Beschreibung des literarischen Werks, sondern auch für die Ausführung des im Werk verorteten impliziten Lesers installiert. Während die Textbasiertheit des impliziten Lesers und seine Abhängigkeit von der Konkretisation durch den realen Leser inzwischen mehr oder weniger zur konsensfähigen ‚Interpretation‘ des Iser’schen Modells gehören, soll an dieser Stelle verstärkt auf die meist übersehenen intentionalen Aspekte eingegangen werden, die Link, wie schon erwähnt, hervorhebt. Diese hatte in ihrer zeitgleich mit Isers Akt erschienenen Monographie Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme ein sehr stark intentionalistisches Verständnis des impliziten Lesers vertreten.33 Es beruht größtenteils auf einer Annäherung an Hirschs Sinnbegriff („meaning“), den sie als das definiert, „was der Autor durch Verwendung bestimmter sprachlicher Symbole ausdrücken wollte“.34 Für Link – die sich damit als Vertreterin einer Variante des faktischen Intentionalismus zu erkennen gibt – gilt dieser Sinn als reproduzierbar.35 Läuft dieses Unternehmen für einen Leser erfolgreich ab, spricht Link von

32 Wolfgang Iser, „Der Lesevorgang“, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 253–277, hier S. 253. 33 Diese Position macht sie bereits in ihrer früheren Iser-Besprechung deutlich, vgl. Hannelore Link, „‚Die Appellstruktur der Texte‘ und ein ‚Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft‘?“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 17/1973, S. 532–583. 34 Hannelore Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart [u.a.] 1976, S. 154. Sie zitiert hier Eric Donald Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972, S. 311. 35 Zu dieser Kategorie vgl. Carlos Spoerhase, „Hypothetischer Intentionalismus. Rekonstruktion und Kritik“, in: Journal of Literary Theory, 1/2007, S. 81–110, hier S. 82: „Die Position des extremen faktischen Intentionalismus vertritt mit der Identitätsthese den Standpunkt, die vom Autor intendierte und die im Werk realisierte Bedeutung seien schon aus begrifflichen Gründen identisch.“ Link geht darüber hinaus noch davon aus, dass die im Werk realisierten Intentionen von einem realen Leser auch noch korrekt ‚ausgelesen‘ werden können.

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einer „adäquate[n] Konkretisation im engeren Sinne“.36 Jedoch zeigte sich Iser mit dieser Auslegung seiner Theorie keinesfalls einverstanden. Er repliziert, Link vereindeutige sein Konzept der Unbestimmtheit fälschlicherweise intentional als „die vom Autor gesetzte Unentschlüsselbarkeit“.37 Ganz unberechtigt ist Links Lesart aber nicht.38 Nicht nur, weil sie sich auf Isers Konstanzer Antrittsvorlesung bezieht, in der er mit „Appell“ und „Appellstruktur“ zwei Begriffe eingeführt hatte, die leicht intentionalistisch verstanden werden können, vielleicht sogar verstanden werden müssen; des Weiteren bezeichnet Iser den literarischen ‚Text‘39 ohne Unterlass als ‚komponiert‘ und ‚schematisiert‘ und gesteht dem Autor durchaus einen aktiven und bewussten Umgang mit Leerstellen zu, etwa wenn dieser sie zu beseitigen intendiert40 oder sie, wie es Charles Dickens zugeschrieben wird, als bestimmte Schnitttechnik einsetzt. Besonders deutlich wird die Autorintention als Element kommunikativer Interaktion hervorgehoben, wenn in Der Akt des Lesens der an phänomenologischen Ansätzen der Psychologie interessierte Carl Friedrich Graumann von Iser zitiert wird: [D]enn so, wie der Künstler sich in seiner Darstellung nach dem Blickpunkt des Betrachters richtet, so findet sich der Betrachter durch eben diese Darstellungsweise auf eine bestimmte Ansicht verwiesen, die ihn – mehr oder weniger – anhält, den ihr allein korrespondierenden Blickpunkt aufzusuchen.41

Die meisten der Iser’schen Begriffe wie „Textstruktur“, „Unbestimmtheitsstellen“ und auch „impliziter Leser“ sind vor diesem Hintergrund kaum noch als rein textbezogen zu verstehen. Iser konstruiert sie, seinen expliziten Ressentiments

36 Link, Rezeptionsforschung, S. 142. Ihren Autorbezug ‚tarnt‘ Link zumindest teilweise, wenn sie für die adäquate Konkretisation schreibt, dass der „spätere[] Leser“ die „eigene ästhetische Norm […] mindestens zeitweilig supendier[en]“ muss, um den Text nach der Norm zu lesen, „an der der Autor sich orientierte“. 37 Wolfgang Iser, „Im Lichte der Kritik“, in: Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, S. 325–342, hier S. 335. 38 Das sehen so auch Rainer Dillmann/Massimo Grilli/César Mira Paz, Vom Text zum Leser. Theorie und Praxis einer handlungsorientierten Bibelauslegung, Stuttgart 2002. 39 Seine Werktheorie hat er wohl später erst ausdifferenziert. 40 Wie in Wolfgang Iser, „Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa“, in: Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, S. 228–252, hier S. 238. Ich zitiere hier den Wiederabdruck des Originals (Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970). 41 Carl Friedrich Graumann, Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität, Berlin 1960, S. 14 und Iser, Akt des Lesens, S. 66.

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gegen intentionalistische Positionen zum Trotze, in Abhängigkeit von einer die Textmerkmale und ihre Funktionen intendierenden Autorinstanz, die aber nicht als implizit, sondern als real zu gelten hat. Neben den im Text materiell gegebenen Textmerkmalen sind in besonderem Maße auch Leer- bzw. Unbestimmtheitsstellen relevant. Sie stehen zwischen einzelnen Textsegmenten wie Figurenreden, Perspektiven, Stimmen, Kommentare usw. und sind mitkonstitutiv für den impliziten Leser, wenngleich sie keine materielle Entsprechung im Text haben.42 Die kognitive Verbindung zwischen den Segmenten herzustellen, etwa um einen Fortschritt im Plot oder die moralische Positionierung einer Figur zu erkennen, liegt im Aufgabenbereich des realen Lesers. Dabei leitet ihn aber der Text an. Iser spricht von „Leserlenkung“.43 Auch hier scheinen autorintentionale Aspekte eine nicht unwichtige Rolle zu spielen. Dafür lassen sich zwei Argumente heranziehen: Das erste ergibt sich aus der Beobachtung der praktischen Interpretation Isers. Dieser zieht beispielsweise für die Rekonstruktion der Leserrolle in Fieldings Joseph Andrews nichtfiktionale Texte des Autors heran, um – wie schon bei Dickens – etwas über die „von ihm verfolgte Intention“ zu erfahren.44 Das zweite Argument ergibt sich aus einer theoretischen Bestimmung der Funktion von Unbestimmtheitsstellen: „Als Umschaltstelle funktioniert Unbestimmtheit insofern, als sie Vorstellungen des Lesers zum Mitvollzug der im Text angelegten Intention aktiviert. Das aber heißt: Sie wird zur Basis einer Textstruktur, in der der Leser immer schon mitgedacht ist.“45 Die Instanz nun, die dem Text seine Struktur gibt, ist, wie oben festgestellt, der reale Autor. Folgt man dem so plausibilisierten Verständnis von Unbestimmtheitsstellen als auch intentionalen Textelementen, rückt dies den impliziten Leser als Behelfskonstruktion für deren Auffüllung im Sinne der Textintention in die Nähe des idealen oder intendierten Lesers.46 Wie sich diese Lesermodelle tatsächlich zum impliziten Leser verhalten, lässt Iser offen. Diesen Zustand monierte bereits

42 In Iser, Die Appellstruktur, spricht er noch etwas undifferenziert von „schematisierten Ansichten“. Erst in Der Akt des Lesens nennt er das damit Bezeichnete dann „Segmente“. 43 Vgl. u.a. Ders., Akt des Lesens, S. 163, 173, 229, 296, 314, u.a. 44 Ders., Der implizite Leser, S. 71. 45 Ders., Die Appellstruktur, S. 248. Im gleichen Text, bes. S. 236–238, vertritt Iser ebenso ein wesentlich offeneres Leerstellenkonzept, in dem etwa auch die ‚verordneten Pausen‘ zwischen zwei Teilen eines Fortsetzungsromans als Leerstelle gelten. 46 Zur Geschichte und historischen Spielarten des intendierten Lesers vgl. Erwin Wolff, „Der intendierte Leser. Überlegungen und Beispiele zur Einführung eines literaturwissenschaftlichen Begriffs“, in: Poetica, 4/1971, S. 14–166. Wenngleich auch hier konzeptionelle Unklarheiten vorhanden sind, so muss ihm gerade vor dem Hintergrund des impliziten Lesers hoch angerechnet werden, dass er den Einfluss des Modells auf die „Form und Thematik des literarischen Werks“ (S. 166) beschränkt.

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Gerald Prince: „[T]he implied reader could even be considered a kind of equivalent to authorial intention and textual meaning or to a set of preferred (Iserian) interpretations“.47 Geht man also davon aus, dass der implizite Leser nicht nur Textstruktur, Leerstellen, Figuren usw., sondern auch den intendierten Leser als idealen Leser (oder Modell-Leser) miteinander vermählt, dann wird die von Iser formulierte Voraussetzung an sein Textmodell verständlich, nämlich dass „dem Verfaßtsein der Texte Aktualisierungsbedingungen eingezeichnet sein müssen“; es sind diese Bedingungen des Werks bzw. an ein Werk, „die es erlauben, den Sinn des Textes im Rezeptionsbewußtsein des Empfängers zu konstituieren.“48 Die Textbedingungen einer klassischen (Darstellungs‑)Ästhetik, die u.a. Gerhard Kaiser vertreten hatte und die sich durch eine Text-Wirklichkeit-Relation beschreiben lassen, werden durch diese rezeptionsästhetische Text-KonkretisationRelation völlig ausgehebelt.49 Der Text ist daher für Iser nicht mehr bloß Trägermedium einer irgendwie in ihm enthaltenen Bedeutung, sondern ebenso reaktionsauslösender Reiz. Um an die von Iser bemühte Raummetapher anzuschließen: Der literarische Text ist „Hohlform“ für Bedeutungszuschreibungen, nicht Container der Bedeutung selbst.50 Betrachtet man nun Isers interpretative Praxis aus Der implizite Leser, in der er keine zu bestimmten historischen Zeitpunkten realiter geleisteten, also faktischen Bedeutungszuschreibungen an literarische Texte analysiert, sondern ‚bloß‘ historisch mögliche Rezeptionen im Modus der Hypothese idealiter modelliert, stellt sich die Frage, wie er über die impliziten Leser dieser Texte dem Anspruch gerecht zu werden vermag, historisch adäquat zu interpretieren. Denn die Hohlform dieser Texte macht deren implizite Leser natürlich immer gleichzeitig abhängig von Konkretisationen durch reale Leser. Theoretisch werden diese dabei ‚gelenkt‘ durch den impliziten Leser, „durch den die Aktualisierungsbedingungen des Textes bezeichnet sind, die von den Lesern in jeweils unterschiedlicher Form konstituiert werden.“51 Konkrete Hinweise aber werden nicht genannt, wie man sich eine präzise Gewichtung des Verhältnisses von Leerstelle und Konkretisation, von Text und Leser bzw. „Textstruktur und Aktstruktur“ vorzustellen hat, wobei sich gerade die zuletzt genannten Konstrukte nach Iser

47 Gerald Prince, „Reader“, in: Peter Hühn [u.a.] (Hrsg.), Handbook of Narratology, Berlin 2009, S. 398–410, hier S. 402; neben Link geht auch Kuhangel, Der labyrinthische Text, S. 121–124, von einem Verständnis des impliziten Lesers in diesem Sinne aus. 48 Iser, Akt des Lesens, S. 61. 49 In Ders., Kritik, bes. S. 325 f., geht er auf Einwände Kaisers ein, die letztlich auf einem darstellungsästhetischen Textmodell basieren. 50 Ders., Akt des Lesens, S. 61. 51 Ders., Leser, S. 336.  

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„zueinander wie Intention und Erfüllung“ verhalten.52 Festzuhalten bleibt, dass Iser trotz seines Vorhabens, Rezeption und Leserlenkung aus dem Text selbst heraus zu erklären, Funktionszuschreibungen an den realen Autor53 und den realen Leser nicht vermeiden kann. Dies ist u.a. dann der Fall, wenn er die „habituellen Dispositionen“ oder die Spannung beschreibt, „die der wirkliche Leser erzeugt, wenn er sich auf die [vom Text angebotene] Rolle einläßt“.54 Warum er aber tatsächliche Konkretisationen dieser Funktionen – Zeugnisse wie Interpretationen, Rezeptionen usw. – für seine historischen Analysen nicht heranzieht, bleibt offen. Die empirische Leserforschung konnte jedenfalls mit Groeben und Schmidt teilweise seit Beginn,55 spätestens aber seit Mitte der 1970er Jahre als theoretisch hervorragend fundierte Anschlussoption für rezeptionsaffine Arbeiten gelten und hätte Isers praktische Umsetzungsversuche des impliziten Lesers empirisch ‚erden‘ können. Klaus Hempfers Studien zur Orlando-FuriosoRezeption von 1987 sind gewissermaßen genau an dieser Nahtstelle zu verorten und können als vorbildliche Vermählung von theoretischer und empirischer Rezeptionsforschung gelten.56 Stattdessen bleibt Isers Ansatz aber – gewollt – hermeneutische Hypothese, da Iser aus dem Text heraus „Rückschlüsse auf die Verschiedenheit des sozialen Wissens verschiedener Rezipientengruppen“ ziehen möchte.57 Das dafür veranschlagte Wissen übernimmt Iser allerdings aus seinem ganz subjektiven Fundus allgemein- und literaturhistorischer Kenntnisse. Demnach funktionalisiert Iser die theoretische Instanz des impliziten Lesers, um

52 Ders., Akt des Lesens, S. 63. Eine ähnliche Kritik am impliziten Autor findet sich bei Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Der implizite Autor. Zur Karriere und Kritik eines Begriffs zwischen Narratologie und Interpretationstheorie“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 48/2006, S. 163–190, hier S. 168. Sie schreiben, dass Booth aus einem ganz bestimmten Grund gar nicht erst angibt, „wie aus einem literarischen Text dessen impliziter Autor zu ermitteln ist“. Der von ihnen angenommene Grund ist, dass das implizite Autormodell laut Booth „seine eigene Konstruktion selbst eindeutig anleite“. 53 Iser, Die Appellstruktur, bes. S. 238–241, hier S. 240: „Gesetzt den Fall, ein Autor möchte durch seine Situationsbemerkung [als Kommentar im fiktionalen Text] nicht nur den Spielraum der Leserreaktionen kontrollieren, sondern die Reaktionen selbst eindeutig machen“. 54 Ders., Akt des Lesens, S. 64 f. 55 Vgl. Groeben, Literaturpsychologie; Ders., Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft. Paradigma- durch Methodendiskussion an Untersuchungsbeispielen, Kronberg (Ts.) 1977; Siegfried J. Schmidt, Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Teilband 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur, Frankfurt a.M. 1980; Ders., Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Teilband 2: Zur Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Fragestellungen in einer Empirischen Theorie der Literatur, Braunschweig [u.a.] 1982. 56 Klaus W. Hempfer, Diskrepante Lektüren: Die Orlando-Furioso-Rezeption im Cinquecento. Historische Rezeptionsforschung als Heuristik der Interpretation, Stuttgart 1987. 57 Gumbrecht, „Besprechung: Wolfgang Iser. Der Akt des Lesens“, S. 522.  

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angenommenen realen Lesern eine bestimmte Reaktion bzw. ein Wirkungsverhalten zuzuschreiben, wie Iser selbst es für historisch angemessen hält. Diese aus dem Text erschlossene Wirkung verwendet der Konstanzer in einer Art Diallele dann wiederum als Argument, um die spezifische Textkonstitution zu erklären. Interaktionistisch ist diese Praxis also vorwiegend bezüglich der Interaktion von Iser und dem jeweiligen literarischen Text. Seine frühen literargeschichtlichen Arbeiten aus Der implizite Leser müssen von dem Hintergrund des später theoretisch ausgeleuchteten phänomenologischen Rezeptionsbezugs als Gattungsgeschichte verstanden werden, die zwar eine interpretatorische Anwendung der wirkungsästhetischen Theorie auf einen literarischen Gegenstand ist, jedoch kein inhaltliches Argument für die Theorie selbst bereithält.58 Die dabei entwickelte These – eine Zunahme von Unbestimmtheitsstellen durch die „Schnitt-, Montage- oder Segmentiertechnik“ moderner Romane – wurde bereits durch eine andere Studie als zumindest problematisch herausgestellt: „Durch Betrachtung formaler und inhaltlicher Aspekte konnte gezeigt werden, dass Montagetechnik, die häufig zu einem hohen Maß an Offenheit führt, ins Extrem getrieben das genaue Gegenteil, i.e. ein hohes Maß an Geschlossenheit bewirken kann“.59 Isers Form der historisierenden Literaturwissenschaft, die nicht vom Kontext auf den Text, sondern vom Text auf den Kontext schließt, resultiert aus seiner stark ästhetischen Fokussierung des literarischen Textes, die letztlich auch auf den impliziten Leser und seine Funktionen für die Interpretation ausstrahlt. Sichtbar wird sie u.a. durch die metahistorische Präsumtion, der Leser müsse bloß „die gleichen, durch die Leerstellen vorgezeichneten Umbesetzungen im Feld des Leserblickpunkts mit vollziehen und [könne] so die historische Situation wiedergewinnen, auf die sich der Text bezog bzw. auf die er antwortete.“60 Nach Iser rückt also „das Konzept des impliziten Lesers die Wirkungsstrukturen des Textes in den Blick, durch die der Empfänger zum Text situiert und mit diesem durch die von ihm ausgelösten Erfassungsakte verbunden wird.“61 Man muss den impliziten Leser demnach als wirkungsinitiierende Struktur des Textes verstehen, um

58 Hierzu mehr im praktischen Teil dieses Beitrags. Darüber hinaus kann die Frage gestellt werden, ob Isers wirkungsästhetischer Beitrag zur Gattungsgeschichte überhaupt von gattungsgeschichtlicher Relevanz ist. Immerhin ist die einzige Leseraktivität, die Iser tatsächlich untersucht, seine eigene, und da er noch nicht einmal ein Dutzend Texte aus ca. 300 Jahren anglophoner Literaturgeschichte bespricht, ist an anderer Stelle grundsätzlich noch einmal zu überprüfen, ob die von ihm postulierte Anschauungsvielfalt der Gattung „Roman“ eine reale Entsprechung in den Romanen selbst hat. 59 Kuhangel, Der labyrinthische Text, S. 261. 60 Iser,Akt des Lesens, S. 319. 61 Ebd., S. 61.

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sein Verhältnis zum realen Leser erklären zu können. Dieses Verhältnis wird als das einer Ursache-Wirkungs-Relation verstanden, in der die Erfassungsakte des realen Lesers durch den textbasierten impliziten Leser bewirkt werden. Bedeutung wird dabei zum Ereignis. Dieser Gedanke ermöglicht es Iser dann, über Wirkungsgeschichte zu sprechen, ohne reale Erfassungsakte zu untersuchen. Sein in diesem Verständnis ent-ontologisiertes Modell der Historisierung literarischer Textbedeutung basiert im Wesentlichen auf einer Amalgamierung interpretativ gewonnener Ergebnisse aus der individuellen Textlektüre und nicht weniger individuell angeeignetem Wissen über historische Rezeptionsbedingungen. Dieses Urteil über Isers eigentümlich starke Textfokussierung, die für eine Wirkungsästhetik einigermaßen überraschend ist, kann anhand von zwei weiteren Instanzen bestätigt werden, die als theoretische Begriffsvarianten des impliziten Lesers fungieren: die ‚Leserrolle‘ und die ‚Leserfiktion‘. Beides sind von Iser lediglich unterschiedlich perspektivierte Beschreibungsbegriffe eines dem impliziten Leser sehr ähnlichen Phänomens, wobei die Leserrolle stärker aus Sicht des rezipierenden Lesers und die Leserfiktion stärker aus Sicht des appellierenden Autors gedacht wird. Was diese Begriffe beschreiben bzw. beschreibbar machen sollen, sind interpretative Verstehensangebote. Ihre Reichweiten unterscheiden sich darin, dass die Leserrolle das „Zusammenspiel der Perspektiven“ des Textes beschreibt, die der Leser beim Lesen einnehmen kann.62 Darüber hinaus verwendet Iser den Begriff „Leserrolle“ synonym mit „impliziter Leser“.63 Mögliche Perspektiven, aus denen sich beide Konstrukte zusammensetzen, sind u.a. die einzelner Figuren, des Erzählers, des expliziten oder nicht-expliziten fiktiven Lesers oder eben die der Leserfiktion. Die Leserfiktion kann daher auch „immer nur ein Aspekt der Leserrolle sein“.64 Sie ist aber für die Frage der Historisierung insofern interessant, als sie „im Text durch ein bestimmtes Signalrepertoire markiert“ ist und bei Iser stark mit dem intendierten Leser verknüpft wird.65 „In jedem Falle aber“, so schreibt er, „erlaubt es die jeweils ausmachbare Leserfiktion, das Publikum zu rekonstruieren, das der Autor erreichen oder ansprechen wollte“.66 In anderen Worten wird die Drastik dieser oben schon einmal ausbuchstabierten Annahme deutlicher: Iser geht davon aus, dass sich auf Grund-

62 Ebd., S. 60. 63 Ebd., S. 66: „Das Konzept des impliziten Lesers […] meint die im Text ausmachbare Leserrolle“. 64 Ebd., S. 60. 65 Ebd., S. 59. Siehe hierzu auch S. 62: „Denn durch die Leserfiktion setzt der Autor einen angenommen Leser der Welt des Textes aus“ und „[z]eigt sich in der Leserfiktion das Bild des Lesers, das dem Autor vorschwebte […]“. 66 Ebd., S. 59.

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lage einer interpretativ aus der Textstruktur zu rekonstruierenden Perspektive Aussagen über die realen Leser formulieren lassen, für die zu schreiben der Autor intendierte. So wird nicht nur die Möglichkeit des Zugriffs auf faktische Autorintentionen, sondern auch die Möglichkeit einer adäquaten Historisierung des Textes behauptet. Beides wohlgemerkt auf Basis des literarischen Textes und seiner als „impliziter Leser“ bezeichneten rezeptionsperspektivierenden Struktur. Mit welchen Wissensbeständen über den historischen Kontext, über den Autor, historische Gattungsfunktionen, ‑regeln und ‑umgangsweisen der Text dafür verknüpft werden muss, wird von Iser nicht dargestellt.67 Für die bis hierhin geleistete Rekonstruktion des impliziten Lesers, wie ihn Iser in seinen theoretischen Darstellungen konstruiert, können folgende Beobachtungen festgehalten werden, die sich zu einem insgesamt sehr umfangreichen, prima facie aber nicht gerade sehr homogenen bzw. konsistenten Funktionskatalog zusammenfassen lassen. Dieser erste Eindruck ist sicherlich bedingt durch den komplexen interaktionistisch-phänomenologischen Theoriebau, in den der implizite Leser implementiert wird. Für diesen Theoriebau ist, wie am Ende dieses Beitrags noch einmal betont werden wird, der fachgeschichtliche Kontext zu berücksichtigen, in den sich Iser mit seinem Ansatz einschreibt. Innerhalb dieses Kontextes ist die Stoßrichtung der Wirkungsästhetik – als Alternative zu Hermeneutik und Werkimmanenz – zwar fast ausnahmslos positiv zu beurteilen, für die funktionale Einschätzung des Konzepts im Rahmen der aktuellen Theoriedebatte darf die historische Innovation des Interaktionalen aber keine Rolle mehr spielen. Der damals innovative Charakter äußert sich etwa in einer starken Konfusion darüber, welchen epistemischen Problemen sich Iser eigentlich widme. Stanley Fish formuliert dies als Vorwurf: „Iser’s theory […] is now not only an aesthetic, an ontology, and a history, but a psychology and an epistemology as well“.68 Ange-

67 Schematisch werden diese Kontextualisierungen durch die Begriffe „Repertoire“ und „Strategie“ beschrieben. „Mit dem ‚Repertoire‘ werden dabei die selektierten lebensweltlichen Normen anvisiert, […] während mit der ‚Strategie‘ die Anordnung dieser Normen im Text selbst gemeint ist“ (Richard Egger, Der Leser im Dilemma. Die Leserrolle in Max Frischs Romanen „Stiller“, „Homo faber“ und „Mein Name sei Gantenbein“, Bern 1986, S. 23. Vgl. hierzu auch Iser, Akt des Lesens, S. 132–145). 68 Stanley Eugene Fish, „Why No One’s Afraid of Wolfgang Iser“, in: Diacritics, 11/1981, S. 2–13, hier S. 6. Er führt die Kritik weiter aus: „Indeed the range of problems that Iser apparently solves is remarkable; but even more remarkable is the fact that he achieves his solutions without sacrificing any of the interests that might be urged by one or another of the traditional theoretical positions. His theory is mounted on behalf of the reader, but it honors the intentions of the authors; the aesthetic object is constructed in time, but the blueprint for its construction is spatially embodied; each realization of the blueprint is historical and unique; but it itself is given once and for all; literature is freed from the tyranny of referential meaning, but nevertheless

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sichts dieser theoretischen Gemengelage wird deutlich, warum die wohl umfangreichste, von Iser aber nicht explizierte Funktion den Theoriebau selbst betrifft. Sie besteht darin, produktionsästhetische, textästhetische und rezeptionsästhetische Theoriebestandteile zu amalgamieren. Weitere Funktionen übernimmt der implizite Leser bezüglich der (literaturwissenschaftlichen) Rekonstruktion: − der Erzähl(er)haltung, Figurendarstellung, ‑funktionalisierung, ‑fokalisierung und ‑konstellation und ihrer i.d.R. sehr komplexen Relation, die als ‚perspektivische Darstellungsweise‘ des Textes bezeichnet wird; − des Plots, des Modus seiner Darstellung anhand der o.g. Instanzen und der daraus resultierenden, für den realen Leser einzunehmenden Rolle, die jedoch immer als insuffizientes Derivat der idealen Leserrolle verstanden werden muss; − des Autorpols, also der Autorintention, die sich als ‚Vororientierung‘ des Textes äußert; − des Textpols, also der ‚Textstruktur‘ inklusive der die Textsegmente verknüpfenden Leerstellen, sowohl hinsichtlich ihres (zumindest teilweise als autorintentional verstandenen) Vorhandenseins als auch ihrer gelenkten Auffüllung durch den Leser; − des Leserpols, also des ‚Übertragungsvorgangs‘ von Text zu Leser, der als ‚gerichtete‘, d.h. nicht zufällige Konkretisation der autor-„intentionale[n] Lesestruktur“ verstanden werden muss;69 − der oben dargestellten textgeleiteten Form der Historisierung literarischer Wirkung. Keine Funktion hingegen übernimmt der implizite Leser bezüglich des impliziten Autors. Diesen versteht Iser wohl lediglich als Bild des realen Autors, wie es der Leser (aufgrund des Textes) generiert.70 Damit ist dann auch schon ein wichtiger Hinweis genannt, den Wolf Schmid wiederholt verdeutlicht hat. Der implizite Autor ist seit jeher zumindest auch zu verstehen als „ein vom konkreten Leser

contains a meaning in the directions that trigger the reader’s activities; those activities are determined by a reader’s ‚stock of experience‘ […], but in the course of their unfolding, that stock is transformed. The theory, in short, has something for everyone, and denies legitimacy to no one“. 69 Vgl. hierzu Victor Lange, „Das Interesse am Leser“, in: Walter Müller-Seidel (Hrsg.), Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, München 1974, S. 31–46, hier S. 34, und Link, Rezeptionsforschung, S. 42. 70 Dieses vor allem, aber auch fast ausschließlich narratologisch plausible Verständnis des impliziten Autors deutet Iser bloß an, ohne es zu explizieren: „Die Erzählerperspektive spaltet sich oft in das Widerspiel von Autor (implied author) und Erzählerfigur (author as narrator)“ (Iser, Akt des Lesens, S. 304).

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gebildetes Rekonstrukt des konkreten Autors“; trotz der „verführerische[n] Symmetrie“ darf der implizite Leser nun aber nicht als das „vom konkreten Autor vorgestellte Bild des konkreten Lesers“ gedacht werden.71 Dennoch geht die Vorstellung des Autors in Form einzelner Elemente wie der Verteilung von Leerstellen und dem intendierten Leser offensichtlich in die Konstruktion des impliziten Lesermodells mit ein. Zurecht hat Jens Bonnemann darauf verwiesen, dass Leerstellen in diesem Sinne keine Öffnung von Auslegungsspielräumen, sondern eine Restriktion der interpretativen Möglichkeiten bedeuten: „Der Schwerpunkt liegt nicht auf der Offenheit des Textes, sondern ganz im Gegenteil viel eher auf dessen emanzipatorischer Wirkung, insofern der Leser sich einer Korrektur seiner bisherigen Überzeugungen […] unterziehen soll.“72 Dass in meiner obigen Argumentation die Betonung der intentionalen Aspekte des impliziten Lesers im Zentrum stand, hängt wiederum mit der Rezeption des impliziten Autors zusammen. Ihren umfassenden Forschungsüberblick zum impliziten Autor schließen Kindt/Müller mit folgender Beobachtung: The resultant analysis suggests that explicating the implied author as a participant in communication would not be sensible but that explicating it as an entity to which the meaning of a text is attributed could well be. More precisely, this means explicating it as the hypothetical or postulated author in the conceptual context of hypothetical intentionalism. This explication […] entails narrowing the meaning of the established implied author concept so specifically that it seems inappropriate to continue using the expression ‚implied author‘ for the result.73

Betrachtet man das Konzept des impliziten Autors – wie es die Verfasser offensichtlich selbst machen – ausschließlich aus der Perspektive des hypothetischen Intentionalismus als eine vom Leser geleistete Zuschreibung, so ist ihr Einwand völlig berechtigt. Wie aber Iser dem impliziten Leser auch autorintentionale Anteile zuschreibt, so schreibt ebenfalls Booth dem impliziten Autor diese Elemente zu. Dem Blick des hypothetischen Intentionalisten entgehen diese, da er sich selbst in der Position des hypothetische Zuschreibungen machenden (realen) Lesers verortet. Alles, was er sagen kann, muss Hypothese bleiben. Verortet sich der Literaturwissenschaftler aber außerhalb der literarischen Kommunikationssituation und betrachtet er seine Aufgabe als die Rekonstruktion dieser Kommunikation, wie es sich etwa für historisierende Ansätze bewährt hat,74 die sich auf ein ‚Hineinver-

71 Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin [u.a.] 2005, S. 65. 72 Jens Bonnemann, Die wirkungsästhetische Interaktion zwischen Text und Leser. Wolfgang Isers impliziter Leser im Herzmaere Konrads von Würzburg, Frankfurt a.M. 2008, S. 93. 73 Kindt/Müller, The Implied Author, S. 181. 74 Klaus Hempfer etwa geht von diesem Modell des Literaturwissenschaftlers als „Analysator“ aus (Klaus W. Hempfer, Grundlagen der Textinterpretation, Stuttgart 2002, S. 19–22).

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setzen‘ in den Autor oder Leser nicht verlassen wollen,75 so muss er sich nicht nur über die Zuschreibungen des Lesers an den Text und Autor zu sprechen trauen (wie es etwa die empirische Literaturwissenschaft macht), sondern auch über die Intentionen, die der Autor mit seinem Text formulierte.76 Interessanterweise finden sich auch genau diese zuletzt genannten, theoretisch häufig als naiv psychologisierend abgelehnten Annahmen eines faktischen Intentionalismus sowohl bei Booth als auch bei Iser an einer für die Konstitution ihre impliziten Modelle zentralen Stelle. Bei Booth ergibt sich diese Tendenz aus seiner rhetorikorientierten Forschungsausrichtung, die sich auf das „moral and emotional engagement with the characters“ bezieht.77 Er setzt dabei voraus, dass sich die Autorintention in einer Art moralischen Gesamtkonzeption im Text niederschlägt und diese vom Leser auch dann erkannt werden kann – bzw. für eine ‚erfolgreiche‘ Lektüre auch erkannt werden muss –, wenn der Erzähler oder die Figuren des Textes eine abweichende Moral vertreten. Tatsächlich führt er die Möglichkeit der Rekonstruktion der implizit bleibenden Autorintention (oder umgekehrt: die Möglichkeit der erfolgreichen Umsetzung der Autorintention, obwohl sie bloß implizit formuliert wird) als Kriterium literarischer bzw. rhetorischer Stärke (power) ein: Finally, some of the most powerful literature is based on a successful reversal of what many readers would „naturally“ think of as a proper response. Such reversals can only be achieved if the author is able to call to our attention relationships and meanings that the surface of the object obscures.78

75 Stefanie Schulte, Gleichnisse erleben. Entwurf einer wirkungsästhetischen Hermeneutik und Didaktik, Stuttgart 2008, S. 142–166, stellt nicht ganz grundlos eine Verbindung des hermeneutischen Hineinversetzens mit Isers wirkungstheoretischem Ansatz der Textperspektiven her, wobei Schultes Untersuchungsgegenstand biblische Gleichnisse sind und sie das „Hineinversetzen in den Erzählverlauf und in die Figuren“ dieser Gleichnisse untersucht. 76 Dieser Position am nächsten scheint mir momentan H. Porter Abbott zu sein, der seine „cognitivist perspective from the reader reading to the writer writing“ verschiebt und das Konzept des impliziten Autors für diejenigen fiktionalen literarischen Texte als nützliche Beschreibungskategorie veranschlagt, die „more than one intentional reading“ erlauben (H. Porter Abbott, „Reading Intended Meaning Where None Is Intended: A Cognitivist Reappraisal of the Implied Author“, in: Poetics Today, 32/2011, S. 461–487, hier S. 461). 77 Wayne C. Booth, „Rhetorical Critics Old and New: The Case of Gérard Genette“, in: Laurence Lerner (Hrsg.), Reconstructing literature, Oxford [u.a.] 1983, S. 123–213, hier S. 137. Zu den biographischen Ursprüngen dieses Denkens vgl. Kindt/Müller, The Implied Author, S. 42–46. Booth verteidigt besonders diesen moralischen Aspekt später noch in Wayne C. Booth, „Resurrection of the Implied Author: Why Bother?“, in: James Phelan/Peter J. Rabinowitz (Hrsg.), A Companion to Narrative Theory, Malden (MA) 2005, S. 75–88. 78 Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1983, S. 115.

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Iser formuliert ein ganz ähnliches ‚Erfolgsmodell‘ intentional zu konkretisierender Textstrukturen, das an Booths Rede erinnert, der Autor kreiere „his reader, as he makes his second self“:79 Dem Leser müssen vielmehr Aktivitäten zugemutet werden, die – wenngleich durch rhetorische Signale vorgesteuert – etwas in Gang bringen, das sich nicht mehr auf Rhetorik zurückführen läßt. Denn zu deren Erfolg bedarf es der deutlichen Formulierung eines Ziels, auf das hin die Überredung erfolgen soll.80

Dieser Formulierung eines rhetorischen Ziels entsprechen in Isers Wirkungstheorie die Instanz des impliziten Lesers und in den Text eingepflanzte Appelle, die den Leser etwa anleiten, bestimmte Textsegmente zu Bedeutungselementen zu verknüpfen. Die Autorintention bleibt dabei jedoch ein ebenso essentieller Aspekt der theoretischen Konstruktion des impliziten Lesers wie auch der erfolgreichen Lektüre. William Nelles folgt genau diesem Verständnis des impliziten Lesers als Vermittlungsinstanz erfolgreicher Lektüre, konzediert aber gleichzeitig auch die Konsequenz dieser Bestimmung: „I would emphasize, however, that very few real (historical) readers can identify exactly with any implied reader“.81 So viel zur ‚grauen Theorie‘. Im Folgenden soll nun geprüft werden, wie die auf dieser Theorie basierenden Modelle des impliziten Lesers in der interpretativen Praxis Verwendung finden.

III Der implizite Leser als Methode Wie Gumbrecht bereits recht früh (1977) angemerkt hat, hängt der „praktische Wert einer Wirkungstheorie für die Beschäftigung der Rezeptionsästhetik mit einzelnen Texten […] ganz entscheidend davon ab […], ob mit diesem Konzept jenem Bedürfnis nach einer jeweils konstanten Textstruktur Genüge geleistet wird.“82 Inwiefern diese Textstrukturen einzelner literarischer Texte aber auch, wie Gumbrecht Isers Ansatz reformuliert, zu „metahistorischen Sinnstrukturen“ führen können, die „zu allen Zeiten von Rezipienten jeglicher sozialer Gruppen in gleicher Weise erfasst werden“,83 ist fraglich. In seiner früheren Monographie, Der implizite Leser, ist Iser

79 Ebd., S. 138; vgl. auch S. 70–77. 80 Iser,Leser, S. 58. 81 William Nelles, „Historical and Implied Authors and Readers“, in: Comparative Literature, 45/ 1993, S. 22–46, hier S. 31. 82 Gumbrecht, „Besprechung: Wolfgang Iser. Der Akt des Lesens“, S. 524. 83 Ebd., S. 525. Die unten vorgestellte Arbeit von Richard Egger geht von der gleichen Annahme aus: Er begründet seine „transzendentale Lektüre“ damit, keine konkreten Bedeu-

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noch anders zu verstehen. Dort untersucht er, wie bereits dargestellt, knapp ein Dutzend Texte aus drei Jahrhunderten auf ihre Wirkungsstruktur. Dafür kombiniert er eine Analyse der jeweiligen Textstruktur (die methodisch eher assoziativ denn strukturiert ist) mit seinem als Anglist angeeigneten (literatur-)historischen Wissen über die jeweiligen Text-Kontexte, wobei er vor allem sozialgeschichtliche Aspekte hervorhebt. Will Iser zu diesem Zeitpunkt wirklich metahistorische Wirkungsstrukturen in Texten offenlegen, stellt sich eine weitere Frage. Sie zielt darauf ab, warum Iser sich ‚die Mühe macht‘, in historischen Studien die unmittelbare Rezeption älterer literarischer Texte (im Modus der Hypothese) zu rekonstruieren, wenn der Text laut theoretischem Postulat doch in gleicher Weise auch auf ihn selbst wirkt? Offensichtlich geht es Iser primär gar nicht darum, tatsächlich die Wirkungsbedingungen eines literarischen Textes aufzuzeigen. Betrachtet man seinen praktischen Textumgang, muss man vielmehr konstatieren, dass er die historischen Produktionsbedingungen literarischer Texte untersucht. Dann schreibt Iser aber keine Rezeptions- oder Wirkungsästhetik, sondern eine generische Texttheorie. Er fragt selbst, „was denn das Romanhafte sei und wodurch es bedingt ist“, und beschreibt darüber hinaus, dass der Roman „wie keine andere Gattung […] die sozialen und historischen Normen“ aufnimmt.84 Dieser texttheoretischen These nähert er sich über „Vorstudien zu einer Theorie literarischer Wirkung“, „in der die Sinnkonstitution des Textes zu einer unverkennbaren Aktivität des Lesers wird“.85 Der wirkungstheoretische Aspekt muss angesichts der Iser’schen Theorie in toto aber als lediglich eines unter vielen anderen (etwa intentionalistischen und texttheoretischen) Elementen seiner Gattungsgeschichte des Romans verstanden werden. Stark verkürzt lautet diese: Wurde dem Leser im Roman des 18. Jahrhunderts durch das Gespräch, das der Autor mit ihm führte, eine explizite Rolle zugewiesen […], so schwindet im Roman des 19. Jahrhunderts vielfach eine solche, dem Text eingezeichnete Rollenzuweisung. Statt dessen soll der Leser selbst seine Rolle entdecken. […] Dieser Vorgang kompliziert sich noch einmal im Roman des 20. Jahrhunderts.86

Doch wie werden diese extensiven Annahmen in den Iser’schen Einzelstudien ausgeführt? Aus Platzgründen können sie nicht vollständig rekonstruiert werden, wobei dies aber auch nicht nötig ist, um das hier anvisierte praxeologische Ziel zu erreichen. Vielmehr lassen sich in jedem Aufsatz ähnliche Probleme erkennen,

tungen zuzuschreiben, sondern bloß Bedeutungspotentiale (Egger, Der Leser im Dilemma, S. 231). 84 Iser,Leser, S. 14, dann S. 7. 85 Ebd., S. 7. 86 Ebd., S. 10.

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die nicht grundsätzlich, sondern nur nach dem je umrissenen Aspekt des impliziten Lesers variieren. Sie wurden bereits oben hinsichtlich ihrer theoretischen Bestimmung diskutiert. Im ersten Aufsatz zu „Bunyans Pilgrim’s Progress“ steht das Verhältnis von Text- und Kontextwissen im Zentrum. Im zweiten bespricht er „Die Leserrolle in Fieldings Joseph Andrews und Tom Jones“ als die dem Leser „zugemutete Tätigkeit für die Sinnkonstitution des Romans“.87 Im dritten Teilabschnitt untersucht er die „Leserlenkung in Smolletts Humphry Clinker“ usw. Doch beginnen wir mit dem ersten Aufsatz zu Bunyans Pilgrim’s Progress,88 einer christlichen Allegorie aus den späten 1670er Jahren. Hier wird gleich eines der größten methodischen Probleme des historischen Ansatzes sichtbar. Iser untersucht den Text vor dem historisch-zeitgenössischen Hintergrund einer Verbreitung der Idee kalvinistischer Heilsgewissheit, die er, so seine These, als trigger einer veränderten Rezeptionshaltung im späten 17. Jahrhunderts versteht. Konkret verbindet er diese Hypothese mit einer Analyse der Figuren (besonders Christians) und der Erzählperspektiven im Roman, wobei Iser hier einen eindeutigen Einfluss von sozialhistorischem Kontext auf die Produktionsbedingung, auf Textstruktur und Perspektivierung und wiederum von der Textstruktur auf den Rezipienten nachzuweisen versucht. Hinsichtlich der Produktionsbedingungen des Textes schreibt er: „Gründen Epos und Allegorie des Mittelalters in der von Lukács einmal so benannten ‚Gottgesichertheit‘, so entsteht Bunyans Pilgrim’s Progress aus dem Entzug auch noch der letzten Sicherheit“.89 Dieser so beschriebene „Problemzusammenhang realisiert sich dann als die Geschichte des Romans“90 und seiner Perspektiven, die zwischen ‚menschlich-dialogischem‘ und ‚träumerisch-überschauendem‘ Blick vagieren.91 Auf Textebene wird dann eine umfängliche Erzählstrukturanalyse angesetzt, die in der wirkungsästhetischen Aussage endet, dass, „[j]e stärker im Erzählvorgang die Überschau zurückgedrängt und der Leser direkt mit den dialogischen Auseinandersetzungen konfrontiert wird, desto bewegter […] ihm die miteinander debattierenden Figuren“ erscheinen.92 Wie das Zitat deutlich macht, funktionalisiert Iser hier einen Leser als Zuschreibungsinstanz bestimmter Textwirkungen, der zwar im historischen Kontext der Textveröffentlichung verortet wird, aber in seinem Wissen nicht präziser dargestellt wird, als dass er einem bestimmten kalvinistischen Denken verpflichtet

87 88 89 90 91 92

Vgl. ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 13–56. Ebd., S. 55. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 26. Ebd., S. 24.

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ist. Über das ganze Kapitel (wie über das ganze Buch) versäumt Iser bereits auf ontologischer Ebene klarzustellen, ob mit diesem Leser der implizite Leser als Textkonstrukt gemeint ist oder der jeweils angenommene reale Leser des Veröffentlichungszeitraums. Einerseits wendet sich der wohl als real zu verstehende Autor Bunyan „an das mögliche Verhalten seiner Leser“,93 was nach den gängigen literarischen Kommunikationsmodellen eigentlich ein Verständnis von „Leser“ als „realem Leser“ nahelegt. Gestützt würde dies durch die Tatsache, dass Iser in dem ganzen Kapitel (und, soweit ich das überblicken konnte, auch wieder im ganzen Buch94) überhaupt nicht mehr vom titelgebenden impliziten Leser spricht oder Gebrauch macht. Andererseits aber forciert Iser durch die konsequente Anwendung des Kollektivsingulars „der Leser“, der nie durch „implizit“, „real“, „historisch“ o.ä. attribuiert wird, dass bei der Rezeption seiner Analyse gar nicht erst der Gedanke aufkommen kann, es könne sich hier um etwas anderes als ein von Iser theoretisch angenommenes Lesermodell handeln, das er eben mit historischem Kontextwissen bestückt und auf einzelne, in ihrer Zusammenstellung unbegründete Textstellen anwendet. Obwohl von realen Lesern gemachte und in Form von Rezeptionszeugnissen überlieferte Interpretationen und Rezeptionen einen Einblick in historisch-faktisch geleistete Kontextualisierungen des literarischen Textes geben und somit den Iser’schen Versuch einer historisch-adäquaten Interpretation anleiten könnten, vermeidet Iser diesen Umweg.95 Woher er sein historisches und dem angenommenen Leser zugeschriebenes Wissen über die kalvinistische Prädestinationslehre und ihren Einfluss auf die Menschen der Zeit hat, belegt er darüber hinaus nicht. Da dieses Wissen aber immer ein aus heutiger Perspektive zugeschriebenes Wissen ist, muss es als potentiell anfällig für Anachronismen gelten. Und folglich sollte man bezüglich Isers Arbeit nicht mehr von der historisch-adäquaten Rekonstruktion oder Annäherung an eine reale Rezeptionssituation sprechen, sondern von der Zuschreibung der Relevanz eines angenommenen historischen Wissens für das Verstehen eines literarischen Textes. Hierbei werden die Kriterien der Beurteilung der Relevanz nicht aus belegten

93 Ebd., S. 22. 94 Die m.W. einzige Ausnahme findet sich auf S. 8 f. 95 Barbara A. Johnson, Reading „Piers Plowman“ and the „Pilgrim’s Progress“. Reception and the Protestant Reader, Carbondale [u.a.] 1992, hingegen geht diesen Weg und kann sehr schön aufzeigen, dass für die Rekonstruktion der faktischen Rezeption auch frühester literarischer Werke („Piers Plowman“ wird in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verortet) wesentlich mehr Hinweise – sie spricht sogar von evidences – vorhanden sind, als gemeinhin angenommen wird. Dabei stützt sie sich nicht nur auf direkte Rezeptionszeugnisse, sondern ebenso auf die kritischen Apparate der ersten Ausgaben, handschriftliche Randkommentare der Druckausgaben und Manuskripte usw.  

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historisch-faktischen Zuschreibungen rekrutiert, sondern aus Annahmen des ‚Wirkungsgeschichtlers‘ über das Verhältnis von Text zu historischem Kontext. Die Reflexion dieses Sachverhalts zur Beschreibung der Iser’schen Textpraxis wäre dann nicht nur eine konsequente Anwendung von Gadamers Hermeneutik auf die Wirkungsgeschichte (wie bei Jauß auf die Rezeptionsgeschichte), sondern würde der eigentlichen philologischen Tätigkeit Isers auch gerechter werden: Diese muss „Interpretation“ genannt werden, denn nahezu jeder Bezug Isers auf explizite Textelemente wie Handlung und Figuren ist interpretativ. Ein Beispiel: „Eine literarische Darstellung des exemplarischen Heilsweges bedarf daher eines stärkeren Abhebens auf die Menschlichkeit der agierenden Figuren, die sich damit der epischen Eindeutigkeit zu entziehen beginnen“.96 Implizite Textelemente, besonders die von ihm später im theoretischen Diskurs so stark gemachten Leer- oder Unbestimmtheitsstellen an den Schnittpunkten von Textsegmenten, werden hier zwar noch nicht begrifflich als solche gefasst, aber in ihrer Funktion für die Textwirkung bereits ebenfalls interpretiert: „Dieser Wechsel in der Erzählhaltung [zwischen menschlicher und träumerischüberschauender Perspektive] bedingt eine unterschiedliche Spannung des Geschehens. […] Diese Doppelorientierung der Pilgerfahrt bewirkt, daß das Endergebnis […] während des Handlungsverlaufs nicht immer gegenwärtig ist.“97 Unreflektiert bleibt hierbei, dass freilich auch das Erkennen, das Finden und in einem ersten Schritt das Finden-Wollen dieser Leerstellen schon stark an theoretische und ideologische Prämissen und Erkenntnisziele, aber auch an zuvor geleistete textinterpretative Prozesse gebunden ist. Wie gesagt, lassen sich aus den anderen Aufsätzen ähnliche Probleme rekonstruieren, etwa dass Iser nicht in der Lage ist, den in Aufsatz zwei und drei verwendeten Begriffen „Leserrolle“ und „Leserlenkung“ tatsächlich auch unterscheidbare Analysepraktiken zuzuweisen. In beiden Aufsätzen hingegen untersucht er die textinitiierte Beeinflussung des Lesers beim Akt der Lektüre. Doch ist die ‚Leserlenkung‘ in ihrem Geltungsbereich nicht auf das Verhältnis von Text und Leser beschränkt, denn immerhin kann sie, so schreibt der Konstanzer in einem seiner vielen intentionalistischen Argumente, „das Verstehen in dem vom Autor beabsichtigten Sinn weithin sichern“.98 „Leserrolle“ muss analog hierzu die vom Autor intendierte Perspektive auf den Text beschreiben und ist so quasi auch synonym zu „intendierter Leser“ zu verwenden. Gumbrecht kritisiert genau diesen beschreibungssprachlichen Aspekt, wenn er sich in seiner Besprechung

96 Iser,Leser, S. 20. 97 Ebd., S. 26. 98 Ebd., S. 83.

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von Isers Der Akt des Lesens fragt, „warum Vf. zwei offenbar synonyme Termini, nämlich den ‚impliziten Leser‘ und die ‚Leserrolle‘ zur Bezeichnung für das eine wirkungsästhetische Substitut des Textbegriffs einführt“.99 Es sollte deutlich geworden sein, dass es Iser nur auf theoretischer Ebene möglich ist, Texten eine spezifische Wirkung zuzuschreiben, die sich aus Textstruktur und historischer Rezeption ergibt. In der interpretativen Praxis hingegen sind es freilich keine theoretischen Lesermodelle, die von selbst den Text im Sinne des impliziten Lesers (oder auch nicht in seinem Sinne) konkretisieren, sondern es ist niemand anderes als Wolfgang Iser, der die Textinterpretation durchführt. Folgt man dem Postulat metahistorisch wirkender Textstrukturen, über die man die ursprüngliche Situation, ‚auf die der Text antwortete‘, wiedergewinnen kann, dann ist dieses Vorgehen plausibel. Angesichts der im Folgenden aufzuzeigenden Schwierigkeiten mit der Annahme, dass Leerstellen historisch invariant als solche erkannt werden, muss jedoch der gesamte darauf basierende Theoriebau inklusive seiner Form der Historisierung hinterfragt werden. Hiermit soll die Rekonstruktion des Iser’schen Beitrags zum impliziten Leser abgeschlossen werden. Der letzte, kürzeste Abschnitt dieses Aufsatzes wird sich nun der Frage widmen, wie das Iser’sche Lesermodell von der theoretischen Literaturwissenschaft aufgenommen und von praktisch-interpretativen Positionen funktionalisiert wurde. Prinzipiell hat der interaktionistische Ansatz zu einiger Verwirrung und somit zu einer sehr heterogenen Rezeption des impliziten Lesers innerhalb der Theoriedebatte geführt. Als Folge dieser Situation und eines literaturwissenschaftlichen Abgrenzungsdiskurses, in dem in der Regel eine und nicht alle Instanzen der literarischen Kommunikation als Fokus der Theoriebildung gesetzt werden, vagieren heute die Varianten des impliziten Lesers zwischen einem Verständnis als autorintendierter Konstruktion (Link; Gumbrecht; Groeben; Pany), textbasierter Instanz (Hempfer; Schmid) oder leserbezogener Konkretisation (Naumann).100 Angesichts dieser Vielfalt ist die Frage nach den interpretationspraktischen Adaptionen des Lesermodells umso dringlicher zu stellen, ihre Beantwortung

99 Gumbrecht, „Besprechung: Wolfgang Iser. Der Akt des Lesens“, S. 524. 100 Zum Intentionsbezug siehe Link, Rezeptionsforschung (rekonstruktiv zu Links Position Dillmann/Grilli/Paz, Vom Text zum Leser, S. 67 f.), aber auch Hans Ulrich Gumbrecht, „Konsequenzen der Rezeptionsästhetik oder Literaturwissenschaft als Kommunikationssoziologie“, in: Poetica, 7/ 1975, S. 388–413; Norbert Groeben, Leserpsychologie: Textverständnis – Textverständlichkeit, Münster 1982; Doris Pany, Wirkungsästhetische Modelle. Wolfgang Iser und Roland Barthes im Vergleich, Erlangen 2000, S. 56–58. Zum Textbezug siehe Hempfer, Grundlagen der Textinterpretation, und Schmid, Elemente der Narratologie. Zum Leserbezug siehe Manfred Naumann [u.a.], Gesellschaft – Literatur – Lesen, Berlin [u.a.] 1973, bes. S. 83–100.  

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aber auch umso enttäuschender. Insgesamt findet sich nur eine überraschend kleine Menge praktischer Anwendungen des impliziten Lesers bei der interpretativen Textauslegung.101 Diese Zahl verringert sich noch einmal, wenn man die von den Bibliothekskatalogen angezeigten Arbeiten streicht, in denen der implizite Leser schlicht falsch verstanden wird102 bzw. zwar im Titel (einzelner Kapitel) auftaucht, dann aber weder theoretisch in den jeweiligen Ansatz eingegliedert noch im interpretativen Teil explizit erwähnt oder auch nur implizit in Form eines bestimmten methodischen Vorgehens o.ä. erkennbar wird.103 Anders geht Richard Egger mit dem impliziten Leser um. Er untersucht in seiner Monographie Der Leser im Dilemma die Leserrollen in Max Frischs Texten (Stiller, Homo faber und Mein Name sei Gantenbein), wobei er im praktischen Teil wie bereits Iser die Begriffe „Leserrolle“ und „impliziter Leser“ synonym verwendet.104 Seine grundlegende These ist, dass die drei genannten Romane von Frisch „in ihren Leserrollen gemeinsame Momente oder gar eine identische Grundstruktur aufweisen, also daß der Autor Frisch seinen Romanen ein be-

101 Diese Einschätzung teilt Egger, Der Leser im Dilemma, S. 26 f. 102 So Agata Schwartz, die in ihrer grundsätzlich sehr interessanten Studie (Utopie, Utopismus und Dystopie in „Der Mann ohne Eigenschaften“. Robert Musils utopisches Konzept aus geschlechtsspezifischer Sicht, Frankfurt a.M. [u.a.] 1997) das ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ Lesen von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften untersucht. Sie stellt im Anschluss an eine Studie der feministischen Literaturwissenschaftlerin Judith Fetterley die Frage, welchen Effekt es hat, wenn ein Text auf den „männlichen (Ideal)Leser zugeschnitten“ ist, aber von einem weiblichen realen Leser gelesen wird. Schwartz kann dann durch ihre „Lesart als eine zeitgenössische Leserin auch zwei implizite Leserfiguren im MoE entdecken […]: eine intendiert-implizite männliche und eine zwar unintendierte, aber trotzdem implizite weibliche“ (S. 163). Schwartz beschneidet den Funktionsumfang des impliziten Lesers dabei so stark auf den Aspekt des Intendiert-seins (siehe bes. S. 65 f.), dass sie eigentlich bloß noch vom intendierten und nicht mehr vom impliziten Leser reden sollte. Der von Schwartz im Text ebenfalls ‚entdeckte‘ weibliche Leser ist dann im Gegensatz zum intendierten (bei ihr: impliziten) männlichen Leser einfach nicht vom Autor intendiert, was aus Sicht einer feministischen Literaturwissenschaft dann problematisiert wird. Die oben angesprochene Fetterley widmete sich bereits in den späten 1970er Jahren dem Phänomen weiblichen Lesens von männlichen Texten und fordert: „Clearly, then, the first act of the feminist critic must be to become a resisting rather than an assenting reader and […] to begin the process of exorcizing the male mind that has been implanted in us“ (Judith Fetterley, The Resisting Reader. A Feminist Approach to American Fiction, Bloomington 1978, S. xxii). 103 So Ursula A. J. Becher, Der implizite Leser der Historiographie. Zur didaktischen Dimension der Geschichtswissenschaft, München 1989; Christian Metz, Die Narratologie der Liebe. Achim von Arnims „Gräfin Dolores“, Berlin, Boston (MA) 2012, S. 301–317, macht dies in Kapitel(überschrift) 6.2. mit dem impliziten Autor. 104 Siehe Egger, Der Leser im Dilemma, S. 31, aber auch S. 22 unten, wo er auch noch die „Textstruktur unter dem Aspekt ihrer Wirkung“ in die Synonymreihe des impliziten Lesers eingliedert.  



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stimmtes Grundmuster der Text-Leser-Interaktion einschreibt“.105 Nicht nur der Formulierung nach findet sich hier die theoretisch schon herausgearbeitete intentionalistische Dimension des impliziten Lesers wieder. Zudem wird aus der Leserrolle eine wertungsbezogene Funktion abgeleitet. Durch sie würde „ein Urteil über die literarische Qualität der Texte“ Frischs formulierbar werden.106 Dieses Ziel erreicht Egger durch eine Umsetzung der Iser’schen Wirkungsästhetik in eine analytische Methode, die in ihrer Strenge und Konsequenz sicherlich auch Iser erstaunt haben wird. Laut Egger beinhaltet die Wirkungsästhetik jedenfalls eine eindeutige Veranlagung zur methodischen Praktikabilität: „Die wirkungsästhetische Methode fragt also im konkreten Text nach den Aspekten, die von der Theorie als Strukturmerkmale des impliziten Lesers herausgestellt worden sind“.107 In der Anwendung besteht diese Methode in der Segmentierung von Textelementen, die nach Erzählperspektive (erzählendes Ich; handelndes Ich usw.) und Sprechakt (Replik; innerer Monolog; Bericht usw.) rubriziert werden,108 was Egger wohl als die Iser’schen ‚Textperspektiven‘ versteht. Aus der Analyse ausgewählter Textabschnitte schließt er dann auf die „zentrale[n] strategische[n] Verfahren des Textes“.109 Diesem recht offenen bis subjektiven Vorgehen steht ein sehr enges Verständnis des Begriffs „Leerstelle“ als dem Ort gegenüber, an dem ein Textsegment ein anderes ablöst. Zwar findet sich diese Bestimmung auch bei Iser,110 doch wird sie bei diesem erheblich erweitert auf „die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers“.111 Auf die Frage nun, wie und ob der Text das literarische Verstehen bzw. konkret die Bewertung der jeweiligen Textsegmente und Textperspektiven steuert, kommt Egger zu dem Ergebnis, dass u.a. durch den gezielten Einsatz von Ironie und Identifikationsangeboten in einzelnen Textsegmenten „eine massive Steuerung des Leseaktes“ vorliege.112 Diese äußere sich darin, „daß das Zusammenwirken der Orientierungspunkte [also die Leserrolle /der implizite Leser] den

105 Ebd., S. 29 f. 106 Ebd., S. 30. 107 Ebd., S. 28. 108 Ebd., S. 36. 109 Ebd., S. 38. 110 Siehe Iser, Akt des Lesens, S. 302: „Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.“ 111 Ebd., S. 284; Kuhangel, Der labyrintische Text, bes. S. 130–133, weist auf den bei Iser vernachlässigten Aspekt hin, dass Unbestimmtheit nicht nur zwischen den Segmenten entsteht, sondern „der Charakter der Textsegmente selbst zur Unbestimmtheit eines Textes beiträgt“ (S. 130). 112 Egger, Der Leser im Dilemma, S. 39; siehe hierzu auch S. 89.  

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Erwartungshorizont des [realen] Lesers allmählich umform[e]“.113 Unklar bleibt indes, welcher Instanz die Absicht dieser Umformung zugeschrieben werden soll. Während in narratologischen Arbeiten mehr oder weniger konsensuell angenommen wird, dass in jedem Fall der Erzähler, in neueren Überlegungen jedoch auch wieder der reale Autor die Instanz der Zuschreibung der Organisation von Textmerkmalen ist,114 nennt Egger den impliziten Autor, der „dem Leser die Gedanken [der Figuren in einer bestimmten Organisationsform] darbietet“.115 Doch scheint der Bezug auf den impliziten Autor keinen hinreichenden Begründungszusammenhang liefern zu können. Denn an anderer Stelle erklärt Egger die Wirkungsdifferenzen von Stiller und Homo faber mit dem realen Autor Frisch: „Die Unterschiede mögen sich aus der Entwicklung des Erzählers Frisch erklären, der die einmal entdeckte Wirkstruktur in der Folge strafft und aufs Wesentliche einschränkt.“116 So zeigt sich eines der großen praktischen Probleme der Anwendung des impliziten Lesers auf Einzeltexte, wie es sogar entsteht, wenn die Wirkungstheorie wie bei Egger in ein ausgesprochen strenges methodisches Konzept umgeschrieben wird. Denn selbst dieses Konzept scheint noch immer nicht streng genug zu sein, was sich etwa darin äußert, dass die Analyse der Textsegmente eher einer Konversationsanalyse gleicht und Leerstellen häufig bloß mit Sprecherwechseln (turn taking) kongruieren.117 Narratologisch feinkörnigere Kriterien wie die Fokalisierung bleiben unberücksichtigt, wenngleich sie hochgradig relevant für eine präzise Beschreibung der Beeinflussung des Lesers sind; gerade wenn es sich um Phänomene wie die von Booth stets betonte moralische Orientierung des Textes als dessen Grundkonzeption handelt. Die hier zu stellende Frage wäre, wie der implizite Autor dem Leser „sozusagen an dem Erzähler vorbei, eine andere, den Erzählerbehauptungen widersprechende Botschaft“ vermitteln kann.118 Doch auch wenn man über diese und andere methodische Ungereimtheiten einmal hinwegsieht, wie sie hier noch in weitaus geringerem Maße vorhanden sind als in den anderen mir bekannten interpretationspraktischen Funktionalisierungen des impliziten Autors – und das schließt die Arbeiten Isers mit ein –, so muss früher oder später immer die Frage gestellt werden, ob der implizite Leser

113 Ebd., S. 89. 114 Fotis Jannidis, „Zwischen Autor und Erzähler“, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart [u.a.] 2002, S. 540–556. 115 Egger, Der Leser im Dilemma, S. 93. 116 Ebd., S. 217. 117 Vgl. einführend Harvey Sacks/Emanuel A. Schegloff/Gail Jefferson, „A Simplest Systematics for the Organization of Turn Taking for Conversation“, in: Language, 50/1974, S. 696–735. 118 Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 101.

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als analytisches Werkzeug einigermaßen objektiv funktionalisierbar ist oder ob er so viele theoretische Prämissen (etwa intentionalistischer Art) voraussetzt, dass alle seine Applikationen auf den Text durch ein bereits zuvor angenommenes Ergebnis antizipiert werden. Ein ähnliches Phänomen verhandelt Egger unter dem Aspekt der Zeitstruktur und der Miteinbeziehung der Lektürephasen,119 was ebenso auf die Frage der Erst- und Mehrfachlektüre anwendbar ist und im zweiten Fall durch eine bereits ‚vorgefertigte Meinung‘ über den Text beschreibbar gemacht werden kann. Zuletzt kulminieren die angeschnittenen Problembereiche in der praktisch nur unter fast nicht mehr leistbarem Aufwand umzusetzenden Komplexität der dem impliziten Leser zugeschriebenen Funktionen, wie sie oben katalogisiert wurden. Dem pflichtet Egger bei, wenn er schreibt, dass „die hohe Komplexität des impliziten Lesers“ dazu führt, dass immer nur „typische Passagen“ eines Textes analysiert werden konnten.120 Da sich der implizite Leser jedoch – und hier ist sich die Forschung ausnahmsweise einig – in besonderem Maße aus der Gesamtheit der Textstruktur bestimmt, bedeutet eine Auswahl von Textstellen auch, dass nur Teilaspekte des impliziten Lesers und seiner Funktionen für den Akt des Lesens dargestellt werden.121 Weitere Analysen der interpretativen Applikationen des Iser’schen Konzepts können hier leider nur noch schematisch und in Auswahl hinsichtlich der von ihnen angesprochenen Problemfelder dargestellt werden. Jens Bonnemann stellt die Frage der historischen Limitation des Anwendungsbereichs des impliziten Lesers und untersucht Konrads von Würzburg Herzmaere, einen Text aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.122 Während der zeitgenössische Leser bestimmte Repertoire-Elemente123 dieses fiktionalen (und daher mit Iser auch entpragmatisierten) literarischen Textes nutzte, um seine eigene Position in dem Bezugssystem zu reflektieren, instrumentalisiert der spätere Leser, der diese Bezugssysteme nicht kennt, das Repertoire zur Bestimmung des Geltungshorizontes des Textes. Im Gegensatz zum partizipierend lesenden Zeitgenossen liest dieser betrachtend.124 Daraus schließt Bonnemann zurecht mit kritischem Blick auf die von Iser metahistorisch angelegte Leerstellentheorie, dass eine „Phäno-

119 Egger, Der Leser im Dilemma, S. 124–132. 120 Ebd., S. 103. 121 Allein schon die quantitative Verteilung einzelner Textperspektiven auf den Text scheint ein nicht irrelevanter Aspekt der Konstitution des impliziten Lesers zu sein und diese ist nun einmal von einer vollständigen Analyse abhängig. 122 Bonnemann, Interaktion, zur historischen Fragestellung bes. S. 9. 123 Siehe oben, Anm. 66. 124 Bonnemann, Interaktion, S. 32–34.

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menologie des Leseakts […] die historische und soziale Situierung des Lesers stärker involvieren [muss …]. Die Leserdisposition ist nicht transzendental zu setzen“.125 Hier wird auf zwei konfligierende Theorieelemente bei Iser verwiesen, die zwischen den Forderungen einer Historisierung und Aktualisierung der Textbedeutung variieren und so zu der theoretischen Unschärfe des Iser’schen impliziten Lesers führen. Dieser wird gleichzeitig konstituiert durch den in seiner Entstehung nur anhand von historischen Betrachtungen erklärbaren autorintendierten Leerstellenbetrag auf der einen Seite (der als Textphänomen dann allerdings historisch transzendental ist) und durch eine Konkretisationstheorie auf der anderen Seite, die Textbedeutung als Ergebnis historisch veränderlicher Textaktualisierungen begreift. Bonnemann fasst das grundlegende Problem exemplarisch: „Was für den heutigen Leser eine Leerstelle im Herzmaere bedeutet, muss dies noch lange nicht für den zeitgenössisch Leser gewesen sein.“126 Eine ähnliche Kritik an Iser findet sich bei Rainer Dillmann, Massimo Grilli und César Mira Paz, die im theoretischen Kontext einer handlungsorientierten Bibelauslegung den impliziten Leser für die Beantwortung der Frage funktionalisieren, ob biblische Texte ihr Wirkungspotential „auch in neuen kommunikativen Situationen“ entfalten können.127 Dazu untersuchen sie „das im biblischen Text enthaltene Rollenangebot für den realen Leser“.128 Diesem realen Leser eröffnen sich zwei gangbare Wege, um ‚sinnvoll‘ mit antiken Texten in Kommunikation zu treten: Er kann stärker textbezogen „einmal die Position des impliziten Lesers einnehmen und das entsprechende Rollenangebot für sich realisieren“, oder aber er rekonstruiert stärker kontextbezogen die „ursprüngliche kommunikative Situa-

125 Ebd., S. 96 f. 126 Ebd., S. 96. Hier hat Michal Glowiński etwa zeitgleich mit Iser den plausibleren Ansatz vorgelegt. Auch er fragt: „Wie bestimmt die Struktur des poetischen Werkes die Rolle des Rezipienten? Die Struktur ist keinesfalls eine passive und ein für allemal festgelegte Komponente, die immer auf gleiche Weise wirkt“ (Michal Glowiński, „Der potentielle Leser in der Struktur eines poetischen Werks“, in: Weimarer Beiträge, 21/1975, 6, S. 118–143, hier S. 122). Zur Beantwortung dieser Frage setzt er das Lesermodell des potentiellen (in einer anderen Übersetzung „virtuell“ genannten) Lesers ein, der gleichzeitig auch erklären soll, auf welche Weise „bestimmte Forderungen der Leser (die gesellschaftlichen Bedürfnisse) die Gestalt des poetischen Werkes und […] seine Struktur“ beeinflussen (S. 122). Es zeigt sich auch hier eine Überfunktionalisierung einzelner Modelle, die sehr unterschiedliche Phänomene (in Isers Terminologie: Textstruktur, Leserrolle, Leserdisposition) erklären sollen. 127 Dillmann/Grilli/Paz, Vom Text zum Leser, S. 67. Eine vergleichbare Fragestellung verfolgt auch Stefanie Schulte, die die „Anwendbarkeit von Isers Modell auf die biblische Exegese“ untersucht (vgl. Schulte, Gleichnisse erleben, bes. S. 84–126). 128 Dillmann/Grilli/Paz, Vom Text zum Leser, S. 68.  

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tion“, wobei sich beide genannten Ansätze „nicht gegenseitig aus[schließen], sondern ergänzen“.129 Nach einigen Analysen biblischer Texte, in denen sie das Iser’sche Begriffsinventarium inklusive des impliziten Lesers mehr und mehr zugunsten von Kollektivsingularen wie „man“ und „der/die LeserIn“ verwässern,130 kommen sie zu dem Ergebnis, dass vom „Standpunkt einer pragmatischen Exegese“ aus Schriftauslegung nicht „absolute Wahrheiten zu verkünden“ beansprucht.131 Der damit vermeintlich einhergehenden Relativierung religiöser Inhalte widersprechen sie mit Verweis auf die „innere Kohärenz des Textes“ und den „Konsens der Glaubensgemeinschaft“,132 was in etwa dem spätestens seit Luther für die Bibelexegese bekannten Prinzip der analogia fidei133 ebenso entspricht wie Isers Diktum der Metahistorizität des impliziten Lesers: Ihre praktische Anwendung setzt den theoretischen ‚Glauben‘ an sie notwendig voraus. Aber aus dem Glauben allein ergibt sich deswegen noch nicht ihre Anwendung.

IV Reflex und Reflexion Spätestens an dieser Stelle kann nun mit einigem Recht gefragt werden, welchen Nutzen praxeologische Analysen eigentlich mit sich bringen. Allgemein gesprochen lässt sich der potentielle Erkenntnisgewinn so formulieren, dass ein reflexiver, aus der Interpretationspraxis generierter Blick auf literaturwissenschaftliche Konzepte deren ‚Existenzberechtigung‘ neu überprüfbar macht. Dabei müssen sowohl theoretische Konsistenz als auch interpretative Praktikabilität analysiert und beurteilt werden. Am Ende einer großflächig angelegten praxeologischen Selbstvergewisserung der Literaturwissenschaften stünde dann gewissermaßen ein für billig erklärtes Arsenal theoretischer Positionen und Konzepte, die sich gegenüber praxeologisch disqualifizierten Ansätzen und Konzepten dadurch auszeichnen, dass sie in eine funktionierende Praxis überführbar sind. In diesem Sinne muss nun gefragt werden, ob genau dies auch für das Konzept des impliziten Lesers gilt? Beginnen wir bei dem Vergleich mit dem impliziten Autor. Am plausibelsten scheint es, trotz der große konzeptuelle Differenzen vermittelnden Namen der Konstrukte, mit Ralf Klausnitzer eine allgemeine beschreibungsfunktionale bzw.

129 Ebd., S. 71. 130 Ebd., S. 116, 117, 162 u.v.m. 131 Ebd., S. 71. 132 Ebd., S. 72. 133 Johannes Kunze, Erasmus und Luther. Der Einfluß des Erasmus auf die Kommentierung des Galaterbriefes und der Psalmen durch Luther 1519–1521, Münster [u.a.] 2000, S. 177.

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‚heuristische‘ Gemeinsamkeit anzunehmen. Denn beide Konzepte sind sich nicht nur strukturell ähnlich, d.h. ebenso textbasiert wie mit intentionalen und rezeptionalen Aspekten ausgestattet. Auch in ihrer Funktion, eine bestimmte Form der Textinterpretation zu unterstützen, entsprechen sie sich nahezu vollständig: „Wie die Kategorie impliziter Autor fungiert der Begriff des impliziten Lesers als eine abstrakte Größe zur besseren Beschreibung von Wirkungspotentialen und Effekten, die in einem Text enthalten sind und im realen Akt des Lesens entdeckt werden können“.134 Diese auf theoretischer Ebene gefundene konzeptionelle Deckungsgleichheit kann gestützt werden durch ein von Kindt/Müller aus der interpretativen Praxis abgeleitetes Argument. Sie schreiben, dass der implizite Leser nicht als kommunikativer Antipode des impliziten Autor verwendet wird, sondern both concepts are generally treated as constructs that stand for the text in its entirety; […]. The fact that the two concepts have parallel functions rather than complementing each other can also be seen from the way they are used in interpretive practice, in which one or the other is usually employed but rarely both together.135

Dieses Ergebnis von Kindt/Müller ist aber nicht nur praxeologisch wertvoll, sondern zeigt ebenso auf, wie beliebig und unsystematisch die Anthropomorphisierung theoretischer Konzepte erfolgt. Funktional gleiche Heuristiken oder Konzepte werden nach völlig gegensätzlichen kommunikativen Instanzen mit völlig unterschiedlichen Funktionen für den literarischen Text und die ihm zuzuschreibende Bedeutung benannt. Ein verständnisfördernder Mehrwert der ‚Personalisierung‘ theoretischer Abstrakta konnte nicht festgestellt werden, womit neben den inhaltlichen auch didaktische Argumente ausscheiden. Vergleicht man nun den aus der theoretischen Bestimmung des impliziten Lesers durch Iser filtrierten Funktionskatalog (als Zuschreibungsinstanz sämtlicher Textperspektiven, der faktischen Autorintention, der Textstruktur inkl. der Segmente und Leerstellen wie auch der Leserlenkung) mit den theoretischen Adaptionen des Konzepts bei anderen Literaturwissenschaftlern, so zeigt sich in der Regel keine vollständige, sondern eine bloß selektive Übernahme einzelner Funktionen in die neue theoretische ‚Heimat‘ des Konzepts. Der implizite Leser wird dann nicht mehr interaktionistisch, sondern ausschließlich hinsichtlich des Autor-, Text- oder Leserpols, also intentionalistisch, textbezogen oder rezeptionstheoretisch funktionalisiert. Es scheint also in den letzten 30 Jahren kein theo-

134 Ralf Klausnitzer, Literaturwissenschaft. Begriffe – Verfahren – Arbeitstechniken, Berlin 2004, S. 85. 135 Kindt/Müller, The Implied Author, S. 141 f.  

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retisches Bedürfnis nach einer kommunikationspragmatisch holistisch ausgerichteten Literaturtheorie gegeben zu haben; noch nicht einmal bei Iser selbst, denn dieser beschäftigt sich zu Beginn der 1990er Jahre bereits vorwiegend mit der „anthropologische[n] Dimension der Literatur“.136 Es findet sich demnach mit Blick auf die jüngere Theorielandschaft kein Argument, das für den impliziten Leser sprechen würde. In dem Bereich der interpretativen Praxis ist es hingegen weniger die Unlust der Kopplung autor-, text- und leserbezogener Argumente als vielmehr die Unmöglichkeit, aus der theoretisch postulierten Konstitution des impliziten Lesers eine Methodik abzuleiten, die auf unterschiedliche Texte anwendbar wäre. Doch womit hängt dies zusammen? Mit der starken Abhängigkeit des Konstrukts von der Textinterpretation oder überzogenen theoretischen Zuschreibungen, dem ungelösten Problem der Überlagerung prozessualer Leseerfahrungen von der Gesamtinterpretation des Textes, inkonsistenten, weil teilweise synonym verwendeten Begriffen, dem Fehlen einer konkreten Vorgabe für die Textanalyse und dem Erkennen und Bewerten von Segmenten und Leerstellen, der insuffizienten Auslotung der Verbindung historischen Kontextwissens mit der textbasierten Historisierung der Textwirkung, dem empirischen Befund, dass sich die angenommene Metahistorizität der Leerstellen praktisch als falsch herausgestellt hat, oder etwa der Annahme, dass die interpretationspraktische Konstruktion eines impliziten Lesers den Interpreten aufgrund der auch intentionalistischen Ausrichtung des Konzepts immer in die leidige Position zwingt, von sich selbst zu behaupten, diese Intention erkannt zu haben? Es ist letztlich gleichgültig, wie diese Frage zu entscheiden ist. Weder im theoretischen noch im interpretationspraktischen Anwendungskontext konnten ausreichend gute Gründe gefunden werden, die eine weiterführende Ausarbeitung impliziter Lesermodelle trotz ihrer hohen Problemdichte rechtfertigen würden. Demzufolge lässt sich resümieren, dass der implizite Leser dem praxeologischen Belastungstest nicht standgehalten hat. Damit wird der rezeptionsästhetische Ansatz in toto allerdings nicht im Kontext in seiner Entstehungszeit beurteilt. Als Reaktion auf eine zunehmend polemisierte und sich zwischen Hermeneutik und Werkimmanenz polarisierende Theoriedebatte muss es ausnahmslos positiv bewertet werden, dass Iser sich in den frühen 1970er Jahren um ein holistischinkludierendes Modell literarischer Interaktion bemüht und damit der rezeptionstheoretischen Bewegung Vorschub leistet. Angesichts einer heute wesentlich differenzierteren akademischen Literaturwissenschaft und -theorie muss Isers impliziter Leser neu bewertet werden. Der Theorie-Praxis-Vergleich zeigte, dass dieses

136 Wolfgang Iser, Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur, Konstanz 1990.

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Konzept – wohl aufgrund seiner Überkomplexität – auch nach knapp 40 Jahren offenbar noch immer nicht in eine konsistente Praxis zu überführen ist. Für die praxeologische Vision eines zukünftigen Arsenals literaturwissenschaftlicher Konstrukte, die aus einem reziproken Verhältnis von Theorie und Praxis hervorgehen, wird der implizite Leser daher nicht zu berücksichtigen sein.

Andrea Albrecht, Stuttgart

Analogieschlüsse und metaphorische Extensionen in der interdisziplinären literaturwissenschaftlichen Praxis I Wechselbälge im interdisziplinären Grenzverkehr – Franz Brentano Der Philosoph und Psychologe Franz Brentano (1838–1917) entwarf 1893 in einem Anhang seiner polemischen Schrift Über die Zukunft der Philosophie eine launige Typologie der misslingenden Versuche, die auseinanderdriftenden wissenschaftlichen Disziplinen zusammenzuhalten und die aufbrechende Kluft zwischen der Philosophie auf der einen und den Fachwissenschaften, Geistes- wie Naturwissenschaften, auf der anderen Seite zu überbrücken. Den Ausgangspunkt für seine Überlegungen bildet die Beobachtung, dass die öffentliche Meinung, die augenblicklich mehr und mehr zur Anwendung naturwissenschaftlicher Methode auf geistigem Gebiete ermuntert, hier oft zu wahren wissenschaftlichen Vergehen und Verbrechen Anlaß gibt.1

Obgleich Brentano sich selbst als „Anhänger“ der naturwissenschaftlichen „Forschungsweise“2 identifiziert und mit seiner Schrift ausdrücklich gegen Adolf Exners Kritik an der „Invasion naturwissenschaftlicher Denkformen“3 in den Geisteswissenschaften zu Felde zieht, kritisiert er den unbedachten, ubiquitären Einsatz naturwissenschaftlicher Methoden in geisteswissenschaftlichen Gegenstandsbereichen. In seiner „Fehlertafel irriger Anwendungsweisen“4 verzeichnet er fünf Fälle eines unberechtigten ‚Grenzübertritts‘: Neben – erstens – dem Fall der „Schminke“,5 bei dem naturwissenschaftliche Konzepte und Bilder nur äußer-

1 Franz Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, Wien 1893. Erneut unter dem gleichen Titel herausgegeben von Oskar Kraus, Leipzig 1929. Im Folgenden wird nach der neuesten Ausgabe zitiert: Franz Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, Oskar Kraus (Hrsg.), neu eingeleitet v. Paul Weingartner, Hamburg 1968, S. 75. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 30. Brentano zitiert aus der Rektoratsrede von Adolf Exner, Über politische Bildung. Rede gehalten bei Übernahme der Rektorswürde an der Wiener Universität, 3. Aufl., Leipzig 1892, S. 24. 4 Emil Utitz, „Franz Brentano“, in: Kant-Studien, 22/1918, S. 217–242, hier S. 220. 5 Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, S. 75.

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lich, das heißt zur rhetorischen Präsentation von nicht ernsthaft naturwissenschaftlich erworbenen Erkenntnissen verwendet würden, nennt Brentano – zweitens – den Fall des „Wechselbalges“,6 bei dem unter einem geisteswissenschaftlichen oder weltanschauungsliterarischen Titel naturwissenschaftliche Exzerpte und Allgemeinplätze aufgereiht würden: Das magere Hühnchen mit dem Gefüllsel scheint ein ganz ansehnlicher Braten geworden. Aber natürlich ist die Geisteswissenschaft damit um keine einzige Entdeckung bereichert; ja, die Untersuchungen, welche die allerwesentlichsten sind, werden nun oft völlig sistiert.7

Drittens kennt Brentano den Fall des Dilettanten, der sich frivol und inkompetent an die Bearbeitung ihm fremder Fragestellungen mache und dabei „seinen ganzen, durch wissenschaftliche Übung wohldisziplinierten Charakter“ ablege, so als ließe sich die auf „einem Feld glänzend bewährte Begabung auf ein anderes“ ohne weitere Anpassungen der Methoden übertragen.8 Hinzu kommt – viertens – der Fall fataler „logischer Unkenntnis“,9 bei dem ohne Vertrautheit mit der Eigenlogik einer wissenschaftlichen Disziplin Übertragungen vorgenommen würden, und schließlich – fünftens – der „Fall des Übersehens der Grenze“: Hier ignoriere der trans- beziehungsweise interdisziplinär aktive Forscher die „Grenze zwischen lehrmäßigem Wissen und wissenschaftlichem oder künstlerischem Takt“10 und könne folglich das implizite Wissen und die stillen Praktiken einer Disziplin bei seinen Übertragungen nicht angemessen berücksichtigen. Die inkriminierten Formen des „Mißverhaltens“11 resultieren nach Brentanos Diagnose vor allem aus der zeitgenössischen Überschätzung der Naturwissenschaften und einer daran gekoppelten Hybris der Naturwissenschaftler – einer Hybris, die sich aus den Erfolgen naturwissenschaftlicher Forschung im 19. Jahrhundert speise. Als heutige Leserin ist man allerdings geneigt anzunehmen, dass sich die Lage auch in den vergangenen 100 Jahren nicht wesentlich verändert hat, man vielmehr Brentanos Typologie unschwer auch auf aktuelle Praktiken interdisziplinären Arbeitens anwenden könnte. Doch während Brentano Ende des 19. Jahrhunderts vor allem die ‚Vergehen‘ seiner naturwissenschaftlichen Kollegen im Blick hatte (er nennt namentlich Du Bois-Reymond, Helmholtz, Tait, Darwin,

6 Ebd. 7 Ebd., S. 77. 8 Ebd., S. 76 f. 9 Ebd., S. 78. 10 Ebd., S. 79. 11 Ebd., S. 81.  

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Huxley, Baer, Hering, Mach und Rokitansky12), scheinen sich die Naturwissenschaftler und Mathematiker heutzutage zwar durchaus noch für literarische und ästhetische, vergleichsweise selten aber für literatur- und geisteswissenschaftliche Problemkomplexe zu interessieren. Heutzutage sind es vielmehr die Geisteswissenschaftler selbst, die die „Anwendung naturwissenschaftlicher Methode auf geistigem Gebiete“ befördern, seien es biologische, ‚lebenswissenschaftliche‘, kognitions- und neurowissenschaftliche oder informationstechnische Methoden. Obgleich nun Transfers und Kooperationen zwischen den Disziplinen wissenschaftspolitisch heute mehr denn je im Trend liegen und sich dieser Trend auch im Zuge der sogenannten ‚kulturwissenschaftlichen Öffnung‘ der Geisteswissenschaften auf das Selbstverständnis und die Programmatik der geisteswissenschaftlichen Disziplinen massiv ausgewirkt hat, ist über die tatsächliche Gestaltung interdisziplinärer Arbeit, auf die Brentanos Typologie sich kritisch bezieht, bislang nur wenig bekannt.13 Mein Beitrag wird zu dieser auch praxeologisch interessanten Frage nichts Systematisches beitragen können, sondern Brentanos Beobachtungen nur zum Anlass nehmen, an einem konkreten Beispiel eine spezifische Praxis literaturwissenschaftlicher Interdisziplinarität zu rekonstruieren und zu kritisieren, die ich im Anschluss an die Laboratory Studies als „AnalogieRäsonieren“14 beziehungsweise – in einer angemesseneren Eindeutschung des englischen analogical reasoning – als ‚Analogie-Denken‘ bezeichne. Schon Brentano verteidigt just dieses Verfahren als eines der wenigen interdisziplinären Verfahren, die – besonnen angewendet – Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in ein produktives Verhältnis setzen und zum Wohle der Letzteren wirken würden;15 unter diesen Voraussetzungen will er sogar wiederholt die These verteidigen: „Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est.“16 Im Folgenden wird es also zunächst um eine Skizze des Verfahrens des Analogie-Denkens aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung (science studies) und der Wissenschaftstheorie gehen (II), bevor ich mich mit der Praxis des interdisziplinär orientierten literaturwissenschaftlichen Analogie-Denkens befas-

12 Ebd., S. 29. 13 Vgl. aber die ausgezeichneten Arbeiten von Julie Thompson Klein, z.B. Interdisciplinarity. History, Theory, and Practice, Detroit 1991. Zudem: Martina Röbbecke [u.a.], Inter-Disziplinieren – Erfolgsbedingungen von Forschungskooperationen, Berlin 2004; Sabine Maasen, „Inducing Interdisciplinarity: Irresistible Infliction? The Example of a Research Group at the Center for Interdisciplinary Research (ZiF), Bielefeld, Germany“, in: Nico Stehr/Peter Weingart (Hrsg.), Practicing Interdisciplinarity, Toronto [u.a.] 2000, S. 173–193. 14 Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2002 [zuerst 1984], S. 92–125. 15 Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, S. 36 und 45. 16 Ebd., S. 8 f. und 136.  

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se. Als Beispiel dazu dient mir die „chaostheoretisch beeinflusste[] Literaturwissenschaft“,17 wie es in einer relativ aktuellen Selbstkennzeichnung ihrer Protagonisten heißt (III). Zwei konkrete Appropriationen, eine hermeneutische (IV) und eine weltanschauliche Appropriation der Chaostheorie (V), werden das empirische Material für eine praxeologisch ausgerichtete Analyse liefern, deren Befunde ich abschließend tentativ auf ein paar allgemeine Beobachtungen hin zuzuspitzen versuche (VI).

II Analogical Reasoning aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung und der Wissenschaftstheorie Analogieschlüsse und ihre wissenschaftstheoretische Reflexion sind keine Errungenschaft der Moderne. Sie werden schon in der antiken und mittelalterlichen Logik thematisiert und kritisiert, dominieren dennoch nach Meinung Michel Foucaults die Episteme des 16. Jahrhunderts18 – eine Behauptung, die historisch widerlegt worden ist19 –, avancieren im Laufe des 18. Jahrhunderts bei Leibniz und anderen zum vielseitig verwendeten, aber auch vielstimmig kritisierten Mittel der wissenschaftlichen Heuristik,20 wecken am Anfang des 19. Jahrhunderts als „Zauberstab der Analogie“21 die Begeisterung der romantischen Naturphiloso-

17 Karin S. Wozonig, Chaostheorie und Literaturwissenschaft, Innsbruck 2008, S. 7. 18 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1971, S. 46 f. 19 Vgl. unter anderem George Huppert, „Divinatio et Eruditio“, in: History and Theory, 13/1974, 3, S. 191–207, hier S. 204, der zu Recht darauf insistiert, dass auch im 16. Jahrhundert analogisches Denken scharf kritisiert wurde: „What I should like to establish on firm ground, however, is that there was in the sixteenth century, in France, a tradition of humanist learning which scoffed at magic, at the hermetic doctrines, at Paracelsus, signatures, correspondences, astrology, and all the other faces of the ‚system‘ glorified by Foucault as the episteme of the age, and that this tradition was the dominant and respectable one.“ 20 Für Leibniz wird die Analogie zur zentralen heuristischen Maxime der Naturerkenntnis, vgl. hierzu Bernhard Sticker, „Naturam cognosci per analogiam. Das Prinzip der Analogie in der Naturforschung bei Leibniz“ [1969], in: Ders., Erfahrung und Erkenntnis, Hildesheim 1976, S. 152–165; auch Emily Grosholz, „L’analogie dans la pensée mathématique de Leibniz“, in: Dominique Berlioz/Frédéric Nef (Hrsg.), L’Actualité de Leibniz: Les deux labyrinthes, Stuttgart 1999, S. 511–522. Es gibt nicht wenige direkte und indirekte Untersuchungen zur Rolle von Analogien im wissenschaftlichen Denken über die Jahrhunderte hinweg, vgl. z.B. Yves Gingras/Alexandre Guay, „The Uses of Analogies in Seventeenth and Eighteenth Century Science“, in: Perspectives on Science, 19/ 2011, S. 154–191, ferner Walter Kaiser, „Analogien in Physik und Technik im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 12/1989, S. 19–34. 21 Novalis, „Die Christenheit oder Europa“, in: Werke und Briefe, Alfred Kelletat (Hrsg.), München 1962, S. 389–408, hier S. 401. Vgl. dazu u.a. Herbert Uerlings, „Romantische Naturphilosophie bei  

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phen und Dichter22 und finden auch in den Wissenschaften, aber auch der Wissenschaftstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts noch einige teils affirmative, teils kritische Beachtung,23 zuletzt im Rahmen des sogenannten practice turn der Wissenschaftsforschung (science studies). Nimmt man diese zum Ausgangspunkt, so handelt es sich beim analogical reasoning um eine vielfältig eingesetzte Übertragung von etablierten Konzepten, Strukturen und Verfahren aus einem Forschungsbereich in einen anderen, um sie dort heuristisch zu nutzen und eine bereits realisierte Problemlösung womöglich auch innerhalb des neuen Bereichs erfolgreich anwenden zu können. Die analogischen Übertragungen von einem bekannten in einen weniger bekannten Bereich sind nicht zwangsläufig, aber sehr häufig mit ‚metaphorischen Extensionen‘ der übertragenen Konzepte verbunden – vor allem dann, wenn die Übertragung zwischen zwei wesentlich verschiedenen Bereichen statthat, es also neben strukturellen Ähnlichkeiten der verknüpften Bereiche auch entscheidende Unähnlichkeiten gibt, die den neuen Kontext der transferierten Begriffe bedingen. Es geht also beim Analogie-Denken in der Regel um einen Wissensübertrag aus einem untersuchten, gut bekannten Fall auf eine weniger bekannte, unklare Situation […]. Da sich das durch die Metapher oder Analogie mobilisierte Wissen bereits in einem ähnlichen Kontext bewährt hat, erscheint es wahrscheinlich, daß es unter Voraussetzung angemessener Modifikationen auch in der neuen Situation ‚zum Funktionieren‘ gebracht werden kann.24

Karin Knorr-Cetina, die die Funktion des Analogie-Denkens insbesondere für die naturwissenschaftliche, experimentbasierte Laborforschung analysiert hat, betont den opportunistischen Charakter des wissenschaftlichen Analogie-Denkens: Zwar erweise sich die Vermutung, ein Konzept, eine Struktur oder ein Verfahren übertragen zu können, nicht immer als richtig. Doch es gehe beim Analogie-Denken nicht um die tendenziell riskante Auseinandersetzung mit einem „offenen Problem“,25 dem man durch Hypothesen und ihre Falsifikation beziehungsweise Bestätigung beizukommen suche, sondern primär um den Versuch, einer vorhandenen Lösung und vorhandenen technischen Ressourcen weitere Anwendungs-

Novalis“, in: Thomas Arzt/Roland Albert Dollinger/Maria Hippius Gräfin Dürckheim (Hrsg.), Philosophia naturalis. Beiträge zu einer zeitgemäßen Naturphilosophie, Würzburg 1996, S. 103–134. 22 Vgl. u.a. Jürgen Daiber, „Die Suche nach der Urformel: Zur Verbindung von romantischer Naturforschung und Dichtung“, in: Aurora, 60/2000, S. 75–103. 23 Vgl. dazu den wissenschaftshistorischen Überblick bei Lutz Danneberg, Methodologien. Struktur, Aufbau und Evaluation, Berlin 1989, S. 42–55. 24 Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, S. 107. 25 Ebd., S. 112.

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möglichkeiten zu verschaffen. Es handele sich folglich nicht um ex ante-Vermutungen, sondern um post hoc-Übertragungen,26 die einem in der Tendenz konservativen Kalkül der Wissensbestätigung statt der Wissensinnovation folgten. Die gelingende Analogiebildung begründet somit eine Subsumtion: Das zuvor noch ungelöste wissenschaftliche Problem wird als Spezialfall einer etablierten Theorie erkannt. Analogisches Denken kann allerdings in anders gerahmten wissenschaftlichen Kontexten auch andere Formen haben und andere wissenschaftliche Funktionen erfüllen – Funktionen, aus denen sich auch die jeweiligen Gütekriterien für den Erfolg oder Misserfolg analogischer Verknüpfungen gewinnen lassen müssten. Holzschnittartig unterscheiden lassen sich zunächst materiale Analogien, die auf geteilten Eigenschaften, ähnlichen Eigenschaften beziehungsweise ähnlichen Strukturen der miteinander verknüpften Bereiche beruhen, von formalen Analogien, die zwei Bereiche über ein Kalkül, ein mathematisches Modell oder Ähnliches aufeinander beziehen. Je nach Kontext können Analogien und metaphorische Übertragungen (a) zur Beschreibung beziehungsweise Neubeschreibung oder (b) zur Illustration und Veranschaulichung eines weniger anschaulichen Phänomenbereichs dienen. Analogie-Denken kann darüber hinaus, wie in den von KnorrCetina analysierten Fällen, eine heuristische Funktion (c) erfüllen, insofern es zu Hypothesen über das unbekannte Phänomen führt. Lassen sich diese Hypothesen (statistisch) bestätigen, kann die Analogiebildung entweder (d) eine Bestätigungsfunktion für die übertragene Theorie (Subsumtion) haben oder aber den Anlass für (e) eine Verallgemeinerung und Erweiterung der übertragenen Theorie (Induktion, Generalisierung) liefern. Erweisen sich die Hypothesen hingegen als falsch, kann dies (f) zu einer Korrektur oder Einschränkung des Geltungsbereichs einer Theorie (Restriktion) führen. Schließlich werden Analogien mitunter auch (g) Erklärungsfunktionen zugeschrieben: An die Stelle einer bereichsinternen ‚Erklärung‘ tritt dann der Verweis auf den analogisch assoziierten Bereich und die dort zulässigen Inferenzen; ohne weitreichende Vorannahmen über grundlegende Strukturhomologien in den beiden analogisierten Gegenstandsbereichen ist diese Erklärungsfunktion wissenschaftstheoretisch allerdings schwer zu rechtfertigen. Welche konkreten Funktionen dem Analogie-Denken in der wissenschaftlichen Praxis berechtigter wie unberechtigter Weise zugeschrieben werden können, welche Zusatzannahmen dabei zum Tragen kommen und worin die Güte einer Analogiebildung besteht, ist oftmals nur im Einzelfall zu entscheiden. Ein berühmtes naturwissenschaftsgeschichtliches Beispiel für eine fruchtbare und für uns instruktive analogisch-metaphorische Übertragung bietet das Fluidums-

26 Ebd., S. 107–109.

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modell des 18. Jahrhunderts,27 das, tradiert von Benjamin Franklin über Michael Faraday bis zu James Clerk Maxwell (und anderen), Elektrizität beziehungsweise Elektromagnetismus und Wasser analogisch aufeinander bezieht. Das ‚Fließen‘ des elektrischen ‚Stroms‘ hält sich bis heute als erstarrte, ‚tote‘ Metapher beziehungsweise als fachsprachlich terminologisierter Ausdruck in unserer Sprache. Am Beginn dieser Analogiebildung stand die weitreichende Hoffnung auf eine universale, grundlegende und einfache Theorie, die alle möglichen Flüssigkeiten mittels einer gemeinsamen Theorie beschreibt. So konstatiert beispielsweise Georg Christoph Lichtenberg: Alle Fluida haben untereinander etwas Gemeinsames, und je mehr wir darüber erfahren, desto mehr Analogien finden sich zwischen ihnen. Vielleicht wird man […] schließlich bei etwas Einfachem anlangen, d.h. bei den Eigenschaften eines allgemeinen Fluidums […].28

In der Tat hat sich das Fluidumsmodell als fruchtbar, wenn auch nicht als grenzenlos fruchtbar erwiesen. Ernst Mach spricht Maxwell das Verdienst zu, „die Benützung“ dieser „Analogie mit Bewußtsein zu einer sehr geklärten physikalischen Methode entwickelt“ zu haben. Er habe „in den Erscheinungen des Gleichgewichtes der Elektrizität, des Magnetismus, der Strömung der Elektrizität u.s.w. gemeinsame Züge“ gefunden, „die sämtlich an die Strömungserscheinungen einer Flüssigkeit erinnern“;29 die wahrgenommene Ähnlichkeit von Eigenschaften und Strukturen habe Maxwell dann dazu motiviert, das eine durch das andere zu ‚illustrieren‘ und so zu potentiell neuen, beschreibenden Aussagen über Elektrizität zu gelangen. Maxwell selbst spricht seiner Analogiebildung eine bidirektionale Illustrationsfunktion zu und spricht ihr zugleich eine Bestätigungs- oder Restriktionsfunktion für die analogisch übertragene Theorie ab: „In order to obtain physical ideas without adopting a physical theory“, konstatiert er im Jahr 1855, we must make ourselves familiar with the existence of physical analogies. By a physical analogy I mean that partial similarity between the laws of one science and those of another which makes each of them illustrate the other.30

Maxwell ist demnach weder primär daran interessiert, die Phänomene der Elektrizität als Spezialfall einer bekannten Theorie auszuweisen noch eine Wasser und

27 Vgl. dazu grundlegend John Heilbron, Weighing imponderables and other quantitative science around 1800, Berkeley 1992. 28 Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. IV, Wolfgang Promies (Hrsg.), München 1967, S. 1239 (Brief 1795 an Alessandro Volta). 29 Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum, 3. Aufl., Leipzig 1917, S. 230. 30 James Clerk Maxwell, „On Faraday’s Lines of Force (1855)“, in: The scientific papers of James Clerk Maxwell, W. D. Nivin (Hrsg.), New York 1890, S. 155–229, hier S. 156.

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Elektrizität umfassende physikalische Theorie oder ein entsprechendes mathematisches Modell zu entwickeln. Zudem geht es ihm auch nicht darum, seine illustrierende Analogie zwischen den Stromlinien der Bewegung einer nicht komprimierbaren Flüssigkeit auf der einen und den Kraftlinien eines magnetischen Feldes auf der anderen Seite zu hypostasieren. Obgleich es sich um eine Analogie zwischen zwei naturgesetzlich erschließbaren Bereichen handelt, weist er daher wiederholt darauf hin, dass es sich bei seiner Vorstellung einer ‚elektrischen Flüssigkeit‘ nur um ein „imaginary fluid“, „merely a collection of imaginary properties“ handele.31 Das sich darin niederschlagende Problembewusstsein trägt dem ontologischen Status der Analogie Rechnung: Maxwell weiß offenbar, dass er nicht über ‚Wirklichkeit‘, sondern über ein Gedankenkonstrukt spricht – ein Gedankenkonstrukt, in dem nicht alle Eigenschaften des übertragenen Konzepts beziehungsweise der übertragenen Strukturen eine Entsprechung finden. Analogische Übertragungen beschränken sich vielmehr auf eine (möglicherweise nicht vollständig bekannte) Auswahl beziehungsweise begrenzte Menge ausgezeichneter Eigenschaften, also auf eine, wie Maxwell schreibt, „partial similarity“. Übersieht man diesen Umstand, wird die Analogie oder die Metapher zu sehr ‚beim Wort‘ genommen. Man könnte so beispielsweise geneigt sein, auch beim elektrischen Strom eine Verdunstung zu erwarten oder, wie am Ende des 19. Jahrhunderts geschehen, auch für Lichtwellen eine medienspezifische Ausbreitungsgeschwindigkeit im ‚Äther‘ anzunehmen. Geleitet und auch missgeleitet von Analogievorstellungen der besagten Art formulierte eine Reihe von Physikern des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl mechanischer Äthermodelle, bis Albert Einstein schließlich, nachdem er selbst in den 1890er Jahren noch an einem Äthermodell festgehalten hatte, mit der Speziellen Relativitätstheorie eine ganz andere Lösung entwarf und so für elektromagnetische Wellen die Fludiumsanalogie, wie man ex post feststellen kann, endgültig an eine Grenze führte. Folgt man der Metapherntheorie Max Blacks und Mary Brenda Hesses, dann bildet der konzeptuelle metaphorische Sprachgebrauch, wie man ihn bei Maxwell und anderen beobachten kann, anschauliche, konkrete und vertraute Bereiche der sogenannten ‚source domain‘ auf unanschaulichere, abstraktere und unvertrautere Bereiche der ‚target domain‘ ab, um Letztere durch metaphorische Ausdrücke beschreibbar zu machen und eine möglichst anschauliche und mitunter auch heuristisch auswertbare Vorstellung zu erzeugen.32 Die metaphorische Ver-

31 Ebd., S. 159 f. 32 Vgl. zur Analyse von Maxwells Analogie-Denken unter anderem Joseph Turner, „Maxwell and the Method of Physical Analogy“, in: British Journal for the Philosophy of Science, 6/1955/1956, S. 226–238; Alan F. Chalmers, „Maxwell’s Methodology and His Application of it to Electromagnetism“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 4/1973, S. 107–164; Ders., „The Heuristic  

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knüpfung (mapping) stellt dabei eine Beziehung zwischen den beiden Bereichen her, sie projiziert Merkmale oder Merkmalskomplexe des Quellbereichs auf den Zielbereich, strukturiert auf diese Weise dessen Wahrnehmung und eröffnet für Letzteren einen Verfügungsraum von potentiellen Schlussregeln und Hypothesen.33 Wichtig ist dabei – und auch dies wird an Maxwells Beispiel deutlich –, dass es sich bei analogischen Relationen in der Regel um Ähnlichkeitsrelationen und nicht um Identitäts- oder Äquivalenzrelationen handelt. Denn die unterscheidenden Merkmale und Merkmalskomplexe zwischen Quell- und Zielbereich werden bei der Übertragung nicht suspendiert, sondern durch den Kontext, in dem die Metapher auftritt, neutralisiert; sie konstituieren – in der Terminologie Mary Hesses – eine negative Analogie.34 In jedem Fall aber ist die ‚Bedeutung‘ der Metapher vom jeweiligen lokalen Kontext abhängig, in dem sie verwendet wird. Soll sie hier eine fruchtbare Wirkung entfalten, muss sie sich für die Beschreibung und Illustration bewähren oder Hypothesen generieren helfen, die potentiell etwas Neues und Relevantes über den Zielbereich auszusagen vermögen. Problematischer ist die Frage nach einem analogischen Rückschluss auf den Quellbereich der Analogie oder Metapher. Bei Maxwell ist dieser Rückschluss ausschließlich hinsichtlich der Illustration vorgesehen, zumal er primär an Aussagen über Elektrizität, nicht an Aussagen über Wasser interessiert ist. In den von Knorr-Cetina untersuchten Fällen scheint es anders zu sein; hier könnte man möglicherweise eine bidirektionale heuristische Funktion annehmen, sofern die experimentellen Erfahrungen im Zielbereich das Wissen auch über den Quellbereich verbessern könnten. Allerdings erweist sich die Analogiebeziehung in diesen Fällen als im Kern transitorisch, denn sobald sich das ursprünglich unbekannte, analogisch erschlossene Phänomen als Spezialfall darstellen lässt, wird die negative Analogie unerheblich und die Analogie- zu einer Äquivalenzrelation. In der modernen Wissenschaftstheorie wird daher oftmals bezweifelt, ob man überhaupt von einer bidirektionalen, interaktionistischen Relation zwischen dem Quell- und dem Zielbereich der Analogien und Metaphern ausgehen darf35 oder

Role of Maxwell’s Mechanical Model of Electromagnetic Phenomena“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 17/1986, S. 415–427; Mary Hesse, „Logic and Discovery in Maxwell’s Electromagnetic Theory“, in: Ronald N. Giere/R. S. Westfall (Hrsg.), Foundations of Scientific Method: The Nineteenth Century, Bloomington, London 1973, S. 86–114. 33 Vgl. Michael Pielenz, Argumentation und Metapher, Tübingen 1993, S. 105–109. 34 Vgl. Mary Hesse, Models and Analogies in Science, Notre Dame (Indiana) 1966, S. 8. 35 Vgl. jedoch das Insistieren auf eine bidirektionale Wechselwirkung von metaphorischem Quell- und Zielbereich bei Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, S. 94. Auch die literarische Metaphorik beruht zumeist auf einem bidirektionalen metaphorischen Übertrag.

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nicht vielmehr eine unidirektionale Relation für die Rechtfertigung von analogischen Wissensansprüchen voraussetzen muss. Als „Metaphern-Theorie der Innovation“ sind Chancen und Risiken des Analog-Denkens in der Wissenschaftsforschung der letzten Jahre recht breit und durchaus auch kritisch verhandelt worden.36 Eingang in die Selbstreflexion literaturwissenschaftlicher Interdisziplinarität hat diese Diskussion meines Wissens noch nicht gefunden,37 obgleich das metaphorische Analogie-Denken in den Literaturwissenschaften zum vielleicht meist genutzten Verfahren interdisziplinärer Brückenschläge avanciert ist. Innerhalb der Literature & Science Studies gehört es zu den gängigen, stillschweigend praktizierten Operationen, um naturwissenschaftliche, mathematische und technische Wissenskulturen mit den ‚eigenen‘, literarischen, philosophischen und geisteswissenschaftlichen Wissenskulturen zu verknüpfen; und auch in der ‚Poetologie des Wissens‘ spielen metaphorische und analogische Beziehungen zwischen den verschiedenen Bereichen des Wissens eine wesentliche Rolle.38 Der Erfolg metaphorisch-analogischen Denkens in den Literaturwissenschaften mag dabei nicht zuletzt an der Affinität der poetischen Sprache zu Metaphern und Bildern liegen.39 Für die wissenschaftliche Beschreibungssprache und die argumentativen Verfahren der Literaturwissenschaften aber, die im interdisziplinären Dialog eine intrikate und komplexe Funk-

36 Vgl. neben Knorr-Cetina vor allem die ältere Diskussion bei Max Black, Models and Metaphors, Ithaca, New York 1962; D. A. Schon, Displacement of Concepts, London 1963. Neueren Datums: Petra Drewer, Die kognitive Metapher als Werkzeug des Denkens. Zur Rolle der Analogie bei der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse, Tübingen 2003; Klaus Hentschel, „Die Funktion von Analogien in den Naturwissenschaften, auch in Abgrenzung zu Metaphern und Modellen“, in: Acta Historica Leopoldina, 56/2010, S. 13–66; Ingo Schulz‑Schaeffer, „Innovation durch Konzeptübertragung. Der Rückgriff auf Bekanntes bei der Erzeugung technischer Neuerungen am Beispiel der Multiagentensystem-Forschung“, in: Zeitschrift für Soziologie, 31/2002, 3, S. 232–251. 37 Ironischerweise bemüht sich Wozonig, Chaostheorie und Literaturwissenschaft, S. 124, am Beispiel der Chaostheorie um eine „Einsicht in die Metaphernhaltigkeit der Naturwissenschaften und der Mathematik“, in der Hoffnung, auf diese Weise der nur metaphorischen Verwendung chaostheoretischer Ausdrücke in den Kulturwissenschaften abzuhelfen. 38 Vgl. dazu vor allem Olav Krämer, „Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin 2011, S. 77–115. 39 Kontrovers diskutiert wird dies seit den frühen (und polemischen) Arbeiten von Harald Fricke, Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen, München 1977; vgl. dazu aber vor allem die Richtigstellungen von Gottfried Gabriel, „Wie klar und deutlich soll eine literaturwissenschaftliche Terminologie sein?“, in: Christian Wagenknecht (Hrsg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft: Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart 1989, S. 24–34.

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tion zu erfüllen haben, stellt sich die Frage, ob eine Einbeziehung der wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu Voraussetzungen und Implikationen des Analogie-Räsonierens nicht helfen könnte, Aufschluss über die besonderen Bedingungen interdisziplinären Arbeitens zu gewinnen und auch eine Klärung darüber zu befördern, wie sich ‚Vergehen‘ im Sinne Brentanos auf geisteswissenschaftlicher Seite von produktiven Grenzüberschreitungen unterscheiden lassen. Exemplarisch prüfen möchte ich dies an einem Forschungsfeld, das, obgleich es vor nicht allzu langer Zeit prosperierte, aus der Retrospektive etwas bizarr erscheinen mag: an der „chaostheoretisch beeinflussten Literaturwissenschaft“. Gerade an diesem in vielerlei Hinsicht extremen Beispiel lassen sich die literaturwissenschaftlichen Praxisformen, um die es mir geht, besonders anschaulich aufzeigen.

III Die „chaostheoretisch beeinflusste[] Literaturwissenschaft“ Kurz zum wissenschaftshistorischen Kontext meines Beispiels: Die ‚Chaostheorie‘ bezeichnet die mathematische Theorie dynamischer Systeme. Sie wurde Mitte der 1970er Jahre von Mathematikern und Physikern als ein vielversprechendes interdisziplinäres Forschungsfeld aufgetan und kurz darauf mit großem Medienaufwand als revolutionärer Paradigmenwechsel populärwissenschaftlich vermarktet. In seinem Bestseller Chaos: Making a New Science (1988) – einem der vielen sogenannten pop science books,40 aus dem Literaturwissenschaftler bevorzugt ihr Wissen über die Naturwissenschaften beziehen – referiert der Wissenschaftsjournalist James Gleick die nicht gerade bescheidenen Ansprüche, die die Wissenschaftler mit ihrem neuen Paradigma verbanden, verknüpft die Theorie, auch weil sich eine formale Darstellung in Büchern dieser Art verbietet, mit quasi-philosophischen Erwägungen und liefert so zugleich – mit Brentano gesprochen – einen ersten Fall naturwissenschaftlicher „Schminke“ der Populärwissenschaften: Chaos breaks across the lines that separate scientific disciplines. […] Believers in chaos […] speculate about determinism and free will, about evolution, about the nature of conscious intelligence. They feel that they are turning back a trend in science toward reductionism […].

Nach diesem noch vorsichtigen, vielleicht sogar ironischen Anfang wird der Ton apodiktischer:

40 Cathryn Carson, „Who Wants a Postmodern Physics? “, in: Science in Context, 8/1995, 4, S. 635–655, hier S. 645.

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twentieth-century science will be remembered for just three things: relativity, quantum mechanics, and chaos. Chaos […] has become the century’s third great revolution in the physical sciences [… because] chaos eliminates the Laplacian fantasy of deterministic predictability.41

25 Jahre später ist dieser durch Gleick und andere befeuerte ‚Chaos-Hype‘ vorbei; die Hoffnung, die auch von vielen Fachvertretern zeitweilig an die Theorie geknüpft wurde, ist weitgehend zerstäubt. Zwar hat sich das Studium dynamischer Systeme in einigen wissenschaftlichen Anwendungsbereichen als Methode etablieren können; eine Revolution oder einen Paradigmenwechsel, der diese Bezeichnung verdienen würde, schreibt ihr allerdings kein ernst zu nehmender Naturwissenschaftler, Mathematiker oder Wissenschaftshistoriker mehr zu.42 Auch in den Literaturwissenschaften ist der Boom, den die Chaostheorie vor allem in den 1990er Jahren und vor allem in den USA darstellte, zumeist durch eine etwas peinliche Erinnerung abgelöst. Das Hauptfeld der Literature & ScienceStudies, auch die ursprüngliche Avantgardistin chaostheoretischer Betrachtungen N. Katherine Hayles,43 hat sich längst anderen naturwissenschaftlichen Explorationen, etwa den virtuellen Welten der Cybernetics zugewandt.44 Dennoch ist das Chaos nicht aus den Literaturwissenschaften verschwunden. Immer wieder findet sich auch in den letzten Jahren die Überzeugung, dass die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme „zum Durchbruch eines ganzen Wissenschaftszweiges“45 geführt und ein posteuklidisches Weltbild46 eingeleitet habe. Und so schreibt man in Literatur- und Kulturwissenschaften bis ins 21. Jahrhundert hinein nicht nur unverdrossen über Komplexität, Selbstähnlichkeit, Nichtlinearität, Bifurkationen, Schmetterlingseffekte, Attraktoren und Fraktale, son-

41 James Gleick, Chaos. Making a New Science, New York 1988, S. 5 f. 42 Vgl. dazu Wilfried Kuhn, „Eine wissenschaftstheoretische Analyse der historischen Entwicklung der Chaos-Forschung“, in: Marie-Luise Heuser-Keßler/Wilhelm G. Jacobs (Hrsg.), Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Berlin 1994, S. 161–181, der sich schon 1994 eher an eine thematische Evolution im Sinne Holtons statt an einen Paradigmenwechsel erinnert fühlte. 43 N. Katherine Hayles, Chaos Bound. Orderly Disorder in Contemporary Literature and Science, Ithaca 1990; Dies., „Enlightened Chaos“, in: Theodore E. D. Braun/John A. McCarthy (Hrsg.), Disrupted Patterns. On Chaos and Order in the Enlightenment, Amsterdam 2000, S. 1–5. 44 Vgl. N. Katherine Hayles, How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature and Informatics, Chicago 1999. 45 Herbert W. Franke, „Schnittstelle Mathematik/Kunst“, in: Andreas Dress/Gottfried Jäger (Hrsg.),Visualisierung zwischen Kunst und Mathematik. Grundlagen und Anwendungen, Braunschweig, Wiesbaden 1999, S. 3–21, hier S. 4 f. 46 Vgl. u.a. Thomas Jackson Rice, Joyce, Chaos, and Complexity, Urbana 1997, S. 92 und öfter.  



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dern bastelt auch weiter am „Nonlinear Thinking“47 eines nicht-reduktionistischen Forschungsparadigmas. Was aber wird mit diesen Ausdrücken in der literaturwissenschaftlichen Beschreibungssprache eigentlich bezeichnet? Ordnet man das literaturwissenschaftliche Feld zunächst tentativ nach den Vorkommen, so gibt es vier Hinsichten, unter denen der Chaostheorie und den ihr entlehnten Konzepten eine konkrete literaturwissenschaftliche Bedeutung beigemessen wurde oder wird. Erstens können chaostheoretische Elemente im literarischen Text als Ergebnis eines bewusst oder auch nicht bewusst vorgenommenen Wissenstransfers auftreten; sie können als Motiv, als textuelles, formales Strukturmerkmal oder auch als Schreibverfahren in literarischen Texten vermutet werden. Dieser Fall, bei dem ein Interpret die mathematische Theorie als einen dem Autor zeitgenössischen Interpretationskontext bemüht, bleibt im Folgenden unberücksichtigt, weil hier zumeist traditionell und methodisch verhältnismäßig unproblematisch literaturwissenschaftlich gearbeitet werden kann. Chaostheoretische Elemente sind – zweitens – literarischen Texten zugeschrieben worden, die zeitlich vor der Modellierung der Chaostheorie entstanden sind. Sie werden dann in der Regel als Symptom einer literarischen Antizipation der wissenschaftlichen Theorie gewertet. So sind beispielsweise chaostheoretische Motive, Strukturen und Schreibverfahren besonders häufig bei den Romantikern,48 bei Goethe,49 bei den mittelhochdeutschen Dichtern50 und von Michel Serres sogar bei Lukrez ausgemacht worden.51 Auch dieser Fall anachronistischer

47 Michael Patrick Gillespie, The Aesthetics of Chaos. Nonlinear Thinking and Contemporary Literary Criticism, Gainsville 2003. 48 Vgl. Dennis F. Mahoney, „Hardenbergs Naturbegriff und -darstellung im Lichte moderner Chaostheorien“, in: Herbert Uerlings (Hrsg.), Novalis und die Wissenschaften, Tübingen 1997, S. 107–120; Dietrich Grohnert, „Fin-de-siècle-Visionen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert: Chaos und Goldenes Zeitalter in Novalis’ ‚Heinrich von Ofterdingen‘, in: Dietmar Jacobsen (Hrsg.), Kontinuität und Wandel, Apokalyptik und Prophetie: Literatur an Jahrhundertschwellen, Frankfurt a.M. 2001, S. 61–82; Laurie Ruth Johnson, „Bringing Chaos into the System. The Aesthetic Authority of Disorder in Friedrich Schlegel’s Philosophy“, in: Braun/McCarthy (Hrsg.), Disrupted Patterns, S. 119–133; Joyce S. Walker, „Romantic Chaos. The Dynamic Paradigm in Novalis’s ‚Heinrich von Ofterdingen‘ and Contemporary Science“, in: The German Quarterly, 66/ 1993, S. 43–59; Dietrich Mathy, Poesie und Chaos. Zur anarchistischen Komponente der frühromantischen Ästhetik, München 1984. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. 49 Vgl. u.a. den Sammelband von Herbert Rowland (Hrsg.), Goethe, Chaos, and complexity, Amsterdam, New York 2001. 50 Vgl. Ulrike Grein Gamra, Ein komplexer Ritter auf seiner dynamischen Queste. Wolframs Parzival und die Chaostheorie. Eine strukturelle Untersuchung, Bern [u.a.] 1999. 51 Vgl. Michel Serres, La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences, Paris 1977, etwa S. 30, 49.

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Zuschreibungen im Rahmen von Interpretationen ist hier nur am Rande von Interesse, wenngleich er ebenfalls eine ausführliche Kritik lohnte. Chaostheoretische Elemente treten – drittens – in der literaturwissenschaftlichen Beschreibungs- und Interpretationssprache aufgrund eines intendierten Begriffs- und Methodentransfers beziehungsweise einer metaphorischen Extension auf, die chaostheoretische Konzepte und Strukturen mit literaturwissenschaftlichen in Verbindung setzt. Oftmals findet dieses Verfahren in konkreten Einzelfällen Anwendung, doch es gab und gibt ebenso eine Reihe von Literaturwissenschaftlern, die in der „Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme“ eine „Metatheorie für die Literaturwissenschaft“ insgesamt zu erkennen meint.52 Dieser dritte Bereich steht im Zentrum der folgenden Ausführungen und ist eng verknüpft mit einem vierten Bereich: der Vorstellung eines disziplinenübergreifenden chaostheoretischen Paradigmas, die (vor allem) N. Katherine Hayles in die Kulturwissenschaften eingeführt hat. Hayles zufolge haben sich in der Postmoderne chaostheoretische Vorstellungen in allen kulturellen Sphären gleichermaßen entwickelt und ausgewirkt. Vorstellungen vom Chaos sind demnach, und dies ist sicher richtig, kein exklusives Eigentum des mathematisch-naturwissenschaftlichen Diskurses. Hayles geht vielmehr in poststrukturalistischer Tradition von einer kulturellen ‚Matrix‘ aus, in der literarische wie wissenschaftliche Chaosvorstellungen alter und neuer Provenienz ebenso verzeichnet und nachweisbar sind wie in den geisteswissenschaftlichen Theorien und poetischen Artefakten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt kann der Zeitgenosse demnach gar nicht anders als chaostheoretisch denken und handeln. Obzwar dies wiederum einen starken Determinismus, das Determiniertsein durch die Matrix, voraussetzt, ist das von Hayles und anderen favorisierte chaostheoretische Denken ‚nicht-deterministisch‘ und ‚nicht-linear‘ – wobei diese Begriffe oftmals in vagen und differierenden Bedeutungen verwendet werden, die nicht selten auch von ihrem mathematischphysikalischen Inhalt abweichen. Die bewussten und unbewussten Prämissen und Implikationen der geisteswissenschaftlichen Chaostheorie aber lassen sich am besten an konkreten Beispielen studieren.

52 Anja Ohmer, „Beiderseits der Grenzen. Nichtlineare Strukturen in Natur und Kultur“, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 15/2005, http://www.inst.at/trans/15Nr/05_5/ ohmer15.htm (Stand: 16.05.2013).

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IV ‚Bedeutungsattraktoren‘ – Hermeneutische Modelle Das erste Beispiel kreist um eine literaturwissenschaftliche Adaption des chaostheoretischen Konzepts des ‚Attraktors‘, der sich – ins Feld der Hermeneutik übertragen – in einen ‚Bedeutungsattraktor‘ transformiert. Doch zunächst zum Begriff des Attraktors im mathematischen Sinne: Ein dynamisches System wird durch eine Menge von Parametern und deren Veränderung im zeitlichen Verlauf beschrieben. Ein Attraktor bezeichnet nun eine unter der Zeitentwicklung invariante Teilmenge dieser Parameter, zu der sich das System unter bestimmten Ausgangsbedingungen asymptotisch hin entwickelt. Ein Attraktor mit einer fraktalen Struktur wird in der Chaostheorie ‚strange attractor‘ genannt. Systeme mit seltsamen Attraktoren sind chaotisch (d.h. an ihnen zeigt sich u.a. der sogenannte Schmetterlingseffekt) und haben daher in den wissenschaftlichen Popularisierungsmedien einige Aufmerksamkeit gefunden. Das mathematische Konzept des Attraktors ist nun verschiedentlich für die Beschreibung eines Verstehens- und Interpretationsprozesses herangezogen worden. Einige Literaturwissenschaftler nehmen etwa an, dass man literarische Texte so lesen könne, „as if they were chaotic systems“.53 Abgeleitet wird daraus, dass sich der Prozess der Genese eines chaotischen Systems mit dem Prozess der Genese einer Textbedeutung oder auch einer Bedeutungszuschreibung analogisieren lasse: […] the complex role of the author (narrator) is to design the initial pattern and to generate paths towards meaning and signification. The reader, too, must accept that he or she cannot completely control the text or decide its meaning. The reader must iterate (re-read) the text. I define reading as an iterative process of (re-)reading going on in the reader’s mind, where the material that is processed is derived from the text, but also from sources outside the text, as well as from the reader’s previous experiences. The iterative reading process, I suggest, creates space for order and meaning to merge through self-organization from chaos.54

Sowohl die Rolle des Autors gegenüber dem von ihm generierten Textsinn als auch die Rolle des Lesers im Lektüreakt sind demnach ‚komplex‘, wobei dies hier wohl prima facie im Sinne von ‚nicht einfach‘, aber ebenso gut in dem schillernden, mathematische Assoziationen einbeziehenden Sinn verstanden werden

53 Hayles, „Enlightened Chaos“, S. 2. Vgl. auch Wozonig, Chaostheorie und Literaturwissenschaft, S. 153. 54 Hans C. Werner, Literary Texts as Nonlinear Patterns. A Chaotics Reading of Rainforest, Transparent Things, Travesty and Tristram Shandy, Göteborg 1998, Abstract, o.P. Die metaphorischen Extensionen Werners sind selbst Wozonig, Chaostheorie und Literaturwissenschaft, S. 129, etwas zu wild.

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kann. Hinzu kommt eine psychologische Dimension, nämlich die Autor und Leser auferlegte Notwendigkeit, sich mit dem letztlich nicht vollständig kontrollierbaren, weil mehr- oder uneindeutigen („she cannot […] decide its meaning“) und unendlich weiter evolvierenden („paths towards meaning“) Sinn des Texts abzufinden. Wiederholtes Lesen führt dem Modell zufolge aber in einem Prozess der Selbstorganisation („through self-organization“) zu einem im Bewusstsein des Lesers situierten Raum („space“), in dem die zunächst chaotisch erscheinenden Textstrukturen durch Einbeziehung von anderen Quellen und bereits vorhandenen Lektüreerfahrungen abgelöst werden durch eine wiederum nur approximativ erreichbare Verbindung von Ordnung und Bedeutung („order and meaning to merge“). Was sich hier selbst organisiert, bleibt dabei unklar. Klar konstatiert werden lediglich die Prozesshaftigkeit, die unendliche Fortsetzbarkeit, die potentielle Mehr- und Uneindeutigkeit der Bedeutungsgenese, die das anfängliche Unverständnis überwindet und so Chaos in Ordnung überführt. Unter der Hand ist hier der Ausdruck ‚Chaos‘ als ‚Unordnung‘ in traditioneller Form dem ‚Kosmos‘ als Ordnung entgegengesetzt, obgleich die mathematische Chaostheorie nahelegt, Chaos und Ordnung gerade nicht mehr in dieser Weise zu dichotomisieren. Denkt man beispielsweise an die sogenannten ‚Apfelmännchen‘, die die Dynamik eines chaotischen Systems beschreiben und fest zur populärwissenschaftlichen Ikonographie der Chaostheorie gehören, so weisen diese ganz offensichtlich ein sehr hohes Maß an Struktur und Ordnung auf. Doch der etymologische oder begriffsgeschichtliche Resonanzraum des Ausdrucks ‚Chaos‘ ist nicht so einfach zu übertönen und lädt immer wieder zu ‚Belebungen‘ der Terminologie ein. Entscheidend aber ist vor allem, dass zum einen nur schwer auszumachen ist, was eigentlich in chaostheoretischer Modellierung Neues oder Anderes über den Prozess des Verstehens eines Texts ausgesagt wird. Zum anderen stellt sich die Frage, ob das, was gesagt wird, in der Terminologie der Hermeneutik nicht eloquenter und differenzierter formuliert werden könnte. Ähnliches, wenn auch mit etwas genauer entfalteten metaphorischen Extensionen durchsetzt, liest man in einer hinsichtlich der literaturwissenschaftlichen Verfahrensweisen ebenfalls recht extremen, aber gleichwohl nicht untypischen Arbeit aus dem Jahr 2009: Hier geht es um eine an die Chaostheorie ‚angelehnte‘ „Beschreibung der Ambivalenz in literarischen Texten“.55 Mit „Ambivalenz“ ist dabei ein Phänomen der ‚Mehrdeutigkeit‘ gemeint: Mit „Vexierbildern vergleichbar“, könnten Texte, so die metonymisch formulierte Ausgangsbeobachtung, „ver-

55 Susanne Hartwig, „Stimmigkeit und Ambivalenz. Vorteile eines Attraktorkonzeptes bei der Beschreibung literarischer Texte“, in: Roman Mikuláš/Karin S. Wozonig (Hrsg.), Chaosforschung in der Literaturwissenschaft, Münster 2009, S. 67–80, hier S. 67.

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schiedene Bedeutungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten nahelegen“.56 Dies sei mit Hilfe der Chaostheorie „eleganter und präziser“57 zu beschreiben als mit herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Termini. Doch der Anspruch ist nicht nur rhetorischer Natur, vielmehr soll man mit Hilfe der Chaostheorie zeigen können, dass „Bedeutung prozesshaft hervorgebracht wird und dass dabei Selbstverstärkung und Rückkopplung eine Rolle spielen“.58 Auch die methodischen Fragen, „wie weit Kontexte die Bedeutung einer Textstelle determinieren, wie sich Einzelelemente eines Textes gegenseitig verstärken und zu etwas völlig Neuem führen können (Übersummativität)“,59 ließen sich so beantworten. Hinzu kommt schließlich die evaluative Frage, auf die das „Attraktormodell“ ebenfalls eine Antwort geben könne, nämlich auf die Frage, „wann vorgegebene Interpretationen ‚gute‘ Interpretationen“ seien.60 Um Antworten auf diese nicht mehr ganz neuen Fragen zu geben, werden verschiedene, miteinander konkurrierende Bedeutungsattraktoren identifiziert und die hermeneutische „Bedeutungskonstruktion als dynamische[r] Prozess“ nachgezeichnet.61 Denn da sich „Bedeutung und Rezeptionsprozess […] zueinander wie Attraktor und dynamisches System“ verhielten, könne man sich, so der analogische Schluss, Bedeutungen „im Lichte des Attraktormodells als ‚stabile Werte‘ vorstellen, auf die das Zusammenspiel von Textdaten und individuellen Komplettierungen des Lesers zulaufen“.62 Um diesen Zustand zu erreichen, müssten jedoch „top down- und bottom up-Strategien sowie Autor und Leser in ihrer wechselseitigen Bedingtheit“63 Berücksichtigung finden, inbesondere bei Texten, die „mit schwach ausgebildeten oder sich gegenseitig widersprechenden Attraktoren“ ausgestattet seien.64 Autoritativ gestützt werden die Ausführungen zum hermeneutischen Attraktormodell durch Referenzen auf populärwissenschaftliche Darstellungen der Cha-

56 Ebd., S. 68. Dass beim Textverstehen in der Regel keine Entweder-oder-Entscheidungen zu treffen sind, bleibt unreflektiert. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 70. Übersummativität ist der gestalttheoretische Ausdruck für die alte Formel, dass ein Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile, vgl. Aristoteles, Metaphysik 1041 b 10 (VII. Buch [Z]). 60 Hartwig, „Stimmigkeit und Ambivalenz“, S. 70. 61 Ebd., S. 67. 62 Ebd., S. 69. 63 Ebd., S. 77. 64 Ebd., S. 75.

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ostheorie,65 auf andere literaturwissenschaftliche66 und schließlich auf eine gestaltpsychologisch-konstruktivistische Adaptation der Chaostheorie und das in diesem Kontext beschriebene kybernetische Konzept der „Hysterese“,67 mit dem die temporäre Stabilität und ‚Beharrungskraft‘ eines Systems vor einem Phasenübergang bezeichnet wird und mit dem man folglich analog den verzögerten Übergang von einer gesetzten Bedeutungszuschreibung zu einer anderen umschreiben könne. Die Stoßrichtung dieser ‚hermeneutischen‘ Arbeiten dürfte durch die Zitate und Paraphrasen deutlich geworden sein: Methodisch gesehen handelt es sich um metaphorische Analogieschlüsse, die die Chaostheorie zunächst zur Beschreibung und zur Illustration des Verstehens- und Interpretationsvorgangs nutzen. Die noch relativ direkt übertragbaren, weil im Vergleich zum mathematischformalen Modell anschaulichen und an nicht-mathematische Diskurse anschlussfähigen Ausdrücke des ‚Chaos‘, der ‚Ordnung‘, auch noch des ‚Attraktors‘, führen zur Einbeziehung weiterer, ferner liegender Konzepte wie der ‚Iteration‘, der ‚unendlichen Approximation‘, dem ‚dynamischen Prozess‘, der ‚Selbstverstärkung‘ und der ‚Rückkopplung‘ – Ausdrücke, die im chaostheoretischen Modell mit den Ausgangsausdrücken zusammenhängen und im literaturwissenschaftlichen Verstehensmodell nun ihre Entsprechungen suchen. Die chaostheoretisch und gestaltpsychologisch angereicherte Beschreibungs- und Illustrationssprache wird so schließlich dazu genutzt, die klassisch-hermeneutischen Problembeschreibungen, die offensichtlich im Hintergrund stehen, zu überschreiben und zu ersetzen. Konzepte wie die akkommodierende Sinnzuschreibung, Kohärenz-

65 U.a. wird verwiesen auf John Briggs/F. David Peat, Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaostheorie, Gütersloh 1992. 66 Dieter Wrobel, Postmodernes Chaos – chaotische Postmoderne. Eine Studie zu Analogien zwischen Chaostheorie und deutschsprachiger Prosa der Postmoderne, Bielefeld 1997; Ulrike Goldschweer, Das Komplexe im Konstruierten. Der Beitrag der Chaos-Theorie für die Literaturwissenschaft am Beispiel der Erzählzyklen ‚Sogljadataj‘ (Vladimir Nabokov) und ‚Prepodavatel simmetrii‘ (Andrej Bitov), Bochum 1998. Es handelt sich um zwei in Bochum entstandene Dissertationen im chaostheoretischen Geiste. Ein Rezensent zu Goldschweer resümiert: „G. hat mit ihrer Methode neue Ansätze der Interpretation erprobt und das enge Nebeneinander der materiellen und der zeichenhaften Wirklichkeit vorgeführt. Damit hat sie zumindest erneut deutlich gemacht, daß literarische Texte nicht nur ‚über etwas‘ aussagen, sondern komplexere Strategien verfolgen, die der Leser nicht in jedem Fall erkennt.“ (Karlheinz Kasper, [Rez.] „Ulrike Goldschweer: Das Komplexe im Konstruierten [...]“, in: Referatedienst zur Literaturwissenschaft, 31/1999, 1, S. 135– 136, hier S. 136.) 67 Peter Kruse/Michael Stadler, „Zur Emergenz psychischer Qualitäten. Das psychophysische Problem im Lichte der Selbstorganisationstheorie“, in: Wolfgang Krohn/Günter Küppers (Hrsg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1992, S. 134–160.

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postulate, Text-Kontext-Hierarchisisierungen und Parallelstellenverfahren oder auch der (wie auch immer konstruierte) hermeneutische Zirkel, Konzepte also, die in herkömmlicher Form den Verstehensprozess mehrdeutiger Texte zu erfassen helfen, scheinen somit nahezu obsolet zu werden. Dennoch scheint eine gewisse Befriedigung durch die analogisierende Umschreibung des Textverstehens gerade dann erreicht, wenn die chaostheoretischen Konzepte auf bekannte literaturwissenschaftliche Termini appliziert werden können, etwa auf das alte, aus der psychologischen Ästhetik und der werkimmanenten, hermeneutischen Interpretationstheorie stammende Konzept der ‚Stimmigkeit‘. So wird etwa die Frage nach der Güte einer Interpretation wie folgt beantwortet: Ein Bedeutungsattraktor des Textes kann weder „richtig“ noch „falsch“ sein, sondern lediglich ein vorläufig stabiler Zustand bei der Bedeutungskonstruktion, die durch bestimmte Randbedingungen beeinflusst wird. „Gut“ sind Interpretationen dann im Sinne von „stimmig“ in Bezug auf konkrete Fragestellungen (die dann die Randbedingungen der Rezeption stellen).68

Die hermeneutische, werkimmanente Perspektive wird in der Folge rezeptionstheoretisch erweitert, wobei nun auch probabilistische Beobachtungen eine Rolle spielen und zur Eröffnung eines neuen Metaphernbereichs (‚Feld‘ und ‚Raum‘) beitragen. Die aus der Mathematik entlehnte Beschreibungssprache verleitet außerdem zu einer reifizierenden oder hypostasierenden Rede, die Maxwells oben vorgestellte Vorsicht weit hinter sich lässt. Jedenfalls geht es nun auch explizit um einen aus der Analogie abgeleiteten Erklärungsanspruch: Da ein Attraktor ein Zustand ist, auf den ein Prozess mit bestimmten Transformationsregeln auch von verschiedenen Ausgangszuständen her zuläuft […], erklärt sich die relative Homogenität der Rezeption. […] Über Wahrscheinlichkeit kann ein Feld möglicher Bedeutungen, also eine Art „potentieller Raum“, beschrieben werden, der Aussagen darüber zulässt, was ein Text wohl für Bedeutungen im individuellen Rezeptionsprozess „zulassen“ wird […].69

Unklar bleibt auch in diesen Ausführungen, welchen ‚Mehrwert‘ die Chaostheorie gegenüber herkömmlichen hermeneutischen und rezeptionsästhetischen Beschreibungsvokabularen hat, und es liegt die Vermutung nahe, dass die formulierten Erkenntnisse hinter Vorstellungen klassischer hermeneutischer Modelle zurückfallen. In den Literaturwissenschaften ist die Frage, ob durch den Umstieg auf ein neues Beschreibungsmodell ein Erkenntnisfortschritt erzielt wird oder nicht, zwar weniger leicht zu klären als in den Naturwissenschaften. So war

68 Hartwig, „Stimmigkeit und Ambivalenz“, S. 74. 69 Ebd., S. 74 f.  

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beispielsweise Maxwells Analogieverfahren zunächst umstritten, wurde aber bald konsensfähig und durch weitere Untersuchungen gestützt. Im vorliegenden Fall aber wird das alte Modell gar nicht erst mit dem neuen verglichen, die Innovativität der Beschreibungssprache scheint die Innovativität der Erkenntnis zu garantieren.70 Für die in dieser Studie verfolgte Fragestellung relevanter ist jedoch ein Abgleich der oben rekonstruierten Argumentationsmuster mit dem Modell des Analogie-Denkens. Denn während in der Regel beim metaphorischen Analogie-Denken vertraute Bereiche des Quellbereichs auf unanschaulichere, abstraktere und unvertrautere Bereiche des Zielbereichs abgebildet werden, um Letztere durch übertragene, metaphorische Ausdrücke beschreibbar und womöglich auch hypothetisch erklärbar zu machen, ist die Relation in den angeführten Beispielen umgekehrt: Der Quellbereich, die Chaostheorie, hat, abgesehen von einigen wenigen anschlussfähigen Vorstellungen, eine hochabstrakte und formalisierte, nämlich mathematische Gestalt, deren Aufnahme den Literaturwissenschaftlern sichtlich nicht leicht fällt und teilweise zu langatmigen Erläuterungen der verwendeten Konzepte motiviert. ‚Elegant und präzise‘ fallen diese in der Regel nicht aus. Dennoch wird die abstrakte Theorie zur metaphorischen Beschreibung, zur Begriffs- und Modellbildung eines an sich konkreteren, anschaulicheren, zumindest weniger formalisierten Bereichs der Literaturwissenschaft genutzt, um hier relativ traditionelles und bekanntes hermeneutisches Wissen chaostheoretisch zu umschreiben. Das Vertrauen auf den mathematischen Wahrheitsanspruch scheint dabei ebenso unbegrenzt zu sein wie das Vertrauen auf die unbeschränkte Adaptabilität der mathematischen Theorie. Durch diese Bestätigung mathematischen Wissens schließen sich die Literaturwissenschaftler einer gern auch von Mathematikern gepflegten Vorstellung von einer whig history of science an, derzufolge die mathematische Disziplin zu einer steten Verbesserung und kumulativen Erweiterung ihres Wissens in der Lage sei, die perspektivisch auf eine vollständige ‚Totaltheorie‘ führen werde. Die chaostheoretischen Erkundungen der Mathematiker scheinen jedenfalls sehr begrüßt und als Fortschritt verstanden zu werden, an dem nun auch die Hermeneutik partizipieren soll – eine bemerkenswerte Abkehr von der gemeinhin so rationalismus- und mathematikkritischen Haltung der Textwissenschaftler. Die Attraktivität der Chaostheorie könnte allerdings auch auf einem entgegengesetzten Motiv aufruhen und, wie zuvor in der Appropriation des Igno70 Auf die grundlegenden Probleme literaturwissenschaftlicher Qualitätsstandards wäre an anderer Stelle ausführlicher einzugehen. Vgl. dazu unter anderem Thomas Wiemer, „Ideen messen, Lektüren verwalten? Über Qualitätskriterien literaturwissenschaftlicher Forschung“, in: Journal of Literary Theory, 5/2011, 2, S. 263–278.

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rabimus-Streits, der Relativitätstheorie oder des Indeterminismus der Quantenmechanik, aus der paradoxen Hoffnung resultieren, den Rationalismus der mathematisch-naturwissenschaftlichen Welt mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Man griffe dann bevorzugt auf diejenigen wissenschaftlichen Theorien zu, die eine Grenze des Szientismus zu markieren scheinen – ich schreibe ‚scheinen‘, denn im Fall der Chaostheorie ist diese Erwartung nicht durch die wissenschaftliche Theorie gedeckt.71 Angesichts der Abstraktheit des appropriierten mathematischen Wissens ist es jedenfalls mehr als verständlich, dass sich die literaturwissenschaftlichen Übertragungen zumeist ausschließlich aus dem Repertoire an Metaphern und Bildern speisen, mit denen die abstrakte Theorie popularisiert und vermarktet wird. Ein ‚Attraktor‘ ist in diesem Sinne attraktiver als eine formale Grenzwertbetrachtung. Doch was verspricht man sich von dieser Übertragung, geht sie doch offenkundig mit einem hohen Verlust an literaturwissenschaftlichem Differenzierungspotential und wahrscheinlich auch einem (nicht intendierten) Verlust rationalismuskritischer Überzeugungen einher?72 Einmal abgesehen von dem (nicht unverständlichen) Wunsch nach einem Prestigeübertrag aus den exakten Disziplinen oder auch dem Wunsch, die Aktualität sowie die trans- und interdisziplinäre Kompetenz der Literaturwissenschaften unter Beweis zu stellen, wird mit der chaostheoretischen Beschreibung des Verstehensvorgangs explizit die Erwartung verbunden, einen „interdisziplinären Beschreibungszusammenhang“ zu etablieren, der die Literaturwissenschaftler ins Gespräch mit anderen Wissenschaftlern bringen soll. Der mathematische Quellbereich der Metapher soll dabei offenbar eine Art wahrheitsgarantierenden Vermittlungscode sowie den für notwendig erachteten Allgemeinheitsgrad für den erhofften „interdisziplinären Dialog“ liefern – einen Meta-Code also, der die eigenen Resultate sichert, ihre interdisziplinäre Anschlussfähigkeit gewährleistet und damit eine Leistung zu erbringen

71 Vgl. dazu schon Vladimir Tasić, der im Unterschied zu Hayles’ Warnung chaostheoretische Ideen aufgrund des inhärenten Determinismus zum Gegenstand postmoderner Kritik machen will. In seiner alternativen Assoziation von mathematischem und postmodernem Denken, das in vielerlei Hinsicht quer zum postmodernen Mainstream steht oder diesen zu überbieten sucht, beklagt Tasić den alarmierenden Mangel an „mathematical-historical awareness“, der die Postmodernetheoretiker dazu verführt habe, die Chaostheoretiker als Bündnispartner zu begreifen. Chaostheorie, stellt er klar, ist eine deterministische Theorie; sie „deals with abstract functions, the totalizing logic of identity, binary thinking, ultimate grounds of justification, and many other things the mere mention of which should induce any postmodern acolyte to make the sign of the cross. If anything, it seems that chaos theory, particularly as a model of social dynamics or creative process, should be questioned by postmodernism.“ Vladimir Tasić, Mathematics and the Roots of Postmodern Thought, Oxford 2001, S. 156. 72 Hartwig, „Stimmigkeit und Ambivalenz“, S. 77.

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verspricht, die den Aufwand, sich mit der mathematischen Theorie zu befassen, zu rechtfertigen scheint. In den dargestellten Beispielen ist dies neben der Mathematik die konstruktivistische Gestaltpsychologie. Allerdings liefert auch die großartigste metaphorische Verbindung allein keine fruchtbare Verknüpfung zweier oder mehrerer Forschungsfelder. Analogische Verbindungen basieren vielmehr, solange sie nur analogisch bleiben und nicht zur Konstruktion eines gemeinsamen Gegenstands- oder Methodenfeldes genutzt werden, auf einer strukturellen Ähnlichkeitsvermutung zweier epistemisch distinkter Bereiche, so dass mit Hilfe der Vokabulare des Quellbereichs über den Zielbereich uneigentlich, aber eben nicht eigentlich gesprochen und räsoniert werden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei den chaostheoretischen Konstruktionen um mathematische, und das heißt um formale Modelle handelt, denen kein ‚Wirklichkeitsbereich‘ mit materialen Eigenschaften entspricht. Analogien, die sich auf diese Modelle beziehen, können also eigentlich nur formale Analogien sein; materiale Ähnlichkeitsannahmen, die das mathematische Modell reifizieren, sind hier nur sehr schwer zu begründen. Metaphorisch-analogische Verbindungen zweier Forschungsfelder stellen somit, zumal wenn sie formaler Natur bleiben, allenfalls den Anschluss an fremddisziplinäre Beschreibungsvokabulare her und liefern bestenfalls eine metaphorische Neubeschreibung im Sinne Richard Rortys. Eine gemeinsame Theorie, mit der mathematische, gestalttheoretische und literaturwissenschaftliche Phänomene gleichermaßen erklärt werden können, ist dadurch jedenfalls noch nicht etabliert. Aus der Perspektive der literaturwissenschaftlichen Chaostheoretiker allerdings – und darauf werde ich nach einem zweiten Beispiel noch einmal zurückkommen – scheint der metaphorisch-analogische Anschluss schon ein relativ zufriedenstellendes wissenschaftliches Ergebnis zu sein.

V ‚Fraktale‘ – Spatiale Modelle Als ‚Fraktal‘ bezeichnet man in der Mathematik mit Benoît Mandelbrot eine geometrische Struktur beziehungsweise eine Menge, die einen hohen Grad von Selbstähnlichkeit aufweist und der eine gebrochene, d.h. nicht-ganzzahlige Dimension zugeordnet wird. Eine fraktale Struktur entsteht durch unendlich oft durchgeführte rekursive Iterationen. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Objekt aus unendlich vielen kleineren Kopien seiner selbst besteht, so dass Teile und Ganzes einander wechselseitig spiegeln. Obwohl fraktale Geometrien auch außerhalb der Theorie dynamischer Systeme auftreten, ist die Chaostheorie maßgeblich durch die zeitweilig als dekorativ und ästhetisch hochwertig empfundenen Abbildungen selbstähnlicher Objekte populär geworden. Die ‚Apfelmännchen‘ schmückten

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für einige Jahre nicht nur Mathematikbücher und haben so die an sich abstrakte mathematische Theorie wenn nicht unbedingt anschaulich, so doch zumindest sichtbar gemacht. In der literaturwissenschaftlichen Verwendung findet man das Fraktale nun wiederholt als Beschreibungsvokabel für die Spezifiken von Alexander von Humboldts schriftstellerischem Werk. So wird in einer Arbeit aus dem Jahr 2009 beobachtet, dass Humboldt fraktale, auf Selbstähnlichkeit gerichtete Konstruktions- und Repräsentationsformen von Wissen in dem Sinne [entwickelte], daß er zum einen in seinen Formen wissenschaftlichen Schreibens literarische Techniken der mise en abyme […] verwandte. Zum anderen erprobte er […] Anordnungstechniken von Bildern und Grafiken, in denen gleichsam teleskopartig ineinandergeschobene Illustrationen die Beziehung zwischen vermeintlichem Chaos und Fragmenthaftigkeit einerseits und zu Grunde liegender Ordnung im Sinne des Humboldtschen Kosmos andererseits buchstäblich vor Augen führen sollten. In diesem Sinne könnte man auch von einer fraktalen Konstruktion seines Gesamtwerkes sprechen, dessen Einheit nicht durch zentrierende oder totalisierende Strukturen oder Denkschemata, sondern durch die Relationalität und Vielverbundenheit sich wiederholender Muster und Verfahren hergestellt wird. Der fraktalen Geometrie der Natur entspricht bei Alexander von Humboldt eine fraktale Geometrie des Schreibens wie der wissenschaftlichen Modellbildung insgesamt. In jedem Teil ist das Ganze präsent.73

Nimmt man die metaphorische Adaption des Verfassers als begriffliche Fixierung beim Wort, so soll der Ausdruck ‚fraktal‘ im literaturwissenschaftlichen Kontext sich gleichermaßen auf das Schreib- und Illustrationsverfahren (Merkmal einzelner Texte und Abbildungen), auf das Gesamtwerk (Merkmal einer Gruppe von Texten), auf das Naturkonzept (Merkmal des wissenschaftlichen Gegenstandes) und auf Humboldts Konzept wissenschaftlicher Modellbildung (Merkmal der wissenschaftlichen Methode) beziehen lassen und drei Merkmalsaspekte zusammenschließen: erstens eine Wiederholung von narrativen und visuellen Mustern auf unterschiedlichen Ebenen (Selbstähnlichkeit), zweitens eine Verknüpfung von „vermeintlichem Chaos“ (hier wohl im traditionellen Sinne verstanden als phänomenale Unordnung) und „zu Grunde liegender“ Ordnung, kosmos (hier wohl verstanden als eine die Natur und die Naturdarstellung durchwaltende, erkennbare Gesetzmäßigkeit), und schließlich drittens eine durch die narrativen und visuellen Verfahren hergestellte Teil-Ganzes-Relation, die nicht zentriert und nicht totalisierend ist. Letzteres scheint sich aus der Bestimmung des Fraktalen ex negativo abzuleiten beziehungsweise seine Entsprechung im Quellbereich der

73 Ottmar Ette, Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens, Frankfurt a.M., Leipzig 2009, S. 22.

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Metapher, der fraktalen Geometrie, zu finden. Ergänzt wird es durch den Hinweis, dass es sich bei Humboldts Werk um „eine in stetiger Bewegung befindliche Gesamtheit“ handele, „die nicht durch eine homogene Struktur, sondern vielmehr durch eine fraktale Strukturierung zusammengehalten wird.“74 Eine homogene Struktur scheint offenbar das Gegenteil von einer fraktalen zu meinen – wenngleich man ebenso gut behaupten könnte, dass ein ‚Apfelmännchen‘ durch seine potenzierte Selbstähnlichkeit ein Höchstmaß an Homogenität aufweist. Jedoch sind diese chaostheoretischen Implikationen und Konnotationen des Begriffs ‚fraktal‘, die in der die Grundlage für den Analogieschluss bildenden Beschreibung nicht herausgehoben werden, gewissermaßen neutralisiert und insofern für die literaturwissenschafliche Verwendung auch nicht relevant. Die vollzogene metaphorische Übertragung ist jedenfalls offensichtlich darum bemüht, durch die definitorischen Bestimmungen die Metapher in einen begrifflich, d.h. terminologisch verwendbaren literaturwissenschaftlichen Ausdruck zu transformieren. Als solcher ist er zwar nicht gerade scharf konturiert, aber in seiner metaphorisch-übertragenen Bedeutung doch so hinreichend fixiert, dass der Ausdruck ‚fraktal‘ in der weiteren Verwendung neben andere Begriffe der Beschreibungssprache einrücken und die Bedeutungszuweisung vorbereiten kann: Humboldts Werk ist, so liest man, nicht nur fraktal, sondern in seiner fraktalen Gestalt drücke sich sein kosmopolitisches, transareales, vektorielles und dynamisches75 Kulturprogramm, sprich: eine Weltanschauung aus. Es bleibt allerdings die Frage, was durch den Zusammenschluss der Merkmale unter dem Begriff des Fraktals gewonnen ist, denn alle drei Aspekte des metaphorischen Fraktalen sind in der Humboldt-Forschung auch anderweitig, und zwar ohne chaostheoretisches Vokabular, beschrieben worden – nicht zuletzt von denselben Autoren. So taucht erstens die Selbstähnlichkeit, wie dies durch den Hinweis auf mise en abyme-Verfahren im Zitat auch angedeutet wird, in der Wissensgeschichte schon viel früher auf, und zwar in den unterschiedlichsten disziplinären Kontexten, etwa in den narratologischen Überlegungen André Gides.76 Das Fraktal geht nur insofern über die kunsthistorisch und narratologisch beschriebenen Verschachtelungsphänomene hinaus, als der Computer die quasi-unendliche Realisierung auch sichtbar macht. Zweitens ist die Verknüpfung von Chaos (sprich hier: Unordnung) und Ordnung beziehungsweise von Einzelphänomen und Gesetzmäßigkeit in der Humboldt-Forschung ein seit langem diskutiertes Phänomen, das ebenfalls keine spezifisch chaostheoretische 74 Ebd., S. 405 f. 75 Ebd., S. 83. 76 Vgl. zur aktuellen erzähltheoretischen Verwendung Michael Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997, S. 237.  

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Ausgestaltung beinhaltet.77 Gleiches gilt schließlich drittens für die strukturelle Ähnlichkeitsbeziehung von Teil und Ganzem als Eigenschaft der Natur oder der Naturbeschreibung. Schon in der antiken, vor allem neuplatonischen Philosophie kennt man selbstähnliche, skalierte Muster, etwa in den Theorien des Mikro- und Makrokosmos,78 deren Wirkung bis zu Humboldt und darüber hinaus reicht.79 Selbstverständlich ist es dennoch legitim, die Aspekte der Humboldt’schen Schreib-, Natur- und Wissenschaftsauffassung auf den Begriff des Fraktalen zu bringen und sich auf diese Weise zum weltanschaulichen Zusammendenken der drei ansonsten möglicherweise unverbunden gedachten Phänomene heuristisch inspirieren zu lassen. Der Anspruch ist aber höher, und zwar geht es – und auch dies ist durchaus typisch – um die literaturwissenschaftliche Teilhabe an einem neuen Raumparadigma, dem auch, so die Annahme, die Mathematik unterstehe. Etabliert werden soll eine „posteuklidische[] fraktale[] Geometrie, in der sich die Räume und die Zeiten überlagern und queren, ohne sich doch zu vermischen. Gebrochene, selbstähnliche und doch voneinander klar getrennte Zeit-Räume“,80 in denen sich Literaturwissenschaftler und Mathematiker wie auch alle anderen Vertreter der hard sciences endlich auf Augenhöhe begegneten. Das metaphorische Denken, mit dem man durch den literarischen Gegenstandsbereich so vertraut ist und das man im Zuge der Analogiebildung auch für die literaturwissenschaftliche Beschreibungssprache zu nutzen weiß, wird hier kurzerhand in einen dem Feld des Metaphernspenders übergeordneten ‚Denkraum‘ rückübertragen und zu einer Raumphantasie weitergesponnen, die nun auch den Mathematikern metaphorisch expandierte Ausdrücke zur Verwendung ansinnt. Einzuwenden ist dagegen, dass das literaturwissenschaftlich Fraktale nichts mit dem mathematisch Fraktalen gemein hat, ganz abgesehen davon, dass es in mathematischer Hinsicht wenig Sinn macht, fraktale Geometrien als ‚posteuklidisch‘ zu bezeichnen. Dieser Ausdruck, der Mathematikern nicht über die Lippen kommen würde, scheint die Überwindung eines paradigmatischen Denkmodells zu insinuieren und damit im nicht explizierten metaphorischen Konnotations-

77 Vgl. z.B. Andreas Daum, „Alexander von Humboldt, die Natur als ‚Kosmos‘ und die Suche nach Einheit. Zur Geschichte von Wissen und seiner Wirkung als Raumgeschichte“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 23/2000, S. 243–268; Nicolaas A. Rupke, „Humboldtian Medicine“, in: Medical History, 40/1996, S. 293–310. 78 Vgl. dazu schon George Perrigo Conger, Theories of Macrocosm and Microcosm in the History of Philosophy, New York 1922, S. xiii. 79 Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen von Christian Bermes, Welt als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 2004, S. 80 f. 80 Ottmar Ette, „Willkommen im Aufbruch“, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs Berlin 2004/ 2005, Berlin 2006, o.P., http://www.uni-potsdam.de/romanistik/ette/download/wiko-small.pdf (Stand: 16.05.2013).  

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raum einem generellen, nun vermeintlich mathematisch gestützten Skeptizismus Ausdruck zu verleihen, den man gemeinsam mit den exakten Wissenschaftlern in einer chaostheoretisch zugerüsteten Weltanschauung auszuleben hofft. Eine einseitige metaphorische Approriation aber etabliert noch keine gemeinsame Sprache, geschweige denn einen gemeinsamen Denkraum oder gar eine gemeinsame Theorie. Offenbar wandelt sich im Zuge der Übertragungen, wie schon Brentano, allerdings vornehmlich für die Naturwissenschaften, beobachtet hatte, das „Vertrauen auf die“ eigene „Methode […] in ein Vertrauen auf sich selbst.“ Dem „scharfen Auge seiner Zunftgenossen entrückt“, fühle sich der transdisziplinär aktive Wissenschaftler, so heißt es bei Brentano, „unter weniger strenger Kontrolle“ und genieße, „nun auch einmal in frei ausschweifender Bewegung sein Mütchen kühlen“ zu dürfen.81

VI Fazit Mit Hilfe von metaphorischen Extensionen und Analogiebildungen der vorgestellten Art lassen sich nicht nur Bereiche der Mathematik, sondern auch nahezu alle anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen unschwer der eigenen, geisteswissenschaftlichen Disziplin eingemeinden. Das dabei jeweils entstehende Repertoire an Metaphern, Konzepten und Bildern wie auch die dazugehörigen Bedeutungszuweisungen verbreiten sich schnell – bei der Chaostheorie hat es ungefähr fünf Jahre gedauert, bis sich ein festes Repertoire ausgebildet hat, das bis in die jüngsten Arbeiten, die ich gesichtet habe, also mehr als 20 Jahre lang, nahezu unverändert tradiert und schlicht auf weitere literarische Texte, weitere literarhistorische Epochen und weitere literaturwissenschaftliche Theorien und Methoden appliziert wird. So gibt es inzwischen auch chaostheoretisch inspirierte Genderstudies,82 ja sogar einen chaostheoretischen Erklärungsversuch zur Entstehung des Nationalsozialismus.83

81 Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, S. 77. 82 Vgl. u.a. Linda J. Shepherd, Lifting the Veil: The Feminine Face of Science, London 1993 [Neuausgabe 2007]; Barbara Knight, „A Theory for Transforming Political Community: Applying Chaos and Feminist Theory“, in: Edward W. Schwerin/Christa Daryl Slaton/Stephen Woolpert (Hrsg.), Transformational Politics. Theory, Study, and Practice, New York 1998, S. 57–72; Monika Grochalska, „Qualitative Methods in social mobility research“, in: Edmée Ollagnier/Joanna Ostrouch (Hrsg.), Researching gender in adult education, Frankfurt a.M. 2008, S. 105–122, insbes. S. 110–113. 83 Ludolf Herbst, „Entkoppelte Gewalt – Zur chaostheoretischen Interpretation des NS-Herrschaftssystems“, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 28/1999, S. 117–158. Herbst hat diesen Ansatz systematisch ausgebaut in Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004. Vgl. die vernichtende Rezension insbesondere des chaos-

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Käme den metaphorischen Extensionen dabei vornehmlich eine heuristische Funktion zu, etwa indem eine chaostheoretische Neubeschreibung eingefahrene literaturwissenschaftliche Beschreibungsroutinen irritierte oder tatsächlich zu neuen Fragestellungen oder Strukturbildungen Anlass gäbe, wäre wenig dagegen einzuwenden. Zumeist allerdings, wie die vorgestellten Fälle exemplarisch deutlich machen sollten, hat der Zugriff auf die Chaostheorie weniger eine Fragen und Probleme aufwerfende Funktion als vielmehr eine argumentative Abschluss-Funktion: Denn auffällig oft enden die literaturwissenschaftlichen Argumentationen, sobald die postulierte Analogiebeziehung auf sprachlicher Ebene und der Ebene der Vorstellungen hergestellt ist. Die heuristische Funktion, die das Analogisieren zum Eröffnen eines Denkraums nutzt, wird durch diese Schließung geradezu abgeschnitten. Die Ansätze folgen damit dem von Knorr-Cetina auch für die Naturwissenschaften herausgestellten Post hoc-Modell, das sich damit begnügt, eine in einem anderen Feld bewährte Lösung für das eigene Feld zu kopieren. Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Analogie-Räsonieren allerdings verzichten die chaostheoretisch ambitionierten Literaturwissenschaftler auf eine kritische Prüfung der vermeintlichen Lösung; als Vertretern einer nicht prognostischen Disziplin würde ihnen dies womöglich auch nicht leicht fallen. Leichter fallen dürfte ihnen aber, das Ergebnis an den Standards des eigenen Felds zu messen und zu fragen, worin der Mehrwert ihrer ‚komplexen‘ Beschreibung gegenüber herkömmlichen Beschreibungen besteht und welche Kriterien für die Bewertung der Güte, für das Gelingen oder Misslingen einer Analogisierung überhaupt anzusetzen wären. Doch zumeist reicht das Konstatieren der Analogien allein offenbar aus, um das literaturwissenschaftliche Fragebedürfnis auf Zeit zu stillen. Dies hat selbstverständlich seine eigene Rationalität, gewährleistet die Setzung der Analogie doch zumindest für eine Weile die Fortsetzbarkeit der eigenen Arbeit: Man macht sich, motiviert durch den Erfolg in dem einen Gebiet, auf die Suche nach weiteren Gebieten, die sich mit der ‚neuen‘ Sprache beschreiben und in Analogie setzen lassen. Von einer magnetisierenden Kette des poetischen Enthusiasmus84 im Sinne Platons, dem „Zauberstab der Analogie“ im Sinne Hardenbergs oder einer wissenschaftlichen „Stimmungskameradschaft“85 im Sinne Flecks beflügelt, verselbständigen sich so die einmal übertragenen

theoretischen Ansatzes von Armin Nolzen, in: Ders./Sven Reichardt (Hrsg.), Faschismus in Italien und Deutschland – Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005, S. 238–241. 84 Vgl. Platons Ion, in: Platon, Sämtliche Dialoge, Bd. 3, Otto Apelt (Hrsg.), Hamburg 1988, S. 106–130, hier S. 112 (533). 85 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), mit einer Einleitung hrsg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980, S. 140.

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Metaphern. Während diese in Hayles Texten zumindest noch als solche benannt und als begründungsbedürftig wahrgenommen werden, treten sie in den Folgetexten, die sich nur noch auf Hayles, später auch auf ihre Epigonen, aber nicht mehr auf die mathematisch-naturwissenschaftlichen Kontexte berufen, wie gesicherte Wahrheiten auf, an die man nur anzuschließen hat, um von der Wahrheit und auch der Relevanz der eigenen Erkenntnisse überzeugt zu sein. Dabei treten neben die bereits unverzichtbaren mathematischen und populärwissenschaftlichen Autoritäten weitere Autoritäten, obgleich die Unterordnung unter Autoritäten eher nicht zu den intendierten Folgen der Autoren zählen dürfte. Mit der Zeit kann sich so jedenfalls ein, wie man mit Ludwik Fleck sagen könnte, relativ stabiles Denkstilkollektiv ausbilden, das seine Kohärenz und Identität durch den affirmativen Bezug auf die mathematische Theorie und deren vermeintlich außer Frage stehenden Wert sichert. Dieses Kollektiv war – misst man den Ausstoß an Publikationen – fruchtbar und hat neben als missglückt geltenden, negativ sanktionierten Arbeiten auch ‚Meisterstücke‘ oder als ‚geglückt‘ geltende Beispiele wie die Studie von Hayles hervorgebracht, an denen sich eine spätere Generation von Wissenschaftlern orientiert. Die nahezu vollkommene Abstinenz von eigenen, disziplineninternen Relevanzbetrachtungen und der unkritische Anschluss an die voranschreitenden exakten Wissenschaften hat allerdings einen Preis: eine starke Abhängigkeit von der affirmierten wissenschaftlichen Theorie und ihrer Popularität. Denn sobald diese aus der Mode86 gerät, das populäre Interesse sich einem anderen naturwissenschaftlichen oder mathematischen Paradigma zuwendet, muss auch der Literaturwissenschaftler sich bemühen, möglichst geschmeidig das Paradigma zu wechseln. Gesehen und artikuliert hat dieses Problem bereits der Jurist Adolf Exner, gegen dessen umfassende Zurückweisung naturwissenschaftlicher Verfahren für die geisteswissenschaftliche Arbeit Franz Brentanos Typologie interdisziplinärer ‚Vergehen‘ gerichtet war: „Es wird der künftige Literaturhistoriker unseres Jahrhunderts zu verzeichnen haben“, heißt es 1892 bei Exner, wie in fast allen Zweigen der Geisteswissenschaft eine widernatürliche – weil der Natur ihres Stoffes zuwiderlaufende – Invasion naturwissenschaftlicher Denkformen platzgegriffen, wie diese in gewissen Fällen die betroffenen Disciplinen gänzlich auf Abwege geführt, in anderen aber, mehr bloß die Oberfläche berührend, jene wunderliche Verschrobenheit in der formalen Stoffbehandlung erzeugt hat, die im Augenblick verblüfft, aber sobald der Reiz der Neuheit vorüber, als ‚Zopf‘ empfunden wird. […] Wenn Chorführer verschiedener Richtungen der heutigen Geisteswissenschaft in solcher Tonart singen, was Wunder, daß ihnen

86 Vgl. dazu auch die von Walter Müller-Seidel initiierte Diskussion „Über das Neue in der Literaturwissenschaft. Fortschritte, Innovationen, Moden“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 37/1993, S. 1–8, und die Beiträge der zwei folgenden Jahrgänge.

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die breite Masse der Fachliteratur begeistert folgt und jeder Schriftsteller dritten Ranges für das von ihm angebaute Wissensgebiet die allein seligmachende naturwissenschaftliche Methode befolgt zu haben eifrig versichert; er vermeint dadurch zum voraus einen Teil des wohlverdienten Prestiges der exakten Naturforschung für seine Bemühungen herangezogen zu haben, ahnt aber nicht, daß er in Wahrheit doch nur einem nichtigen und vergänglichen Zeitgeschmack seinen Tribut zollt.87

Wie das Beispiel der chaostheoretisch inspirierten Literaturwissenschaft zeigt, lässt sich für einen gewissen Zeitraum das ‚Verzopfen‘ und ‚Aus der Mode‘Geraten zum einen durch ein enger werdendes Netz von wechselseitigen, innerdisziplinären Zitierungen, zum anderen durch eine Abkopplung von den in der Anfangsphase noch umworbenen naturwissenschaftlichen Kollegen aufhalten. Revokationen des Paradigmenwechsels aus den Reihen der exakten Wissenschaftler werden jedenfalls in der Literaturwissenschaft in der Regel ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie kritische Repliken auf die literatur- und kulturwissenschaftlichen Adaptationen. Die Fortsetzbarkeit der eigenen wissenschaftlichen Arbeit hängt so aber letztlich allein an der Fähigkeit, „to jump […] readily on the next recent bandwagon of science theory“,88 wie John Neubauer ironisch feststellt. Möglicherweise ist dies aber eine zu pessimistische, zu kritische Sicht. Im Unterschied zu Jakob Friedrich Fries, der zur Hoch-Zeit analogischer Spekulationen die Überlegungen seiner naturphilosophischen Fachkollegen noch als „Kombinationen von Erfahrungen“ schmähte, die nicht mehr seien als „eine wiederholte Erzählung der Erfahrung selbst in veränderter Sprache“,89 und der dagegen für die Philosophie an der Wahrheitsbindung festhalten wollte, wäre es möglicherweise besser, sich in einem fröhlichen Fatalismus Richard Rorty anzuschließen. Rorty konzediert, dass die Geisteswissenschaften gar nicht ihren Zweck darin haben, „to find out what anything is really like“, sondern dass sie vielmehr der schlichten Behauptung von Autonomie, Glückseligkeit und Lebendigkeit dienen: Metaphorische Neubeschreibungen, schreibt Rorty, „help us to grow up – to make us happier, freer, and more flexible“.90 Literaturwissenschaftliche Räsonnements wären unter dieser Voraussetzung allerdings weniger als Wissenschaft denn als Lebenshilfe zu konzipieren.

87 Exner, Über politische Bildung, S. 24–26. 88 John Neubauer, „Reflections on the ‚Convergence‘ between Literature and Science“, in: MLN, 118/2003, 3, S. 740–754, hier S. 743. 89 Jakob Friedrich Fries, „Reinhold, Fichte und Schelling“, in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 24, Lutz Geldsetzer/Gert König (Hrsg.), Aalen 1978, S. 31–368, hier S. 188. 90 Richard Rorty, „Analytic and Conversational Philosophy“, in: Ders., Philosophy as Cultural Politics. Philosophical Papers, New York 2007, S. 120–130, hier S. 124.

Marcel Lepper, Marbach

Vor der Interpretation Hermeneutische Heuristiken Hermeneutische Beobachtungen zeigen die Tendenz, sich mit den notwendigen Vorklärungen und den Interpretationsergebnissen zu befassen, weniger aber mit den konkreten Prozessstrukturen, die der Ergebnissicherung vorausgehen. Was geschieht vor der Interpretation? Welche begrenzten Mittel stehen dem Interpreten zur Verfügung, wie organisiert er den Umgang mit den kognitiven, materiellen und zeitlichen Ressourcen, die ihm in der Interpretationssituation zu Gebote stehen? Der folgende Beitrag konzentriert sich, ausgehend vom Begriff der Heuristik, auf die Problemstellungen und Problemlösungsstrategien, die der Interpretation vorausgehen. Befragt werden zwei Beobachtungsbereiche, die sich seit dem 18. Jahrhundert so weit ausdifferenziert haben, dass ein Dialog zwischen ihnen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Wesentlichen auf die wissenschaftspolitische Ebene konzentriert: der Bereich der philologischen Hermeneutik einerseits, der sich der Interpretation einzelner Texte widmet, und des Feld der Bibliotheks-, Archiv- und Informationswissenschaften, in dem es um die Erschließung, Zugänglichkeit und Nutzung großer Medienmengen, darunter Textmengen, geht.1 Im bibliothekswissenschaftlichen Bereich zeichnet sich in den vergangenen Jahren eine deutliche Bewegung von der bloßen Konservierung physischer Bestände zur Forschungsinfrastruktur und Informationslogistik ab: Wie lassen sich die Prozesse optimieren, in denen der Benutzer qualitativ hochwertige, pertinente Informationen findet?2 Umgekehrt lässt sich ein gesteigertes philologisches Interesse an Forschungsumgebungen erkennen, in denen sich Ergebnisse, für die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aufwändige Fleißarbeit und langjährige, kennerschaftliche Erfahrung notwendig waren, über gezielte Datenbankzugriffe

1 Eine Arbeitsdefinition philologischer Hermeneutik mit knappem, aktuellem Forschungsüberblick bietet Marcel Lepper, Philologie. Zur Einführung, Hamburg 2012, S. 104–112; für Anregungen gilt der Dank des Autors den Teilnehmern des Forschungsgesprächs am 5. April 2011 im Department of German der Princeton University, insbesondere Rudolf Stichweh und Nikolaus Wegmann; für bibliographische Unterstützung Christoffer Leber. 2 Ausführlich mit neuestem Forschungsstand Stefan Gradmann/Konrad Umlauf (Hrsg.), Handbuch Bibliothek. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart, Weimar 2012, darin insbesondere die Kapitel zur Informationslogistik und zur Benutzerforschung, S. 73–109; 209–245; Marcel Lepper/Ulrich Raulff (Hrsg.), Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart, Weimar [erscheint 2015], darin insbesondere die Kapitel zu digitalen Archiven und zur Forschungsheuristik.

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in kürzester Zeit erzielen lassen.3 Das philologische Leistungsgefüge stellt sich in veränderter Weise dar, wenn sich Vorarbeiten mit technologischer Unterstützung straffen, zeitintensive Einzelschritte bündeln lassen. Für die Teile der Philologien, die sich aus den nationalen Paradigmen des 19. Jahrhunderts lösen, global denken und sich der Überlieferungsüberforderung des 21. Jahrhunderts stellen, sind solche Forschungsinfrastrukturen die Basis methodischer Entwicklung.4 Aber auch klassischere Formen philologischer Hermeneutik, die sich auf kanonische Korpora konzentrieren, kommen ohne kritisch reflektierten Umgang mit forschungsinfrastrukturellen Grundlagen nicht aus.5 Zu Recht bemerkte der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen zu Forschungsinfrastrukturen in den Geistesund Sozialwissenschaften (28. Januar 2011): Forschungsinfrastrukturen leisten in allen Wissenschaftsbereichen einen wesentlichen Beitrag zum Erkenntnisgewinn. Ohne Instrumente und Institutionen, die allen Mitgliedern der jeweiligen wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Unterstützung ihrer Forschung zur Verfügung stehen, ist die Anknüpfung an vorhergegangene Erkenntnisprozesse und deren systematische Weiterentwicklung in einer dezentral organisierten Wissenschaftswelt nicht möglich. Dies gilt für die Geistes- und Sozialwissenschaften ebenso wie für die Natur-, Ingenieur- oder Lebenswissenschaften. Seit der Antike bieten in diesem Sinne Bibliotheken den unverzichtbaren Zugang zu Informationen, und in vielen Disziplinen wäre ein systematischer Erkenntnisgewinn ohne die Existenz von Archiven, Museen und Sammlungen nicht denkbar.6

Die Prozesse und Infrastrukturen, die von der Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsforschung in ihren Interaktionen beobachtet werden, verdienen auch innerhalb der Fächer, insbesondere in den Geisteswissenschaften, verstärkte Aufmerksamkeit. Das hermeneutische Gründungsparadigma geisteswissenschaftlicher

3 Fotis Jannidis, „Methoden der computergestützten Textanalyse“, in: Vera Nünning (Hrsg.), Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, Stuttgart 2010, S. 109–132; Heike Neuroth [u.a.], „Virtuelle Forschungsumgebungen für e-Humanities. Maßnahmen zur optimalen Unterstützung von Forschungsprozessen in den Geisteswissenschaften“, in: Bibliothek. Forschung und Praxis, 33/2009, 2, S. 161–169. 4 Exemplarisch Franco Moretti, Graphs, Maps, Trees. Abstract Models for Literary History, New York 2007 [zuerst 2005], S. 1–9; Ders., „Conjectures on World Literature“, in: New Left Review, 1/ 2000, S. 54–68; Ders., „The Slaughterhouse of Literature“, in: Modern Language Quarterly, 61/ 2000, 1, S. 207–227. 5 Entsprechend die übergreifenden Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu Informationsinfrastrukturen, 28. Januar 2011, darin insbesondere die Begriffsdefinitionen, S. 16–23, http://www. wissenschaftsrat.de/download/archiv/10466-11.pdf (Stand: 02.12.2012); speziell die Empfehlungen zu Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften, 28. Januar 2011, S. 13–27, http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/10465-11.pdf (Stand: 02.12.2012). 6 Ebd., S. 7.

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Forschung entwickelt sich in enger Auseinandersetzung mit bibliothekarischen und archivarischen Infrastrukturen.7 Die stereotype Unterscheidung zwischen positivistischer Materialarbeit und hermeneutischer Reflexion haben Tom Kindt und Hans-Harald Müller (2000) in präziser, wissenschaftshistorischer Argumentation zurückgewiesen. Aus systemtheoretischer Perspektive hat Nikolaus Wegmann (2000) den Verfahren des „Suchens und Findens“ unter den Bedingungen moderner Massenverhältnisse ein entscheidendes Kapitel seiner literatur- und bibliothekstheoretischen Habilitationsschrift gewidmet.8 Die Frage, welche Prozesse vor der philologischen Interpretation liegen, kann auf Problemkonzepte zurückgreifen, die in den vergangenen Jahren in wissenschaftshistorischer Auseinandersetzung mit Ansätzen der Problemgeschichte profiliert worden sind.9 Damit lassen sich die Verkürzungen vermeiden, die wechselseitige Beobachtungen der philologischen Hermeneutik und der Bibliotheks- und Informationswissenschaften auszeichnen: Für den Philologen ist, wie an Methodenschriften des 19. Jahrhunderts zu zeigen sein wird, die Überlieferungsinfrastruktur ein Mittel, das allenfalls in der Propädeutik abzuhandeln ist, während die Bibliotheks- und Informationswissenschaften, die sich auf Ordnungs- und Zugriffsfragen konzentrieren, die Problemgenese in der philologischen Hermeneutik weitgehend ausklammern.10

7 Nachweisbar bei Wilhelm Dilthey, „Archive für Literatur“ [1889], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Ulrich Herrmann (Hrsg.), Göttingen 1970, S. 1–16, hier S. 3; kommentierend Hans-Harald Müller/Mirko Nottscheid, Wissenschaft ohne Universität, Forschung ohne Staat. Die Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur 1888–1938, Berlin 2011, S. 55–66; Jürgen Thaler, „Zur Geschichte des Literaturarchivs: Wilhelm Diltheys ‚Archive für Literatur‘ im Kontext“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 55/2011, S. 361–374; Herbert Kopp-Oberstebrink, „‚Archive für Litteratur!‘ Wilhelm Dilthey und die Anfänge der Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin“, in: Trajekte, 20/2010, S. 37–44; Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Dilthey gegen Scherer. Geistesgeschichte contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftshistorischen Stereotyps“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 74/2000, S. 685–709. 8 Nikolaus Wegmann, Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter, Köln 2000, Kap. 8, S. 275–321. 9 Jürgen Paul Schwindt (Hrsg.), Was ist eine philologische Frage?, Frankfurt a.M. 2009, darin insb. das Vorwort des Herausgebers, S. 7–10; Dirk Werle, „Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie“, in: Scientia Poetica, 13/2009, S. 255–303; Carlos Spoerhase, „Was ist kein Problem?“, in: Scientia Poetica, 13/2009, S. 318–328; Dirk Werle, „Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 50/2006, S. 478–498; ausführlich in Ders., Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580–1630, Tübingen 2007, S. 23–36; Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, Göttingen 2001. 10 Das Lemma „Hermeneutik“ kommt im Register des Handbuchs von Umlauf und Gradmann 2012 nicht vor; in literaturwissenschaftlichen Handbüchern dominiert der historische Blick auf

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Der folgende Beitrag geht nicht davon aus, dass sich die beiden Beobachtungsbereiche und ihre ausdifferenzierten Begriffsapparate verschalten lassen, wohl aber davon, dass sich aus deren praktischer Konfrontation der Bedarf ergibt, die jeweiligen Traditionen verstärkt auf entsprechende reflexive Elemente zu befragen. Auf philologischer Seite erscheint die Lösung des Hermeneutikkonzepts aus dem engen, institutionellen Gründungskorsett des 19. Jahrhunderts förderlich: Verfügt nicht die hermeneutische Tradition des 18. Jahrhunderts über ein deutliches Verständnis von Problementwicklung und Problemlösung, vom Suchen und Finden interpretationsbedürftiger Stellen und interpretationsdienlicher Ansätze? Greift nicht die Historik des 19. Jahrhunderts dort reflektierend ein, wo die philologische Hermeneutik auf der Trennung von Materialarbeit und Interpretationsarbeit besteht? Der folgende Beitrag rekonstruiert, ausgehend von einer modernen Interpretationsszene (I. und II.), die Einsatzzone der hermeneutischen Heuristik (III.). Erkundet wird das subsidiäre Potential, das in einem vorromantischen Verständnis von hermeneutischen Such- und Findeprozessen liegt (IV. und V.). Soll der Reflexionsvorsprung der Historik im 19. Jahrhundert knapp befragt werden (VI.), so gilt der Schlussabschnitt (VII.) der Pionierszene, in der philologische Hermeneutik und Forschungsinfrastruktur aufeinander treffen: dem Gang ins Archiv, der Tiefenbohrung vor der Interpretation.11

I Interpretatorische Szene Was vor der Interpretation nicht geschehen ist, versuchen hermeneutische Beobachtungen in der Regel retrospektiv und evaluativ zu markieren. Nehmen wir eine literarisch modellierte Szene aus Vladimir Nabokovs Pale Fire (1962), die den entscheidenden Moment überbeleuchtet – und uns die unersprießliche Denunziation realhistorischer, philologischer Interpretationsleistungen erspart, die häufig mehr von Rechthaberei als von Takt zeugt. Ohne größeren hermeneutischen

Bibliotheks- und Archivinstitutionen, ohne dass den Forschungsinteraktionen nennenswerte Aufmerksamkeit gewidmet würde, so in Uwe Jochums Artikel: „Bibliotheken und Archive“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft: Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2007, S. 326–337; der Artikel von Konrad Umlauf benennt Funktionen, geht aber auf das literaturwissenschaftliche Umfeld nicht intensiv ein: „Archive und Bibliotheken“, in: ebd., Bd. 3, S. 209–218; rein berufsbildenden Charakter hat der dritte Artikel von Elisabeth Michael, „Bibliotheken und Archive“, in: ebd., Bd. 3, S. 250–256. 11 Zur Forschungssituation in Archiven im Vergleich mit der bibliothekarischen Situation Lorraine Daston, „The Sciences of the Archive“, in: Osiris, 27/2012, 1: Clio Meets Science: The Challenges of History, S. 156–187.

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Aufwand, ohne Einzelstellenarbeit lässt sich erkennen, dass Nabokov in Pale Fire philologische Kommentarverfahren parodiert. Der Kommentator Charles Kinbote verliert sich in wahnhaften Interpretationen, zugleich verfehlt er die tatsächliche hermeneutische Aufgabe, die das titelgebende Gedicht von John Shade stellt. In der detektivischen Metaphorik, die Nabokovs Werk durchzieht: Der Interpret legt Spuren, anstatt Spuren nachzugehen – so im Kommentar zu den folgenden Versen, die sich ihrerseits mit Spuren befassen. Genauer mit Fährten im Schnee, mit natürlichen und künstlichen Zeichen, mit deiktischen Markierungen: Reading from left to right in winter’s code: A dot, an arrow, pointing back; repeat: Dot, arrow pointing back … A pheasant’s feet! Torquated beauty, sublimated grouse, Finding your China right behind my house. Was he in Sherlock Holmes, the fellow whose Tracks pointed back when he reversed his shoes?12

Naturlyrik und Zeichentheorie rücken in der Fasanenspurenlese zusammen. Die rhetorische Überhöhung, die über den Parallelismus „Torquated beauty, sublimated grouse“ zur Gegensatzformel von „your China“ und „my house“ führt, findet Entspannung in der beiläufigen, kolloquialen Frage nach einer Spurenszene in Sherlock Holmes.13 Der Kommentar, der die ästhetische und semiotische Dimension der Verse unterschlägt, lautet lapidar: Sherlock Holmes: A hawk-nosed, lanky, rather likable private detective, the main character in various stories by Conan Doyle. I have no means to ascertain at the present time which of these is referred to here but suspect that our poet simply made up this Case of the Reversed Footprints.14

Was tut der selbsternannte Philologe? Er breitet aus, was er ohnehin für zutreffend hält, ergänzt um irrelevante, persönliche Ergänzungen – darin liegt der komische Akzent, den Nabokov setzt. Muss wirklich erklärt werden, wer Sherlock Holmes ist, wie er aussieht, ob er dem Interpreten sympathisch ist? Warum

12 Vladimir Nabokov, Pale Fire, New York 1989 [zuerst 1962], V. 22–28 (S. 34). 13 Thomas A. Sebeok/Jean Umiker-Sebeok, „‚Sie kennen ja meine Methode.‘ Ein Vergleich von Charles S. Peirce und Sherlock Holmes“, in: Umberto Eco/Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Der Zirkel oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce, München 1985, S. 28–87. 14 Nabokov, Pale Fire, S. 78.

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entgehen ihm die sprachspielerischen Hinweise auf Robert Frost, obwohl eine spätere Textstelle die Markierung deutlich setzt?15 I was in time to overhear brief fame And have a cup of tea with you: my name Was mentioned twice, as usual just behind (one oozy footstep) Frost.16

Wenn der Kommentator die poetische Relevanz des Frost-Gedichts On Stopping by Woods on a Snowy Evening erst an dieser späteren Stelle bemerkt,17 warum fällt ihm nicht wenigstens etwas zur Frage ein, auf welche Sherlock-Holmes-Episode die Verse von den Fußspuren anspielen? And in the morning, diamonds of frost Express amazement: Whose spurred feet have crossed From left to right the blank page of the road?18

Da der Kommentator keinen Weg zur Klärung sieht, wählt er den einfachsten Ausweg, indem er dem Dichter unterstellt, sich den Fall schlicht ausgedacht zu haben: „I have no means to ascertain at the present time which of these is referred to here but suspect that our poet simply made up this Case of the Reversed Footprints“.19 Deutlich demonstriert die Stelle, wie eng die Suche nach dem Interpretationsproblem und die Suche nach interpretationsrelevantem Material verknüpft sind – in diesem Fall die scheiternde Suche nach beidem. Verdächtigt der Kommentator den Dichter der Einfachheit halber, eine falsche Spur gelegt zu haben, so legt er damit selbst die falsche Spur. So gerät der Leser unfreiwillig in Rolle des philogischen Rezensenten, der seinerseits Verdacht schöpft. Wie kommt der Kommentator zu der Vermutung, es gebe den „Case of the Reversed Footprints“ nicht? Weil er ihn nicht kennt? Weil der „Case“ in keinem Bibliothekskatalog zu finden ist? Weil er sich, ganz auf die Auslegung des einen Textes fixiert, nicht auf eine zweifellos zeitraubende Suche in den vier Romanen und 56 Kurzgeschichten, dazu in den Bühnenstücken, Essays und Interviews einlässt, die Arthur Conan Doyle zwischen 1887 und 1927 seiner Kunstfigur widmet?20

15 Abraham P. Socher, „Shades of Frost. A Hidden Source for Nabokov’s Pale Fire“, in: Times Literary Supplement (TLS), 1. Juli 2005, S. 13 f., erweitert: http://www.libraries.psu.edu/nabokov/ socher.htm (Stand: 02.12.2012). 16 Nabokov, Pale Fire, V. 424–426 (S. 48). 17 Ebd., S. 203 f. 18 Ebd., V. 19–21 (S. 33). 19 Ebd., S. 78, Hervorhebung von mir (M.L.). 20 Ronald B. DeWaal, World Bibliography of Sherlock Holmes and Dr. Watson, New York 1975.  



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Weil er vorliegende Forschungsarbeiten und Spezialsammlungen nicht befragt, wie sie realhistorisch in Gestalt der Sherlock Holmes Collections an der University of Minnesota Library zur Verfügung stehen – mit gegenwärtig 60.000 Items zu Doyles Serie?21 An einem mustergültigen Gelingen der Interpretation des Gedichts im Roman kann Nabokov freilich kein Interesse haben. Die Bewirtschaftung der kognitiven, materiellen und zeitlichen Ressourcen hermeneutischer Arbeit lässt er demonstrativ scheitern, um das Problem – im Sinne von Poems and Problems (1969) – an den Leser weiterzugeben. Natürlich ist die von Nabokov gestellte Falle längst zugeschnappt und, sozusagen in den Fußstapfen Charles Kinbotes, konnte festgestellt werden, dass es sich um die Erzählung The Final Problem (1893) handeln muss, in der Holmes nicht, wie die Spurenleser annehmen, über die Felsen abstürzt, sondern, wie in The Adventure of the Empty House (1903) deutlich wird, seinem Gegner im letzten Moment entkommen kann.22 Wer würde bestreiten, dass der Fund den substantiellen Beitrag zur Nabokov-Stelle leistet, den Kinbote bei der Interpretation der Shade-Stelle nicht zu leisten vermag? „‚But the tracks!‘ I cried. ‚I saw with my own eyes that two went down the path and none returned.‘“23 Sherlock Holmes erzählt, wie er einen Weg findet, seine Freunde wie Feinde in dem Glauben zu lassen, den Absturz nicht überlebt zu haben, um aus dem Hintergrund weiter investigieren zu können: ‚The cliff is so high that to climb it all was an obvious impossibility, and it was equally impossible to make my way along the wet path without leaving some tracks. I might, it is true, have reversed my boots, as I have done on similar occasions, but the sight of three sets of tracks in one direction would certainly have suggested a deception. On the whole, then, it was best that I should risk the climb.‘24

Genau betrachtet bleibt die Option der umgedrehten Schuhe in diesem rückblendenden Bericht unrealisiert, freilich verweist der Detektiv auf ähnliche Fälle, in denen er sich der Technik bedient habe. Geht es in der Sherlock-HolmesReferenz in Pale Fire um das Problem der Reversibilität – von erzählten Handlungen und von Erzählhandlungen: „when he reversed his shoes“?25 Bekanntlich hat Doyle 1893 beschlossen, die Sherlock-Holmes-Serie zu beenden. Hält nicht

21 https://www.lib.umn.edu/scrbm/holmes (Stand: 02.12.2012). 22 Paul R. Jackson: „Pale Fire and Sherlock Holmes“, in: Studies in American Fiction, 10/1982, 1, S. 101–105. 23 Arthur Conan Doyle, „The Adventure of the Empty House“ [1903], in: Ders., The Complete Sherlock Holmes, Bd. 2, Kyle Freeman (Hrsg.), New York 2003, S. 5–20, hier S. 9. 24 Ebd., S. 10. 25 Nabokov, Pale Fire, V. 28 (S. 34), Hervorhebung von mir (M.L.).

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nur Watson, sondern auch der Leser den Detektiv für tot, so nimmt sich Doyle 1903 die Freiheit, diesen Tod als Täuschung zu revidieren. Was bedeutet die Sherlock-Holmes-Markierung für das Gedicht bei Nabokov, in dem John Shade den dubiosen Selbstmord seiner Tochter Hazel Shade schildert? Und für einen Roman, in dem die Figur des Interpreten buchstäblich auf der falschen Fährte ist? As many have noted, Shade didn’t invent the backward-shoes image. It was Holmes himself who suggested the ruse as one way he might have left the impression that he had fallen over Reichenbach Falls together with Professor Moriarty. More to our point, the lines suggest both that there may be a mystery, and that Kinbote is an Anglo-American illiterate. His comment on Sherlock Holmes is of a piece with his remarks on ‚On Stopping by Woods on a Snowy Evening‘. They both leave literary tracks in the wrong direction.26

Eine solche Richtigstellung partizipiert ihrerseits am Programm der philologischen Spurenjagd, an einer Welt der obsessiven Entschlüsselung, der Dechiffriersyndikate, deren Praktiken häufig in detektivischer Metaphorik beschrieben werden – und sich in solcher Metaphorik leicht ridikülisieren lassen.27

II Suchwege der Interpretation Die Nabokov-Stelle zeigt keineswegs, dass Interpretationsprobleme auf die Enträtselung einer endlichen Zahl verrätselter Textstellen hinauslaufen. Sie veranschaulicht hingegen, wie interpretatorische Schwierigkeiten aussehen können, die sich nicht spontan, sondern nur aufgrund erheblicher Verweisstellenarbeit vorläufig lösen lassen. Für Interpretationen, die begriffsgeschichtlich, metapherngeschichtlich, gattungsgeschichtlich argumentieren und in erheblichem Maß auf intertextuelle Zusammenhänge, semantische und formale Verknüpfungen über Werkgrenzen hinaus angewiesen sind, gelten die folgenden Erwägungen. Nicht um die Frage, wie viel Wissen für das Gelingen einer philologischen Interpretation

26 Socher, „Shades of Frost“, S. 14. 27 Eine Auswahl neuerer, deutschsprachiger Interpretationen und Rekonstruktionen, die sich im Titel der hermeneutischen Entschlüsselungsmetapher bedienen: Bettina Knauer, „König Jerum: Zur Entschlüsselung einer Figurenkonstellation in Brentanos Märchen von Fanferlieschen Schönefüßchen“, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, 51/1991, S. 95–103; Thomas Köhler, Detektive im Dickicht: Studien zur literarischen Tiefenhermeneutik von M. Bonaparte, A. Schmidt, A. Lorenzer und W. Benjamin, Bielefeld 1994; Andreas Bässler, „Im Wettlauf um die Entschlüsselung: Karl Hartwig Gregor Freiherr von Meusebach auf den Spuren und in den Fußstapfen Grimmelshausens“, in: Simpliciana, 32/2010, S. 435–456; Sabine Gross, „Irrwege und Entdeckungen: detektivische Lektüre am Beispiel von Kathrin Passigs ‚Sie befinden sich hier‘“, in: Der Deutschunterricht, 62/2010, 4, S. 53–64.

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notwendig ist, soll es an dieser Stelle gehen, sondern um die Frage, wie hermeneutische Prozesse mit erkannten Defiziten umgehen.28 Der interessante Kernsatz lautet: „I have no means to ascertain at the present time which of these is referred to here but suspect that […].“29 Im Kommentar zur Robert-Frost-Stelle heißt es: „I dare not quote from memory lest I displace one small precious word.“30 Fehlende Referenzstellen, unzuverlässiges Gedächtnis: Die prekäre Situation, in der sich Nabokovs Kommentator sieht, ist weniger abnorm, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Zwar befindet sich philologische Hermeneutik gegenüber alltäglichen Interpretationssituationen unter Laborbedingungen: Die Ergebnisdruck ist, gemessen an Interpretationsleistungen pro Zeiteinheit, künstlich reduziert, so dass dem einzelnen Interpretationsgegenstand ungleich höhere Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Doch auch die philologische Interpretation, deren Handlungsdruck zugunsten des Komplexitätsgewinns herabgesetzt ist, steht unter Wettbewerbsbedingungen.31 Dem Philologen stehen begrenzte kognitive, materielle und zeitliche Ressourcen zur Verfügung, mit denen er zu einer Interpretationsleistung kommen muss.32 Wenn hermeneutische Ergebnisse

28 Definitorisch differenziert zu den gestaffelten Begriffen „Daten“, „Information“, „Wissen“: Wilhelm Gaus, Dokumentations- und Ordnungslehre. Theorie und Praxis des Information Retrieval, 5., überarb. Aufl., Berlin 2005 [zuerst 1983], S. 29–35; Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen: Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin, New York 2011. 29 Nabokov, Pale Fire, S. 78. 30 Ebd., S. 204. 31 Vgl. den Themenschwerpunkt (mit Beiträgen von Carlos Spoerhase, Hans-Harald Müller, Sandra Richter, Manuel Braun, Dirk Werle) in: Geschichte der Germanistik, 37/38/2010, S. 7–59, sowie die Einleitung zu demselben: Marcel Lepper, „Wissenschaftsplanung und Förderpolitik. Eine Marbacher Kontroverse“, in: Ebd., S. 7 f. 32 Dass Verstehens- und Interpretationsleistungen einer Ressourcenökonomie unterliegen, zeigen neuere Ergebnisse aus der Kognitions-, Lese- und Lernpsychologie: Danielle S. McNamara, Reading Comprehension Strategies. Theories, Interventions, and Technologies, Mahwah (NJ) 2007; Roger Azevedo/Jennifer G. Cromley, „Testing and refining the direct and inferential mediation model of reading comprehension“, in: Journal of Educational Psychology, 99/2007, 2, S. 311–325; Manuel G. Calvo, „Relative contribution of vocabulary knowledge and working memory span to elaborative inferences in reading“, in: Learning and Individual Differences,15/2005, S. 53–65; Tobias Richter/Nadine van Holt, „ELVES: Ein computergestütztes Diagnostikum zur Erfassung der Effizienz von Teilprozessen des Leseverstehens“, in: Diagnostica, 51/2005, S. 169–182; Kate Cain/ Kate Lemmon/Jane Oakhill, „Individual differences in the inference of word meanings from context: The influence of reading comprehension, vocabulary knowledge, and memory capacity“, in: Journal of Educational Psychology, 96/2004, 4, S. 671–681; Ursula Christmann/Tobias Richter, „Lesekompetenz: Prozessebenen und interindividuelle Unterschiede“, in: Norbert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hrsg.), Lesekompetenz: Bedingungen, Dimensionen, Funktionen, Weinheim 2002, S. 25–58; Walter Kintsch/Murray Singer, „Text Retrieval: A Theoretical Exploration“, in: Discourse Processes, 31/2001, S. 27–59; Ursula Christmann/Norbert Groeben, „Psychologie des Lesens“, in:  

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als vorläufig, hermeneutische Prozesse als unabschließbar beschrieben werden, dann nicht bloß aufgrund von Annahmen über die Unerschöpflichkeit komplexer Texte.33 Vorläufig sind die Ergebnisse auch aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen, deren Begrenztheit im besten Fall mitbedacht wird.34 Doyles Sherlock Holmes hat man mit gewisser Berechtigung nachgesagt, er habe die Leistungsfähigkeit eines Genres ausgebaut. Der Detektiv findet seine Lösung nicht mehr zufällig, nicht einfach irgendwie, vielmehr soll der Leser den Lösungsgang methodisch nachverfolgen können.35 Holmes als Leitfigur der modernen Hermeneutik? Holmes sucht den Verbrecher in einem komplizierten Fall, der Philologe die Interpretation einer schwierigen Stelle? Lassen sich Verstehensund Interpretationsprozesse auf detektivische Verfahren der Spurenverfolgung, der Decodierung reduzieren? Erfasst die Interpretation nicht einen Erkenntnisund Begründungsvorgang, der über Vorgänge des Suchens und Findens hinausgeht? Zu Recht wehrt sich die philologische Hermeneutik gegen die Technisierung, die mit einem trivialen Verständnis detektivischer Problemstellung und Problemlösung einhergehen mag. So misstraut Peter Szondi in den Bemerkungen Über philologische Erkenntnis (1962) einem Forschungsbegriff, der das qualifizierende Moment in die Prozesse des Suchens und Findens verlegt: Den Wörterbüchern wie auch der Rede vom ‚forschenden Blick‘ zufolge bedeutete Forschen einst Fragen und Suchen. Aber das Moment des Fragens, mithin auch der Erkenntnis, ist dem Wortinhalt immer mehr abhanden gekommen, das Forschen ist zum bloßen Suchen geworden. Indem der Literaturwissenschaftler von seinen Forschungen spricht, gibt er zu,

Bodo Franzmann/Georg Jäger (Hrsg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 145–223; Bruce K. Britton/Arthur C. Graesser (Hrsg.), Models of Understanding Text, Mahwah (NJ) 1996; Janice A. Dole [u.a.], „Effects of two types of prereading instruction on the comprehension of narrative and expository text“, in: Reading Research Quarterly, 26/1991, 2, S. 142–159; Timothy McNamara [u.a.], „Mental Models and Reading Comprehension“, in: Rebecca Barr [u.a.] (Hrsg.), Handbook of Reading Research, Bd. 2, Hillsdale 1991, S. 490–511. 33 Nikolaus Wegmann, „Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung“, in: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 334–450. 34 Den Ressourcenaspekt nicht nur auf der Darstellungs-, sondern auch auf der Bearbeitungsseite betont die Gattung der Kurzinterpretation, wie sie in lexikographischen und didaktischen Kontexten auftritt, etwa im Titel bei Gero von Wilpert (Hrsg.), Lexikon der Weltliteratur, Bd. 3–4: Hauptwerke der Weltliteratur in Charakteristiken und Kurzinterpretationen, 4. Aufl., München 2004 [zuerst 1963]. 35 Viktor Šklovskij, „Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle“, in: Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998, S. 142–153; Moretti, Graphs, Maps, Trees, S. 72–78.

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daß er seine Tätigkeit mehr als eine Suche nach etwas versteht, das es gibt und nur noch aufzufinden gilt, denn als Erkennen und Verstehen.36

Aber lässt sich Verstehen ohne Strategie, Interpretation ohne Suchweg haben? Ist die praktische Differenz zwischen Fragestellung und Suchstrategie tatsächlich unüberbrückbar? Liegt der Kern der philologischen Hermeneutik ganz im Dunkel der Intuition, der Artistik, der spontanen Einfühlung, der nicht vermittelbaren Meisterschaft?37 Führt eine forschungsskeptische Hermeneutik nicht zu einer Position, die daran festhält, dass die „Kunst des Verstehens“ in ihrer „praktischen Meisterschaft“ nicht „von der Bewußtheit abhängig“ sei, mit der „sie ihren Regeln folgt“?38 Die Verlagerung der philologischen Qualitätskriterien in den Charakter, in die Begabung und das Charisma des Philologen verdeckt, dass sich philologische Kenntnisse nicht aus autoritativen Zuschreibungen und Schulzuordnungen, sondern nur aus praktischen Lernprozessen, aus der Befähigung zur konkreten, eigenständigen Arbeit gewinnen lassen.39 Wie unterscheidet sich eine philologische Frage unter professionellen Bedingungen von allgemeinen Textpraktiken? Wie steckt die philologische Hermeneutik ihre spezifischen Probleme ab, deren Lösung nicht schon auf der Straße liegt? Welche Arbeitswege wählt sie, um der Problemlösung einen Schritt näher zu kommen? August Boeckh stellt in seiner Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1809–1865; 1877) fest, die Kommentare der Schule Christian Gottlob Heynes seien „höchst nüchtern und unbedeutend, dolmetschen nur mit wenigen Worten, übergehen nicht viel, ausgenommen das Schwierigste und geben über nichts genügenden Aufschluss.“40

36 Peter Szondi, „Über philologische Erkenntnis“ [1962], in: Ders., Schriften, Bd. 1, Jean Bollack [u.a.] (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1978, S. 263–286, hier S. 267. 37 Andreas Platthaus, „Intuition und Kalkül. Der Beitrag von Philologie und Kulturwissenschaft zur Wissensgeschichte: eine Tagung vom 27. bis 29. Oktober 2005 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, veranstaltet vom Zentrum für Literaturforschung Berlin“, in: Weimarer Beiträge, 52/2006, 2, S. 300–305. 38 Hans-Georg Gadamer, „Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode“ [1967], in: Ders., Wahrheit und Methode. Ergänzungen und Register, 2. Aufl., Tübingen 1993 [zuerst 1983] (Gesammelte Werke, 2), S. 232–250, hier S. 234. 39 Rainer Kolk, „Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 14/1989, S. 50–73. 40 August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften [1809–1865], Ernst Bratuschek (Hrsg.), Leipzig 1877, S. 165; eine Bewertung, die Kommentaren des Typus „Sherlock Holmes: A hawk-nosed, lanky, rather likable private detective“ gerechter werden mag als den philologischen Leistungen der Heyne-Schule.

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Die philologische Hermeneutik setzt sich die Aufgabe, die Masse des scheinbar Zugänglichen beiseite zu räumen, und wendet sich den übergangenen, den schwierigen oder, interessanter noch, den vordergründlich leicht erfassbaren Stellen zu. Das stellt beispielsweise Johann Martin Chladenius (1710–1759) fest, der in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft (1752) bemerkt, die Expertise der Philologie sei gefragt, wenn älteres oder fremdes Sprachmaterial zur Verhandlung stehe.41 Auch Carl Friedrich Flögel weist 1760 der „philologischen Hermeneutik (hermeneutica philologica)“ das Feld des Schwierigen, des Kommentarbedürftigen zu.42 Seine Grundlage hat das Konzept einer Stellenhermeneutik in der juristischen Konzentration auf die als kommentarbedürftig eingestuften Begriffe und Passagen eines Rechtstextes: „In claris non fit interpretatio“ – und: „Clara non sunt interpretanda“.43 Mag sich die Hermeneutik des 19. Jahrhunderts mit der bloßen Arbeit an der dunklen und schadhaften Stelle nicht mehr zufrieden geben,44 so durchzieht die als vormodern abgestempelte Stellenhermeneutik nicht bloß erhebliche Teile der Encyklopädie und Methodologie Boeckhs, sondern gewinnt für Philologen des 21. Jahrhunderts, die eine Programmatik des schwierigen Fachs an die Stelle der philologischen Massenfächer zu setzen versuchen, erhebliche Attraktivität.45 Für die problemorientierten, hochspezialisierten Philologien erscheint die Beschreibung hermeneutischer Prozesse unspezifisch, in denen topisch von Geduld und Dauer einerseits, blitzartiger Erkenntnis und glückhaftem Moment andererseits die Rede ist.46

41 Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1752. Mit einer Einleitung von Christoph Friedrich und einem Vorwort von Reinhart Koselleck, Köln 1985, 11. Kap., § 7 (S. 358). 42 Carl Friedrich Flögel, Einleitung in die Erfindungskunst, Breslau 1760, § 128 (S. 115). 43 Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, Tübingen 2004, S. 17–28. 44 Ebd., S. 23 f. 45 Axel Horstmann, Antike Theoria und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzept der Philologie, Frankfurt a.M. 1992; Hinweise zur editorischen Situation bei Anne Baillot/Christiane Hackel/Sabine Seifert, „Neue Perspektiven der August Boeckh-Forschung“, in: Geschichte der Germanistik, 41/42/2012, S. 139–140; Nikolaus Wegmann, How to do Things with Philology [Vortrag an der Columbia University, 24. Februar 2012, ungedrucktes Manuskript]. 46 Johann Gustav Droysen, Historik, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), Peter Leyh (Hrsg.), Stuttgart 1977, in der Fassung 1857/1858, § 8 (S. 398): „Das Verstehen ist nicht ein Auseinanderlegen oder Zusammenfassen von Begriff, Urteil, Schluß, sondern ein schöpferischer Akt wie der Lichtfunken zwischen den sich nahenden elektrophoren Körpern, wie die Empfängnis in der Begattung“; in der Fassung 1882, § 11 (S. 424) differenzierter: „Von dem logischen Mechanismus des Verstehens unterscheidet sich der Akt des  

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III Wie kann man über Heuristiken sprechen? Der Terminus, der den Zuständigkeitsbereich der Problemlösungsprozesse unter den Bedingungen von Ressourcenknappheit erfasst, lautet ‚Heuristik‘. Der Duden definiert: Heuristik [zu griech. heuriskein = finden, entdecken]: Lehre, Wissenschaft von den Verfahren, Probleme zu lösen; methodische Anleitung, Anweisung zur Gewinnung neuer Erkenntnisse.47

Eine historisch vertiefte Definition bietet Heinrich Schepers im Historischen Wörterbuch der Philosophie: Allgemein werden heute solche Begriffe, Grundsätze, Verfahren und Methoden ‚heuristisch‘ genannt – man spricht auch von ihrem ‚heuristischen Wert‘ –, die etwas zur Erkenntniserweiterung beitragen, ohne selbst die Sicherheit der gewonnenen Erkenntnisse begründen zu können. Sie finden in Form von Konjekturen, Gedankenexperimenten, Modellen und Arbeitshypothesen, um nur einige der Benennungen aufzuführen, unter denen sie aufzutreten pflegen, überall da Anwendung, wo noch keine streng deduktiven Begründungs- und Entscheidungsverfahren bekannt oder möglich sind, und tragen daher grundsätzlich einen provisorischen, zugleich aber weiterführenden Charakter.48

Ein Verfahrensbegriff, wie er aus der Ästhetik und aus der Rechtstheorie bekannt ist, erfasst freilich nur unzureichend, dass Heuristiken keine kleinschrittigen Prozessstrukturen, gar fertige Rezepte zur Problemlösung bereitstellen können. Ebenso erscheint Behutsamkeit geboten, wenn heuristische Strategien über den Methodenbegriff definiert werden. Ein Heuristikbegriff, der hinter die genannten

Verständnisses. Dieser erfolgt unter den dargelegten Bedingungen als unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele in Seele, schöpferisch wie die Empfängnis in der Begattung“; überblicksweise Eva-Maria Engelen (Hrsg.), Heureka. Evidenzkriterien in den Wissenschaften. Ein Kompendium für den interdisziplinären Gebrauch, Heidelberg 2010. 47 Duden. Das große Wörterbuch deutscher Sprache in zehn Bänden, Bd. 4, 3., neu bearb. und erw. Aufl., Mannheim 1999, S. 1787. 48 Heinrich Schepers, [Art.] „Heuristik, heuristisch“, in: Joachim Ritter [u.a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3: G–H, Darmstadt 1974, Sp. 1115–1120, hier Sp. 1119; Kuno Lorenz, [Art.] „Heuristik“ [1980], in: Jürgen Mittelstraß [u.a.] (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 2. Aufl., Stuttgart 2008, S. 385 f.; Lutz Danneberg, Methodologien. Struktur, Aufbau und Evaluation, Berlin 1989, zum Interesse an Heuristiken insb. S. 36–39; Jürgen Mittelstraß, „Finden und Erfinden. Über die Entstehung des Neuen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft“, in.: Ders. (Hrsg.), Finden und Erfinden. Die Entstehung des Neuen, Berlin 2009, S. 17–31; Marcel Lepper, „Heuristikgeschichte: ein zweigliedriges Rekonstruktionskonzept“, in: Scientia Poetica, 13/2009, S. 329–338.  

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Definitionen fragend zurücktritt, erfasst den Bereich der Erwägungen und Vorgehensweisen, die in Überforderungssituationen zum Einsatz kommen, der Gewinnung vorläufiger Fragen dienen und dadurch Problemlösungen anbahnen. Heuristiken stellen keine Automatismen bereit, auch wenn die artes inveniendi immer wieder versucht haben, Erfindungsgeräte, Problemlösungsapparaturen zu bauen, die in der Metaphorik bei Imre Lakatos (1973; 1977) als „powerful problem-solving machinery“ weiter leben.49 Stattdessen treten Heuristiken immer dann auf den Plan, wenn die Situation unüberschaubar, die Zeit knapp, das Untersuchungsfeld vorerst schwach strukturiert, die kognitiven Ressourcen begrenzt sind. „Heuristic reasoning“, so George Pólya (1945; 2009), „is reasoning not regarded as final and strict but as provisional and plausible only, whose purpose is to discover the solution of the present problem“.50 Heuristiken ziehen keine „direkten, formalisierbaren Schlüsse“, sondern bieten „zur Lösung führende Hilfsmittel für Fragestellungen, zu deren Beantwortung eindeutige Verfahren fehlen oder unvertretbar aufwendig erscheinen“. Sie dienen der „Reduktion von Suchstrategien“ und ermöglichen den Umgang mit „vagem Wissen“.51 Heuristiken sind schwer zu beobachten.52 Aus dem Resultat eines Forschungsprozesses lässt sich nicht ohne Weiteres auf die vollzogene Handlung schließen,

49 Imre Lakatos, „Science and Pseudoscience“ [1973], in: Ders., The Methodology of Scientific Research Programmes. Philosophical Papers, Bd. 1, Gregory Currie/John Worrall (Hrsg.), Cambridge 1977, S. 1–7, hier S. 4 f. 50 George Pólya, How to Solve It. A New Aspect of Mathematical Method, New York 2009 [zuerst 1945], S. 113. 51 Eva Jelden, [Art.] „Heuristik“ [1995], in: Franz-Peter Burkard/Peter Prechtl (Hrsg.), Metzler Philosophielexikon, 2., erw. und akt. Aufl., Stuttgart, Weimar 1999, S. 235; ausführlich in historischer und philosophischer Hinsicht zum Umgang mit vagem, mit unsicherem und lückenhaften Wissen Michael Bies/Michael Gamper, Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730–1930, Zürich 2012; Hans Adler, „Formen des Nichtwissens im Zeitalter des Fragens“, in: Ders./Rainer Godel (Hrsg.), Formen des Nichtwissens der Aufklärung, München 2010, S. 9–20; Carlos Spoerhase/Dirk Werle/Markus Wild (Hrsg.), Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850, Berlin 2009, insb. die begriffsklärende Einleitung der Hrsg. (S. 1–16); Lutz Danneberg, „Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik“, in: Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Christian Thomasius. Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Berlin 1997, S. 253–316, insb. S. 316 zur Entwicklung der Vorstellung der „probabilitas hermeneutica“ im 18. Jahrhundert, im Sinne der Methodenlehre und der Evaluation interpretativer Wissensansprüche. 52 Die ältere Forschung, darunter Charles Nicolle, Biologie de l’invention, Paris 1932, und Jacques Hadamard, An Essay on the Psychology of Invention in the Mathematical Field, Princeton 1949, berücksichtigt Charles Morazé in dem Beitrag zur Strukturalistentagung an der Johns Hopkins University, der im Aufsehen um Jacques Derridas amerikanisches Debüt zu Unrecht untergegangen ist: „Literary Invention“ [1966], in: Eugenio Donato/Richard Macksey (Hrsg.), The Languages of Criticism and the Sciences of Man, 2. Aufl., Baltimore 1972, S. 22–54.  

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aus der Findungsleistung nicht auf die Suchstrategie. Bekommt man sie zu fassen, wenn man den Erfinder nach gelungener Arbeit fragt, wie er vorgegangen ist? Indem man seine Tätigkeit nachzeichnet, ihm Beobachtungsfallen stellt? Oder indem man die Erwägungen konsultiert, die heuristische Prozesse beschreiben, Verfahrenserträge evaluieren, zukünftige Such- und Findestrategien mit Empfehlungen versehen? Lassen sich Heuristiken diskursiv oder phronetisch lehren und lernen? Oder ist es vielmehr sinnlos, von Heuristiken überhaupt sprechen zu wollen? Dann gälte freilich die Unmöglichkeit der Beobachtung und Diskursivierung für alle eingeschliffenen „Verfahrensroutinen“, von denen Steffen Martus und Carlos Spoerhase (2009) sprechen – konzentriert sich „Selbstreflexion“ doch in allen philologischen Bereichen „auf die Ebene des Regelwissens“ und vernachlässigt dabei das „Anwendungswissen“.53 Neuere wissenschaftstheoretische und kognitionspsychologische Studien, darunter die Arbeiten von Thomas Nickles (1989; 2006) und Gerd Gigerenzer (1999; 2011), erschließen Heuristiken, indem sie Lehrversprechen wie Beschreibungverdikte historisieren, stattdessen einen praktischen Zugang eröffnen. Der Erfolg von Heuristiken wird in der Regel anhand der situativen Bewährung beurteilt, etwa in der Frage, inwiefern die Wiedererkennungsheuristik effiziente Entscheidungsfindung fördert.54 Ein wiederkehrendes Argument der wissenschaftstheoretischen wie kognitionswissenschaftlichen Beschäftigung mit Heuristiken verweist auf den Umgang mit Ressourcen, der in wissenschaftlichen Planungs- und Evaluationszusammenhängen eine tragende Rolle spielt. Thomas Nickles diskutiert in Auseinandersetzung mit Karl R. Popper, Thomas S. Kuhn und Imre Lakatos den Begriff des „heuristic appraisal“, d.h. die Fragen von „claim“ und „predictibility“, von „promise“ und „problem choice“, von erwartetem Problemlösungserfolg im Verhältnis zum erzielten Ergebnis.55 Vorgänge des „heuristic appraisal (HA)“ unterscheidet er vom „epistemic appraisal (EA)“. Während letzterer dem Erkenntnisgewinn zugewandt sei, habe ersterer es mit einer Vorstufe, mit den Ökonomien des Forschungsprozesses, der „economy of research“ zu tun.

53 Carlos Spoerhase/Steffen Martus, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, in: Geschichte der Germanistik, 35/36/2009, S. 89–96, hier S. 89. 54 Beispielsweise Thorsten Pachur [u.a.], „The Recognition Heuristic: A Review of Theory and Tests“, in: Frontiers in Psychology, 2/2011, S. 1–14; zum Argumentationshintergrund Gerd Gigerenzer/Peter M. Todd, „Fast and Frugal Heuristics. The Adaptive Toolbox“, in: Dies./ABC Research Group (Hrsg.), Simple Heuristics That Make Us Smart, Oxford 1999, S. 3–36. 55 Thomas Nickles, „Heuristic Appraisal: A Proposal“, in: Social Epistemology, 3/1989, 3, S. 175–188, hier S. 176; zur hermeneutischen Dimension vgl. Carlos Spoerhase, „‚Mere reading‘. Über das Versprechen eines ‚posthermeneutischen‘ Verstehens“, in: Marcel Lepper [u.a.] (Hrsg.), Jenseits des Poststrukturalismus? Eine Sondierung, Frankfurt a.M. 2005, S. 15–36.

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HA evaluates the promise or potential fertilitiy and feasibility of further work on a problem, research program, theory, hypothesis, model, or technique. HA estimates the likely return on investment in expensive equipment, in reorganizing a laboratory, or even in adding a new member to the research team.56

Nickles gibt zu, dass es sich bei „HA“ um einen Begriff handelt, der seinerseits künftige Binnendifferenzierungen erfordere: „To be sure, as I have characterized it, HA is a loose, catch-all category that includes a great diversity of things, including pragmatic considerations as well as strictly heuristic ones.“57 Das sei freilich kein Argument gegen wissenschaftstheoretische Überlegungen, die sich mit „HA“ befassen, im Gegenteil: „The more dimensions to HA, the more grist for my mill!“58 Ausführlich legt Nickles dar, warum „HA“ nicht auf „EA“ reduziert werden kann. „HA“ erweise sich für die Problemwahl als notwendig und setze deshalb ein, bevor „EA“ zum Zuge komme, und sei evaluativ gefragt, wenn „EA“ schon abgeschlossen sei.59 Die wissenschaftssoziologisch und wissenschaftsökonomisch geprägte Argumentation bei Nickles markiert ein empirisches Feld der Investitionssteuerung und der Risikoabwägung, auf dem sich „HA“ untersuchen lässt.60 Sie benennt damit auch den Grund, warum heuristische Fragen in der Wissenschaftsphilosophie zu kurz kommen: The received distinction between context of discovery and context of justification (the DJ distinction) […] links philosophy of science more closely to traditional philosophical problems of knowledge, justification, logic and even metaphysics than to actual scientific practices of evaluation and decision-making.61

Versucht Nickles, das Konzept von „HA“ in den Rahmen der Hans Reichenbach zugeschriebenen Unterscheidung zwischen Entdeckungszusammenhang und Begründungszusammenhang einzuspannen, so muss er feststellen, dass seine Unter-

56 Thomas Nickles, „Heuristic Appraisal: Context of Discovery or Justification?“, in: Jutta Schickore/Friedrich Steinle (Hrsg.), Revisiting Discovery and Justification. Historical and Philosophical Perspectives on the Context Distinction, Dordrecht 2006 (Archimedes. New Studies in the History and Philosophy of Science and Technology, 14), S. 159–182, hier S. 159. 57 Ebd., S. 164. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 165–169. 60 Nickles beruft sich auf handlungstheoretische und verhaltenspsychologische Studien zur Entscheidung unter Untersicherheit: Baruch Fischhoff, „Hindsight, Foresight: The Effect of Outcome Knowledge on Judgment under Uncertainty“, in: Journal of Experimental Psychology, 1/1975, S. 288–299; Daniel Kahneman/Paul Slovic/Amos Tversky (Hrsg.), Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, Cambridge 1982. 61 Nickles, „Heuristic Appraisal“, 2006, S. 170.

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scheidung von „HA“ und „EA“ mit der „DJ distinction“ nicht kompatibel ist.62 Hat die scharfe Trennung von „context of discovery“ und „context of justification“, die sich auf evaluative Aspekte konzentriert, möglicherweise indirekt dazu beigetragen, das Zustandekommen von Ergebnissen zu derationalisieren?63 Nickles entscheidet sich dafür, die heuristische Perspektive des Wissenschaftlers nicht gegen die epistemische des Philosophen einzutauschen, dafür die erstgenannte ernst zu nehmen: Epistemologists ask, ‚Is it true?‘, while scientists ask, ‚Is it new?‘ Epistemologists ask, ‚How do you know that the cat is on the mat? or that Jones owns a Ford?‘, whereas scientists ask, ‚Is it fruitful to search for magnetic monopoles or for string theories or for mechanisms of group selection?‘ Most philosophers are directly truth-seeking whereas scientists are problem-seekers and solvers.64

Nachfragebedarf besteht nicht so sehr angesichts der plakativen Gegenüberstellung, die zweifellos rhetorischen Anforderungen geschuldet ist und von Nickles im Artikel in differenzierter Argumentation grundiert wird. Problematisch erscheint vielmehr das technologische Wissenschaftsverständnis, das auf starke Anwendungsbezüge setzt. Es verschenkt, indem er einen entwicklungsnahen, angloamerikanisch geprägten Wissenschaftsbegriff wählt, vorschnell die Untersuchung heuristischer Prozesse in anderen Wissenschaftszweigen. Im vorliegenden Zusammenhang ist Nickles’ Ansatz gleichwohl an den Stellen ergiebig, an denen er einen handlungs- und entscheidungsorientierten Zugang zu Prozessen der Gelingensabschätzung öffnet.65 Dass dem Plädoyer für die Relevanz heuristischer Vorüberlegungen die historische Tiefenschärfe fehlt, welche die eingeschmuggelten, agrarischen und inventiven Metaphern – „future harvests“, „cor-

62 Ebd., S. 159, 170. 63 Lorenz, „Heuristik“, S. 386; ausführlich argumentiert Elie Zahar, „Logic of Discovery or Psychology of Invention?“, in: The British Journal for the Philosophy of Science, 34/1983, S. 243–261, für eine rationale Heuristik; zusammenfassend S. 243: „Until recently, it was very much part of the orthodoxy in philosophy of science that there is no room for what might be called rational heuristics. Popper, Reichenbach and other members of the Vienna Circle all agreed that there is a sharp distinction between the ‚context of discovery‘ and the ‚context of justification‘. Only the latter lies within the domain of methodology, whose proper task is to evaluate theories supposed to be laid on the table, i.e. supposed to have already been constructed. As for the context of discovery, it belongs to the psychology of invention“; Poppers belegte Verwendung des Heuristikbegriffs verlangt freilich nach Differenzierung von Zahars schwarzweiß gezeichneter Bestandsaufnahme: Karl R. Popper, „Logik der Forschung“ [1935], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, Herbert Keuth (Hrsg.), 11. Aufl., Tübingen 1994, Register: S. 579. 64 Nickles, „Heuristic Appraisal“, 2006, S. 175. 65 Ebd., S. 172.

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nucopia of new results“ – einfordern würden, macht ein vertiefte Untersuchung von Konzepten der Ertragsabschätzung umso notwendiger.66

IV Was meint ‚hermeneutische Heuristik‘? Ist im 18. Jahrhundert von Heuristik die Rede, dann wird in der Regel auf leibnizianische und wolffianische Autoren verwiesen, die von der „Erfindungskunst (ars inveniendi, heuristica)“ sprechen.67 Heuristische Kunstmittel (artificia heuristica) nennt Christian Wolff (1679–1754) die Regeln, die dort, wo die gewöhnlichen Fähigkeiten des Schließens nicht weiterführen, zum Einsatz kommen und mit deren Hilfe der Verstand befähigt wird, aufgrund erkannter Prinzipien eine bislang unbekannte Wahrheit zu finden: „Artificia heuristica dicuntur regulae, quibus mens apta efficitur per principia ipsi perspecta veritatem incognitam eruendi, quam solo ratiocinandi habitu adjuta per ea eruere non poterat.“68 Das komplexe Traditionsverhältnis der Erfindungskunst des 18. Jahrhunderts zur Logik, Mathematik, Rhetorik und Topik kann an dieser Stelle nicht entfaltet werden.69 Anstelle einer ausführlichen begrifflichen und wissenschaftshistorischen Rekonstruktion sei auf die grundlegende Studie von Michael Graf von Matuschka sowie neuere Forschungsarbeiten verwiesen, die sich mit dem Gebrauch des vor-

66 Nickles, „Heuristic Appraisal“, 1989, S. 176. 67 Flögel, Einleitung in die Erfindungskunst, § 38 (S. 47); zum hermeneutikgeschichtlichen Hintergrund Axel Bühler (Hrsg.), Unzeitgemäße Hermeneutik: Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994; Manfred Beetz/Giuseppe Cacciatore (Hrsg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, Köln 2000 (Collegium Hermeneuticum, 3); Armin Emmel, „Die Auslegung von Texten rationaler Autoren. Publikationen der neunziger Jahre zur Hermeneutik des 18. Jahrhunderts“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 26/2002, 1, S. 89–97. 68 Christian Wolff, „Psychologia empirica“ [1732; 1738], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. II/5, Nachdruck, Hildesheim 1968, § 469 (S. 362); Gustav G. Špet stellt fest, Wolff habe „kein Gespür“ für die Brisanz hermeneutischer Fragen gehabt und deshalb die Hermeneutik in den praktischen Teil seiner Logik eingeordnet, bloß um keine Lücke im System zu lassen; dass Wolff sich auf die Hermeneutik als eine ‚ars inveniendi‘ bezieht, bemerkt Špet, ohne die Spur aufzunehmen; Gustav G. Špet, Die Hermeneutik und ihre Probleme [1918], Alexander Haardt/Roland Daube-Schackat (Hrsg.). Aus dem Russ. übers. v. Erika Freiberger/Alexander Haardt, Freiburg 1993, S. 114. 69 Zum Verhältnis von Logik und Hermeneutik im frühen 18. Jahrhundert vgl. Manfred Beetz, „Nachgeholte Hermeneutik. Zum Verhältnis von Interpretations- und Logiklehren in Barock und Aufklärung“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 55/ 1981, S. 591–628; Lutz Danneberg, „Vom ‚grammaticus‘ und ‚logicus‘ über den ‚analyticus‘ zum ‚hermeneuticus‘“, in: Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, Berlin, New York 2005 (Historia hermeneutica, 1), S. 282–364.

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kantischen Heuristikbegriffs auseinandersetzen.70 Der nicht trennscharfe Parallelgebrauch der Begriffe Erfindungskunst, ars inveniendi und Heuristik in der leibnizianischen und wolffianischen Literatur des 18. Jahrhunderts lässt sich bei Heinrich Köhler (1724; 2. Aufl. 1738), Michael Gottlieb Hansch (1727), Joachim Georg Darjes (1737; 1747), Johann Christian Antonius Corvin (1739), Michael Christoph Hanov (1739), Martin Knutzen (1747), Johannes Ernst Gunner (1756), Carl Friedrich Flögel (1760) und Johann Christoph Dommerich (1765) studieren.71 Einen wesentlichen Schritt wagt Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der den ganzen ersten und einzig erschienenen Teil seiner Ästhetik mit „Heuristica“ überschreibt. Die Heuristik, der Methodologie vorgeschaltet, habe sich mit der Findung der ästhetisch relevanten „Sachen“ und der „zu denkenden Dinge“ zu befassen.72 Dieses Verständnis einer Erfindungskunst unterscheidet Baumgarten

70 Gottfried Wilhelm Leibniz, Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae [1667], AA VI/1, § 24 (S. 279); Christian Wolff, „Vernünftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntniß der Wahrheit“ [1713], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. I/1, Hans Werner Arndt (Hrsg.), Hildesheim 1965, Einleitung des Herausgebers, S. 10 f.; ausführlich Michael Graf von Matuschka, Heuristik. Geschichte des Wortes und der Versuche zur Entwicklung allgemeiner und spezieller Theorien von der Antike bis Kant, Düsseldorf 1974; Hans Hermes, Ideen von Leibniz zur Grundlagenforschung. Die ‚ars inveniendi‘ und die ‚ars iudicandi‘, Stuttgart 1969 (Studia Leibnitiana, Suppl. 3); Hans Werner Arndt, „Der Zusammenhang von ‚ars iudicandi‘ und ‚ars invendiendi‘ in der Logik von Leibniz“, in: Studia Leibnitiana, 3/1971, S. 201–211; Cornelis-Anthonie van Peursen, „‚Ars inveniendi‘ im Rahmen der Metaphysik Christian Wolffs: die Rolle der ‚ars inveniendi‘“, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Christian Wolff, 1679–1754: Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur, 2. Aufl., Berlin 1983, S. 66–88; Dies.: „E. W. von Tschirnhaus and the ‚ars inveniendi‘“, in: Journal of the History of Ideas, 54/1993, 3, S. 395–410; Manuela Sanna, „E. W. von Tschirnhaus’ anthropologische Hypothese der ‚ars inveniendi‘“, in: Studia Leibnitiana, 31/1999, 1, S. 55–73. 71 Heinrich Köhler, Dissertatio de indole fictionum heuristicarum moralium praecipue et mathematicarum. Oder: Von der Erfindungskunst in moralischen und mathematischen Dingen, Jena 1724, 2. Aufl., Jena 1738; Michael Gottlieb Hansch, De arte inveniendi sive synopsis regularum praecipuarum artis inveniendi, Leipzig 1727; Joachim Georg Darjes, Die lehrende Vernunftkunst, welche eine vernünftige Anweisung zur Verbesserung der Kräfte des Verstandes in Beurteilung und Erfindung der Wahrheiten in sich enthält, Jena 1737; Ders., Introductio in artem inveniendi seu logicam theoreticopracticam, Jena 1747; Johann Christian Antonius Corvin, Institutiones philosophicae rationalis methodo scientificia conscriptae, Jena 1739; Michael Christoph Hanov, Entwurf der Erfindungskunst als Vernunftkunst. Darinnen enthalten sind die Regeln, welche zur Erlernung und Behaltung der Wahrheit überhaupt führen, Danzig 1739; Martin Knutzen, Elementa philosophiae rationalis seu logicae, Königsberg 1747, zur Heuristik §§ 584–590 (S. 382–390); Johann Ernst Gunner, Ars heuristica intellectualis usibus auditorii adcommodata, Leipzig 1756; Flögel: Einleitung in die Erfindungskunst; Johann Christoph Dommerich, Die Mnemonik und Heuristik, Halle 1765. 72 Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik [1750; 1758], Bd. 1, Dagmar Mirbach (Hrsg.), Hamburg 2007, S. 5 (Synopsis); S. 17 (§ 13); ausführlicher dazu die Habilitationsschrift des Verfassers (erscheint 2015).  

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von der „heuristica oratoria“, die auf die inventio verweist.73 Ebenso grenzt Baumgarten seinen Heuristikbegriff schärfer als Leibniz und Wolff von der klassischen Topik ab, die Cicero als ars inveniendi empfohlen habe.74 Aus dem Heuristikverständnis des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts ergeben sich im gegebenen Zusammenhang zwei Perspektiven: a) eine hermeneutische, in der die Heuristik berücksichtigt wird, b) eine heuristische, in der die Hermeneutik eine Rolle spielt. Ein Beispiel für die erstgenannte Perspektive liefert Georg Friedrich Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, ein Beispiel für die zweitgenannte Carl Friedrich Flögels Einleitung in die Erfindungskunst. Beiden gemeinsam ist, dass ihnen der Erfindungsbegriff, wie er in der rhetorischen Tradition verwendet wird, zwar nicht entgeht, sie aber deutlich markieren, dass sie über das Anliegen hinausgehen. Ihnen ist nicht zuerst, rhetorisch gedacht, an der Konstituierung der interpretatorischen Rede gelegen, sondern daran, wie Verständnis und Interpretation als solche zustande kommen.75 Georg Friedrich Meier (1718–1777), der Nachfolger Baumgartens in Halle, nach dem auch Kant unterrichtet, entwickelt den Ansatz der wolffianischen Heuristik weiter. Es lohnt sich, einen genaueren Blick in den Teil b) des ersten, theoretischen Teils von Georg Friedrich Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst zu werfen, darin insb. die heuristischen Absätze β und γ (Gliederung, § 6, [S. 6]) genauer anzusehen: „von der Erfindung des unmittelbaren Sinnes“, „von der Erfindung

73 Ebd., § 13 (S. 16). Als „erste Verarbeitungsphase“ der Rede meint die ‚inventio‘, so fasst Lausberg zusammen, das „‚Finden‘ der Gedanken“, die zum Redeanliegen gehören; Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, §§ 260 f. (S. 146 f.); Ders., Elemente der literarischen Rhetorik, 10. Aufl., Ismaning 1990 [zuerst 1963], § 40 (S. 24); Anton Hügli [u.a.], [Art.] „Invention, Erfindung, Entdeckung“, in: Ritter [u.a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I–K, Darmstadt 1976, Sp. 544–574; Manfred Kienpointner, [Art.] „Inventio“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4: Hu–K, Darmstadt 1998, Sp. 561–587; Sandra Richter, „Von der Erfindung und den Grenzen des Schaffens. Fallstudien zur Inventio-Lehre in Poetik und Ästhetik“, in: Toni Bernhart [u.a.] (Hrsg.), Imagination und Invention, Berlin 2006, S. 217–242. 74 Thomas Frank (Hrsg.), Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, Göttingen 2007; Thomas Schirren/Gert Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 1998, darin insb. Einleitung und ausführliche Forschungshinweise der Hrsg. (S. XIII–XXXI); Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983; Dieter Breuer (Hrsg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981. 75 Einen differenzierten Blick auf den rhetorischen Hintergrund im 18. Jahrhundert erlauben Joachim Dyck/Jutta Sandstede, Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie im deutschsprachigen Raum, Bd. 1: 1700–1742, Bd. 2: 1743–1800, Stuttgart 1996.  

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des mittelbaren Sinnes der Rede“.76 Die „Auslegungskunst im weitern Verstande (hermeneutica significatu latiori)“ sei die „Wissenschaft der Regeln, durch deren Beobachtung die Bedeutungen“ von „Zeichen“ erkannt werden könne, so Meier 1757. Die „Auslegungskunst im engern Verstande (hermeneutica significatu strictiori)“ die „Wissenschaft der Regeln, die man beobachten“ müsse, wenn man den „Sinn aus der Rede erkennen und denselben anderen vortragen will“.77 Meier geht in leibnizianischer und wolffianischer Nachfolge von der „Charakteristik“ als der „Wissenschaft der Zeichen“ aus; da die Hermeneutik es mit Zeichen zu tun habe, müsse sie ihre Grundsätze aus der allgemeinen „Charakteristik“ nehmen.78 Durch die Tatsache, dass die Charakteristik ihrerseits in leibnizianischen und wolffianischen Erfindungslehren als zentrale Technik verhandelt wird, ergibt sich eine begriffliche Komplikation. Auf den ersten Blick zeichnet sich ein Verständnis von „heuristischer Charakteristik“ ab, das auf die Generierung von Zeichen und Erkenntnissen, nicht auf die Zeicheninterpretation zielt. So teilt Carl Friedrich Flögel (1729–1788) die Charakteristik in einen Teil, der mit der Erfindung neuer Zeichen, und einen, der mit der Auslegung vorgefundener Zeichen zu tun hat; der erste heiße „heuristische Charakteristik“, der zweite „hermeneutische Charakte-

76 Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst [entst. 1756; Halle 1757]. Hrsg. von Axel Bühler/Luigi Cataldi Madonna, Hamburg 1996, §§ 131–217 (S. 51–82). Vgl. Ekaterini Kaleri, „Ästhetische Wahrheit: Transformation der Erkenntnistheorie in der Ästhetik Georg Friedrich Meiers“, in: Schönert/Vollhardt (Hrsg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, S. 365–402; Yvonne Wübben, Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa Georg Friedrich Meiers (1718–1777), Tübingen 2007, S. 117–119. 77 Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, § 1 (S. 5). Zurückgreifen kann Meier auf Christian Wolffs lateinische Logik: Christian Wolff, „Philosophia rationalis sive Logica“ [1728; 3. Aufl. 1740], in: Gesammelte Werke, Bd. II/1,3, Hildesheim 1983, Kap. „De legendis libris tum historicis, tum dogmaticis“, §§ 902–967 (S. 641–691); Ders., „Grundsätze des Natur- und Völkerrechts“ [1754, vgl. Anm. 2], Teil II, Kap. 19: „Von der Auslegung“ (S. 587–602), insb. § 797 zur „richtige[n] Auslegung“ nach „Auslegungsregeln“ (S. 589). 78 Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, § 3 (S. 5). Hinter dem Potential der leibnizianischen Zeichenlehre bleibt Jean Grondin in seinem Beitrag zurück: „Das Leibnizsche Moment in der Hermeneutik“, in: Beetz/Cacciatore (Hrsg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, S. 3–16; aufschlussreicher hingegen Luigi Cataldi Madonna, „Die Sprachauffassung Lamberts: Zwischen Charakteristik und Metaphorisierung“, in: Schönert/Vollhardt (Hrsg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, S. 221–242; Andreas MeierKunz, Die Mutter aller Erfindungen und Entdeckungen: Ansätze zu einer neuzeitlichen Transformation der Topik in Leibniz’ ‚ars inveniendi‘, Würzburg 1996, S. 53–140, insb. zur inventiven Charakteristik (S. 105–109); Kuno Lorenz, [Art.] „Ars characteristica“, in: Jürgen Mittelstraß [u.a.] (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Stuttgart 1980, S. 186; Raili Kauppi, [Art.] „Characteristica universalis“, in: Ritter [u.a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A–C, Darmstadt 1971, Sp. 983; Friedrich Kaulbach, „Der Begriff des Charakters in der Philosophie von Leibniz“, in: Kant-Studien, 57/1966, S. 126–141, insb. S. 126 f.  

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ristik“.79 Die Einteilung kann rasch zu dem Eindruck führen, dass es entweder einen heuristischen oder einen hermeneutischen Zugang zur Zeichenwelt geben, eine hermeneutische Heuristik aber nicht vorgesehen sein kann.80 Dieser Eindruck trügt freilich.81 Kann eine Zeichenkunst, die vorsieht, vorgefundene Zeichen auszulegen, nicht ihrerseits einen heuristischen Anteil aufweisen? Sie kann, wie Meier im Absatz von der „Erfindung des unmittelbaren Sinnes“ der Rede demonstriert.82 Sie kann, wie auch Flögel vorsieht, wenn er umgekehrt die Hermeneutik aus der Perspektive der Erfindungskunst verhandelt:83 Die „hermeneutische Charakteristik“ lehre uns, die „Bedeutungen aus ihren Zeichen finden“; sie enthalte entsprechend die „Regeln, die bei der Auslegung“ der Zeichen beachtet werden müssen.84 Sie kann, wie Schepers in Alexander Gottlieb Baumgartens Philosophia generalis (postum 1770) nachweist, in der unterhalb der „heuristica“, d.h. der „logica inventionis“, im speziellen Sinn nicht nur die „diiudicatio, critica“, sondern auch die „interpretatio, hermeneutica“ behandelt werden.85 Fällt die hermeneutische Heuristik mit den Interpretationsregeln zusammen, die Hermeneutiktheoretiker wie Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757), der ältere Bruder Alexander Gottlieb Baumgartens, aufstellen?86 Es hängt vom Status

79 Flögel, Einleitung in die Erfindungskunst, § 123 (S. 110). 80 Eine entsprechende Positionierung der Heuristik zur Hermeneutik weist Danneberg, „Die Auslegungslehre des Christian Thomasius“, S. 255, beim Schleiermacher-Herausgeber Friedrich Lücke (1791–1855) nach: Grundriß der neutestamentlichen Hermeneutik und ihrer Geschichte, Göttingen 1817, S. 3: „Die allgemeine Hermeneutik, oder Auslegungslehre, ist ein Theil der angewandten Logik, und bildet mit der ihr nothwendig voraufgehenden Bezeichnungslehre, oder Heuristik, die allgemeine Zeichenlehre, oder Semiotik.“ 81 Bühler (Hrsg.), Unzeitgemäße Hermeneutik, setzt zu Recht im Sachverzeichnis das Lemma ‚Heuristik‘ (S. 265), das auf die Ausführungen im Beitrag von Lutz Danneberg verweist (S. 101). 82 Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, § 131 (S. 87). 83 Flögel, Einleitung in die Erfindungskunst, § 126 (S. 112 f.). 84 Hervorhebungen von mir (M.L.); mit der „allgemeinen Auslegungskunst“ macht es sich Flögel zu einfach, wenn er, anders als Meier, bloß aufzählt, womit sie zu tun habe: mit den „allgemeine[n] Bestimmungsgründe[n] der Auslegung“, mit der „Auslegung falscher und wa[h]rer Zeichen“, mit dem „Urheber der Zeichen“, dessen „Umstände in der Auslegung oft ein großes Licht geben“, mit der „hermeneutischen Billigkeit“, mit den „hermeneutischen Hilfsmitteln“ (ebd.); heuristisch interessanter sind Flögels Bemerkungen zur „besonderen Auslegungskunst“, die manches von dem aufnimmt, was sich bei Meier im praktischen Teil findet. Behandelt werden die Auslegung der tachygraphischen Zeichen, d.h. der Kurzschriftsysteme, der Noten, Abbreviaturen, Siglen, die Dechifrierkunst in der Diplomatik, in der Paläographie und bei Geheimschriften, die Auslegung von Hieroglyphen und Emblemen; ebd., § 128 (S. 113–116). 85 Schepers, [Art.] „Heuristik“, Sp. 1117; Alexander Gottlieb Baumgarten, Philosophia generalis. Postum hrsg. v. Johann Christian Förster. Halle 1770, § 147 (S. 64). 86 Beetz, „Nachgeholte Hermeneutik“, S. 621–628, hier S. 621, mit Verweis auf die Entwicklung zwischen Johann Conrad Dannhauer (1630) und Siegmund Jacob Baumgarten (1745), insbesonde 

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der Verben ‚finden‘, ‚erfinden‘ ab, wie sie bei Meier und Flögel verwendet werden. Worin liegt die hermeneutische Erfindungsleistung, von der Meier spricht? Eine ‚Erfindung‘ in einer der Verwendungsweisen, die der Duden ausweist, kann nicht gemeint sein.87 Eher meint „Erfindung“ bei Meier wohl Auffindung, Ermittlung, Ergründung? Besteht die Leistung darin, dass der Interpret, charakteristisch gedacht, den Zeichenfindungsprozess des Autors rekonstruiert? Dass er, rhetorisch gedacht, die inventiven Bestände freilegt, auf die der Autor zurückgreift? Oder dass er selbst Zeichen findet, d.h. von der hermeneutischen in die heuristische Charakteristik übergeht, wenn er für einen dunklen Zeichenzusammenhang eine klare, ihrerseits zeichenhaft verfasste Auslegung findet?88 Anders gefragt: Wenn die Semiotik im frühen und mittleren 18. Jahrhundert im Dienst der Erfindungslehre steht, muss dann nicht die Hermeneutik, sofern sie semiotisch ansetzt, sich zu Erfindungsvorgängen verhalten? An gegebener Stelle kann nur eine Spur gelegt, auf das Untersuchungspotential hingewiesen werden. Die Frage nach dem Status der hermeneutischen Heuristik führt unterdessen noch auf einen zweiten Weg, der ebenfalls im frühen 18. Jahrhundert beginnt und sich mit dem ersten mehrfach kreuzt.

V Heuristik und Prophoristik Der Leipziger Philologe Johann August Ernesti (1707–1781), von Sigmund von Lempicki als rationalistisch geprägtes, deutsches Pendant zu Richard Bentley

re dessen dreizehn Interpretationsregeln, die nach der Art eine Flussdiagramms zu durchlaufen seien: „Das Barock erwartete vom Interpreten, daß er als hundertäugiger Argus alle Direktiven im Kopf habe und in der Lage sei, sie nach Bedarf einzusetzen. Die Aufklärung präzisierte die Bedingungen der Regelanwendung und schärfte die Beobachtung einer Reihenfolge der Regeln ein“. 87 Duden. Das große Wörterbuch deutscher Sprache in zehn Bänden, Bd. 3, 3., neu bearb. und erw. Aufl., Mannheim 1999, S. 1072: „Erfinden (st. V.) [mhd. ervinden, ahd. irfinden = entdecken, erfahren]: 1. durch Forschen und Experimentieren etw. Neues, bes. auf technischem Gebiet hervorbringen: eine Maschine, Vorrichtung erfinden; er hat ein neues Verfahren erfunden; 2. sich (etwas Unwahres, Unwirkliches) ausdenken; fantasieren: eine Ausrede, Geschichte erfinden; […] die Gestalten dieses Romans sind frei erfunden.“ 88 Ausführlich Peter Rusterholz, „Semiotik und Hermeneutik“, in: Ulrich Nassen (Hrsg.), Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik, Paderborn 1979, S. 37–57; Robert S. Leventhal, „Semiotic Interpretation and Rhetoric in the German Enlightenment 1740–1760“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 60/1986, S. 223–248; Oliver Robert Scholz, „Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier“, in: Bühler (Hrsg.), Unzeitgemäße Hermeneutik, S. 158–191; Manfred Beetz, „Georg Friedrich Meiers semiotische Hermeneutik“, in: Ders./Cacciatore (Hrsg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, S. 17–30.

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(1662–1742) aufgebaut, unterscheidet zwischen der „subtilitas intelligendi“ und der „subtilitas explicandi“.89 Beide gelten, wie Lutz Danneberg (1994) gezeigt hat, als „genuine Teile der Hermeneutik“.90 Interpretatio igitur omnis duabus rebus continetur, sententiarum (idearum) verbis subiectarum intellectu, earumque idonea explicatione. Unde in bono interprete esse debet subtilitas intelligendi, et subtilitas explicandi.91

Die zuerst genannte Anforderung fasst Ernesti folgendermaßen: Einerseits gelte es, Verständnisschwierigkeiten und deren Ursachen zu erkennen, andererseits, den Sinn der schwierigen Stellen aufgrund entsprechender Forschungsarbeit zu finden: Subtilitas intelligendi et ipsa duabus rebus cernitur: quarum altera est, videre, quid intelligas, nec ne, et difficultates intelligendi, earumque causas, ex arte animadvertere; altera autem, sensum eorum, quae difficilia sunt, rite indagando invenire.92

Die Formulierung zeigt, dass Ernesti die Idee der hermeneutischen Spurenjagd keineswegs fremd ist: indagare meint die Spürtätigkeit des Jagdhunds, im übertragenen Sinn die inventive Forschungstätigkeit.93 Georg Lorenz Bauer (1755–1806), Bibelphilologe in Altdorf und Heidelberg, der zwischen der „Erfindung des Sinnes“ und dem „Vortrag desselben“ unterscheidet, deutet an, was in der großzügigen Unterscheidung zwischen „Heuristik“ und „Prophoristik“ in Hermeneutiken des 19. Jahrhunderts wiederkehrt. Die biblische Hermeneutik beschäftige sich, so Bauer, erstens mit der Erfindung des Sinnes (welches heißt subtilitas intelligendi) und zweytens mit dem Vortrag desselben (welches heißt subtilitas explicandi). Bey der Erfindung des Sinnes sieht man entweder nur auf die Worte, und die durch dieselben ausgedruckten Vorstel-

89 Johann August Ernesti, Institutio interpretis Novi Testamenti, 3. Aufl., Leipzig 1775 [zuerst 1761], S. 4–8; Sigmund von Lempicki, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1968 [zuerst 1920], S. 218, mit Hinweis auf die logische Begründung der Interpretationskunst, aber auch die Berücksichtigung der Sprachphilosophie John Lockes bei Ernesti. 90 Lutz Danneberg, „Siegmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik“, in: Bühler (Hrsg.), Unzeitgemäße Hermeneutik, S. 88–157, hier S. 101. 91 Ernesti, Institutio interpretis Novi Testamenti, S. 4. 92 Ebd. 93 Den Begriff der „inventio“ fasst Ernesti aus hermeneutischer Perspektive folgendermaßen: „Inventio, qua est subiecta praeceptis, habet partes duas: quarum altera est contemplativa, altera praeceptiva. Illa continet generales observationes de sensu et generibus verborum, a quibus vel praecepta interpretandi ipsa, vel eorum rationes ducuntur; haec autem praecepta de modo sensus indagandi“; ebd., S. 6.

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lungen, oder auch auf die Sachen, man entwickelt näher die vorgetragenen Begriffe. Hieraus entsteht Worterklärung und Sacherklärung.94

Dabei bezeichnet, wie Danneberg ausführt, die „Heuristik (investigatio sensus, heuristica)“ den Verstehensprozess, die „Prophoristik (propositio sensus, prophoristica)“ den interpretatorischen Vortrag.95 Die Hermeneutik könne, so heißt es im entsprechenden Artikel (1829) in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste von Johann Samuel Ersch (1766–1828) und Johann Gottfried Gruber (1774–1851), „in die hermeneutische Heuristik und Prophoristik zerlegt werden“, d.h. in das „Verständnis des Sinnes für sich“ und die „Verständigung über denselben für Andere“.96 Bleibt ein Begriff der „hermeneutische[n] Heuristik“, der sich aus der Gegenüberstellung mit der „Prophoristik“ ergibt, so lange stabil, bis sich Friedrich Schleiermachers (1768–1834) Ansicht durchsetzt, die „Darlegung des Verständnisses“ gehöre nicht zur Hermeneutik? Benötigt eine Hermeneutik, die sich auf die „Kunst des Verstehens“ beschränkt, keine Heuristik mehr, weil sie selbst mit der „subtilitas intelligendi“ zusammenfällt?97 Inwiefern Schleiermacher damit die interpretatorische Relevanz der argumentativen Begründung übersieht, wie Lutz Danneberg anmerkt,98 kann an dieser Stelle nicht genauer diskutiert werden. Hingewiesen sei hingegen auf den Heuristikbegriff, den Schleiermacher in der Dialektik weiterentwickelt, indem er sich kritisch mit Baumgartens Logik und

94 Georg Lorenz Bauer, Entwurf einer Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments, Leipzig 1799, § 9 (S. 10), sowie die komplette „Erste Abtheilung: Von der Erfindung des Sinnes“ (§§ 10–188) mit den Abschnitten „Von der grammatischen Interpretation, oder von der Erfindung des Wortverstandes“ (§§ 21–116) sowie „Von der historischen Interpretation, oder von der Erfindung des Sachverstandes“ (§§ 117–188). 95 Danneberg, „Siegmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik“, S. 101. 96 [Art.] „Hermeneutik“, in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste [1818–1889], Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber (Hrsg.), 2. Sektion, 6. Teil, Leipzig 1829, S. 300–322, hier S. 304. 97 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, „Hermeneutik und Kritik, mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Hg. aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen v. Friedrich Lücke [1838]“, in: Ders., Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, Manfred Frank (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1977, S. 69–306, hier S. 75; Friedrich Lücke erkennt in seinen Anmerkungen die Stoßrichtung gegen Ernesti, ebd., S. 99; dazu Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a.M. 1977, Abs. „Der artifizielle Status der Hermeneutik: Gibt es und was leisten Regeln der Interpretation?“, S. 340–350. 98 Danneberg, „Siegmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik“, S. 102.

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dem zugrundliegenden Heuristikverständnis auseinandersetzt.99 Als Gegenvorschlag formuliert er in der Ausarbeitung zur Dialektik (1814/1815): „[D]ies ist eine heuristische Operation[:] ‚Aus einem gegebenen Wissen ein anderes nicht in demselben schon liegendes zu finden‘.“100 Seinen Vorschlag entfaltet er, wenn es um die „Construction eines Denkens an sich“ und die „Combination mit dem schon Gedachten“ geht: Zuerst die Theorie der Construction, d.h. wie alles Wissen an und für sich zu Stande kommt; dann die Lehre der Combination, wie das Wissen verbunden wird. Beides ist eigentlich eins und dasselbe, denn jedes Wissen ist eine Verknüpfung. Beides ist in einander in der Kindheit des Menschen beim Anfang des Denkens. Nun aber kommen die Regeln des Denkens erst zum Bewußtsein, wenn das Denken angefangen hat, und so wird eine Differenz gesetzt.101

Beruhe die „Construction“ auf „Begriffs- und Urtheilsbildung“, so verhalte sich die „Combination“ entweder „heuristisch“ oder „architektonisch“: Das 1ste Wort kommt von Finden her, und setzt also ein Suchen voraus; so gehört das heuristische Denken mehr unter das selbstthätige, unter ein gewisses Denken; doch ist auch im mehr receptiven Denken die heuristische Operation, nur auf eine mehr ungeordnete Weise. Die Auswahl dessen, was wir vom Gegebenen ins Bewußtsein aufnehmen, kann bewußtlos oder bewußt sein. In dem letzten Falle finden die Regeln des heuristischen Verfahrens ihre Anwendung.102

Mit einem solchen Heuristikbegriff, der auf das Zustandekommen von Wissen zielt, bewegt sich Schleiermacher freilich über die Grenzen seiner Hermeneutik hinaus, unter deren Anspruch sich die zweigliedrige Struktur von Frage und Antwort, Problem und Lösung nicht ohne weiteres einfügen will. Sei die wissenschaftliche Hermeneutik die „Kunst, die Rede eines andern richtig zu verstehen“, so legt Schleiermacher den Akzent auf den Voraussetzungsreichtum, nicht den Ressourcenmangel, auf die Stetigkeit, nicht die Ergebnissicherung:

99 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, „Vorlesungen über die Dialektik. Aufzeichnungen zum Kolleg 1811“, in: Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [KGA], Abt. II, Bd. 10/1, Andreas Arndt (Hrsg.), Berlin, New York 2002, S. 50 f. 100 Ders., „Vorlesungen über die Dialektik. Ausarbeitung zur Dialektik 1814/15“, in: Kritische Gesamtausgabe, Abt. II, Bd. 10/1, Andreas Arndt (Hrsg.), Berlin, New York 2002, S. 156 f. 101 Ders., „Vorlesungen über die Dialektik. Kolleg 1822. Nachschrift: Kropatscheck“, in: Kritische Gesamtausgabe, Abt. II, Bd. 10/2, Andreas Arndt (Hrsg.), Berlin, New York 2002, S. 590. 102 Ders., „Vorlesungen über die Dialektik. Kolleg 1822“, S. 591.  



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Aber auch nicht nur schwieriger Stellen in fremder Sprache. Bekanntschaft mit dem Gegenstande und der Sprache wird vielmehr vorausgesetzt. Ist beides, so werden Stellen nur schwierig, weil man auch die leichteren nicht verstanden hat. Nur ein kunstmäßiges Verstehen begleitet stetig die Rede und die Schrift.103

Gleichwohl ist Schleiermacher die Vorstellung der aktiven Suche, wie sie die aufklärerischen Hermeneutiken bestimmt, keineswegs fremd: „Die strengere Praxis geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.“104 Ein Vorlesungskonzept zur „technischen Interpretation“, vermutlich aus dem Wintersemester 1826/27 nennt unter den Aufgaben die „Auffindung der Einheit des Stils“, die „Auffindung der Eigentümlichkeit in der Komposition“, darunter als ersten Schritt, die „innere Einheit oder das Thema eines Werkes zu finden“, als zweiten Schritt, die „Eigentümlichkeit der Komposition zu finden“.105 Hat es mit dem oft missverstandenen Divinationsbegriffs Schleiermachers zu tun, dass die Fragen des Suchens und Findens in den Hintergrund der hermeneutischen Reflexion geraten sind? Wie der Ausdruck der Divination in einen spezifischen Kontext, nämlich in Schleiermachers Theorie des Stils gehört, so ist auch sein Blick auf hermeneutische Praktiken konkreter als zuweilen angenommen.106 Gleichwohl zeichnen sich im frühen 19. Jahrhundert Veränderungen ab, die eine Abkehr vom aufklärerischen Anspruch hermeneutischer Such- und Findestrategien zur Folge haben. Eine Heuristik, die beansprucht, etwas „Unbekanntes bekannt zu machen“,107 scheint in einem Hermeneutikkonzept keinen Ort zu haben, das nicht mehr auf den Schritt vom Bekannten zum Unbekannten, sondern auf die zirkuläre Bewegung zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen setzt.108 Friedrich Ast (1778–1841), Professor für Philologie in Landshut, bemerkt in den Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik (1808):

103 Ders., „Hermeneutik und Kritik“, S. 75. 104 Ebd., S. 92. 105 Ders., „Von der technischen Interpretation. Vorlesungskonzept Schleiermachers [1826/27]“, in: Hermeneutik und Kritik, Manfred Frank (Hrsg.), S. 170–178, hier S. 174–176. 106 Manfred Frank, „Einleitung“, in: ebd., S. 7–68, hier S. 46 f. 107 Flögel, Einleitung in die Erfindungskunst, § 2 (S. 6). 108 Zur Vorgeschichte des Konzepts vom hermeneutischen Zirkel, zur Position Asts 1808 und zum ersten expliziten Gebrauch des Begriffs bei Boeckh in den Vorlesungen seit 1809 vgl. Dieter Teichert, [Art.] „Zirkel, hermeneutischer“, in: Ritter [u.a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12: W–Z, Darmstadt 2004, Sp. 1339–1344, mit ausführlichen Forschungshinweisen.  

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Für den Geist giebt es schlechthin nichts an sich fremdes, weil er die höhere unendliche Einheit das durch keine Peripherie begränzte Centrum alles Lebens ist. Wäre es möglich, dass wir der fremdesten uns bisher unbekanntesten Anschauungen Empfindungen und Ideen fähig werden könnten, wenn nicht auf ursprüngliche Weise schon alles was ist und seyn kann, im Geiste begriffen wäre und aus ihm sich so entfaltete wie sich das Eine unendliche Licht in tausend Farben bricht, die alle aus Einem hervorquellen, alle nur verschiedene an dem Irdischen gebrochene Darstellungen des Einen sind, alle in dieses Eine sich wieder auflösen?109

Alles Verstehen und Auffassen nicht nur einer fremden Welt, sondern überhaupt eines Anderen sei schlechthin unmöglich ohne die ursprüngliche Einheit und Gleichheit alles Geistigen.110 Im „Verständnis nicht nur des Einzelnen, sondern auch des Ganzen“ einer fremden Welt sieht Ast nicht das Resultat, sondern die Voraussetzung „der Deutung und Erklärung eines fremden und in einer fremden Sprache verfassten Werkes“.111 „Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden, und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen.“112 Der Zirkel, dass man a b c usw. nur durch A erkennen könne, aber dieses A selbst wieder nur durch a b c, sei unauflöslich, wenn beide A und a b c als Gegensätze gedacht werden, die sich wechselseitig bedingen und voraussetzen, nicht aber ihre Einheit anerkannt wird, so dass A nicht erst aus a b c usf. hervorgeht und durch sie gebildet wird, sondern ihnen selbst vorausgeht, sie alle auf gleiche Weise durchdringt, a b c also nichts anderes als individuelle Darstellungen des Einen A sind.113

So sei das Verstehen und Erklären eines Werkes ein wahrhaftes Reproduciren oder Nachbilden des schon Gebildeten.114 August Boeckh formuliert, begrifflich abgegrenzt, aber in einer ähnlichen Figur das Programm, das für die Philologie weitreichende Folgen haben wird.115

109 Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, § 69 (S. 166); zu Schleiermachers differenzierter Auseinandersetzung: „Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch [1829]“, in: Hermeneutik und Kritik, Manfred Frank (Hrsg.), S. 309–346. 110 Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, § 70 (S. 170). 111 Ebd., § 71 (S. 171). 112 Ebd., § 75 (S. 178). 113 Ebd., § 75 (S. 180). 114 Ebd., § 80 (S. 187). 115 Frithjof Rodi, Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1990, darin insb. Kap. 4: „August Boeckhs Grundformel der hermeneutischen Wissenschaften“, S. 70–88; Axel Horstmann, „Erkenntnis des Erkannten: Philologie und Philosophie bei August Boeckh (1785–1867)“, in: Zeitschrift für Germanistik N.F., 20/2010, 1, S. 64–78.

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Das Handeln und Produciren, womit sich die Politik und Kunsttheorie beschäftigen, geht den Philologen nichts an; aber das Erkennen des von jenen Theorien Producirten. Hiernach scheint die eigentliche Aufgabe der Philologie das Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d.h. des Erkannten zu sein.116

Treffend weist Jürgen Paul Schwindt darauf hin, dass Boeckh die Frage nach der philologischen Frage nicht gestellt habe:117 Vielleicht habe er sie weniger als andere stellen können, weil er sie „in seinem Durchgang durch die objektive Phänomentalität der historischen Antike ausdrücklich auf die Sekundarität des kritisch-rekonstruktiven Nachvollzugs vorgängiger Erkenntnisleistungen“ festgelegt habe. Heuristische Belange lagert Boeckh aus den hermeneutischen und kritischen Hauptkapiteln aus – und verschiebt sie in die material- und methodenkundliche Propädeutik.118 Beruhe das philologische Studium auf der Arbeit am Material, so verweigert Boeckh die genauere Behandlung solcher Materialarbeit, da es sich, anders als Friedrich August Wolf vermutet habe, nicht um eine „Disciplin“, sondern um die „nothwendige Voraussetzung für die einzelnen Disciplinen“ handle.119 Dass es eine „Bibliothekwissenschaft“ ebensowenig geben könne wie eine „Registraturwissenschaft“,120 verkennt freilich die Tatsachen, die zum Beginn des 19. Jahrhunderts längst geschaffen sind: In der Tradition des 18. Jahrhunderts im Grundriß der Bibliographie oder Bücherkunde (1775) sowie der Einleitung in die Bücherkunde (1777–1778) des Wiener Gelehrten und Hofbibliothekars Michael Denis (1729–1800), im Vorgriff auf die moderne Bibliothekswissenschaft bei dem Münchner Hofbibliothekar Martin Schrettinger (1772–1851), der 1808, ein Jahr vor Boeckhs erster Encyklopädie-Vorlesung, den ersten Band seines Versuchs eines vollständigen Lehrbuches der Bibliothek-Wissenschaft vorlegt.121 Dass das

116 Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, S. 10. 117 Schwindt (Hrsg.), Was ist eine philologische Frage?, S. 11. 118 Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, S. 123 f. 119 Ebd., S. 49. Boeckh bezieht sich auf Friedrich August Wolf, „Darstellung der AlterthumsWissenschaft“, in: Museum der Alterthumswissenschaft, 1/1807, S. 1–145, hier: S. 145; dem entspricht in der postumen Ausgabe der Vorlesungen am ehesten das Kapitel zur „Geschichte der Künste und Wissenschaften und der Literatur“ und das darauf folgende Kapitel zur „Methodik“: Friedrich August Wolf, Encyclopädie der Philologie. Nach dessen Vorlesungen im Winterhalbjahre von 1798–1799, S. M. Stockmann (Hrsg.), Leipzig 1831, S. 237–247. 120 Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, S. 49. 121 Michael Denis, Grundriß der Bibliographie oder Bücherkunde, nach welchem an der k. k. theres. Ritterschule auf Anleitung des Aufseher der k. Bibliothek und Lehrers der Bibliographie und Literargeschichte Michael Denis die Herren Christian Graf Aichholt, Ferdinand Freyherr Ulm von Erbach, Franz Graf von Nieulant, Franz Freyherr von Püchler, Joseph Freyherr von Püchler, Otto Freyherr von Kulmer im August 1775 öffentlich geprüfet werden, Wien 1775; Ders., Einleitung in die  

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Zeitalter der philologischen Forschungsinfrastrukturen begonnen hat, kann freilich auch Boeckh nicht verleugnen, wie die Akademierede Über Leibnizens Ansichten von der philologischen Kritik (1839) zeigt: Erhalten die einzelnen Wissenschaften, weil plötzlich oder allmälig bedeutende äußerliche oder mechanische Hülfsmittel die Thätigkeit vermehrt, oder grössere Zugänglichkeit der Quellen und eine allgemeinere Verbreitung ausgebildeter und regelrechter Kunstübung auch die grosse Anzahl Minderbegabter in den Stand gesetzt haben, das wissenschaftliche Kapital mit irgend einem bemerkenswerthen Beitrage zu mehren, durch unverhältnismäßig rasche Anhäufung des Stoffes eine so große Erweiterung, dass es schwierig wird mehrere größere Fächer vollständig zu umfassen, wie es in unsern Tagen unstreitig auf mehr als einem Gebiete der Erkenntniss geschehen ist; so wird allerdings die Beschränkung nicht etwa auf ein bestimmtes System, sondern auf einen engern Kreis der Wissenschaft näher veranlasst und triftiger gerechtfertigt, als durch blosse Liebhaberei oder Beschränktheit.122

Boeckh sieht deutlich, dass in der Ära der großen Editionen und Korpusprojekte die Zeit der philologischen Arbeitsteiligkeit gekommen ist – ob eine genierhetorische Philologie, die sich vorerst hinter der abschätzigen Bemerkung über den Begabungsmangel unter Massenbedingungen verschanzt, die damit verbundene Funktionalisierung und Spezialisierung nun begrüßen mag oder nicht.123

VI Materialfindung oder Interpretationsfindung? Heuristiken, so die anfängliche Beobachtung, treten immer dann auf den Plan, wenn die Situation unüberschaubar, die Zeit knapp, die kognitiven Ressourcen begrenzt sind.124 Die Vorstellung von Heuristik im philologischen Zusammenhang ist im 19. Jahrhundert stark durch die Editionslehre und die historische

Bücherkunde, 2 Bde., Wien 1777–1778; Martin Schrettinger, Versuch eines vollständigen Lehrbuches der Bibliothek-Wissenschaft oder Anleitung zur vollkommenen Geschäftsführung eines Bibliothekars, Bd. 1, H. 1–3, München 1808–1810; Bd. 2, H. 4, München 1829. 122 August Boeckh, „Über Leibnizens Ansichten von der philologischen Kritik. Einleitungsrede gehalten in der öffentlichen Sitzung der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zur Feier des Leibnizischen Jahrestages am 4. Juli 1839“, in: Ders., Kleine Schriften, Bd. 2, Ferdinand Ascherson [u.a.] (Hrsg.), Leipzig 1859, S. 241–253, hier S. 241 f. 123 Vgl. das Kapitel „Der Philologe“ in Stefan Rebenich, Theodor Mommsen, München 2002, S. 121–127; zur historischen und philologischen Großforschung am Beispiel des Corpus Inscriptionum Latinarum das Kapitel „Die Erfindung der Großforschung“, ebd., S. 125–164; ausführlich Carlos Spoerhase, „Big Humanities. ‚Größe‘ und ‚Großforschung‘ als Kategorien geisteswissenschaftlicher Selbstbeobachtung“, in: Geschichte der Germanistik, 37/38/2010, S. 9–27. 124 Marcel Lepper/Ulrich Raulff, „Jäger, Händler, Sammler“, in: Gegenworte. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, 26/2011, S. 74–76.  

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Propädeutik bestimmt. Die philologische Ausgangssituation besteht nicht so sehr darin, dass es überhaupt das überlieferte Zeugnis eines Werks aufzufinden gilt, als vielmehr in der Koexistenz, häufig in der auf den ersten Blick unabsehbaren Fülle solcher Zeugnisse. Angesichts begrenzter Herausgeberressourcen und nachrangiger Werke, so Karl Lachmann (1817), mag es noch genügen, einer Ausgabe schlicht den Text einer Handschrift zugrunde zu legen und bloß ihre Schreibfehler, wo sie auffallen, aus anderen Handschriften zu verbessern: „Wer will aber so verfahren, wo er mehrere gleich alte und gute Handschriften eines vortrefflichen Werkes vorfindet?“125 Heuristik heißt der erste textkritische Schritt, d.h. die vollständige Ermittlung und Sammlung aller zum Text überlieferten Textträger.126 Diese Konkurrenzdefinition von Heuristik, die scheinbar äußerliche, dem hermeneutischen Prozess vorgelagerte Findekunst, die Auffindung des relevanten, d.h. beweiskräftigen, bedeutungsvollen Materials, verdient Aufmerksamkeit außerhalb der editionswissenschaftlichen Debatten. Unter den Arbeitsbedingungen moderner Forschungsinfrastrukturen, die zugleich durch Mangelsituation und Massenproblematik gekennzeichnet sind, sind philologische Heuristiken zur Ermittlung sehr kleiner wie zur Bewirtschaftung sehr großer Quantitäten unabdingbar.127 Die philologische Hermeneutik kann, was eine solche Materialheuristik angeht, von den Informationswissenschaftlern lernen – auch wenn deren Verwendung des Relevanz- und Pertinenzbegriffs zunächst gewöhnungsbedürftigt erscheint.128 Im Terminus Information Retrieval (IR), der auf die frühen Informationstechnologien aus der Zeit des Kalten Krieges zurückgeht, steckt ein rekonstruktives Moment, das nicht bloß mit der Abfrage, der Auffindung, dem Apport,

125 Karl Lachmann, [Rez.] Der Nibelungen Lied, Friedrich Heinrich von der Hagen (Hrsg.), 2. Aufl., Breslau 1816; Der Edel Stein, Georg Friedrich Benecke (Hrsg.), Berlin 1816. Zuerst in: Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung [1817]. Wieder abgedruckt in: Ders., Kleinere Schriften zur deutschen Philologie, Karl Müllenhoff (Hrsg.), Berlin 1876, S. 206–270, hier S. 83. 126 Rüdiger Nutt-Kofoth, [Art.] „Textkritik“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Berlin 2003, S. 602–607, hier S. 602; zum Verhältnis von Heuristik und Materialität vgl. Thomas Bein, „‚Schlechte Handschriften‘, ‚critische Ausgaben‘, ‚ausgezeichnete Copisten‘. Über die Bedeutung der Materialität für Edition und Interpretation am Beispiel von Ton 36/36a Walthers von der Vogelweide“, in: Martin Schubert (Hrsg.), Materialität in der Editionswissenschaft, Berlin 2010, S. 267–274, insb. S. 267 f. 127 Wegmann, Bücherlabyrinthe, S. 275–321; den Begriff der ‚Heuristik‘ führt das Register, S. 365, anders als die Begriffe ‚Hermeneutik‘ und ‚Hierarchie‘, freilich nicht auf. 128 Wolfgang G. Stock, Information Retrieval. Suchen und Finden von Informationen, München, Wien 2007, Kap. 6: „Relevanz und Pertinenz“, S. 68–81; historisch tiefenscharf bei Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich, „Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung vom Wissensbegriff“, in: Dies. (Hrsg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008 (Pluralisierung und Autorität, SFB 573, 16), S. 11–45, insb. S. 18–20 zu Verfügbarkeit und „overload“.  

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sondern mit der Wiederauffindung und Rückgewinnung zu tun hat. Die computergestützte Suche nach komplexen Inhalten arbeitet längst nicht mehr mit konventionellen Vorstellungen, nach denen a gesucht werden muss, damit auch a gefunden wird. Suchmaschinen, digitale Bibliotheken und Spamfilter verwenden IR-Technologien, die auch mit Unsicherheit und Vagheit umgehen können.129 Erst recht kann die Philologie aus den Geschichtswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert lernen: So entwickelt der Erlanger Historiker und Geograph Johann Ernst Fabri (1755–1825) eine historische Heuristik, die am Anfang eines mehrschrittigen Verfahrens steht: „In einer historischen Methodologie“ seien die folgenden „Hauptgesichtspunkte“ zu beachten: I. die Grundsätze und Regeln, welche Anleitung geben, die in Quellen und Hülfsmitteln, zum Gebrauche für historische Haupt- und Hülfs-Doctrinen, vorhandne, zerstreute Aggregate, Notizen und Thatsätze […] vortheilhaft aufzufinden – historische Heuristik.130

Es folgen „II. Grundsätze und Regeln zu wahrer Unterscheidung unsichrer, zweifelhafter Notizen“, III. Grundsätze des historiographischen Umgangs mit den „vermittelst historischer Heuristik gesammelten, und in reiner, gesunder Kritik bewährt gefundne[n] Inhalte[n]“.131 Den historischen Heuristikbegriff entwickelt Johann Gustav Droysen (1808–1884) weiter, nämlich, abweichend von Boeckhs philologischer Methodenlehre, in seinen Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, wenn er die „historische Frage“ und das „Finden des Materials“ zum Gegenstand macht.132 Droysens Problemaufriss zur „Heuristik“ nimmt, wie Christiane Hackel nachweist, gegenüber Boeckh eine prägnante Erweiterung in

129 Dirk Lewandowski (Hrsg.), Web Search Engine Research, Bingley 2012; Ders. (Hrsg.), Handbuch Internet-Suchmaschinen, Bd. 1: Nutzerorientierung in Wissenschaft und Praxis, Heidelberg 2009; Bd. 2: Neue Entwicklungen in der Web-Suche, Heidelberg 2011; Zheng Buren/Kan Min-Yen/ Cheng Pu-Jen [u.a.] (Hrsg.), Information Retrieval Technology: Proceedings of the 6th Asia Information Retrieval Societies Conference (AIRS 2010), Taipei, Taiwan, December 1–3, 2010, Heidelberg 2010; Dirk Lewandowski, „Web Information Retrieval“, in: Information: Wissenschaft und Praxis, 56/2005, 1, S. 5–12. 130 Johann Ernst Fabri, Encyklopädie der historischen Hauptwissenschaften und ihrer Hilfsdoktrinen, Erlangen 1808, S. 441. 131 Ebd., S. 442. 132 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte [1857–1882], Rudolf Hübner (Hrsg.), 8., unveränd. Aufl., Darmstadt 1977, §§ 19–26 (S. 31–91); im Grundriß der Historik [1858], ebd., § 20–27 (S. 332–335); in der 1977 erschienenen Ausgabe des Grundrisses der Historik von Peter Leyh S. 67–110, 400 f., 426–428; Christiane Hackel, Die Bedeutung August Boeckhs für den Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen. Die Enzyklopädie-Vorlesungen im Vergleich, Würzburg 2006, S. 42–48; zur „Heuristik“ bei Droysen insb. S. 90–92; zum Verhältnis von Philologie und Geschichtswissenschaft bereits Benedetto Bravo, Philologie, histoire, philosophie de l’histoire. Étude sur J. G. Droysen [1966], Hildesheim  

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qualitativer und quantitativer Hinsicht vor.133 Er entselbstverständlicht Themenformulierung und Materialsondierung: „Suchen wir zunächst den Punkt zu finden, von dem unser historisches Forschen seinen Ausgang hat.“134 Das Problem, wie man es anfange, eine Forschungsfrage zu beantworten, kehrt Droysen explizit um: Wie kam ich zu dieser Frage? Woraus entstand mir dies Bild von dem und dem Vorgang, von den dazu gehörenden Personen, Umständen usw.? Aus welchen einzelnen Zügen setzte sich dies phantastikon in mir zusammen, das ich prüfen und berichtigen will?135

Welche Vorkenntnisse spielen eine Rolle, welche Interessen sind im Spiel? Es ist gleichsam das Besinnen, die Frage auf sich selbst.136

In der Frage „umgrenze ich schon ungefähr, was ich, indem ich sie mir zu beantworten suche, zu finden erwarte; ich ahne schon, daß noch anderes und Wichtigeres, als ich bis jetzt weiß, dahintersteckt; meine Frage enthält schon mehr, als ich gelernt habe […].“137 Das heuristische Moment besteht also nicht in der Ermittlung eines absehbaren Ergebnisses, sondern in der Sondierung, in der Gelingensabschätzung, im Kalkül auf ein solches Ergebnis hin.138 „Die Frage und das Suchen aus der Frage, das ist der erste Schritt der historischen Forschung. Der Grundriß hat für diesen Teil der Methode das Wort Heuristik gebraucht.“139 Im letzten Druck der Historik (1882) heißt es entsprechend: „Der Ausgangspunkt des Forschens ist die historische Frage. Die Heuristik schafft uns die Materialien zur historischen Arbeit herbei; sie ist die Bergmannskunst, zu finden und ans Licht zu holen, ‚die Arbeit unter der Erde‘ (Niebuhr).“140 Nicht in der Materialaufhäufung, sondern in der

1968, S. 24–27, sowie die ausführlichen Verweise auf das Verhältnis „sources – fait, historique – interprétation“ im Register, S. 408. 133 Hackel, Die Bedeutung August Boeckhs für den Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen, S. 92. 134 Droysen, Historik, Hübner (Hrsg.), § 19 (S. 31). 135 Ebd., § 19 (S. 36). 136 Ebd. 137 Ebd., § 19 (S. 33). 138 Stefan Jordan erläutert Droysen in praktischer Absicht: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn 2006, S. 46: „Quellensuche und Präzisierung der Fragestellung bedingen sich dabei gegenseitig: Indem der Historiker immer mehr Quellen einsieht, kann er immer deutlicher formulieren, worin der Reiz seines Themas liegt; und indem er dies weiß, kann er genauer bestimmen, welche weiteren Quellen für ihn von Nutzen sein können.“ 139 Droysen, Historik, Hübner (Hrsg.), § 19 (S. 36). 140 Droysen, Historik, Leyh (Hrsg.), § 20, S. 426.

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„Frage“, mit der man „Neues beginnt“, spreche sich die „Genialität“ des Forschenden aus.141 „Denn die Forschung ist nicht auf ein zufälliges Finden gestellt, sondern sie sucht etwas. Sie muß wissen, was sie suchen will; erst dann findet sie etwas.“142 Die „Heuristik“ verbleibt freilich nicht im Bereich der kühnen Ahnung, sondern bereitet konkrete Schritte vor. „Die Heuristik zerlegt das scheinbar Einfache, in Wahrheit vielfach Vermittelte und Kombinierte dieser Frage in seine Bestandteile, geht den Elementen nach, aus denen sich dieses X zusammensetzt.“143 Der heuristische Prozess vollzieht sich auf zwei Ebenen; der Zerlegung der „Frage“ in die „einzelnen Fäden“, die sich in ihr „verschlungen finde[n]“, und der Suche nach den „Materialien“, die zur jeweiligen Beantwortung dienlich sein können.144 Unter den Bedingungen einer „Fülle von Materialien“, deren Gattungen Droysen ausführlich ausbreitet, kann dem „Finden des Materials“ ein eigenes Kapitel gewidmet werden.145 Dazu zählt nicht bloß die Handhabung der Findemittel, der „Hand- und Hilfsbücher“, sondern auch die Einsicht in die Notwendigkeit, dass man „versuchen muß, neues Material zu gewinnen“.146 Die Kunst der Heuristik kann natürlich nicht Materialien schaffen, die nicht vorhanden sind; aber es sind nicht bloß die vorhanden, die jeder auf den ersten Blick sieht, und die Genialität des Forschers wird sich auch darin zeigen, daß er deren zu finden weiß, wo andere nichts sahen, bis ihnen gezeigt wurde, was alles da ist.147

Droysens Heuristikbegriff, der Forschungsprozess und Materialfindung verknüpft, greift Jörn Rüsen (1986) auf, wenn er in seiner Studie Rekonstruktion der Vergangenheit: die Prinzipien historischer Forschung der „hermeneutischen Heuristik“ unter den „prozessualen Operationen“ einen ausführlichen Absatz widmet.148 Heuristik ist für Rüsen ein Forschungsvorgang, der „Fragen auf empirische Bekundungen der Vergangenheit bezieht, zur Beantwortung der Fragen relevante Quellenbestände sammelt, sichtet und klassifiziert und den Informati-

141 Droysen, Historik, Hübner (Hrsg.), § 19 (S. 34). 142 Ebd., § 19 (S. 35). 143 Ebd., § 19 (S. 36). 144 Ebd. Matuschka, Heuristik, S. 20 f., verweist auf die Verwendung des Heuristikbegriffs nicht allein bei Droysen, sondern auch bei Ernst Bernheim im Lehrbuch der historischen Methode (1889; 1903) und bei Charles-Victor Langlois und Charles Seignobos in der Introduction aux études historiques (Paris 1898, livre I, chap. 1: „La recherche des documents heuristique“), zum Heuristikbegriff insb. S. 30 f. 145 Droysen, Historik, Hübner (Hrsg.), § 26 (S. 84–91). 146 Ebd., § 26 (S. 84). 147 Ebd., § 26 (S. 85). 148 Jörn Rüsen, Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: die Prinzipien historischer Forschung, Göttingen 1986, S. 102–107.  



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onsgehalt der Quellen abschätzt.“149 Explizit verwendet Rüsen den Terminus der „hermeneutischen Heuristik“: Sie rücke „diejenigen Quellenbestände in den Horizont des forschenden Interesses“, die zur historischen Deutung beitragen, während sie das Material, das keine entsprechenden Fundwahrscheinlichkeiten aufweise, „an den Rand des historischen Interesses“ manövriere.150 Muss die Philologie die hermeneutische Heuristik den Historikern überlassen? Könnte ihr Beitrag im Wettbewerb der Disziplinen nicht darin bestehen, dass sie einen propädeutisierten Heuristikbegriff in seiner begrifflichen Komplexität auszuleuchten versteht? In der Rekonstruktion der ersten Fassung der HistorikVorlesungen Droysens von 1857 heißt es: Die Forschung sucht etwas, sie ist nicht auf ein bloß zufälliges Finden gestellt; man muß zuerst wissen, was man suchen will, erst dann kann man finden; man muß die Dinge richtig fragen, dann antworten sie, und die apodeixis zeigt nur auf, was man zu suchen verstanden hat. So ist also der Anfang der Methode nicht die Kritik, sondern die Frage und das Suchen aus der Frage, die Heuristik.151

Droysens hermeneutischer Heuristik wird man nicht vorwerfen können, sie sei frageblind und reduziere Forschung auf die Auffindung vorhandener Elemente.152 Geschult am philologischen Zweifel hält sie ein gutes Gegengift angesichts naiver Technologievisionen bereit, die suggerieren, dass aus rascherem Informationszugriff der Wissenszuwachs automatisch folge. Das gilt in besonderer Weise unter den Bedingungen der Zugänglichkeit großer, qualitativ heterogener, digitaler Korpora, die eine Neudefinition philologischer Leistung einfordern. Der amerikanische Soziologe Andrew Abbott erkannte bereits 1998: Nothing has greater potential for producing disinformation than the astounding technology that some feel has brought about a ‚new information society‘. There is a big difference between storage of data, which new technologies have immensely improved, and retrieval of information, which they have not.153

149 Ebd., S. 102. 150 Ebd., S. 123. 151 Droysen, Historik [1857], Leyh (Hrsg.), § 3 (S. 58). 152 Zum Forschungsbegriff mit bibliographischen Hinweisen Marcel Lepper, [Art.] „Forschung“, in: Michael Maaser/Gerrit Walther (Hrsg.), Metzler Handbuch Bildung, Stuttgart, Weimar 2011, S. 84–90; zur politischen Notwendigkeit, philologische Fragen, nicht bloß Texte und Themen deutlicher zu artikulieren, Jürgen Kaube, „Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. September 2007, S. 35; methodisch aufschlussreich der frühe Beitrag von Hermann Müller-Solger, „Zum Problem der Frage in der Textauslegung“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 4/1975, S. 117–135. 153 Andrew Abbott, „Professionalism and the Future of Librarianship“, in: Library Trends, 46/ 1998, 3, S. 430–443, hier S. 437.

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Bloßes Datenmaterial biete noch keine Information – „making sense of it is information“. Von der Information zum Wissen ist, das weiß die Informationswissenschaft selbst, es noch einmal ein langer Weg. Das entscheidende Problem liege, so Abbott, im Bereich von „retrieval and summary“: Although key-word indexing has made certain kinds of retrieval easy, there exists as yet no automated means for extracting and summarizing qualitative information across qualitative databases, at least none that goes substantially beyond simple listing, cross-classifiying, and categorizing.154

Auch wer angesichts der seitdem erreichten Schritte weniger skeptisch in die Zukunft der philologischen Forschungsinfrastrukturen blicken mag, muss Rhetoriküberschüsse und Reflexionsdefizite feststellen: Zu Recht mokierte sich Andreas Kilb (2012) in seiner Besprechung der unlängst freigeschalteten Betaversion der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) über deren Werberhetorik, die auf „Neugier, Entdeckerfreude, Forschergeist – Finden und Gefundenwerden!“ setzt.155 Dass die DDB unter der Probeanfrage „Nabokov“ zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als vier Treffer liefert, sagt nicht nur manches über strukturelle Grenzen, die einer Welt des digitalen Direktzugriffs durch § 64 UrhG gesetzt sind, sondern auch über die Abhängigkeit heuristischer Prozesse von Bestandspolitik und Bestandszugänglichkeit, von Metadaten und Benutzbarkeit: Die Grenzen nicht des Suchbaren, aber des Find- und Konsultierbaren sind die Grenzen des zugänglichen Materials. Den Rahmenbedingungen und Infrastrukturen, den un- und den vorgespurten Such- und Findepfaden, aufgrund derer sich hermeneutische Prozesse vollziehen, haben theoretische Ansätze bislang viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.156 Der kurze Gang durch die Hermeneutikgeschichte hat gezeigt, dass heuristische Überlegungen auf Konzepte zurückgreifen können, die sich auf die Phase vor der Interpretation richten. Komplex gestaltet sich die Beschreibung, weil die vorläufige Justierung des hermeneutischen Problems, des interpretationsdienlichen Materials und des probeweisen Lösungsversuchs sich so dicht durchdrin-

154 Ebd. 155 Andreas Kilb, „Vom Finden und Gefundenwerden. Bildungsmärchen. In Berlin wird die Deutsche Digitale Bibliothek vorgestellt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. November 2012, S. 29. 156 Der Wissenschaftsrat erkennt die Problematik in den Empfehlungen zu Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften, 28. Januar 2011, S. 65–67, wenn er auf die Fragen der Marktmonopolisierung, der Standardisierung, der Datenqualität und der Langzeitarchivierung hinweist; http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/10465-11.pdf (Stand: 02.12.2012).

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gen, dass selbst Droysen sich stellenweise auf die Position zurückzieht, entscheidend sei die „Intuition“.157 Die neueren kognitionspsychologischen, ökonomischen und informationstheoretischen Ansätze mögen die Philologie nicht zu begrifflichen Kurzschlüssen, aber doch zum Nachdenken ermutigen, wie in hermeneutischen Prozessen unüberschaubare Situationen bewältigt, wie vorläufige Fragen gewonnen, wie Problemlösungen angebahnt werden können.158

VII Extrem- und Testfall Archiv Es lohnt sich, den Kernsatz des philologischen Kommentators aus Pale Fire, von dem die Überlegungen ausgingen, unter den gegenwärtigen Bedingungen noch einmal aufzugreifen: „I have no means to ascertain at the present time which of these is referred to here but suspect that […].“159 Auf eine solche Formel kann nicht nur der Interpret Charles Kinbote seine Ratlosigkeit bringen, sondern auch der angehende Philologe, der mit limitiertem Materialzugang, häufig aufgrund einer Arbeitskopie des Textes, allenfalls eines editorischen Apparats und Kommentars sein Interpretationsangebot im Seminargespräch entwickelt oder als Klausurleistung vorlegt. Tatsächlich ist der Bedarf an heuristischer Steuerung in den ausdifferenzierten Verfahren der philologischen Hermeneutik unterschiedlich groß – am geringsten in der Beschränkung auf einen schmalen Kanon, in der Hermeneutik der intensiven, kontextbefreiten Lektüre von Texten, im „very close reading of very few texts – secularized theology“.160 Am stärksten ist der heuristische Bedarf dort, wo der Interpretationsprozess sich auf große Mengen erst vorläufig strukturierten Materials bezieht – und die Fragestruktur quer zur Ord-

157 Droysen, Historik [1882], Leyh 1977 (Hrsg.), § 11 (S. 424). 158 Anknüpfen lässt sich an Konzepte der „bounded rationality“ in der Wirtschafts-, Verhaltensund Kognitionsforschung, die an den Ökonomienobelpreisträgers Herbert A. Simon (1916–2001) anschließen: Herbert A. Simon, „A Behavioral Model of Rational Choice“, in: Quarterly Journal of Economics, 69/1955, S. 99–118; Ders., „Rational Choice and the Structure of Environments“, in: Psychological Review, 63/1956, S. 129–138; Ders., „Theories of Decision-Making in Economics and Behavioral Science“, in: American Economic Review, 49/1959, S. 253–283; Ders., Models of Bounded Rationality, Cambridge (Mass.) 1982; Gerd Gigerenzer/Reinhard Selten (Hrsg.), Bounded Rationality. The Adaptive Toolbox, Cambridge (Mass.) 2001; Henry Brighton/Gerd Gigerenzer, „Homo Heuristicus: Why Biased Minds Make Better Inferences“, in: Topics in Cognitive Science, 1/ 2009, S. 107–143, hier S. 107; Gerd Gigerenzer [u.a.] (Hrsg.), Heuristics. The Foundations of Adaptive Behavior, New York 2011. 159 Nabokov, Pale Fire, S. 78. 160 Franco Moretti, „The Slaughterhouse of Literature“, in: Modern Language Quarterly, 61/ 2000, 1, S. 207–227, hier S. 208.

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nungsstruktur liegt: in den Archiven, die, so Franco Moretti, zu 0,5 Prozent kanonische und zu 99,5 Prozent nichtkanonische Zeugnisse enthalten.161 Der brandenburgische Regierungsrat Philipp Ernst Spieß (1734–1794), Geheimer Archivar in Kulmbach und auf der Plassenburg, gehört zu den ersten, die in Archiven das durchsetzen, was heute Provenienzprinzip heißt: Dies aus der Einsicht, dass das entgegengesetzte Ordnungsverfahren, das sogenannte Pertinenzprinzip, d.h. die Bestandsbildung nach Sachbetreffen, schon bei einer kleinen Menge von Archivalien zu schwerwiegenden Entscheidungsproblemen, bei einer großen Menge von Archivalien innerhalb kurzer Zeit zu unabsehbarem Durcheinander, nämlich der irreversiblen Vermischung von Registraturen führen muss.162 Erwirbt ein Archiv Werkmanuskripte, Arbeitsnotizen, Briefe und Lebenszeugnisse, sollten dann Werkmanuskripte zu Werkmanuskripten, Briefe zu Briefen, geordnet werden? Und in welcher Reihenfolge? Chronologisch? Der Größe, dem Beschreibstoff nach? Oder dem angesetzten Wert, der vermuteten hermeneutischen Ergiebigkeit zufolge? Gar nach dem entscheidenden, behandelten Thema, nach Nebenthemen, die über einen Thesaurus zu vergeben wären? Kann ein Archivar antizipieren, was erst der historische oder philologische Experte als Zusammenhang vermuten, rekonstruieren wird? Die Zusammensetzung von Archiven aus einer großen Zahl ihrerseits umfangreicher Einzelbestände, die zum Zeitpunkt der Erschließung noch nicht im Detail entziffert, geschweige denn auch nur rudimentär ausgelegt sind, zwingt Archive seit dem späten 18. Jahrhundert zur Abkehr von der bis dahin geltenden Pertinenzheuristik, d.h. einer Struktur der behaupteten Zugehörigkeit – zugunsten der strengen Zuordnung von Beständen nach der empirisch feststellbaren Herkunft, der Provenienz. Das hat zunächst zur Folge, dass Bestände, die auf einen Autor oder eine Körperschaft zurück gehen, tatsächlich zusammenbleiben – freilich auch, dass ein Werkmanuskript von Autor A, das sich in einem Bestand von Autor B findet, nicht anderen Manuskripten von A zugeordnet wird, sondern im Bestand B bleibt – und dort gefunden

161 Ebd., S. 226. 162 Philipp Ernst Spieß, Von Archiven, Halle 1777, § 27; vgl. Paul Bailleu, „Das Provenienzprinzip im Geheimen Staatsarchiv Berlin“, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte. Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine, 10/1902, S. 193–195; Berent Schwineköper, „Zur Geschichte des Provenienzprinzips“, in: Forschungen aus mitteldeutschen Archiven. Zum 60. Geburtstag von Hellmut Kretzschmar, Berlin 1953, S. 48–65; Angelika MenneHaritz, „Das Provenienzprinzip – ein Bewertungssurrogat? Neue Fragen einer alten Diskussion“, in: Der Archivar, 47/1994, Sp. 229–251; zu den aktuellen Debatten der Provenienzforschung, die nicht nur beim Nachweis von Raubgut in Archiven, Museen und Bibliotheken eine Rolle spielt, sondern auch bei der Erschließung von Autoren- und Gelehrtenbibliotheken vgl. das Themenheft: „Provenienzforschung und ihre Probleme“, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte, 29/ 2004, darin insb. Johannes Mötsch, „Das Provenienzprinzip im Archiv“, S. 147–156.

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werden muss. An diesem Punkt setzt der heuristische Konflikt zwischen philologischem Anliegen und informationsinfrastrukturellem Zugriff an: Das Archiv unterwirft die Ordnung und Speicherung des Materials einer Ordnung der Namen, nicht einer Ordnung der Sachen, Gedanken oder Probleme. Gegen alle Kritik, die sich aus strukturalistischer Perspektive gegen eine Hegemonie des Autorprinzips gerichtet hat, fährt das Archiv fort, seine Informationsinfrastrukturen in auktorialen Metadaten, d.h. in Personennamen und Werktiteln zu denken. Damit arbeitet das Archiv scheinbar einer philologischen Hermeneutik zu, die ihrerseits provenienzheuristisch, nämlich autorzentriert strukturiert ist.163 Wesentliche Teile der philologischen Forschung sind freilich pertinenzheuristisch strukturiert: Sie fragen, quer zur Werkarchitektur, nach verständnisrelevanten Sachverhalten, Gattungsmerkmalen, Begriffsgeschichten, Problemgenesen.164 Digitalisieren – so lautet der klassische Forderungsreflex. Aber was – mit welchem Aufwand? Eine unstrukturierte, in ihren Verweisformen uninterpretierte Masse von Rohdaten ohne aussagekräftige Metadaten ist mindestens ebenso undurchdringlich wie ein Magazin voller unerschlossener Papiere. Welche philologische Leistung muss vollzogen worden sein, damit eine sinnvolle informationsinfrastrukturelle Leistung, und sei es nur die Vergabe belastbarer Metadaten, möglich wird? An der gegenwärtigen Erschließungspraxis in Archiven zeigt sich eindrücklich, an welche Grenzen digitale Such- und Findestrategien, gar die Arbeit mit digitalen Volltexten gerät – müsste der bestandsunabhängigen Durchsuchbarkeit doch eine aufwändige, textphilologische Aufbereitung bereits vorausgegangen sein.165 Hermeneutische Arbeit in Archiven gerät auf diese Weise zum heuristischen Extrem- und Testfall, zur philologischen Pioniersituation, die in einer Zone des Unkanonischen nur mit erheblichem Strategieaufwand bestehen kann.166 Franco Moretti schreibt über ein Korpus vergessener Romane des

163 Dilthey, „Archive für Literatur“ [1889], S. 2–10. Den theoretischen Hintergrund rekonstruiert Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin, New York 2007; zum genannten Phänomen bereits Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. 164 Nicht nur aus dem Archivwesen ist der Begriff des Pertinenzprinzips bekannt, sondern auch aus der Editionspraxis; unter einer editorischen Anordnung nach dem Pertinenzprinzip versteht man die thematische Zusammenstellung – im Gegensatz zu einer Sortierung nach dem Chronologieprinzip. 165 Thomas Stäcker, „Die Digitale Bibliothek – auf der Suche nach einem Phantom“, in: Kodex, 1/2011, S. 1–8. 166 Archive großer Körperschaften wie Verlagsarchive zeigen, wie notwendig die Erhaltung der Provenienzstrukturen in der Binnengliederung für eine zuverlässige philologische Intepretation ist, mit welchen erheblichen Schwierigkeiten freilich der forschende Philologe dadurch beim

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19. Jahrhunderts: „Perplexed by its size, I couldn’t simply ‚start reading‘: I had to read in the light of something.“167 Wenn Moretti zeigt, wie die literaturgeschichtliche Beschreibung formaler Innovationsmomente häufig kanongeschichtliche Erfolge abbildet, für 99,5 Prozent der Überlieferung hingegen blind bleibt, so bedeutet das umgekehrt, dass sich eine Archivexpedition mit starken, heuristischen Konzepten ausrüsten muss, wenn sie nicht bloß die Spuren lesen will, die in der Struktur eines einzelnen Bestandes ohnehin angelegt sind.168 Welchen Beitrag leistet die Beobachtung der hermeneutischen Arbeit in großen Archiven, die nach dem Provenienzprinzip aufgestellt und allenfalls über eine erste, grobe Metadatenstruktur zugänglich sind? Das Provenienzprinzip macht den Zugriff über die direkte Frage unmöglich, es verlangt nach heuristischen Umwegen im buchstäblichen Sinn – und macht auf diese Weise die Prozesszone sichtbar, die der Interpretation vorausgeht. Der Philologe, der nicht ein bestimmtes Lemma, den Titel eines bestimmten Texts als Anfragesignal in die black box der Archivmagazine senden kann, muss Vermutungen anstellen, welcher Autor- und Körperschaftsname, welcher Ablagezeitraum und Verzeichnungskontext zu ersten, relevanten Spuren führen kann. Wie schnell, wie langsam muss er in Einzelsegmente des Archivs einsteigen, damit er in der zur Verfügung stehenden Zeit mit einem vorläufigen Interpretationsergebnis wieder herauskommt?169 Er muss seinen Arbeitsprozess auf mehreren Ebenen staffeln, damit über die Gelingensabschätzung170 das Tempo der Durchsicht herauf- und herunterreguliert werden, nach einem ersten Durchgang ein zweiter, präziserer Durchgang folgen kann.171 Es wäre Aufgabe der empirischen Benutzerforschung, ein solches Modell zu überprüfen und zu präzisieren, unterschiedliche Verwendungen begrenzter kogniti-

ersten Zugriff konfrontiert ist: 10.000 Kästen wie die des Suhrkamp-Archivs kann niemand ‚lesen‘; dazu Lepper, Philologie, S. 73–78. 167 Moretti, „The Slaughterhouse of Literature“, S. 226. 168 „If we search the archive for one device only, and no matter how significant it may be, all we will find are inferior versions of the device, because that’s really all we are looking for. No matter what our intentions may be, the research project is a tautological one: it is so focused on a canonized device (and canonized for a good reason, but that’s not the point) that in the noncanonical universe it can only discover […] the absence of the device, that is, of the canon“; ebd., S. 226. 169 Ulrich Raulff, „Ariadne und die grünen Kästen. Wie kommt die Literatur ins Archiv – und wer hilft ihr wieder heraus? Vorlesung am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, 19. Januar 2006“, in: Sinn und Form, 58/2006, 3, S. 403–413. 170 Nickles, „Heuristic Appraisal“, 2006, S. 172. 171 Im Titel dieses Beitrags ist von Heuristiken im Plural die Rede – und in der Tat wird der Philologe in einer solchen Situation nicht mit einer einzelnen heuristischen Strategie auskommen, sondern nur mit strategischen Abwägungen.

Hermeneutische Heuristiken

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ver, materieller und zeitlicher Ressourcen zu evaluieren. Kann das an dieser Stelle nicht geleistet werden, so bleibt ein erhebliches Maß an historischer Begriffs- und Reflexionsarbeit für die Phase vor der Interpretation – mit manchem Differenzierungsgewinn gegenüber alltäglichen Ratschlägen und Intuitionen. Die philologische Selbstauskunft fällt demgegenüber häufig so knapp aus wie die Antwort von Doyles Sherlock Holmes auf die Frage, wie er unter hohem Handlungsdruck zur rettenden Einsicht gelangt sei: „So rapidly does the brain act that I believe I had thought this all out before Professor Moriarty had reached the bottom of the Reichenbach Fall.“172

172 Doyle, „The Adventure of the Empty House“, S. 9.

III Praktiken der Vermittlung von Interpretationswissen

Dirk Werle, Leipzig

‚Unvollständiges Verstehen‘ am Beispiel einer Goethe-Parodie in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt Ein Beitrag zur Erforschung interpretatorischer Praxis I Unvollständiges Verstehen Mario bat Humboldt, auch einmal etwas zu erzählen. Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. Alle sahen ihn an. Fertig, sagte Humboldt. Ja wie, fragte Bonpland. Humboldt griff nach dem Sextanten. Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein. Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zur Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. Mit einer schnellen Bewegung packte er den Affen, der gerade versucht hatte, ihm die Schuhe zu öffnen, und steckte ihn in den Käfig. Der Kleine schrie, schnappte nach ihm, streckte die Zunge heraus, machte große Ohren und zeigte ihm sein Hinterteil. Und wenn er sich nicht irre, sagte Humboldt, habe jeder auf diesem Boot Arbeit genug!

Die zitierte Stelle stammt aus Daniel Kehlmanns 2005 erschienenem Roman Die Vermessung der Welt.1 Sie zeigt den Weltreisenden Alexander von Humboldt zusammen mit seinem Begleiter Bonpland und vier einheimischen Ruderern in einem Boot auf dem Orinoko. Um die Frage, was es heißt, diese Textstelle zu verstehen, soll es im Folgenden gehen, insbesondere darum, inwieweit die Identifikation der Stelle als Parodie notwendig für das Verstehen ist. Dabei wird nicht der Anspruch erhoben, etwas über das Verstehen von Parodien allgemein sagen zu wollen. Stattdessen beschäftige ich mich mit dem vorliegenden Beispiel und

1 Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt. Roman, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 127 f. – Weiterführende Hinweise durch die Herausgeber dieses Bandes sowie durch Dieter Burdorf (Leipzig) habe ich bei der Erstellung dieses Beitrags dankbar verwertet.  

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lasse vorläufig offen, ob man am Ende etwas von dem Gesagten im Hinblick auf Verstehensbedingungen von Parodien wird verallgemeinern können. Diese Einschränkung gilt umso mehr, als die vorliegende Textstelle eigentlich kein Musterbeispiel für eine Parodie darstellt. Nach Theodor Verweyens und Gunther Wittings Definition im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ist eine Parodie ein „in unterschiedlichen Medien vorkommendes Verfahren distanzierender Imitation eines Einzelwerkes, einer Werkgruppe oder ihres Stils“.2 Indem in dem vorliegenden Text „Wandrers Nachtlied“ von Johann Wolfgang Goethe distanzierend imitiert wird, kann man zwar durchaus sagen, dass eine Parodie vorliegt. Ich zitiere zur Erinnerung den Prätext: „Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch.“3 Helmut Weidhase und Kai Kauffmann gehen in ihrer Definition von ‚Parodie‘ im Metzler Literaturlexikon weiter als Verweyen und Witting, indem sie in ihrer Definition einer bestimmten Verwendung des Begriffs ‚Parodie‘ auf die häufig vorliegende „satirische[] oder kritische[] Wirkungsintention“ hinweisen.4 Auch dieses Charakteristikum wird man dem vorliegenden Textbeispiel zuschreiben können: Man wird vielleicht sagen können, dass es eine Satire eines falsch verstandenen, auf dem Wertesystem des Weimarer Klassizismus basierenden deutschen Kulturimperialismus biete, der durch ein Scheitern interkultureller Kommunikation decouvriert werde. Etwa so interpretiert Kristina Skorniakova die Textstelle.5

2 Theodor Verweyen/Gunther Witting, „Parodie“ [Art.], in: Jan-Dirk Müller [u.a.] (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 23–27, hier S. 23. 3 Johann Wolfgang Goethe, „Ein gleiches (Wandrers Nachtlied)“, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 1, Erich Trunz (Hrsg.), Vollständige Neubearbeitung, München 1981, S. 142. 4 Kai Kauffmann/Helmut Weidhase, „Parodie“ [Art.], in: Dieter Burdorf [u.a.] (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriff und Definitionen, 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart, Weimar 2007, S. 572. 5 Kristina Skorniakova, „Ein Gleiches? Begegnung mit Goethe, Daniel Kehlmann und Deutungsmustern im DAF-Unterricht“, in: Martin Blawid/Katrin Henzel (Hrsg.), Poetische Welt(en). Ludwig Stockinger zum 65. Geburtstag zugeeignet, Leipzig 2011, S. 41–53. Skorniakowa beschreibt Goethes Gedicht als ‚kulturelles Deutungsmuster‘ für das Verständnis der Textstelle aus Kehlmanns Roman. Schon Skorniakova hat die Frage untersucht, wie individuelle Leser die Textstelle verstehen. Sie berichtet im letzten der drei Teile ihres Aufsatzes knapp von Erfahrungen mit einer Gruppe russischer DAF-Studierender, die sich Kehlmanns Roman mit Hilfe eines Lektüretagebuchs erschlossen haben. Dabei stellt Skorniakova aber andere Fragen als der vorliegende Beitrag. Sie möchte erstens zeigen, dass die Lektüre der Textstelle im DAF-Unterricht ein vorzügliches Beispiel fremdkulturellen Missverstehens liefern kann. Daran schließt sich die fachdidaktische Frage an, wie man nicht-muttersprachliche Leser dazu bringen kann, die Parodie zu verstehen, wenn bekannt ist, dass ein relevanter Prätext vorliegt – mir geht es dagegen, wie im

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Untypisch ist die vorliegende Parodie, weil es sich um eine Parodie im Kontext handelt. Die distanzierende Imitation der Vorlage wäre in der vorliegenden Form für sich wenig wirkungsvoll, sondern funktioniert vor allem im Rahmen der umgebenden Anekdote. Diese Anekdote erzielt ihre Wirkung aber nicht allein durch die Parodie, sondern durch weitere Mittel komisch-spöttischer Rede, nämlich durch Scherz, Satire und Ironie.6 Die satirische Wirkungsintention richtet sich zudem nicht in erster Linie auf Goethe als den Autor des parodierten Texts, sondern auf die Figur Humboldt, die dadurch charakterisiert wird, dass sie das Gedicht unreflektiert als hohes deutsches Kulturgut präsentiert, ohne dass sie ein Verständnis für die ästhetische Qualität des Texts aufbringt.7 Gleichwohl ist die vorliegende Stelle ein gutes Beispiel für einen Text, für dessen Verständnis, so sollte man meinen, eine bestimmte Form von Kontextwissen nötig ist, nämlich die Kenntnis des hier mit satirischer Wirkungsintention distanzierend imitierten Prätexts.8 Bei der Definition einer weiteren Verwendung des Begriffs ‚Parodie‘

Folgenden deutlich werden wird, um ‚unvollständiges Verstehen‘ von Muttersprachlern im Kontext ihrer eigenen Kultur. Zweitens erläutert Skorniakova erst einmal ausführlich die Frage, warum die Romanfigur Humboldt Goethe fiktionsintern falsch versteht. Damit begibt sie sich, bevor sie zur Ebene der Interpretationsforschung wechselt, zunächst einmal auf das Gebiet der – in diesem Falle freilich sehr erhellenden – Interpretation. Weniger weiterführend zur Interpretation der hier in Frage stehenden Textstelle die knappen Hinweise bei Anna Echterhölter, „Schöner berichten. Alexander von Humboldt, Hubert Fichte und Daniel Kehlmann in Venezuela“, in: Kultur & Gespenster, 1/2006, S. 72–84, und bei Markus Gasser, „Daniel Kehlmanns unheimliche Kunst“, in: Text + Kritik, 2008, H. 177: Daniel Kehlmann, S. 12–29, hier S. 24 f. Das komplexe Verhältnis der historischen Figuren Goethe und Humboldt analysiert Hartmut Böhme, „Goethe und Alexander von Humboldt. Exoterik und Esoterik einer Beziehung“, in: Ernst Osterkamp (Hrsg.), Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Bern [u.a.] 2002 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik Neue Folge, 5), S. 167–192. 6 Vgl. allgemein Stephanie Catani, „Formen und Funktionen des Witzes, der Satire und der Ironie in ‚Die Vermessung der Welt‘“, in: Gunther Nickel (Hrsg.), Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. Materialien, Dokumente, Interpretationen, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 198–215. 7 Die Stelle ist damit ein Exempel für den allgemeinen Befund von Tom Kindt, „Die Vermessung der Deutschen. Zur Reflexion deutscher Identität in Romanen Georg Kleins, Daniel Kehlmanns und Uwe Tellkamps“, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 22/2012, S. 362–373, hier S. 370: „Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt ist keine Satire über das Deutschsein, sondern eine humoristische Reflexion über die Vielfalt und Fragwürdigkeit von Konstruktionen des Deutschseins. Der Roman nimmt sich etablierte Elemente des Selbst- und Fremdverständnisses der Deutschen vor und macht sie in ihrer Lächerlichkeit durchschaubar.“ 8 Zu Problemen der Kontextbildung und -verwendung bei der Interpretation, insbesondere mit Blick auf das Konzept des ‚kulturellen Wissens‘, vgl. Lutz Danneberg, „Interpretation: Kontextbildung und Kontextverwendung. Demonstriert an Brechts Keuner-Geschichte Die Frage, ob es einen Gott gibt“, in: SPIEL. Siegener Periodicum zur internationalen empirischen Literaturwissenschaft, 9/1990, S. 89–130.  

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schreiben Weidhase und Kauffmann im Metzler Literaturlexikon weiter, dass die intertextuelle Transformation „mit komischer Funktion“ geschehe.9 Auch das ist im vorliegenden Textbeispiel, so scheint mir, der Fall. Und die komische Funktion, so sollte man meinen, kann man nur verstehen, wenn man den Prätext kennt, auf den hier Bezug genommen wird. Diese Überlegungen können vielleicht nachvollziehbar machen, dass ich in eine von mir geleitete universitäre Seminarveranstaltung im Sommersemester 2008, in der Kehlmanns Vermessung der Welt besprochen werden sollte, mit drei Annahmen über die richtige Interpretation der vorliegenden Textstelle ging:10 a) Die Textstelle enthält eine Parodie von „Wandrers Nachtlied“ von Goethe; b) die Textstelle ist als komisch intendiert, und das zu verstehen, ist für ihre richtige Interpretation konstitutiv; c) b) ist von a) abhängig, das heißt, ich kann die komische Funktion der Textstelle nur erfassen, wenn ich die Parodie identifiziere. In der Lehrveranstaltung wurde nun die Annahme c) erschüttert: Es fanden sich Studierende, die die Parodie nicht erkannt hatten, weil ihnen Goethes Gedicht nicht bekannt war, und die berichteten, sie hätten die Stelle beim Lesen trotzdem als komisch intendiert identifiziert und sogar selbst komisch gefunden. Das Spannende ist nun, dass einige dieser Studierenden aufgrund ihrer Lektüreerfahrung sogar bereit waren, die Richtigkeit der Annahme c) als Wissensanspruch zu bestreiten. Ihre Auffassung war: Man muss die in der Textstelle enthaltene Parodie nicht erkennen, um sie als komisch intendiert verstehen zu können.11 Die

9 Kauffmann/Weidhase, „Parodie“, S. 572. 10 Die ab hier in diesem Beitrag verschiedentlich gehäufte Verwendung der ersten Person Singular indiziert, dass die im weiteren Verlauf präsentierten praxeologischen Überlegungen zum Interpretationsverhalten semi-professioneller Leser in eine Fallerzählung eingebettet sind, die ihrerseits Objekt praxeologischer Untersuchung werden könnte. Mit Blick auf die Literaturdidaktik weisen Ina Lindow und Dorothee Wieser darauf hin, dass man, um die Praxis des Literaturunterrichts angemessen zu verstehen, die Interaktion von Lernenden und Lehrenden in konkreten Unterrichtssituationen untersuchen sollte und dass Fallerzählungen Lehrender hierfür einen Zugang bieten können. Vgl. Ina Lindow/Dorothee Wieser, „Literaturunterricht als Fall philologischer Praxis: Antinomien und Lösungsversuche“, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 23/2013, S. 390–404. 11 Das ist ein Beleg gegen die Annahme, dass im Falle lustiger Texte „das Lachen […] ein leicht registrierbares Kriterium für das Verstehen des Textes“ ist, wie Hans Aebli, „Über das Verstehen von Witzen – eine kognitionspsychologische Analyse und einige pädagogische Schlussfolgerungen“, in: Kurt Reusser/Marianne Reusser-Weyeneth (Hrsg.), Verstehen. Psychologischer Prozess und didaktische Aufgabe, Bern [u.a.] 1994, S. 89–110, hier S. 89, postuliert. Oder genauer: Auch in diesem Fall ist das Lachen zwar ein Kriterium für ein Verstehen, aber es ist ungewiss, was da verstanden worden ist und, vor allem, ob vollständig verstanden worden ist. Umgekehrt ist, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, das Ausbleiben des Lachens kein untrügliches Indiz dafür, dass überhaupt nichts verstanden worden ist. Abgesehen davon sind viele von Aeblis

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Verwunderung über diesen Befund ließe sich leicht wegerklären, und zwar etwa mit Hilfe eines von Umberto Eco in der Nachschrift zum Namen der Rose populär gemachten Theorems zur Literatur der Postmoderne: Ein Charakteristikum postmoderner Literatur, so Eco, ist, dass man sie auf verschiedenen Ebenen lesen kann. Vorwiegend an der Unterhaltung interessierte Leser können den Text bereits mit einem weniger elaborierten Verständnis mit Gewinn lesen; literarisch gebildetere Leser können aus den zusätzlich enthaltenen Finessen, Anspielungen etc. den Text mit einem reichhaltigeren Verständnis lesen.12 Ob das Theorem richtig ist oder nicht, möchte ich nicht diskutieren; wichtig ist aber, dass Kehlmann, der Autor der Vermessung der Welt, es affirmiert, wie man in einem Essay des Autors über die Fernsehserie Die Simpsons nachlesen kann, der 2006 im Spiegel erschienen ist.13 Die Erklärung des genannten Befundes durch das Ebenentheorem lässt aber offen, was es ist, das ‚nicht-ideale‘, nicht-professionelle Leser dazu bringt, eine Stelle wie die vorliegende komisch zu finden und/oder als komisch intendiert zu verstehen, obwohl ihnen aus der Perspektive professioneller Leser ein zentraler Kontext und damit ein wesentliches Bedeutungselement der Stelle entgeht. Die Unterscheidung professioneller und nicht-professioneller Leser versteht sich freilich nicht von selbst. Zudem ist sie in Gefahr, einer Verabsolutierung einer bestimmten, als ‚professionell‘ ausgeflaggten Art des Textumgangs Vorschub zu leisten. Das Gegenteil möchte ich mit dem hier Vorgestellten erreichen, möchte zu diesem Zweck aber zunächst heuristisch an der Unterscheidung festhalten. Ein bekannter Aufsatz von Karl Eibl trägt den Titel „Sind Interpretationen falsifizierbar?“. Eibls Antwort auf die Frage lautet: Gute Interpretationen sind so transparent angelegt, dass sie falsifizierbar sind. Viele schlechte Interpretationen

Überlegungen zum Verstehen von Witzen auch mit Blick auf das hier diskutierte Beispiel erhellend. 12 Umberto Eco, „Postille a ‚Il nome della rosa‘“ [1983], in: Ders., Il nome della rosa, Mailand 1988 [1980], S. 505–533, vor allem S. 521–531. Auf eine andere Form von „Stufen des Verstehens“ macht aufmerksam Peter Rusterholz, „Stufen des Verstehens literarischer Texte am Beispiel von Johann Peter Hebels ‚Die Probe‘“, in: Petra Matusche (Hrsg.), Wie verstehen wir Fremdes? Aspekte zur Klärung von Verstehensprozessen, München 1989, S. 81–95. Ein literarischer Text wird anders verstanden, je nachdem ob er rein inhaltsbezogen oder primär bezogen auf die Darstellungsform rezipiert wird. 13 Daniel Kehlmann, „Voltaire und Starbucks. Der Schriftsteller Daniel Kehlmann über die Fernsehserie ‚Die Simpsons‘, die er zu den intelligentesten und vitalsten Kunstwerken unserer Zeit rechnet“, in: Der Spiegel, 2006, Nr. 23, S. 144–147. Vgl. bereits den Hinweis von Carlos Spoerhase, „Kehlmann, Daniel“ [Art.], in: Wilhelm Kühlmann [u.a.] (Hrsg.), Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, 2., vollständig überarbeitete Aufl., Bd. 6, Berlin, New York 2009, S. 337–339, hier S. 338.

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sind deshalb schlecht und eigentlich sogar unwissenschaftlich, weil sie nicht falsifizierbar sind.14 Dieses an sich ganz aparte Argument Eibls muss jedoch zumindest ergänzt werden: Viele Interpretationen oder auch Interpretamente sind nicht zwingend falsifizierbar, nicht weil sie schlecht und unwissenschaftlich wären, sondern weil ihr mögliches Defizit nicht in ihrer Falschheit liegt, sondern in etwas anderem, das man vielleicht als ihre Unvollständigkeit bezeichnen kann.15 Die Frage aber, wann eine Interpretation vollständig ist oder nicht, scheint noch schwieriger zu beantworten als die Frage, ob eine Interpretation richtig ist oder nicht. Mancher würde die Frage vielleicht sogar als sinnlos einstufen, insofern man skeptisch sein kann, ob es eine vollständige Interpretation prinzipiell geben kann. Das hat, in den Worten eines Überblicksbeitrags zur literaturwissenschaftlichen Textinterpretation, damit zu tun, dass „[a]lles literaturwissenschaftliche Interpretieren […] interessegebunden und ‚perspektivisch‘“ ist: „Nichts am Text zwingt den Interpreten dazu, den Text nur in dieser oder nur in jener Art zu interpretieren. Welche Art des Interpretierens er wählt, hängt vor allem von dem Interesse ab, das er hat, bzw. davon, wie […] er sozialisiert oder enkulturiert worden ist.“ Zusatz in einer Fußnote: „Von dieser ‚Relativität‘ der Interpretation auf die Interpretationsart ist die Relativität der Interpretation u.a. auf die speziellen Kenntnisse des Interpreten, auf seine ‚Tagesform‘ und auf das Fingerspitzengefühl zu unterscheiden, das er für Texte einer bestimmten Art (etwa für satirische Texte) entwickelt hat.“16 Gerade das genannte ‚Fingerspitzengefühl‘ ist nun eine ziemlich schwammige Kategorie. Mit Bezug auf sie kann es schwierig sein, Anhänger einer möglicherweise unvollständigen Interpretation davon zu überzeugen, dass sie einen vielleicht wesentlichen Aspekt der Textbedeutung übersehen haben.17 Das gilt insbesondere für nicht-professionelle Leser, die ja den Großteil der Leser ausmachen, die sich verstehend mit literari-

14 Karl Eibl, „Sind Interpretationen falsifizierbar?“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte“, Stuttgart 1992, S. 169–184. 15 Beim Problem unvollständiger Interpretationen handelt es sich um etwas, das für alle Formen von Bedeutungserzeugung durch Texte oder auch gesprochene Sprache relevant ist, vor allem aber für die Sonderform ‚literarischer Bedeutung‘. Vgl. zum Hintergrund Klaus Weimar, „Literarische Bedeutung?“, in: Fotis Jannidis [u.a.] (Hrsg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin, New York 2003 (Revisionen, 1), S. 228–245. 16 Werner Strube, „Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation“, in: Paul Michel/Hans Weder (Hrsg.), Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik 1, Zürich 2000, S. 43–69, hier S. 64 f. 17 Allenfalls der Hinweis auf die bereits in der literarischen Grundausbildung in der Schule weitgehend implementierte Maxime, den literarischen Text „so umfassend wie möglich“ zu interpretieren (ebd., S. 68), wird vielleicht manche Anhänger einer unvollständigen Interpretation  

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schen Texten beschäftigen – Textverstehen ist weitenteils keine Tätigkeit von Experten. Die in der vorliegenden Textstelle mit Blick auf die Parodie vorhandene Evidenz hängt, wie in dem zitierten Überblicksbeitrag bereits erwähnt, auch vom Stand der literarischen Bildung ab. Dieses Problem ist besonders relevant bei der Vermittlung von Interpretationswissen, wie sie in der schulischen oder auch universitären Lehre unternommen wird. Interpretieren lernen funktioniert ja nicht vorrangig über die Imitation der jeweiligen Lehrautorität, sondern über die Einsicht in Gründe für bestimmte Interpretationsentscheidungen. Kehlmanns Roman ist als Beispiel für Fragen der Vermittlung von Interpretationswissen an nicht-professionelle Leser insofern relevant, als zum Erfolg des Texts auf dem Buchmarkt sein Erfolg in Gestalt des schnellen Eintretens in den Schulkanon kommt, der sich auch in dem Umstand zeigt, dass in den letzten Jahren alle wichtigen Schulbuchverlage zu dem Text Lektürehilfen und ähnliche Vermittlungstexte für den Schulunterricht herausgebracht haben. Einer dieser didaktisch aufbereitenden Texte, ein im Schöningh-Verlag erschienenes „Unterrichtsmodell“ zur Vermessung der Welt, sieht einen Unterrichtsbaustein „Der Roman als Zeitspiegel“ vor. Als Teil dieses Bausteins ist vorgesehen, dass die Schüler das Kapitel „Der Fluss“, in dem auch die vorliegende Textstelle enthalten ist, „auf Elemente des Humboldt’schen Selbstverständnisses und auf deren Verhältnis zu Weimar“ untersuchen. Die Autoren des Unterrichtsmodells schreiben, die Arbeitsgruppe werde „wahrscheinlich mehr oder weniger auf folgende Textbelege stoßen“, und nennen eine Reihe von Belegen, darunter: „Die spanische Übersetzung eines Goethe-Gedichts verpufft, da sich die eigentümliche Wirkung des Sprachkunstwerks nicht ins Spanische übertragen lässt.“18 Ob eine Schüler-

dazu bringen, einen zusätzlichen, evidentermaßen relevanten Aspekt der Textbedeutung als wichtig für die Interpretation zu akzeptieren. 18 Johannes Diekhans (Hrsg.), Unterrichtsmodell Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt. Erarbeitet von Claudia Müller-Völkl/Michael Völkl, Paderborn 2007 (Einfach Deutsch), S. 62. In Dietmar Schäfer, Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt. Inhalt, Hintergrund, Interpretation, München 2011 (Lektüre Durchblick plus), wird die Textstelle lediglich im Rahmen einer umfangreichen Inhaltsangabe erwähnt (ebd., S. 12). Nicole Spitzley, Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Hallbergmoos 2011 (Interpretationen Deutsch), S. 86, erwähnt sie als Kotext bei der Interpretation des vorletzten Romankapitels unter der Überschrift „Zwei alte Wissenschaftler“: „So passt es auch ins Bild, dass er [Gauß, D. W.] die über ihm schwankenden Baumwipfel bemerkt, was an das bereits im Kapitel ‚Der Fluß‘ von Humboldt wiedergegebene Goethe-Gedicht Wandrers Nachtlied – Ein Gleiches erinnern kann, dessen letzte Zeilen lauten: ‚Warte nur, balde / ruhest du auch.‘ Doch von einer (Be-)Drohung ist nichts zu spüren, zumal die Wipfel noch in Bewegung sind.“ Deutlich erhellender die Bemerkungen zu der Stelle bei Wolfgang Pütz, Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, München 2008 (Oldenbourg Interpretationen, 110), S. 50 f., S. 90–92, lesenswerte Ausführungen zu „Voraussetzungen und Schwierigkeiten bei der Lektüre“, die durch das im vorliegenden Beitrag Entwickelte großenteils bestätigt werden können.  

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gruppe wirklich auf diesen Aspekt wird stoßen können, hängt aber stark von dem dafür notwendigen spezifischen literaturhistorischen Kontextwissen ab. Ein mit dem Problem der Vermittlung von Interpretationswissen zusammenhängendes Problem betrifft die Heuristik der Textinterpretation: Ich werde als Anhänger einer unvollständigen Interpretation einer bestimmten Textstelle möglicherweise nicht von selbst darauf kommen können, dass mein Verständnis der Stelle unvollständig ist, etwa so wie ich in anderen Fällen aufgrund vorliegender Impertinenzen oder Inkohärenzen erkennen kann, dass ich den Text nicht oder falsch verstanden habe. Eibl empfiehlt als ersten Schritt der Interpretation das planmäßige Herbeiführen von Verständniskrisen – das ist im Falle eines unvollständigen Verstehens einer Textstelle schwierig. Die ‚Unterschwelle der Interpretation‘, der Punkt also, an dem ein Rezipient den Entschluss fasst, ein Text sei noch nicht vollständig, oder, bescheidener: hinreichend verstanden, und es seien weitere Interpretations- und insbesondere Kontextualisierungsbemühungen von Nöten, lässt sich schwer ausmachen und variiert abhängig von der jeweiligen ‚Leseprofessionalität‘.19 Heinrich Bosse, Ursula Renner und Klaus Weimar schlagen zum Umgang mit dem Problem die Einübung einer „Ethik des Verstehens“ vor, nach der ein Leser sich nach Maximen orientieren soll wie „Du sollst niemals sicher sein, Fremdes verstanden zu haben.“20 Derlei allgemeine Maximen sind vielleicht als regulative Ideale ganz schön, sie haben nur den Nachteil, dass sich reale Leser nicht notwendig an sie halten werden und vielleicht auch nur in Ausnahmefällen an sie halten können, zumal es für sie keine zwingende Legitimation gibt. Die Frage, wie es kommt, dass man die vorliegende Textstelle aus Kehlmanns Roman als komisch intendiert erkennen kann, ohne dass man die darin enthaltene Parodie erkannt hat, veranlasste mich zu einem Versuch. In einer Lehrveranstaltung des Wintersemesters 2010/11 bat ich eine andere Gruppe von 39 Germanistik-Studierenden (also nicht nicht-professionellen, sondern semi-professionellen Lesern), Kehlmanns Roman zu lesen, und konfrontierte sie im Anschluss daran mit einem Fragebogen zu der Stelle, dessen Fragen auf die in der vorliegenden Textstelle etwa vorhandene Komik abzielten.21 Die Fragen waren relativ allgemein gehalten. Die zentralen Fragen waren offene Fragen, die von den Informanten eine eigenständig formulierte Antwort forderten. Flankiert waren diese zentralen Fragen von einigen Ja/Nein-Fragen, die es erlauben sollten,

19 Vgl. Heinrich Bosse/Ursula Renner, „Literarisches Verstehen. Einführung in das Themenheft“, in: Der Deutschunterricht, 62/2010, 4, S. 2–7, hier S. 5. 20 Dies. u. Klaus Weimar, „Über die Ethik des Verstehens. Ein schriftliches Gespräch“, in: Ebd., S. 14–25, hier S. 19. 21 Die Fragen des Fragebogens sind im Anhang wiedergegeben. Eine tabellarische Aufstellung der gegebenen Antworten im Wortlaut ist beim Autor erhältlich: [email protected].

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das Antwortverhalten auf die zentralen Fragen besser einschätzen zu können. Die von mir befragte Informantengruppe bestand großenteils aus Bachelorstudierenden der Germanistik, zu einem kleinen Teil auch aus Studierenden des Germanistik-Wahlbereichs an der Universität Leipzig. Eine größere Teilgruppe, zumeist bestehend aus Studierenden des ‚Kernfachs‘ Germanistik, befand sich im 3. Studiensemester, eine kleinere Teilgruppe, zumeist bestehend aus Studierenden des Lehramts Germanistik, befand sich im 5. Studiensemester. Die Gruppe bestand überwiegend aus Muttersprachlern, 28 Frauen und 11 Männern. Es handelte sich um ein Seminar zum Thema „Literaturwissenschaft und Wissenschaftstheorie“, in dessen Rahmen die Studierenden zum Zeitpunkt der Beantwortung des Fragebogens bereits mit einigen Grundproblemen der Interpretationstheorie Bekanntschaft gemacht hatten. Die Lektüre von Kehlmanns Roman sowie eines darauf sich beziehenden Interpretationstexts war zur Vertiefung von Fragen der Interpretationstheorie am Beispiel angekündigt. Bevor ich die Ergebnisse der Befragung vorstelle, möchte ich den epistemischen Status einer solchen Befragung näher qualifizieren.22 Die Untersuchung von Leserreaktionen auf Texte ist im Bereich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, soweit ich sehe, gegenwärtig nicht gerade ein verbreitetes Verfahren.23 Unternommen wird sie dagegen im Bereich der Literaturdidaktik, etwa wenn es darum geht zu verstehen, wie man Schüler dazu bringen kann, Interpretationshypothesen zu literarischen Texten zu entwickeln, im Bereich der Kognitionspsychologie, etwa wenn untersucht werden soll, unter welchen Bedingungen Leser Texte als fiktionale oder als nicht-fiktionale lesen, oder auch im Bereich der Textlinguistik, etwa wenn es darum geht zu prüfen, ob bestimmte Auffassungen vom Wesen der Ironie mit den Reaktionen von Lesern übereinstimmen.24 Alle

22 Für wichtige Hinweise dazu danke ich Thomas Schmidt-Lux (Leipzig). 23 Vgl. jedoch den älteren Beitrag von Heinz Hillmann, „Rezeption – empirisch“, in: Walter Müller-Seidel (Hrsg.), Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, München 1974, S. 433–449. Hillmann berichtet von einem Experiment, bei dem Versuchspersonen mit unterschiedlichen Bildungshintergründen gebeten wurden, Bertolt Brechts Keuner-Geschichte Das Wiedersehen zu interpretieren. Die Ergebnisse dieser Studie zu durch unterschiedliche Niveaus der Lesesozialisation vorgeformten Mechanismen der Rezeption ist aus heutiger Sicht teilweise im Sinne einer ‚sozial engagierten‘ Konzeption von Literaturwissenschaft ideologisch eingefärbt, abgesehen davon aber immer noch sehr erhellend. 24 Zur Literaturdidaktik das laufende Forschungsprojekt von Martin Leubner und Anja Saupe, Lesestrategien für die Erschließung von literarischen Texten, vgl. die Projektbeschreibung unter: http://www.uni-leipzig.de/fachdidaktik-germ/default.php?TY=2&ST=2&CY=16&CP=projects (Stand: 20.11.2014); zur Kognitionspsychologie Richard Gerrig, Experiencing Narrative Worlds. On the Psychological Activities of Reading, New Haven, London 1993 [1988]; Richard Gerrig/Da-

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diese Disziplinen leisten mit unterschiedlichen Perspektiven und Fragestellungen Beiträge zur deskriptiven Interpretationsforschung und damit zu Praktiken des Interpretierens. Es geht dabei nicht um die Frage: ‚Was ist eine gute Interpretation?‘, sondern um die Frage: ‚Wie geht Interpretieren faktisch vonstatten?‘25 Mein Beitrag zu diesem Feld krankt nun, um diesen Einwand vorwegzunehmen, weniger daran, dass die Probandenmenge von 39 Personen grundsätzlich zu klein wäre, um nennenswerte Ergebnisse zum Interpretationsverhalten nichtbeziehungsweise semi-professioneller Leser zu ermöglichen, da es mir nicht um statistische Verteilungen geht, sondern darum, individuelle Umgangsweisen mit Texten zu untersuchen und dafür eine nennenswerte Materialbasis zu erheben. In diesem Sinne erhebt die Auswertung der Umfrage nicht den Anspruch, den Standards empirischer psychologischer oder kognitionswissenschaftlicher Forschungen genügen zu wollen. Zudem geht es mir zunächst nicht darum, eine Hypothese zu bestätigen, sondern darum, eine zu erschüttern, nämlich die Hypothese, dass man den Prätext der vorliegenden Textstelle kennen muss, um sie komisch zu finden. Das Problem liegt eher darin, dass die Umfrage solitär dasteht. In diesem Sinne besitzt die Präsentation der Auswertungsergebnisse heuristischen und tentativen Charakter. Idealerweise bräuchte man, um eine reichhaltige Studie zu der Fragestellung zu ermöglichen, weitere Umfragen zur selben Textstelle mit Vergleichsgruppen, möglicher Weise aus anderen sozialen Umfeldern, sowie weitere Umfragen zu anderen, ähnlich strukturierten Textstellen. Für all das bedürfte es eines größer dimensionierten Forschungsprojekts. Somit können die hier vorgestellten Ergebnisse zunächst lediglich Tendenzen anzeigen, einige

vid N. Rapp, „Psychological Processes Underlying Literary Impact“, in: Poetics Today, 25/2004, S. 265–281, sowie das laufende Forschungsprojekt unter der Leitung von Arthur M. Jacobs, Oliver Lubrich und Winfried Menninghaus, Affektive und ästhetische Prozesse beim Lesen, vgl. die Projektbeschreibung unter: http://www.loe.fu-berlin.de/zentrum/forschung/abgeschlossen/lesen/index.html (Stand: 20.11.2014); zur Textlinguistik Toini Rahtu, „Irony and (in)coherence: interpreting irony using reader responses to texts“, in: Text & Talk, 31/2011, S. 335–354. 25 Modellbildend hierzu Ivor A. Richards, Practical Criticism. A Study in Literary Judgment, London 1987 [zuerst 1929]. Richards untersuchte die Beurteilungen von Gedichten durch Studierende, denen die Autoren der ihnen vorgelegten Texte unbekannt waren. Er wollte zeigen, wie verbreitet Missverstehen und Fehlinterpretationen literarischer Texte sind, und methodische sowie didaktische Wege aufzeigen, wie die interpretativen Fähigkeiten in der englischen Gesellschaft seiner Zeit verbessert werden könnten. Die mit diesem Unternehmen verbundenen normativen Implikationen teilt der vorliegende Beitrag nicht. Vor allem geht es nicht darum, mangelnde interpretative Kompetenzen Studierender zu kritisieren; im Gegenteil soll darauf hingewiesen werden, dass scheinbare Defizite nicht- beziehungsweise semi-professioneller Leser dafür sorgen können, dass ihnen interpretationsrelevante Aspekte eines Texts auffallen, die einem professionellen Leser entgehen können, weil er durch die habituelle Aufmerksamkeit auf bestimmte andere Facetten des Texts abgelenkt wird.

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Hypothesen ermöglichen und damit als Ausgangspunkt für eine größer dimensionierte Studie dienen, in der die Hypothesen überprüft werden müssten. Zum Ausgleich hat das von mir erhobene Material eine andere Stärke: Vergleichbare Untersuchungen arbeiten aus pragmatischen Gründen zumeist mit deutlich weniger komplexen Texten, als es Kehlmanns Roman ist, häufiger auch mit nichtliterarischen Texten, und ihre Fragenkataloge sind zumeist weniger umfangreich und differenziert als der von mir erarbeitete.

II Auswertung einer Umfrage Im Folgenden sollen einige Beobachtungen an dem erhobenen Material zusammengefasst werden. Als Ausgangsbeobachtung am wichtigsten ist sicherlich, dass die Mengenverteilung der Informanten mit Blick auf die Frage, ob die Goethe-Parodie erkannt worden ist, den Voraberwartungen entsprach: Aus den Antworten geht hervor, dass 10 der 39 Informanten den Prätext kannten und erkannten, die restlichen 29 nicht. Um das Interpretationsverhalten dieser zweiten Teilgruppe geht es mir vorrangig. Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass die große Mehrheit der Informanten, die die Parodie erkannten, auf die Frage, ob sie den Eindruck hätten, die Textstelle verstanden zu haben (Frage 1), mit ‚ja‘ antworteten. Aber auch der große Teil derjenigen Informanten, die die Parodie nicht erkannten, beantwortete die Frage mit ‚ja‘. Nun ist die vorgelegte Textpassage aus Kehlmanns Roman, wie gesagt, relativ lang und komplex. Antworten auf die globale Frage, ob man den Eindruck habe, die Textstelle verstanden zu haben, können sich implizit auf ganz verschiedene Aspekte oder Teile der Passage beziehen. Gleichwohl sagen die Antworten etwas aus über einen Gesamteindruck, der das jeweilige Leseerlebnis betrifft: Habe ich den ‚Clou‘ der Passage erfasst, den ‚Witz‘, die ‚Pointe‘? Eine weitere Frage betraf die Einschätzung, ob man glaube, der Autor habe gewollt, dass der Leser die Stelle (eher) lustig findet (Frage 3). Hier ergab sich ein überraschender Befund. In der Tat beantworteten 27 Informanten die Frage mit ‚ja‘, aber ein nicht kleiner Teil der Gruppe, nämlich 12 Informanten, beantwortete sie mit ‚nein‘. Zuvor hatte ich die Frage gestellt, ob der jeweilige Informant die Stelle (eher) lustig finde (Frage 2), und es ergab sich, dass die Entscheidung darüber und die Vermutung über die Intention des Autors in diesem Punkt zumeist identisch war: Informanten, die angaben, die Stelle lustig zu finden, schrieben auch dem Autor die Intention zu, dass der Leser die Stelle lustig finden solle; und Informanten, die angaben, die Stelle nicht lustig zu finden, schrieben auch dem Autor die Intention zu, dass der Leser die Stelle nicht lustig finden solle. Von den Informanten, die die Parodie erkannten, schrieben übrigens alle

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dem Autor die Intention zu, dass der Leser die Stelle lustig finden solle. Dass die Entscheidung über die Frage, ob man als Leser die Passage lustig findet, und die Vermutung über die Intention des Autors in diesem Punkt zumeist identisch war, ist vermutlich nichts Außergewöhnliches, gerade wenn man die universitäre Lehrsituation berücksichtigt: Viele Studierende dürften – wie auch viele andere Leser, ob professionell oder nicht-professionell – die intendierte mit der richtigen Lesart gleichsetzen und den Wunsch haben, mit ihrer Lesart richtig zu liegen. Ich fragte nun die Informanten, die angegeben hatten anzunehmen, der Autor habe die Stelle als lustig verstanden wissen wollen, welche Elemente der Textstelle darauf hindeuteten (Frage 6, vgl. außerdem Frage 4). Ich klammere hier die Antworten der Informanten aus, die die Parodie erkannt haben, obwohl sie in ihren Antworten großenteils auch über die Parodie hinausgehende Elemente angaben. Das meistgenannte Element war eines, das mir persönlich beim Lesen der Textstelle in der Vorbereitung auf das Seminar eher unbedeutend vorgekommen war, nämlich der in der Textstelle beschriebene Affe, sein Verhalten und Humboldts Umgang mit ihm. Fast alle Informanten, die die Stelle als lustig intendiert einstuften, nannten in ihren Antworten auf diese oder auch auf inhaltlich benachbarte Fragen den Affen als lustiges Element. Man kann, wenn man sich an das Theorem von den Ebenen des Verständnisses als Charakteristikum postmoderner Literatur erinnert und es vorläufig einmal übernehmen möchte, die Ereignisse um den Affen als Humor erster Ebene sehen; es handelt sich erstens um eine Art Slapstick-Humor, zweitens konterkarieren aber die Narreteien des Affen Humboldts Bemühen um Ernsthaftigkeit, worauf etliche Informanten auch hinweisen. In dem Zusammenhang referierte keiner der Informanten auf den für die Interpretation vielleicht ebenfalls wichtigen topischen Aspekt, dass der Affe als unvollkommene Vorstufe des Menschen gilt, dessen Unvollkommenheit vor allem in dem Umstand begründet liegt, dass er zwar menschliches, kognitiv geleitetes Verhalten imitieren, aber gemäß topischen Konventionen nicht selbst kognitiv geleitet handeln kann.26 Wichtig im Zusammenhang mit der Einschät-

26 Vgl. die Hinweise in Kehlmanns Selbstkommentar „Wo ist Carlos Montúfar?“, in: Ders., Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 9–27, hier S. 22: „Der Weltraum […] sei [nach Ansicht des realen Humboldt, D. W.] mit Äther gefüllt, krank werde man durch üble Miasmen, die zweitgrößte Erniedrigung des Menschen sei die Sklaverei, die größte aber die Behauptung, er stamme vom Affen ab.“ Ebd., S. 24: „Der Erfolg [der Neuauflage, D. W.] des Kosmos im Sommer 2004 – erklärt er sich nicht auch dadurch, daß es etwas Stärkendes hat, in Gestalt eines wuchtigen Buches noch einmal den Übersichtsplan eines wohlgeordneten Weltenbaus in Händen zu halten, das Monument eines Alls, dessen Raum sich nicht krümmt, dessen Zeit sich nicht dehnt, in dem niemandes Stammbaum durch Affen kompromittiert ist […]?“ Als historischer Prätext ist für die Interpretation der Stelle in diesem Zusammenhang insbesondere Karl Philipp Moritzʼ Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen von 1788 relevant:

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zung des Affen in Kehlmanns Text durch die Informanten ist aber noch ein weiterer Aspekt: Etliche Informanten nennen den Affen nicht als das wichtigste, sondern lediglich als zusätzliches lustiges Element, was mit Wendungen wie „Nicht zu vergessen ist der kleine Affe“ (Nr. 6) oder „Der Affe ist natürlich auch lustig“ (Nr. 14, Frage 4) zum Ausdruck gebracht wird. Als wichtiger werden von den jeweiligen Informanten unterschiedliche Elemente hervorgehoben: vor allem die Reaktion der beteiligten Romanfiguren auf Humboldts Gedichtvortrag. Ein Informant macht in dem Zusammenhang auf die Analogie von intra- und extradiegetischer Rezeptionssituation aufmerksam: „[der] Leser und Bonpland u. die Begleiter sind in der gleichen Situation: beide wissen noch nicht, was Humboldt erzählen wird, somit ist es wahrscheinlich, dass d. Leser auch die Reaktion auf das Gedicht zeigt wie die Romanfiguren“ (Nr. 19). Als lustige Elemente der Textstelle werden auch genannt, dass Humboldt das „schönste deutsche Gedicht“ ankündigt und damit eine Erwartung weckt, die er mit seinem Vortrag nicht erfüllt (Nr. 29), dass es mit Blick auf die Art des erwarteten Vortrags zu einem Missverständnis komme: Die Ruderer möchten unterhalten werden, und Humboldt trägt ein nicht unterhaltsames Gedicht vor (Nr. 30), und dass durch die Art der Präsentation sowohl von Seiten des Erzählers (indirekte Rede) als auch von Seiten der Figur (Humboldt reduziert seinen Vortrag auf die bloße Wiedergabe des Inhalts) das Gedicht seines literarischen Reizes beraubt wird. Dass die Enttäuschung von Erwartungen der Witzen zugrunde liegende Wirkungsmechanismus ist, wusste man bereits im 18. Jahrhundert, und es wird von Kognitionspsychologen jetzt so reformuliert, dass Heiterkeit und Lachen die Belohnung für die Korrektur von Denkfehlern sind.27 In diesem Sinne ist, glaubt man den betreffenden Informanten, auch die vorliegende Textstelle lustig. Explizit wird in den Fragebögen mehrfach darauf hingewiesen, dass das Lustige an der Textstelle durch Situationskomik zustande komme (Frage 4, Nr. 3, 22, 31, 36, 37 und 38, Frage 6, Nr. 19, 31, 36 und 38; vgl. auch Frage 8, Nr. 7, 36, 38 und 39 sowie Frage 10, Nr. 31). Die Komik der Situation wäre demnach etwas, was einen Leser noch vor der Identifikation der Parodie veranlassen kann, die Textstelle lustig zu finden oder auch anzunehmen, sie sei als lustig intendiert.

Den Beginn dieses für den Denk- und Wertehorizont des Weimarer Klassizismus eminent wichtigen Texts bildet die Unterscheidung des Nachahmens vom Parodieren einerseits, vom ‚Nachäffen‘ andererseits. Vgl. Karl Philipp Moritz, „Über die bildende Nachahmung des Schönen“ [1788], in: Ders., Werke in zwei Bänden, Bd. 2, Heide Hollmer/Albert Meier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1997, S. 958–991, hier S. 958 f. 27 Vgl. Matthew Hurley, Inside Jokes: Using Humor to Reverse-Engineer the Mind, Cambridge (Mass.) 2011.  

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Diejenigen Informanten, die angegeben hatten anzunehmen, der Autor habe eine andere emotionale Einstellung beim Leser hervorrufen wollen als ein Empfinden des Lustigen, fragte ich, welche Elemente darauf hindeuteten, dass der Autor eine andere emotionale Einstellung hervorrufen wolle, und welche Einstellung das sein könnte (Frage 7).28 Die Informanten nennen großenteils eine ähnliche emotionale Einstellung, und zwar mit Hilfe der Adjektive ‚deprimierend‘, ‚traurig‘, ‚traurig-tragisch‘, ‚bedrückend‘ und sogar ‚schockierend‘. Mehrfach wird die Mutmaßung geäußert, der Autor wolle ‚Mitleid‘ für seinen Protagonisten hervorrufen. Versucht man verallgemeinernd zu erfassen, was den Unterschied ausmacht, dass einige Informanten die Textstelle nicht als lustig intendiert beschreiben, sondern als bedrückend und Mitleid erweckend, dann fällt auf, dass diese Informanten ausweislich ihrer Ausführungen zu Frage 7 und inhaltlich benachbarten Fragen fast durchgehend die Tendenz haben, auf Humboldts psychische Verfasstheit zu fokalisieren, dass sie ‚Einfühlung‘ in den Protagonisten betreiben, wogegen die Informanten, die die Stelle als lustig intendiert beschreiben, die Stelle 0-fokalisiert lesen und die Perspektive des ironisch-distanzierten Erzählers einnehmen. Die für mich wichtigste Frage des den Informanten vorgelegten Fragebogens war die Frage: „Sind für die Beurteilung der Frage, ob die vorliegende Textstelle lustig ist, bestimmte Zusatzinformationen erforderlich? Wenn ja, warum und welche? Wenn nein, warum nicht?“ (Frage 10) Zunächst ist bemerkenswert, dass nicht alle Informanten, aus deren Angaben hervorging, dass sie die Parodie erkannt hatten, die Frage mit ‚ja‘ beantworteten und die Antwort etwa dergestalt erläuterten, dass man „Wandrers Nachtlied“ kennen müsse. Die Mehrzahl dieser Teilgruppe von Informanten antwortete so. Zwei der zehn Informanten, die zu dieser Teilgruppe gehören, beantworten die Frage mit ‚ja‘, verstehen aber unter den gefragten ‚Zusatzinformationen‘ biographisches Wissen über das historische Vorbild des literarischen Humboldt aus Kehlmanns Roman beziehungsweise historisches Wissen über die Welt um 1800. So versteht es auch der Informant dieser Teilgruppe, der die Frage mit ‚nein‘ beantwortet hat. Dieses auf den ersten Blick inkonsistente Antwortverhalten deutet auf eine möglicherweise missverständliche Formulierung der Frage im Fragebogen hin, die diese Antwortrichtung nahelegt. Die ‚Präambel‘ der Frage lautet nämlich folgendermaßen: „Manchmal liest man, dass für das Verstehen literarischer Texte bestimmte Zusatzinformatio-

28 Die Wortwahl des Fragebogens ist zugegebenermaßen dahingehend beeinflussend, dass dem Informanten in verschiedenen Fragen die Alternative angeboten wird: ‚lustig‘ – ‚eine andere emotionale Einstellung erweckend‘. Durch diese asymmetrische Alternative wird dem Informanten deutlich, dass der Fragesteller eher davon ausgeht, die Stelle sei lustig oder lustig gemeint. Ein davon abweichendes Antwortverhalten erfordert also einen gewissen Widerstandsgeist.

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nen, zum Beispiel über das Leben des Autors oder über einen kulturgeschichtlichen Kontext, erforderlich seien. Wir haben hier einen historischen Roman vorliegen, in dem Protagonisten mitspielen, die wirklich gelebt haben.“ Vielleicht haben die meisten Informanten die hier als Beispiele für Typen von Zusatzinformationen genannten Aspekte Biographie und historisches Weltwissen für ‚die Sache selbst‘ gehalten, nach der hier gefragt wurde. Das könnte auch der Grund dafür sein, dass die meisten der Informanten, die die Parodie nicht erkannt haben, ausweislich ihrer Antworten unter ‚Zusatzinformationen‘ biographisches Wissen über den realen Humboldt beziehungsweise historisches Wissen über die Welt um 1800 verstehen. Es könnte aber auch sein, dass nicht- beziehungsweise semi-professionelle Leser in einem geringeren Maße als professionelle mit dem intertextuellen Potential literarischer Texte rechnen. Jedenfalls beantwortet die Mehrheit der Informanten dieser Teilgruppe die Frage, ob man für die Beurteilung der Frage nach der Lustigkeit der Textstelle bestimmte Zusatzinformationen benötige, mit ‚nein‘. Das Überwiegen der Verneinung der Frage nach Zusatzwissen bei dieser Teilgruppe ist bemerkenswert, denn ein professioneller Leser würde vielleicht auf den Gedanken kommen, dass die Textstelle mit bestimmten Signalen nahe lege, dass hier auf einen Prätext referiert wird. Selbst wenn man ihn nicht spontan erkennt, wird man dann vielleicht recherchieren und ihn finden können. Das Signal, das ich meine, ist Humboldts Ankündigung, das schönste deutsche Gedicht vortragen zu wollen. Es handelt sich beim vorliegenden Text um einen historischen Roman, so dass es aufgrund von Gattungserwartungen nahe liegt anzunehmen, dass es dieses Gedicht auch in der realen Welt, auf die sich die fiktionale Welt gerade des historischen Romans parasitär bezieht, wirklich geben könnte. Die Mehrzahl der relevanten Teilgruppe von Informanten ist aber darauf nicht gekommen. Dass auch nicht- beziehungsweise semi-professionelle Leser prinzipiell darauf kommen können, zeigt die Ausnahme eines Informanten, der die Frage beantwortet: „Ja. Die Stelle ist um einiges lustiger, denke ich, wenn man das Gedicht kennt, das von Humboldt rezitiert wird. Mir ist das Gedicht nicht bekannt.“ (Nr. 6) Ein weiterer Informant erwähnt zwar in der Antwort auf die Frage nach den Zusatzinformationen die Kenntnis des Prätexts nicht, aber in der vorangehenden Frage 6 nach als lustig intendierten Elementen der Textstelle, und hier ist die meines Erachtens gar nicht abwegige Mutmaßung über den Autor des Gedichts interessant: „Auch die Übersetzung des Gedichtes, bei dem ich leider nicht weiß, um welches es sich handele, (evtl. eines von Eichendorff?), ist sehr komisch und für mich unverständlich.“ (Nr. 27, Frage 6) Der betreffende Informant gehört übrigens zu der kleinen Gruppe von zwei Informanten, die angegeben hat, den Eindruck zu haben, die Textstelle nicht verstanden zu haben. Bemerkenswert für die Beurteilung der Frage, inwiefern man den Prätext kennen muss, um die Textstelle zu verstehen, ist die Auskunft

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eines weiteren Informanten, der die Frage eigentlich mit ‚nein‘ beantwortet hat: „Mich hätte daran vor allem interessiert, welches Gedicht welchen Autors hier ausgesucht wurde um Humboldt, der es als schönstes deutsches Gedicht bewertet, zu charakterisieren. Da aber der Inhalt des Gedichtes vorgetragen wird, spielt dieses Wissen keine übergeordnete Rolle.“ (Nr. 32) Ein Interpret der vorliegenden Textstelle könnte auf die Idee kommen, dass man, um den Humor der Textstelle zu erfassen, ein bestimmtes Kotext-Wissen mitbringen müsse, nämlich das Wissen darum, dass sich Humboldt und sein Begleiter Bonpland mit vier indigenen Ruderern in einem Boot befinden, die ein ganz anderes Literaturverständnis besitzen als Humboldt, indem sie sich nämlich gegenseitig vorzugsweise phantastische Geschichten erzählen. Auf diesen Umstand bezieht sich Humboldts in der vorliegenden Textstelle enthaltene defensive Erläuterung angesichts der verständnislosen Reaktion der Bootsinsassen auf seinen Gedichtvortrag: „Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zur Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf.“ Ich wollte überprüfen, ob man auch nach Ansicht meiner Informanten dieses Kotextwissen mitbringen müsse. Ich stellte daher die Fragen, ob man, um beurteilen zu können, ob die vorliegende Stelle lustig sei oder nicht, den ganzen Roman gelesen haben müsse beziehungsweise ob man zumindest bestimmte vorangehende Textstellen kennen müsse (Fragen 8 und 9). Das Ergebnis war auch hier überraschend. Wenige Informanten verweisen auf die einschlägige vorangehende Textstelle, in der die narrativen Gewohnheiten der Ruderer beschrieben werden (Nr. 3, Nr. 14, Nr. 18). Viele antworten mit ‚nein‘, die Textstelle sei für sich gut verständlich. Viele antworten mit ‚ja‘, und antworten dann auf die Frage nach der Kenntnis des gesamten Romans vermehrt mit sozusagen ideologisch überformten Statements, nach denen man grundsätzlich immer den ganzen Text kennen müsse, um Stellen daraus beurteilen zu können. Vielleicht ist auch das den Bedingungen der LehrLern-Situation geschuldet, in deren Rahmen die Informanten den Fragebogen beantworteten; vielleicht nahmen nämlich viele Informanten an, dass in diesem Rahmen von ihnen erwartet würde, dass sie die Frage in dieser Weise beantworteten.29 Die Antworten zeigen zudem, dass der interpretatorische Zugriff auf die

29 Vgl. in diesem Zusammenhang die ebenfalls möglicher Weise manipulative ‚Präambel‘ zu der Frage 8: „Es gilt als unstrittig, dass man in der Regel einen längeren Erzähltext nur verstehen und beurteilen könne, wenn man ihn ganz gelesen habe.“ Streng genommen muss man vermuten, dass der gesamte Versuchsaufbau, von dem in diesem Beitrag berichtet wird, stark durch die institutionellen Rahmenbedingungen beeinflusst war. Das ist insofern problematisch, als in kognitionspsychologischen Studien zur Schulpädagogik herausgefunden wurde: Das Verhalten von Lernenden im Lehr-Lernzusammenhang ist nicht in jedem Fall vorrangig durch Sachorientie-

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vorliegende Textstelle bei vielen Informanten über das Figurenensemble und seine Charaktereigenschaften erfolgt. Der Tenor vieler Antworten ist der, dass man den gesamten Roman kennen müsse, weil man nur so die in der vorliegenden Textstelle agierenden Personen richtig einschätzen könne. Die Frage nach der Kenntnis bestimmter Textstellen fassen die Informanten ausweislich des Antwortverhaltens vermehrt anders auf, als sie gestellt worden ist, nämlich nicht so: ‚Muss man zur richtigen Beurteilung bestimmte vorangehende Textstellen kennen?‘ Sondern eher so: ‚Sollte man zur richtigen Beurteilung bestimmte vorangehende Textstellen kennen?‘ Es werden dann vermehrt Textstellen genannt, die Humboldt näher charakterisieren und Rückschlüsse auf sein Psychogramm ermöglichen, zum Teil im Kontrast mit seinem Begleiter Bonpland. Erinnert man sich an den oben festgestellten Befund, dass einige Informanten darauf hingewiesen haben, das Lustige der Stelle komme durch Situationskomik zustande, dann könnte man annehmen, folgende oder eine ähnliche Antwort könnte auf die Fragen nach dem Kotextwissen gegeben werden: ‚Ja, man muss den gesamten Roman beziehungsweise bestimmte andere Textstellen kennen, die nämlich, an denen bereits vor dieser Textstelle Situationskomik erzeugt wird. Der ganze Roman lebt ja in gewisser Weise von komischen Situation, und beim Lesen wird der Leser in diese Art der Komik eingeübt; er erwartet also an auf bestimmte Weise markierten Stellen bereits, dass nun wieder Situationskomik auftritt.‘30 Diese oder eine ähnliche Antwort wurde aber im Rahmen der Befragung nicht gegeben, sie schwingt allenfalls implizit bisweilen bei einzelnen Antworten auf die betreffenden Fragen mit. Abschließend fragte ich diejenigen Informanten, die der Auffassung waren, die Stelle sei vom Autor als lustig intendiert, ob es für ein richtiges Verständnis der Textstelle erforderlich sei, dass man diese Intention des Autors erkenne. Und die Informanten, die geäußert hatten, die Stelle sei vom Autor nicht als lustig intendiert, fragte ich, ob es für ein richtiges Verständnis der Textstelle erforderlich sei, dass man die Intention erkenne, eine andere Einstellung beim Rezipienten hervorzurufen. Damit wollte ich in Erfahrung bringen, ob die individuelle Sicherheit

rung motiviert, sondern sehr häufig durch die Orientierung an den vermuteten Erwartungen der Institution und ihrer Repräsentanten. So kommt es zu Formen von ‚Kulissenlernen‘. Vgl. dazu den höchst instruktiven Beitrag von Erno Lehtinen, „Institutionelle und motivationale Rahmenbedingungen und Prozesse des Verstehens im Unterricht“, in: Reusser/Reusser-Weyeneth (Hrsg.), Verstehen, S. 143–162. 30 Für diese Art der Komik könnte man ihrerseits einen Prätext vermuten, auf den sich Kehlmann aber nicht parodistisch, sondern imitativ bezöge, und zwar wenn man sich an seinen Essay über die Simpsons erinnert. Die Serie mit ihren zahlreichen Comedy-Elementen ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie gerade in diesem Segment Situationskomik als tragendes Wirkungselement fungiert, nebst dem Rechnen mit den Erwartungen des Rezipienten, der auf die jeweils nächste komische Situation bereits eingestellt ist.

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mit Blick auf die eigene Interpretation bei den beiden Gruppen unterschiedlich war. Hier ist das Ergebnis nicht besonders eindeutig. In beiden Gruppen findet sich eine Mehrheit von Informanten, die der Auffassung waren, es sei erforderlich, die von ihnen vermutete Intention des Autors zu erkennen. In beiden Gruppen finden sich aber auch Informanten, die die Frage mit ‚weiß nicht‘ oder ‚nein‘ beantworten. Zum Schluss möchte ich von einer weiteren Erfahrung mit der Informantengruppe berichten, die die gerade nebenbei formulierte Annahme stützt, dass nicht- beziehungsweise semi-professionelle Leser in einem geringeren Maße mit dem intertextuellen Potential literarischer Texte rechnen als professionelle. Im Rahmen des genannten Seminars zum Zusammenhang von Literaturwissenschaft und Wissenschaftstheorie analysierte die Gruppe im Anschluss an die Besprechung des Fragebogens einen Aufsatz von Burkhard Stenzel zur Goethe-Figur in Kehlmanns Roman. In diesem Text argumentiert Stenzel für die These, dass für die Interpretation der vorliegenden Textstelle nicht nur Goethes Gedicht als Prätext relevant sei, sondern auch eine frühere Bezugnahme auf Goethes Gedicht durch Karl Kraus, in der der Text bereits als „das schönste deutsche Gedicht“ bezeichnet werde. Der „freien Goethe-Rezitation“ werde in der vorliegenden Textstelle „ein abgewandeltes Karl-Kraus-Zitat vorangestellt“.31 In der Diskussion äußerten nun einige Teilnehmer ihre Bedenken angesichts dieser Deutung und führten ins Feld, dass die Wendung „das schönste deutsche Gedicht“ mit Bezug auf „Wandrers Nachtlied“ zu unauffällig sei, als dass man eindeutig ihre Herkunft aus einem bestimmten Prätext behaupten könnte. Das Seminar wurde mit einer Klausur abgeschlossen, und eine der fakultativ zu wählenden Aufgaben war die Analyse von Stenzels Aufsatz unter besonderer Berücksichtigung seiner Interpretation der Textstelle mit der Goethe-Parodie. In der Klausur beschrieb eine große Mehrheit der Probanden Stenzels Deutung als Überinterpretation, zum Teil unter Berufung auf ein Kriterium guten Interpretierens, das die Gruppe durch die gemeinsame Lektüre von Werner Strubes Ausführungen „Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen“ am Beispiel von „Wandrers Nachtlied“ kennen gelernt hatte: das Kriterium der Fruchtbarkeit,32 das die Mehrzahl der Probanden im Falle des Bezugs auf Karl Kraus nicht gegeben sah. Das kann man natürlich auch anders sehen: Bedenkt man, dass Goethes Gedicht nicht nur das ‚schönste‘,

31 Burkhard Stenzel, „Goethe bei Kehlmann. Faktisches und Fiktives im Roman Die Vermessung der Welt“, in: Ders./Holger Dainat (Hrsg.), Goethe, Grabbe und die Pflege der Literatur. Festschrift zum 65. Geburtstag von Lothar Ehrlich. Mit einer Einleitung von Paul Raabe, Bielefeld 2008, S. 87–108, hier S. 99: „Kraus hatte 1935 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Fackel dieses klassische Werk als ‚das größte deutsche Gedicht‘ bezeichnet.“ 32 Werner Strube, „Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen“, in: Danneberg/ Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 185–207, hier S. 193.

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sondern vielleicht auch das am meisten parodierte der deutschen Literatur ist, dann liegt es durchaus nahe anzunehmen, dass ein Autor wie Kehlmann nicht nur eine weitere Parodie hinzufügt, sondern sich gleichzeitig mit dem parodierten Gedicht bereits auf die Tradition der Gedichtparodien bezieht und dadurch das mit dem Parodieren verknüpfte Kanonisierungsgeschehen nicht bloß weitertreibt, sondern gleichzeitig auch kommentiert.33

III Fazit Die Frage, was es heißt, eine Parodie zu verstehen, lässt sich aufgrund des vorangehenden Referats allgemein nicht beantworten. Die Frage, was es heißt, die vorliegende Textstelle zu verstehen, beantwortete eine von mir befragte Gruppe semi-professioneller Informanten auf eine Weise, deren Analyse es nahelegt anzunehmen, dass man für ein Teilverständnis der Stelle die darin enthaltene Parodie nicht erkennen muss. Dieser Befund verweist mit Blick auf die Vermittlung von Interpretationswissen auf eine Schwierigkeit: Wie überzeuge ich Anhänger einer unvollständigen Interpretation davon, dass sie mit ihren Interpretationsbemühungen noch nicht aufhören sollten? Die meisten meiner Informanten, die Kehlmanns Goethe-Parodie nicht erkannt haben, waren anscheinend trotzdem mit ihrer Interpretation ‚zufrieden‘. Offenbar ist für ein ‚Verständniserlebnis‘ mit Blick auf die vorliegende Textstelle das Wissen um den parodierten Prätext nicht zwingend erforderlich, weil sie sich ‚textimmanent‘ entweder als Fall von Situationskomik verstehen oder als tragisches Beispiel des Scheiterns interkultureller Kommunikation aufgrund mangelnder Sozialkompetenz lesen lässt. Zwar sind im Text Signale vorhanden, die es nahe legen, nach einem Prätext zu suchen, auch wenn man ihn nicht immediat-zwanglos erkennt. Aber diese Signale bieten offenbar für viele Leser angesichts der bereits zufriedenstellenden ‚textimmanenten‘ Interpretationsmöglichkeit keinen hinreichenden Impuls, nach dem Prätext zu suchen. Die von Bosse, Renner und Weimar geforderte Einübung einer ‚Ethik des Verstehens‘ steht angesichts eines solchen Befundes – sollte er sich verallgemeinern lassen – vor großen didaktischen Schwierigkeiten; abgesehen davon, dass

33 Für die Tradition der Parodien von Goethes Gedicht ist von Karl Kraus besonders einschlägig „Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog“ [1926], in: Schriften, Bd. 10, Christian Wagenknecht (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1986, S. 266 f. [2. Akt, 13. Szene]. Außerdem natürlich Bertolt Brechts Liturgie vom Hauch aus der kurz darauf, 1927, erschienenen Hauspostille. Bertolt Brecht, „Liturgie vom Hauch“ [1927], in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11: Gedichte 1. Sammlungen 1918–1938, Werner Hecht [u.a.] (Hrsg.), Berlin [u.a.] 1988, S. 49–53.  

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man den Befund vielleicht sogar zum Anlass nehmen könnte, die der ‚Ethik des Verstehens‘ zugrunde liegenden Ideale und Maximen kritisch zu überdenken. Sollte man wirklich niemals sicher sein, Fremdes verstanden zu haben? Ist das nicht eine unerfüllbare Maximalforderung? Mit Blick auf damit zusammenhängende Fragen der Heuristik der Textinterpretation lässt sich darüber hinaus ein für die Interpretation der Textstelle weiterführender Befund festhalten: Interpreten, denen ein für die Interpretation eigentlich notwendiges Kontextwissen fehlt, können unter Umständen zu einer reichhaltigen Interpretation beitragende Interpretamente hervorheben, die einem im Besitz des relevanten Kontextwissen befindlichen Interpreten vielleicht sogar entgehen können. So ergibt sich der Befund, dass ‚unvollständige Interpretationen‘ am Ende zur ‚Vervollständigung‘ der Interpretation beitragen können. Die Auswertung der Umfrage zu Kehlmanns Goethe-Parodie stützt diese These, indem sie zeigt, dass Informanten, die die Stelle als Parodie eines Prätexts erkennen, ihrerseits tendenziell mit dieser Erkenntnis aufhören zu interpretieren, dass hingegen Informanten, die den relevanten Prätext nicht erkennen, tendenziell reichhaltige Beobachtungen zur Art der die Bedeutung der Passage wesentlich mitbestimmenden Situationskomik liefern.

Anhang: Umfrage zu der Goethe-Parodie in Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt Bachelor-Seminar Literaturwissenschaft und Wissenschaftstheorie, Universität Leipzig, Institut für Germanistik, WS 2010/11 (Januar 2011) Frage 1: Haben Sie den Eindruck, die Textstelle verstanden zu haben? [Ja/NeinFrage. Antwortmöglichkeiten: ja, nein, weiß nicht] Frage 2: Viele Rezensenten haben geschrieben, Kehlmanns Roman sei lustig. Finden Sie die Stelle (eher) lustig? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein] Frage 3: Denken Sie, der Autor wollte, dass der Leser die Stelle (eher) lustig findet? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein] Frage 4: Wenn Sie Frage 2 mit ja beantwortet haben: Was für Elemente der Textstelle machen sie für Sie zu einer lustigen Stelle? [offene Frage] Frage 5: Wenn Sie Frage 2 mit nein beantwortet haben: Welche Elemente der Textstelle sorgen dafür, dass sie auf Sie nicht lustig wirkt, sondern eine andere emotionale Einstellung hervorruft? Welche ist das? [offene Frage] Frage 6: Wenn Sie Frage 3 mit ja beantwortet haben: Was für Elemente der Textstelle deuten darauf hin, dass der Autor sie als lustig verstanden wissen wollte? [offene Frage]

‚Unvollständiges Verstehen‘ am Beispiel einer Goethe-Parodie

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Frage 7: Wenn Sie Frage 3 mit nein beantwortet haben: Welche Elemente der Textstelle deuten darauf hin, dass der Autor eine andere emotionale Einstellung hervorrufen wollte? Welche ist das? [offene Frage] Frage 8: Es gilt als unstrittig, dass man in der Regel einen längeren Erzähltext nur verstehen und beurteilen könne, wenn man ihn ganz gelesen habe. Muss man, um beurteilen zu können, ob die vorliegende Stelle lustig ist oder nicht, den ganzen Roman gelesen haben? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein; kombiniert mit offener Anschlussfrage] Frage 9: Muss man, um es beurteilen zu können, zumindest bestimmte vorangehende Textstellen kennen? Wenn ja: Welche sind das? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein; kombiniert mit offener Anschlussfrage im Falle der Antwort ‚ja‘] Frage 10: Manchmal liest man, dass für das Verstehen literarischer Texte bestimmte Zusatzinformationen, zum Beispiel über das Leben des Autors oder über einen kulturgeschichtlichen Kontext, erforderlich seien. Wir haben hier einen historischen Roman vorliegen, in dem Protagonisten mitspielen, die wirklich gelebt haben. Sind für die Beurteilung der Frage, ob die vorliegende Textstelle lustig ist, bestimmte Zusatzinformationen erforderlich? Wenn ja, warum und welche? Wenn nein, warum nicht? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein; kombiniert mit offener Anschlussfrage] Frage 11: Wenn Sie Frage 2 mit ja beantwortet haben: Denken Sie, dass es für ein richtiges Verständnis der Textstelle erforderlich ist, dass man sie lustig findet? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein, weiß nicht] Frage 12: Wenn Sie Frage 2 mit nein beantwortet haben: Denken Sie, dass es für ein richtiges Verständnis der Textstelle erforderlich ist, dass sie beim Rezipienten die emotionale Haltung hervorruft, die sie bei Ihnen hervorgerufen hat? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein, weiß nicht] Frage 13: Wenn Sie Frage 3 mit ja beantwortet haben: Denken Sie, dass es für ein richtiges Verständnis der Textstelle erforderlich ist, dass man sie als vom Autor als lustig intendiert erkennt? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein, weiß nicht] Frage 14: Wenn Sie Frage 3 mit nein beantwortet haben: Denken Sie, dass es für ein richtiges Verständnis der Textstelle erforderlich ist, dass man die Intention des Autors erkennt, eine andere Einstellung beim Rezipienten hervorzurufen? [Ja/Nein-Frage, Antwortmöglichkeiten: ja, nein, weiß nicht]

Claudius Sittig, Rostock

Zur Praxis von literaturwissenschaftlichen ‚Modellinterpretationen‘ Modellinterpretationen gehören seit langem zum Alltag der Literaturwissenschaft. Erich Schmidt etwa „liebte es, an Klopstocks Ode auf den Züricher See ‚vorzumachen‘, wie er ‚es sich dachte‘. Ähnliches galt für die Deutung der Volkslieder, die er gern nach dem ‚Venusgärtlein‘ des 17. Jahrhunderts behandelte.“ So schreibt Robert Petsch in seinen Erinnerungen an Schmidts Lehrtätigkeit in Berlin, um gleich einschränkend hinzuzufügen: „Ich weiß aber aus eigenster Erfahrung, wie wenig ‚starr‘ das feste Schema behandelt wurde […].“ Er selbst sei in seinen Interpretationen anders vorgegangen und von Schmidt darin ermutigt worden: „Das Schema“, so schreibt er despektierlich, „war bloß eine ‚Hilfskonstruktion’, besonders im Hinblick auf die künftigen ‚Oberlehrer‘, die jeden ‚Aspekt‘ ausnutzen sollten, unter dem sich ein Dichtwerk betrachten ließ.“1 Die Praxis der ‚Modellinterpretation‘ ist im Laufe der letzten 100 Jahre weiter gepflegt worden. Mehrere Konjunkturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass sich inzwischen von einer eigenen literaturwissenschaftlichen Textsorte sprechen lässt. Erhalten hat sich zugleich auch die ambivalente Bewertung der Konsequenzen, die aus der didaktischen Zielsetzung von ‚Modellinterpretationen‘ entstehen. Wenn im Folgenden exemplarisch ein Korpus von solchen Texten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wird, die in den letzten drei Jahrzehnten publiziert worden sind, dann verspricht ihre Untersuchung im Kontext der Diskussion über ‚Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens‘ aufschlussreich zu sein, denn es handelt sich um erklärte Sonderfälle des Interpretierens, denen durch die explizite Markierung als ‚modellhaft‘ ein paradigmatischer Status zugeschrieben wird. Drei Gründe lassen sich bereits vorab nennen, die unbesehen eine Untersuchung rechtfertigen: Erstens wird in ‚Modellinterpretationen‘ die Tätigkeit des Interpretierens selbst zur Schau gestellt, häufig in der Absicht, das heuristische Potenzial von abstrakten theoretischen Annahmen und von methodischen Vorgehensweisen zur Anschauung zu bringen. ‚Modellinterpretationen‘ sind darüber hinaus, zweitens, in der Regel im Wissen geschrieben, dass sie mit anderen Interpretationen verglichen werden und sich gegebenenfalls im direkten kontrastiven Vergleich behaupten müssen.

1 Robert Petsch, „Erich Schmidts Seminar“, in: Das Germanistische Seminar der Universität Berlin. Festschrift zu seinem 50jährigen Bestehen, Berlin, Leipzig 1937, S. 13–18, Zitat S. 15 f.  

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Dabei sind sowohl signifikante Differenzen als auch Konvergenzen zwischen verschiedenen Interpretationen zu beobachten. Und es gibt, drittens, eine Reihe von – mindestens impliziten – Ansprüchen im Begriff der ‚Modellinterpretation‘, die dazu führen, dass solche Interpretationen tendenziell von den alltäglichen Routinen der Interpretationspraxis abweichen. Darum ist zu fragen, ob sich diese Alltagsroutinen stillschweigend doch wieder zur Geltung bringen oder ob explizit zwischen diesen Routinen und dem ungewöhnlichen Anspruch vermittelt wird. Dass in ‚Modellinterpretationen‘ tatsächlich die Praxis des Interpretierens zur Schau gestellt werden soll, zeigt exemplarisch ein besonders blumiger Klappentext, den man auf dem Rücken eines jüngeren Reclam-Bandes mit neun einschlägigen Studien zu Walthers von der Vogelweide Nemt, frouwe, disen kranz findet. Da heißt es: Was geschieht mit Walthers von der Vogelweide anmutigstem Minnelied, wenn es unter die Theoretiker fällt? Hermeneutik, New Philology, Performanz-Theorie, Mentalitätsgeschichte, Strukturalismus, Genderforschung, Diskursanalyse, Intertextualität und Dekonstruktion erproben ihr Interpretationsbesteck, und dabei fällt viel Anregendes über den richtigen Umgang mit mittelalterlicher Literatur ab.2

Der kurze Text dient natürlich in erster Linie dazu, einen Impuls für die Kaufentscheidung zu geben. Aber die metaphorische Formulierung3 wirft doch eine Reihe von Fragen auf, etwa welche Erkenntnisse, welches Wissen und welche Kompetenzen in diesen Texten vermittelt werden sollen. Gegenstand ist sicher das interpretierte Minnelied, das darf man wohl voraussetzen, aber zugleich soll auch allgemeiner etwas „über den richtigen Umgang mit mittelalterlicher Literatur“ vermittelt werden. Es ist außerdem unklar, welchen Status dieses Wissen haben soll. „Interpretationsbesteck“ wird „erprobt“; was „abfällt“, ist „Anregendes“ über den „richtigen Umgang“ mit mittelalterlichen Texten. Und schließlich bleibt undeutlich, wer da eigentlich so ruppig mit Walthers „anmutigstem Minnelied“ umgeht: Grammatikalisch erscheinen hier Schulen und Theorien selbst als Akteure, nicht die interpretierenden wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren. – Man soll den unschuldigen Text nicht überstrapazieren: Er gehört schließlich zur Textsorte der werbenden ‚Klappentexte‘, die man seit dem Beginn des 20. Jahrhun-

2 Johannes Keller/Lydia Miklautsch (Hrsg.), Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen von „Nemt, frouwe, disen kranz“, Stuttgart 2008, Klappentext. 3 Die Bildlichkeit changiert zwischen ‚medizinischer Operation‘ und ‚Gelage‘; zum heuristischen Potenzial der Metaphorologie für wissenschaftssoziologische Fragestellungen vgl. Dirk Werle, „Methodenmetaphern. Metaphorologie und ihre Nützlichkeit für die philologisch-historische Methodologie“, in: Lutz Danneberg/Carlos Spoerhase/Dirk Werle (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 2009, S. 101–124.

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derts in Amerika blurb nennt. Aber er zeigt doch auf einen Blick, dass in ‚Modellinterpretationen‘ die Tätigkeit des Interpretierens selbst zur Schau gestellt wird – und er wirft eine Reihe von klärungsbedürftigen Fragen auf, die sich beim Blick auf diese ‚Modellinterpretationen‘ stellen. Obwohl es sich um Fragen handelt, die Aufschluss über die Grundlagen der literaturwissenschaftlichen Praxis geben könnte, sind ‚Modellinterpretationen’ in ihrem besonderen Status bisher noch nicht Gegenstand von eigenständigen Untersuchungen gewesen. Im Folgenden soll ein erster Versuch unternommen werden, das Feld zu erschließen, indem zunächst vorrangig auf den Status fokussiert wird, der diesen Interpretationen in Paratexten sowie programmatischen und selbstreflexiven Passagen zugeschrieben wird. Wenn es darum geht, was Literaturwissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftler tun, wenn sie Modellinterpretationen schreiben, dann werden insbesondere folgende Detailfragen im Vordergrund stehen: – In welchen kommunikativen Zusammenhängen stehen literaturwissenschaftliche ‚Modellinterpretationen‘? – Welches Wissen und welche Kompetenzen sollen ‚Modellinterpretationen‘ darstellen und vermitteln? – Welchen Geltungsanspruch haben dieses vermittelte Wissen und die Kompetenzen? – Welche Konzepte von wissenschaftlicher Autorschaft werden etabliert? Das Korpus, auf das sich diese Fragen beziehen, ist beschränkt auf eine Gruppe von Texten aus dem Bereich der deutschsprachigen Literaturwissenschaft, die explizit als ‚Modellinterpretationen‘ deklariert werden bzw. auf Texte, die bereits im Wissen entstanden sind, dass sie als Modellinterpretationen gelesen werden sollen, also etwa im Rahmen von entsprechenden Sammelbänden oder Einführungsbüchern. Der Begriff der ‚Modellinterpretation‘ ist dabei weit gefasst, um ein Korpus von Texten und Publikationen in den Blick zu bekommen, denen ein ähnlicher Anspruch gemeinsam ist. Wahlweise wird zwar von ‚Modellinterpretationen‘ und ‚Modellanalysen‘ gesprochen, und die Begriffe der ‚Interpretation‘ und der ‚Analyse‘ können unterschiedliche theoretische und methodische Vorannahmen aufrufen, aber in der Regel werden sie nicht in einem strengen Verständnis verwendet, sondern sie dienen als Sammelbegriffe, unter denen sich immer wieder ähnliche literaturwissenschaftliche Texte finden. Auch der Begriff des ‚Modells‘, der die spezifische Funktion dieser Texte bezeichnet, ist nicht eindeutig. Man findet auch Bezeichnungen wie ‚Musterinterpretationen‘ oder ‚Beispielinterpretationen‘, es wird von ‚Anwendungen‘ oder ‚Theorien in der Praxis‘ gesprochen. Darauf wird noch einmal im Zusammenhang mit den Leistungsbehauptungen zurückzukommen sein, die für die Texte formuliert werden.

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I Bestandsaufnahme Eine knappe systematisierende Bestandsaufnahme gibt bereits erste Hinweise darauf, in welchen kommunikativen Zusammenhängen literaturwissenschaftliche ‚Modellinterpretationen‘ zu situieren sind. Wenn man sie nach ihren Publikationsformen ordnet, ergibt sich das folgende Bild: 1. Der prominenteste Fall sind Sammelbände mit mehreren Modellinterpretationen, in denen literaturtheoretische Positionen und Methoden vorgeführt werden. Solche Bände können auf eine einzige literaturtheoretische Position verpflichtet sein, die durch verschiedene exemplarische Studien etabliert werden soll.4 Häufiger noch sind aber Bände, die verschiedene theoretischmethodische Ansätze explizieren und ihre Anwendung paradigmatisch in der Interpretationspraxis vorführen, in den prominentesten Fällen zentriert um einen einzigen literarischen Text. Z.B.: David A. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“, München 1985; Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas „Vor dem Gesetz“, Opladen 1993; Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (Hrsg.), Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgart 2002; Johannes Keller/Lydia Miklautsch (Hrsg.), Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen von „Nemt, frouwe, disen kranz“, Stuttgart 2008.5 2. Daneben sind Einführungsbücher in Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft zu nennen, die eigene Kapitel oder Abschnitte enthalten, die als Modellanalysen den vorgestellten Theorien zugeordnet sind.6 Z.B.: Arne Klawitter/Michael Ostheimer, Literaturtheorie. Ansätze und Anwendungen, Göttingen 2008; Tilmann Köppe/Simone Winko, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2008; Vera Nünning/Ansgar Nünning, Metho-

4 Vgl. Horst Albert Glaser (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. Grundlagen und Modellanalysen, Stuttgart 1971. 5 Ein Vorläuferband, in dem nicht nur literaturtheoretische Modelle, sondern auch Formen der akademischen Unterrichtspraxis am Beispiel der Wahlverwandtschaften diskutiert werden, ist Hermann Müller-Solger (Hrsg.), Modelle der Praxis. Einführung in das Studium der Literaturwissenschaft, Tübingen 1972. Mindestens benachbart ist ein jüngerer Band von Rüdiger Campe (Hrsg.), Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz, Freiburg 2008. 6 Auch allgemeine Einführungen in die Literaturwissenschaft enthalten oft eigene Modell- oder Beispielanalysen, vgl. stellvertretend Stefan Neuhaus, Grundriss der Literaturwissenschaft, 3. überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 2009, S. 27–32, 59–62, 87–91, 120–124, 187–190 und 201–206; oder Harald Fricke/Rüdiger Zymner, Einübung in die Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Paderborn 1993. Mit einer Aufgabe zur Interpretation von Lessings Ringparabel und einem Lösungsbeispiel (ebd., S. 261–278).

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den der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, Stuttgart, Weimar 2010.7 3. Eine dritte Gruppe bilden Monographien, die unter dem Begriff der ‚Modellanalyse‘ firmieren. Dazu zählt etwa die Reihe Modellanalysen Literatur im Schöningh Verlag (31 Bände, 1980–1999) oder die Reihe Text und Geschichte. Modellanalysen zur deutschen Literatur im UTB-Verlag (23 Bände, 1979–1990), dasselbe auch für die englische und amerikanische Literatur (13 Bände, 1982–1993). 4. Schließlich gibt es vereinzelte Zeitschriftenaufsätze oder Buchkapitel, die als Modellanalysen deklariert sind.8 Diese letzte Gruppe der Modellinterpretationen in Form eines Zeitschriftenaufsatzes oder eines einzelnen Buchkapitels wird im Folgenden nicht ausführlich Gegenstand sein, weil sie nicht besonders prominent und zahlreich sind. Dieser Befund lässt zugleich vermuten, dass ‚Modellinterpretationen‘ häufig in der Nachbarschaft zu anderen ‚Modellinterpretationen‘ entstehen und publiziert werden. Und auch auf die dritte Gruppe, die monographischen Studien, werde ich nicht ausführlich eingehen. Es handelt sich bei genauer Betrachtung um traditionelle Kompendienliteratur: um Werkmonographien mit umfassenden (in diesem Sinn ‚mustergültig‘) und zuverlässigen Informationen über Entstehung, Struktur und Rezeption von Texten oder um überblickshafte Darstellungen etwa zur Gattungsgeschichte des Kunstmärchens. Der Reihe des Schöningh-Verlags liegt die Absicht zugrunde, einen Transfer von akademischem Wissen auch in die Schule zu leisten, darum stellen die Bücher nicht nur gesichertes Interpretationswissen zur Verfügung, sondern geben am Ende jeweils Anregungen zur Unterrichtsgestaltung. Die didaktische Akzentuierung des Modellbegriffs hat dabei allerdings keine Konsequenzen für die interpretatorischen Passagen selbst. Die Bände der Reihe im UTB-Verlag schließlich, herausgegeben von Gert Sautermeister und Jochen Vogt, sind als Anregungen für den akademischen Unterricht gedacht und

7 Vgl. aus einer benachbarten Disziplin etwa Ralf Schneider, Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Eine anglistisch-amerikanistische Einführung, Tübingen 2004. 8 Vgl. stellvertretend Peter Tepe, Mythos und Literatur. Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung, Würzburg 2001, S. 162–208 (Modell-Interpretation zu Christa Wolfs Medea. Stimmen); Michael Hoffmann, „Linguistische und literaturwissenschaftliche Konturen einer sozialgeschichtlichen Werkinterpretation. Mit einer Modellanalyse zu Armin Mueller-Stahls Roman ‚Verordneter Sonntag‘“, in: Ders./Christine Keßler (Hrsg.), Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. [u.a.] 2003, S. 139–167; Wolfgang Spiewok, „Walthers ‚sumerlaten‘-Lied (Lachmann 72,31). Modellanalyse eines lyrischen Textes“, in: Danielle Buschinger/Ders. (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Actes du Colloque du Centre d’Études Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne, 15 et 16 janvier 1995, Greifswald 1995, S. 151–163.

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bieten in der Regel sozialgeschichtlich perspektivierte Interpretationen, insofern wäre der Begriff der ‚Modellanalyse‘ als Verweis auf ein zugrunde liegendes theoretisch-methodisches Erkenntnisinteresse eher gerechtfertigt.

II Historische Konstellationen: Modell-Interpretationen / Modell-Interpreten Auch wenn die Verwendung des Begriffs in den Reihentiteln also nicht prägnant ist, bleibt sie doch aufschlussreich, denn sie verweist auf zwei fachgeschichtliche Entwicklungen, die eine Konjunktur von Modellinterpretationen seit Beginn der 1970er Jahre nach sich ziehen, in die auch die beiden großen Gruppen der Einführungsbücher und der Sammelbände einzuordnen sind.9 Die Konjunktur beginnt nur wenig zeitverzögert im Anschluss an die literaturwissenschaftliche Methodendiskussion und die gleichzeitigen Bemühungen um eine Studienreform seit den 1960er Jahren. In Wellberys Band mit Interpretationen von Kleists Erdbeben in Chili wird diese historische Konstellation explizit reflektiert, wenn es heißt: „[D]ie stürmische Ausbreitung von methodologischen Modellen und globalen Konzepten zur Reform der Literaturwissenschaft, die besonders die späten sechziger und frühen siebziger Jahre kennzeichnete, schein[e] einstweilen verebbt zu sein.“10 So wird der fachliche Horizont entworfen, vor dem der Band im Jahr 1985 zu lesen sein soll. Unterstützt wird die Konjunktur der ‚Modellinterpretationen‘ noch einmal ab der Mitte der 1990er Jahre durch fachinterne Diskussionen über den neuen Methodenpluralismus und die folgenden Kanonisierungsprozesse. Den jüngsten Impuls hat schließlich die Modularisierung des Studiums im Zuge

9 Jörg Schönert hat diese fachgeschichtlichen Kontexte für die Lehrbuchproduktion ausführlich rekonstruiert, vgl. zuletzt Jörg Schönert, „Zur ‚ersten Generation‘ von ‚Einführungen in die Literaturwissenschaft‘“, in: Claudius Sittig/Jan Standke (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Lehrbuchkultur. Zur Geschichte und Gegenwart germanistischer Bildungsmedien, Würzburg 2013, S. 123–146; Ders., Es muß nicht immer ein ‚turn‘ sein. Typen und Funktionen kodifizierender Publikationen in der Germanistik 1970–2010, 2010, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=14584 (Stand: 12.06.2012) sowie unter http://fheh.org/images/fheh/material/ schoenertkodifikationen.pdf (Stand: 12.06.2012); Ders., „‚Einführung in die Literaturwissenschaft‘. Zur Geschichte eines Publikationstyps der letzten 50 Jahre“, in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik, 2001, S. 63–72. 10 David E. Wellbery, „Vorbemerkung“, in: Ders. (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“, München 1985, S. 7–10, hier S. 7.

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der Bologna-Reform gegeben, die zugleich Reflexionen über die veränderte akademische Lehr- und Lernkultur nötig macht.11 In diesem doppelten Bezugskontext zwischen didaktischen Ansprüchen und grundlegenden fachinternen Verständigungsprozessen über Gegenstand und Methoden der Literaturwissenschaft sind ‚Modellinterpretationen‘ zu verstehen. Es sind in der Regel Texte, in denen eine Relation zwischen der literaturwissenschaftlichen Theorie bzw. Methodologie und der Interpretationspraxis hergestellt wird. Dabei ist auffällig, dass es einen semantischen Wandel im Begriff der ‚Praxis‘ gibt. Denn schon seit Anfang der 1970er Jahre sind Bände auf dem Markt, die Titel tragen wie Methodische Praxis der Literaturwissenschaft,12 aber ‚Praxis‘ meint in diesen Fällen meistens noch die Praxis des Studiums. Wenn man nach einem früheren Äquivalent zu den späteren Texten sucht, die als ‚Modellinterpretationen‘ deklariert werden, dann sind es die Texte von Modell-Interpreten. Zu denken ist vor allem an Namen wie Emil Staiger oder Wolfgang Kayser. Ihr privilegierter Status wird durch verschiedene Interpretationsmaximen begründet. So überblendet Emil Staiger in seinem Buch Die Kunst der Interpretation aus dem Jahr 1955 die Figur des Wissenschaftlers mit der des Liebhabers, der das richtige Taktgefühl besitzen muss: „[…] Nicht jeder Beliebige kann Literarhistoriker sein. Begabung wird erfordert, außer der wissenschaftlichen Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz, ein Gemüt mit vielen Saiten, das auf die verschiedensten Töne anspricht. Es wird verlangt, daß jeder Gelehrte zugleich ein inniger Liebhaber sei, daß er mit schlichter Liebe beginne und Ehrfurcht all sein Tun begleite. Dann wird er sich keine Taktlosigkeiten mehr zuschulden kommen lassen, und was er leistet, bedrückt oder ärgert die Freunde der Poesie nicht mehr – vorausgesetzt, daß er wirklich begabt ist und sein Gefühl das Richtige trifft.“13 Eine solche auratische Bestimmung der Tätigkeit des Interpretierens korrespondiert mit einer Figur des Interpreten, dessen herausgehobenen Status exemplarisch Wolfgang Kayser im Jahr 1958 unter Berufung auf Staiger formuliert, wenn er behauptet, dass „alle Interpretation ein Nicht-Lehrbares, Nicht-Erklärbares, Nicht-zu-Rechtfertigendes bleibt. […] Das Nicht-Lehrbare liegt zutiefst in dem Ergriffenwerden, das die Interpretation auslöst und bestimmt. Dazu sind nicht alle berufen […].“14

11 Vgl. dazu die Beiträge im Themenheft „Perspektiven der Hochschul-Literaturlehrforschung“ der Zeitschrift für Germanistik N.F., 21/2011, 1, sowie in Sittig/Standke (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Lehrbuchkultur. 12 Vgl. Beate Pinkerneil (Hrsg.), Methodische Praxis der Literaturwissenschaft, Kronberg im Taunus 1975; Friedrich Nemec/Wilhelm Solms (Hrsg.), Literaturwissenschaft heute: 7 Kapitel über ihre methodische Praxis, München 1979. 13 Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation, 2. unveränderte Aufl. Zürich 1957, S. 13. 14 Wolfgang Kayser, Die Vortragsreise. Studien zur Literatur, Bern 1958, S. 56.

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Staiger und Kayser wenden sich also gleichermaßen gegen die vollständige Lehrbarkeit der Tätigkeit der Interpretation, gleichwohl haben ihre Interpretationen als Vorbilder auf andere Interpretationen gewirkt.15 Sowohl Staiger als auch Kayser haben in ihre Einführungsbücher exemplarische Interpretationen aufgenommen. „Mit bloßer Theorie ist […] wohl nichts Entscheidendes auszurichten“, schreibt Staiger, vor seiner Interpretation von Mörikes Gedicht Auf eine Lampe: „So will ich versuchen, ein Beispiel zu geben […].“16 Und nach Abschluss seiner Interpretation bekräftigt er die Brauchbarkeit seiner methodischen Vorgehensweise: „Ein Weg, den zu gehen sich immer empfiehlt.“17 Auch Kayser führt mehrfach seine Position exemplarisch vor, etwa in einer Interpretation von Hölderlins Gedicht An die jungen Dichter.18 Solche kanonisch gewordenen Interpretationen können in anderem Verständnis ebenfalls zu ‚Modellinterpretationen‘ werden, indem sie zu als kanonische Mustertexte eigene ‚communities of practice‘ der Forschung begründen. Zu nennen wären etwa Freuds Hamlet-Interpretation, Lacans Interpretation von Poes A purloined letter oder Stephen Greenblatts Shakespeare-Interpretationen. Charakteristische Stile in Argumentation und Diktion können dabei so verbindlich werden, dass sie sich schließlich parodieren lassen.19 Greenblatts Texte sind ein gutes Beispiel einen solchen ostentativen Vorrang der Interpretationspraxis vor einer strengen methodischen Fundierung. Die Einführung, die er selbst mit verantwortet hat, trägt den bezeichnenden Titel „Practicing New Historicism“ und verweigert explizit eine theoretische und methodische Explikation.20

15 Vgl. zu Staigers Kunst der Interpretation Michael Baum/Volker Ladenthin/Joachim Rickes (Hrsg.), 1955–2005. Emil Staiger und „Die Kunst der Interpretation“ heute, Bern [u.a.] 2007; Harro Müller-Michaels/Wolfgang Kayser, „Das sprachliche Kunstwerk – wiedergelesen“, in: Monatshefte, 98/2006, S. 1–5; Jörg Esleben, „Into Wolfgang Kayser’s ‚Das sprachliche Kunstwerk‘“, in: Monatshefte, 98/2006, S. 6–11. 16 Staiger, Kunst der Interpretation, S. 11. 17 Ebd., S. 29. 18 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 12. Aufl., Bern, München 1967, S. 227–234. 19 Vgl. Frederick C. Crews, The Pooh Perplex, London 1984; Ders., Postmodern Pooh, New York 2001. 20 Catherine Gallagher/Stephen Greenblatt, Practicing New Historicism, Chicago 2000, S. 19. Moritz Baßler hat versucht, eine Praxisanleitung in mehreren Schritten für eine Interpretation ‚nach Art des New Historicism‘ zu formulieren, vgl. Moritz Baßler, „New Historicism und Textualität der Kultur“, in: Lutz Musner/Gotthart Wunberg (Hrsg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 292–311. Zum Problemkomplex vgl. auch Claudius Sittig, „‚Was ernst an ihm ist, kann sie schon‘. Die deutsche Literaturwissenschaft und der New Historicism aus der Neuen Welt“, in: Rebekka Habermas/Rebekka von Mallinckrodt (Hrsg.), Interkultureller Trans-

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III Didaktische und fachwissenschaftliche Horizonte für ‚Modellinterpretationen‘ Seit der Mitte der 1980er Jahre gewinnt neben solchen Momenten der paradigmatischen Vorbildlichkeit im Zuge von Prozessen der Szientifizierung auch ein expliziter Modell-Begriff an Prominenz.21 Seitdem bezeichnet der Begriff der ‚Modellinterpretation‘ Texte, die ein Versprechen auf die modellhafte Vorführung von literaturwissenschaftlicher Praxis formulieren. Sie sind situiert in den skizzierten doppelten Bezugskontexten zwischen didaktischen Absichten und fachinternen Klärungsprozessen. Innerhalb von Einführungsbüchern erfüllen sie eine initiatorische Funktion, denn die dort gebotenen ‚Modellinterpretationen‘ vermitteln nicht nur Fachwissen, sondern sie führen zugleich auch Kompetenzen vor. Sie eröffnen damit Möglichkeiten für die Teilnahme an der sozialen Praxis der Interpretation und damit zugleich auch Möglichkeiten der Inklusion in das soziale System der universitären Wissenschaft. Die Sammelbände mit Modellinterpretationen verschieben dagegen die Gewichte deutlich und betonen stärker die Funktion der gesammelten Texte für fachinterne theoretisch-methodische Klärungen. Am weitesten geht darin Wellbery, der seinen Band mit dem Argument begründet, aktuell entbehre „jeder Versuch, die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Positionen systematisch zu vermitteln“, der „Überzeugungskraft“, so dass die „Vermittlung […] auf der Ebene des konkreten Anlasses zur literaturwissenschaftlichen Tätigkeit gesucht wird“.22 Aus diesen zwei sich überlagernden Bezugskontexten entsteht ein Katalog von vier wichtigen Funktionszuschreibungen bzw. Anforderungen an ‚Modellinterpretationen‘, die in verschiedenen Konstellationen, je unterschiedlich gewichtet, verbindlich sind: ‚Modellinterpretationen‘ sollen (1.) Wissen über litera-

fer und Nationaler Eigensinn – Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaft, Göttingen 2004, S. 87–106. 21 Zum literaturwissenschaftlichen Modell-Begriff vgl. Horst Flaschka, Modell, Modelltheorie und Formen der Modellbildung in der Literaturwissenschaft, Köln, Wien 1976; außerdem Helmut Bonheim, „Literaturwissenschaftliche Modelle und Modelle dieser Modelle“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, Trier 1998, S. 13–27. 22 Die Formulierung ‚Anlass‘ vermeidet Begriffe wie ‚Text‘ oder ‚Werk‘ und referiert auf ein „Stück geschichtlich-kultureller Wirklichkeit“, das von Wellbery nur noch deiktisch als „Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili“ bezeichnet wird. (David E. Wellbery, „Vorbemerkung“, in: Ders. [Hrsg.], Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“, München 1985, S. 7–10, hier S. 8)

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turtheoretische Modelle und methodologische Verfahren vermitteln, indem sie abstrakte Annahmen über Literatur und die damit korrespondierenden methodischen Verfahren an einem konkreten Beispiel illustrieren. ‚Modellinterpretationen‘ haben darum eine wissensvermittelnde Funktion, indem sie literaturtheoretisch-methodisches Wissen popularisieren. Sie sollen (2.) exemplarisch das heuristische Versprechen einlösen, das theoretische Annahmen und Perspektivierungen und die damit korrespondierenden methodischen Verfahren machen. Indem diese theoretischen und methodischen Voraussetzungen zu gelungenen Interpretationen des interpretierten Gegenstands führen, wird die vorausgesetzte Gültigkeit der theoretischen Annahmen faktisch beglaubigt. Anders gewendet kann man formulieren: Modellinterpretationen belegen mindestens den operativen Wert der vorgeschlagenen Fragestellungen und Methoden, der begrifflichen Beschreibungsinstrumentarien und Darstellungsweisen. Mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit führen sie jedenfalls vor, wie sich theoretisch-methodisch Ansätze in der Praxis ‚bewähren‘. Diesen beiden Leistungsbehauptungen von ‚Modellanalysen‘ zur Vermittlung eines Wissens, das eher explizit ist, kann man eine dritte Funktion an die Seite stellen, die auf die zentrale Bedeutung von implizitem Wissen verweist: ‚Modellinterpretationen‘ rekonstruieren (3.) idealtypisch theoretische Positionen und methodische Verfahren, um anschließend entweder mustergültig in möglichst weitgehender Übereinstimmung mit dem dargestellten Modell vorzuführen, wie eine möglichst schematische Anwendung im Einzelfall aussehen kann; oder indem sie – allgemeiner formuliert – die Performanz von praktischer Interpretationskompetenz zur Schau stellen, das heißt eine theoretisch und methodologisch informierte, zugleich aber auch von einem impliziten Wissen geleitete situationsund kontextspezifische Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit. Der Begriff der ‚Modellinterpretation‘ akzentuiert in beiden Fällen den latenten Vorbildcharakter von exemplarisch ‚gelingendem Interpretationshandeln‘. Schließlich sollen ‚Modellinterpretationen‘ (4.) in der Regel auch Wissen über den interpretierten Gegenstand herstellen. Der Modellbegriff bezieht sich in dieser Hinsicht auf die paradigmatische Qualität des Wissens, das durch die Interpretation eines Textes zum Beispiel über das Werk eines Autors oder ‚Literatur‘ insgesamt gewonnen werden kann. Mitunter stabilisieren und konturieren sich dabei literarische Paradigmen und literaturtheoretisch-methodische Paradigmen wechselseitig in der Praxis. Das ist auf dem Feld der Neueren deutschen Literaturwissenschaft besonders deutlich am Beispiel der Kleist- und Kafka-Forschung zu beobachten. Es ist sicher kein Zufall, dass die drei prominentesten Bände mit Modellinterpretationen Texten von Kleist und Kafka gewidmet sind (herausgegeben von Wellbery, Bogdal und Jahraus/Neuhaus). Als gemeinsame Vertreter eines Paradigmas der modernen Literatur scheinen sie diejenigen paradigmatischen

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Interpretationen zu provozieren, die zugleich den paradigmatischen Status der Texte beglaubigen.23

IV ‚Modellinterpretationen‘ in Einführungsbüchern und Sammelbänden Wenn man diesen Katalog der Leistungsversprechen bzw. Forderungen an literaturwissenschaftliche ‚Modellanalysen‘ zugrunde legt, werden eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Einführungsbüchern und den Sammelbänden sichtbar: In den Einführungsbüchern dominieren illustrierende und vorbildhafte Funktionen von ‚Modellinterpretationen‘. Sie präsentieren sehr knappe, prägnante Interpretationsskizzen mit Entwurfscharakter. Das gilt etwa für den erwähnten Band von Vera und Ansgar Nünning und für den Band von Arne Klawitter und Michael Ostheimer. Die Einführung von Simone Winko und Tilmann Köppe wählt dagegen einen anderen Weg. Hier werden die Hypothesen und Ergebnisse von beispielhaften Forschungsbeiträgen referiert und ihre argumentative Struktur rekonstruiert. Eingebettet sind diese vorgestellten Musteroder Beispielinterpretationen in der Regel in eine Darstellung, die zunächst eine einleitende knappe Skizze des theoretischen Ansatzes, der korrespondierenden Begriffe und Methoden bietet. In allen Bänden finden sich dagegen Abschnitte, in denen geläufige Kritikpunkte an den vorgeführten Positionen gebündelt formuliert werden. In dieser Praxis der Verknappung und Segmentierung von Wissen sind die Publikationen für die Praxis der Einführungsliteratur insgesamt charakteristisch. Zugleich hat dieses Darstellungsverfahren den Effekt, dass die tatsächlichen komplexen Praktiken des Interpretierens nur angedeutet werden. Das heißt konkret: Die Ansprüche an argumentative Komplexität und Plausibilität der Argumentation sind ebenso reduziert wie die Beleg- und Nachweispflichten oder die im Regelfall geforderte Dialogizität der Darstellung, die zum Beispiel über Fußnoten realisiert wird. Der berichtende oder skizzierende Modus der Vermittlung führt außerdem dazu, dass weder charakteristische Diktionen zur Sprache kommen noch das spezifische Ethos eines wissenschaftlichen Autors, das sich zum Beispiel in einer skeptisch-abwägenden Haltung oder in spezifischen Strategien der Persuasion konkretisiert. Das alles basiert auf bewussten Entscheidungen, die sich mit der Orientierung an einer primär studentischen Adressatengrup23 Vgl. Anna-Lena Scholz, „Kleist/Kafka. Annäherung an ein Paradigma“, in: Kleist Jahrbuch, 2010, S. 78–91. – Der bereits erwähnte Band von Rüdiger Campe verfolgt die Absicht, Kleists ‚exemplarisches‘ Drama Penthesilea zum Gegenstand ‚exemplarischer‘ Analysen zu machen. Vgl. Campe (Hrsg.), Penthesileas Versprechen.

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pe begründen lassen,24 die an der spezifischen konzentrierten Form des Lehrbuchwissens interessiert ist. Aber es führt natürlich dazu, dass nicht die tatsächliche Interpretationspraxis vorgeführt wird, sondern lediglich Abbreviaturen von modellhaften Interpretationen.25 Eine Reihe dieser charakteristischen Merkmale prägen auch die Modellinterpretationen, die gemeinsam in Sammelbänden publiziert werden. Auch hier lassen sich ähnliche wissensvermittelnde und illustrierende Funktionen der Texte beobachten. So findet man zum Beispiel eine mehr oder weniger deutliche Gliederung der Darstellungen in eine knappe Vorstellung der theoretischen und methodischen Positionen und eine folgende ‚Modellinterpretation‘. Die Texte sind darüber hinaus ebenfalls exemplarisch knapp gehalten und bieten nur einen reduzierten Fußnotenapparat, der vor allem Verweise enthält, die die formulierte Position stützen. Offenbar sind auch hier die Ansprüche an dialogische Auseinandersetzungen mit anderen Forschungspositionen reduziert, weil die Absicht im Vordergrund steht, die theoretischen Perspektiven und argumentativen Linien sichtbar zu machen. Auch Sammelbände mit ‚Modellinterpretationen‘ gehorchen also in Teilen den skizzierten didaktischen und wissensvermittelnden Anforderungen. Im Fall des Bandes von Jahraus und Neuhaus ist es das Ziel, Beiträge zu versammeln, „die am Beispiel von Kafkas Erzählung Das Urteil eine methodische Position skizzieren und ein entsprechendes Interpretationsverfahren vorführen.“26 – Es sind aber nicht nur „Beiträge zur Methode der Literaturinterpretation“, sondern gleichzeitig stehen die Texte noch unter einer zweiten Anforderung: Es sollen auch „Beiträge zur Kafka-Forschung“ sein. Eine solche doppelte Zielsetzung,

24 Die Texte sind allerdings, bei genauer Betrachtung, doppelt adressiert: sowohl an Studierende, denen sie als Bildungsmedien der Initiation in die Grundlagen des Fachs dienen, als auch an Kolleginnen und Kollegen, die nicht zuletzt als Lehrende über die Verwendung der Bücher entscheiden. 25 Vgl. Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Eine praxeologische Perspektive auf ‚Einführungen‘“, in: Sittig/Standke (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Lehrbuchkultur, S. 25–40. 26 Es geht etwa auch darum, so Jahraus und Neuhaus, „die Bedeutung und den Nutzen der verschiedenen literaturwissenschaftlichen Methoden für die Interpretation von Kafkas Erzählung exemplarisch deutlich werden zu lassen.“ (Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus, „Die Methodologie der Literaturwissenschaft und die Kafka-Interpretation. Einleitung“, in: Dies. [Hrsg.], Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgart 2002, S. 23–34, hier S. 30) Keller und Miklautsch formulieren ihre Ziele ähnlich: „(1.) in verständlicher Form eine Einführung in die Literaturtheorie und ihre Implikationen für mittelalterliche Texte, (2.) Perspektiven auf grundlegende Fragen der Walther-Forschung.“ (Johannes Keller/Lydia Miklautsch, „Einleitung. Mittelalterliche Texte und die Literaturtheorie“, in: Dies. [Hrsg.], Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie, S. 17–23, hier S. 18).

Zur Praxis von literaturwissenschaftlichen ‚Modellinterpretationen‘

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theoretisch-methodische Ansätze in der Praxis exemplarisch vorzuführen und dadurch zugleich Neues über den Gegenstand zu sagen, gilt für alle Sammelbände mit ‚Modellinterpretationen‘. Daraus ergibt sich eine Reihe von Verschiebungen im Gegenstandsbezug, im Adressatenkreis und in der Autorschaftskonzeption. Dass der Text als Erkenntnisobjekt selbst gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt, zeigt schon die Tatsache, dass die Bände in der Regel auch den interpretierten Text oder Auszüge daraus präsentieren. Mehr noch: Der Band wird durch den Abdruck eröffnet, in den Bänden aus dem Reclam-Verlag (Keller/Miklautsch, Jahraus/Neuhaus) symbolisch noch vor der Einleitung, so dass seine Priorität vor dem Diskurs der Literaturwissenschaft unterstrichen wird. Der zentrale Plausibilitätsanspruch soll nicht nur für die argumentative Logik der vorgeführten theoretischen und methodischen Ansätze gelten, sondern der Text ist als Objekt präsent, er wird damit zum Maßstab für die Qualität der Begründungen von Interpretationshypothesen und für die Stichhaltigkeit der Belege, die am Text überprüft werden können.27 Diese Fokusverschiebung auf den Text korrespondiert mit einer Verschiebung des Adressatenkreises in Richtung der Fachöffentlichkeit. Damit werden die Sammelbände zu einem Dokument für die Pluralität der Positionen im gemeinsamen epistemischen Regime der Literaturwissenschaft. Mindestens latent werden sie darum zu ‚sozialen Arenen‘, in denen um die Geltung verschiedener epistemischer ‚Stile‘ gerungen wird.28 Es gibt jedenfalls eine Reihe von Indizien dafür, dass die zur Schau gestellten Interpretationen unter diesen Bedingungen für die Interpretinnen und Interpreten nicht ohne Risiko sind. Denn durch die Darstellungslogik, zuerst die theoretisch-methodologischen Voraussetzungen zu formulieren, gewinnen diese den Status von verbindlichen Prämissen der Untersuchung. Das widerspricht der weitverbreiteten Darstellungsstrategie (vielleicht auch einer heuristi-

27 Das lässt sich allerdings auch anders akzentuieren: Bogdal weist dem literarischen Text eine entlastende Funktion zu, wenn er in seinem Kafka-Band formuliert, bei all der „Raserei der Auslegung“ (Blanchot) dürften die Leserinnen und Leser zum vorangestellten Text „Zuflucht nehmen […], wenn Ihnen die ‚Erklärer‘ zu unförmlich werden.“ (Klaus-Michael Bogdal, „Einleitung: Vor dem Gesetz der Literatur. Neue Literaturtheorien in der Praxis“, in: Ders. [Hrsg.], Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas „Vor dem Gesetz“, Opladen 1993, S. 7–10, hier S. 9) – Vgl. zur Rolle der Leser auch Wellberys Hinweis, „daß das Gespräch, das [der Band] inszenieren möchte, nur mit Hilfe des Lesers Wirklichkeit annehmen kann; erst die eingreifende Lektüre realisiert die latenten dialogischen (besser: poly-logischen) Bezüge zwischen den einzelnen Beiträgen.“ (Wellbery, „Vorbemerkung“, S. 9). 28 Rainer Schützeichel, „Wissen, Handeln, Können. Über Kompetenzen, Expertise und epistemische Regime“, in: Thomas Kurtz/Michaela Pfadenhauer (Hrsg.), Soziologie der Kompetenz, Wiesbaden 2010, S. 173–189, hier S. 181; zum Begriff der sozialen Arena vgl. Anselm Strauß, Continual Permutations of Action, New York 1993, S. 225–244.

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schen Praxis), solche Prämissen gerade nicht umfassend zu explizieren und sich nicht vollständig auf eine Methode zu verpflichten, sondern es allenfalls bei impliziten Markierungen zu belassen, etwa über Signalwörter, symptomatische Argumentationsfiguren oder distanziert durch Verweise in den Fußnoten. Es gibt einige Momente, in denen der Konflikt deutlich wird: besonders eindrücklich in einem Fall, in dem nicht die Interpretinnen dem Anspruch der Explikation genügen, sondern eine Herausgeberin in einer vorangestellten Passage die Vorstellung der theoretisch-methodischen Annahmen leisten muss.29 Andere Beiträger entlasten sich explizit vom Druck des methodischen Interpretierens – mit unterschiedlichen Argumentationsfiguren, zum Beispiel durch den Verweis auf die Priorität des Untersuchungsgegenstands30 oder durch gelehrte Überlegungen, die durch Verweise auf Nietzsche und Foucault und weitere Autoren die grundsätzliche Standortgebundenheit von Interpretationen betonen, so dass das Verhältnis zur vorgestellten Methode nur noch ‚ironisch‘ sein kann.31 Neben solchen individuellen Formulierungen der Autorinnen und Autoren stellen aber auch die Einführungen der Herausgeberinnen und Herausgeber regelmäßig Selbstbeschreibungen, die mit Blick auf die komplexen Anforderungen versuchen, eine ausbalancierte Position für die Autorinnen und Autoren zu formulieren und den epistemischen Status des Unternehmens zu bestimmen. Wellbery nennt drei Minimalforderungen, die der Steigerung der Vergleichbarkeit dienen sollen: Jeder Teilnehmer sollte 1.) den Gegenstand und das Ziel seiner Untersuchung explizit machen, 2.) die wichtigsten Voraussetzungen der von ihm vertretenen Methode nennen und 3.) die in der Untersuchung verwendeten Grundbegriffe definieren. (Sollten diese Forderungen aus theoretischen Gründen nicht erfüllt werden können, so sollte erklärt werden warum.) […] Auf die Einladung des Herausgebers hin, haben sich die Teilnehmer an diesem Projekt bereiterklärt, gemäß den angegebenen Spielregeln die genannten ‚Methoden‘ zu vertreten.

29 Vgl. Ingrid Bennewitz/Andrea Grafestätter, unter Mitarbeit von Lydia Miklautsch, „Gender Studies. Begehren und Erhören“, in: Keller/Miklautsch (Hrsg.), Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie, Stuttgart 2008, S. 141–158. Vgl. ähnlich die Weigerung von Bernd Hamacher, die Prämissen dekonstruktivistischer Lektürepraktiken zu explizieren (Ders., „Das Beben der Darstellung“, in: Wellbery [Hrsg.], Positionen der Literaturwissenschaft, S. 149–173). 30 Hans Hiebel, „‚Später!‘ – Poststrukturalistische Lektüre der ‚Legende‘ Vor dem Gesetz“, in: Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien in der Praxis, S. 18–42, bes. S. 20 f. 31 Niklaus Largier, „Diskursanalyse/New Historicism. Die Fiktion der Erotik“, in: Keller/Miklautsch (Hrsg.), Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie, S. 159–179. Mit Verweisen auf Feyerabend, Sontag und Enzensberger.  

Zur Praxis von literaturwissenschaftlichen ‚Modellinterpretationen‘

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Zugleich formuliert Wellbery aber auch die Einschränkung, der „Leser sollte sich vor Augen halten, daß keiner der Aufsätze methodologisch gesättigt ist; das Verhältnis der ‚Vertretung‘ ist keines der bloßen Subsumption unter ein vorgegebenes Allgemeines.“32 Ähnlich wie Wellbery formulieren auch Keller und Miklautsch in ihrer Einleitung: „Die vorliegenden Interpretationen können und wollen keine Modelle im Sinn von dogmatischen und allein auf eine bestimmte Art möglichen Auseinandersetzungen mit Theorie sein. Sie geben weder Maß noch Takt vor, sie sind keine Vorbilder, wie es lateinisch modulus nahelegt. Es geht vielmehr darum, Möglichkeiten und Grenzen im Zusammenführen moderner Literaturtheorie mit mittelalterlichen Texten aufzuzeigen. Die Artikel sind in diesem Sinn Experimente, die zur weiteren Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten unter dem Aspekt neuer Theorien anregen möchten. Die Interpretationen sind offen und erheben nicht den Anspruch, die einzige Möglichkeit des produktiven Umgangs mit der jeweiligen Methode zu liefern.“33 Und auch Bogdal schreibt: Literaturwissenschaftliche Grundlagenforschung, sei sie noch so anschaulich dargelegt, überzeugt letztlich erst in der konkreten Textanalyse, in der sie ihre Möglichkeiten und Grenzen erprobt. […] Allerdings sind weder eine Methoden-Revue noch literaturwissenschaftliches Schau-Tanzen vorgesehen. Die Gefahren einer ‚Anwendung‘ sind den Beteiligten durchaus bewußt. „Der Apparat lähmt die Organe“, hätte Kafka dazu gesagt. Auseinandersetzungen mit den theoretischen Vorgaben, Widersprüche, Weiterentwicklungen, Zurücknahmen sind beabsichtigt. Sicher finden Sie in den 10 Kapiteln Analysen professioneller, spezialisierter Leser, die sich auf geregelte Zugangsweisen berufen.34

An den zitierten Passagen sind zwei verschränkte Probleme aufschlussreich: Es geht zum einen um die formulierten Geltungsansprüche der Beiträge und den epistemischen Status des gesamten Unternehmens. Zum anderen geht es auch um die damit korrespondierende Autorschaftskonzeption.35 In den Begriffen des ‚Spiels‘ (Wellbery), des ‚Experiments‘ (Keller/Miklautsch) werden die streng methodologischen Ansprüche an das Unternehmen herabgestuft bzw. Freiräume für Beiträge eröffnet, deren Interpretationspraxis zugleich von expliziten theoretischmethodischen Überlegungen und von einem impliziten Praxiswissen geleitet sein

32 Wellbery, „Vorbemerkung“, S. 9 f. 33 Keller/Miklautsch, „Einleitung“, S. 18. 34 Bogdal, „Einleitung“, S. 7. Bogdal hat seine Beiträger überdies von der Verpflichtung auf die Methoden entbunden, weil eine eigene vorangegangene Publikation die Darstellung leistet (ebd., S. 9); vgl. Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990. 35 Vgl. Felix Steiner, Dargestellte Autorschaft. Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten, Tübingen 2009.  

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soll. Darüber hinaus wird in Wellberys Ablehnung einer Autorschaft ‚in Vertretung‘ ebenso wie in Bogdals Ablehnung des ‚Schau-Tanzens‘ deutlich, dass hier Konzepte wissenschaftlicher Autorschaft zur Disposition stehen. Es geht nicht um die rein vermittelnde Darstellung einer abstrakten Theorie, sondern um ein persönlich verantwortetes Wissen, das Fragen nach der Haltung des Interpreten notwendig macht. Zugleich zeigt Bogdals Verweis auf die Professionalität der Interpreten, dass nicht nur vorgeführte Kompetenz eine Rolle spielt, sondern auch beanspruchte, unter Beweis gestellte und zugesprochene kontributorische Expertise. Relevant ist darum nicht nur explizites Wissen, sondern auch das implizite Wissen der Lebenswelt einer epistemischen Gemeinschaft, das über Zugehörigkeiten entscheidet.36 Damit wird noch einmal deutlich, dass es – trotz der expliziten Etikettierung – erkennbare Vorbehalte gegen den Anspruch gibt, verbindliche literaturwissenschaftliche Modellinterpretationen im Sinne einer schematischen Durchführung von Interpretationsschritten zu schreiben. Voraussetzung wäre die Möglichkeit, ‚wahre‘ von ‚falschen‘ Interpretationen eindeutig zu unterscheiden. Stattdessen gilt die Einschätzung, dass Interpretationen lediglich falsifziert und darüber hinaus vor allem nach Kriterien der ‚Plausibilität‘ beurteilt werden können.37 Modellinterpretationen sind vor diesem Hintergrund als ‚exemplarische‘ Interpretationen zu bestimmen: seltener im Sinn normierender, vorbildhafter Referenztexte, an denen sich die folgende Interpretationspraxis orientieren kann und soll; häufiger gelten stattdessen exemplarisch-veranschaulichende Absichten.38 Vorgeführt wird eine theoretisch informierte, aber nicht methodisch strenge Interpretationspraxis, die zugleich das heuristische Potenzial von literaturwissenschaftlichen Theorien und Methoden unter Beweis stellen. Es sind dabei nicht die didaktischen Aspekte, die im Vordergrund stehen, sondern die Alltagsroutinen und epistemischen Regime des Fachs, deren Geltung sich nicht aussetzen lässt. Es sollte deutlich geworden sein, dass mit diesem ersten Blick auf die ‚Modellinterpretationen’ ein Korpus von Texten Konturen gewinnt, dessen Untersuchung

36 Vgl. Rainer Schützeichel, „Universitäten, Wissen, Expertise – Soziologische Überlegungen zu epistemischen Konstellationen und Regimen“, in: Wieland Jäger/Rainer Schützeichel (Hrsg.), Universität und Lebenswelt. Festschrift für Heinz Abels, Wiesbaden 2008, S. 46–83, hier S. 67 und 75 f. 37 Vgl. den Beitrag von Simone Winko im vorliegenden Band; vgl. auch Werner Strube, „Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte“, Stuttgart 1992, S. 185–209. 38 Zur systematischen Unterscheidung von verschiedenen Typen der Exemplarizität vgl. Nicolas Pethes/Jens Ruchatz/Stefan Willer, „Zur Systematik des Beispiels“, in: Dies. (Hrsg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007, S. 7–59.  

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für Fragen nach der Praxeologie der Literaturwissenschaft aufschlussreich ist: Die Markierung eines Textes als ‚Modellinterpretation‘ führt unweigerlich dazu, dass die Tätigkeit des Interpretierens selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt und das modellhaft-kontrollierte Verfahren der Interpretation mit Alltagsroutinen vermittelt werden muss. In den Paratexten und programmatischen Reflexionen über den Status der Texte ist das Problembewusstsein offensichtlich. Nach der Skizze der Kommunikationszusammenhänge von ‚Modellinterpretationen’ sowie der fachlich-wissenschaftlichen wie didaktischen Funktionszuschreibungen werfen insbesondere die beobachteten Ambivalenzen in der Konzeption wissenschaftlicher Autorschaft die Frage auf, inwieweit die rahmenden Überlegungen für die Interpretationen selbst verbindlich sind. Eine detaillierte Analyse der faktischen Interpretationspraxis, die Aufschluss geben würde über mögliche spezifische Modi der Argumentation und Präsentation, die mit der Textsorte der ‚Modellinterpretation‘ korrespondieren könnten, wäre noch zu leisten. Erst daran anschließend wäre es schließlich möglich, die eingangs bereits angesprochenen möglichen Differenzen und Konvergenzen zwischen verschiedenen Interpretationspraktiken präzise zu beschreiben. Entsprechende Untersuchungen stehen noch aus.

IV Theorien und Methoden des Interpretierens: Historische Perspektiven

Arbogast Schmitt, Marburg/Berlin

Literatur verstehen Über die Unterscheidung einer der Literatur angemessenen Form der Rationalität durch Aristoteles Das Grundproblem, vor das eine Literaturinterpretation gestellt ist, die an dem Anspruch, rational zu sein, festhalten will, scheint zwingend in eine Aporie zu führen. Das, was im Begriff erfasst werden kann, ist das Allgemeine, das, was bei vielen ‚Elementen einer Klasse‘ gleich ist. Gegenstand von Literatur aber ist (jedenfalls in der Regel) das Einzelne in seiner einmaligen, individuellen Prägung. Diese konkrete Einmaligkeit ist in ihrer vollen Komplexität grundsätzlich vom Begriff nicht einholbar. Das Verstehen von Literatur scheint daher auf andere Formen des Zugangs angewiesen zu sein, in denen noch irgendwie das vom Begriff nicht fragmentierte und reduzierte Ganze präsent ist, auf Formen der Einfühlung, Intuition oder anderer vorreflexiver Erfahrungsweisen. Dem möglichen Zugewinn an Komplexität entspricht bei diesen Erfahrungsformen aber ein Verlust an nachprüfbarer, möglicher Kritik zugänglicher Rationalität. Auch wenn diese Ganzheitserfahrungen sich auf geübte und vielfach bewährte Praxis stützen und dadurch an Sicherheit der Aussage gewinnen, bleibt ein kaum zu beseitigender irrationaler Rest, der sich z.B. darin zeigt, dass diese Verfahren sich nicht in ausdrücklich gemachten Regeln erfassen und weitergeben lassen, sondern bestenfalls „durch Imitation und Beispiele erworben“1 werden können. Aristoteles hat einen Begriff von Rationalität, der nicht unerheblich von demjenigen abweicht, der in der beschriebenen Konstellation vorausgesetzt ist. Im Folgenden soll allerdings dieser Rationalitätsbegriff nicht theoretisch entwickelt werden. Statt dessen soll versucht werden, aus der Art und Weise, wie Aristoteles in seiner Poetik die Bedingungen des Verstehens von Literatur entwickelt und an der Interpretation literarischer Werke erläutert, sein Konzept einer der Literatur angemessenen Form der Rationalität zu ermitteln. Adressat der Poetik ist freilich nicht der Literaturwissenschaftler. Ihr Thema ist nicht, wie man Literatur versteht, sondern, was Dichtung zur Kunst macht.2 Im Zug des Versuchs, die Bedingungen einer ‚gekonnten‘ und nicht nur mehr oder weniger beliebigen Dichtungspraxis zu ermitteln, entwickelt Aristoteles aber eine

1 Vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 2. 2 Vgl. den ersten Satz der Poetik 1447a910; vgl. dazu Aristoteles, Poetik, übers. u. erl. von Arbogast Schmitt, 2. Aufl., Berlin 2011, S. 197–202.

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Reihe von Aspekten, die auch für das Verstehen von Dichtung relevant sind. In einem eigenen Kapitel (Kap. 253) diskutiert er ausdrücklich zentrale Konsequenzen aus seinem Dichtungsverständnis für den Literaturkritiker. Ein besonders interessanter Punkt ist dort die Unterscheidung, die sich aus Anforderungen des jeweiligen Gegenstands, der in einer Dichtung dargestellt werden kann, ergeben, von solchen Anforderungen, die für seine poetische Behandlung relevant sind. Auch ein Dichter soll seine Gegenstände, so stellt Aristoteles fest, möglichst richtig darstellen, die Richtigkeit, die die Besonderheit des jeweiligen Inhalts betrifft, hat aber keine Bedeutung für den literarischen Aspekt einer Dichtung. Um sie zu beurteilen, müsste man den jeweiligen Fachmann befragen, den Strategen, Arzt, Historiker usw. Für den Literaturkritiker bedeutsam sind nur Fragen, die spezifisch zu dem gehören, was Dichtung zur Dichtung macht. Aristoteles selbst ist also der Meinung, dass der, der Literatur beurteilen möchte, zuerst verstehen muss, worauf der Kunstcharakter von Dichtung beruht, um dadurch das, was ganz anderen Beurteilungskriterien unterliegt, nicht mit seiner spezifischen Aufgabenstellung zu vermischen. Es ist gleich der erste Satz der Poetik, der über diesen Kunstcharakter eine Aussage macht. Aristoteles gibt als Hauptthema der folgenden Abhandlung an, es müsse geprüft werden, wie die Komposition der Handlung angelegt werden müsse, damit eine Dichtung ‚gut‘, und das meint hier: kunstgemäß, werden könne. Man wird nicht bestreiten, dass eine gute Handlungsanlage wichtig für die Qualität eines literarischen Werks ist. Dennoch muss es erstaunen, dass Aristoteles ihr eine so hohe, ja beinahe ausschließliche Bedeutung zumisst, so sehr, dass ihm die Antwort auf diese Frage eine ganze Abhandlung wert ist. Geht man die Poetik unter diesem von Aristoteles selbst ins Zentrum gestellten Argumentationsziel durch, ergibt sich eine gänzlich andere Erklärung als die, die man von einem heute geläufigen Handlungsbegriff her erwarten kann. Ich versuche, wenigstens einige der Hauptpunkte zu erläutern, in denen Aristoteles ausführt, welche Bedeutung das Verstehen und die Darstellung von Handlung für eine in seinem Sinn gelungene Dichtung hat.4 Den Beginn macht Aristoteles allerdings nicht unmittelbar mit einer Aussage über das Handeln in der Dichtung, sondern mit einer allgemeinen Aussage über die Art und Weise, wie Gegenstände überhaupt in der Kunst präsent sind. Jede Kunst ist, wie er einsetzt, ‚Mimesis‘, ‚Nachahmung‘ (1447a13–18).

3 Vgl. ebd., S. 703 und S. 710–722. 4 Zum aristotelischen Begriff der Handlung (und der Unterscheidung von praxis, poiesis und theoria) vgl. ebd., S. 92–127.

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Auch diese Aussage hat viele Erklärer irritiert, insbesondere da er sie ohne jede Begründung einführt. In diesem Fall ist der Grund für die Kritik an Aristoteles allerdings eher in einem Vorurteil zu suchen. In der hellenistisch-römischen Poetik wird die ‚Nachahmung der Natur‘ als eine zentrale Aufgabe der Kunst verstanden. Die Frühe Neuzeit hat diese Auffassung neu rezipiert und wie selbstverständlich auch Aristoteles zugeschrieben.5 Die Frage, ob und wie Kunst im Allgemeinen und Dichtung im Besonderen eine vorgegebene Wirklichkeit darstellen solle (und sich auch in ihren fiktionalen Freiheiten an deren Gesetzen, Mustern orientieren müsse), bedarf allerdings einer Begründung. Anders in der Poetik. Denn die Erklärung für den mimetischen Charakter aller Künste ist hier, dass sie „etwas in etwas auf eine bestimmte Weise“ darstellen.6 Das ist tatsächlich eine rein analytische Beschreibung davon, dass jede (darstellende) Kunst ihre Gegenstände immer in einem Medium präsent macht. Der Sokrates eines Malers ist nicht Sokrates selbst, sondern Sokrates im Medium von Farbe und Form, in einer bestimmten Weise dargestellt. Diese mediale Präsenz des Gegenstands ist genauso gegeben, wenn es den Gegenstand in der ‚Wirklichkeit‘ nicht gibt, z.B. wenn man Gorgonen, Erynien (Furien), Kentauren, Chimären oder auch Angsträume usw. darstellt. Auch die Furien, die in den Eumeniden des Aischylos in furchteinflößender Gestalt auf der Bühne agieren, verkörpern nur und sind nicht das, was die religiöse oder poetische Vorstellung von diesen Wesen denkt. Da Aristoteles mehrfach in der Poetik sagt, dass eine Dichtung in gleicher Weise wirklich Geschehenes wie Erfundenes darstellen könne7 – auch das wirklich Geschehene kennten ja nur wenige –, gibt es keinen Grund, aus der Feststellung, dass in jeder Kunst immer etwas nachgeahmt werde, den Schluss zu ziehen, dieses Etwas könne nur die Wirklichkeit, die Natur, die Natur der Dinge, das im Leben Wahrscheinliche oder dergleichen sein. Gleichgültig ist Aristoteles allerdings der Gegenstand der Kunst nicht. Im Gegenteil: Noch im ersten Kapitel macht er klar, dass durch die Formung beliebiger Gegenstände keine Kunst entstehen könne (1447b13–20).

5 Vgl. Brigitte Kappl, Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Berlin, New York 2006, S. 71–168; vgl. auch Arbogast Schmitt, „Aristoteles, Poetik“, in: Christine Walde (Hrsg.), Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon, Stuttgart, Weimar 2010 (Der Neue Pauly, Suppl. 7), Sp. 121–148. 6 Aristoteles, Poetik, 1447a17 f. Ganz wörtlich übersetzt lautet der Text, dass die mimetischen Künste „in etwas Verschiedenem etwas (davon) Verschiedenes auf verschiedene und nicht dieselbe Weise nachahmen.“ 7 Vgl. ebd., 1451b19–33; 1453b23–26; 1455a34–55b1.

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Das zweite Kapitel beginnt wieder mit einer scheinbar apodiktischen Feststellung: Gegenstand der Dichtung seien handelnde Menschen (1448a1). Diese Einschränkung der möglichen Gegenstände künstlerischer Produktivität leuchtete schon vielen antiken Theoretikern nicht ein.8 Weshalb soll nicht auch der von Homer so eindrucksvoll beschriebene Aufgang der Sonne, weshalb sollen nicht Himmel und Erde, Blumen und Tiere usw. in gleicher Weise wie menschliches Handeln in poetischer Weise dargestellt werden können? Auch bei dieser Frage liegt der Grund der Kritik an einem Vorurteil, genauer: an der ungeprüften Annahme, Handeln müsse für Aristoteles eben das meinen, was dem eigenen Gebrauch entspricht. Aristoteles hat aber einen kritisch reflektierten und dadurch präziser umgrenzten Handlungsbegriff.9 Ausgangspunkt ist für ihn die Frage, weshalb man überhaupt handelt. Handeln und etwas (etwas anderem) vorziehen, sind, wie er feststellt, ein und dasselbe.10 Man läuft weiter und bleibt nicht stehen, rächt sich oder tut es nicht, isst ein Brot oder nicht usw. Wenn man etwas einem anderen vorzieht, hält man es irgendwie für besser als anderes. Dieses ‚Für-besser-Halten‘ muss nicht reflexiv sein, es ist aber immer mit der Vorstellung einer Lust bzw. mit der Vermeidung einer Unlust verbunden. Deshalb liegt das Ziel und das Kriterium des Gelingens oder Scheiterns eines Handelns auch ganz im Bereich eines subjektiven Lust- bzw. Unlustgefühls. Wer ein Gift herstellen will, muss sich nach den dazu nötigen Ingredienzien richten. Der Erfolg seines ‚Machens‘ (poiesis) liegt in der Erfüllung dieser äußeren Bedingungen. Anders ist es, wenn das ‚Machen‘ des Gifts dem Wunsch, sich zu rächen, dienen sollte. Hier liegt die Erfüllung nicht in der gelingenden Wirkung des Gifts, sondern in dem Genuss der Rache. Dass die Lust an der Rache nicht dasselbe ist wie die Wirkung des Gifts wird daran deutlich, dass die Erfüllung beider Ziele, des Machens und des Handelns, nicht dieselbe sein muss. Obwohl das Gift seine Wirkung erreicht hat, kann der Genuss der Rache nicht erreicht sein, etwa wenn man erkennen muss, dass die Lust an der erfolgreichen Rache viel kleiner ist als der Schmerz über den Verlust eines voreilig getöteten Menschen. Deshalb beurteilt man Machen und Handeln nicht nach denselben Kriterien. Sie sind vielmehr beim Machen objektiv, beim Handeln subjektiv. Es ist die subjektive Lust oder Unlust, nach der das Gelingen eines Handelns beurteilt wird.

8 Zur hellenistischen Bestimmung und ‚Erweiterung‘ des Gegenstandsbereichs der Dichtung vgl. Arbogast Schmitt, „Aristoteles, Poetik“, in: Christine Walde (Hrsg.), Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon, Stuttgart, Weimar 2010 (Der Neue Pauly, Suppl. 7), Sp. 121–148, hier Sp. 126–128; vgl. auch Stefan Büttner, Antike Ästhetik. Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen, München 2006, S. 107–176. 9 Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 92–117; S. 230–241. 10 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1025b23–25.

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Stellt man diesen Handlungsbegriff in Rechnung, wird unmittelbar klar, dass die Feststellung, Gegenstand der Dichtung seien handelnde Menschen, nicht einfach meint, das Tun und Lassen von Menschen darzustellen, sondern vielmehr: darzustellen, unter welchem Aspekt etwas von einem Menschen als lustvoll oder unlustvoll erfahren und deshalb erstrebt oder gemieden wird. Handeln benennt also einen bestimmten Zugang des Menschen zu – einer objektiv gegebenen oder subjektiv vorgestellten – ‚Welt‘. Ein Dichter muss sich nicht notwendig mit anderen Gegenständen beschäftigen als etwa ein Botaniker. Aber der Botaniker betrachtet eine Blume unter einem anderen Gesichtspunkt, er sucht einen anderen Zugang zu ihr als der Dichter, der sich aus einem Handlungsaspekt heraus mit ihr beschäftigt. Er ist aktiv mit dem Genuss dieser Blume, mit ihrer Schönheit, etwa der Symmetrie ihrer Teile untereinander und zum Ganzen, befasst und stellt diese genießende Aktivität dar. Für ihn ist die Blume ein Gegenstand aktiver Lusterfahrung, für den Botaniker Gegenstand einer theoretischen Analyse. Die Feststellung, Gegenstand der Dichtung sei der handelnde Mensch, ist also Resultat einer Unterscheidung, der Unterscheidung eines um der subjektiven Lust gewählten Zugangs zur Welt (praxis) von anderen Zugängen, etwa von der Produktion um eines Nützlichen (poiesis) oder von der Betrachtung um eines Wahren willen (theoria). Zum Prinzip einer ‚ästhetischen‘ Ordnung bei der Darstellung wird das Handeln für Aristoteles durch die Beachtung noch eines weiteren Aspekts des Handelns. Wer handelt, d.h. ein für ihn mit Lust besetztes Ziel verfolgt, könnte dies gar nicht tun, wenn er beliebiger Spielball äußerer Einflüsse wäre. Ein bloßes und immer wieder anderes Reagieren ist kein Handeln. Handeln setzt eine einigermaßen souveräne Beherrschung der eigenen Vermögen und Fähigkeiten, ein erstrebtes Ziel zu erreichen, d.h. einen einigermaßen gebildeten Charakter voraus.11 Welchen Gewinn eine poetische Darstellung hat, wenn sie sich ein solches Handeln zum Vorwurf nimmt, hat Aristoteles selbst an Homer demonstriert (Poetik 1459a17–b8),12 bei dem er seine Auffassung in besonderer Weise bestätigt glaubt. Obwohl der trojanische Krieg durch Anfang, Mitte und Ende gegliedert gewesen sei, habe Homer sich nicht an dieser Ordnung des Geschehens orientiert, sondern an einer Ordnung der Handlung. Homer weiche damit erheblich von der üblichen poetischen Praxis ab. Für beinahe alle anderen damaligen epischen Dichter sei die Zeit der wesentliche Ordnungsfaktor gewesen. Diese Orientierung an der Zeit zwingt nicht zu dem Urteil, alle damaligen Dichter seien in linearer 11 Zur Charakterbildung vgl. v.a. Aristoteles, Nikomachische Ethik, II,1, 1103a14–26; zum Verhältnis von Charakter und Handlung vgl. Aristoteles, Poetik, S. 384–387. 12 Ich beschränke mich im Folgenden auch auf Beispiele aus Homer, man könnte aber in vieler guter Literatur ähnliche Beobachtungen machen.

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Darstellung einfach dem Verlauf der Zeit gefolgt. Wenn Homer selbst zu Beginn der Odyssee die Muse auffordert, „irgendwo“ mit der Erzählung zu beginnen (1, 10), dann spielt er gerade mit einer traditionellen Kompetenz des epischen Erzählers. Man kann einen ‚Sänger‘ auffordern ‚sing mir doch von …‘, und er ist durch die Beherrschung seines Handwerks in der Lage, von jedem beliebigen Ausgangspunkt aus eine in sich ganze, geschlossene Erzählung vorzutragen. Auch wenn bei dieser Form des Erzählens manches aus der Vergangenheit nachgetragen oder Vorgriffe auf Zukünftiges an den Anfang oder eine andere Stelle vor dem Ende gesetzt werden, und auch wenn der Erzähler bei einigen Ereignissen länger, bei anderen kürzer verweilt, das Grundmaß, von dem die Ordnung der Erzählung gewonnen wird, bleibt die Folge der Ereignisse in der Zeit. Sie gibt das Ganze vor, das dem Leser am Ende in seiner kausalen und inhaltlichen Gliederung vor Augen stehen muss. Dass Homer von diesem, auch für viele gegenwärtige Erzähltheorien maßgeblichen Ordnungskonzept abweicht, fällt beim ersten Lesen kaum auf. Dies ist allerdings nicht Zeichen einer Schwäche seiner Erzählkompetenz, sondern eher der Souveränität, mit der er sein Metier beherrscht. Der Leser der Ilias bemerkt es, wenn er feststellt, dass er – ich formuliere es etwas überspitzt – über einen Zeitraum von 10 Jahren in einer Erzählung von 10 Tagen informiert wird.13 Obwohl man nach der Lektüre der Ilias alles Wichtige über den trojanischen Krieg erfahren hat, seine Gründe, seinen Verlauf, sein Ende, kündigt Homer diese Thematik nicht einmal an, sondern beschränkt sich auf ein ganz anderes Thema, auf die Menis, den heftigen, anhaltenden Zorn des Achill. Auf die Darstellung, wie dieser Zorn entsteht, wie er sich entwickelt und wie er endet, ist die Erzählung der Ilias konzentriert, und zwar so, dass alle anderen Ereignisse des trojanischen Kriegs nur dort, aber auch genau dort ihren Platz finden, wo sie eine funktionale Bedeutung für diese Zornhandlung haben. Ein Erzähler, der von einem Krieg berichtet, aber seine Erzählung fast am Ende dieses Kriegs beginnen lässt, wird irgendwann das Bedürfnis des Lesers erfüllen und ihm in einem Rückgriff (oder auch in mehreren Rückgriffen) vom früheren Verlauf des Kriegs berichten. Solche Rückgriffe sucht man bei Homer vergeblich. Bei ihm wird man auf ganz andere Weise in Kenntnis gesetzt. Was haben die Griechen in den zehn Jahren, die sie vor Troja liegen, unternommen? Das erfährt man von Achill, als ihm seine besten Freunde vorwerfen, er habe gar

13 Vgl. zum Folgenden Arbogast Schmitt, „Vom Gliedergefüge zum handelnden Menschen. Snells entwicklungsgeschichtliche Homerdeutung und ein mögliches Homerbild heute“, in: Michael Meier-Brügger (Hrsg.), Homer, gedeutet durch ein großes Lexikon. Akten des Hamburger Kolloquiums vom 6.–8. Oktober 2010 zum Abschluss des Lexikons des frühgriechischen Epos, Berlin, New York 2012, S. 263–317.

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kein Mitgefühl mit dem Leid seiner Kameraden, sondern denke immer nur an die Unverschämtheit, mit der ihm Agamemnon begegnet sei. Dieser Vorwurf empört Achill. Deshalb erinnert er seine Freunde, dass er es war, der über die ganzen Jahre hin sich „wie eine Vogelmutter“ um sie alle gekümmert habe, viele Nächte habe er durchwacht, viele blutige Tage für sie durchkämpft, zwölf Städte habe er zu Schiff, elf weitere zu Fuß erobert, … (9, 321–329). Das also ist es, was die Griechen, da sich ihnen die Trojaner wegen Achill nicht zum direkten Kampf gestellt hatten, getan haben: Sie haben die kleineren Städte rund um Troja bekriegt. Und wie war es damals, noch in Griechenland, bei der Ausfahrt nach Troja aus Aulis? Davon berichtet Odysseus, als die Griechen, von Agamemnon ‚versucht‘, ob sie lieber kämpfen oder nach Hause fahren wollen, zu den Schiffen stürmen. Da erinnert sie Odysseus an Aulis. Damals habe ihnen der Seher Kalchas vorhergesagt, im zehnten Kriegsjahr würden sie Troja nehmen. Das genau sei der Zeitpunkt, der jetzt gekommen sei, wollten sie ihn wirklich ungenutzt lassen (2, 299–335)? Es ist deutlich, die Erinnerung an eine vergangene Zeit hat keine narrative Funktion, weder für Homer als Autor noch für eine seiner Personen (die etwa jemandem etwas von ihrer Vergangenheit berichten möchte). Anlass des Berichts von etwas Vergangenem ist die Funktion, die dieses Vergangene für die je gegenwärtige Handlung hat. Achill erinnert an die Kämpfe der vergangenen Jahre, weil er sich damit gegen den Vorwurf der Mitleidlosigkeit verteidigen will. Odysseus erinnert an die Abfahrtssituation ‚damals‘ in Griechenland, weil er die kriegsmüden Kameraden zum Bleiben motivieren will. Für die Komposition der Erzählung der Ilias ist nicht der Zeit- oder Geschehensverlauf maßgeblich, auch nicht in einer vom Erzähler durch Vor- und Rückverweise, Dehnung und Raffung ‚artifiziell‘ arrangierten Form, sondern die innere Ordnung der Teile der MenisHandlung untereinander und zum Ganzen dieser Handlung. Ähnlich wie die Zeit, die Homer für die Darstellung dieser Handlung benötigt, sehr kurz ist, ist es auch ihr Inhalt. Denn die Handlung der Ilias ist, wie Aristoteles sagt, ‚gut zu erinnern‘ und ‚wohlüberschaubar‘ (Poetik 1451a4–6), und sie ist, eben weil sie eine Praxis ist, ganz auf die subjektive Seite, auf das von den Gefühlen begleitete Tätigsein der Handelnden konzentriert: Achill empört sich über den Egoismus Agamemnons, mit dem er der gemeinsamen Sache schweren Schaden zufügt. Da Agamemnon ihn deshalb demütigt, zieht er sich vom Kampf zurück. Das führt dazu, dass Agamemnon, durch zwei verlustreiche Kampftage nun selbst gedemütigt, die besten Freunde zu Achill schicken muss, um Abbitte zu leisten. Achill ist aber noch so verbittert, dass er nicht nachgeben kann. Dennoch ist er voller Mitleid und schickt wenigstens seinen liebsten Freund Patroklos in seiner Rüstung zu Hilfe. Als dieser bei der Hilfsaktion

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fällt, vergisst Achill allen Zorn auf Agamemnon und richtet ihn nun gegen Hektor, der Patroklos getötet hat. Als Achill diesen durch den Tod des Hektor gerächt und ihm die in seinen Augen nötigen Ehrungen erwiesen hat, ist er fähig, mit Priamos, dem Vater Hektors, über das gemeinsame Unglück zu weinen und ihm versöhnt den Leichnam Hektors herauszugeben. (Das ist das Ende der Ilias). Die Kürze der Handlung ist aber nicht nur der Grund, weshalb man in der Ilias an jeder Stelle das Ganze der Handlung vor Augen haben und die jeweilige Funktion für das Ganze klar erkennen kann, sie macht auch das wichtigste Merkmal der Kompositionsweise deutlich: Die Handlung liefert ein Kriterium der Auswahl, das zur Unterscheidung befähigt. Der trojanische Krieg bietet eine große Zahl von Ereignissen, die auf ganz verschiedene Weise miteinander verbunden oder auch nicht verbunden sind, die unterschiedliche Bedeutungen für unterschiedliche Aspekte haben, die auch viel Zufälliges aufweisen. Mit den Problemen, Ordnung in diese Vielfalt und Kontingenz zu bringen, sind, wie Aristoteles meint, die Dichter vor und um Homer nicht optimal umgegangen. Die sogenannte Kleine Ilias z.B. erzählt das Geschehen nach dem Tod Achills bis zum Fall Trojas und der Abfahrt der Griechen nach Hause. Nach Aristoteles könnte man aus dieser Erzählung acht Handlungseinheiten mit je eigenem Anfang und eigenem Ende und oft sogar ohne diese Qualitäten herstellen. Die Ilias aber hat nur eine Handlung, alles, was in ihr erzählt wird, hat, auch wenn es für sich eine eigene Einheit aufweist (z.B. die Tragödie des Patroklos im 16. Buch), zuerst und zugleich eine Funktion für diese eine Handlung (Poetik 1459a30–1459b7). Dass es eine Erkenntnisleistung eigener Art ist, eine solche einheitliche Handlung zu finden (z.B. durch Deutung der Handlungsmotive) oder zu erfinden, steht wohl außer Frage. Nach Aristoteles muss man bei der Auswahl aus dem konfusen Ganzen (eines wirklichen oder fiktiven) geschichtlichen Geschehens auch das Verhältnis eines Allgemeinen zum Einzelnen beachten. Der zentrale Satz aus dem 9. Kapitel der Poetik lautet: „Die Dichtung stellt mehr Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar. Das Allgemeine ist (ergibt sich aus der Antwort auf die Frage): Dem Wiebeschaffenen kommt wahrscheinlich oder notwendig zu, Wiebeschaffenes zu sagen oder zu tun (1451b8–9)?“ Anders als es eine lange, durch die Hellenismusrezeption der Neuzeit beeinflusste Auslegungstradition glaubte, verlangt Aristoteles hier nicht, ein Dichter solle sich mit den Wahrscheinlichkeiten des menschlichen Lebens, mit den universal patterns of human behaviour beschäftigen, sondern er dringt auf die Beachtung eines subjektiven Verhältnisses: Das, was jemand sagt oder tut, soll mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Folge seiner inneren ‚Beschaffenheit‘, d.h. seines Charakters sein. Weshalb Aristoteles diese innere ‚Beschaffenheit‘ ein Allgemeines nennt, kann man daran erkennen, dass er den Charakter auch ein ‚Mögliches‘ nennt (1451a36–

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38). ‚Möglich‘ ist etwas für Aristoteles in zweifachem Sinn. Er erklärt diesen Unterschied am Beispiel, wie man Grammatik oder eine Sprache lernt. Wer eine Sprache lernen will, muss über die Möglichkeit verfügen, sie zu erlernen. Wenn er sie aber erlernt hat, verfügt er über das Vermögen, das gesamte Arsenal der erlernten Möglichkeiten zu gebrauchen. Dieses Arsenal an Möglichkeiten ist für den Sprachkundigen das Allgemeine, das ihn befähigt, es in beliebigen Einzelfällen anzuwenden.14 Analog ist es beim Charakter eines Menschen. Jeder Mensch verfügt über eine Reihe von Vermögen, – zu gehen, zu sprechen, Musik zu treiben usw. Unter dem Aspekt, dass sie für den Menschen mit Lust oder Unlust besetzt sind, gehören sie zu seinen Handlungsmöglichkeiten. Wer diese so ausgebildet hat, dass aus den (noch abstrakt allgemeinen) Fähigkeiten feste Haltungen (Hexeis) geworden sind, hat einen Charakter. Diese festen Haltungen bestehen für Aristoteles nicht in einer Ansammlung allgemeiner Maximen: ‚halte tapfer stand‘, ‚sei aufrichtig‘, ‚sei mitfühlend‘ usw., sondern in einem Arsenal erworbener Möglichkeiten, durch die man über konkrete Erfahrung verfügt, wie man im Kampf oder im politischen Leben stand hält, wie man Mitleidwürdiges erkennt und sich helfend engagiert usw. Um dieses Allgemeine zu ermitteln, genügt nach Aristoteles weder eine methodisch reflektierte noch eine aus der Lebenspraxis kommende ‚Beobachtung‘ von Eigenschaften, die man einem Charakter zuschreiben kann. Natürlich ist es richtig und möglich, von Achill festzustellen und zu sagen, er sei hilfsbereit, mitleidig, gerechtigkeitsempfindlich, jähzornig, tapfer, manchmal auch wehleidig, unbeugsam, aber auch versöhnlich usw. Erstaunlicherweise hält Aristoteles eine solche Weise der Charakterisierung für unpoetisch und hebt Homer aus der Menge der übrigen Dichter heraus, weil er ganz anders verfahre (Poetik 1460a5–11). Dem Verständnis, weshalb Aristoteles diese Art des vor allem für den auktorialen Erzähler typischen Verfahrens für unpoetisch hält, kann man sich nähern, wenn man seinen eben diskutierten Möglichkeitsbegriff in Rechnung stellt. Ich greife noch einmal zum Beispiel dessen, der eine Sprache erlernt hat und deshalb ‚allgemein‘ über die ausgebildeten und in diesem Sinn auch ‚wirklichen‘ Möglichkeiten verfügt, eine Sprache zu sprechen. Wenn man man dieses Allgemeine darstellen will, kann man es auch in begrifflich allgemeiner Weise tun, z. B. durch eine allgemeine Beschreibung der einzelnen Kompetenzen, über die der Sprecher verfügt: ‚Er hat eine umfassende Kenntnis des Wortschatzes, beherrscht die Kasuslehre, den Syntaxbau, den Konjunktivgebrauch‘ usw. Aber auch wenn man diese Beschreibung in anschaulicher und metaphernreicher

14 Vgl. Aristoteles, De anima, 417a21–b26; vgl. dazu Wolfgang Bernard, Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988, S. 54–68.

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‚poetischer‘ Sprache gibt, bleibt sie abstrakt. Dazu kommt, dass man dem Berichterstatter glauben muss, dass seine allgemeinen Urteile auch auf den Sprachkundigen zutreffen (das ist das Grundproblem des auktorialen Erzählers). Ganz anders ist es, wenn man jemanden in dieser fremden Sprache sprechen lässt. Jemand, der selbst ein erfahrener Kenner dieser Sprache ist, kann über eine nur zufällig beobachtete Anwendung einzelner Kompetenzen hinaus einen größeren Text oder eine zusammenhängende Sequenz von Texten ‚erfinden‘, in denen die besondere Beherrschung dieser Sprache dieses bestimmten Sprechers an solchen Fällen dokumentiert wird, in denen sie in eigentümlicher Weise zum Ausdruck kommt: seine differenzierte, subtile Wortwahl, der Periodenbau, seine Konjunktivbeherrschung usw. Ein Leser dieses Textes wird durch die Art seiner Zusammenstellung über eben diese allgemeine Sprachbeherrschung dieser Einzelperson unmittelbar unterrichtet: über den Wortschatz, den Periodenbau usw. Er wird aber nicht nur darüber unterrichtet, er wird auf zuverlässigere und glaubwürdigere Weise darüber unterrichtet als durch einen auktorialen Berichterstatter. Denn er hat zur Grundlage seines Urteils die konkrete Verwirklichung der allgemeinen Sprachkompetenz des Sprechers selbst, er muss sich nicht mit Behauptungen über ihre Qualität zufrieden geben. Gegenüber einem heute verbreiteten Allgemeinbegriff hat diese Darstellungsweise zwei Besonderheiten: 1. das Allgemeine ist eine Summe von Möglichkeiten, im Fall des Sprachkundigen: genau die Summe seiner (individuellen) Sprachkompetenzen, 2. dieses Allgemeine wird nicht zureichend in allgemeinen Zuschreibungen erfasst, sondern in seiner je konkreten Verwirklichung. Die Besonderheit dieses ‚poetischen‘ Verfahrens lässt sich bei Homer durchgängig nachweisen und noch genauer konturieren. Zwei Beispiele: In der Ilias schickt Zeus Agamemnon, der sich gebrüstet hatte, er brauche Achill gar nicht, er werde von Zeus selbst geehrt und unterstützt, einen Traum,15 der ihm mitteilt, Zeus, der auch aus der Ferne sich große Sorgen um ihn mache und mit ihm mitfühle, sichere ihm einen schnellen Sieg zu, wenn er gleich mit dem ganzen Heer ausrücke (Ilias 2, 1–34). Wie der Leser weiß, hat Zeus Thetis,

15 Zum Traum Agamemnons vgl. die wichtige Studie von Joachim Latacz, „Funktionen des Traums in der antiken Literatur“, in: Fritz Graf/Jürgen von Ungern-Sternberg/Arbogast Schmitt (Hrsg.), Erschließung der Antike. Kleine Schriften zur Literatur der Griechen und Römer, Stuttgart, Leipzig 1994, S. 447–467; vgl. auch Arbogast Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers, Stuttgart 1990 (Abh. der Mainzer Akademie der Wissenschaften, 5/1990), S. 85–89.

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der Mutter Achills, zugesichert, er werde dafür sorgen, dass Agamemnon durch Verluste im Kampf erkenne, wie sehr er Achill entehrt habe (Ilias 1, 493–530). Ein auktorialer Erzähler würde seinen Leser an dieses Versprechen (die sogenannte Diós boulé) erinnern und ihm erklären, dass Zeus Agamemnon in Erfüllung dieses Versprechens täuscht. Vor allem aber würden wir von einem Erzähler erwarten, dass er uns einen Blick ins Innere Agamemnons gibt und so verstehbar macht, weshalb Agamemnon auf diese Täuschung, die alle Wahrscheinlichkeit gegen sich hat, hereinfällt. Bei Homer ist es anders. Nach einer ganz kurzen kommentierenden Feststellung, dass Agamemnons Hoffnung, der Traum werde sich erfüllen, naiv ist (2, 35–38), beschreibt er, wie Agamemnon sich ankleidet, genauer: wie er sich in die feinsten, neuesten, wertvollsten Gewänder kleidet und zusammen mit allen Insignien seiner königlichen Macht vor seinen Ältestenrat tritt und von der Siegzusage des Zeus berichtet (2, 41–72).16 Für den flüchtigen Leser sieht diese Beschreibung so aus, als ob Homer einfach der Anschauung folgend den objektiven Vorgang, wie Agamemnon aufsteht, sich ankleidet usw., wiedergebe. Aber man erfährt kaum etwas über das Aussehen der Gewänder und Insignien, Homer beschränkt sich auf Adjektive, die ihren hohen Wert und ihre Prächtigkeit bezeichnen: weich, schön, neu gewirkt, glänzend, silbern, ererbt, unvergänglich usw. Auf die Bedeutung dieser Attribute weist die ‚Eröffnung‘ dieser Ankleideszene hin: Agamemnon erhebt sich (vom Schlaf) „umflossen von der göttlichen Stimme“ (2, 41). Es ist kaum zweifelhaft: Homer teilt keinen objektiven Vorgang mit, sondern stellt einen Agamemnon ‚vor Augen‘, der dadurch, dass er sich unmittelbar nach dem Traum mit allen Attributen seiner von Zeus gewährten königlichen Macht ausstattet, demonstriert, dass er dem Traum ohne nachzudenken glaubt. Er fühlt sich von Zeus selbst ausgezeichnet und in seiner Überzeugung bestärkt, er brauche Achill gar nicht. Nicht das der Anschauung Vorliegende ist das Maß dieser Beschreibung, sondern das Innere Agamemnons, das Homer in seiner genau zu diesem passenden, von ihm verursachten Äußerung darstellt und dadurch begreifbar macht. Diese Art der Darstellung greift zugleich über das der Anschauung Präsente hinaus, weil sie eine Verbindung herstellt zwischen der hochmütigen Erniedrigung Achills durch Agamemnon im Streit des ersten Buches, auf die sie zurückverweist, und der folgenden Heeresschau (An jenem Tag, so berichtet Homer, habe Zeus ihn göttergleich und wie einen Stier, der aus der ganzen Herde heraus16 Zum Folgenden vgl. Arbogast Schmitt, „Anschauung und Anschaulichkeit, in der Erkenntnisund Literaturtheorie bei Aristoteles“, in: Gyburg Radke-Uhlmann/Ders. (Hrsg.), Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte, Berlin, Boston 2011 (Colloquium Rauricum, 11), S. 91–151, hier S. 141–147.

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sticht, erscheinen lassen, 2, 477–483), mit der die Wende von Agamemnons Verblendung (Ate, subjektiv) in sein ‚Unheil‘ (Ate, objektiv) beginnt. Um diese Charakterisierung durch eine genau zu einem bestimmten inneren Zustand passende Ausdrucks- und Äußerungsweise noch etwas zu konturieren, führe ich noch ein signifikantes Beispiel an: Bereits nach dem zweiten Kampftag steht Agamemnon weinend vor seinem Heer und muss zu Achill dessen beste Freunde schicken, weil ohne ihn die Schlacht schon verloren scheint. Die Freunde finden Achill, wie er im Zelt sitzt und zur Laute (Phorminx) von ruhmreichen Taten der Helden (9, 185–189) singt. Trotz überzeugender Reden müssen die Freunde unverrichteter Dinge zurückkehren. Achill scheint unverändert in seinem Groll zu verharren. Aber Homer berichtet nach ihrem Weggang nicht von einem Achill, der wieder in seinem Zelt sitzt und singt, sondern der auf dem Deck seines Schiffes steht und auf „die harten Kampfmühen und den tränenbringenden Angriff (sc. auf fast alle großen Helden, sogar auf Aias)“ hinsieht und „eilig“ seinen Freund Patroklos herbeiruft, damit er sich genauer kundig macht, denn „ihre Not steigert sich, dass sie nicht mehr ertragbar ist“ (11, 599–615). Als dieser mit schlimmsten Nachrichten zurückkommt, lässt er sich überreden, seine Rüstung Patroklos zu geben und ihn damit den Freunden zu Hilfe zu schicken (16, 1–100). Er habe, so betont er jetzt, nicht unablässig zürnen wollen. Da er aber, verbittert über die Entehrung, geschworen habe, erst wenn der Kampf zu seinen Schiffe gelange, wieder einzugreifen (16, 60–65), solle Patroklos „mit übermächtiger Kraft“ sich auf die Feinde stürzen, um die schlimmste Not abzuwehren (16, 80–83). Auch hier kommentiert Homer das Geschehen nicht und informiert den Leser nicht darüber, wie es in Achill aussieht, etwa dass er trotz seiner Ablehnung der Freundesbitten innerlich nicht unbewegt von ihrer Not war, dass er ihnen eigentlich helfen wollte, dass er aber immer noch die Entehrung durch Agamemnon nicht überwunden habe (16, 52–60) und deshalb den letzten Schritt noch nicht tun konnte. Homer bringt diesen inneren Zustand Achills schon gar nicht auf Begriffe. Er spricht nicht von innerer Zerissenheit, von Mitgefühl und Anteilnahme auf der einen und von Verbitterung und Verhärtung auf der anderen Seite, und dergleichen mehr. Dennoch weiß der Leser über diesen inneren Zustand Achills Bescheid, und er weiß es sogar richtiger und glaubwürdiger als durch diese Beschreibungen von Innerlichkeit. Der Leser hat nicht einen Mann, der auf einem Schiff steht, vor Augen, sondern einen an der Not seiner Freunde Anteil nehmenden Achill und er erfährt von ihm selbst, wie stark und in welcher Weise und von welchen Ereignissen bewegt er Anteil nimmt (16, 1–100). Das heißt: Die scheinbar nur objektive Beschreibung Homers bringt mehr als die bloße Benennung von Gefühlen wie Mitleid, Anteilnahme usw. zum Ausdruck, sie zeigt die ganz individuelle und in dieser besonderen Situation einmalige Gefühlsmischung in Achill.

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Auch in dieser Szene bedeutet die Art der Darstellung, die die bloße Präsenz der Anschauung überwindet, dass der Leser den gegenwärtigen Augenblick mit dem früheren und späteren Handeln Achills verbinden soll. Die Schilderung eines zuerst im Zelt für sich singenden und dann nach den Freunden Ausschau haltenden Achill offenbart schon durch ihre markante Bildkraft die Zusammengehörigkeit beider Szenen. Die Beschäftigung mit großen Heldentaten, zurückgezogen im eigenen Zelt, weist zugleich zurück bis ins erste Buch, in dem gleich nach seinem Streit mit Agamemnon von Achill gesagt wird, er habe, bei den Schiffen sitzend, sein Herz aufgerieben vor Sehnsucht nach Teilnahme am Kampf (1, 488–492). Der Blick vom Schiff auf die Not der Freunde weist zugleich voraus auf die Hinwendung zur aktiven Teilnahme und Mithilfe beim Kampf. Die beiden Beispiele reichen vielleicht hin, um ein deutlicheres Bild davon zu gewinnen, was für Aristoteles Mimesis von Handlung ist. Offenbar sucht er eine Darstellung, bei der unmittelbar im dargestellten Einzelnen selbst ein Allgemeines präsent ist, und zwar ohne dass dieses Allgemeine in irgendeiner Weise von diesem Einzelnen abgehoben oder abstrahiert wird, und auch ohne dass es als Beschreibung des Einzelnen ausdrücklich gemacht und zur Erklärung des Einzelnen benutzt wird. Die arabischen Kommentare zur Poetik17 kennen diese besondere Art der Präsenz des Allgemeinen im Sinn der Poetik und grenzen es gegen andere Formen des Allgemeinen, die man bei Aristoteles unterscheiden müsse, ab. Sie folgen in dieser Auslegung der spätantiken Aristoteles-Kommentierung, die Übertragung auf die Poetik ist aber eine Besonderheit der arabischen Poetik-Kommentare. Denn nur bei Ihnen ist die Poetik in einer eigenen Kommentierung überliefert. Die Hauptformen des Allgemeinen sind in dieser Erklärung: 1. das apodeiktische oder demonstrative Allgemeine. Dieses Allgemeine liegt vor, wenn man von etwas zeigen kann, dass es einer Sache von ihr selbst her, als ihr selbst und auch nur ihr selbst zukommt, so dass jedes Exemplar, das unter ihren Begriff fällt, von ihm bestimmt ist. 2. das dialektische Allgemeine. Es ist ein Erfahrungsallgemeines und umfasst alles, was von den meisten, von vielen oder von den Besten über die Lebenswirklichkeit gedacht wird. Ein solches Allgemeine kommt vielem Einzelnen zu, aber nicht allem und nicht in jeder Hinsicht. 3. das rhetorische Allgemeine. Im Unterschied zu den in 1. und 2. genannten Formen des Allgemeinen wird dieses Allgemeine nicht in durchgeführten Syllogismen gewonnen, sondern auf ‚enthymetische‘ oder ‚paradigmatische‘ Weise. Gemeint ist in beiden Fällen ein dem jeweiligen Einzelnen sehr nahe

17 Vgl. zum Folgenden Aristoteles, Poetik, S. 92–104.

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liegendes Allgemeines, das nicht aus höheren Formen des Allgemeinen abgeleitet oder auf sie zurückgeführt wird. So sagt etwa Medea: ‚Ihr hasst mich, weil ich eine kluge Frau bin.‘ Da sie selbst als besonders klug gilt, ist die ‚Beweisprämisse‘ ‚kluge Frauen sind verhasst‘ nur eine Art Verallgemeinerung einer eigenen individuellen Eigenschaft, sie wird nicht aus noch weiteren Prämissen über das Wesen der Frau abgeleitet. Das Beispiel zeigt aber sehr gut, dass es sinnvoll ist, unterschiedliche Grade von Allgemeinheit anzunehmen und zu beachten. 4. das poetische Allgemeine. Von diesem Allgemeinen sagen die arabischen Kommentare, es werde überhaupt nicht mehr vom Einzelnen abgehoben und für sich selbst artikuliert, sondern muss aus dem Einzelnen selbst, in dem es präsent ist, verstanden werden, so wie man eine Metapher verstehe.18 Wenn etwa jemand zu einem Schiedsrichter sagt: ‚Du bist mein Altar‘, dann ist das Allgemeine, das man verstehen muss, um diesen Satz zu verstehen, in der Metapher ‚Altar‘ nur noch implizit oder ‚latent‘ präsent. Nur wer weiß und im konkreten Fall auch begreift, dass ein Altar Schutz vor ungerechter Verfolgung bietet, kann den Sinn dieser Metapher erschließen. Ausformuliert würde der Syllogismus lauten: ‚Ein Altar bietet Schutz vor ungerechter Verfolgung. Vor ungerechter Verfolgung bietet mir ein Schiedsrichter Schutz. Ein Schiedsrichter ist mein Altar.‘ Man kann sich fragen, weshalb man überhaupt eine Metapher benutzt, wenn man ihren Sinn auch in einem Syllogismus erschließen und also auch in seiner allgemeinen Bedeutung aussprechen könnte. Die Antwort auf diese Frage ist für das aristotelische Literaturverständnis von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie auf eine sinnvolle Differenzierung hinweist, die in neueren Diskussionen oft nicht beachtet wird. Das Besondere der Metapher scheint vielen darin zu liegen, dass sie in anschaulicher, bildlicher Ganzheit ein ‚Mehr‘ an Bedeutung bietet, das den auf das markant Gemeinsame reduzierten Begriff überschreitet und in gewisser Weise vom Begriff uneinholbar ist. Der Unterschied von Metapher und Begriff ist in dieser Hinsicht analog zum Unterschied zwischen den Elementen und dem Ganzen. Diese Unterscheidung ist von Aristoteles her gesehen aber zu pauschal und ambivalent. Zum Ganzen eines Altars gehört z.B. auch, dass auf ihm Opfer dargebracht werden, dass dabei vieles für herumlungernde Bettler abfällt, dass er das liturgische Zentrum einer Gemeinde bildet, und vieles mehr. Für das Ver-

18 Zur Bedeutung der Metapher für das aristotelische Dichtungsverständnis vgl. Aristoteles, Poetik, S. 626–639.

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ständnis der Metapher vom Schiedsrichter als Altar bringen diese Aspekte des Ganzen ‚Altar‘ aber nicht nur nichts hinzu, sie lenken vom gemeinten Sinn ab, ja verstellen oder verkehren ihn sogar. Im Unterschied zu diesem mehr oder weniger sachfremdem Überschuss an Sinn, den das Ganze ‚Altar‘ gegenüber dem Begriff ‚Schutz vor Verfolgung‘ bietet, hat der in der Metapher implizit oder latent enthaltene Schluss die Funktion einer Lenkung der Aufmerksamkeit auf genau den Überschuss an Sinn, um dessentwillen die Metapher überhaupt (und nicht der bloße Begriff) gewählt wurde. Denn einen Schiedsrichter einen Altar zu nennen, weil er Schutz vor ungerechter Verfolgung bietet, heißt, ihm die genau zu diesem Begriff gehörenden überschießenden Aspekte zuzuweisen, etwa dass dieser Schutz etwas Heiliges ist, dass er unantastbar ist, dass er durch einen göttlichen Willen sanktioniert ist, dass er von allen beachtet wird, dass seine Missachtung einem Frevel gleichkommt, usw. Auch dieser Überschuss ist in gewissem Sinn unausschöpfbar und geht weit über den abstrakt symbolischen Begriff hinaus. Er ist aber nicht beliebig, sondern hat gerade durch die Orientierung am latent gemeinten Begriff ein Differenzierungs- und Erschließungspotential. Die Fruchtbarkeit dieses aristotelischen Metaphernverständnisses für das Verstehen von Dichtung wird sichtbar, wenn man die Gemeinsamkeit zwischen der Formulierung einer Metapher und der Darstellung einer Handlung (im aristotelischen Sinn) erfasst. Wie die Beispiele der Beschreibung der Handlungen Agamemnons und Achills durch Homer gezeigt haben, geht es auch in ihnen nicht einfach und nur um das, was der Anschauung unmittelbar vor Augen steht. Wer bei Homer liest, dass Achill nach dem Weggang seiner Freunde auf dem Deck seines Schiffes steht und die heftigen Kämpfe, in die seine Kameraden verwickelt sind, beobachtet, hat nicht irgendeinen Krieger auf einem Beobachtungsposten vor Augen, sondern er kann und soll erschließen, dass Achill, der nicht mehr in seinem Zelt sitzt und auf der Laute spielt, wieder Anteil und großen Anteil an der Not seiner Freunde nimmt. In gewissem Sinn ist der auf seinem Schiff stehende Achill also eine Metapher, eine Metapher für einen innerlich bewegten, zerrissenen Achill. Wie die Metapher schießt auch die (scheinbar bloße) Handlungsdarstellung an Sinn über eine mögliche begriffliche Beschreibung hinaus. Man erfährt mehr durch die konkrete Schilderung der äußeren und inneren Aktivität Achills über seinen augenblicklichen Zustand, als es eine wie immer poetisch ausgeschmückte Beschreibung in allgemeinen Aussagen über diesen Zustand leisten könnte. Natürlich braucht diese Art der Darstellung den intelligenten Leser, d.h. den Leser, der die latente Präsenz des Allgemeinen (im Fall Achills: die Handlungsmöglichkeiten, die er sich erworben hat und über die er von sich aus verfügt) in der einzelnen Handlung auch zu erfassen vermag. Denn es ist möglich, Agamemnons ‚Ankleideszene‘ tatsächlich nur als Ankleideszene zu verstehen. Oder etwa

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bei Achill: nicht zu begreifen, dass er trotz der äußerlich entschiedenen Ablehnung der Bitten seiner Freunde innerlich bereits fast schon umgestimmt ist. Oder, um noch auf ein Beispiel aus der Odyssee zu verweisen: Penelope hat, so berichtet Homer im 23. Gesang, von ihrem Sohn und ihrer alten Dienerin Eurykleia erfahren, dass Odysseus zurückgekehrt ist und alle ihre Freier besiegt hat. Als sie selbst ihrem Mann begegnet, verhält sie sich merkwürdig zurückhaltend, obwohl sie ihm versichert, sie erinnere sich sehr gut an sein Aussehen und erkenne ihn (23, 174–176). Als sie schließlich die erste Nacht gemeinsam verbringen wollen, gibt sie ihrer Magd die Anweisung, das Bett draußen in der Halle aufzustellen und schön herzurichten (23, 176–181). Dieser Auftrag erbost Odysseus aufs Heftigste, denn er hatte das Bett so gebaut, dass es nicht von der Stelle bewegt werden konnte (23, 183–204). Über diesen Zorn des Odysseus aber freut sich Penelope, fällt ihm weinend um den Hals und bittet ihn um Nachsicht (23, 205–30). So viele hätten versucht, sich bei ihr als Odysseus auszugeben und sie zu täuschen (23, 216 f.). Nun freut sich auch Odysseus und weint gemeinsam mit ihr (23, 231–232). Obwohl der innere Grund für Penelopes Verhalten am Tag zu liegen scheint, gibt es nicht wenige Literaturwissenschaftler, die darüber Spekulationen anstellen, etwa, ob Penelope, die seit drei Jahren gewohnt sei, ständig von Freiern umworben zu werden, einen Anlass provoziere, um auch von Odysseus mehr umworben zu werden, oder ob sie ihn eifersüchtig habe machen wollen durch den Verdacht, sein Bett sei auch schon von anderen mitbenutzt worden, usw. In gewissem Sinn ist eine Darstellung wie die homerische solchen Spekulationen hilflos ausgeliefert. Denn es gibt keine ausdrücklichen Formulierungen, auf die sich die Interpretation stützen könnte. Ein auktorialer Erzähler, der das Verhalten Penelopes kommentieren würde, könnte etwa feststellen, sie habe Odysseus zeigen wollen, dass sie sich wirklich nur ihm hingeben möchte und keinem anderen. Obwohl sich eine solche Feststellung bei Homer nicht findet, ist die Interpretation keineswegs auf die bloße Intuition des Lesers angewiesen. Das liegt vor allem an der Art der Handlungsdarstellung selbst. Denn in einer solchen Darstellung haben alle Teile der Handlung untereinander und zum Ganzen ein funktionales Verhältnis. Was es bedeutet, dass Achill auf dem Deck seines Schiffes steht, kann man aus dem Verhältnis dieser Handlung zu den anderen Handlungsteilen Achills und zur Rolle dieser Teile für das Handlungsziel im Ganzen, das Achill verfolgt, erschließen. In einem engeren Sinn steht diese Handlung im Gegensatz dazu, dass er eben noch in seinem Zelt gesessen und überhaupt keinen Anteil am Schicksal seiner Kameraden genommen hat, in einem weiteren bezieht es sich zugleich zurück bis auf den Anlass dieser Abwendung vom gemeinsamen Kampf und verweist auf die Tendenz zur neuen Hinwendung zur gemeinsamen Sache usw. Analog weiß man von Penelope aus vielen Indizien, dass sie – genau wie ihr Mann – seit zwanzig Jahren nur auf den einen, ihr kongenialen Odysseus wartet.  

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Man weiß, dass sie gerade erst mit einer neuen List sich der Zudringlichkeit der Freier erfolgreich erwehrt hat. Dem ihr noch unbekannten Odysseus hat sie von ihrem Plan berichtet, die Freier sich an seinem Bogen (den nur er spannen konnte) erproben zu lassen (21, 68–79), sie müsse ja den Besten, den sie dann heiraten werde, ermitteln, und er hat die List durchschaut und ihr zugeraten (19, 582–587). Er selbst hat gerade sogar Athene zu täuschen versucht, um seine Rückkehr zu Penelope auf keinen Fall zu gefährden. Er denkt und verhält sich also wie Penelope und versteht, dass auch für sie das höchste Gute ihre ungefährdete und sichere Vereinigung ist: Sie will auf keinen Fall mit einem anderen zusammensein und demonstriert ihm das durch diese letzte Prüfung (auf die sie zuvor auch schon Telemach hingewiesen hatte). Dadurch, dass eine Handlung in allen ihren Teilen Ausdruck ein und derselben subjektiven Zielsetzung ist und sich in ihrer Durchführung auf die (konkrete und ‚gefüllte‘) ‚Beschaffenheit‘ des Handelnden stützt, ermöglicht ihre Darstellung dem mitdenkenden Leser, Anfang, Mitte und Ende und damit Grund und Folge zu begreifen und dabei auch aus dem Verhältnis der Teile zueinander Hilfe für das Verständnis des jeweils Einzelnen zu gewinnen. Die besondere Darstellungsweise, die man bei Homer beobachten kann und die von Aristoteles auf den Begriff gebracht ist, bringt den weiteren Gewinn, dass jedes einzelne Phänomen als direkter Ausdruck einer inneren Aktivität verstanden werden kann. Der Leser Homers wird nicht mit einem Fluss der Erscheinungen konfrontiert, der allein durch Raum und Zeit geordnet an ihm vorüberzieht, sondern er findet eine konzentrierte Auswahl vor, deren Kriterium die Wahrscheinlichkeit des Verhältnisses von Charakter und Handlung ist. Wie die Metapher hat sie ihre Prägnanz darin, dass sie in sich selbst etwas enthält, was sie überschreitet. Diese Bevorzugung der konkreten Präsenz von etwas Innerem im Äußeren durch Aristoteles kann man noch etwas genauer dadurch begründen und erklären, dass man noch ein weiteres scheinbares Paradoxon seiner Erkenntnistheorie beachtet. Er ist nämlich überzeugt, dass das abstrakte Denken – wenn als ‚abstrakt‘ das gilt, was mehrerem Einzelnen gemeinsam ist – nicht ein Ergebnis erst einer nachträglichen Reflexion, sondern im Gegenteil das typische Produkt der Anschauung ist.19 Wer einen Wald sieht, sieht nicht zuerst Fichten, Eiben, Eichen, sondern Bäume. Wer fremde Menschen sieht, fremde Musik hört (usw.), nimmt zuerst nur markante, ihnen allen bzw. allen Stücken gemeinsame Merkmale wahr, erst durch genaueres Prüfen und Unterscheiden erfasst man die individuel-

19 Vgl. dazu Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, 2. Aufl., Stuttgart, Weimar 2008, S. 315–324.

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len Unterschiede der verschiedenen Menschen oder Musikstücke. Hans Jürgen Molsberger hat in einer interessanten Studie zur altlateinischen Bühnensprache gezeigt, dass es in der römischen Komödie gerade die ‚einfachen Leute‘ sind, die eine abstrakte, ja hoch abstrakte Sprache sprechen, während die Gebildeteren sich konkreter ausdrücken.20 So ist auch nur ein vielfach erfahrener Kenner einer Sprache in der Lage, einem Sprecher solche Worte und Sätze in den Mund zu legen, dass daran seine Art der Beherrschung dieser Sprache erkennbar wird. Es ist auch keine Frage, dass dies eine schwierigere und komplexere Aufgabe ist, als einige allgemeine Prädikate zu finden, die die Sprache eines Menschen charakterisieren. Für den Dichter, der menschliches Handeln darstellen will, stellt sich eine analoge Aufgabe. Er muss einen erfahrenen Blick dafür haben, welche beobachtbaren bzw. ermittelbaren Verhaltensweisen handelnder Personen genau diejenigen sind, die wahrscheinliche oder notwendige Verwirklichungsformen des eigentümlichen Arsenals an Verhaltensmöglichkeiten dieser Personen sind. Diese Aufgabe ist nicht etwa eine Vorform einer abstrakten Beschreibung, sie ist ihre gekonnte Optimierung. Man kann das noch durch die Reflexion ergänzen, dass bereits die Benennung eines Gefühls eine Abstraktion ist. Die scheinbar bloße Feststellung, ‚ich bin zornig‘, ‚beschämt‘, ‚verliebt‘, bezeichnet nicht etwas der konkreten Erfahrung Gegebenes. Man trifft nicht auf den Zorn, die Scham, die Liebe eines Menschen, sondern nur auf jemanden, der in einer bestimmten inneren Aktivität ist. So ruft sich z.B. Medea in der Medea des Euripides in Erinnerung, was sie alles für Jason getan habe, welche Schwüre er ihr geschworen habe, wie sehr sie durch seine Untreue um ihr ganzes Lebensglück gebracht ist, usw. Die Feststellung, dass sie über die Untreue Jasons heftig erzürnt ist, macht Euripides nicht und muss sie nicht machen, weil man durch die unmittelbar konkrete Darstellung der Aktivität, die Medeas Zorn hervorbringt und ausmacht, besser und differenzierter informiert ist. Man weiß nicht nur, dass sie voll Zorn ist, man weiß, was für einen Zorn sie hat, in welchem Ausmaß und welcher Intensität (usw.). Die von Aristoteles aufgedeckte Schwäche des praedicabile de pluribus, dessen, was man von mehrerem prädizieren kann und deshalb allgemein nennt, muss auch von einem gegenwärtigen Denken nicht nur als etwas Historisches betrachtet werden. Denn die Vorstellung, jeder rationale Zugang zur Kunst führe notwendig zu einer Reduzierung der Fülle der konkreten, individuellen Ganzheit

20 Vgl. Hans Jürgen Molsberger, Abstrakter Ausdruck im Altlatein: Form und dramatische Funktion abstrakt-begrifflichen Sprechens in der altlateinischen Bühnensprache, Frankfurt a.M. 1989 (Athenaeums Monografien, Altertumswissenschaft, Beiträge zur klassischen Philologie, 193).

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auf abstrakte Gemeinsamkeiten, legt offenbar einen Begriff von Begriff zugrunde, den Aristoteles ‚anfänglich‘ nennen würde. Diese Verdächtigung des Begriffs ist nur sinnvoll und nur dann notwendig, wenn der „Begriff […] eine Vorstellung dessen [ist], was mehreren Objecten gemein ist“.21 Diese Definition ist nach Aristoteles noch ganz ungenügend. Eine solche Merkmalsammlung,22 die man in einen Begriff aufnimmt, garantiert nicht einmal, dass sie überhaupt zu einem Begriff, etwa dem Begriff des Menschen gehört. So sind z.B. markante Merkmale des Menschen, dass er aufrecht steht und sich bewegt. Ein aufrecht Stehendes, sich Bewegendes kann aber (wie es manchen in der Dunkelheit zu sein scheint) ebenso ein Baum wie ein Mensch sein. Solche Begriffe nennt Aristoteles daher ‚eher konfus‘. Zu einem Allgemeinen, das diesen Namen verdient, kommt man nach ihm nur durch Unterscheidung: Was macht aus, dass alles, was man von etwas in Erfahrung bringt, auch genau Einem, Einem und Demselben zukommt?23 Ein Beispiel für eine solche Art der Unterscheidung, durch die aus bloßer Anschauung, die dem Fluss der Erscheinungen folgt, etwas einheitlich Zusammengehöriges entsteht, das befähigt, es in allen seinen – genau und nur zu ihm gehörenden Eigentümlichkeiten – als die eine Mitte zu erkennen, die in allen ihren Verwirklichungen präsent ist, bietet für Aristoteles die an der Findung und Darstellung einer Handlung (in seinem Sinn) orientierte Dichtung. Dass in einer solchen Handlungsdarstellung jedes einzelne Teilmoment – vergleichbar der Metapher – über sich hinausweist, allerdings nicht auf einen beliebigen ‚Überschuss‘, sondern auf das im Begriff zwar nicht erschöpfend, aber immer wieder gezielt erfassbare Möglichkeitspotential eines Menschen, eröffnet auch dem verstehenden Literaturwissenschaftler einen dem Gegenstand angemessenen rationalen Zugang. Auch bei dieser Art von Zugang kann man einen methodologischen und einen praxeologischen Aspekt unterscheiden. Von einer gut komponierten Handlung sagt Aristoteles, dass sie Anfang, Mitte und Ende habe und deshalb wie ein Lebewesen ein einheitliches Ganzes bilde, bei dem man

21 Immanuel Kant, „Logik“, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 9, Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berlin 1968, S. 1–150, hier S. 91 (Anmerkung 1). 22 Vgl. ebd., S. 58: „Alle unsre Begriffe sind demnach Merkmale und alles Denken ist nichts anders als ein Vorstellen durch Merkmale.“ 23 Das allgemeine Verfahren, dieses von Aristoteles ‚primär‘ genannte Allgemeine zu erschließen, ist vor allem Gegenstand der sog. Zweiten Analytik. Zur Erklärung vgl. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, S. 407–415. Vgl. auch Ders., „Das Universalienproblem bei Aristoteles“, in: Ralf Georges Khoury (Hrsg.), Averroes (1126–1198) oder der Triumph des Rationalismus, Heidelberg 2002 (Internationales Symposium anlässlich des 800. Todestages des islamischen Philosophen, Heidelberg, 7.–11. Oktober 1998), S. 59–86.

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Arbogast Schmitt

keinen Teil umstellen, wegnehmen oder hinzufügen könnte, ohne dass auch das Ganze sich ändern würde (Poetik 1451a28–35;1459a17–30). Von den vielen möglichen Perspektiven, von denen her man Ordnung in die Darstellung einer Handlung bringen kann, bietet das, was Aristoteles die systasis oder synthesis ton pragmaton nennt, eine dem Gegenstand selbst angemessene Ordnungshinsicht.24 Denn eine Synthesis, die mit der Entwicklung einer Entscheidung einsetzt und damit endet, dass die gesuchte Lust erreicht oder verfehlt ist, und die sich auf genau die Handlungsschritte konzentriert, die nötig sind, damit dieser Weg durchschritten wird, hat eine formale Konsistenz der Teile untereinander und zum Ganzen. Sie folgen notwendig oder wahrscheinlich aufeinander und unterliegen in dieser Hinsicht dem ‚Gesetz‘ von Ursache und Wirkung, das methodisch erschlossen werden muss. Der metaphorische Aspekt der einzelnen Handlungsteile wie auch einer Handlung im Ganzen kann durch das methodisch gewonnene Ordnungsgerüst mit zugänglich werden, er braucht aber, wie Aristoteles formuliert, ein ‚Auge der Seele‘25, einen in der Wahrnehmung präsenten Intellekt, der bei einem scheinbar nur objektiv Gegebenen auf dessen inneres Potential aufmerksam und dadurch in der Entwicklung der Deutungsmöglichkeiten gleichsam fruchtbar wird. Dass dies nicht Sache einer bloß formalen Konsistenzherstellung, sondern einer geübten und erfahrenen Praxis ist, scheint klar.

24 Zu einer sachlich verwandten Auslegung der Aufgabe, die eine rational kontrollierbare Literaturinterpretation leisten muss, siehe Andreas Kablitz, Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur, Freiburg [u.a.] 2013, der mit einem anders geführten Begründungsduktus zu einem (partiell) ähnlichen Ergebnis gelangt. 25 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1143b14; vgl. dazu Arbogast Schmitt, „Phronesis – ‚eine andere Art des Erkennens‘“, in: Gyburg Radke-Uhlmann (Hrsg.), Phronesis – die Tugend der Geisteswissenschaften. Beiträge zur rationalen Methode in den Geisteswissenschaften, Heidelberg 2012 (Studien zu Literatur und Erkenntnis, 3), S. 31–81, v.a. S. 68–77.

Lutz Danneberg, Berlin

Das Sich-Hineinversetzen und der sensus auctoris et primorum lectorum Der Beitrag kontrafaktischer Imaginationen zur Ausbildung der hermeneutica sacra und profana im 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts Eine grundlegende Schwierigkeit von Untersuchungen zur Interpretationspraxis resultiert aus einer in zwei Richtungen wirksamen Unterdeterminiertheit: Allgemeine Maximen des Interpretierens wie beispielsweise das Sich-Hineinversetzen in den Autor oder den zeitgenössischen Leser sind zum einen vereinbar mit unterschiedlichen Interpretationspraktiken. Im Gegenzug gilt aber zum anderen auch, dass sich aus konkreten Interpretationspraktiken nicht ohne Hilfsannahmen auf die sie orientierenden Maximen schließen lässt. Das, was solche Maximen nahelegen, sind Vorstellungen hinsichtlich der Auszeichnung von Informationen, die für eine Interpretation als relevant und vor allem auch als nicht relevant erscheinen. Sie fungieren in diesem Sinn zunächst als heuristische Suchraumeinschränkungen, so sehr sie sich danach auch zur Bestätigung von Interpretationen nutzen lassen. Doch obgleich die Maximen in dieser Weise unterdeterminiert sind hinsichtlich der interpretatorischen Praxis und diese wieder hinsichtlich der Maximen, bilden sie nicht selten die einzige Quelle für die Rekonstruktion von Interpretationspraktiken. Mein im Folgenden ausgeführtes Beispiel soll zeigen, dass solche Selbstbeschreibungen für praxeologische Fragestellungen, wenn man sie mit großer Vorsicht und Genauigkeit analysiert, den Anschein inakzeptabler Auskünfte verlieren können.

I Sich-Hineinversetzen und Nachkonstruieren – zwei hermeneutische Maximen Für die Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert stellt sich die Maxime des Sich-Hineinversetzens in die Vergangenheit als ebenso selbstverständlich wie grundlegend dar. Gottfried Hermann, der nach Friedrich August Wolfs Tod neben August Boeckh in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den angesehensten Altphilologen zählte, formuliert in seiner Rezension der Edition einer antiken Tragödie als programmatische Maxime zur Textkritik lakonisch:

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Die Kunst der Kritik besteht darin, dass einem das, was nicht gesagt werden kann, gar nicht einfalle, sondern man sich so in den Geist und die Stimmung des Schriftstellers zu versetzen wisse, dass sich das, was er nothwendig sagen mußte, von selbst aufdrängt.1

Der Ausdruck ‚nothwendig‘ ist dabei zweifellos relativiert auf ein gegebenes Wissen samt einiger Maximen zur Rekonstruktion literarischer Denkmäler: Vor diesem Hintergrund erscheint es als nachvollziehbar, was ein Autor sagen musste (und so wird das erkennbar, was spätere Veränderungen oder Umbildungen sind). Ohne diesen Hintergrund erscheint die Maxime abstrus. In einer wortreicheren Formulierung, die das Sich-Hineinversetzen zu einer Verschmelzung zu steigern scheint, findet sich die Maxime etwa zur gleichen Zeit bei dem Theologen Leopold J. Rückert (1797–1871): Der Interpret des Paulus soll nehmlich, meiner Ueberzeugung nach, sich seines eigenen Ichs durchaus entledigen, und dagegen, so viel wie nur irgend möglich, die ganze Individualität des Apostels angezogen haben. Er soll nicht mit seinem Kopfe denken, nicht mit seinem Herzen empfinden, nicht von seinem Standpunkte aus betrachten, sondern ganz auf die Stufe treten, auf welcher der Apostel stand, nichts wissen, als was dieser wußte, keine Ansicht haben, welche er nicht hatte, keine Empfindung hegen, die ihm unbekannt war. […] Kurz er muß ganz Paulus zu seyn streben, […].2

Hermann bietet noch eine weitere Maxime für den Altphilologen: Nach Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf habe Hermann gefordert, „dass niemand einen griechischen dichter philologisch behandeln sollte, ohne in einem eigenen gedichte den nachweis zu liefern, dass er im stande ist, selbst in den formen seines dichters zu schreiben.“3 Wilamowitz-Moellendorf selbst hat das denn auch immer wieder praktiziert.4 Die Philologen der Zeit waren allerdings oftmals recht wortkarg bei der Formulierung allgemeiner hermeneutischer Maximen, von ihren Begründungen ganz zu schweigen.5 Beide Maximen erscheinen als ähnlich, wenn nicht sogar als

1 Gottfried Hermann, [Rez.] „Ad audiendas orationes etc. d. 6. m. April. 1832“, in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, 6/1832, 2, S. 28–44, hier S. 44. 2 Leopold J. Rückert, Commentar über den Brief Pauli an die Römer, Leipzig 1831, S. IX. 3 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, „Vorwort: was ist Übersetzen?“, in: Euripides Hippolytos. Griechisch und deutsch von U. von W.-M., Berlin 1891, S. 1–22, hier S. 22; in den späteren Wiederabdrucken ist der Text mitunter leicht verändert. 4 Aus dem Nachlass edierte Teile seiner lateinischen und griechischen Gedichte finden sich in Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Elegeia, mit einer Einführung von Fr. Hiller von Gaertringen, hrsg. v. Wolfgang Buchwald, Berlin 1938. 5 Vgl. Lutz Danneberg, „Altphilologie, Theologie und die Genealogie der Literaturwissenschaft“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3, Stuttgart, Weimar 2007, S. 3–25.

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gleich unter dem Gesichtspunkt des Sich-Hineinversetzens, wenn dies auch nicht heißen muss, dass beide in gleicher Weise begründet oder motiviert waren. Ich beginne mit der zweiten Maxime des Nachkonstruierens. Hinter ihr stehen spezielle Vorstellungen eines Nachkonstruierens als Ziel des Verstehens. Die „Aufgabe der Hermeneutik“ besteht nach Schleiermacher darin, „den inneren Hergang der Composition“,6 „den ganzen innern Verlauf der componirenden Thätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden“, „vom ersten Entwurf an bis zur letzten Ausführung“.7 Gelinge die Nachkonstruktion, so handle es sich um ein ‚richtiges‘ Verstehen, zumindest sei es die beste aller Versicherungen für die Richtigkeit der Interpretation. Schleiermacher spricht gelegentlich von der „beste[n] Probe der Nachahmung“.8 Deutlicher noch wird der Gedanke der Probe bei August Boeckh, der aufgrund seiner zahllosen Gespräche mit Schleiermacher einräumt, das „Eigene“ und das „Fremde“ seiner hermeneutischen Überlegungen nicht mehr unterscheiden zu können.9 Er bringt bündig zum Ausdruck, was Schleiermacher über den Probecharakter der Nachkonstruktion hätte sagen können. Bei ihm heißt es, formuliert als orientierendes Ideal: Wäre die Aufgabe [scil. die „individuelle Interpretation“] völlig lösbar, so müsste man das ganze Werk reproduzieren können und zwar mit Bewusstsein und Reflexion; dies wäre die endgültige Probe des individuellen Verständnisses. Hierzu wäre aber nöthig, dass man vollständig in eine fremde Individualität einginge, was nur approximativ zu erreichen ist.10

6 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik, nach den Handschriften neu hrsg. und eingel. v. Heinz Kimmerle, 2., verb. und erw. Aufl., Heidelberg 1974 [1829], S. 136. 7 Ebd., S. 138. 8 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. und eingel. v. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, S. 168: „Individuelle Anschauung ist nicht nur niemals erschöpft, sondern auch immer der Berichtigung fähig. Man sieht dies auch daran, daß die beste Probe ohnstreitig die Nachahmung ist. Da aber dieses so selten gelingt und die höhere Kritik noch immer Verwechselungen ausgesetzt ist, so müssen wir noch ziemlich weit von dem Ziel entfernt sein.“ Ausführlicher Lutz Danneberg, „Schleiermacher und die Hermeneutik“, in: Annette B. Baertschi/Colin G. King (Hrsg.), Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, Berlin 2009, S. 211–276. 9 Vgl. August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, Ernst Bratuschek (Hrsg.), Leipzig 1877, S. 75. Zu diesem und anderen Aspekten der Überlegungen Boeckhs Lutz Danneberg, „Kunst, Methode und Methodologie bei Boeckh“, in: Christiane Hackel/ Sabine Seifert (Hrsg.), August Boeckh – Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik, Berlin, New York 2013 (Schriftenreihe Berliner Intellektuelle um 1800, 3), S. 211–242. 10 Boeckh, Encyklopädie, S. 140. So bereits in August Boeckh, „Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher“ [1808], in: Ders., Gesammelte kleine Schriften, Bd. 7, Leipzig 1872, S. 1–38, hier S. 3: „[…] so dass man von ihm [scil. Schleiermacher] behaupten kann, was als die vollgültige Probe des Verstehens anzusehen ist, er würde ähnliche Gebilde haben schaffen können.“ Ferner Ders., „Einleitungsrede gehalten in der öffentlichen Sitzung […] zur Feier des

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Bei Boeckh kommt dieser Gedanke als Probe zudem zum Tragen,11 wenn er zu bestimmen versucht, was seiner Auffassung von Philologie überhaupt zugrunde liegt: also die Beziehung zwischen Philosophie und Philologie, den beiden Basisdisziplinen überhaupt, zwischen dem Erkennen und dem Wiedererkennen. Sowohl für die Beziehung der Philosophie zu den Naturwissenschaften als auch für die der Philologie zur Ethik bietet er die gleiche Formel: Es findet eine Auflösung des Einen in das Andere statt; da die empirische und philosophische Forschung den entgegengesetzten Gang nehmen und die eine da endet, wo die andere anfängt, so ist eine die Probe der anderen, wie Multiplication und Division.12

Die Äußerung erinnert an die ‚Nachkonstruktion‘ als Probe des richtigen Verstehens. Dazu passt denn auch, dass nach dem bei Boeckh angenommenen Verhältnis zwischen Erkennen und Wiedererkennen die Philologie „reconstructiv auf dasselbe gelangen“ muss, „worauf die Philosophie vom entgegengesetzten Verfahren aus gelangt“.13 Vollkommen klar ist dabei, dass mit „entgegengesetzt“ hier „umgekehrt“ gemeint ist. Schleiermacher und Boeckh sind freilich nicht die Einzigen, die die Vorstellung der Verbindung von ‚Nacherzeugen‘ und ‚Verstehen‘ vortragen. So schreibt Friedrich Schlegel: Um aus den Alten ins Moderne vollkommen übersetzen zu können, müßte der Übersetzer desselben so mächtig sein, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehen, daß ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte.14

Leibnizschen Jahrestages“ [1839], in: Ders., Kleine Schriften, Bd. 2, Leipzig 1839, S. 241–253, hier S. 246: „[…] daß also beide [Philosophie und Gelehrsamkeit] in ihrer höchsten Vollendung gedacht, die freilich vor der hand nur noch Ideal bleibt, von entgegengesetzten Ausghangspunkten in der Mitte zusammentreffen müssen, und jede von beiden die Probe der andern ist.“ 11 Vgl. auch August Boeckh, „Ueber die Wissenschaft, insbesondere ihr Verhältnis zum Praktischen und Positiven“ [1853], in: Kleine Schriften, Bd. 2, Leipzig 1839, S. 81–98, hier S. 84: „Mag nun das Erkennen von reinen Vernunftbegriffen herabsteigen zu dem sinnlich Wahrnehmbaren, oder von diesem zu Begriffen aufsteigen, so müssen beide Wege, bei richtigem Gang soweit jeder von beiden führt, von den entgegengesetzten Ausgangspunkten aus dieselben Ergebnisse liefern.“ 12 Boeckh, Encyklopädie, S. 18. 13 Ebd., S. 17. 14 Friedrich Schlegel, „Athenäums-Fragmente“ [1798], in: Kritische Ausgabe, Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), Abt. I, Bd. 2, Hans Eichner (Hrsg.), München u.a. 1967, S. 165–255, Nr. 393, hier S. 239.

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Lakonisch erklärt sein Bruder, das Verstehen der Kunst sei „nur eine schwächere Wiederholung ähnlicher Tätigkeiten, als die, durch welche ihre Werke hervorgebracht wurden!“15 Nach einer längeren Passage über das (schwierige) Verstehen von Autoren findet sich bei Fichte die Anweisung: […] und nach der Regel immerfort, so lange, bis die Sphäre der Unbestimmtheit und Unverständlichkeit ganz verschwunden und aufgegangen ist, im klaren Lichtpunkte; und ich das ganze Denksystem des Autors, vorwärts und rückwärts, in jeder beliebigen Ordnung […] selbst schaffen kann.16

Trotz aller unabhängigen Ähnlichkeit des beschriebenen Vorgangs des Nachschaffens können unterschiedliche Rahmenkonzepte im Hintergrund stehen, wie die entsprechenden Ausführungen von Friedrich Ast (1778–1841) – Zeitgenosse und Konkurrent Schleiermachers bei der Platon-Übersetzung – zeigen: So ist das Verstehen und Erklären eines Werkes ein wahrhaftes Reproduciren oder Nachbilden des schon Gebildeten. Denn alle Bildung beginnt mit einem mythischen, noch in sich verhüllten Anfangspuncte, aus dem sich die Elemente des Lebens, als die Factoren der Bildung, entwickeln. Dieses sind das eigentlich Bildende, sich wechselseitig Beschränkende und in der endlichen Wechseldurchdringung zu einem Producte sich Vermählende.17

Begründet ist das bei Ast aus der wie auch immer vermittelten Auffassung des sich selbst erkennenden Geistes aufgrund der „ursprüngliche[n] Einheit und Gleichheit alles Geistigen“ für die Interpretation: Alles Verstehen und Auffassen nicht nur einer fremden Welt, sondern überhaupt eines Anderen ist schlechthin unmöglich ohne die ursprüngliche Einheit und Gleichheit alles Geistigen und ohne die ursprüngliche Einheit aller Dinge im Geiste. Denn wie kann das Eine auf das andere einwirken, dieses die Einwirkung des anderen in sich aufnehmen, wenn nicht beide sich verwandt sind, das eine also dem anderen sich zu näheren, sich ihm ähnlich zu bilden oder umgekehrt dasselbe sich ähnlich zu bilden vermag?18

15 August Wilhelm Schlegel, Philosophische Kunstlehre. Vorlesungen gehalten in Jena 1798, mit erläuternden Bemerkungen von Karl Christian Friedrich, August Wünsche (Hrsg.), Leipzig 1911, S. 3. 16 Johann Gottlieb Fichte, „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ [1806], in: Gesamtausgabe […], Werke I, Bd. 8, Reinhard Lauth (Hrsg.), Stuttgart, Bad Cannstatt 1991, S. 263 (6. Vorlesung). 17 Friedrich Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, § 80, S. 187. 18 Ebd., § 70, S. 167 f.  

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Auf die im 19. Jahrhundert weithin verbreitete, gleichwohl recht Unterschiedliches meinende ‚Kongenialitäts‘-Forderung braucht hier im Einzelnen nicht eingegangen zu werden.19

II Ein hermeneutischer ordo inversus In der Verbindung von Nacherzeugung und Verstehen, im Zusammenhang von Vorwärts und Rückwärts zeichnet sich die Vorstellung einer kreisförmigen Bewegung ab, eines ordo inversus. Einen weiteren Hinweis auf diese Vorstellung bietet die verwendete Metaphorik. Goethe entfaltet im Blick auf die Naturerkenntnis ähnliche Gedanken des ‚Nachkonstruierens‘, wenn er das Problem einer erkennenden imitatio des in der Natur beobachteten Vorgangs durch den Betrachter zu erfassen versucht. Eine der zahlreichen Formulierungen, in denen dies bei Goethe zum Ausdruck gelangt, lautet: Das Gebildete [scil. in der lebenden Natur] wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiel mit der sie uns vorgeht.20

Goethe umkreist dieses Problem mit fortwährenden Reflexionen. Zu diesen gehört auch eine, die für den vorliegenden Zusammenhang vielleicht die ausgeprägteste ist, wenn er von „zwei Forderungen“ spricht, die bei der „Betrachtung der Naturerscheinungen“ zu erfüllen seien. Die erste ist vergleichsweise unspektakulär, da sie nur fordert, „die Erscheinungen selbst vollständig kennenzulernen“. Die zweite hingegen verbirgt sich unter dem eher unscheinbaren Ausdruck des „Nachdenkens“, nämlich sich durch einen solchen Vorgang das Kennengelernte „anzueignen“. In seiner knappen Erläuterung zu diesem ‚Nachdenken‘ liegt die Pointe: „Wenn wir einen Gegenstand in allen seinen Teilen übersehen, recht fassen und ihn im Geiste wieder hervorbringen können, so dürfen wir sagen, daß wir ihn im

19 Vgl. z.B. Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testamentes [1817]. Erster Theil, 8., durchgehends verbesserte, stark vermehrte und zum Theil gänzlich umgestaltete Ausgabe v. Eberhard Schrader, Berlin 1869, § 100, S. 182: „Es muss auf Seiten des Auslegers noch hinzukommen eine gewisse Congenialität des Geistes; ein Sensorium für das Specifische der Anschauungsweise des auszulegenden Schriftstellers.“ Bei Samuel Lutz, Biblische Hermeneutik, nach dessen Tode hrsg. v. Adolf Lutz, Pforzheim 1849, S. 37, beruht die „Möglichkeit der Auslegung“ auf der ‚Gleichheit‘. 20 Johann Wolfgang Goethe, „Die Absicht eingeleitet“ [1807], in: Ders., Die Schriften zur Naturwissenschaft, Abt. I, Bd. 9, Dorothea Kuhn (Hrsg.), Weimar 1954, S. 6–10, hier S. 7.

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eigentlichen und höheren Sinne anschauen.“21 Hier scheint strukturell ein ähnlicher Gedanke vorzuliegen wie bei Schleiermacher hinsichtlich der ‚Nachkonstruktion‘ aus den ‚Keimentschlüssen‘22 (auch ‚Keimesmoment‘,23 „Keim des Werkes“, „der Entschluß im Leben des Verfassers“24). Wichtiger jedoch ist, dass auch hier das ‚Nachdenken‘ als Probe zu figurieren scheint, wenn auch dabei eng verbunden mit dem Vorgang des Erkennens. Nicht zuletzt ist es daher bei Goethe nicht leicht zu sagen, woran das Hervorbringen aus dem Geist ansetzen soll, das sich in dem Vorgang selbst erzeugt. Auch wenn bei Goethe eine biologische Metaphorik zur Umschreibung nahe liegen könnte,25 verweisen seine Überlegungen doch wohl eher auf das, was er als ‚Idee‘, ‚Begriff‘ oder ‚Typus‘ bezeichnet: Ist diese Idee gefunden, dann erscheint das ‚nachdenkende Hervorbringen‘ als Probe.26 Die Aufzählung ließe sich fortsetzen – doch würde das nicht beantworten, weshalb dergleichen überhaupt als plausibel erschien. Plausibel ist dergleichen nicht zuletzt deshalb, weil es sich als Spezifikation von zwei seit alters gängigen, weithin unstrittigen Philosophemen begreifen lässt. Das erste Philosophem bezieht sich auf den Prozesscharakter der Textproduktion: Diese hat einen Anfang und ein Ende in dem erzeugten Text. Hinzu tritt die alte allgemeine Formel für das Erkennen, in diesem Fall für das Erkennen eines Entstandenen, wie sie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik musterhaft für alle Späteren formuliert: „Denn der Überlegende geht forschend und analysierend [ζητεîv καì ἀvαλύειv] vor […]. […] das letzte in der Analyse [ἀvαλύσει] ist das erste im Werden [γεvέσει].“27 In der gängigen lateinischen Wiedergabe: id est primum in generatione, quod ultimum est in resolutione. Dieses Letzte, also der entstandene Text, ist wiederum das Erste für den Interpreten, wohingegen der Anfang das Letzte seiner Bemühungen ist. 21 Ders., Naturwissenschaftliche Schriften I, Dorothea Kuhn/Rike Wankmüller (Hrsg.), München 1988, S. 56. 22 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 189, auch S. 209: „lebendiger Keimentschluß“ [1826/27]. 23 Z.B. ebd., S. 146 [1829], sowie S. 165 [1832/33]. 24 Ebd., S. 186, auch S. 196 [1826/27]. 25 Vgl. z.B. Johann Wolfgang Goethe, „Versuch die Metamorphose der Pflanze zu erklären“ [1790], in: Sämtliche Werke […], Schriften zur Morphologie, Abt. I, Bd. 24, Frankfurt a.M. 1987, § 73, S. 133. 26 Noch an anderen Stellen finden sich bei Goethe das Zusammenbrechen eines ordo inversus als Kritik an Wissensansprüchen sowie Versuche, ihn zu restituieren, hierzu Lutz Danneberg, „Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts“, in: Jörg Schönert/Ulrike Zeuch (Hrsg.), Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin, New York 2004, S. 241–282. 27 Vgl. Aristoteles, Nic Eth, III, 5 (111223); Übersetzung Olof Gigon.

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Beides zusammengefügt erscheint als ordo inversus und folgt damit einem Muster, das seit alters in allen Wissens- und Seins-Bereichen allgegenwärtig ist. Ordo inversus meint allgemein die Bewegung eines Ausgehens von einem Ausgangspunkt, die sich im Zuge eines Zurückkehrens wieder mit diesem Ausgangspunkt verknüpft. Historisch findet sich die Bezeichnung ordo inversus für diese Form der Bewegung vergleichsweise selten. Häufiger hingegen sind Ausdruckspaare wie fluxus (efluxus)/refluxus, exitus/reditus (reversio), progressio (egressio)/regressio und häufig ascensus/descensus. Der ordo inversus kann sich darbieten als eine Bewegung in einem Gegenstand, etwa als ordo naturae, als ordo essendi; es kann sich dann um die Vorstellung einer realen Bewegung handeln. Der ordo inversus kann aber auch im Erkennenden selbst gesehen werden, etwa als ordo quoad nos; es kann sich dann um eine Bewegung handeln, die kein Pendant im zu erkennenden Gegenstand besitzt. Der aus analytischer (resolutio) und synthetischer Methode (compositio) bestehende regressus ist der gleichsam klassische Fall des ordo inversus im Blick auf das Erkennen. Dem Sein als Ganzem kommt, nicht zuletzt im Rahmen christlicher Vorstellungen, die Struktur eines ordo inversus zu, und die Struktur des Ganzen wiederholt oder vererbt sich im Kleinen seiner Teile, so sie von bestimmter Komplexität sind. Der ‚große Kreis‘ mit den zahllosen eingeschriebenen ‚kleinen‘ und sich überlagernden ‚Kreisen‘ bildet dann metaphysisch gesehen die gelungenste ontologische Gestalt des Seins, aber auch des Erkennens. Dafür muss freilich noch etwas hinzukommen, ein zweites Philosophem, das besagt, dass diese Bewegung eine bestimmte epistemische Leistung zu erbringen vermag: Es ist ihre Deutung als Probe für die Güte und Richtigkeit des Erkennens – und auch dieser Probecharakter ist allgegenwärtig.28 Das erhellt denn auch die Maxime des Gedichteverfassens: In der Formulierung bei Hermann handelt es sich zwar nicht explizit um eine Maxime der Probe für das Verstehen, doch ist es eine Probe dafür, dass so viel an Wissen sowie an Fertigkeiten bei der Anwendung dieses Wissens erworben worden ist, dass man in der Lage ist, einen Text zu erstellen, der als ein solcher des Dichters selber gelten kann. Im Hintergrund steht eine in der Regel nicht eigens des Aussprechens bedürftige kontrafaktische Imagination: Würden Zeitgenossen des Dichters diese Gedichte lesen, so wären sie zumindest unsicher, ob es sich nicht um ein Gedicht des betreffenden Dichters handeln könnte. Dies hat zwar auch etwas mit der

28 Vgl. Lutz Danneberg, „Der ordo inversus, sein Zerbrechen im 18. Jahrhundert und die Versuche seiner Heilung oder Substitution (Kant, Hegel, Fichte, Schleiermacher, Schelling)“, in: Simone de Angelis/Florian Gelzer/Lucas Marco Gisi (Hrsg.), ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Frühen Neuzeit (1600–1900), Heidelberg 2010, S. 93–137.

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imitatio29 zu tun, insofern man die Werke anderer täuschend nachzuahmen versucht, oder mit enargeia im Sinne einer Vergegenwärtigung, des Vor-AugenStellens,30 erfüllt hier aber die Funktion der Probe des Nachkonstruierens, die zur (Teil-)Probe des Selbstmachens und Verstehens wird. Das bedeutet nun nicht, dass – sagen wir einmal hundert Jahre zuvor – diese Vorstellung des Nachkonstruierens wie am Beginn des 19. Jahrhunderts überhaupt als erwägenswert betrachtet worden wäre, obwohl man sich gleichbleibend an denselben Philosophemen und an demselben Ideal des Erkennens als ordo inversus orientierte. Das, was die Problemsituation entzündete, war der Umstand, dass der ordo inversus als Ideal der Bewahrung galt; wenn sich etwas nach den Prozeduren der Analyse, der Zerlegung nicht mehr wiedererstellen ließ, dann konnte das als Mangel erscheinen. Freilich hängt das wesentlich davon ab, wie man die so behandelten Objekte, in diesem Fall Texte, hinsichtlich ihrer Eigenschaften konzeptionalisierte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entdeckte man an den textuellen Objekten Makroeigenschaften, bei denen man sich angewöhnt hat, sie ästhische zu nennen, und genau diese Makroeigenschaften fürchtete man durch die überkommenenen Prozeduren der Beschreibung und Analyse von Texten bei ihnen zu zerstören.31 Ausgedrückt wird dies in der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgegenwärtigen Sprache der Zerstückelung, die nicht in erster Linie das Analysieren als solches meinte, sondern die Unterbrechung des ordo inversus, gesehen als Verlust der besonderen Makroeigenschaften des Texts. Nur ein einziges, vergleichsweise frühes Beispiel sei angeführt. Bei Herder heißt es: „Ist man bloß ein philologischer Seher, und ein kalter Zergliederer: so hat man das Glück des Scheidekünstlers: man behält Wasser und Staub in der Hand; das Feuer aber zerfuhr, und der Geist verflog unsichtbar.“32 Konkret im Fall Schleiermachers wird die herkömmliche Analyse der Texte etwa Platons zwar nicht abgelehnt, aber sie gilt nurmehr als Hilfsmittel im Vorfeld

29 Hierzu vgl. auch den nicht immer unproblematischen Forschungsüberblick bei Dina de Rentiis, Die Zeit der Nachfolge. Zur Interdependenz von ‚imitatio Christi‘ und ‚imitatio auctorum‘ im 12.–16. Jahrhundert, Tübingen 1996, S. 3–31; Dies., „Zum Rückgriff auf Grundprinzipien der klassisch-römischen imitatio auctorum im 12. und 13. Jahrhundert“, in: Das Mittelalter, 2/1997, S. 83–92, sowie Dies., „Für eine neue Geschichte der Nachahmungskategorie: Imitatio morum und lectio auctorum in ‚Policraticus‘ VII, 10“, in: Ursula Schaefer (Hrsg.), Artes im Mittelalter, Berlin 1998, S. 161–173. 30 Valeska von Rosen, „Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-picturapoesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 27/2000, S. 171–208. 31 Vgl. Danneberg, „Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien“. 32 Z.B. Johann Gottfried Herder, Von der Ode [um 1765], in: Werke, Bd. 1, Wolfgang Pross (Hrsg.), München 1984, S. 57–99, hier S. 98.

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der Textarbeit, man „muß“ – wie er sagt – zwar „das Ganze“ erst „zerstückeln um die entsprechenden Theile im Andern aufzusuchen“, aber man könne das „nur als Hülfsmittel für die Aufmerksamkeit gebrauchen, um das zu finden woraus man am besten die Eigenthümlichkeit erkennen kann.“33 Dieses „Zerstückeln“ mache den Text „formlos“ – und diese Beobachtung beziehe sich nicht auf seine äußere, sondern auf seine innere Form, mithin in der Tradition des forma-Begriffs auf die Seele des Textes. Dieses für Schleiermachers hermeneutische Auffassungen so wichtige Lehrstück der Nachkonstruktion lässt sich als der Versuch sehen, das philosophische Modell der Analyse und Synthese, das in seiner Anwendung auf Texte diese hinsichtlich ihrer wesentlichen Makroeigenschaften zu zerstören droht, durch spezifische Abwandlungen für das Verstehen von Texten zu retten, indem es auch bei dieser Anwendung wieder einen ordo inversus erfüllt.

III Das Sich-Hineinversetzen als kontrafaktische Imagination Die erste Maxime des Sich-Hineinversetzens in die Vergangenheit kommt nicht erst am Ende des 18. Jahrhunderts auf; schon gar nicht verdankt sie sich einer irgendwie speziellen deutschen ‚Gemütslage‘; und ihre Entdecker sind weder der Altphilologe Christian Gottlob Heyne noch Herder, obwohl Heynes34 und Herders Werke nicht wenige derartige Imaginationen durchziehen,35 mitunter auch sol-

33 Schleiermacher, Hermeneutik, S. 117 [1829]. 34 Vgl. u.a. Christian Gottlob Heyne, Lobschrift auf Winkelmann […], Kassel 1778, S. 8 f.: „Die erste Regel bei der Hermeneutick der Anticke sollte doch wohl diese seyn: Jedes alte Kunstwerk muß mit den Begriffen und in dem Geiste betrachtet werden und beurtheilt werden, mit welchen Begriffen und in welchem Geiste der alte Künstler es verfertigte. Man muß sich in sein Zeitalter, unter seine Zeitverwandten versetzen, diejenigen Kenntnisse und Begriffe zu erreichen suchen, von denen der Künstler ausging; die Absicht seiner Arbeiten so viel wie möglich aufsuchen und also z.B. ein privat Werk mit andern Augen ansehen als ein öffenliches, ein nachgeahmtes, ein späteres, anders als ein originelles, ein früheres, eines aus den schönen Zeiten der Kunst. Begriffe von Kunst, Kunsterfindung, Kunstbehandlung sind also das erste, was der Antiquar mitbringen muß, wenn er ein altes Werk betrachten und erklären will. […] Findet er nichts, das der Idee des alten Künstlers nahe kommt, so erspart er ein unnützes Geschwätz, oder zeigt kurz die Gründe an, warum eine Erklärung nicht zu geben sey. Ganz anders verfärt der grosse Haufe der Antiquarier: sie haschen irgendwo einen Gedanken auf, und tragen ihn in das alte Werk hinein, halten sich bey den trivialen Mythologien oder Antiquitäten auf, schreiben Citata ab, die bald nichts beweisen, bald ganz unnöthig sind […].“ 35 Vgl. Johann Gottfried Herder, „Über die neuere deutsche Literatur“ [1767], in: Ders., Werke. Bd. 1. Frühe Schriften: 1764–1772, Ulrich Gaier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1985, S. 203: „Wenn ich Homer lese, so stehe ich im Geiste in Griechenland auf einem versammelten Markte, und stelle mir vor, wie der Sänger Io, im Plato, die Rhapsodien seines göttlichen Dichters mir vorsinget […]: und  

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che, nach denen man sich in einem Atemzug zugleich zum Zeitgenossen der Alten und die Alten selber zu Zeitgenossen macht,36 und sich bei Herder die eine oder andere Besonderheit findet, etwa die Modellierung des ‚Einfühlens‘ nach einem christlichen Prototyp: Wenn Herder formuliert, dass der Leser ‚mit den Hebräern ein Hebräer, mit den Arabern ein Araber‘ usw. werden solle, dann erscheint ein solcher Leser als ein Paulus redivivus, der ‚allen alles‘ sein wollte. Mitunter wird diese Anverwandlung bei ihm anscheinend zur Imitation.37 Ein Beispiel von vielen: „Es ist schwer, aber billig, daß der Kunstrichter sich in den Gedankenkreis seines Schriftstellers versezze und aus seinem Geist lese.“38 In seinem Werk zur heiligen Poesie der Hebräer – das Herder gleichsam aufgesogen hat, auch wenn es seinen Ambitionen entspricht, es kritisch zu überbieten – schreibt Robert Lowth: So habe sich derjenige, der die Eigentümlichkeit der hebräischen Poesie nachvollziehen und würdigen will, an die Stelle zu versetzen, von der aus sie geschrieben worden sind. Wir müssen alles mit ihren Augen sehen und nach ihnen beurteilen; wir sollten uns bemühen, so viel wie möglich Hebräisch zu lesen, so wie es die Hebräer gelesen hätten. Wir müssen wie die Astronomen handeln im Hinblick auf jenen Zweig ihrer Wissenschaft, der

wenn ich mich wieder zurück in mein Vaterland finde: so beklage ich die, so den Homer in einer Übersetzung lesen wollen, wenn es auch die richtigste wäre. Ihr leset nicht mehr Homer, sondern etwas, was ohngefähr wiederholet, was Homer in einer poetischen Sprache unnachahmlich sagte.“ Auch Ders., „Kritische Wälder. Erstes Wäldchen“ [1769], in: Ders., Werke. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur: 1767–1781, Gunter E. Grimm (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 57–245, hier S. 184: „Grieche muß ich überdem schon werden, wenn ich Homer lese, ich lese ihn, wo ich wolle: […].“ Oder Ders., „Kritische Wälder. Zweites Wäldchen“ [1769], in: Ders., Sämmtliche Werke, Bernhard Suphan (Hrsg.), Bd. 3, Berlin 1878, S. 189–364, hier S. 200: „Wer sich in diese [scil. seine Zeit] zurück setzen kann, in Erziehung und Sitten, und Leidenschaften und Charaktere, und Sprache und Religion – für den singt Homer, für keinen andern.“ 36 Vgl. Johann Gottfried Herder, „Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten?“ [1765], in: Ders., Werke. Bd. 1. Frühe Schriften: 1764–1772, S. 40–55, hier S. 42: „Wenn wir uns in das Publikum der alten versetzen: so verliert, so verirrt sich gleichsam unser Blick; und noch staunender würde der Anblick sein, wenn unser Vater Adam, wenn Solon und Lykurg, wenn Cato oder der Hermann der alten Deutschen aufstehen und unsere politische Verfassungen sehen sollte: eben der Anblick, der einen Grönländer oder Afrikaner betäubt, wenn er auf einmal in die Zauberkünste von Paris eintritt: nur jene würden uns besser zu beurteilen wissen, weil sie aus einer anderen und weisern Denkart gleichsam in die unsre überschiffen müßten.“ 37 Vgl. Ders., „Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen“, in: Werke, Bd. 5, Rudolf Smend (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 9–178, hier S. 102 f.: „Ich schreibe im Tone eines Morgenländers; denn ich interpretiere ein Morgenländisches Stück aus den ältesten Zeiten.“ 38 Ders., „Über den Discours“, in: Sämmtliche Werke, Bernhard Suphan (Hrsg.), Bd. 1, Berlin 1877, S. 247: „Von dem Ursprunge und den Gesichtspunkten in denen der Kunstrichter erscheinet […].“  

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‚vergleichend‘ genannt wird: Um eine vollständigere Anschauung von dem allgemeinen System und seinen verschiedenen Teilen zu gewinnen, stellen sie sich vor, sie seien das ganze Universum durchschreitende und überschauende Wanderer – von einem Planeten zum anderen ziehend –, um für kurze Zeit Einwohner eines jeden von ihnen zu werden.39 Die Parallelisierung mit der Astronomie ist zwar in der Zeit überaus aufschlussreich, doch angemerkt sei, dass es sich bei den Imaginationen des Sich-Hineinversetzens in der Astronomie bloß um ein zeitindifferentes, nur räumliches Versetzen handelt und damit die hier gemeinte Pointe nicht aufweist. In seiner recht ausführlichen Besprechung von Lowths Werk geht Moses Mendelssohn mit keinem Wort auf diese Darlegungen zum Sich-Hineinversetzen ein.40 Das geschieht auch nicht in der umfangreichen Besprechung, die vermutlich von Johann August Ernesti (1707–1781) stammt.41 Das legt die Vermutung nahe, es handle sich um keinen neuen, daher eigens zu erwähnenden Gedanken – und so ist es denn auch. Das zeigen beispielsweise die Ausführungen Hermann von der Hardts in seinen lateinischen Grundlagen der Exegese der Heiligen Schrift vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Demnach sei es eine große Tugend und Fertigkeit, dem übersetzten Verfasser seinen Mund, seine Geschichte, seinen Verstand und sein Angesicht zu verleihen, die er unter fremden Himmeln erlangt hatte. Für uns sei es eine große Kunst, dieses einem Autor zuzugestehen, der uns in vielfacher Hinsicht fremd erscheine. Man müsse sich daher mit dem Werk so vertraut machen, dass man die speziellen Auffassungen des Autors nicht ignoriere, die

39 Vgl. Robert Lowth, De Sacra Poesi Hebraeorvm praelectiones academicae Oxonii habitae: Svbjicitur Metricae Harianae brevis confvtatio & Oratio Crewiana [1753], Notas et Epimetra adjecit, Ioannes David Michaelis […], Ed. Sec., Goetingae 1770 [1758], cap. V, S. 88: „Ab hoc errore semper cavendum, et incommoda ista quantum diligentia compensanda sunt: nec modo perdiscenus eorum sermo, mores, ritus, disciplinae; sed intimi etiam sensus pervestigandi, cogitationum modi nexusue eruendi; eorum oculis, ut ita dicam, cernenda sunt omnia, eorum opinionibus estimanda: it denique enitendum, ut Hebraea, quantum fieri potest, tamquam Hebraei legamus. Idem propemodum hic nobis faciendum est, quod Astronomi solent in ea suae disciplinae parte quam vocant Comparatiam: qui ut clariorem in animo forment imaginem et totius mundi et singularum ejus partium, fingunt sese Universum obire et perlustrare, de alio Planeta in alium migrare, et uniuscujusque paulis per incolas fieri […] qui poematum Hebraeorum proprias et interiores elegantias percipere velit, ita se comparet oportet, ut sese putet eodem in loco positum, quo ii quorum causa ea scripta sunt, aut qui ipsi scripserunt ut cogitet, non qua rerum Imagines suo protinus animo jam offerent certae quaedam voces, sed quaenam Hebraeo iis temporibus in ea constituto easdem dicenti aut audienti observari debuissent.“ 40 Moses Mendelssohn, „Robert Lowth, De sacra poesi Hebraeorum“ [1756], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Eva J. Engel (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 20–62, hier S. 20 f. 41 Vgl. [Johann August Ernesti], „Roberthi Lowth […]“, in: Neue Theologische Bibliothek, 3/1762, S. 134–154 u. S. 205–225.  

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seinen Worten viele Kennzeichen seiner (besonderen) Ansichten eingeprägt hätten. Ein Interpret, der das beherzigen wolle, müsse die besondere Gegend berücksichtigen, in der der Autor aufgewachsen sei, und sich vertraut machen, wo er geschrieben und gelebt habe. Denn alles dies sei einflussreich für das, was und wie es der Verfasser ausgedrückt habe. Zum Höhepunkt seiner Ausführungen gelangt von der Hardt, wenn er betont, dass es daher erforderlich sei, gleichsam (quasi) in derselben Gegend, in welcher der fremde Autor gelebt hat, auch zu leben. Erst dann würde man das, was der Autor gedacht und gefühlt habe – Augen, Affekte, Herz samt aller seiner Bewegungen – mit angemessenen Worten wiedergeben.42 Georg Venzky, ein Schüler Gottscheds, fasst das in seinem Bild eines geschickten Übersetzers zusammen, wenn es dort heißt: der Übersetzer habe „die Beschaffenheit der Gegend, Luft, Sitten, Gemütsneigungen öffentlicher oder geheimer Bewegungen, wo der Verfasser gelebt oder geschrieben hat“, zu studieren und er sollte „gleichsam in derselben Gegend, wo der fremde Scribent gelebt hat, Luft schöpfen […].“43 Oder in Goethes immer wieder angeführtem Wort aus dem Westöstlichen Divan: „Wer den Dichter will verstehen, / Muß in Dichters Lande gehen.“44 Von der Hardt ist nicht der einzige, der solche Überlegungen schriftlich niederlegt. In der kontrovers diskutierten hermeneutica sacra finden sich bei

42 Ausführlicher, als ich es wiedergegeben habe, sind die Darlegungen bei Hermann von der Hardt, Vniversalis Exegeseos Elementa […1691], Ed. Sec., Helmstadi 1708, cap. II, S. 8: „Utriusque ergo idiomatis, tum peregrini, tum alterius, in versione adhibendi, plenior & penitior notitia habenda. Neque verò linguae notitia est, vocabulorum cognitio, vel exactissima. Hoc enim res memoriae: cum dignam versionem dare sit judicii permagni. Necesse igitur est, probe didicerit Interpres usum infinitarum locutionum: juxta regionis illius, ubi natus vel educatus Autor, consuetudinem.“ usw. Des Weiteren S. 10: „Eò igitur penetrabit dignae versionis autor, ut ex oculis suis nunquam dimittat scriptoris affectum, qui verbis varios impresserit significandi characteres. Et ut hoc rite possit Interpres, versionem instruens, regionis, aeris, morum, affectum, vulgarium &gentilitium, motuum publicorum acprivatorum, ubi vixit & scripsit autor, rationem & conditionem sciat oportet. Haec enim affectuum mira sunt argumenta atque calcaria. […] Necesse igitur est, bonae & dignae versionis autor non minus in illa regione quasi spiritum hauserit, ubi natus vel versatus Scriptor peregrinus: […].“ Sowie S. 11: „Quandoquidem igitur tam excellens est virtus, & magnae peritiae, multaeque doctrinae, judiciique haud vulgaris, versionem Autoris dare, quae non verba enumeret, sed os, oculos, pectus, affectus, omnesque cordis motus sistat, & paucis paribusque verbis exprimat: […].“ 43 Georg Venzky, „Das Bild eines geschickten Übersetzers“, in: Johann Christoph Gottsched, Beyträge zur kritischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. 9. Stück, Leipzig 1734, S. 59–114, hier S. 106 f. 44 Johann Wolfgang Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans [1816–1818]. In: Ders., Werke. Bd. II. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 1972, S. 126–267, hier S. 126.  

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Jean-Alphonse Turretini im Jahr 1728 zwar kürzere Darlegungen, die das Gleiche zum Ausdruck bringen.45 Wichtiger als die Passage, die in der Sache nichts Neues bietet, ist, dass ein so exponierter Vertreter der interpretatio grammatico-historica wie Carl August Gottlieb Keil am Ende des Jahrhunderts explizit auf diese Stelle hinweist.46 Keils eigenes hermeneutisches Programm stellt eine Spezifizierung der Regeln der grammatischen Interpretation dar, doch dazu später mehr. Was die allgemeine Vorstellung des Sich-Hineinversetzens betrifft, so findet sich bereits bei Francis Bacon in The Advancement of Learning (1605) Ähnliches.47 Bacon konstatiert hier beispielsweise, dass der Geschichtsschreiber ‚seinen Geist zur Vergangenheit hin zurückziehen und gleichsam alt machen müsse‘. Darin sieht Bacon eine sehr mühselige und schwierige Aufgabe.48 Ebenfalls in The Advancement of Learning, allerdings erst in der späteren lateinischen Version, sieht er diese Aufgabe verwirklicht, indem man aus den besten Büchern einer Epoche deren ‚Gedankengang, Stilrichtung und Methode‘ erkenne, dann – so fährt er fort – werde ‚der Geist einer Epoche wie durch eine Art Zauber wiedererweckt und vom Tode auferstehen‘.49 Auch bei Bacon handelt es sich um eine

45 Jean-Alphonse Turretini, De Sacrae scripturae interpretatione [1728]. Tractatus bipartitus restitutus varieque auctus per Guil. Abraham Teller, Francofurti 1776, cap. VII, § III, S. 371: „De mente sacrorum scriptorum non iudicandum est ex hodiernis placitis ac systematibus, sed est animus in ea, quibus scribebant, tempora et loca transferendus, et quaenam in eorum, qui tum vivebant, animo oriri potuerunt ideae, videndum.“ 46 Vgl. Carl August Gottlieb Keil, De historica librorum sacrorum interpretatione eiusque necessitate, Lipsiae 1788, S. 9, Anm. k. 47 Ich kann hier nicht näher auf ‚Vorläufer‘ dieses Gedankens und Spielarten eingehen, etwa auf die in Platons Ion formulierte Vorstellung, dass nicht nur die Zuhörer erschüttert sind, sondern auch der Rhapsode selber, der die in den Worten des Dichters vergegenwärtigten Geschehnisse so erlebt, als wäre es seine eigene augenblickliche Gegenwart; hierzu die erhellende Rekonstruktion von Carl Werner Müller, „Die Dichter und ihre Interpreten. Über die Zirkularität der Exegese von Dichtung im platonischen Ion“, in: Rheinisches Museum für Philologie, 141/1998, S. 259–285, zudem Ernst Heitsch, „Die Argumentationsstruktur im Ion“, in: Rheinisches Museum für Philologie, 133/1990, S. 243–259. 48 Vgl. Francis Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum, libros IX [1623], II, 4 (Works, Bd. I, S. 423–583, hier S. 504–505): „Etenim animum in scribendo ad praeterita retrahere et veluti antiquum facere […] magni utique laboris est et judicii.“ 49 Ebd., S. 504: „[…]; ut ex eorum non perlectione (id enim infinitum quiddam esset) sed degustatione, et observatione argumenti, stili, methodi, Genius illius temporis Literarius veluti incantatione quadam a mortuis evocetur.“ – So wenig, wie man die Alten vergessen sollte, sollte man die Jüngeren vergessen, sondern sie wenigstens zur Kenntnis nehmen, anders ist wohl kaum erklärlich, wie es bei Ewald Flügel, „Bacon’s Historia Litteraria“, in: Anglia, N.F. 9/1899, S. 259–288, just zu der Stelle heißen kann (S. 272): „Ich bekenne, dass mir in all unseren aufsätzen über die aufgaben der litteraturgeschichte und in unserem systemen derselben kein gedanke entgegengetreten ist, der sich mit den letzten worten Bacon’s [scil. genius illius temporis literarius veluti

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kontrafaktische Imagination. Leonardo Bruni sagt über den guten Übersetzer, dieser müsse sich in den Autor des zu übersetzenden Textes verwandeln, um alles, was und wie es geschrieben, nachzeichnen zu können.50 Unter kontrafaktischen Imaginationen sollen im Weiteren Imaginationen in argumentativen Zusammenhängen verstanden werden, die sowohl für diejenigen, die sie vortragen, als auch für diejenigen, an die sie sich richten, offensichtlich falsch sind. Damit gehören sie beispielsweise nicht zu Redehandlungen, die simulatio oder dissimulatio vollziehen. Sätze in argumentierenden Kontexten, die offenkundig falsch sind, erscheinen zunächst als Kandidaten für den Übergang von der wörtlichen zu einer anderen Bedeutung. Doch erfolgt gerade dieser Bedeutungsübergang bei kontrafaktischen Imaginationen nicht. Sie sind daher neben wörtlichem und zum Beispiel metaphorischem Sprachgebrauch eine dritte Form des Sprachgebrauchs in argumentierenden Kontexten. Anders, als man vielleicht meinen würde, sind kontrafaktische Imaginationen seit alters bis in die Gegenwart in Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte keine Seltenheit. Die im Rahmen von Philosophie, Wissenschaftsmethodologie und Wissenschaftsgeschichtsschreibung mittlerweile größere Aufmerksamkeit findenden Gedankenexperimente sind zwar auch Imaginationen, die aber zu Unrecht mit kontrafak-

incanatione quadam a mortuis evocetur] an kürze, klarheit und abschliessender erschöpfender bedeutung messen zu können scheint.“ Vgl. auch David Hume, „Of the Standard of Taste“, in: Ders., Essays Moral, Political and Literary, New York 2006, S. 231–251, wo es (S. 245) heißt, dass der Kritiker „must place himself in the same situation as the audience“. In bestimmter Hinsicht ist das freilich älter: vgl. z.B. auch Hieronymus, Commentariorum in Epistolam ad Ephesios libri tres [um 387], Prologus (PL 26, Sp. 439–589, hier Sp. 440), wo von einer Art des Sich-Hineinversetzens in die Gedanken des Apostels gesprochen wird, vom Verstehen, weshalb er geschrieben und wie er für seine Ansichten argumentiert habe, worin die Besonderheiten seiner Adressaten gelegen habe, da die Briefe des Paulus entsprechend der Zeit und dem Ort ihrer Abfassung und der gemeinten Empfänger unterschiedliche Themen behandeln: „Sed cum aliud sit proprios libros componere, verbi gratia, de avaritia, et de fide, de virginitate, de viduis, et super unaquaque materia testimoniis Scripturarum hinc inde quaesitis eloquentiam jungere saecularem, et pene in communibus locis pompaticum jactare sermonem: aliud in sensum prophetae et apostoli ingredi, intelligere cur scripserint, qua sententiam suam ratione firmaverint, quid habeant in veteri Lege proprium Idumaei, Moabitae, Ammonitae, Tyrii, Philistiim, Aegyptii, et Assyrii; quid rursum in novo Testamento Romani, Corinthii, Galatae, Philippenses, Thessalonicenses, Hebraei, Colossenses, et quam nunc ad Ephesios Epistolam habemus in manibus. Necesse est enim, ut juxta diversitates locorum et temporum, et hominum, quibus scriptae sunt, diversas et causas, et argumenta, et origines habeant. “ 50 Vgl. Leonardo Bruni, „De interpretatione recta“, in: Ders., Opere Letterarie e Politiche, a cura di Paolo Viti, Torino 1996, S. 150–193, hier S. 160: „[…] in traductionibus interpres quidem optimus sese in primum scribendi auctorem tota mente et animo et voluntate convertet et quodammodo transformabit eiusque orationis figuram, statum, ingressum coloremque et liniamenta cuncta exprimere meditabitur.“

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tischen Imaginationen identifiziert werden. Kontrafaktische Imaginationen können vielmehr als eine besondere Form des Gedankenexperiments charakterisiert werden, und zwar als Gedankenexperimente, die von offenkundig falschen Prämissen ausgehen. Bei dieser Bestimmung ist sowohl die Offenkundigkeit als auch die Falschheit entscheidend für die argumentative Funktion, die eine kontrafaktische Imagination erfüllen kann. Zwar gibt es für das vielgliedrige Phänomen kontrafaktischer Imaginationen keine kognitiven Standardfunktionen, die sie gleichsam per se erfüllen. Doch das, was sie zu leisten vermögen, beschränkt sich nicht auf die reductio ad absurdum oder auf imaginierte argumenta probantia oder illustrantia für das Denkbare und Vorstellbare. Inwiefern die von ihnen erbrachten Leistungen in Erscheinung treten, hängt von dem geteilten Wissen sowie von der epistemischen Situation ihrer Verwendung ab. Wenn solche Imaginationen darauf bezogen werden, müssen sie sich auch nicht dem Verdacht der Willkür oder Beliebigkeit aussetzen, und es lassen sich möglicherweise sogar Gütekriterien finden, die solches Imaginieren in gegebenen epistemischen Situationen als mehr oder weniger angemessen anzusehen erlauben. Zwar können sich kontrafaktische Imaginationen auch zu unsinnigen Imaginationen verwandeln, doch als Folge gewandelter epistemischer Situationen können sie auch ihren kontrafaktischen Charakter verlieren, also ihr offenkundiges Falschsein. Der Wandel kann dabei zum einen das Offenkundige, zum anderen das Falsche oder beides betreffen.51 Dass kontrafaktischen Imaginationen für die Darlegung von Wissensansprüchen zentraler Charakter zukommen kann, macht ein gelegentlich erörtertes Beispiel sofort deutlich: Es ist die Etiamsi-daremus-non-esse-Deum-Imagination. Ein geläufiges, aber mitnichten erstes Beispiel bietet Hugo Grotius in der Einleitung zu seinem Jahrhundertwerk De iure belli ac pacis mit der offen ausgesprochenen Auffassung, dass er bei seinen Überlegungen so tun wolle, als gäbe es keinen Gott. Im nächsten Satz beeilt er sich zu versichern, dass er nicht wirklich dieser Ansicht sei. So komplex sich die Überlegungen des Grotius bei näherer Betrach-

51 Vgl. Lutz Danneberg, „Überlegungen zu kontrafaktischen Imaginationen in argumentativen Kontexten und zu Beispielen ihrer Funktion in der Denkgeschichte“, in: Toni Bernhart/Philipp Mehne (Hrsg.), Imagination und Innovation, Berlin 2006, S. 73–100; Ders., „Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen“, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Exempel einer neuen Geistesgeschichte, München 2006, S. 193–221; Ders., „Kontrafaktische Imaginationen in der Hermeneutik und in der Lehre des Testimoniums“, in: Ders. [u.a.] (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in der Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen, 120), S. 287–449; Andrea Albrecht/Ders., „First Steps Toward an Explication of Counterfactual Imagination“, in: Dorothee Birke/Michael Butter/Tilmann Köppe (Hrsg.), Counterfactual Thinking/Counterfactual Writing, Berlin, New York 2011, S. 12–29.

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tung auch darstellen mögen, zunächst drückt diese kontrafaktische Imagination die methodologische Beschränkung auf die Zweit-Ursachen aus, wenn man so will einen methodologischen Atheismus. Seit alters finden sich kontrafaktische Imaginationen wohl in allen WissensBereichen, auch in normativen wie etwa dem juristischen.52 Zwar lasse sich in ihm nichts hinsichtlich der Tatsachen fingieren (circa facta non potest fingi), doch konnte es Rechtsakte geben, bei denen von Gegebenheiten abgesehen und so getan werden konnte, als bestünden sie nicht. Stattdessen wurden Eigenschaften angenommen, die rechtsrelevant sind: Beispielsweise konnte man jemanden, der im Sklavenstand geboren wurde, rechtlich als einen ‚Freigeborenen‘ behandeln, oder man konnte uneheliche Kinder als eheliche ansehen. Das Gesetz kann zwar keinen Toten zum Leben erwecken, aber es kann ihn so behandeln, als lebte er noch – also: ius fingit contra factum. Drei Formen lassen sich dabei unterscheiden: inductivae, es wird etwas behauptet, was es nicht gibt; privativae, es wird etwas negiert, was es gibt; translativae, es wird etwas ‚verschoben‘, das heißt die Konstellation wird imaginiert. Es handelt sich also um vorgetäuschte Wirklichkeiten, die gleichwohl reale Rechtsfolgen besitzen. Wichtig für den kontrafaktischen Charakter ist, dass betont wurde, es handle sich nicht um zweifelhafte Tatbestände, die so ihre Zweifelhaftigkeit verlieren, sondern um unstrittige Sachverhalte. Das juristische Beispiel zeigt zwar, dass man kontrafaktische Imaginationen auch systematisieren kann, doch ist die Systematisierung an Wissensbereiche gebunden und an nicht immer gegebene Voraussetzungen. Ein nahezu unbegrenzter Bereich, in dem man solche Imaginationen findet und der sich weithin einer solchen Systematisierung entzieht, bilden Überlegungen zu den historischen what-might-have-been-Szenarien – also beispielsweise Pascals Imagination, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, hätte Kleopatra eine weniger attraktiv geformte Nase gehabt. Solche kontrafaktischen Imaginationen zu alternativen historischen Konstellationen können mit Blick auf philosophisch so intrikate Fragen unternommen werden wie die des ‚historischen Determinismus‘ von Ereignissen, der Vorstellungen von ‚Alldeterminiertheit‘ und ‚Irrelevanz‘ sowie auf solche des ‚historischen Zufalls‘ oder der historischen ‚Offenheit‘.53

52 Erasmus von Rotterdam, „Dialogus cui titulus Ciceronianus“ [1517], in: Ders., Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden. Lateinisch und deutsch, Werner Welzig (Hrsg.), Darmstadt 1997, Bd. 7, S. 2–358, hier S. 130 f., imaginiert, dass Apelles, der hervorragend zu malen verstand, durch eine Laune des Schicksals in unsere Zeit versetzen würde. Diese Imagination dient dann dem folgenden Kunsturteil: „würde man nicht meinen, dass es schlechte Bilder seien, wenn er die Deutschen so malen würde, wie die Griechen, obwohl jene ganz anders aussehen.“ 53 Solche Imaginationen können noch auf etwas verweisen, das man später Auslösungskausalität genannt hat, in den Worten von Leibniz, „Von dem Verhängnisse“, in: Ders., Deutsche  

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Zusammengefasst ergibt sich: Kontrafaktische Imaginationen (1) treten in verschiedenen, sprachlich beschreibbaren Typen in Erscheinung, die (2) sehr unterschiedliche (kognitive) Leistungen in (3) divergierenden argumentativen Kontexten erbringen sollen und können. Hinzu treten (4) übergreifende Annahmen der jeweiligen epistemischen Situation. Die Variationsmöglichkeiten sind, man erahnt es, immens. Sie können eine vergleichsweise durchsichtige Struktur besitzen. Ein Beispiel: Cicero imaginiert, wenn Jupiter griechisch spräche, würde er wie Platon sprechen;54 dies drückt nicht mehr aus als die höchste Vollkommenheit (in einem bestimmten Bereich), wofür (noch im Mittelalter) auch der Ausdruck divinus verwendet wurde. Nietzsche kehrt dies in Jenseits von Gut und Böse im Blick auf das von Gott Geschriebene scheinbar um: „Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte – und dass er es nicht besser lernte“.55 Dies ist freilich keine kontrafaktische Imagination, sondern eher eine als Anspielung gekleidete Bemerkung zum alten Problem der im griechischen Text des Neuen Testaments zu findenden Barbarismen. Es finden sich aber auch kontrafaktische Imaginationen, die sich als überaus kontextsensitiv erweisen, und mitunter ist es nicht leicht, überhaupt ihren kontrafaktischen Charakter zu erkennen. Freilich bestehen ähnliche Probleme auch bei anderen Imaginationen – etwa im Fall naturwissenschaftlicher Experimentalszenarien. Neben sprachlichen Indikatoren ist ein Identifizieren kontrafaktischer Imaginationen nicht ohne die Bindung an einen zuschreibbaren Wissenskontext der epistemischen Situation ihres Auftretens möglich, der zu den Bedingungen ihres Vorliegens gehört. Da aber in bestimmten Bereichen ein solcher Argumenttyp geläufig war, wurde weder auf der Seite des Vortragenden noch des Rezipierenden ihre offenkundige Falschheit gesondert signalisiert. Hinzu kommt, dass kontrafaktische Imaginationen eines auf den ersten Blick ähnlichen Typs recht unterschiedliche kognitive Leistungen erbringen und dass bestimmte Leistungen

Schriften, Bd. II., G. E. Guhrauer (Hrsg.), Berlin 1840 (ND Hildesheim 1966), S. 48–55, hier S. 49: „[…] kleine Dinge machen oft große mächtige Veränderungen. Ich pflege zu sagen, eine Fliege könne den ganzen Staat verändern, wenn sie einen großen König vor der Nase herumsauset, so eben in wichtigen Rathschlägen begriffen; denn weil es kommen kann, daß sein Verstand gleichsam in der Wage sey, ja dann beyderseits starke Gründe sich finden, so kann doch kommen, daß diejenigen Vorschläge den Platz gewinnen, bey denen er sich mit Gedanken am meisten aufhält, und das kann die Fliege machen, und ihn eben verhindern und verstören, wenn er etwas anders recht betrachten will, so ihm hernach nicht just wieder auf solche Art ins Gemüth kommt.“ 54 Vgl. Cicero, Brut, 121: „Iovem sic aiunt philosophi, si Graece loquatur, loqui.“ Auch Orator, 62, sowie De officiis, I, 4; es handelt sich bei Cicero wohl bereits um ein geflügeltes Wort; zum Hintergrund Friedrich Walsdorff, Die antiken Urteile über Platons Stil, Bonn 1927, S. 49 f. 55 Friedrich Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI.2, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Berlin 1968, S. 94, § 121.  

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nicht nur an einen Typ gebunden sein können. Im Weiteren konzentriere ich mich auf solche Imaginationen, die die Gegenwart in die Vergangenheit versetzen oder umgekehrt. Von Interesse sind dabei vor allem solche, die sich auf das Verstehen beziehen.

IV Kontrafaktische Imaginationen des Verstehens – zwei antike Beispiele Beginnen will ich mit zwei Beispielen, die wohl im Rahmen der Erörterung von Problemen des Verstehens zu den frühsten gehören dürften. Zur Veranschaulichung der komplexen kognitiven Leistungen, die kontrafaktische Imaginationen in diesem Kontext erbringen, will ich beide ein wenig ausführlicher ansprechen, auch wenn selbst das nicht mehr als ein Schattenriss sein kann. Die erste Imagination findet sich eingebettet in Augustins Bemühungen in seinen Confessiones, den Anfang der Genesis zu verstehen. Sie nimmt ihren Ausgang davon, dass Moses zwar den Satz In principio fecit deus caelum et terram geschrieben habe, aber er dann ‚hinübergegangen‘ sei, so dass ihn niemand mehr nach der Bedeutung seiner Worte befragen könne. Die kontrafaktische Imagination scheint sehr schlicht und besagt, dass Moses nun wieder anwesend sei und er Augustin alles das enthüllen könne, was er gemeint habe.56 Obwohl der des Hebräischen unkundige und im Griechischen wenig bewanderte Kirchenvater betont, er würde Moses nur verstehen, wenn dieser Latein spräche, geht es nicht, wie man zunächst meinen könnte, um die Sprache der Quellen. Die Imagination ist komplexer und subtiler. Dennoch hat sich die im Umfang exorbitante Forschung zu den Confessiones durchweg weder näher mit der Deutung dieser noch mit der Deutung der zweiten Imagination aufgehalten, auf die ich noch zu sprechen komme.57 Ich raffe: Die Pointe der ersten Moses-Imagination liegt zunächst in der

56 Augustin, Confessiones/Bekenntnisse [um 397–400], eingel., übers. u. erl. v. Joseph Bernhart, München 1955, XI, 3, 5, S. 609: „Audiam et intellegam, quomodo ‚in principio‘ fecisti ‚caelum et terram‘. Scripsit hoc Moyses, scibsit et abiit, transiit hinc a te ad te neque nunc ante me est. Nam si esset, tenerem eum et rograem eum et per te obsecrarem, ut mihi ista panderet, et praeberem aures corporis mei sonis erumpentibus ex ore eius, si hebraea voce loqueretur, frustra pulsaret sensum meum nec inde mentem quicquam tangeret: si autem latine, scirem quid diceret. Sed unde scirem, num ab illo scirem? Intus utique mihi, intus in domicilio cogitationis nec hebraea nec graeca nec latina nec barabra veritas sine oris et linguae organis, sine strepitu syllabarum diceret: ‚Verum dicit‘ et ego statim certus confidenter illi homini tuo dicerem: ‚Verum dicis‘.“ 57 So geht beispielsweise Jed Wyrick, The Ascension of Authorship. Attribution and Canon Formation in Jewish, Hellenistic, and Christian Traditions, Cambridge, London 2004, S. 375–380, nur am Rande, aber immerhin auf die kontrafaktischen Imaginationen in den Confessiones ein.

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interpretatio authentica: Derjenige, der etwas gesagt oder geschrieben hat, verfügt über das sicherste Wissen darüber, was er gemeint habe oder was seine Worte bedeuten. Dass diese Interpretationsmaxime mehr oder weniger als eine interpretatio infallibilis galt, hat sie bis ins späte 17. Jahrhundert nicht nur in der hermeneutica sacra weithin unangefochten gelassen.58 Nur kurz will ich auf zeitlich vorgängige Parallelen eingehen und mich auf eine mögliche beschränken. Schwierig gestaltet sich die Suche nach Vorgängern nicht zuletzt deshalb, weil unklar ist, mit welchen Schriften der Kirchenvater direkt vertraut gewesen ist.59 In Platons Protagoras kommt es im Rahmen der Erörterung des Konzepts der ἀρετή zu einer in der Forschung vergleichsweise wenig beachteten,60 aber auch nicht leicht einzuschätzenden Interpretation eines Simonides-Gedichts. Die entsprechende Passage erscheint als zweigeteilt: Zunächst weist Protagoras auf einen ‚Widerspruch‘ zwischen der ersten und der zweiten Strophe des Gedichts hin. In diesem Zusammenhang sagt er zu Sokrates, es sei ein wichtiges Element der Erziehung (παιδεἱα), auch in der Deutung von

58 Vgl. Lutz Danneberg, „Besserverstehen. Zur Analyse und Entstehung einer hermeneutischen Maxime“, in: Fotis Jannidis [u.a.] (Hrsg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin, New York 2003, S. 644–711. 59 Zu den Grundlagen von Augustins philosophischer Lektüre auch Aimé Solignac, „Doxographies et manuels dans la formation de saint Augustin“, in: Recherches Augustiniennes, 1/1958, S. 113–148. 60 Vgl. u.a. Joseph Reber, „Platons Kritik eines Liedes des Simonides“, in: Zeitschrift für das Gymnasialwesen, 20/1866, S. 417–428; Hermann Gundert, „Die Simonides-Interpretation in Platos Protagoras“, in: Hρμηvεία. Festschrift für Otto Regenbogen, Heidelberg 1952, S. 71–93; Leonard Woodbury, „Simonides on ἀρετ“, in: Transactions of the American Philological Association, 84/ 1953, S. 135–163; Ian M. Crombie, An Examination of Plato’s Doctrines, Bd. I, London 1962, S. 232–245; William K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Bd. IV, Cambridge 1975, S. 213–235; H. S. Thayer, „Plato’s Quarrel With Poetry: Simonides“, in: Journal of the History of Ideas, 36/1975, S. 3–26; Dorothea Frede, „The Impossibility of Perfection: Socrates’ Criticism of Simonides’ Poem in the Protagoras“, in: Review of Metaphysics, 39/1986, S. 729–753; Nickolas Pappas, „Socrates’ Charitable Treatment of Poetry“, in: Philosophy and Literature, 13/1989, S. 248–261; Anne Carson, „How Not to Read a Poem: Unmixing Simonides From Protagoras“, in: Classical Philology, 87/1992, S. 110–130; Glenn W. Most, „Simonides’ Ode to Scopas in Contexts“, in: Irene J. F. de Jong/J. P. Sullivan (Hrsg.), Modern Critical Theory and Classical Literature, Leiden u.a. 1994, S. 127–152; Valentina Origa, „Socrate interpreta Simonide: la rilettura platonica del Carme a Scopas“, in: Lexis, 17/1999, S. 225–246; Hartmut Westermann, Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten: Zur Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen, Berlin, New York 2002, S. 233–268; Han Baltussen, „Plato Protagoras 340–348: Commentary in the Making?“, in: Philosophy, Science and Exegesis in Greek, Arabic and Latin Commentaries, Bd. I, Peter Adamson [u.a.] (Hrsg.), London 2004, S. 21–35; Andreas Josef Schick, „Interpretieren nur ungebildete Symposiasten Gedichte? Zum Verhältnis von Dialektik und Hermeneutik in Platons Protagoras“, in: Museum Helveticum, 66/2009, S. 193–214.

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Gedichten ‚stark‘ (δειvός) zu sein.61 Dann bietet Sokrates eine längere Interpretation des Gedichts, wobei er auf die διάvοιαdes Simonides zielt. Das Urteil des Sokrates ist am Ende offenbar dem des Protagoras eher entgegengesetzt und kulminiert in seiner Feststellung: Einige meinen, der Dichter würde das eine sagen, andere meinen etwas anderes; auch wenn sie es weiter erörtern, könnten sie die Sache nicht entscheiden (ἐξελέγξαι).62 Den Grund scheint Sokrates just darin zu sehen, dass es nicht möglich sei, den Dichter darüber zu befragen.63 Das ähnelt der Schriftkritik Platons; nur handelt es sich hier um die Perspektive des Lesers, wohingegen das Problem bei der Kritik im Phaidros aus der Sicht des angehenden Verfassers einer Schrift formuliert ist. In Platons Protagoras findet sich zwar nicht die kontrafaktische Imagination, dass der abwesende Dichter anwesend sei, aber der Dialog hätte einen Ansatz für eine solche Imagination geben können. Ohne die Anwesenheit des Dichters kann sein Gedicht zwar rezitiert werden, aber es scheint wenig Sinn zu machen, sich über die Interpretation seines Gedichts zu streiten. Sokrates selbst hätte vermutlich nicht zu einer solchen kontrafaktischen Imagination gegriffen, denn in der Apologia ist er der Ansicht, dass die Dichter nicht zur Interpretation ihrer eigenen Werke in der Lage seien.64 Wichtiger als eine mögliche Beeinflussung Augustins durch Platon ist der Umstand, dass es im Rahmen von Augustins kontrafaktischer Imagination nicht sicher ist, ob Moses aufgrund des komplizierten Autorschaftsverhältnisses bei der Heiligen Schrift selber zu einer vollgültigen interpretatio authentica in der Lage ist. Genau das bildet dann eine zweite Pointe, wenn Augustin sich die bange Frage stellt, woher er denn weiß, dass das, was ihm Moses sagt, auch wahr sei. Hier nun geht es nicht mehr allein um das Verstehen, sondern um die Wahrheit des Verstandenen. Aber warum dafür der Aufwand einer solchen kontrafaktischen Imagination? Dies führt zur dritten Pointe. Vereinfacht gesagt, handelt es sich um das Problem des menschlichen Zeugnisses. Nach antiker Vorstellung findet sich

61 Vgl. Platon, Protagoras, 338e. 62 Vgl. ebd., 347e. 63 Mehr oder weniger indirekt findet sich das immer wieder ausgedrückt, nur ein Beispiel: Giovanni Boccaccio, De genealogiis deorum gentilium libri [1350–60], a cura di Vincenzo Romano, Bari 1951, I (S. 8), wo darüber geklagt wird, dass es sehr schwer sei, den unter der Hülle der antiken Mythen verborgenen Sinn zu ermitteln. Da die Autoren bereits lange verstorben seien, könne man ihn, den eine harte Schale verberge, kaum genauer bestimmen; der Grund liege darin, dass allein die mit ihren Namen versehenen Schriften zurückgeblieben seien und somit der Sinn ihrer Schriften allein dem Urteil der Nachgeborenen überlassen sei: „Veteres quippe, relictis litteris suis nominibus insignitis, in viam universe carnis abiere, sensusque ex eius iuxta iudicium post se liquere nascentium, quorum quot sunt capita, fere tot inveniuntur iudicia.“ 64 Vgl. Platon, Apologia, 22a–b.

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der Ort der Behandlung des Testimoniums in der Topik, in der man die kunstgerechten von den kunstlosen Argumenten unterschied. Das Testimonium (das argumentum ab auctoritate) selbst ist lediglich ein locus inartificialis, und das heißt nichts anderes, als dass dieser Wissensanspruch nicht aus der Kraft der ratio oder aus der Evidenz der Sache oder mittels eigenen Sehens begründet ist. Ein menschlich bezeugter Wissensanspruch ist nach dieser Lehre immer nur vorläufig und second best – aber mehr noch: Nach der Theorie des Testimoniums muss sich dieser locus inartificialis grundsätzlich auf kunstgerechte loci zurückführen lassen. Bei jedem menschlichen Zeugnis nimmt man an, dass der Zeugnisgeber entweder kunstgerechte Gründe hatte, die seine Äußerungen begründen, oder dass er als Augenzeuge spricht. Kurzum: Der Zeugnisnehmer erscheint erst dann als gerechtfertigt, einem menschlichen Zeugnis zu vertrauen, wenn er Gründe hat, die kontrafaktische Imagination zu bilden, dass er denselben Wissensanspruch vertreten würde, wenn er an die Stelle des Zeugnisgebers träte65 – so sind die Worte des Moses, so er denn in der kontrafaktischen Imagination auf Augustins Fragen antworten würde, selber wiederum nur ‚Worte und Zeichen‘, ein ‚Schall von Silben‘, wie der Kirchenvater sagt, also nur ein kunstloses Argument, nicht begründet aus der ‚Sache‘ oder dem ‚Denken‘ selbst. Denn ‚Silben‘ meint bei Augustin immer das menschliche, sich in der Zeit vollziehende Sprechen im Unterschied zum nicht aus Silben bestehenden göttlichen ‚Wort‘.66 Während die menschliche Rede mit dem ‚äußeren‘, wird das göttliche ewige Sprechen im ‚inneren Ohr‘ vernommen.67 Seine Lehre entfaltet er in De Magistro, wonach nicht das menschliche Wort lehre, sondern dieses als äußeres Zeichen immer auf eine Sache verweist, die ‚innen‘ verstanden wird, es ist ein magister interior. Das in De Magistro behandelte Problem betrifft die Frage, was wir wollen, wenn wir sprechen: „Quid tibi videmur efficere velle, cum loquimur?“ – wie sein erster Satz lautet.68 Die Erörterung dieses Problems führt zu der Frage, inwieweit wir aus sprachlichen Mitteilungen lernen können. Augustins Zweifel an einem ‚Lernen aus Zeichen‘ beruht auf folgendem Dilemma: Um ein Zeichen zu ver65 Lutz Danneberg, „Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität“, in: Ders. [u.a.] (Hrsg.), Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, Berlin, New York 2002, S. 19–66. 66 Vgl. u.a. Augustin, Enarrationes in Psalmos [392–420] (CCSL 40), Ps. 103, 8 (S. 1527). 67 Vgl. Ders., De civitate Dei [413–26], XVI, 6: „Dei quippe sublimior ante suum factum locutio ipsius sui facti est immutabilis ratio, quae non habet sonum strepentem atque transeuntem, sed vim sempiterne manentem et temporaliter operantem. Hac loquitur angelis sanctis, nobis autem aliter longe positis. Quando autem etiam nos aliquid talis locutionis interioribus auribus capimus, angelis propinquamus.“ 68 Vgl. Augustinus, „De magistro liber vnvs“ [389], in: Sancti Avreli Avgvstini Opera, Sect. VI. Pars IV, recensvit et praefatvs est G. Weigel, Vindobonae 1961, I, 1 (S. 3).

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stehen, muss man wissen, was es bedeutet (wofür es gilt), doch dann lässt sich aus ihm nichts (Neues) mehr lernen. Und: Wenn man ein Zeichen nicht versteht, dann kann man auch nicht aus ihm lernen.69 Augustins Lösung dieses Dilemmas besagt, dass allein der göttliche Lehrer unser Lehrer sei.70 Im Rückblick hat er diese These von De magistro wie folgt zusammengefasst: „[…] in quo disputatur et quaeritur, et inuenitur, magistrum non esse qui docet hominem scientiam nisi deum, secundum illud etiam quod in euangelio scriptum est: Vnus est magister uester Christus.“71 Christus sei identisch mit der göttlichen veritas, er ist der ‚innere Lehrer‘ des inneren Menschen.72 In diesem Zusammenhang ist dann auch das Konzept des sermo interior zu sehen, das Augustinus in De Trinitate entfaltet. Das führt zur letzten Pointe dieses ersten kontrafaktischen Imaginationsbeispiels, die nicht darin liegt, dass Augustin so zum Erfordernis seiner ‚Erkenntnistheorie‘ findet. Sie besteht vielmehr in einer bestimmten Auszeichnung seines Konzepts des Erkennens. Wie gesagt: Nach der Zeugnistheorie ist man dann berechtigt, einem Zeugnis Vertrauen zu schenken, wenn man gute Gründe hat, die kontrafaktische Imagination zu bilden, dass man in der Situation (wie etwa in der des Moses) dieselben Wissensansprüche gebildet hätte. Nach Augustins Konzept des Erkennens bedarf es nun dieser kontrafaktischen Imagination gerade nicht. Der Sinn der Imagination zu Moses bei Augustin liegt darin, just die kontrafaktische Imagination, die in der Lehre des Testimoniums Voraussetzung für das Vertrauen in die Wahrheit des Zeugnisses ist, in diesem Fall entbehrlich zu machen – und das ist zu betonen, denn der Kirchenvater ist mitnichten ein Gegner der Testimoniumslehre. Die zweite kontrafaktische Imagination folgt in den Confessiones nur wenig später. In ihr versetzt sich Augustin nun an die Stelle des Moses als derjenige, der die Darstellung der Genesis bieten soll. Diese Imagination ist komplexer noch als die erste hinsichtlich der von ihr im gegebenen argumentativen Kontext erbrachten Leistungen: Ja, das hätte ich mir gewünscht, wäre ich damals Moses gewesen […] ich hätte also, wäre ich damals gewesen, was Moses war, und wäre mir Dein Befehl geworden, das Buch der Genesis zu schreiben, mir die Gabe einer solchen Sprachgewalt gewünscht, einer Art der Darstel-

69 Ebd., XXXIII.1 (S. 43): „Quod si diligentius consideremus, fortasse nihil invenies, quod per sua signa discatur. Cum enim signum mihi datur, si nescientem me invenit, cuius rei signum sit, docere me nihil potest, si vero scientem, quid disco per signum?“ 70 Aus der stattlichen Zahl der Forschung zu De Magistro Tilman Borsche, „Macht und Ohnmacht der Wörter. Bemerkungen zu Augustins ‚De magistro‘“, in: Burkhard Mojsisch (Hg.), Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter, Amsterdam 1986, S. 121–161. 71 Augustinus, Retractationvm [427], I, 12 (CCSL 52, S. 36); gemeint ist Matth 23, 10. 72 Vgl. Augustinus, De Magistro, XI, 38; XII, 40; XIV, 45 f.  

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lung, daß die einen, die noch nicht begreifen können, wie Gott schafft, meine Worte nicht als ihre Kräfte übersteigend zurückweisen dürften, daß die andern, die das schon vermöchten, auch nicht einen wahren Sinn, auf den sie durch Nachdenken kämen, in den wenigen Worten Deines Dieners beiseitegelassen fänden, daß endlich, wenn noch ein anderer im Lichte der Wahrheit wieder einen andern Sinn erschaut, auch dieser noch in denselben Worten sich verstehen ließe.73

Die erste Pointe dieses Imaginationsbeispiels liegt in der zweifachen Forderung an die Darstellung. Zum einen geht es darum, auch diejenigen nicht abzuschrecken, die noch nicht „begreifen können, wie Gott schafft“. Zum anderen soll die Darstellung aber auch so sein, dass auch diejenigen, die durch eigenes Nachdenken auf Wahrheiten (hinsichtlich der göttlichen Schöpfung) kämen, sie ‚noch in denselben Worten‘ verstehen könnten. Die Darstellung soll also so sein, dass sich alle ‚Wahrheiten‘ (über die Schöpfung) in ihr selbst finden oder in ihr verstehen lassen. Den Hintergrund für Augustins zweite kontrafaktische Imagination bilden die immensen Verstehensschwierigkeiten des Anfangs der Genesis. Die zweite Pointe liegt in der Frage nach der Beziehung von ‚Wahrheit‘ und ‚Sinn‘: Weshalb soll nicht auch eine Interpretation zulässig sein, die Wahres über den dargestellten Gegenstand behauptet, aber nicht der Intention des Verfassers der interpretierten Schrift (also der Moses) entspreche? Aufgrund dieses Umstands nun sollte man sich nach Augustin einer Entscheidung enthalten, welche dieser einander nicht widerstreitenden ‚Wahrheiten‘ die wahre Interpretation sei. Seine Imagination nimmt Augustin wieder auf, wenn er die ‚Mannigfaltigkeit wahrer Bedeutungen‘ sogar als etwas ansieht, das wünschenswert wäre. Damit will er freilich nicht einer Willkür der Deutungen das Wort reden, aber es stellt sich als dritte Pointe das Problem, zwar nicht die wahren, so doch die zulässigen Interpretationen einzugrenzen. So nimmt Augustin im Zuge seiner Imagination denn auch für Moses an, dass er alles „wahre“, das der Kirchenvater selbst zu finden vermochte, „bei seinen Worten gefühlt und beim Niederschreiben sich vorgestellt“ habe, „dazu auch all das wahre sonst, das wir eben nicht oder noch nicht zu finden vermochten, und das gleichwohl darin sich finden läßt.“74 Falls Moses

73 Vgl. Augustin, Confessiones [um 397–400], XII, 26, 36 (S. 730–733): „Vellem quippe, si tunc ego essem Moyses – […] – vellem ergo, si tunc ego essem quod ille et mihi abs te Geneseos liber scribendas adiungeretur, talem mihi eloquendi facultatem dari et eum textendi sermonis modum, ut neque illi, qui nondum queunt intellegere quamadmodum creat deus, tamquam excedentia vires suas dicta recusarent et illi, qui hoc iam possunt, in quamlibet veram sententiam cogitando venissent, eam non praetermissam in paucis verbis tui famuli reperirent, et si alis aliam vidisset in luce veritatis, nec ipsa in eisdem verbis intellegenda deesset.“ 74 Ebd., XII, 31, 42, S. 746 f.: „Sensit ille omnino in his verbis atque cogitavit, cum ea scriberet, quidquid hic very potuimus aut nondum potuimus et tamen in eis inveniri potest“.  

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nur an eine von den vielen wahren Bedeutungen gedacht habe, so sei die eine, an die er wirklich gedacht hat, erhabener als alle anderen.75 Die Erörterung der Frage freilich, in welchem Sinn der Kirchenvater hierbei zu verstehen sei, hält bis heute an.76 Nicht zuletzt aufgrund dieser Stellen sieht sich Thomas von Aquin aufgefordert,77 die Möglichkeit eines duplex respektive multiplex sensus literalis im Rahmen der theologischen Beweislehre zu erörtern: dabei nicht nur abwägend, sondern einen doppelten sensus literalis prinzipiell – das heißt aufgrund der göttlichen Verfasstheit der Schrift – als Möglichkeit zulassend, und zwar jeweils als (potentielle) vera interpretatio und nicht nur als Bedeutungsvermutung des Interpreten. Ohne hier auf die seit geraumer Zeit in der Forschung behandelten intrikaten Interpretationsprobleme eines duplex sensus literalis beim Aquinaten eingehen zu können,78 sei nur so viel angemerkt: Erstens, Thomas konzediert

75 Ebd.: „[…] etiamsi ille, per quem dicta sunt, unam fortassis ex multis veris sententiam cogitavit? Quod si ita est, sit igitur illa quam cogitavit ceteris excelsior, […].“ 76 Vgl. u.a. François Talon, „Saint Augustin a-t-il réellement enseigné la pluralité des sens littéraux dans l’Ecriture?“, in: Recherches de science religieuse, 11/1921, S. 1–28; José Llamas, „San Agustín y la multiplicidad de sentidos literales en la Escritura“, in: Religión y cultura. Revista mensual de los PP. Agustinos, 15/1931, S. 238–274; Seraphim M. Zarb, „Unité ou multiplicité des sens littéraux dans la Bible?“, in: Revue Thomiste, 37/1932, S. 251–300; Gaetano Perrella, „Il pensiero di S. Agostino e S. Tommaso circa il numero del senso letterale nella S. Scrittura“, in: Biblica, 26/1945, S. 277–302; Bertrand de Margerie, Introduction a l’Histoire de l’exégèse: III. Saint Augustin, Paris 1983, S. 61–107; auch die Literaturhinweise in: Institutiones Biblicae scholis accommodatae. 1. De S. scriptura in universum, Ed. sexta recognita, Roma 1951 [1927], S. 370–374, wo die Frage nur als eine terminologische der Bestimmung des sensus literalis angesehen wird (S. 372): „Ceterum solutio totius quaestionis videtur radicitus quaerenda in diversa ratione intelligendi sensum litteralem.“ 77 Vgl. Thomas, Summa Theologica, Roma 1925 [1266–73], I–I, 10, Resp. (S. 22), wo Augustin angeführt wird mit der zusammenfassenden Sentenz: „Non est inconveniens, si etiam secundum litteralem sensum in una littera Scripturae plures sint sensus.“ 78 So u.a. Albert Blanche, „Le sens littéral des Écritures d’après Saint Thomas d’Aquin. Contribution à l’histoire de l’exégèse catholique au moyen âge“, in: Revue Thomiste, 14/1906, S. 192–212; Paul Synave, „La doctrine de Saint Thomas d’Aquin sur le sens littéral des Ecritures“, in: Revue Biblique, 35/1926, S. 40–65; Franciscus Ceuppens, „Quid S. Thomas de multiplici sensu litterali in S. Scriptura senserit?“, in: Divus Thomas [Piacenza], 33/1930, S. 164–175; Seraphim M. Zarb, „Utrum S. Thomas unitatem an vero pluralitatem sensus litteralis in Sacra Scriptura docuerit“, in: Ebd., S. 337–359; Ders., „De Ubertate Sensus litteralis in Sacra Scriptura Secundum Doctrinam sancti Thomae Aquinatis“, in: Problemi scelti di teologia contemporanea, Roma 1954, S. 251–273; D. Eloino Nacar, „Sobre la unicidad o multiplicidad del sentido literal de las Sagras Escrituras“, in: Ciencia Tomista, 64/1943, S. 193–210; Ders., „Sobre la unicidad o la duplicidad del sentido literal en la Sagrada Escritura“, in: Ciencia Tomista, 68/1945, S. 362–372; Gaetano Perrella, „Unicità del senso letterale biblico“, in: Divus Thomas [Piacenza], 47–49/1944–46, S. 124–130; Ders., „Il pensiero di S. Agostino e S. Tommaso“; Henri du Lubac, Exégèse Médiévale, Tome I.1.2, II.1.2, Paris 1959–1964, II.2, S. 276–285; Mark F. Johnson, „Another Look at the Plurality of the Literal Sense“,

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einen solchen mehrfachen Literalsinn deshalb, weil er sich angesichts der göttlichen intentio auctoris nicht ausschließen lasse und daher (immer) möglich bleibe. Zweitens spricht er an keiner Stelle davon, dass sich die mehreren wörtlichen Bedeutungen widersprechen könnten. Für die Interpretationspraxis ist dies deshalb wichtig, da der theologische Beweis (probatio theologica) zum einen an das principium contradictionis gebunden war, das nach Aristoteles als das sicherste Prinzip überhaupt anzusehen und bei dem keine Täuschung möglich sei.79 Nach Aristoteles sagt derjenige, der dieses Prinzip nicht anerkennt, nichts Bestimmtes,80 und derjenige, der es leugne, erkenne es bereits an.81 Oder wie es Platon formuliert: Wer den Satz des Widerspruchs bestreite, vernähe allen Gegnern den Mund – aber freundlicherweise auch sich selbst.82 Zum anderen war der effektive Schriftbeweis aus dem literalen Sinn zu führen83 – in den Worten des

in: Medieval Philosophy & Theology, 2/1992, S. 117–141; Marc Aillet, Lire la Bible avec S. Thomas, Fribourg 1993, insb. Ch. 5 u. 6, S. 99–148. 79 Vgl. Aristoteles, Metaph, IV, 3 (1005 5 ff.); Übersetzung Hermann Bonitz: „[…] das sicherste unter allen Prinzipien ist dasjenige, bei welchem Täuschung unmöglich ist; […] welches aber dies ist, wollen wir nun angeben. Daß nämlich dasselbe demselben und in derselben Beziehung […] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann, das ist das sicherste unter allen Prinzipien [...].“ 80 Vgl. ebd., IV, 4 (1006 11 ff. sowie 1007 26 ff.). 81 Ebd., IV, 4 (1008 7 ff.) sowie IV, 5 (1010 9 ff.). 82 Vgl. Platon, Euthydemos, 303e. 83 Zur Bedeutungs- und Interpretationskonzeption bei Thomas aus der Forschung können wenige Hinweise genügen, denn zumeist zeigt sich die Forschung nicht sonderlich an dem interessiert, was hier die Pointe sein soll. Vgl. u.a. Marie-Dominique Mailhiot, „La pensée de Saint Thomas sur le sens spirituel“, in: Revue Thomiste, 67/1959, S. 613–663; Thomas F. Torrance, „Scientific Hermeneutics, According to St. Thomas Aquinas“, in: The Journal of Theological Studies, N.S. 13/1962, S. 259–289; Henri du Lubac, Exégèse Médiévale, Paris 1959–1964, Tome I.1.2, II.1.2, II.2, S. 272–302; Maximino Arias Reyero, Thomas von Aquin als Exeget. Die Prinzipien seiner Schriftdeutung und seine Lehre von den Schriftsinnen, Einsiedeln 1971; Alfons Hufnagel, „Wort Gottes: Sinn und Bedeutung nach Thomas von Aquin“, in: Helmut Feld [u.a.] (Hrsg.), Wort Gottes in der Zeit, Düsseldorf 1973, S. 236–256; Beryl Smalley, „William of Auvergne, John La Rochelle and St. Thomas Aquinas on the Old Law“, in: St. Thomas Aquinas, 1274–1974, Commemorative Studies. Vol. II. Toronto 1974, S. 11–72; Helmut Riedlinger, „Zur Unterscheidung der Verstehensbereiche der geschichtlichen und geistlichen Schriftauslegung“, in: Anton Ziegenaus (Hrsg.), Veritati Catholicae, Aschaffenburg 1985, S. 697–708; Marcel Dubois, „Mystical and Realistic Elements in the Exegesis and Hermeneutics of Thomas Aquinas“, in: Benjamin Uffenheimer/Henning Graf Reventlow (Hrsg.), Creative Biblical Exegesis. Christian and Jewish Hermeneutics Through the Centuries, Sheffield 1988, S. 39–54; Léon Elders, „La méthode en exégèse biblique d’après saint Thomas d’Aquin“, in: Divus Thomas (Piacenza), 93/1990, S. 225–242; Terence McGuckin, „Saint Thomas Aquinas and the Theological Exegesis of Sacred Scripture“, in: Louvain Studies, 16/1991, S. 99–110, sowie insbesondere am Beispiel seines Römerbriefkommentars Thomas Domanyi, Der Römerbriefkommentar des Thomas von Aquin. Ein Beitrag zur Untersuchung seiner Auslegungsme 









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Aquinaten: symbolica theologica non est argumentativa.84 Zwischen den Konfessionen bestand kein Dissens hinsichtlich einer solchen Auszeichnung des wörtlichen Sinns. Würde die Möglichkeit eines mehrfachen wörtlichen Sinns zu einer widersprüchlichen Bedeutungzuweisung führen, dann verlöre der sensus literalis seine Sonderstellung beim theologischen Beweis. Drittens macht Thomas, wenn ich es richtig sehe, hinsichtlich der Interpretationspraxis in seinen Kommentaren zur Heiligen Schrift, die sich dabei nicht unbedingt auf den sensus literalis beschränken, sowie bei seinen Verwendungen von dicta probantia keinen Gebrauch von einer solchen Möglichkeit. Für das Weitere lässt sich festhalten: Die erste kontrafaktische Imagination macht Moses zum Zeitgenossen des Kirchenvaters, die zweite macht Augustin zum Zeitgenossen des Moses – allgemein: Etwas wird aus der Vergangenheit in die Gegenwart (genauer: in eine spätere Zeit) und etwas aus der Gegenwart in die Vergangenheit versetzt. Es handelt sich also um in verschiedene Richtungen zeitüberspringende kontrafaktische Imaginationen. Die zweite Imagination Augustins wurde zum Ausgangsszenario für die in der Geschichte der Hermeneutik über das frühe Mittelalter hinaus anhaltende Erörterung eines sensus fecundus der Heiligen Schrift85 sowie für die heftigen Kontroversen um einen duplex sensus literalis. Zwar diente die erste Imagination Augustin dazu, die Testimoniumslehre in einem bestimmten Fall als unzureichend zu erklären, aber just diesen Imaginationstyp nutzen die Späteren dazu, die komplizierte Beziehung zu den Autoritäten auszudrücken: Wenn eine bestimmte Autorität noch lebte, dann würde sie einem bestimmten Wissensanspruch ihre Zustimmung nicht verweigern, selbst dann,

thoden, Bern [u.a.] 1979. Zu seinem konkreten interpretatorischen Vorgehen finden sich bislang kaum Untersuchungen, eine Ausnahme bildet C. Clifton Black, „St. Thomas’s Commentary on the Johannine Prologue: Some Reflections on Its Character and Implications“, in: The Catholic Biblical Quarterly, 48/1986, S. 681–698, insb. S. 684 f. 84 Vgl. etwa Thomas von Aquin, „Contra doctrinam retrahentium a religione“ [auch: „Contra retrahentes“, 1271], in: Ders., Opuscula Theologica, Bd. II […], Roma 1954, S. 159–190, hier cap. 7, 775 (S. 169): „Nec ab huiusmodi figuris efficax argumentatio trahitur, ut Augustinus dicit in quadam epistola contra Donatistas. Et Dionysius dicit in Epistola ad Titum, quod symbolica theologia non est argumentativa.“ Auch konzis in Ders., Summa Theologica [1266–73], I–I, q 1, a 10, ad prim. (S. 22), wo es über den ‚wörtlichen Sinn‘ (sensus literalis) heißt: „[…]; ex quo solo potest trahi argumentum, non autem ex iis quae secundum allegoriam dicuntur, […].“ Bereits in der quaestio VI seiner Quaestiones quodlibetales „De sensibus sacrae scripturae“, die auf 1256 datiert wird, erörtert er ausführlich die theologische Beweislehre, dabei findet sich ebenfalls die Formel unter Berufung Dionysius Areopgaita, vgl. Ders., „Quaestiones Quodlibetales“, in: Ders., Quaestions Disputatae […], Vol. Secundum […], Parmae 1859, S. 459–631, hier S. 562–565. 85 Vgl. dazu auch Lutz Danneberg, „Siegmund Jakob Baumgartens biblische Hermeneutik“, in: Axel Bühler (Hrsg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 88–157, insb. S. 135–140.  

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wenn klar wäre, dass diese Autorität zu Lebzeiten anderer Ansicht war. Das findet sich bereits im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit etwa bei Luther, aber auch bei solchen wissenschaftlichen Innovatoren wie Kepler oder Galilei; es findet sich indes nicht bei Descartes, der im übrigen reichlich Imaginationen verwendet, die freilich mitunter nur so erscheinen, als wären sie kontrafaktisch. Die beiden musterhaften Imaginationen bei Augustinus tauchen immer wieder auf – so denn auch bei Goethes Unterscheidung von zwei „Übersetzungsmaximen“: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herübergebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns seine Zustände, seine Sprechweise, seine Eigenheiten finden sollen […].86

Auf diese Weise sollen die Besonderheiten der eigenen ‚Nation‘ zurückgedrängt sein. An anderer Stelle, wo Goethe allerdings drei Arten der Übersetzung unterscheidet und sie dem Rang nach ordnet sowie in einer zeitlichen Folge sieht – die erste sei beispielhaft in Luthers, die zweite in Wielands und die dritte in Voß’ Übersetzungen exemplifiziert –, heißt es zur letzten Übersetzungsweise, dass sie das „Verständniß des Originals ‚höchlich erleichtere‘“, da wir „hierdurch […] an den Grundtext herangeführt, ja getrieben“ werden würden.87 Schließlich hält Goethe angesichts der orientalischen Literatur fest: „Wollen wir an diesen Produkten der herrlichsten Geister teilnehmen, so müssen wir uns orientalisieren, der Orient wird nicht zu uns herüberkommen.“88 Bei Wilhelm von Humboldt heißt es in der frühen Abhandlung Über das Studium des Alterthums, dass man bei der Übersetzung „den Geist des Lesers gleichsam zum Geist des [übersetzten] Schriftstellers stimmt“,89 und zwar als Anreiz, um sich das Original selber anzueignen. Und Schleiermacher spitzt dies zu einer Alternative zu:

86 Johann Wolfgang Goethe, „Zu brüderlichem Andenken Wielands“ [1813], in: Hans Joachim Störig (Hrsg.), Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1973, S. 35 f. 87 Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans, S. 126–267 „Übersetzungen“, S. 255–258, hier S. 258. 88 Ders., „Übergang von Tropen zu Gleichnissen“, in: Ebd., S.180–182, hier S. 181. 89 Humboldt, Über das Studium des Alterthums [1792/93], in: Ders., Werke in fünf Bänden, Andreas Flitner/Klaus Giel (Hrsg.), Bd. 2, Stuttgart 1961, S. 1–23, § 42, S. 23. In Ders., „Einleitung zu Aeschylos Agammemnon metrisch übersetzt von Wilhelm Humboldt“ [1816], in: Störig (Hrsg.), Das Problem des Übersetzens, S. 71–96, wird (auf S. 83) die Auffassung zurückgewiesen, „dass der Uebersetzer schreiben müsse, wie der Originalverfasser in der Sprache des Übersetzers geschrieben haben würde“.  

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Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen: oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.90

Diese kontrafaktische Imagination beim Übersetzen setzt sowohl bei Humboldt als auch bei Schleiermacher einen wissenden, damit bewegbaren und sich bewegenden Leser voraus, der grundsätzlich aus eigener Kraft sich mit dem Original in dessen Sprache verstehend auseinandersetzen kann und sich mehr oder weniger zu seinem Zeitgenossen zu machen vermag. Es ist der „Not“ geschuldet – wie Schleiermacher sagt – eines „Volks, von dem nur ein kleiner Theil sich eine hinreichende Kenntniß fremder Sprachen verschaffen kann, […]. Könnte dieser Theil ganz in jenen übergehen: so wäre denn jenes Uebersezen unnütz […].“91 Zwei Aspekte sind es, die deutlich werden, wenn Schleiermachers Vorstellungen vom Übersetzen vor dem Hintergrund älterer Sichtweisen im 18. Jahrhundert gesehen werden, auf die er sich offenkundig mit der von ihm abgelehnten ‚Methode‘ des Übersetzens bezieht, also der Bewegung des Schriftstellers auf den Leser hin. Es ist zum einen die Frage nach der angemessenen Bedeutungskonzeption; sie wird durch die kontrafaktische Imagination des Hineinversetzens charakterisiert; zum anderen ist es die sprachliche Vermittlung des (richtig) Verstandenen in Gestalt einer Übersetzung. Hier sind es zwei kontrafaktische Imaginationen: die Imagination, der Autor werde zum Zeitgenossen, sowie die Imagination, dem Leser der Übersetzung sei der Eindruck zu vermitteln, den er als jetziger empfangen würde, wenn er den übersetzten Text in der ursprünglichen Sprache lesen würde. Um zwischen diesen beiden offenkundig widerstreitenden kontrafaktischen Imaginationen zu entscheiden, dient Schleiermacher eine Annahme über die intime Beziehung von sprachlichem Ausdruck und dem zum Ausdruck gebrachten Gedankengang, mit der er zu zeigen unternimmt, dass allein die letzte von den beiden ‚Methoden‘ des Übersetzens die angemessene sei. Auf den ersten Blick scheint das ein wenig sinnvolles Unternehmen zu sein, denn in beiden Fällen handelt es sich um widerstreitende kontrafaktische Imaginationen, die beide offenkundig als falsch erscheinen. Doch solche Annahmen sind trotz ihrer Kontrafaktizität in einer gegebenen epistemischen Situation nicht unkritisierbar. Das Vergegenwärtigen, die Vorstellung, man können einen Autor so übersetzen, wie er sich ausdrücken würde, wäre er ein Zeitgenosse, wird bei Charles

90 Schleiermacher, „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ [1813], in: Störig (Hrsg.), Das Problem des Übersetzens, S. 38–70, hier S. 47. 91 Ebd., S. 67.

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Perraults (1628–1703) im Gedicht von 1687 Le siècle de Louis le Grand gegen die anhaltende Wertschätzung Homers als Vorbild genomen: Homer, lebte er noch in unserem Jahrhundert und wäre er in Frankreich geboren, hätte die Fehler, die sein Werk entstellen, vermeiden können.92 Auch wenn das Gedicht nicht frei von heftigem Nationalstolz erscheint, ist die Erwähnung Frankreichs nur pars pro toto; letztlich geht es um die Überlegenheit der Modernen gegenüber den Alten. In solchen vergegenwärtigenden Imagination sind es denn auch nicht selten Fehler oder Mängel, die die neue Zeit an einem überlieferten Werk erkennt und die es verunstalten. Das würde nicht allein sein in die Gegenwart versetzter Verfasser erkennen, sondern als Zeitgenosse müsste man diese Fehler nicht begehen. Eine kognitive Funktion des Typs der Vergegenwärtigungsimagination ist noch im 17. Jahrhundert eine Harmonisierung widerstreitender Inklinationen: Er bot die Möglichkeit, den eigenen Wissensanspruch, der von den Autoritäten nicht geteilt wurde oder sogar ihren Äußerungen explizit widerstritt, aufrecht zu erhalten, ohne dabei – und das ist die eigentliche Pointe – die kritisierte und überbotene Autorität als auctoritas zu zerstören. Wenn man so will, wird die Abweichung lokalisiert, und die Imagination verhindert gerade, dass sie umfassend wird und damit Nichtanschließbarkeit erzeugt. Deutlicher noch zeigt sich diese Funktion darin, dass oftmals zudem Erklärungen geboten werden, und zwar dafür, weshalb sich eine Autorität geirrt habe. Als besonders befriedigend erscheinen solche Erklärungen, wenn sie eine ‚Notwendigkeit‘ in dem Sinn aufzeigen, dass sich die Autorität in diesem ‚lokalen‘ Bereich irren musste und jeder andere sich in der gleichen Situation auch geirrt hätte. Solche präsentistischen kontrafaktischen Imaginationen stellen – wenn man so will – einen ersten Schritt zu der später immer häufiger genutzten Möglichkeit dar, eine Autorität respektive vorgetragene Wissensansprüche zumindest im Fall ihres Irrtums zu historisieren und damit zu relativieren. Wichtig ist noch die Beobachtung, dass die Verwendung kontrafaktischer Imaginationen sich hinsichtlich ihrer Wandelbarkeit als elastischer erweist, als man oftmals einzuräumen neigt, wenn man nach Diskontinuitäten, Sprüngen oder Brüchen in der Denkgeschichte fahndet. Kontrafaktische Imaginationen können hinsichtlich ihres Auftretens und ihrer Beliebtheit sowie im Blick auf die von ihnen erwarteten Leistungen bei nachhaltigeren Veränderungen der epistemischen Situation, in der sie eingeführt werden, stabil bleiben, auch wenn die Wahrnehmung und Entfaltung ihrer kognitiven Meriten nicht jenseits solcher

92 Vgl. Charles Perrault, Le siècle de Louis le Grand [1687], in: Ders., Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. 4 Vol. Paris 1688–1697 (ND München 1964), Vol. I, S. 165–171.

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Situationen zu sehen sind. An ihnen lassen sich Momente der Kontinuität ablesen, freilich auch der Diskontinuität, nämlich wenn ein bestimmter Typ kontrafaktischer Imagination keine Verwendung mehr findet, weil er keine kognitive Funktion mehr erbringt. Ein Beispiel: So macht angesichts der veränderten epistemischen Situation der vehement sich als Selbstdenker verstehenden Philosophen wie Kant, Fichte, Schelling oder Hegel ein solches Muster der kontrafaktischen Vergegenwärtigung als Autorisierung kaum mehr Sinn, und so habe ich bei den Genannten kein einziges Beispiel gefunden. Dabei kennt man diese Imgination noch, aber sie wird nurmehr abfällig kommentiert. So heißt es in Schellings Ideen zu einer Philosophie der Natur: Von jeher haben die alltäglichsten Menschen die größten Philosophen widerlegt, mit Dingen, die selbst Kindern und Unmündigen begreiflich sind. Man hört, liest und staunt, dass so großen Männern so gemeine Dinge unbekannt waren und dass so anerkannt-kleine Menschen sie meistern konnten. Kein Mensch denkt daran, dass sie vielleicht all das auch gewusst haben; denn wie hätten sie sonst gegen den Strom von Evidenz schwimmen können? Viele sind überzeugt, dass Plato, wenn er nur Locke lesen könnte, beschämt von dannen ginge; mancher glaubt, dass selbst Leibniz, wenn er von den Todten auferstünde, um eine Stunde lang bei ihm in die Schule zu gehen, bekehrt würde […].93

Freilich bedeutet die Entwertung dieses Typs kontrafaktischer Imagination nicht, dass in der veränderten epistemischen Situation kein autorisierender Bedarf mehr besteht. Nur wird er nun womöglich durch anderes befriedigt, das können, müssen aber nicht kontrafaktische Imaginationen sein. Was tritt aber an die Stelle der alten kontrafaktischen Imagination des Verstehens? Im wesentlichen ist es eine auf den ersten Blick hermeneutische, tatsächlich eine autorisierende Maxime, nämlich das Besserverstehen eines Autors, als dieser sich selbst verstanden hat. Zwar spielt auch hier der Name eines Autors, einer Autorität, eine Rolle, gleichwohl geht es um Texte. Durch dieses neue Muster der Imagination werden fremde Texte zu virtuellen Zeugen für den eigenen Wahrheitsanspruch. Das bedeutet indes nicht, dass der alte Typ der autorisierenden kontrafaktischen Imagination im Zuge veränderter epistemischer Situationen ganz ausstirbt – so finden sie sich noch im 20. Jahrhundert bei Philosophen und Naturwissenschaftlern, etwa in Konrad Lorenz’ berühmt-berüchtigtem Versuch von 1943, Kants Apriori als ein phylogenetisches Aposteriori aufzufassen. Am Ende dieses Versuchs stellt Lorenz sich selbst die Frage,94 wie das der seinen Aufsatz lesende Kant sehen würde – 93 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ [1797], in: Ders., Sämmtliche Werke, Erste Abth., Bd. 2. Stuttgart 1857, S. 1–344, hier S. 19. 94 Konrad Lorenz, „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“, in: Blätter für Deutsche Philosophie, 15/1941/1942, S. 94–125.

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man kann sich die Antwort leicht vorstellen.95 Ohne entsprechende epistemische Rahmung werden solche Imaginationen allerdings so funktionslos und so situationslos, dass es zumeist kaum wert erscheint, sie über ihren schlichten und unzeitigen ‚rhetorischen‘ Charakter hinaus zu analysieren.

V Das Sich-Hineinversetzen in den Leser und der sensus primorum lectorum Schon am Beginn des 20. Jahrhunderts hat man die Maxime des Sich-Hineinversetzens oftmals nicht mehr nachvollziehen können und sie mehr oder weniger mit mitleidigem Lächeln quittiert: Sie galt als ungemein naiv oder man deutete das reklamierte Sich-Hineinversetzen als Anspruch unmittelbarer Erfahrungen, gar als Verschmelzungsvorgang, wenn nicht sogar als eine Art unio mystica. Dieses spätere Unverständnis rührt nicht zuletzt aus dem Vergessen oder Übersehen, dass solche hermeneutischen Äußerungen als kontrafaktische Imaginationen verstanden werden wollen. Freilich wird – wie nicht unüblich – der kontrafaktische Charakter dieser Imagination zumeist nicht explizit markiert; wenn es doch geschieht, dann ist es eher die Ausnahme – so nennt Schleiermacher einmal diese Maxime eine „Fiction“;96 an anderer Stelle wird ein „gleichsam“ eingeschoben: „Die divinatorische [scil. Methode] ist die, welche, indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht.“97

95 Ebd., S. 124 f.: „Was würde Kant auf alledem sagen? Würde er unsere völlig natürliche Deutung der für ihn außernatürlichen Gegebenheiten der menschlichen Vernunft als jene Profanierung des Heiligsten empfinden, die sie in den Augen der meisten Neukantianer ist? Oder würde er sich angesichts des Entwicklungsgedankens, der ihm manchmal so nahe zu liegen schien, mit unserer Auffassung befreundet haben, daß die organische Natur kein amoralisches, von Gott verlassenes Etwas, sondern in allem ihrem schöpferischen Entwicklungsgeschehen grundsätzlich ebenso ‚heilig‘ ist wie in den höchsten Leistungen dieses Geschehens, in Vernunft und Moral des Menschen? Wir sind geneigt, dies zu glauben, denn wir glauben, daß die Naturforschung nie eine Gottheit zerschlagen kann, sondern immer nur die tönernen Füße eines von Menschen gemachten Götzen.“ 96 Friedrich Schleiermacher, „Einleitung in das neue Testament“ [1831/32], in: Ders., Sämmtliche Werke, 1. Abth., Bd. 8, Berlin 1845, S. 6. Ebenso spricht er von „Fiction“ hinsichtlich der Möglichkeit, die „grammatische Auslegung getrennt“ von der ‚psychologischen Interpretation‘ „zu vollführen“, vgl. Ders., Hermeneutik und Kritik, S. 164 [1832]. – Das ist nicht ungewöhnlich, vgl. z.B. Anton Friedrich Justus Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts [1799], 2., vermehrte und verbesserte Ausgabe, Altona 1806 (ND Düsseldorf 1966), § 3, S. 18, der von einer „Art juristischen Fiction“ spricht, die darin bestehe, dass das, was aus der „Raison des Gesetzes geschlossen“ werden könne, „als besonderer Wille des Gesetzgebers zu betrachten ist.“ 97 Schleiermacher, Hermeneutik, S. 105 [1819].  

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Auch ohne solche Markierungen dürfte kaum einer der Zeitgenossen diese Maxime nicht als kontrafaktisch, mithin als offenkundig falsch verstanden haben. Schleiermacher formuliert denn auch als Voraussetzung der „Anwendung der Kunst“, „daß man sich auf der objektiven und subjektiven Seite dem Urheber [scil. der Rede] gleichstellt.“ Das Vorgehen erscheint als „Kreis“: Denn der „Sprachschatz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze, aus welchem seine Schriften als das Einzelne müssen verstanden werden, und jenes wieder aus ihm.“98 Hier liegt keine Entdeckung eines Gebildes wie das des ‚hermeneutischen Zirkels‘ bei Schleiermacher. Er und andere in der klassischen Hermeneutik kennen keinen hermeneutischen Zirkel – so spricht er denn auch vom „scheinbaren Kreis“ –, einem der Lieblingskinder der philosophischen Hermeneutik, gewonnen aus vermeintlicher Einsicht in die Sache.99 Es zeigt sich auch, dass die beiden zentralen hermeneutischen Maximen – das Sich-Hineinversetzen und das Nachkonstruieren – in einer Hinsicht zwar sehr ähnlich sind, aber auf sehr verschiedenen philosophischen Annahmen beruhen. Wenn man weniger an einer Geschichte von Formulierungen von Wissensansprüchen als vielmehr an den Gründen für sie interessiert ist, dann zeigen sich trotz der formelhaften Übereinstimmung innerhalb von 200 Jahren nicht geringe Unterschiede. So verbindet sich beispielsweise die kontrafaktische Imagination des Sich-Hineinversetzens am Beginn des 19. Jahrhunderts mit einem Wandel der Bedeutungskonzeption. Auch hier muss ich mich kurz fassen. Der Abhandlung von Carl August Gottlieb Keil, die 1788 erscheint,100 lässt sich der Stand entnehmen, den die grammatisch-historische Interpretation erreicht hat. In dieser Schrift, die beim Erscheinen rege Beachtung gefunden hat,101 werden zahlreiche Fragen angesprochen, die weit über ihr Erscheinungsjahr hinaus zu den anhaltenden Themen der Auslegungslehre gehören sollten. Sein Lehrbuch der Hermeneutik des Neuen Testaments von 1810 fasst die Summe seiner hermeneutischen Überlegungen konzis zusammen und führt die Bezeichnung dieser Interpretationsweise dann auch im Untertitel: „nach den Grundsätzen der 98 Ders., Hermeneutik und Kritik, S. 94. 99 Hierzu Lutz Danneberg, „Die Historiographie des hermeneutischen Zirkels: Fake und fiction eines Behauptungsdiskurses“, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 5/1995, S. 611–624, sowie Ders., „Idem per idem“, in: Geschichte der Germanistik, 27/28/2005, S. 28–30. 100 Vgl. Keil, De historica librorum sacrorum interpretatione eiusque necessitate, S. 9, Anm. k. 101 In der vermutlich von Johann Gottfried Eichhorn verfassten Rezension: Anonym, [Rez.] „De historica […]“, in: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur, 2/1789, S. 463–465, heißt es (S. 465), dass gegen die „Haupt-Ideen dieses Programms […] im allgemeinen nichts zu erinnern seyn möchte“. Der Abschnitt zur historischen Interpretation bei Georg Lorenz Bauer, Entwurf einer Hermenevtik des Alten und Neuen Testaments. Zu Vorlesungen, Leipzig 1799, beginnend mit § 112., S. 96, folgt eng den in diesem Programm dargelegten Überlegungen Keils.

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grammatisch-historischen Interpretation“.102 Von diesem Werk heißt es in der Besprechung Johann Philipp Gablers, dass es „ungeachtet seines kleinen Volumens“, aber ohne „Widerrede“ an „innerem Gehalt alle bisherigen Hermeneutiken des N.T.“ übertreffe.103 Keil spricht – wie in der Zeit nicht selten – von grammatisch-historischer Interpretation. Aufschlussreich ist, wie er die Beziehung zwischen den beiden Arten der Interpretation bestimmt. Die grammatische sei ein ‚Hilfsmittel‘, das zur richtigen Auslegung der Heiligen Schrift führe; die historische dagegen gebe die ‚Natur‘ der Auslegung wieder und formuliere das Ziel, das die grammatische Interpretation anleite. Zwar seien beide (wechselseitig) miteinander verbunden, könnten aber auch (grundsätzlich) getrennt verfolgt werden.104 Das Ziel jeder Interpretation bestehe in der Ermittlung der ‚Gedanken‘ des Autors. Genau damit aber wird nach Keil die Auslegung historisch, denn es handle sich um eine historische Tatsache, die dementsprechend zu ermitteln sei.105 Das führt zu einer Reihe von Konsequenzen gegenüber der bisherigen Theorie und Praxis der Auslegung (der Heiligen Schrift): Keils Kritik richtet sich gleichermaßen gegen die interpretatio secundum analogiam fidei wie gegen das interpretatorische Ausgleichen von Widersprüchen im Text. Wie strikt er die historische Interpretation zu verfolgen gedenkt, wird deutlich, wenn er sich gegen jede Art externer Deutung bei gegebener Unverträglichkeit der biblischen Aussagen mit den in ihr bezeugten Lehrannahmen wendet: Stellen, bei denen über Gott anthropomorph gesprochen wird beziehungsweise so, dass die ‚Prinzipien der gesunden Vernunft von Gott und der menschlichen Seele‘ verletzt werden, dürften nicht Anlass sein, das Verständnis dieser Stellen anhand solcher Prinzi-

102 In der lateinischen Übersetzung fehlt allerdings der Untertitel, vgl. Carl August Gottlieb Keil, Elementa Hermenevtices Novi Testamenti, Latine reddita a Christ. Avg. Godofr. Emmerling, Lipsiae 1811. 103 J. P. Gabler, [Rez.] „Lehrbuch der Hermeneutik […]“, in: Journal für auserlesene theologische Literatur, 6/1811, S. 160–167, hier S. 164. 104 Keil, De historica librorum sacrorum interpretatione eiusque necessitate, S. 3 f.: „[…] et tamen ea non minus, vt puto, quam grammatica illa meretur spectari, cum haec quidem non nisi adiumentum nobis ostendat, quo ad sacrae scripturae intelligentiam licet peruenire, illa autem ipsam interpretationis naturam describat, sumumque nobis finem ob oculos ponat, ad quem illa omnis dirigi debeat, sitque praeterea vtraque arctissime quidem inuicem nexa, neque tamen ita coniuncta atque copulata, vt non possit vna absque altera esse.“ 105 Ebd., S. 4: „Quaenam igitur primum mihi dicatur historica librorum sacrorum interpretatio, facillimo videtur negotio doceri posse. Cum enim interpretari scriptorem aliquem, ipsa rei natura declarante, nihil aliud sit, quam docere, quamnam sententiam ille singulis libri sui verbis loquendique formulis subiiecerit, aut efficere, vt alter librum eius legens eadem cogitet, quae ipse scribens cogitauit, facile intelligitur, omnem interpretationem hactenus historicam esse, quatenus rem in facto positam et historice veram quaerit, eamque repertam esse docet […].“  

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pien zu konstruieren.106 Ohne der sana ratio (grundsätzlich) zu misstrauen, insistiert Keil darauf, dass die Ansichten der jeweiligen Verfasser „de Deo menteque humana, aliisque, de quibus dicitur“, zu ermitteln und sie zur Grundlage für die Bestimmung des Sinns der entsprechenden Stellen zu nehmen seien – schließlich habe man nicht immer über die Sache in gleicher Weise gedacht, und hiervon seien auch diejenigen nicht ausgenommen, die ‚göttliche Belehrung‘ beanspruchen konnten.107 Gegen Ende des Jahrhunderts sieht dann Georg Lorenz Bauer, konsequent Keil folgend, die Frage, ob eine Aussage über Gott in der Heiligen Schrift ‚anthropopathisch‘ zu verstehen sei, als von dem Verständnis (der Intention) des jeweiligen Schriftstellers abhängig.108 Freilich war die grammatisch-historische Interpretation, wie sie nicht nur Keil skizziert und praktiziert, nicht unumstritten. Früh kündigt sich das Problem in dem Streit zwischen Carl Friedrich Stäudlin (1761–1826) und Keil an. In seiner Abhandlung De Interpretatione librorum Novi Testamenti historica non unice vera fordert Stäudlin eine über die grammatisch-historische Interpretation hinausführende ‚religiöse und moralische‘ Ausdeutung der Heiligen Schrift.109 Diese Forderung erfährt von Keil in Übereinstimmung mit seiner Konzeption der historischen Interpretation eine knappe, gleichwohl intransigente Zurückweisung – sofern es die an der grammatisch-historischen Interpretation geübte Kritik betrifft.110 Nach einer umfangreichen und mitunter abschweifenden Replik Stäudlins weist Keil

106 Vgl. ebd., S. 6: „Quae cum ita sint, non possum equidem calculum meum Ven. Ivngii, Aldorfini Theologi [scil. Christian G. Junge 1748–1814], sententiae adiicere, qua in iis certe librorum sacrorum locis, in quibus Deo humana v.c. membra tribuantur, aut ipsum alicuius rei poenitere dicatur, aut alia tradi videantur, quae sanae rationis de Deo menteque humana decretis aperte repugnent, huiusque generis similibus locis, non nisi hac ipsa sana ratione in auxilium vocata definiri posse statuit, quonam illa modo sint intelligenda et explicanda.“ 107 Ebd., S. 6 f.: „Putauerim enim in eiusmodi locis interpretandis [scil. die der ‚gesunden Vernunft‘ widersprechen] illud potius quaerendum esse, quamnam scriptores, in quorum libris talia loca occurrant, eorumque aequales de Deo menteque humana, aliisque, de quibus dicitur, rebus sententiam fouerint, exque ea sensum illorum locorum constituendum, cum satis constet, non omni tempore eandem iis de rebus sententiam obtinuisse, vel apud eos etiam homines, qui diuina aliqua institutione gauderent.“ 108 Vgl. Bauer, Hermenevtica sacra V.T., Lipsiae 1797, § 52, S. 213–216. 109 Vgl. [Carl Friedrich Stäudlin], Academiae Georgiae Augustae Prorector cum Senatu sacra pentecostalia pie celebranda indicit. De Interpretatione librorum Noui Testamenti historica non vnice vera, Gottingae 1807. 110 Vgl. Carl August Gottlieb Keil, Lehrbuch der Hermeneutik des Neuen Testaments […], Leipzig 1810, § 5, Anm. *, S. 8; zudem Ders., „Vertheidigung der grammatisch-historischen Interpretation der Bücher des Neuen Testaments gegen die neuerlich wider sie erregten Zweifel und ihr gemachten Vorwürfe“, in: Analekten für das Studium der exegetischen und systematischen Theologie, 1/ 1812, S. 47–85.  

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nurmehr kurz auf diesen Streit hin.111 Die Auseinandersetzung bringt Gabler auf den entscheidenden Punkt: […] der Theolog ist doch bey der Exegese des N.T. interessirter, als der bloße Philolog; er will nicht bloß historisch wissen, was für Religionsmeinungen im N.T. vorkommen, sondern er will seinen eigenen Glauben daraus schöpfen; und dazu gehören, wenn man nicht mit den älteren Theologen den gesammten Inhalt des N.T. zur Norm seines Glaubens machen kann, complicirtere Operationen, als bloße historisch-grammatische Auslegung des N.T.112

Gabler beharrt dabei darauf, daß der grammatisch-historische Sinn der Bibel der einzig wahre Sinn derselben ist, wenn man nach dem bestimmten und vollständigen Sinn des Schriftstellers selbst fragt […], von diesem muß daher auch der Theolog, wenn er nicht willkührlich interpretieren will, ausgehen.113

Zugleich kann er Stäudlin rechtgeben, wenn es darum gehe, dass der „philosophirende Theolog“ in der Heiligen Schrift die „Grundlage seines christlichen Glaubens“ zu gewinnen versuche.114 Wichtig ist ihm aber, beides zu trennen: Allein alsdenn ist auch nicht bloß von Auslegung, sondern von theologischer Erklärung und Anwendung des N.T. zum bleibenden religiösen Gebrauche und von Auffassung einer allgemeinen, reinen und bleibenden religiösen Idee die Rede, die bey diesem oder jenem neutestamentlichen Schriftsteller auf eine bestimmte Art nach Verschiedenheit der Localität und Individualität ausgedrückt hat.115

111 Vgl. Carl Friedrich Stäudlin, „Ueber die blos historische Auslegung der Bücher des Neuen Testaments“, in: Kritisches Journal der neuesten Literatur, 1/1814, 4, S. 321–348, 2, 1, S. 1–39, und 2, S. 113–148; auch den knappen Hinweis bei Ders., Geschichte der theologischen Wissenschaften seit der Verbreitung der alten Litteratur. Zweyter Theil, Göttingen 1811, S. 416 f.; ferner Carl August Gottlieb Keil, „Einleitung“, in: Karl Wilhelm Stein, Ueber den Begriff und den obersten Grundsatz der historischen Interpretation des Neuen Testaments. Eine historisch-kritische Untersuchung, Leipzig 1815, S. iii–xvi. 112 Gabler, [Rez.] „Lehrbuch [1811]“, S. 166. 113 Ebd. – In der Rezension von Stäudlins „De Interpretatione“: G-r [Johann Philipp Gabler], [Rez.] „Academiae […]“, in: Journal für auserlesene theologische Literatur, 6/1811, S. 168–182, heißt es dementsprechend (S. 178): „Dieß sind nun die Einwände gegen die historische Interpretation des N. Test., von welchen diese, wenn sie nur richtig aufgefaßt wird, nach unsern eingeschalteten Gegenbemerkungen wohl nicht viel zu fürchten haben möchte; […].“ 114 Gabler, [Rez.] „Lehrbuch“ [1811], S. 166. 115 Ebd., S. 167. Vgl. auch G-r [Gabler], [Rez.] „Academiae“, S. 181: „Allein theils ist diese kritische Operation des philosophirenden Theologen nach Sprachgebrauch doch nicht eigentliche Auslegung, sondern Räsonnement über die biblischen Grundideen (notiones vniuersas); theils ist doch große Vorsicht nöthig, um nicht durch das Generalisiren der religiösen Vorstellungen den positiven Charakter der christlichen Religion ganz zu verwischen; theils setzt doch immer diese  

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Gabler möchte den programmatischen Titel des Beitrages Stäudlins – De Interpretatione librorum Novi Testamenti historica non unice vera – entsprechend geändert wissen: „interpretationem librorum N.T. historicam non sufficere ad rite eruendam rectiusque constituendam puriorem doctrinam christianam, docetur“.116 Damit ist das zentrale Problem für die Diskussion der grammatisch-historischen Interpretation formuliert: Der Heiligen Schrift, von Menschen für Menschen ihrer Zeit verfasst, droht theologische Insuffizienz; die Beschäftigung mit ihr erscheint als „profane Szienz“.117 Diese Kontroverse und der damit verbundene Wandel der Bedeutungskonzeption findet auch in dem Versuch Ausdruck, sich nicht allein an der Autorintention, sondern zudem an dem ursprünglichen Leser und der Formel: sensus auctoris et primorum lectorum, respektive auditorum118 zu orientieren. Mit dieser Formel wird das, was sich als Bedeutung einem Text zuschreiben lässt, auf das beschränkt, was seinen historischen Adressaten prinzipiell mitteilbar und verständlich gewesen ist. So kann Schleiermacher angesichts der Interpretation der Schriften des Neuen Testaments und der Inspirationslehre sagen, dass man „nicht glauben“ sollte, „daß bei den Schriften die ganze Christenheit unmittelbar Gegenstand gewesen“ sei: Denn sie sind ja alle an bestimmte Menschen gerichtet und konnten auch in Zukunft nicht richtig verstanden werden, wenn sie von diesen nicht waren richtig verstanden worden. Diese konnten aber nichts anderes als das bestimmte Einzelne darin suchen wollen, weil sich für sie die Totalität aus der Menge der Einzelheiten ergeben mußte. Also müssen wir sie eben so auslegen und deshalb annehmen, daß wenn auch die Verfasser todte Werkzeuge gewesen wären, der h[eilige] Geist durch sie doch nur könne geredet haben so wie sie selbst würden geredet haben.119

Ansicht voraus, daß der vollständige und bestimmte Sinn einer Stelle local und temporell sey, der nur in seiner generellen Idee für die Nachwelt fruchtbar seyn kan.“ 116 Ebd., S. 179. 117 So z.B. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums [1803], auf der Grundlage des Textes der Ausgabe v. Otto Weiß mit Einleitung und Anmerkungen neu hrsg. v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1974 [1911], S. 96: „Die Zurückweisung auf den Buchstaben einiger Bücher machte notwendig, daß die ganze Wissenschaft sich in Philologie und Auslegekunst verwandelte, wodurch sie eine gänzlich profane Szienz geworden ist, und wo man das Palladium der Rechtgläubigkeit in der sogenannten Sprachkenntnis sucht, ist die Theologie am tiefsten gesunken und am weitesten von ihrer Idee entfernt.“ 118 Lutz Danneberg, „Schleiermachers Hermeneutik im historischen Kontext – mit einem Blick auf ihre Rezeption“, in: Dieter Burdorf/Reinold Schmücker (Hrsg.), Dialogische Wissenschaft: Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn 1998, S. 81–105. 119 Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, S. 81 [1819].

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Ohne Einschränkungen beruht Schleiermachers Verstehenslehre auf dem bedeutungskonzeptionellen Grundsatz: Man müsse „zwischen sich und dem Autor dasselbe Verhältnis herstellen wie zwischen ihm und seiner ursprünglichen Adresse“.120 Diesen Grundsatz hat Schleiermacher nicht nur nicht kreiert, sondern er hat ihn auch mit nicht wenigen seiner theologischen Kollegen geteilt. Bei den verschiedenen Formulierungen, die sich bei Schleiermacher für diese Bedeutungskonzeption finden, bietet eine frühe am Beginn seiner intensiveren Beschäftigung mit der Hermeneutik noch Anklänge an das Sich-Hineinversetzen: „Man muß suchen der unmittelbare Leser zu werden um Anspielungen zu verstehen, um die Luft und das besondere Feld der Gleichnisse zu verstehen.“121 Die Maxime verwandelt sich in eine methodologische Anweisung für die Interpretation zur Wahl des Kontextes: „Erster Kanon. Alles was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Rede, darf nur aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden.“122 August Boeckh führt als einen „wichtigen Kanon der Auslegung“ an: „man erkläre nichts so, wie es kein Zeitgenosse könnte verstanden haben.“123 Der in hermeneuticis wortkarge Karl Lachmann amalgamiert in einer Bemerkung zum Grundsätzlichen des „philologischen Verständnisses“ beide Maximen: Man werde mit „folgsamer hingebung die gedanken absichten und empfindungen des dichters, wie sie in ihm waren und wie sie den zeitgenossen erscheinen mussten, rein und voll zu widerholen“ suchen.124 Diese Auffassung der Bedeutung eines Textes erscheint als der radikale, weil in bestimmter Weise nicht mehr zu überbietende Endpunkt eines Wandels, der in der hermeneutica sacra dazu führt, dass die Heilige Schrift jede überzeitliche Geltung verliert und ihr eine solche bestenfalls punktuell und kontingent zuzuschreiben ist. Diese Bedeutungskonzeption schließt denn auch den Kreis zu der zweiten kontrafaktischen Imagination Augustins, die ihn und viele andere zum sensus fecundus geführt hat: Es handelt sich zum Beispiel um die Vorstellung des reformierten Theologen Johannes Coccejus, die bei Anhängern wie Kritikern zur

120 Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 98 [1832]. 121 Schleiermacher, Hermeneutik, S. 32 [1805, 1809/10], auch S. 62 [1909/10]: das, was „dem Schriftsteller und ursprünglichen Leser gemeinschaftlich sein konnte“. 122 Schleiermacher, Hermeneutik, S. 86 [1819]. 123 Boeckh, Encyklopädie, S. 106; noch einmal wiederholt (S. 121): „In der Regel nämlich darf, auch wo es der grammatische Sinn zuläßt, durch die historische Interpretation nicht mehr in die Worte gelegt werden, als die, an welche der Autor sich wendet, dabei denken konnten.“ 124 Karl Lachmann, „Vorrede“, in: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, mit Anmerkungen von G. F. Benecke u. Dems., 2. Ausg., Berlin 1843 [1827], S. III–X, hier S. III (meine Hervorhebung).

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sprichwörtlichen Maxime geworden ist: „Verba scripturae tantum significant ubique, quantum significare possunt.“125 Es verleiht der Vorstellung Ausdruck, dass der biblische Text mehr als nur eine intendierte (literale) Bedeutung haben könne, also einen sensus fecundus (foecunditas, sensus latus) beherbergt. Der sensus fecundus der coccejanischen Auslegungslehre wie die entsprechende exegetische Praxis richtet sich an der hermeneutischen Maxime aus, dass jeder Ausdruck der Heiligen Schrift alles das bedeute, was als Bedeutungszuweisung möglich sei, wobei das einzige Kriterium darin besteht, dass diese Bedeutungszuweisung der Heiligen Schrift etwas Wahres zuweist (wie bereits bei Augustin). Freilich bleibt bei dieser hermeneutischen Maxime alles davon abhängig, inwieweit die Qualifikation des quantum Beachtung findet, die Coccejus selbst andeutet: „Quantum ex intentione loquentis, ex analogia stili sancti & rei ipsius, secundum antecedentia & consequentia significare possunt“.126 Just die eine kontrafaktische Imagination desselben Typs, nämlich sich in die Grenzen der ersten Leser zu imaginieren, bringt nun die definitive Absage an einen derartigen Sinn zum Ausdruck – für die Heilige Schrift, nicht für profane literarische Werke, denen ein verändertes Literaturkonzept zur gleichen Zeit die (ästhetische) Eigenschaft, einen mehr oder weniger unausschöpflichen Sinn zu haben, als Gütemerkmal attestiert. Anwenden lässt sich diese Bedeutungskonzeption zudem auf das Konzept des Übersetzens, wie es beispielsweise bei Wilamowitz-Moellendorf geschieht: Es [scil. das Übersetzen] ist kein freies Dichten (ποιεîv); das dürften wir nicht, gesetzt, wir könnten es. Aber der Geist des Dichters muß über uns kommen und mit unseren Worten reden. Die neuen Verse sollen auf ihre Leser dieselbe Wirkung tun wie die alten zu ihrer Zeit

125 Diese Sentenz geht auf Passagen zurück wie in Coccejus, „Summa Theologiae ex Scripturis repetita“ [1662, 1665], in: Ders., Opera Omnia Theologica, Exegetica, Didactica, Polemica, Philologica Divisa in Decem Volumina, Vol. VII/1, Editio Tertia, auctior & emendatior, Amstelodami 1701, S. 131–403, lib. VI (S. 229): „[…] nam quis potest dubitare, significare verba Sp. S. quod valent […].“ 126 Hierzu auch die Hinweise des Sohnes des Coccejus, vgl. Johann Heinrich Coccejus, „Praefatio“ [1675], in: Coccejus, Opera Omnia, Vol. I/1, unpag. (S. 24). – Ferner, um nur ein einziges Beispiel herauszugreifen: Jakob Alting (1618–1676), „Commentarii absolutissimi theoreticopractici in Epistolam ad Romanos“, in: Ders., Opera omnia theologica; analytica, exegetica, practica, problematica & philologica. In tomos quinque tributa […], Vol. IV [pars altera], Amstelodami 1687, ad Rom. XI, S. 29: „Non fragmenta dictorum, sed integrae historiae, integrae conciones et prophetiae sunt inspiciendae; in suo nexu cum antecedentibus et consequentibus. Saepius in eo delinquitur, et separatim dicta quaedam producuntur ad probationem, quae nonnumquam nihil ad rem faciunt, cum eo sensu non usurpentur, et nexus aliud postulet. Neque enim in verbis est veritas absolute, sed in sensu, qui ex scopo et nexu apparet.“

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auf ihr Volk und heute noch auf die, welche sich die nötige Mühe philologischer Arbeit gegeben haben.127

Es erscheint als eine Wiederbelebung durch Zurückverlegung: „es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.“128

VI Zum Interpreten als Experimentalapparatur und zur Ethik der Interpretation Im Unterschied zu den kontrafaktischen Imaginationen der Vergegenwärtigung, bei denen es keines speziellen Wissens bedurfte, musste man bei den philologischen Imaginationen sowohl ein bestimmtes Wissen erwerben, als auch von einem bestimmten Wissen absehen – das ist auf den Punkt gebracht, was das Sich-Hineinversetzen bedeutet. Der Philologe muss etwas erwerben – das ist mühsam – und zugleich muss er etwas aufgeben: Das erfordert, sich gegen seine eigene Wirklichkeit so zu modellieren, respektive sich selbst so zu disziplinieren, dass man ein bestimmtes Wissen in einer bestimmten Konstellation (anhaltend) unter Kontrolle hält. Wenn sich das Irreführende in der Formulierung bannen ließe, dann könnte man sagen: Im Zuge der kontrafaktischen Imagination bildet der Philologe aus sich eine Experimentalapparatur, um die Vergangenheit bei Isolierung bestimmter Einflussfaktoren zu erkennen. Vielleicht der letzte, der das noch gesehen hat, ist Wilhelm Dilthey, wenn auch bereits mit starker psychologisierender Akzentsetzung: Indem nun aber der Ausleger seine eigne Lebendigkeit gleichsam probierend in ein historisches Milieu versetzt, vermag er von hier aus momentan die einen Seelenvorgänge zu betonen und zu verstärken, die anderen zurücktreten zu lassen und so eine Nachbildung fremden Lebens in sich herbeizuführen.129

127 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, „Was ist übersetzen?“, in: Ders., Reden und Vorträge, Bd. I.4, umgearb. Aufl., Berlin 1925, S. 1–36, hier S. 6. Ich kann hier nicht auf die Unterschiede zu den Vorstellungen eingehen, die sich mit dem Ausdruck renasci verbunden haben, und zwar im Blick auf eine Regeneration einer Gegenwart, vgl. u.a. Laurenz Bösing, „Zur Bedeutung von ‚Renasci‘ in der Antike“, in: Museum Helveticum, 25/1968, S. 145–178. 128 Wilamowitz-Moellendorff, „Was ist übersetzen?“, S. 8. Zur Metempsychose u.a. H. S. Long, A Study of the Doctrine of Metempsychosis in Greece from Pythagoras to Plato, Princeton 1948; Kurt von Fritz, „᾿Εστρὶς ἑϰατέρωθι in Pindar’s Second Olympian and Pythagoras’ Theory of Metempsychosis“, in: Phronesis, 2/1957, S. 85–89; R. S. Bluck, „Plato, Pindar and Metempsychosis“, in: The American Journal of Philology, 79/1958, S. 404–414. 129 Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“ [1900], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, Göttingen 1968 [1957], S. 317–338, hier S. 330.

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Bereits bei Herder findet sich das entsprechende Gedankenexperiment, wenn er imaginiert: „Könnte ich […] einige Tautropfen als Tropfen der Vergessenheit auf meine Leser sprengen, daß sie das trefflich Stück ganz und allein und unvermengt mit vorigen Farben und Eindrücken fühlen!“130 Die gelegentlichen Vergleiche des Seminars mit dem Laboratorium bringen freilich oftmals anderes zum Ausdruck. So heißt es in einer Beschreibung des Seminars von Friedrich Ritschl: Ritschl lehrte durch Beispiel und Praxis, was als Verbindung persönlicher Kunst und kritischer Wissenschaft schwer lehrbar ist: Methode. Das war das große Geheimwort des Seminars. Die Voraussetzungen dazu, angeborener Scharfsinn, weite Übersicht, Belesenheit und unermüdlichen Fleiß, mußte man mitbringen; […] bis die Sicherheit des Handwerks sich mit plötzlicher Intuition zu der Erkenntnis verband: so und nicht anders muß es geheißen haben. Das Seminar habe keine fertigen Resultate; es war eine Werkstatt, eine Art Laboratorium lebendiger Forschung.131

Kritisch ist der Vergleich zwischen Philologe und Experimentator aus der Sicht Wilhelm Wundts: So ist die psychologische Conjecturalkritik eine Art kritisches Experimentalverfahren, welches sich freilich leider von dem normalen Experiment durch die bedenkliche Eigenschaft

130 Johann Gottfried Herder, „Lieder der Liebe“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 3, Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1990, S. 431–522, hier S. 459. Vgl. auch August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Dritter Teil (1803–1804): Geschichte der romantischen Litteratur. Heilbronn 1884, S. 14 f.: „Grade die am meisten schöpferischen Geistes haben ihren Werken die eigenthümliche Gestaltung eingeprägt; es ist daher zum Studium solcher Dichter nothwendig, sich in sie zu vertiefen, sich ihnen ganz hinzugeben; dazu muß man sich wieder in die Mitte ihres Zeitalters, ihrer Nation versetzen, um von da aus ihre Weltansicht zu theilen, welches denn nicht geschehen kann, ohne daß man sich persönlicher Neigungen und Gewöhnungen entäußert. Da diese aber nur zu oft unser Urtheil einfließen, da dieses nicht selten durch eine Menge unbewußter Vergleichungspunkte modificiert wird, so muß man sich darüber mit sich selbst ins klare setzen. Weil nun die letzten natürlich von der nächsten Umgebung hergenommen zu seyn pflegen, so scheint nichts dienlicher, als, ehe wir uns durch einen Sprung über Länder und Jahrtausende zu dem Entferntesten, zu dem alten Homer wenden, ehe wir uns auf die große Weltumsegelung wagen, zuzusehen, wie es bey uns zu Hause steht, und unsre Ansichten in einer allgemeinen Übersicht des gegenwärtigen Zustandes an einander zu messen.“ 131 Zit. nach Hans I. Bach, Jacob Bernays: ein Beitrag zur Emanzipationsgeschichte der Juden und zur Geschichte des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert, Tübingen 1974, S. 42. Die Darlegungen von Bach in dem Abschnitt „Meister der Philologie: Friedrich Ritschl“ (vgl. ebd., S. 41–44) stützen sich ohne Einzelnachweis für die Aussagen auf Otto Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschl. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie, Bd. I, Leipzig 1879, S. 76 f., Bd. II, Leipzig 1881, S. 29 f. und S. 169, sowie auf Friedrich von Bezold, Geschichte der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms-Universität, Bd. I, Bonn 1920, S. 314 ff. und S. 386 ff. (vgl. Bach, Jacob Bernays, S. 41, Anm. 12).  









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unterscheidet, daß bei ihr der Experimentator nicht bloß, nach Baco’s Ausdruck, Fragen an die Natur richtet, sondern diese Fragen auch selber beantwortet. […] Der Naturforscher muß seine Objecte unter möglichst günstigen Bedingungen beobachten; aus falschen Experimenten kann er nichts lernen. Für den Kritiker ist das Irrthümliche und Verfehlte mitunter belehrender als das Wahre und Schöne.132

Ähnliches gilt auch für den durch die philologische Mikrologie mitunter nahe liegenden Vergleich mit dem Mikroskop. So spricht beispielsweise Boeckh in einem Atemzug von den „quaestiones grammaticae subtilitissimae“ und den „physicorum observationes microscopiae“;133 und gelegentlich sagt er: „[…] man darf der Philologie, die nur mit unbewaffneten Auge des Geistes sehen kann, ihre Mikrologie ebenso wenig verargen als der Naturforschung die Mikroskopie, wenn letztere auch wichtigeres als erstere an das Licht bringt.“134 Im Einsatz der ‚klassischen‘ Instrumente wie Teleskop und Mikroskop zur Erweiterung des ‚Sichtbaren‘ sieht man gleichwohl nicht selten gerade kein Pendant zur philologischen (Seminar-)Arbeit. So erkennt beispielweise Boeckh einen gravierenden Unterschied gegenüber den Naturwissenschaften darin, daß […] dieser Theil der Erfahrungswissenschaft des mächtigen Hebels entbehrt, welchen die Naturforschung an dem Instrumentalen und dem Versuche hat, der von verständiger Absicht geleitet, bisweilen auch von Zufall begünstigt, die Natur zwingt ihr verborgenes Inneres zu zeigen. Nichts kann der geschichtlichen Forschung einen Ersatz für Teleskop und Mikroskop und dem übrigen Apparat der physischen Wissenschaften geben.135

Dreißig Jahre später heißt es bei Wilhelm Scherer: Für [das] Verständnis geistiger Erscheinungen giebt es keine exacte Methode; es gibt keine Möglichkeit unwidersprechliche Beweise zu führen; es hilft keine Statistik, es hilft keine Deduction a priori; es hilft kein Experiment. Der Philolog hat kein Mikroskop und kein Scalpell; er kann nicht anatomisiren, er kann nur analysiren.136

132 Wilhelm Wundt, „Lessing und die kritische Methode“, in: Ders., Essays, Leipzig 1885, S. 367–386, hier S. 384 f. 133 August Boeckh, „Oratio nataliciis Friderici Guilelmi III.“ [1822], in: Ders., Orationes in vniversitate litteraria Friderica Gvilelma Berolinensi habitae, Ferdinandus Ascherson (Hrsg.), Lipsiae 1858, S. 100–110, hier S. 103. 134 Ders., „Eröffnungsrede“ [1850], in: Ders., Gesammelte kleine Schriften, Bd. 2, Leipzig 1859, S. 183–199, hier S. 190. 135 Ders., „Ueber die Pflichten der Männer der Wissenschaft. Festrede“ [1855], in: Ders., Gesammelte kleine Schriften, Bd. 2, Leipzig 1859, S. 115–130, hier S. 125. 136 Wilhelm Scherer, „Goethe-Philologie“ [1877], in: Ders., Aufsätze über Goethe, Berlin 1886, S. 1–27, hier S. 4. Zur Gleichsetzung von Analysis und Anatomie seit der Mitte des 16. Jhs., nicht zuletzt unter dem Eindruck der Anatomie des Vesalius, vgl. Lutz Danneberg, Die Anatomie des  

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Diese in der Tendenz resignative Einsicht kann hinsichtlich der Wertung denn auch umgekehrt werden. So heißt es bei Julius Wellhausen zur ‚Methode‘: „Es kommt nicht bloß auf die Brille an, sondern auch auf die Augen.“137 Das mitunter recht langatmige, aber nur wenig über den Tellerrand blickende Buch Objektivität von Lorraine Daston und Peter Galison beschreibt Ähnliches als Entdeckung der Objektivtiät in Gestalt der Bindung an neu entwickelte technische Darstellungsmittel.138 Aber das ist nur ein Moment und eher haben die Naturwissenschaftler in dieser Hinsicht die Tugenden der Philologen imitiert als umgekehrt. Es spannt sich ein großes Feld der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der philologischen Tätigkeit auf, das sich im Spannungsfeld zweier Formen der Selbstdisziplinierung auftut: der Methode und des philologischen Takts,139 sobald man versucht, seine eigene scientific persona in – wie Lachmann sagt –,folgsamer hingebung‘ zu begreifen.140 Das ist das, was sich mehr oder weniger erzeugen lässt. Aber mitunter genügt das nicht. Die Umgebung, in der das Sich-Hineinversetzen erfolgt, muss hinreichend Ähnlichkeiten aufweisen, zumal dann, wenn es sich um eine als bedeutsam eingestufte Leistung handelt. So heißt es bei Wilhelm Dilthey angesichts der von ihm bewunderten Beschäftigung Schleiermachers mit Platon: Die Herstellung jedes geschichtlichen Zusammenhangs aus den Quellen erfordert eine geistige Atmosphäre der Zeit, welche das Wiederverständnis möglich macht. Wolfs Homer trat mitten in einer großen, dichterischen Bewegung hervor. […] So ist nun auch Schleiermacher zu Plato geführt, bei ihm festgehalten und zu dessen Verständnis erzogen worden, indem vor seinen Augen das Schauspiel der Entfaltung des deutschen Idealismus in Dichtung, Philosophie und Literatur sich abspielte. Welche Ähnlichkeit hatte doch diese Bewe-

Text-Körpers und Natur-Körpers: das Lesen im liber naturalis und supernaturalis, Berlin, New York 2003. – In der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts sind für das vergleichende Vorgehen die zeitgenössischen Erfolge der ‚vergleichenden Anatomie‘ Vorbilder gewesen, so etwa bei Friedrich Schlegel, „Über die Sprache und Weisheit der Indier“ [1808], in: Ders., Kritische Ausgabe, Abt. I, Bd. 8, Ernst Behler (Hrsg.), München 1975, S. 105–317, oder Jacob Grimm, Deutsche Grammatik. Theil I, Göttingen 1819, S. XII. 137 Julius Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten, 6. Heft: 1. Prolegomena zur ältesten Geschichte des Islams; 2. Verschiedenes, Berlin 1899 (ND 1985), S. VIII. 138 Vgl. Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität. Aus dem Amerikan. von Christa Krüger, Frankfurt a.M. 2007 [amerikan. Orig.: Objectivity, New York 2007]. 139 Vgl. dazu auch den Beitrag von Carlos Spoerhase in diesem Band. 140 Zum Hintergrund vgl. Lutz Danneberg, „Dissens, ad-personam-Invektiven und philologisches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts: Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche“, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern, Frankfurt 2007, S. 93–147.

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gung mit der im Zeitalter Platos! Dort wie hier trug die dichterische und literarische Bewegung die philosophischen Systeme.141

Gelegentlich ist hervorgehoben worden, dass in einer bestimmten Zeit die Naturwissenschaften bestrebt gewesen seien, „den Eindruck zu vermitteln, wissenschaftliche Entdeckungen würden sich ohne jede Beteiligung des Forschers gleichsam von selbst ergeben“, durch eine Weise der „Selbstauslöschung“. So plausibel solche Annahmen auch auf den ersten Blick erscheinen mögen: Sie beruhen nicht selten auf problematischen Schlüssen und metaphorischen Verknüpfungen – so etwa, wenn man die „Rhetorik der Selbstauslöschung“ an Züge eines „unpersönliche[n] Stil[s]“ bindet und daraus eine „Selbstauslöschung“ zu erkennen meint.142 Die Philologie würde es freuen, wenn ihr Geschäft so einfach wäre. Neben der Auslöschung wird noch ein zweite Strategie ausgemacht, nämlich das Zeigen von „Mühelosigkeit“ durch Tilgung des „Aufwandes an Mühe“, die der „Forscher“ bei der wissenschaftlichen Arbeit gehabt habe. Diese Strategie habe „bis heute wenig Aufmerksamkeit“ gefunden.143 Sie beruht auf der „Unterstellung, dass Entdeckungen, die mit geringem Aufwand gemacht wurden, wahrscheinlich wahr sind“.144 In „vielerlei Hinsicht“ könne die Rhetorik der Selbstauslöschung als ein Extremfall der Ersteren gesehen werden, denn der beste Weg, die Mühelosigkeit einer Tätigkeit auszustellen, besteht darin, jede Form der menschlichen Beteiligung überhaupt zu leugnen. Die Rhetorik der Mühelosigkeit ist jedoch vielseitiger und flexibler: Sie erlaubt es dem Wissenschaftler, einerseits die Erkenntnisse als persönliche Leistung unverhohlen für sich in Anspruch zu nehmen und dieses andererseits als objektiv darzustellen.145

Nahezu alle Untersuchungen dieses Zuschnitts versuchen, eine zeitliche Entwicklung zu insinuieren. In diesem Fall erscheint das schon dann als problematisch, wenn man den seit Plutarch (um 25–um 125) bestehenden Verdacht nimmt, die Griechen, nicht zuletzt Archimedes (287–212), hätten die Darlegungen ihrer ma-

141 Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers. 1. Band, 2. Aufl. vermehrt um Stücke der Fortstezung aus dem Nachlasse des Verfassers hrsg. v. Hermann Mulert, Berlin, Leipzig 1922, S. 648. 142 James McAllister, „Die Rhetorik der Mühelosigkeit in der Wissenschaft und ihre barocken Ursprünge“, in: Jan Lazardzig/Helmar Schramm/Ludger Schwarte (Hrsg.), Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin, New York 2006, S. 154–175, hier S. 155. Man kann generell Zweifel haben, inwieweit solche „Spuren“ der „Praxis der Wissenschaft“ sich auf die „ästhetische Theorie des Barocks“ zurückführen lassen. 143 Ebd., S. 157 f. 144 Ebd., S. 158. 145 Ebd., S. 160.  

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thematischen Funde so poliert, dass ihnen jeder Anschein von Aufwand und Mühe genommen und ihnen so eine Leichtigkeit verliehen worden sei, die ihren Schwierigkeitsgrad verschleiere.146 Das spielt darauf an, dass in den (erhaltenen) Schriften des Archimedes sich ebenso knappe wie prägnante Sätze finden, die ohne überflüssige Worte nicht nur keine biographischen Umstände vermitteln, sondern auch nichts über den wissenschaftlichen Anlass, zum orientierenden Problem oder heuristische Hinweise auf den Erkenntnisweg147 enthalten. Bereits in den Augen Ciceros erscheint Archimedes als so ingeniös, dass er ihn mit dem Schöpfergott aus Platons Timaios vergleicht,148 der letztlich nach den herkömmlichen Vorstellungen über die Menschennatur hinausweise.149 Er findet zu der Ansicht, dass mehr Geist in diesem Sizilianer gewesen sei, als dass Menschennatur ihn nach unseren Begriffen hätte hervorbringen können.150 Bei Livius heißt es, dass Archimedes ein einmaliger Beobachter des Himmels und der Gestirne gewesen sei, aber noch erstaunlicher sei er als Erfinder und Hersteller von Kriegsgeschützen und Werkzeugen gewesen, mit denen er alles, was die Feinde mit gewaltiger Anstrengung erreichen wollten, seinerseits mit sehr wenig Kraftaufwand spielend vereiteln konnte.151 Hinzu kommt, dass in der antiken Rhetorik die dissimulatio artis (celare artem) bekannt ist, nach der der Kunstcharakter eines Artefaktes verborgen bleiben soll. Hier zeigt sich die Schwierigkeit der Feststellung: Um bei einem Artefakt bestimmte artifizielle Eigenschaften zu verbergen und ihm so den Anschein eines ‚natürlichen‘, ‚kunstlosen‘, ‚schlichten‘ Charakters zu verleihen, müssen entweder Eigenschaften simuliert werden oder das Werk hat tatsächlich

146 Hierzu die bei Ivor Thomas, Selections Illustrating the History of Greek Mathematics, Vol. II: From Aristarchus to Pappus, London 1939, S. 31, wiedergegebene Plutarch-Stelle. 147 Nachdem man von ihm seine Schrift Ephodos fand, von der man davor keine Kenntnisse und auch keine Vorstellung hatte. Dort zeigt Archimedes, wie er mit einer infinitesimalen ‚mechanischen‘ Methode solche Ergebnisse finden konnte, die in anderen Schriften streng bewiesen werden; vgl. J. L. Heiberg/H. G. Zeuthen, „Eine neue Schrift des Archimedes“, in: Bibliotheca mathematica, 3. Folge 7/1906/1907, S. 321–363, ediert in J. L. Heiberg, „Eine neue Archimedeshandschrift“, in: Hermes, 42/1907, S. 235–303. 148 Vgl. Cicero, Tusc, 1, 63. 149 Vgl. Ders., De re publ, 1, 14, 22. – Zum Hintergrund auch Mary Jaeger, Archimedes and the Roman Imagination, Ann Arbor 2008, sowie noch immer Eduard Jan Dijksterhuis, Archimedes, Copenhagen 1956. Zu den mittelalterlichen Legenden und ihren antiken Quellen zum Leben und zum Tod des Archimedes vgl. Marshall Clagett, Archimedes in the Middle Ages, Vol. III, Philadelphia 1978, S. 1329–1336. 150 Cicero, De re publ, 1, 14, 22: „plus in illo Siculo ingenii quam videretur natura humana ferre potuisse iudicabam fuisse.“ 151 Livius, Ab Urbe condita, 24, 34, 2–3: „Archimedes is erat, unicus spectator caeli siderumque, mirabilior tamen, inventor ac machinator bellicorum tormentorum operumque, quibus si quid hostes ingenii mole agerent, ipse perlevi momento ludificaretur.“

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diese Eigenschaften nicht, indem es auf bestimmte Eigenschaften der Darstellung verzichtet, aber es gleichwohl einen artifiziellen Charakter besitzt und der Verzicht selbst gewollt ist. Dass die Kunst verborgen sein soll, kann dann Doppeltes meinen: Zum einen kann gemeint sein, dass das Werk bestimmte Eigenschaften in der Tat nicht hat, gleichwohl man mit ihm aber das erreicht, wofür das artifizielle Mittel dient und der Erfolg gerade dann nicht eintreten würde, wenn das Mittel als Mittel durchschaut wird; zum anderen kann das Verbergen der Kompetenz desjenigen gemeint sein, der das Werk schafft; nach dem geläufigen Schluß causatum causae simile werden dann bestimmte Eigenschaften auf das Werk selbst übertragen oder auf das, worüber es spricht. Nach Aristoteles müsse eine Rede, die mit dem Überzeugen Erfolg hat, nicht als artifiziell, sondern als ‚natürlich‘ erscheinen. Denn der Hörer oder Leser wittere schnell beim Redner einen Hinterhalt, vor dem er sich schützen will.152 Beispiel ist das Verbergen des nicht spontanen, des stattdessen planvollen und berechnenden Charakters einer Rede oder das Erzeugen des Eindrucks des ex tempore-Sprechens. Es ist die Schlichtheit als die einer Verstellung vermeintlich unzugängliche Simplizität, die das Täuschen unwahrscheinlich mache. Der Hintergrund ist die Vorstellung, beim Einfachen, Einfältigen sei keine oder eine geringere Gefahr der Verfälschung gegeben; denn das Lügen, die Unaufrichtigkeit erfolgt ex duplicitate animi, aufgefasst als das Nichteinfache, als duplex cor (διπλοκαρδία), als duplicitas (διγλωσσία). Die Behauptung, dass die „Rhetorik der Mühelosigkeit“ ein „wichtiges und bekanntes Element moderner Wissenschaftspraxis“ darstelle, verallgemeinert aus diesen Gründen in unzulässiger Weise. Sie wird nur noch überboten durch die Antwort auf die berühmt-berüchigte Frage von Peter B. Medawar (1915–1987) „Is the Scientific Paper a Fraud?“, und seine unzulängliche Beantwortung. Mittlerweile gibt es hierzu eine umfangreiche Literatur. Festzuhalten bleibt, dass eine positive Antwort auf diese Frage Voraussetzungen macht, die in den meisten Fällen bei einer Darlegung von Wissensansprüchen nicht gegeben sind.153 Zudem

152 Vgl. Aristoteles, Rhet, III, 2 (140418–22): δεî λανθάvειν ποιου̂ vτας καὶ μὴ δοκεîν έγειν πεπλαςμένως ἀλλὰ πεφυκότως. του̂ το γὰρ πιθανόν, ἐκεîνο δώ τοὐναντίον. ᾐς γὰρ πρὸς ἐπιβουλεύοντα διαβάλλονται, καθάπερ πρὸς οἴνους τοὺς μεμιγμένους. 153 Hierzu auch Lutz Danneberg, „Darstellungsformen in Natur- und Geisteswissenschaft“, in: Peter J. Brenner (Hrsg.), Geist – Geld – Wissenschaft. Zu Arbeits- und Darstellungsformen in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 99–139, sowie Ders./Jürg Niederhauser, „‚…daß die Papierersparnis gänzlich zurücktrete gegenüber der schönen Form‘: Darstellungsformen der Wissenschaften im Wandel der Zeit und im Zugriff verschiedener Disziplinen“, in: Dies. (Hrsg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Methodische Aspekte – theoretische Überlegungen – Fallstudien, Tübingen 1998, S. 23–102.

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übersieht eine Verallgemeinerung der „Rhetorik der Mühelosigkeit“ als „Element moderner Wissenschaftspraxis“ die nicht zuletzt im 19. Jahrhundert aufkommende ‚Rhetorik‘ der wissenschaftlichen Arbeit und Mühe mit der Betonung des Mühsamen, des Fleißigen, des Anstrengenden. Wissenschaft erscheint hier als das Zeitintensive – eine Beobachtung, die jede voreilige Verallgemeinerung zunichte macht.154 Ein weiteres Spannungsfeld kann ich ebenfalls nur kurz ansprechen: Man wollte sich nicht nur in die Vergangenheit versetzen, sondern auch die Vergangenheit in die Gegenwart holen und – wie Bacon gesagt hat – von den Toten wieder auferstehen lassen. Nur ein Beispiel: In seiner programmatischen Rede Das Mittleramt der Philologie von 1857 ist es für Ernst Curtius nicht allein der Anerkennungsverlust, den die philologischen Fächer erlitten hätten, sondern zum Problemszenario gehört auch das allenthalben monierte Zerbrechen der ‚Einheit‘ der (Natur- und Geistes-)Wissenschaften. Im Rahmen seines Versuchs, für eine solche ‚Einheit‘ der Philologie ein ‚Mittleramt‘ zuzusprechen, kommt er auf die Arbeit des Philologen, des Historikers zu sprechen, der zwar auch „allgemeine Gesetze zu erkennen“ versuche, sich aber damit nicht begnüge, auch nicht damit, aus den Bruchstücken der Überlieferung den zerrissenen Zusammenhang der Erinnerung wieder herzustellen, sondern mit schöpferischer Kraft, welche zu der Forschung hinzutreten muß, weiß er das Todte zu erwecken und das Verblichene mit neuem Leben zu beseelen, so daß die edelsten Geister, welche Spuren ihres Wirkens zurückgelassen haben, wie Zeitgenossen um uns stehen und gleichsam in vertraulichem Wechselgespräche mit uns verkehren.155

Freilich kann diese Wiederbeseelung nicht mit akribischer Forschung allein geschehen, sondern es bedarf der „schöpferischen Kraft“ des Wissenschaftlers, die Curtius gerade im Zuge der „philologisch-historische[n] Schule“ entstehen sieht, in der sich „quellenmäßige Forschung“ mit „lebendige[r] Anschauung des Alterthums“ verbinde.156 Das „Schöpferische“ ist just die Kraft, die die in ver154 Vgl. Lutz Danneberg, „‚ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein‘: Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden im kulturellen Behauptungsdiskurs der Mathematik und der Naturwissenschaften im 19. mit Blicken ins 20. Jahrhundert“, in: Andrea Albrecht/Gesa von Essen/Werner Frick (Hrsg.), Zahlen, Zeichen und Figuren: Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur, Berlin, New York 2011, S. 600–658; wesentlich erweiterte Fassung unter: http://www.fheh.org/images/fheh/material/aakreatmath.pdf (Stand: 01.01.2014). 155 Ernst Curtius, „Das Mittleramt der Philologie“ [1857], in: Ders., Göttinger Festreden, Berlin 1864, S. 23–51, hier S. 31 f. 156 Vgl. den Brief von Wilamowitz vom Februar 1883 in: Usener und Wilamowitz. Ein Briefwechsel 1870–1905 [1934], mit einem Nachwort und Indices von William M. Calder III., 2. Aufl., Stuttgart,  

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schiedenen Richtungen zeitüberspringenden Imaginationen zu verbinden vermag. Dem liegen mitunter Wirkungsvorstellungen von Literatur zugrunde, die zuvor eher im Blick auf die Heilige Schrift gedacht wurden, etwa als cognitio viva im Sinn der Aufnahme eines lebendig machenden Sinns, der beim Leser etwas hinsichtlich seiner Werthaltung bewirkt oder entfaltet und so auch sein Handeln affiziert. So beispielsweise bei Christian Wolff: Die jenige Erkänntniß wird lebendig genennet, welche einen Bewegungs-Grund des Willens abgiebet entweder das Gute zu vollbringen, oder das Böse zu lassen. Hingegen die Erkänntniß ist tod, welche keinen dergleichen Bewegungs-Grund abgiebet.157

Bei der Bestimmung der lebendigen Erkenntnis dürften bei Wolff theologische Einflüsse gegeben sein.158 Sie sind bei ihm freilich nicht auf das Beispiel der Heiligen Schrift beschränkt. Solche Wirkungen werden auch profanen Texten

Leipzig 1994, S. 28: „Die lebhafteste Anregung haben wir aus Ihrem προτρεπτικός empfangen; denn so habe ich mich gewöhnt, Ihre Rektoratsrede zu nennen, die ich sofort meinen Studenten zu lesen gab und hin und her überlegte. So vielfach mir erfreulich war, manchmal, wie in dem ersten Abschnitt in ganz überraschender Weise, daß Ihre Erwartung auf mich zutraf. Denn das ist allerdings auch für meine Predigten ein stehender Text, und so lebhaft meine Sympathie auch die Philologie als Kunst anerkennt, so bin ich doch geneigt, auf diesem Wege weiterzugehen und die Methode demgemäß geringer zu schätzen. Natürlich liegt der Grund in der Beurteilung von Persönlichkeiten: für mich ist Gottfried Hermann ὁ φιλόλογος nicht in dem, was er geleistet hat, […] sondern in dem, was er war. Die alte Poesie […] ist tot: unsere Aufgabe ist, sie zu beleben. Wenn man z.B. den Aeschylus erklärt, und die Sprache beginnt zu klingen und die Rhythmen zu rauschen und die alten Götter alloggiano sull’accesa fronte und die Heroen handeln und leiden wieder, und dann die Studenten ganz vergessen, daß da ein Professor und ein Text voll Vokabeln und Korruptelen und σχήματα διανοίας und σχήματα μετρικά ist, […] dann empfinde ich, daß Philologie doch etwas für sich ist, oder wenigstens ihr τέλος hat, das ihr dann freilich die Qualifikation als διδακτόν entziehen mag.“ 157 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet […1720]. Die vierdte Auflage hin und wieder vermehret, Francfurt, Leipzig 1733 (ND Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 4, Hildesheim, New York 1976, 3. Kap., § 169 [S. 120]); Ders., Vernünfftige Gedanken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntiß der Wahrheit, Halle 1754 [1913] (ND Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 1, Hildesheim, New York 1965, Kap. 1, § 15, S. 129); sowie Ders., Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata […]. Pars 2, Francofurti 1739 (ND Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 11, § 244, S. 220): „Cognitio viva dicitur, quae sit motivum voluntatis vel noluntatis.“ 158 So auch Christian Wolff selbst, vgl. Ders., Philosophia practica universalis methdodo scientifica pertractata. Pars posterior, praxin complectens, Francofurt, Lipsiae 1739 (ND Gesammelte Werke, II. Abt. Bd. 11, Hildesheim, New York 1979, § 244): „Ex mente igitur Apostoli mortua est cognitio de Deo & Christo, nisi fiat motivum voluntatis & noluntatis, ut actiones tuae cognitioni isti respondeant.“

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zugeschrieben, zunächst den antiken, dann aber vor allem den nationalsprachlichen. Die kontrafaktischen Imaginationen des Sich-Hineinversetzens waren aber nicht allein wissenssensibel, sondern boten zugleich die Voraussetzung dafür, die Texte nicht allein als ‚Mittel‘, sondern auch als ‚Selbstzweck‘ zu sehen, und damit für einen sich selbst bindenden Umgang mit dem Gegenstand des Erkennens, für eine – wenn man so will –,Ethik des Interpretierens‘ zu argumentieren. Möglich wird eine Imagination wie diese: Platon stünde vor einem und er könnte sich gegen seine gegenwärtigen Interpreten zur Wehr setzen. Vermutlich wäre das für den größten Teil der Interpreten der Jetztzeit eine eher beklemmende Vorstellung, so sie um ihre interpretatorische Freiheit bangen und den ‚Gebrauch‘ oder das ‚Fortschreiben‘ höher schätzen: Bei Abwesenheit steht der Willkür gegenüber dem Text niemand mehr im Weg, es sei denn der Interpret selbst und seine Imagination einer Selbstdisziplinierung. Selbstverständlich haben die Philologen bestenfalls davon geträumt. Ein Beispiel liefert Friedrich Nietzsche: Daß diese Wirkung [scil. die wechselseitige Proportionierung der apollinischen und dionysischen Kräfte in der Tragödie] aber nötig sei, dies würde jeder am sichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenn er einmal, sei es auch im Traume, in eine althellenistische Existenz sich zurückversetzt fühlte: im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärdensprache – würde er nicht diesem fortwährenden Einströmen der Schönheit, zu Apoll die Hand erhebend ausrufen müssen: „Seeliges Volk der Hellenen! Wie groß muß unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber für nötig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen.“159

Doch auch wenn das Sich-Hineinversetzen nur ein philologischer Traum ist: Was die träumenden Philologen gemacht haben, ist, sich selbst so zu binden, als könnte das Unmögliche eintreten. Zum Abschluss bleiben noch zwei Hinweise: zum einen darauf, dass nicht alle Formulierungen des Sich-Hineinversetzens in dieser Weise zu rekonstruieren sind. Das ist beispielsweise der Fall, wenn es bei Eduard Zeller heißt:

159 Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ [1872], in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. III, Bd. 1, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Berlin 1972, S. 17–152, hier S. 151. Vgl. auch August Wilhelm Schlegel, Berliner Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst [1801/04], Bd. III, Jakob Minor (Hrsg.), Heilbronn 1884, S. 202: „Hineinträumen muß man sich in jenes heroische mönchische Gewirr, muß Guelfe und Ghibelline werden“, will man die Divina Comedia verstehen.

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Man muss die ganze Denkart und Vorstellungsweise eines Philosophen ins Auge fassen, sich in den Mittelpunkt seines Systems versetzen, die Fäden, welche alles übrige mit diesem verknüpfen, verfolgen, wenn man sich ein Urteil darüber bilden will, was dasselbe zu leisten vermochte und was nicht.160

Zum anderen ist der Hinweis darauf zu ergänzen, dass in einigen Fällen die Formulierungen weit über das hinausgehen, was sich in dieser Weise rekonstruieren lässt. So ist August Wilhelm Schlegel der Ansicht, dass nicht zuletzt Shakespeare und Goethe einen so „wunderbaren Blick in die Seelen“ besitzen, „die Fähigkeit, sich so vollkommen in allen Arten, auch die fremdesten, zu versetzen, um als Bevollmächtigte der ganzen Menschheit handeln und reden zu können.“161 Das gilt auch für die in der Zeit verbreitete Auffassung, dass die Deutschen „eine seltene Bereitwilligkeit, sich in fremde Art einzufühlen“ besäßen.162 Das liege in der „sehr vielseitigen Bildsamkeit sowohl im Geist unserer Sprache als auch im Charakter der Nation, wenn anders beide nicht völlig eins sind. Daher“ sei „die Anlage, die Alten in ihrem Sinne zu lesen, unstreitig am wenigsten selten bei uns.“163 Der Betrachter einer Statue „will selbst ganz Bildsäule werden“.164 Sowie schließlich für die Aufforderung: „[…] der Mensch muß sich in jedem Zustand solange ganz verlieren und sich in jeden Gegenstand innerlich

160 Eduard Zeller, „Die Geschichte der Philosophie, ihre Ziele und Wege“, in: Ders., Kleine Schriften, Bd. 1, Otto Lenze (Hrsg.), Berlin 1910, S. 410–418, hier S. 413. Auch ist das der Fall, wenn es bei Hans Christian Oersted, „Ueber die bildende Wirkung, welche die Anwendung der Naturwissenschaft ausüben muß“ [1829], in: Ders., Die Naturwissenschaft und die Geistesbildung, Leipzig 1851, S. 27–43, hier S. 33, heißt: „Unsere Lehranstalt giebt nun dem gebildeten Menschen eine Gelegenheit, mit den Naturkräften bekannt zu werden, die man im Gewerbebetriebe benutzt; [….]. Sie giebt ihm eine Uebersicht über sämmtliche Gewerbe und deren gegenseitigen Verhältnisse. Der junge Mann der einige Anlage und Thätigkeit besitzt, wird so durch Hülfe der hier erlangten Vorkenntnisse und Fertigkeiten sich mit Leichtigkeit in den Gewerbszweig hineinversetzen, den er wählt.“ 161 August Wilhelm Schlegel, Sämtliche Werke, Eduard Böcking (Hrsg.), Bd. 5, Leipzig 1846, S. 187. 162 August Wilhelm Schlegel, Berliner Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst [1801/04], Bd. II, S. 11. 163 Schlegel, Sämtliche Werke, Bd. 10, Leipzig 1846, S. 116. 164 Schlegel, Sämtliche Werke, Bd. 9, Leipzig 1846, S. 3. Das dürfte kaum etwas mit Herders Vorstellungen einer Vitalisierung der Skulptur durch den Tatssinn zu tun haben; hierzu neben Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000; Wolfgang Adam, „Herder und die Plastik. Theorie und Autopsie. Mit einem unveröffentlichten Brief von Eduard Spranger“, in: Elisabeth Décultot/Gerhard Lauer (Hrsg.), Herder und die Künste. Ästhetik, Kunsttheorie, Kunstgeschichte, Heidelberg 2013, S. 221–252.

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gleichsam umwandeln, bis das Prinzip der Selbsttätigkeit in ihm wirklich geworden ist“.165 Schließlich sei noch der Hinweis darauf ergänzt, dass Imaginationen des Sichhineinversetzens in den Naturwissenschaften bis in die Gegenwart reichen. Nur wenige Beispiele mögen genügen. So imaginiert der Zoologe Desmond Morris sich als Tier, zuerst in einem Traum, der dann wahr wurde: In essence, this was what was going to happen to me in my future research, when I became a full-time student of animal behavior. With each animal I studied I became that animal. I tried to think like it, to feel like it. Instead of viewing the animal from a human standpoint – and making serious anthropomorphic errors in the process – I attempted, as a research ethologist, to put myself in the animal’s place, so that its problems became my problems, and I read nothing into its life-style that was alien to its particular species.166

Nach dem Molekularbiologen Joshua Lederberg benötig der Wissenschaftler […] the ability to strip to the essential attributes some actor in a process, the ability to imagine oneself inside a biological situation. I literally had to be able to think for example, ‚What would it be like if I were one of the chemical pieces of a bacterial chromosome?‘ and try to understand what my environment was, try to know where I was, try to know when I was supposed to function in a certain way, and so forth.167

Barbara McClintock berichtet: ‚I found that the more I worked with [chromosomes] the bigger and bigger [they] got, and when I was really working with them I wasn’t outside, I was down there. I was part of the system […] I actually felt as if I were right down there and these were my friends.‘ […] ‚As you look at these things, they become part of you. And you forget yourself. The main thing about it is you forget yourself.‘168

Im Blick auf die Entwicklung neuer Metalle heißt es bei Cyril Stanley Smith, es sei „a feeling“ zu entwickeln,

165 Schlegel, Philosophische Kunstlehre, S. 12. Auch Ders., „Briefe über Poesie, Silbenmaaß und Sprache. Zweyter Brief“, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, Leipzig 1846, S. 116: „Wir forschen nach dem Ursprunge der Sprache; wir betrachten ihre jetzigen Bestandtheile; wir finden darunter etwas, […] wodurch endlich Menschen aus den entferntesten Zonen und, würden sie wieder ins Leben gerufen, aus den entferntesten Jahrhunderten, einander mittheilen könnten, was in ihrem Innern vorgeht.“ 166 Desmond Morris, Animal Days, New York 1979, S. 58. 167 Zitiert nach Horace F. Judson, The Search for Solutions, New York 1980, S. 6. 168 Evelyn Fox Keller, A Feeling for the Organism. The Life and Work of Barbara McClintock, San Francisco 1983, S. 117.

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[…] of how I would behave if I were a certain alloy, a sense of hardness and softness and conductivity and fusibility and deformability and brittleness – all in a curiously internal and quite literally sensual way, even before I had sensual contact with the alloy itself.169

Nach Chandrasekhar soll ihn Eddington aufgefordert haben, auf die Astrophysik zu sehen „from the point of view of the star“.170 Das findet sich schon bei Leibniz, wenn er sich als Beobachter des Kosmos auf die Sonne versetzt! Aber nachdem man endtlich außgefunden, daß man das auge in der Sonne stellen müße, wenn man den lauff des Himmels recht betrachten will, und daß alsdann alles wunderbar schöhn herauskomme, so siehet man, daß die vermeinte unordnung und verwirrung unseres unverstandes schuld gewesen, und nicht der Natur.

Leibniz theoretisiert das dann noch ein wenig: „Allein wir müssen uns mit den augen des verstandes dahin stellen, wo wir mit den augen des leibes nicht stehen, noch stehen können.“171

169 Cyril Stanley Smith, „A Highly Personal View of Science and Its History“, in: Ders., A Search for Structure. Selected Essays on Science, Art, and History, Cambridge (Massachusetts) 1981, S. 344–357, hier S. 353. 170 S. Chandrasekhar, „Beauty and the Quest for Beauty in Science“, in: Ders., Truth and Beauty. Aesthetics and Motivations in Science, Chicago 1987, S. 59–73, hier S. 67. 171 Leibniz, Initia et Specimina Scientiae Generalis, in: Ders., Die philosophischen Schriften, C. J. Gerhardt (Hrsg.), Bd. VII, S. 57–123, hier S. 120. – Nur angemerkt sei, dass der Wechsel des Standpunktes des Betrachters von der Erde an den Himmel sich bereits (im kosmologischen Kontext) bei Johannes Buridan (vor 1300 – nach 1358) findet. Zu den nominalistischen Argumenten und Imaginationen im Blick auf die Erdrotation J. Bulliot, „Jean Buridan et le mouvement de la terre. Question 22e du second livre du ‚De coelo‘“, in: Revue de Philosophie, 14/1914, S. 5–24; Pierre Duhem, Le système du monde. Histoire des doctrines cosmologiques de Platon à Copernic, IX. Tom., Paris 1958, S. 325–362; auch Ferdinand Fellmann, Scholastik und kosmologische Reform, Münster 1971; Pierre Souffrin, „Oresme, Buridan, et le mouvement de rotation diurne de la terre ou des cieux“, in: Bernard Ribémont (Hrsg.), Terres médiévales, Paris 1993, S. 277–303.

Jørgen Sneis, Stuttgart

Rekonstruktion als Interpretation Überlegungen zu Roman Ingardens Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft In seiner 1968 erschienenen Studie Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks schreibt der Lemberger Philosoph und Husserl-Schüler Roman Ingarden: Die Betrachtung der verschiedenen Weisen, in welchen man das literarische Werk und insbesondere das literarische Kunstwerk kennenlernt und eventuell zu einer effektiven Erkenntnis bringt, fällt in das weite Gebiet der Erkenntnistheorie und bezieht sich auf eine besondere Gruppe von Problemen, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Ihre Lösung spielt eine wichtige Rolle einerseits für die erkenntnistheoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft sowie – auf eine andere Weise – für die Wissenschaftslehre überhaupt, andererseits für die Begründung wenigstens eines Teils der Ästhetik und insbesondere für die Klärung der Frage, ob eine objektive Erfassung der künstlerischen und ästhetischen Werte im Bereich der literarischen Kunst überhaupt möglich ist.1

Ingarden verspricht sich also nicht wenig von einer Beschäftigung mit Literatur bzw. von der Beobachtung dieser Beschäftigung. Im Folgenden werde ich mich auf das konzentrieren, was er unter einer „erkenntnistheoretische[n] Grundlegung der Literaturwissenschaft“ eigentlich versteht – und zwar aus einer hermeneutischen Perspektive. Oder genauer gesagt: Ich werde der Frage nachgehen, wie sich die von Ingarden herausgearbeitete erkenntnistheoretische Basis der Literaturwissenschaft zur Interpretation als einem „methodisch herbeigeführte[n] Resultat des Verstehens von Texten in ihrer Ganzheit“2 verhält. Diese hermeneutische Perspektive ergibt sich nicht nur daraus, dass das Interpretieren zum Kerngeschäft des Literaturwissenschaftlers gehört, sondern drängt sich außerdem dadurch auf, dass eine Reihe von hermeneutischen Problemen bei Ingarden angeschnitten wird. Diese hermeneutischen Probleme sind jedoch nicht immer als solche ausgewiesen und werden zum Teil nur unvollständig behandelt.3 Dem

1 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, S. 1. Diese Monographie war bereits 1937 auf Polnisch erschienen. Die deutsche Ausgabe von 1968 ist dabei keine strikte Übersetzung, sondern vielmehr eine überarbeitete Version; vgl. S. 439. 2 Axel Spree, „Interpretation“, in: Harald Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 168–172, hier S. 168. 3 In Bezug auf Das literarische Kunstwerk, Ingardens erste umfangreiche Monographie zur Literatur, hat Robert Magliola in ähnlicher Weise auf einige „hermeneutical complications“

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Philosophen Roman Ingarden geht es nämlich nur bedingt um die literaturwissenschaftliche Praxis. Sein Gedankengebäude ist auf einem ontologisch-phänomenologischen Fundament errichtet,4 wobei die hermeneutischen Implikationen seines Ansatzes gewissermaßen einen blinden Fleck bilden. Eine hermeneutisch ausgerichtete Ingarden-Lektüre kann diesen blinden Fleck sozusagen auffüllen. Um die Erkenntnisweise von Literatur nach Ingarden genauer bestimmen zu können, ist es notwendig, auch die 1931 erschienene Studie Das literarische Kunstwerk heranzuziehen. Denn Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks bildet – wie es Ingarden selbst formuliert – „ein Pendant und eine Ergänzung“5 zu Das literarische Kunstwerk. Während Das literarische Kunstwerk aus einer ontologischen Perspektive „die Grundstruktur und die Seinsweise“6 der Literatur zum Thema hat und sich eine „Wesensanatomie“7 des literarischen Werkes zum Ziel setzt, greift Ingarden diese Wesensbestimmung in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks wieder auf und untersucht nun Literatur und Literaturwissenschaft

hingewiesen: Phenomenology and Literature. An Introduction, West Lafayette (IN) 1977, S. 114. Ich schließe somit in gewisser Hinsicht an Magliola an, betone aber zum Teil andere Aspekte. 4 Vgl. Ingardens Vorwort zu Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft, Halle an der Saale 1931, bes. S. VIII. Ingardens Überlegungen zur Literatur sind nicht zuletzt in dem Versuch verankert, sich von Husserls transzendentalem Idealismus abzugrenzen und innerhalb einer Idealismus-Realismus-Debatte zu positionieren, die seit den 1910er Jahren geführt worden war. So zeigen das Vorwort sowie die ersten Paragraphen von Das literarische Kunstwerk deutlich, dass Ingardens Erkenntnisinteresse letztlich ein philosophisches ist und dass Vorannahmen philosophischer Art seinen Fragehorizont bestimmen (so wird etwa als „erste Schwierigkeit“ die Frage behandelt, ob das literarische Werk zu den realen oder idealen Gegenständen gehöre: ebd., S. 5). Eine Rekonstruktion von Ingardens ‚Literaturwissenschaft‘ hat dies zu berücksichtigen. Ich vertrete also nicht die Ansicht, dass die Idealismus-Realismus-Problematik „von vornherein in jeder heutigen literaturwissenschaftlichen Ingarden-Erörterung marginalisiert“ werden kann, wie es Eckhard Lobsien tut: Schematisierte Ansichten. Literaturtheorie mit Husserl, Ingarden, Blumenberg, München 2012, S. 36, Anm. 9. Dass der philosophische Hintergrund hier dennoch nicht im Zentrum steht, liegt daran, dass meine Fragestellung weder auf die „letzten Motive“ Ingardens noch auf die philosophisch „sehr wichtigen Konsequenzen“ seines Ansatzes (siehe Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. VI und VII), sondern vielmehr auf die hermeneutischen Aspekte seiner Literaturauffassung abzielt. Dabei ist die Idealismus-Realismus-Problematik bei Ingarden ohnehin relativ breit erforscht. Aus der Sekundärliteratur zu diesem Kernbestand von Ingardens Philosophie sei an dieser Stelle lediglich auf eine Monographie neueren Datums verwiesen: Kazimierz Rynkiewicz, Zwischen Realismus und Idealismus. Ingardens Überwindung des transzendentalen Idealismus Husserls, Frankfurt a.M. 2008. Dort finden sich weitere Literaturhinweise. 5 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 439. 6 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. V. 7 Ebd., S. 2. Im Original in Anführungszeichen.

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aus erkenntnistheoretischer Sicht.8 Ich werde daher zunächst einige zentrale Aspekte von Das literarische Kunstwerk in ihren Grundzügen nachzeichnen (I), um dann zu jener „erkenntnistheoretische[n] Grundlegung der Literaturwissenschaft“ zurückzukommen (II).

I Das Stratifikationsmodell in Das literarische Kunstwerk Bedeutsam ist hier in erster Linie das Schichtenmodell in Das literarische Kunstwerk, Ingardens „Querschnitt“9 durch das literarische Werk. Ingarden zufolge liegt die „wesensmäßige Struktur“ des Werkes darin, „daß es ein aus mehreren heterogenen Schichten aufgebautes Gebilde ist“.10 Insgesamt handelt es sich um vier Schichten: erstens die Schicht der Lautgebilde, zweitens die Schicht der Bedeutungseinheiten, drittens die Schicht der dargestellten Gegenstände und viertens die Schicht der sogenannten schematisierten Ansichten. Die Heterogenität dieser Schichten steht für Ingarden in keinem Widerspruch zur „phänomenalen Einheit“11 des Ganzen. Damit stellt sich die Frage nach ihrer Eigenart und internen Ordnung. Diese Frage wird allmählich durch aufeinander aufbauende Analysen beantwortet. So umfasst die Darlegung der einzelnen Schichten und ihr Verhältnis zueinander knappe 300 Seiten. An folgender Stelle wird aber verhältnismäßig klar ausgesprochen, wie die ersten drei Schichten zusammenhängen: [W]ird ein bestimmter Wortlaut durch ein psychisches Subjekt erfaßt, so führt diese Erfassung unmittelbar zu dem Vollzug eines intentionalen Aktes, in welchem der Gehalt einer bestimmten Bedeutung vermeint wird. Dabei wird diese Bedeutung nicht selbst gegenständlich gegeben, sondern sie wird in Funktion gesetzt und ihr In-Funktion-Treten führt seinerseits dazu, daß die entsprechende, zu der Wortbedeutung oder zu dem Satzsinne gehörige Gegenständlichkeit vermeint wird, womit die weiteren Schichten des literarischen Werkes zur Enthüllung gelangen.12

8 Zum Verhältnis zwischen Ontologie und Erkenntnistheorie bei Ingarden siehe seinen Aufsatz „Bemerkungen zum Problem ‚Idealismus-Realismus‘“, in: Festschrift Edmund Husserl zum 70. Geburtstag gewidmet. Ergänzungsband zum Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Halle an der Saale 1929, S. 159–190. 9 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 315. Im Original in Anführungszeichen. 10 Ebd., S. 24. 11 Ebd., S. 25. 12 Ebd., S. 57 f.  

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Festzuhalten ist zunächst, dass Ingarden im Sinne Husserls – und letzten Endes Franz Brentanos – von der Intentionalität des Bewusstseins ausgeht.13 Dieser Intentionalitätsbegriff bezeichnet – ganz allgemein gesprochen – das Gerichtetsein eines Bewusstseinsaktes auf einen Sachverhalt bzw. die wesentliche Eigenschaft des Bewusstseins, immer Bewusstsein von etwas zu sein. Beim Erfassen und Verstehen eines Wortes (d.h. einer Bedeutungseinheit) geschieht dann zweierlei: Einerseits wird der Wortlaut als solcher, d.h. als Wort-Laut, dem konkreten Lautmaterial, also dem schlechthin individuellen Schall – oder analog dazu: den Schriftzeichen – „oktroyiert“.14 [W]enn der Wortlaut die Bedeutung überhaupt trägt, so ist dies nur dadurch möglich, daß ihm diese Funktion sozusagen von außen her aufgezwungen, verliehen wird. Und diese Verleihung kann nur durch einen subjektiven Bewusstseinsakt zustandekommen. […] Die Intentionalität des Wortes ist eine von dem entsprechenden Akte geliehene Intentionalität.15

Andererseits ist das Verstehen des Wortes damit verbunden, dass man sich im Vollzug des Bewusstseinsaktes eo ipso auf einen dem Bedeutungsgehalt des Wortes entsprechenden Gegenstand bezieht,16 der im Modus der Phantasie erschaut wird.17 Damit ist nur gesagt, dass die geliehene Intentionalität des Wortes im Bewusstsein mit einer Vorstellung korrelativ verbunden ist. Ingarden spricht hier von ‚rein intentionalen Gegenständen‘. Ob es einen entsprechenden Gegenstand in der realen Welt gibt, auf den man sich ggf. referentiell beziehen kann, ist eine ganz andere Frage. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der phänomenologische Gegenstandsbegriff extrem weit ist. Wie Dan Zahavi in Bezug auf Husserl bemerkt: „letztlich ist alles, wovon etwas prädiziert werden kann, ein Gegenstand“.18 Nun bildet aber für Ingarden nicht das einzelne Wort, sondern vielmehr der Satz das „wahrhaft selbständige“19 Sprachgebilde. Dieser ist keine bloße Wortmannigfaltigkeit, sondern vielmehr eine Bedeutungseinheit höherer Stufe, in der sich die Wortbedeutungen untereinander verbinden und gegenseitig modifizieren. Jeder Satz ist für Ingarden „das Resultat einer subjektiven satzbildenden Operation“,20 die er aufgrund eines bedeutungskonstituierenden Vorrangs des

13 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. ebd., S. 120, Anm. 1. Ebd., S. 34. Ebd., S. 101. Vgl. auch Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 36. Vgl. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 344. Dan Zahavi, Husserls Phänomenologie, Tübingen 2009, S. 36. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 42. Ebd., S. 112.

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Satzes vor dem Einzelwort als die „ursprüngliche sprachbildende Operation“21 bezeichnet. Diese satzbildende Operation bildet ihrerseits meist „nur eine relativ unselbständige Phase einer umfangreicheren subjektiven Operation, aus welcher nicht mehr einzelne zusammenhangslose Sätze, sondern ganze Satzzusammenhänge […] entspringen“.22 Man ist also meist nicht auf einzelne Sätze, sondern – mehr oder weniger bewusst – auf einen thematischen Zusammenhang eingestellt. Dabei drücken die Sätze Sachverhalte aus, die sich wiederum zu komplexen Gegenständlichkeiten zusammensetzen. Somit ist klar, dass die Schicht der dargestellten (bzw. vorgestellten) Gegenstände recht komplex werden kann. Es findet aber – wie es Ingarden formuliert – infolge einer „Ablösung von den konkreten, in der ursprünglichen Lebendigkeit und Fülle vollzogenen Bewußtseinsakten“ eine gewisse „Schematisierung ihres Gehaltes“ statt.23 Ingarden hat hier wohl den Tatbestand vor Augen, dass die dargestellten Gegenstände sich im Medium der Sprache konstituieren und dass die Sprache als Zeichensystem auf Abstraktion beruht – oder in ‚phänomenologischer‘ Terminologie: dass der intentionale Gegenstand im literarischen Werk nicht originär, sondern signitiv gegeben ist. An dieser Stelle kommt die vierte Schicht – die Schicht der schematisierten Ansichten – wie auch die für Ingarden sehr wichtige Unterscheidung zwischen dem Werk und seinen Konkretisationen ins Spiel. Die Rede von Ansichten geht auf Husserls Analysen der visuellen Dingwahrnehmung zurück und besagt, dass ein Raumgegenstand – streng genommen – in actu esse immer nur von einer ‚Seite‘, also aus einer bestimmten Perspektive bzw. in einer bestimmten An-Sicht gegeben ist. Die anderen, möglichen Perspektiven auf den Gegenstand sind aber im Bewusstsein mitgegeben, so dass wir ihn gleichwohl in seiner Ganzheit wahrnehmen. Wenn ich etwa – mit einem Beispiel von Ingarden – meinen Schreibtisch ansehe, so zeigt sich streng genommen nur eine Seite desselben. Die mir abgewandte Rückseite ist aber dennoch im Bewusstsein mitgegeben. So wäre ich etwa überrascht, wenn es sich beim Umrunden des Schreibtisches herausstellen sollte, dass er gar keine Rückseite hätte, oder wenn ich einen großen Tintenfleck entdecken sollte, von dem ich vorher nichts wusste. Ingarden spricht in diesem Zusammenhang von „unerfüllten Qualitäten“.24 Dieses Prinzip der Wahrnehmung wird auf die dritte Schicht – die Schicht der dargestellten Gegenstände – übertragen.

21 22 23 24

Ebd., S. 102. Ebd., S. 104 f. Ebd., S. 129. Ebd., S. 263.  

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Würden die Ansichten im Werk überhaupt fehlen, so müßten die dargestellten Gegenstände während der Lektüre nur leer vermeint, auf völlig unanschauliche Weise gedacht werden […]. Die dargestellten Gegenständlichkeiten wären dann leere, rein „begriffliche“ Schemata […].25

Dass die Lektüre nicht ‚leer‘ und ‚unanschaulich‘ sein muss, dürfte keine allzu gewagte These sein. Man denke etwa daran, wie sich die Handlung eines spannenden Romans vor dem inneren Auge abspielt. Die Ansichten kompensieren gewissermaßen für die Schematisierung, welche die sprachliche Konstitution der dargestellten Gegenstände mit sich führt, und gehören für Ingarden somit als eigene Schicht zum literarischen Werk. In dieser Weise sucht er mit seinem Schichtenmodell sowohl der Sprachlichkeit als auch den anschaulichen Qualitäten der Literatur Rechnung zu tragen.26 Indessen sind die Ansichten selbst noch in einer anderen Weise schematisiert, nämlich insofern, als sie Einzelansichten innerhalb eines Systems von möglichen Ansichten auf den Gegenstand bilden. Sie weisen dabei im Bewusstseinsakt stets über sich selbst auf diese anderen, möglichen Ansichten hinaus, die somit – trotz ihrer Unerfülltheit – phänomenal anwesend sind. Das bedeutet wiederum, dass die dargestellten Gegenstände bei der Lektüre „noch verschiedene, aber nur in vorbestimmten Grenzen variierende aktualisierte Ansichten zulassen“.27 Die vorbestimmten Ansichtenschemata werden immer durch verschiedene Einzelheiten ergänzt und ausgefüllt, die eigentlich nicht zu ihnen gehören und welche der Leser aus den Gehalten anderer ehemals erlebter, konkreter Ansichten schöpft. […] Es ist somit unmöglich, daß der Leser ganz genau dieselben Ansichten aktualisiert, die der Autor des Werkes durch den Bau des Werkes vorbestimmen wollte. Hier zeigt es sich […], daß das literarische Werk ein schematisches Gebilde ist. Es ist aber notwendig, um dies einzusehen, es selbst in seiner schematischen Natur zu erfassen und das Werk nicht mit den einzelnen Konkretisationen, die bei den einzelnen Lesungen entstehen, zu vermengen.28

25 Ebd., S. 284. 26 Das literarische Kunstwerk lässt sich unter anderem als ein Beitrag zu einer Diskussion über die Anschaulichkeit von Sprachgebilden bzw. von Literatur verstehen. Vgl. S. V f. und 259 f. sowie 283, Anm. 1. Vgl. ferner Sandra Richter, „Anschaulichkeit versus Sprachlichkeit. Ein paradigmatischer Scheingegensatz in Poetik und Ästhetik (ca. 1850 bis 1950)“, in: Oliver Huck/Sandra Richter/Christian Scholl (Hrsg.), Konzert und Konkurrenz. Die Künste und ihre Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 157–178. 27 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 270. 28 Ebd., S. 270 f.  





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Es ist bemerkenswert, wie Ingarden hier die prinzipielle Uneinholbarkeit der Absicht des Autors betont, denn insgesamt bleibt es – wie unten noch zu zeigen ist – unklar, welcher Status der Autorintention zukommt. Entscheidend ist aber zunächst, dass Ingarden zwischen dem invarianten schematischen Gehalt des Werkes und den konkreten, mit jeder Lektüre variierenden Ausgestaltungen des Schemas sorgfältig unterscheidet. Somit will er eine „Subjektivierung der literarischen Werke“29 vermeiden. Der Leser mag zwar bei der Lektüre bestimmte Ansichten „sozusagen aus eigenem Impuls“30 aktualisieren, doch die dargestellten Gegenstände werden – wie Ingarden mehrfach betont – „auf eine durch das Werk selbst vorbestimmte Weise zur Erscheinung gebracht“.31 Es gibt also bestimmte Grenzen des Variabilitätsbereiches. Auch wenn das Spektrum möglicher Konkretisationen sehr breit sein kann, ist eine Konkretisation für Ingarden nie völlig willkürlich. Dazu zwei Anmerkungen: Zum einen gibt es neben den schematisierten Ansichten sogenannte Unbestimmtheitsstellen in der Schicht der dargestellten Gegenstände. Es handelt sich im übertragenen Sinne um Lücken, die bei der Lektüre ausgefüllt werden können und dann nicht mehr als etwas Unbestimmtes empfunden werden. Sie beruhen ebenfalls auf der signitiven Gegebenheit der dargestellten Gegenstände und ergeben sich einerseits aus der Differenz zu realen Gegenständen und andererseits daraus, dass die im Werk dargestellten Gegenstände „durch eine endliche Anzahl von Bedeutungseinheiten verschiedener Stufe entworfen werden“.32 Jeder reale Gegenstand – man stelle sich etwa ein in der visuellen Wahrnehmung gegebenes Ding vor – ist Ingarden zufolge dadurch charakterisiert, dass er „eindeutig“ und „allseitig“ bestimmt ist.33 Er ist insofern eindeutig bestimmt, als ihm entweder die Eigenschaft A oder die Eigenschaft Nicht-A zukommt. In diesem Sinne weist der reale Gegenstand „in seinem Sosein keine Unbestimmtheitsstelle“ auf.34 Dass der reale Gegenstand allseitig bestimmt ist, besagt vor allem, dass seine Eigenschaften bei originärer Gegebenheit zusammen „eine ursprüngliche konkrete Einheit“35 bilden. Die einzelnen Eigenschaften können dabei zwar aus dieser ursprünglichen und konkreten Einheit herausgerissen und nacheinander erfasst und ggf. benannt werden, doch eine sukzessive Erfassung einzelner Eigenschaften müsste ins Unendliche fortgesetzt werden, um den Gegenstand allseitig zu bestimmen, da es

29 30 31 32 33 34 35

Ebd., S. 379. Siehe auch S. 370 und 384. Ebd., S. 285. Ebd., S. 284. Ebd., S. 250. Ebd. Ebd. Ebd.

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prinzipiell immer möglich wäre, weitere Eigenschaften zu erfassen. Was heißt das nun in Bezug auf die im Werk dargestellten Gegenstände? Wenn man etwa – um an Ingardens eigenes Beispiel anzuschließen36 – einen Roman liest, in dem sich eine Frau gerade die Haare kämmt, dann ist mitgegeben im Sinne der schematisierten Ansichten, dass ihr Haar eine Farbe hat. Die Haarfarbe selbst kann aber unbestimmt bleiben. Das Haar ist dann weder blond noch nicht-blond, weder grau noch nicht-grau etc. Wenn es sich im besagten Roman um eine alte Frau handelt, dann wird der Leser vermutlich geneigt sein, sich ihre Haare als grau vorzustellen. Diese Information ist aber streng genommen nicht im Werk selbst enthalten, sondern ist das Resultat einer Konkretisierung seines schematischen – und lückenhaften – Gehalts. Der Leser hat also in der phantasiemäßigen anschaulichen Erfassung der dargestellten Gegenstände eine ‚Leerstelle‘ im Werk ausgefüllt. Da das Werk aus einer endlichen Anzahl von Sätzen besteht, die in linearer Abfolge eine endliche Anzahl von Sachverhalten konstituieren, enthält die Schicht der dargestellten Gegenstände notwendigerweise – im Werk selbst, aber auch in jeder seiner Konkretisationen – eine unendliche Anzahl von Unbestimmtheitsstellen. Das Ausfüllen von Unbestimmtheitsstellen durch allgemeines Weltwissen ist zwar mit der Aktualisierung und Konkretisierung der schematisierten Ansichten aufs Engste verwandt, doch es handelt sich um zwei verschiedene Aspekte der Konkretisation, die weder miteinander noch mit dem Werk selbst zu verwechseln sind. Dabei kommt noch hinzu, dass das Ausfüllen von Unbestimmtheitsstellen – deren es ja prinzipiell unendlich viele gibt – „im Einklang mit den schon festgelegten Bestimmtheiten der dargestellten Gegenstände“37 zu stehen hat. Es stellt sich aber dann die Frage, ob nicht bereits eine Selektion aus der unendlichen Vielfalt möglicher Unbestimmtheitsstellen das Resultat von – womöglich sehr komplexen – Verstehensprozessen bildet. Mit dem In-Einklang-Bringen von Bestimmtem und Unbestimmtem steht es nicht viel anders. Das Ausfüllen von Unbestimmtheitsstellen hat dann als solches eine intrinsische hermeneutische Komponente. Zum anderen sind die vier Schichten in Ingardens Stratifikationsmodell in konstitutiver Hinsicht nicht gleichwertig:38 Die Ansichten hängen von den dargestellten Gegenständen ab, die ihrerseits in den Bedeutungseinheiten fundiert sind, die wiederum dem Lautmaterial (bzw. den Schriftzeichen) im Bewusstseinsakt ‚oktroyiert‘ werden. Mit diesem Primat der Bedeutung sind zwei Probleme verbunden, die Ingarden nur teilweise erkannt zu haben scheint. Beide betreffen die satzbildenden Operationen und den Zusammenhang der Bedeutungseinheiten.

36 Vgl. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 409. 37 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 257. 38 Vgl. ebd., S. 189, sowie Ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 351.

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Erstens: Im Hinblick auf die satzbildenden Operationen unterscheidet Ingarden streng zwischen Produzenten- und Rezipientenperspektive: Die satzbildende Denkoperation […] kann auf zwei grundverschiedene Weisen vollzogen werden. Entweder in der Form einer ursprünglichen wirklich satzbildenden Operation oder nur in der Form einer der ursprünglichen entsprechenden und doch wesensmäßig modifizierten nachbildenden bzw. reaktualisierenden Operation. Nur der erstgenannte Modus der satzbildenden Denkoperation ist wirklich schöpferisch und erfordert zu seinem Vollzuge eine ganz spezifische spontane Aktivität des Bewußtseinssubjekts, wogegen der zweite nur reaktualisiert, was schon einmal geschaffen wurde […]. Dabei kann die bloß nachbildende, beliebig oft wiederholbare Denkoperation zu Sätzen führen, welche absolut denselben Inhalt und dieselbe Form haben, wie diejenige, welche in der ursprünglich schöpferischen Operation gebildet wurden. Dabei ist es ganz irrelevant, ob die satznachbildenden Denkoperationen durch dasselbe Bewußtseinssubjekt, das den betreffenden Satz ursprünglich gebildet hat, oder durch ein anderes Subjekt vollzogen werden.39

Ingarden kann dies aufgrund seiner Bedeutungskonzeption behaupten. Er unterscheidet nämlich zwischen Begriffen auf der einen Seite, verstanden als ‚Ideen‘, und Bedeutungen auf der anderen Seite, verstanden als die Aktualisierung eines Teils des idealen Gehalts, der im Begriff enthalten ist. Nur im Hinblick auf die Sinngehalte der idealen Begriffe vermag der Leser eines literarischen Werkes den Sinngehalt eines Satzes, der dem letzteren durch den Autor gegeben wurde, auf identische Weise zu reaktualisieren. Gäbe es keine idealen Begriffe und weiterhin auch keine idealen Qualitäten (Wesenheiten) und Ideen, so wären nicht bloß die Sätze […] unmöglich, sondern es wäre zugleich unmöglich, eine echte sprachliche Verständigung zwischen zwei Bewußtseinssubjekten, in welcher von beiden Seiten der identische Sinngehalt des Satzes erfaßt wird, zu erlangen.40

Die Teilhabe der Bedeutung an idealen, unveränderlichen Begriffen soll – einmal abgesehen von der ontologischen Pointe dieser Konzeption sowie deren philosophischen Implikationen – für die „intersubjektive Identität des Satzes“41 bürgen, was für Ingarden wiederum wichtige wissenschaftstheoretische Konsequenzen hat. Aus philologischer Sicht wird man hier aber schnell etwas misstrauisch, und zwar nicht nur weil sich Ingarden entschieden gegen eine Identifikation vom Werk und den Bewusstseinsakten seines Urhebers ausspricht: „Vor allem bleibt vollständig außerhalb des literarischen Werkes der Autor selbst samt allen seinen Schicksalen, Erlebnissen und psychischen Zuständen“.42 Kann Ingarden wirklich 39 40 41 42

Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 104. Ebd., S. 378 f. Ebd., S. 374. Ebd., S. 18.  

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der Meinung gewesen sein, dass die verliehene Intentionalität des Autors mit derjenigen des Lesers ohne weiteres zusammenfällt? Hierauf wird unten noch genauer einzugehen sein. Zweitens: Wie oben bereits erwähnt, geht Ingarden davon aus, dass man meist nicht auf einzelne Sätze, sondern vielmehr auf einen ganzheitlichen Zusammenhang eingestellt ist, wenn man Sätze bildet oder als Leser bereits vorliegende Sätze nachbildet. Ein solcher Zusammenhang liegt nach Ingarden dann vor, wenn es wirklich gelungen ist, ein Bedeutungselement des einen Satzes an den Sinngehalt des anderen Satzes (bzw. an ein Bedeutungselement dieses Satzes) anzuknüpfen und wenn infolgedessen auch die zugehörigen rein intentionalen Korrelate in eine vollzogene Verbindung miteinander eingehen. Ja, der Zusammenhang zwischen zwei Sätzen ist nichts anderes als eine derartig gelungene Anknüpfung eines Satzsinngehaltes an einen anderen.43

Diese „gelungene Anknüpfung“ eines Satzes an einen anderen wie auch die „vollzogene Verbindung“ der einzelnen Sachverhalte in der Schicht der dargestellten Gegenstände kann nur als Kohärenzstiftung verstanden werden. Wie es an anderer Stelle heißt: „Sind die Zusammenhänge zunächst unsichtbar, so sucht man sie zu finden und man ist verwundert, wenn man sie – wie z.B. im Falle einer irrsinnigen Rede – nicht vorfindet“.44 Eine derartige Kohärenzstiftung, die mit den satzbildenden Operationen offenbar verwandt oder gar deren Verlängerung ist, kann aber – was Ingarden nicht zu bedenken scheint – von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein. Ingarden würde bestreiten, dass die satzbildenden Operationen qua subjektive Bewusstseinsoperationen zur Struktur des Werkes selbst gehören, geht es ihm doch mit der Unterscheidung zwischen dem schematischen Werk und dessen Konkretisationen gerade um die Entsubjektivierung des Werkes. Gleichzeitig weist aber das Werk – wie es Ingarden formuliert – auf die Bewusstseinsoperationen zurück,45 denen es sein Entstehen verdankt. Damit gehört jedoch unumgänglicherweise ein Variabilitätsfaktor zum Werk selbst, der sich von dessen schematischem Gehalt grundsätzlich unterscheidet. Überhaupt bleibt bei Ingarden der Status des Zusammenhangs – so könnte man es allgemein formulieren – eigentümlich in der Schwebe.

43 Ebd., S. 155. 44 Ebd., S. 150. 45 Vgl. ebd., S. VIII.

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II Ingardens Versuch einer Grundlegung der Literaturwissenschaft In Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks greift Ingarden – wie oben bereits erwähnt – auf seine ‚Wesensanatomie‘ in Das literarische Kunstwerk zurück. Dieser Rückgriff ist methodisch reflektiert. Denn in der Einleitung hebt Ingarden hervor, dass die Analyse eines bestimmten Erkenntnisvorgangs viel leichter durchzuführen sei, „wenn man sich die allgemeine Grundgestaltung des betreffenden Gegenstandes zum Bewußtsein bringt“.46 Er beruft sich hier auf Husserl, dessen Logische Untersuchungen gezeigt hätten, „daß eine besondere Korrelativität zwischen der Erkenntnisweise und dem zu erkennenden Gegenstand, vielleicht sogar eine Anpassung des Erkennens an diesen Gegenstand besteht“.47 Hinsichtlich des Erkennens des literarischen Kunstwerkes wird gefolgert: Die Konfrontation der Analyse der Erlebnisse, in welchen sich die Lektüre vollzieht, mit den wesensnotwendigen strukturellen Momenten des literarischen Kunstwerks wird uns […] besser zu verstehen erlauben, warum eigentlich jene Erlebnisse in sich so kompliziert sind und gerade in dieser wesenstypischen Weise verlaufen.48

Ingarden geht es hier weder um eine Methode der literaturwissenschaftlichen Textanalyse noch um die Analyse eines faktischen Lektürevorgangs bzw. um eine Psychologie des Lesens. Vielmehr will er unter Berücksichtigung der apriorischen Grundstruktur der Literatur den „wesenstypischen“ Bewusstseinsverlauf beim Lesen eines literarischen Kunstwerks analysieren. Dabei handelt es sich insofern um eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft, als eine solche Analyse erst die Fragen generiert, welche – wie es in Das literarische Kunstwerk heißt – die „Möglichkeit einer ‚Literaturwissenschaft‘ betreffen“.49 Ingarden zufolge ist dieser Themenkomplex, der eine „klar gestellte Frage nach dem Wesen des literarischen Werkes“50 einschließt, trotz einer „rege[n] Bewegung auf dem Gebiet der Methodologie der Literaturforschung“51 ungeklärt geblieben. Mit seiner Grundlegung will Ingarden nun diejenige Erkenntnisweise der Literatur

46 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 7. 47 Ebd., S. 6. 48 Ebd., S. 10. 49 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 17. Ingardens Anführungszeichen müssen hier nicht unbedingt viel bedeuten. Er setzt in Das literarische Kunstwerk sehr viele Begriffe in Anführungszeichen. 50 Ebd., S. 2. 51 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 1.

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analysieren, die man herauszustellen hat, „bevor überhaupt die methodologischen Probleme aufgeworfen werden“.52 Dementsprechend werden zunächst solche Bewusstseinsoperationen untersucht, die allen Arten des Lesens gemeinsam sind (das Verstehen der Bedeutungseinheiten, das Ausfüllen von Unbestimmtheitsstellen etc.). Hierzu gehören auch umfangreiche phänomenologische Zeitanalysen, in denen unter anderem das Verhältnis zwischen dem Verstehen und dem Gedächtnis des Lesers umrissen wird. Dann unterscheidet Ingarden zwischen vier Arten des Erkennens eines literarischen Kunstwerkes: 1. „Die nicht- oder außerästhetischen Erlebnisse eines literarischen Konsumenten“, 2. „das ästhetische Erlebnis eines literarischen Konsumenten“, 3. „das vor-ästhetische Erkennen des literarischen Kunstwerkes in der Forschungseinstellung“ und 4. „das sich auf Grund eines ästhetischen Erlebnisses vollziehende, in der Forschungseinstellung durchgeführte Erkennen einer ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerkes“.53 Während er auf Punkt 1 nicht näher eingeht, wird Punkt 2 im Rahmen einer allgemeinen Theorie des ästhetischen Erlebnisses relativ ausführlich behandelt. Punkt 3 bezieht sich auf das literaturwissenschaftliche Erkennen des literarischen Kunstwerkes bzw. auf die Literaturwissenschaft im engeren Sinne, während Punkt 4 sich auf die literarische Wertung bezieht, die Ingarden zum „Forschungsfeld der Literaturwissenschaft“ rechnet und für die er eine „wissenschaftlich geprüfte Grundlage“ zu schaffen sucht.54 Das Ziel einer im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen, ‚vor-ästhetischen‘ Betrachtung des literarischen Werkes ist für Ingarden die Rekonstruktion des Werkes in seinem schematischen Gehalt. Diese Rekonstruktion bildet einen „Grenzfall“55 der Konkretisation, bei dem man sich allen Konkretisierens, Aktualisierens und Ausfüllens enthält, um Wissen über das Werk selbst zu erlangen. Die Bezeichnung vor-ästhetisch ist jedoch – wie auch Ulrich Steltner bemerkt – etwas unglücklich gewählt, denn das Vor-Ästhetische ist nicht zeitlich, sondern

52 53 54 55

Ebd., S. 2. Ebd., S. 231. Ebd., S. 440. Ebd., S. 350, Anm. 7.

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gewissermaßen räumlich gedacht.56 Die forschende Betrachtung des Textes erfolgt nämlich immer auf Grundlage einer „schlichte[n], in ästhetischer Einstellung durchgeführte[n] Lektüre“.57 Sie bleibt aber in dem Sinne vor-ästhetisch, dass sie gewissermaßen an der Schwelle der Konkretisation stehenbleibt und den Raum möglicher Konkretisationen ausmisst. Eine derartige analytische Betrachtung, die Ingarden als grundlegend für die Literaturwissenschaft betrachtet,58 kann also „einen Überblick über die Mannigfaltigkeit der möglichen Interpretationen geben, ohne selbst diese Konkretisationen zu realisieren“.59 Diese synonyme Verwendung von Interpretation und Konkretisation ist nicht ganz unwichtig. Bereits in der Einleitung verweist Ingarden auf Emil Staigers Kunst der Interpretation als „das einzige wichtige Werk, das in seiner Thematik mit einem Teil der hier zu entwickelnden Probleme verwandt ist“,60 wobei er in einer Fußnote hinzusetzt: „Es handelt sich da aber wirklich um ‚Interpretation‘ und nicht um das Kennenlernen und Verstehen des literarischen Kunstwerks – also um Probleme, welche mit verschiedenen möglichen Konkretisationen eines und desselben Kunstwerks zusammenhängen“.61 Dieses „Kennenlernen und Verstehen“ verweist auf ein weiteres Problemfeld, denn an mehreren Stellen – sowohl in Das literarische Kunstwerk als auch in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks – betont Ingarden, dass es richtige und falsche Konkretisationen eines Werkes gibt.62 Es ist für Ingarden also möglich, „Konkretisationen zur Entfaltung [zu] bringen, die das Werk nicht zu einer adäquaten Ausprägung bringen“.63 Oder wie es an anderer Stelle heißt: Jahrhundertelang kann ein literarisches Werk nur in […] verdeckenden, es verfälschenden Konkretisationen zur Ausprägung gelangen bis sich endlich jemand findet, der das Werk richtig versteht und adäquat erschaut und anderen seine echte Gestalt auf diese oder jene Weise zeigt.64

56 Vgl. Ulrich Steltner, „Roman Ingardens logische Bestimmung des Verhältnisses von Sprache, Literatur und Ästhetik“, in: Alexander Löck/Jan Urbich (Hrsg.), Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin, New York 2010, S. 371–388, hier S. 376. 57 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 294. 58 Vgl. ebd. 59 Ebd., S. 299. 60 Ebd., S. 2. 61 Ebd., S. 3, Anm. 2. 62 Hierauf reagiert bekanntlich Wolfgang Iser in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970, S. 37, Anm. 6. 63 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 361. 64 Ebd., S. 352.

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Dies wirft einige Fragen auf, die dezidiert hermeneutischer Art sind und die außerdem die literaturwissenschaftliche Praxis betreffen, Interpretationen anzufertigen. Wie in Das literarische Kunstwerk wird das Textverstehen in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks als ein Aktualisierungsverfahren beschrieben: Das sich […] vollziehende Auffinden der Bedeutungsintention ist im Grunde nichts anderes als eine Aktualisierung dieser Intention. Das heißt: indem ich einen Text verstehe, denke ich den Sinn des gelesenen Textes. Ich entnehme ihn sozusagen dem Text und verwandle ihn in die aktuelle Intention meines verstehenden Denkaktes, in eine Intention, welche mit der im Text auftretenden Wort-, bzw. Satzintention identisch ist. Dann wird der Text wirklich „verstanden“.65 Erst dann, wenn es uns gelingt, alle Faktoren, die der Text liefert, zu nutzen und zu aktualisieren, sowie das organisierte sinnvolle Ganze des betreffenden Werkes im Einklang mit den in ihm selbst, in seiner Bedeutungsschicht enthaltenen Sinnintentionen zu konstituieren, verstehen wir wirklich den Inhalt des Werkes.66

Bemerkenswert ist hier, wie der Fokus nicht mehr auf der verliehenen Intentionalität des Autors, sondern auf der Intention bzw. dem Sinn des Textes liegt. Dies ist nicht ohne weiteres als eine metonymische Redeweise aufzufassen, da im Hinblick auf Ingardens Bedeutungskonzeption auch ein Aktualisierungsverfahren ohne Rücksicht auf die Autorintention denkbar wäre. Allerdings bleibt es unklar, ob nicht die Autorintention auch gemeint oder – mit einem Begriff von Ingarden – ‚mitgemeint‘ ist. An andere Stelle heißt es nämlich: Die Weise der Konkretisierung zeigt […], inwiefern eine bestimmte Konkretisation eines Werks „im Geist“ der künstlerischen Intentionen des Verfassers ist, ihnen nahe steht oder im Gegenteil von ihnen abweicht. Entweder ist das konkretisierte Werk dem Stil gemäß oder verwandt, in welchem es […] geschaffen wurde, oder es hat infolge einer bestimmten Art der Konkretisation diesen Stil verloren.67

Dann stellt sich freilich die neue Frage, was man sich hier genau unter Stil vorzustellen hat. Folgende Textstelle bietet einen Hinweis: Eine gute Kenntnis der Sprache, in welcher das betreffende Werk geschrieben wurde und die in der Zeit der Entstehung des Werkes gebräuchlich war, kann […] die sich eröffnenden

65 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 30 f. 66 Ebd., S. 33 f. 67 Ebd., S. 54 f.  





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Schwierigkeiten bei der richtigen Erfassung des Werkes, und das heißt in der Bildung einer ihm getreuen Rekonstruktion, beseitigen helfen.68

Dies ist ein klassisches hermeneutisches Argument. Gleichzeitig scheint aber Ingarden in der oben zitierten Passage davon auszugehen, dass eine Art Sinnpräsenz allein durch das bloße Verstehen der Wörter und Sätze bzw. durch die Auffassung ihres propositionalen Gehalts gewährleistet ist. Genügt es aber, eine Sprache (oder auch eine Sprachstufe) zu beherrschen, um einen Text in dieser Sprache ‚wirklich‘ bzw. ‚richtig‘ zu verstehen? Dies wäre insofern denkbar, als Ingarden vom „Inhalt des Werkes“ spricht. In einer zugehörigen Fußnote heißt es aber: „Der ‚Inhalt‘ des literarischen Werkes wird als das organisierte Sinnganze des Werkes genommen, das die Bedeutungsschicht des Werkes bildet“.69 Also bleibt man doch mit der Frage konfrontiert, ob man durch Sprachkompetenz allein die dem Text inhärente Intention aktualisieren kann. Ingarden hat dieses – oder wenigstens ein ähnliches – Problem gesehen und argumentiert entsprechend gegen die Auffassung, dass „das sich im schlichten Lesen vollziehende Verstehen selbst dazu ausreicht, die Schicht der […] dargestellten Gegenständlichkeiten […] zu konstituieren“.70 In diesem Zusammenhang führt er unter anderem seine Unterscheidung von aktivem und passivem Lesen ein. Das Lesen eines literarischen Kunstwerks kann nach Ingarden in dem Sinne aktiv durchgeführt werden, dass man „den Sinn der gelesenen Sätze“ mit einer „eigentümlich ursprünglichen Urwüchsigkeit und Aktivität denkt, mit der man sich in einer mitschöpferischen Einstellung in das Gebiet der durch die Satzsinne bestimmten Gegenstände versetzt“.71 Ein ähnlicher Gedanke findet sich – nebenbei bemerkt – bei Schleiermacher, dem zufolge „die Aufgabe der Hermeneutik“ darin besteht, „den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden“.72 Doch wie dem auch sei: Das aktive Lesen bildet letztlich eine Variante jener Kohärenzstiftung, die oben im Zusammenhang mit den satzbildenden Operationen besprochen wurde. Die ‚Richtigkeit‘ einer Konkretisation scheint somit darin zu bestehen, inwieweit es dem Leser gelingt, seine satzbildenden Operationen an diejenigen des Autors anzugleichen. Dabei würde aber Ingarden vehement verneinen, dass diese subjektiven Bewusstseins-

68 Ebd., S. 359. 69 Ebd., S. 34, Anm. 24. 70 Ebd., S. 36. 71 Ebd., S. 39. 72 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, „Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch“, in: Ders., Hermeneutik und Kritik, hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, S. 309–346, hier S. 321.

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akte des Autors als solche zugänglich oder reproduzierbar wären. Was er beschreibt, wenn er auf den Stil der Konkretisation und die Entstehungszeit des Werkes hinweist, kommt wohl eher dem am nächsten, was man als einen hypothetischen Intentionalismus bezeichnet.73 Wichtig ist hierbei, dass man – es sei an die oben zitierte Passage erinnert – sämtliche Elemente des Textes zu berücksichtigen und in Einklang miteinander zu bringen hat, was nicht zuletzt wie eine erhebliche interpretatorische Leistung klingt. Was bedeutet also dies für den Literaturwissenschaftler und dessen Rekonstruktion des Werkes in seinem schematischen Gehalt? Sowohl in der 1960 erschienenen, überarbeiteten zweiten Auflage von Das literarische Kunstwerk als auch in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks bezieht sich Ingarden wiederholt auf Emil Staiger. Das Credo lautet: „Neigt man zu entschieden dazu, nur eine Deutung zu bevorzugen, dann bekommt man eben eine ‚Interpretation‘ – um das Wort von Emil Staiger zu benutzen – aber kein richtiges, kein volles Verständnis des Gedichts“.74 Überhaupt betont Ingarden mehrmals, dass bei ein und demselben Text oft viele Interpretationen möglich seien, wobei das Problem einer Interpretation darin bestehe, dass die Vielfalt möglicher Konkretisationen nicht berücksichtigt wird.75 Aufschlussreich ist dabei folgende Stelle: Man spricht jetzt oft unter der Suggestion von Emil Staigers Werken von der „Kunst der Interpretation“. Man sollte aber vor allem von der Kunst des Lesens literarischer Kunstwerke sprechen, und zwar von einer Kunst, die nicht notwendig Gabe des Talents, des sozusagen nicht zu erlernenden Genies ist, sondern von einer „Kunst“, die eben – wie ein gutes Handwerk – erlernbar ist und auch ausgeübt werden kann.76

Staiger rechnet bekanntlich „das allersubjektivste Gefühl“ zur „Basis der wissenschaftlichen Arbeit“.77 Dabei lässt er zwar zu, dass man sich Informationen über Autor, Epoche etc. als eines heuristischen Mittels bedient,78 doch letztlich kommt die Interpretation bei Staiger ohne ein bestimmtes, nicht vermittelbares Empfin-

73 Vgl. hierzu Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin, New York 2007, S. 57–144 sowie Ders., „Hypothetischer Intentionalismus. Rekonstruktion und Kritik“, in: Journal of Literary Theory, 1/2007, S. 81–110. 74 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 369. 75 Vgl. ebd., S. 71 f. 76 Ebd., S. 320 f. 77 Emil Staiger, „Die Kunst der Interpretation“, in: Ders., Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1955, S. 9–33, hier S. 12. 78 Vgl. Lutz Danneberg, „Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation“, in: Wilfried Barner/ Christoph König (Hrsg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 1996, S. 313–442, bes. S. 317.  



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dungsvermögen des Interpreten nicht aus. Ingarden sucht sich dabei wohl – wenigstens was die Literaturwissenschaft im engeren Sinne betrifft – von einer wissenschaftlichen Praxis abzugrenzen, die sich aus einer (elitären) ästhetischen Empfindungskompetenz speist.79 Dasjenige, was Staiger als eine ‚Kunst der Interpretation‘ bezeichnet, würde für Ingarden allenfalls zur literarischen Wertung gehören, also zu einem „sich auf Grund eines ästhetischen Erlebnisses vollziehende[n], in der Forschungseinstellung durchgeführte[n] Erkennen einer ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks“.80 Freilich gibt es einige Unstimmigkeiten in Ingardens Argumentation, die wohl darauf zurückzuführen sind, dass es ihm nicht unbedingt um hermeneutische Fragestellungen geht. „Auf welche Einzelheiten“, fragt Ingarden, „richtet sich […] diese vorästhetische Betrachtung des Kunstwerks? Es ist klar, daß sich da gar keine Regeln vorschreiben lassen“.81 Denn ein gewisses ‚Feingefühl‘ scheint für Ingarden erforderlich zu sein, um das Werk zu rekonstruieren: Das Werk wird erst dann gut in seiner Sprache erkannt, wenn der Leser nicht bloß feinfühlig genug für das bloße Vorhandensein der Vieldeutigkeiten ist, sondern auch erkennt, welche verschiedenen Deutungen des Textes durch denselben zugelassen, welche dagegen durch die weiteren Teile des Textes eliminiert werden. Und er muß sich auch darüber orientieren, welche von diesen durch die Vieldeutigkeit zugelassenen Deutungen ein Vorrecht vor anderen möglichen Deutungen („Interpretationen“?) haben oder ob alle bei der Lektüre gleichmäßig zur endgültigen Ausdeutung des Textes in Betracht gezogen werden dürfen.82

An dieser Stelle wird deutlich, dass der Text – was die oben zitierten Passagen nahezulegen schienen – womöglich doch nicht ohne weiteres ‚wirklich‘ verstanden wird. Vergleicht man die Textstellen, so wird überhaupt deutlich, dass Ingarden nicht klar zwischen Verstehen und Interpretieren unterscheidet. Von einem pragmatischen Gesichtspunkt aus lässt sich mit dem schwedischen Philosophen Göran Hermerén sagen, dass eine Interpretation notwendig ist, wenn wir nicht richtig begreifen, was wir sehen oder lesen, wenn eine Handlung, ein Text oder Bild zu komplex ist, um verstanden zu werden, inkohärent scheint, Lücken oder „Unbestimmtheitsstellen“ aufweist, ambig ist, oder auf die eine oder andere Art ergänzt werden muss, um verständlich zu sein.83

79 Vgl. Rolf Fieguth, „Rezeption contra richtiges und falsches Lesen? Oder: Mißverständnisse mit Ingarden“, in: Sprache im technischen Zeitalter, 38/1971, S. 142–159, hier S. 145 f. 80 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 231. Siehe Punkt 4 oben. 81 Ebd., S. 250. 82 Ebd., S. 366. 83 Göran Hermerén, „Interpretation: Typen und Kriterien“, in: Tom Kindt/Tilmann Köppe (Hrsg.), Moderne Interpretationstheorien. Ein Reader, Göttingen 2008, S. 251–276, hier S. 252.  

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Dass ein komplexer, inkohärent scheinender, schwerverständlicher oder nichtverstandener Text in diesem Sinne interpretationsbedürftig ist, kommt in Ingardens Ansatz nicht wirklich zum Tragen. Das Fragezeichen hinter dem Wort Interpretation ist insofern symptomatisch. Hierbei ist noch anzumerken, dass Ingarden mit einem alten hermeneutischen Problem gleichsam ringt, ohne dass es je thematisch wird. Denn indem akzentuiert wird, dass sich im Hinblick auf die Rekonstruktion des Werkes „gar keine Regeln vorschreiben lassen“, wird eine subjektive Kompetenz – das ‚Feingefühl‘ des Literaturwissenschaftlers – gewissermaßen durch die Hintertür wieder eingeführt, womit Ingarden Staigers ‚Kunst der Interpretation‘ de facto viel näher kommt, als ihm wohl selber lieb wäre. Gleichzeitig betont Ingarden an mehreren Stellen, dass man zur Kunst wie auch zu einer Wissenschaft von einer Kunst „erzogen“ werden muss, wobei zu dieser ‚Erziehung‘ auch die literaturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse gehören.84 Was Ingarden hier vor Augen hat, lässt sich wohl am besten mit dem vergleichen, was man in hermeneutischem Vokabular gewöhnlich als Takt bezeichnet.85 So schreibt etwa August Boeckh in seiner Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften: Durch mechanische Anwendung hermeneutischer Vorschriften wird das Talent nicht entwickelt; vielmehr müssen die Regeln, deren man sich beim Auslegen selbst lebendig bewusst wird, durch Uebung so geläufig werden, dass man sie bewusstlos beobachtet, und sich doch zugleich zu einer bewussten Theorie zusammenschließen, welche allein die Sicherheit der demonstrativen Auslegung verbürgt. Bei dem ächten hermeneutischen Künstler wird diese Theorie selbst in das Gefühl aufgenommen und es entsteht so der richtige Takt, der vor spitzfindigen Deuteleien bewahrt.86

84 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 362 f. Siehe auch Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 305, Anm. 85 sowie S. 437 f. (diese letzte Passage bildet eine Art Appell zum Abschluss des ganzen Buches). 85 Zum Takt-Begriff vgl. Lutz Danneberg, „‚ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein‘. Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden im kulturellen Behauptungsdiskurs der Mathematik und der Naturwissenschaften im 19., mit Blicken ins 20. Jahrhundert“, in: Andrea Albrecht/Gesa von Essen/Werner Frick (Hrsg.), Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur, Berlin, Boston 2011, S. 600–657. Vgl. ferner Ders., „Dissens, ad-personam-Invektiven und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts: Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche“, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern [u.a.] 2007, S. 93–147, bes. S. 98–107. Verwiesen sei außerdem auf die Beiträge von Thomas Petraschka und Carlos Spoerhase in diesem Band. 86 August Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, unveränderter reprographischer Nachdruck der zweiten, von Rudolf Klussmann besorgten Auflage [Leipzig 1886], Darmstadt 1966, S. 87.  



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Bemerkenswert ist nun, dass Ingarden sehr wohl Methoden an die Hand zu geben sucht, mit denen man „Fehler der Rekonstruktion“87 vermeiden kann. So wird beispielsweise dargelegt, wie man als Literaturwissenschaftler mit den Unbestimmtheitsstellen des Werkes umzugehen hat.88 Man könnte dies vielleicht als eine gewisse argumentative Inkonsistenz beschreiben. Gleichzeitig ließe sich diese Inkonsistenz als Ausdruck einer generellen hermeneutischen Crux verstehen, die bei Ingarden mitzudenken ist, auch wenn sie als solche von seiner Seite aus nicht explizit zum Thema gehört. Ingardens ‚Kunst des Lesens‘, die wie „ein gutes Handwerk“ erlernbar sein sollte, bildet gewissermaßen eine ars, also eine regelgeleitete Praxis, deren Regeln man aber nicht unbedingt deutlich kennen oder explizieren muss, um das Handwerk erfolgreich auszuüben. Was die eingangs angekündigte hermeneutische Perspektive auf Ingarden betrifft, stellt sich alles in allem die Frage, ob die Rekonstruktion des Werkes in seinem schematischen Gehalt – der Sache nach – nicht genau dasjenige ist oder umfasst, was man gewöhnlich unter einer Interpretation versteht, nämlich „das methodisch herbeigeführte Resultat des Verstehens von Texten in ihrer Ganzheit“. Eine Interpretation in diesem Sinne ist mit einem bloßen Verstehen nicht gleichzusetzen, da sie mit dem Anspruch verbunden ist, über die Wiedergabe des Wortsinnes hinauszugehen. Sie ist auch keine subjektiv-willkürliche Bedeutungszuschreibung, sondern folgt unterschiedlichen, mehr oder weniger klar umrissenen Regeln, die in einer umfassenderen (Interpretations-)Theorie verankert sind.89 Dies trifft alles auf Ingarden zu. Im Rückgriff auf die klassische Hermeneutik lässt sich sagen: Rekonstruktion und Konkretisation verhalten sich zueinander wie Bedeutungsermittlung und Bedeutungsmitteilung (subtilitas intelligendi und subtilitas explicandi) auf der einen Seite zur Applikation (applicatio bzw. accommodatio) auf der anderen Seite.90 Die Rekonstruktion umfasst insofern eine inter-

87 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 355. 88 Vgl. ebd., S. 300–303. Siehe auch § 31. 89 Zu diesem Interpretationsbegriff vgl. Spree, „Interpretation“, S. 168. Ich lege diese Definition aus dem Reallexikon in der Absicht zugrunde, eine möglichst allgemein akzeptierte Arbeits- bzw. Minimaldefinition zu verwenden. 90 Gemeint ist hier nicht die vermeintlich auf Johann Jakob Rambach zurückgehende Trias von Verstehen (subtilitas intelligendi), Auslegen (subtilitas explicandi) und Applikation (subtilitas applicandi), von der Hans-Georg Gadamer spricht: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960], Tübingen 2010, S. 312. Dies aus zwei Gründen: Erstens verweist Gadamer hier auf eine Trias, die es bei Rambach in dieser Form gar nicht gibt; zweitens würde ein Applikationsbegriff im Sinne Gadamers hier in die Irre führen. Gemeint ist vielmehr der Wortgebrauch im 18. Jahrhundert, vor allem bei Johann August Ernesti. Vgl. zu diesem Themenkomplex Lutz Danneberg, „Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen“, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft

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pretatorische Leistung, als sie nicht einfach der Text ist, sondern vielmehr eine Ermittlung derjenigen Konkretisationen, die das Werk adäquat zum Ausdruck bringen. Sie ist also keine determinative Interpretation, die bestimmt, was der Text bedeutet, lässt sich aber als eine explorative Interpretation beschreiben, die herausarbeitet, was der Text bedeuten kann.91 Folglich hat die Rekonstruktion keine bedeutungsbestimmende, aber sehr wohl eine bedeutungslimitierende Funktion.92 Ingarden vertritt in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks die Ansicht, dass nicht alle Konkretisationen „in gleichem Maß eine rechtmäßige Fundierung im betreffenden Kunstwerk haben, oder anders gesagt, daß nicht alle Konkretisationen eine […] richtige Interpretation des betreffenden Werkes sind“.93 Ob es überhaupt so etwas wie richtige Interpretationen eines literarischen Textes gibt, sei dahingestellt. Dass es bessere und schlechtere oder gar falsche Interpretationen geben kann, entspricht aber durchaus dem Selbstverständnis der Literaturwissenschaft. Die Rekonstruktion als eine ‚vor-ästhetische‘, akribische Textanalyse, die klar definierten Analysekriterien folgt, fungiert dabei – mit einer Formulierung von Ulrich Steltner – als eine „deskriptive Norm“, die es gestattet, „unterschiedliche Konkretisationen hinsichtlich ihrer Adäquatheit […] zu bewerten“.94 Ingardens Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung konvergiert in seiner Grundausrichtung durchaus mit Tendenzen der gegenwärtigen Literaturwissenschaft bzw. mit dem allgemeinen Wissenschaftlichkeitsanspruch der Disziplin. So ist beispielsweise dem Kapitel zur Textanalyse und Textinterpretation im 2007 erschienenen Handbuch Literaturwissenschaft ein einführender Überblick über deren „Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen“95 vorangestellt. Dass sich Ingardens Ansatz in der Literaturwissenschaft nicht wirklich hat durchsetzen können, ist wohl nicht zuletzt auf die vielen speziellen,

im Europa der Neuzeit, München 2006, S. 193–221, bes. S. 203–207. Vgl. ferner Ders., „Kunst, Methode und Methodologie bei Boeckh“, in: Christiane Hackel/Sabine Seifert (Hrsg.), August Boeckh. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik, Berlin 2013, S. 211–242, bes. S. 216–231. Eine erweiterte Fassung dieses Aufsatzes ist im Internet publiziert unter http://fheh.org/images/ fheh/material/boecklfass.pdf (Version vom 13.07.2013; Zugriff am 17.07.2013). Vgl. außerdem Eric Donald Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven, London 1967, S. 129. 91 Diese beiden Begriffe übernehme ich von Jerrold Levinson, „Two Notions of Interpretation“, in: Arto Haapala/Ossi Naukkarinen (Hrsg.), Interpretation and Its Boundaries, Helsinki 1999, S. 2–21. 92 Vgl. Spoerhase, Autorschaft und Interpretation, S. 125. 93 Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 299. 94 Steltner, „Roman Ingardens logische Bestimmung“, S. 385. 95 Harald Fricke, „Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 2 (Methoden und Theorien), Stuttgart, Weimar 2007, S. 41–54.

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größtenteils in der Phänomenologie fundierten Vorannahmen über Bewusstsein, Sprache, Bedeutung etc. zurückzuführen.96 In Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks sucht er – wie oben bereits angemerkt – den ‚wesenstypischen‘ Bewusstseinsverlauf beim Lesen literarischer Texte freizulegen und damit eine vor-methodische Basis für die Literaturwissenschaft bereitzustellen, um so einem epistemischen Relativismus vorzubeugen.97 Doch indem er zwischen richtigem und falschem Verstehen unterscheidet, ist eine normative Komponente eingeführt, die keine (empirische oder phänomenologische) Analyse des Verstehensvorgangs einzuholen vermag. Mit anderen Worten: Der faktische oder auch ‚wesenstypische‘ Vollzug des Verstehens ist mit den Normen der Rechtfertigung der Verstehensresultate nicht zu verwechseln.98 In dem Moment, in dem Ingarden zwischen richtigem und falschem, zwischen mehr oder weniger adäquatem Verstehen unterscheidet, hat er bereits das weite Feld der Hermeneutik betreten. Seine Theorie liest sich dann dementsprechend eben auch als eine Interpretationstheorie.

96 Dies bemerkt auch Harald Fricke: Ebd., S. 41. 97 Vgl. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 1 f. 98 Vgl. Spoerhase, Autorschaft und Interpretation, S. 2.  

V Theorien und Methoden des Interpretierens: Systematische Überlegungen

Simone Winko, Göttingen

Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literaturwissenschaftlicher Interpretationen Gibt es Kriterien der Beurteilung literaturwissenschaftlicher Interpretationen, die von Vertretern unterschiedlicher Theorien akzeptiert werden? Diese Frage nach theorieübergreifenden Standards literaturwissenschaftlicher Praxis ist immer wieder einmal gestellt worden, ohne dass eine konsensuelle Antwort gefunden worden wäre. In der deutschsprachigen Diskussion sind in den letzten Jahren drei Kandidaten für ein solches Kriterium vorgeschlagen worden: die viel diskutierte Wahrheit,1 die praktische Rationalität der zugrunde liegenden Interpretationshandlungen2 sowie allgemeine wissenschaftstheoretische Standards.3 In einem Vergleich dieser Vorschläge wurde gezeigt, dass es – neben anderen Problemen – insbesondere die fehlende disziplinäre Akzeptanz ist, an der die Kriterien scheitern: Es ist nicht anzunehmen, dass sich Vertreter unterschiedlicher Interpretationstheorien auf die Anwendung dieser Beurteilungskriterien einigen.4 Das gilt vor allem für den Wahrheitsbegriff; Aussagen wie ‚Das ist eine wahre Interpretation‘ finden sich höchst selten, nur wenig häufiger ‚Die Interpretation ist richtig‘.5 Vorherrschend in Beurteilungen von Interpretationen sind dagegen andere Ausdrücke: Interpretationen sind „interessant“, „anregend“, „überzeugend“ oder

1 Z.B. Thomas Zabka, „Interpretationsverhältnisse entfalten. Vorschläge zur Analyse und Kritik literaturwissenschaftlicher Bedeutungszuweisungen“, in: Journal of Literary Theory, 2/2008, S. 51–69 und S. 173–175; Ders., Pragmatik der Literaturinterpretation. Theoretische Grundlagen – kritische Analysen, Tübingen 2005, S. 116–125. 2 Z.B. Christoph Dennerlein/Tilmann Köppe/Jan C. Werner, „Interpretation. Struktur und Evaluation in handlungstheoretischer Perspektive“, in: Journal of Literary Theory, 2/2008, S. 1–18 und S. 165. 3 Z.B. Werner Strube, „Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation“, in: Paul Michel/Hans Weder (Hrsg.), Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik, Zürich 2000, S. 43–69; Werner Strube, „Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte“, Stuttgart 1992, S. 185–209. 4 Vgl. dazu Tilmann Köppe/Simone Winko, „Zum Vergleich literaturwissenschaftlicher Interpretationen“, in: Andreas Mauz/Hartmut von Saas (Hrsg.), Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren, Würzburg 2011, S. 305–320, bes. S. 310–319. 5 Vgl. z.B. Renate Schlesier, „Was ist Interpretation in den Kulturwissenschaften?“, in: Johanna Bossinade/Angelika Schaser (Hrsg.), Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin, Göttingen 2003, S. 29–49, hier S. 43 f.  

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„plausibel“.6 Wegen ihrer tendenziellen Beliebigkeit scheinen Kriterien wie Anregendsein oder Interessantheit ebenfalls keine richtungsübergreifende Akzeptanz beanspruchen zu können; wie aber sieht es für das Kriterium der Plausibilität aus? Der Ausdruck ‚plausibel‘ wird nicht allein in mündlicher Fachkommunikation, sondern auch in literaturwissenschaftlichen Meta-Texten zur Beurteilung von Interpretationen verwendet, vor allem in Rezensionen, Forschungsberichten und im Fußnotenapparat literarhistorischer Beiträge. Wenn man die Häufigkeit zugrundelegt, mit der der Ausdruck ‚plausibel‘ in diesen Texten eingesetzt wird, und davon ausgehend folgert, dass das ihm entsprechende Kriterium zur Einschätzung von Interpretationen ebenso weit verbreitet ist, dann liegt es nahe anzunehmen, dass das Prädikat ‚plausibel‘ die Bedingung der breiten Akzeptanz im Fach erfüllen kann, die etwa für ‚wahr‘ oder ‚rational‘ ebenso wenig gegeben ist wie für ‚anregend‘ oder ‚interessant‘. Jedoch finden sich in der literaturwissenschaftlichen Forschung kaum Klärungen des Ausdrucks und des Kriteriums,7 wofür es mindestens zwei Erklärungen gibt: Es könnte sein, dass der Begriff ‚Plausibilität‘ zu den praxeologisch beschreibbaren Selbstverständlichkeiten des Faches gehört, über die ein stillschweigender Konsens besteht. ‚Plausibel‘ als Attribut einer Interpretation hätte dann vielleicht den Status von ‚genau‘ als Attribut des professionellen Lesens: Was es heißt, dass man als Literaturwissenschaftler ‚genau lesen‘ solle, wird in erster Linie durch Einübung vermittelt, Einführungen ins Fach aber enthalten kaum explizite Anleitungen zum genauen Lesen. In eben diesem Sinne könnte man den Ausdruck ‚plausibel‘ auffassen: als ein gewissermaßen mit Praxiswissen aufgeladenes Attribut, dessen korrekte Ver6 Jeder Ausdruck sei hier aus Platzgründen mit nur einem Beispiel belegt. Für „interessant“ vgl. Isabel Plocher, „Wenigstens mit Kenntnis zu leben“. Der Mediendiskurs in Uwe Johnsons „Jahrestage“ am Beispiel der „New York Times“, Würzburg 2004, S. 39; für „anregend“ vgl. Malte Stein, „Johann Wolfgang Goethe ‚Harzreise im Winter‘“, in: Peter Hühn/Jörg Schönert/Malte Stein (Hrsg.), Lyrik und Narratologie: Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin, New York 2007, S. 75–97, hier S. 78; für „überzeugend“ vgl. Susanne Balhar, Das Schicksalsdrama im 19. Jahrhundert. Variationen eines romantischen Modells, München 2004, S. 386; für „plausibel“ vgl. Volker C. Dörr, Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegszeit (1945–1952), Berlin 2004, S. 332. 7 ‚Plausibilität‘ wurde zwar in Beiträgen der analytischen Ästhetik als übergreifendes Kriterium vorgeschlagen, diese Überlegungen sind aber meines Wissens in literaturtheoretischen Arbeiten nicht aufgegriffen und für die literaturwissenschaftliche Praxis spezifiziert worden; vgl. Denis Dutton, „Plausibility and Aesthetic Interpretation“, in: Canadian Journal of Philosophy, 7/1977, S. 327–340; Joseph Margolis, „The Logic of Interpretation“, in: Ders., Art and Philosophy, Brighton 1980, S. 145–164; Torsten Pettersson, „Incompatible Interpretations of Literature“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 45/1986, S. 147–161; Richard Shusterman, „Interpretation, Intention, and Truth“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 46/1988, S. 399–411.

Plausibilität als Beurteilungskriterium von Interpretationen

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wendung Literaturwissenschaftler im Laufe ihrer disziplinären Sozialisation erlernt haben und das sie mehr oder weniger gleich, auf jeden Fall aber ähnlich bestimmen würden, wenn sie denn jemand dazu aufforderte. Es könnte aber auch sein, dass die Verwendung desselben Ausdrucks bestehende Differenzen verdeckt und Literaturwissenschaftler unter einer ‚plausiblen Interpretation‘ tatsächlich sehr Unterschiedliches verstehen. Der Ausdruck ‚plausibel‘ hätte dann vor allem den positiven Effekt, Begründungsdebatten zu ersparen, und ein Konsens bestünde gegebenenfalls allein in der Gewissheit, dass als Kriterium zur Beurteilung von Interpretationstexten ein weniger rigides oder weniger voraussetzungsvolles Konzept benötigt werde als Wahrheit.8 Im vorliegenden Beitrag werde ich zwischen beiden Optionen nicht begründet entscheiden können. Dies würde eine umfassende Korpusanalyse der genannten literaturwissenschaftlichen Meta-Texte erfordern, für die u.a. bislang ein geeignetes Instrumentarium fehlt. Ohnehin muss erst geklärt werden, was unter ‚Plausibilität‘ verstanden werden kann, bevor sich beispielsweise untersuchen lässt, wie Plausibilisierungsstrategien in Interpretationen literarischer Texte eingesetzt werden. Es ist also zunächst Begriffsarbeit zu leisten. Daher gehe ich im Folgenden kleinteiliger und zugleich allgemeiner vor und frage: Taugt ‚Plausibilität‘ als Beurteilungskriterium für literaturwissenschaftliche Interpretationen? Und wenn ja, kann es dann ein richtungsübergreifendes Beurteilungskriterium sein? Eine Antwort soll in zwei Schritten versucht werden: Um ‚Plausibilität‘ als Begriff und als Kriterium zur Beurteilung von Interpretationen zu untersuchen, ist zunächst zu klären, um was für eine Art Prädikat es sich bei ‚plausibel‘ eigentlich handelt. Was tun wir, wenn wir eine Interpretation als plausibel bezeichnen, und unter welchen Voraussetzungen geschieht das? Da der Ausdruck ‚plausibel‘ kein genuin literaturwissenschaftlicher ist und in literaturwissenschaftlichen Beiträgen, wie gesagt, auch nur höchst selten erklärt wird, sind zunächst vor allem Begriffsverwendungen und -bestimmungen anderer Disziplinen zu sichten. Ziel ist, möglichst alle Bedeutungsvarianten zu erfassen und ein differenziertes Bild

8 Für die Soziologie z.B. argumentiert Stefan Meißner in diesem Sinne, wenn er die Ersetzung des leitenden Kriteriums ‚Wahrheit‘ durch ‚Plausibilität‘ zur Beurteilung von Forschungsergebnissen als Gewinn von Freiheit, als Demokratisierung und als Verzicht auf eine „Denk-Möglichkeiten einschränk[ende]“ „vorgegebene[] Norm“ begrüßt. Auf diese Weise könne „‚Möglichkeitssinn‘ in die Wissenschaft implementiert und in Form einer Steigerungslogik organisiert werden“. Der vielleicht aufkommenden Furcht vor Beliebigkeit hält er entgegen, dass es in einer so verstandenen, auf Plausibilität setzenden Wissenschaft „weiterhin um Überprüfbarkeit oder zumindest Nachvollziehbarkeit“ gehe; alle Zitate aus Stefan Meißner, „Wahrheit oder Plausibilität?“, in: Ronald Langner [u.a.] (Hrsg.), Ordnungen des Denkens. Debatten um Wissenschaftstheorie und Erkenntniskritik, Berlin 2007, S. 87–96, hier S. 95. „Nachvollziehbarkeit“ scheint mir jedoch ein zu schwaches Beurteilungskriterium für die Resultate wissenschaftlichen Forschens zu sein.

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der Verwendungsspielarten von ‚plausibel‘ zu gewinnen (II). Da diese Rekonstruktion zumindest zum Teil bereits in Hinblick auf den hier angezielten Bereich, die Literaturwissenschaft, geleistet wird, sind vorab terminologische Klärungen erforderlich (I). Im zweiten Schritt werden vorliegende Ansätze aus der analytischen Ästhetik und Literaturwissenschaft einbezogen und – auf der Basis der vorangehenden Begriffsrekonstruktion – die Spezifika der Verwendung des Prädikats ‚plausibel‘ als Kriterium der Beurteilung von Interpretationen herausgestellt (III). Die Ergebnisse beider Schritte können nur zu einer tentativen Antwort auf die leitenden Fragen führen, jedoch ermöglichen sie einen klareren Blick auf offene Forschungsprobleme (IV).

I Terminologische Klärungen Wenn es in diesem Beitrag um ‚Plausibilität‘ als Maßstab zur Beurteilung literaturwissenschaftlicher Interpretationen geht, so ist vorab zu klären, was im Folgenden unter ‚Interpretationen‘ verstanden wird. Gemeint sind mit ‚Interpretation‘ vor allem die schriftlich fixierten Ergebnisse literaturwissenschaftlichen Interpretierens. Unter dem ‚literaturwissenschaftlichen Interpretieren‘ verstehe ich hier – sehr pauschal gesprochen – eine komplexe, mehrstufige Tätigkeit, die regelgeleitet verläuft und bestimmten institutionellen Bedingungen unterworfen ist. Sie basiert auf dem Beschreiben und Analysieren literarischer Texte und schreibt ihnen Bedeutungen (in einem weiten Sinne) zu. Das Interpretieren geht über die Rekonstruktion der wörtlichen Bedeutung literarischer Texte ebenso hinaus wie über eine Inhaltsangabe oder Paraphrase, kann sich auf ganze Texte oder Textpassagen richten und kann mit dem Anspruch verbunden werden, den Text ‚als solchen‘ zu erfassen oder nachzuweisen, dass er als Symptom für etwas anderes zu verstehen ist.9 Mit ‚Interpretieren‘ ist damit z.B. auch die Praxis gemeint, literarische Texte in Beziehung zu zeitgenössischen Kontexten verschiedener Art zu setzen und nach ihrer Repräsentativität für, ihrer Modifikation von oder Kritik an diesen Kontexten zu fragen. Interpretationen sind komplexe argumentierende Texte und beanspruchen als wissenschaftliche Texte intersubjektive Verbindlichkeit.10 Sie enthalten

9 Zu den verschiedenen Zielen des Interpretierens vgl. Göran Hermerén, „Interpretation. Types and Criteria“, in: Grazer Philosophische Studien, 19/1983, S. 131–161; vgl. auch Tom Kindt/Tilmann Köppe (Hrsg.), Moderne Interpretationstheorien, Göttingen 2008, bes. S. 7–26. 10 Zum argumentativen Status von Interpretationen vgl. z.B. Simone Winko, „Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis“, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002, S. 334–354, hier S. 335–339.

Plausibilität als Beurteilungskriterium von Interpretationen

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verschiedene Typen von Aussagen, die sich nach unterschiedlichen Kategorien klassifizieren lassen, etwa nach mit ihnen vollzogenen Sprechakten oder nach ihren Geltungsansprüchen.11 Ohne hier in die Einzelheiten gehen zu können, sei jedoch angemerkt, dass die unterschiedlichen Aussagen auch nach unterschiedlichen Kriterien beurteilt werden können.

II Was heißt ‚plausibel‘? Der Ausdruck ‚plausibel‘ wird oft verwendet, aber nur höchst selten bestimmt. Dieser Befund, den Lutz Koch 2002 formuliert hat, gilt auch heute noch.12 Gesichtet habe ich stichprobenartig eine Reihe theoretischer bzw. methodologischer Arbeiten der Literaturwissenschaft, darunter Monographien und methodenbezogene Passagen aus Interpretationstexten, der Philosophie und Wissenschaftstheorie, analytischen Ästhetik, Soziologie, Rhetorik und Religionswissenschaft. Es ergab sich ein Bild, dessen Heterogenität sich vielleicht am besten damit veranschaulichen lässt, welche Synonyme für ‚plausibel‘ vorkommen. Es sind ‚glaubwürdig‘,13 ‚wahrscheinlich‘,14 ‚überzeugend‘, ‚einleuchtend‘‚ auch: ‚ohne weitere Begründung einleuchtend‘,15 ‚selbstverständlich‘,16 ‚kohärent‘,17 ‚gut begründet‘,18 ‚umfassend‘.19 Keine Synonyme zu sein scheinen andere Ausdrücke, die Interpretationen erheblich seltener zugeschrieben werden: ‚korrekt‘ oder

11 Vgl. auch Zabka, Pragmatik, z.B. S. 13 und 72 f.; Hermerén, „Interpretation“, S. 132 und 151–153. 12 Lutz Koch, „Versuch über Plausibilität“, in: Andreas Dörpinghaus/Karl Helmer (Hrsg.), Rhetorik, Argumentation, Geltung, Würzburg 2002, S. 193–204, hier S. 194. 13 Mark Siebel, „Plausibilität, Wahrscheinlichkeit, Kohärenz“, in: Roland Bluhm/Christian Nimtz (Hrsg.), Selected Papers Contributed to the Sections of GAP.5, Fifth International Congress of the Society for Analytical Philosophy, Bielefeld, 22.–26. September 2003, Paderborn 2004, S. 258–271, hier S. 262. 14 So in probabilistischen Ansätzen; vgl. ebd., S. 258 u.ö. 15 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 49; Meißner, Wahrheit, S. 87 f., 92 f. 16 Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin, New York 2008, S. 15. 17 Im Sinne von ‚passend‘ Siebel, „Plausibilität“, S. 265 f. 18 Strube, „Kriterien“, S. 190 f. 19 Vgl. „Die Plausibilität einer Interpretation steigt in dem Maße, in dem sie möglichst viele Textelemente auf allen systematischen Ebenen erklären kann; […].“ (Sabine Doering, „Märtyrer mit Familie. Gottscheds ‚Sterbender Cato‘ im Gattungsspektrum des Aufklärungsdramas“, in: Dies./Waltraud Maierhofer/Peter Philipp Riedl (Hrsg.), Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreuzer, Würzburg 2000, S. 47–59, hier S. 52).  









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‚richtig‘20 und ‚wahr‘. Ohne genauere Untersuchung kann man feststellen, dass sich die synonym verwendeten Ausdrücke in ihrer Reichweite, ihrer Verbindlichkeit und ihrem Anwendungsbereich unterscheiden und nicht ohne Weiteres miteinander vereinbar sind: So lassen sich z.B. ‚selbstverständlich‘ und ‚gut begründet‘ in bestimmten Bedeutungen dieser Ausdrücke nicht sinnvollerweise derselben Hypothese zuschreiben. Das breite Spektrum an Synonymen ist insofern symptomatisch, als sich dieselbe Vielfalt in den Bestimmungen sowie in den unerläuterten Verwendungsweisen des Ausdrucks ‚plausibel‘ findet. Dies sei kurz an einem willkürlich gewählten Beispiel illustriert. In einem Forschungsüberblick zur Anwendung der Abduktion21 in verschiedenen Disziplinen spielt der Plausibilitätsbegriff eine wichtige Rolle. Sowohl in den Passagen, die unterschiedliche Forschungspositionen wiedergeben, als auch in den Kommentaren des Verfassers kommt der Begriff vor. So werden etwa die Kriterien rekonstruiert, die Charles S. Peirce im Kontext seiner Erläuterungen der ‚Abduktion‘ formuliert, um „‚gute[]‘, d.h. plausible[] Hypothesen“ beurteilen zu können: Plausible Hypothesen „müssen evident, einfach und effektiv prüfbar sein“.22 Dass diese Begriffsverwendung nur eine von mehreren ist, zeigt sich schnell, wenn im nächsten Abschnitt in der Darstellung von Hilary Putnams Realismus-Konzeption die Abduktion als „Alternative zum Popperschen Falsifikationsmodell“ bezeichnet wird, und zwar mit der Begründung, dass „sie sich in erster Linie auf das Prinzip der Plausibilität und nicht auf das Prinzip der Prüfbarkeit gründet“.23 ‚Effektive Prüfbarkeit‘ war aber als eines der drei Kriterien für die Beurteilung von „‚guten‘, d.h. plausiblen Hypothesen“ im Sinne Peirces angeführt worden. Später wird ‚Plausibilität‘ mit ‚Kohärenz‘ gleichgesetzt und von Wahrheit als Korrespondenz unterschieden, was zu einer dritten Begriffsvari-

20 Schlesier, „Interpretation“, S. 42–44, unterscheidet zwischen einer „richtigen“ und einer „bloß plausiblen“ (S. 42) Interpretation, die auch falsch sein kann. Sie belegt den Unterschied allerdings mit einem Beispiel aus Euripides’ Ion, genauer mit einer fiktionsinternen Annahme über die fiktive Wirklichkeit, die mit Bezug auf die dargestellte Welt des Textes prüfbar ist. Damit zieht sie einen in Hinsicht auf seine Wahrheitsfähigkeit relativ unproblematischen, deskriptiven Typ von Aussagen heran, um für die Richtigkeit als Beurteilungskriterium von Interpretationen zu plädieren. Für diesen Aussagentyp ließe sich sogar das Wahrheitsprädikat nutzen. Was für deskriptive Aussagen gilt, gilt jedoch nicht ohne Weiteres für alle Typen von Hypothesen in Interpretationen. 21 In der Wissenschaftstheorie wird Abduktion oft als Schluss auf die beste Erklärung erläutert: „Eine Tatsache p wird am besten durch die Annahme, dass q der Fall ist, erklärt: Also ist q der Fall.“ (Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren, München 2004, S. 50) 22 Uwe Wirth, „Abduktion und ihre Anwendungen“, in: Zeitschrift für Semiotik, 17/1995, S. 405–424, hier S. 407. 23 Ebd., S. 410.

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ante führt:24 Als wichtiges Charakteristikum des abduktiven Schließens nennt der Verfasser das „inhärierende Spannungsverhältnis zwischen Plausibilität (Kohärenz) und Wahrheit (Korrespondenz)“, das für ihn „die Abgleichung von möglicher Denkwelt und wirklicher Tatsachenwelt“ betrifft.25 Hier scheint es um etwas anderes zu gehen als in den davor behandelten Fällen: Eine Interpretationshypothese in einen Zusammenhang angenommener Überzeugungen stimmig einzubetten („Kohärenz“), ist nicht dasselbe wie der Versuch, eine Hypothese in Bezug auf ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit („Wahrheit“) zu prüfen. Das Beispiel zeigt, dass ‚Plausibilität‘ für die Erläuterung der Abduktion ein offenbar wichtiger Begriff ist, der oft und an zentraler Stelle der Argumentation verwendet, aber wenig erläutert wird und insgesamt unklar bleibt, da sich die verschiedenen Verwendungsweisen nicht ohne Weiteres zu einer konsistenten Bedeutung zusammenschließen lassen. Gerade darin liegt aber der Gewinn des Beispiels für meine Fragestellung: Es wird deutlich, dass die Verwendungsweisen von ‚plausibel‘ in mindestens drei Hinsichten voneinander abweichen können: in Bezug auf die Gegenstände (im weiten Sinne), denen das Prädikat zugeschrieben wird (2.1), in Hinsicht auf die Art von Eigenschaft, als die Plausibilität bestimmt wird (2.2), und in Bezug auf den Geltungsanspruch, den das Wertprädikat haben kann (2.3).

II.1 Welche Gegenstände können plausibel sein? Plausibilität wird in der Regel Aussagen und Aussagenkomplexen zugeschrieben, die in argumentativen Zusammenhängen eingesetzt werden.26 Welche unter-

24 Wirth spricht hier über die verschiedenen „argumentativen Strategien“, die Gary Shank „im Hinblick auf die verschiedenen Verhältnisse zwischen der Plausibilität einer Hypothese, also ihrer Kohärenz, und der Annahme ihrer Wahrheit, also ihrer Korrespondenz“, untersucht; ebd., S. 417. 25 Ebd. 26 Es gibt Ausnahmen. Für Luhmann etwa sind es „Festlegungen der Semantik“, denen Plausibilität zu- oder abgesprochen werden kann; vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur, S. 49. Löst man diese vielzitierte Formel auf, wird über einen Gegenstandsbereich gesprochen, der weiter ist als Aussagen oder Argumentationen und der auch Konzepte, Deutungsmuster und anderes umfasst. Zur Unklarheit in Bezug auf die Gegenstände, über die gesprochen wird, tendiert der Ausdruck „Plausibilitäten“, der verschiedentlich in der Forschung verwendet wird (z.B. bei Meißner, „Wahrheit“, S. 93; Stegmaier, Philosophie, z.B. S. 15–19; Josef Kopperschmidt, Argumentationstheorie zur Einführung, Hamburg 2000, S. 115, 135). Für meine Fragestellung macht es jedoch einen Unterschied, ob man die Plausibilität von Begriffen, Bildern, Sachverhalten, Aussagen oder Schlüssen behandelt, so dass ich es vermeide, den ohnehin mehrdeutigen Begriff als Sammelkategorie für heterogene Dinge zu verwenden.

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schiedlichen sprachlichen Einheiten es sind, die als plausibel oder unplausibel bezeichnet werden, lässt sich mit Hilfe des verbreiteten Enthymem-Schemas einer Argumentationshandlung veranschaulichen. Danach liegt eine ‚Argumentation‘ vor, wenn aus einem Argument oder mehreren Argumenten unter Anwendung einer Schlussregel eine Schlussfolgerung oder These gezogen bzw. wenn eine Hypothese mit Bezug auf ein Argument oder mehrere Argumente unter Anwendung einer Schlussregel gestützt wird.27 Unter ‚Thesen‘ oder ‚Hypothesen‘ sind die Aussagen zu verstehen, die in einer Argumentationshandlung gestützt werden sollen; ‚Argumente‘ sind die Aussagen, die zu diesem Zweck herangezogen werden; die als meist implizite Schlussregel eingesetzten abstrakten Argumentationsmuster ermöglichen die Verbindung von Argument und These. Allen drei Elementen wird in der Forschungsliteratur Plausibilität zugeschrieben oder abgesprochen: Als plausibel oder unplausibel kann das Argument,28 die Hypothese29 oder die Argumentationshandlung30 eingestuft werden, Letztere bezogen auf die Schlussregel oder auf den Gesamtzusammenhang der Argumentation. Beispielsweise können in einer Argumentation wie (1) Hugo v. Hofmannsthals „Manche freilich“ ist ein gesellschaftskritisches Gedicht (H), weil es den Gegensatz zwischen den Unterprivilegierten und den Machthabern anschaulich darstellt (A1) und Partei für die Leidenden ergreift (A2).

27 Zum auf dem Muster des Syllogismus beruhenden Enthymem-Schema vgl. Clemens Ottmers, Rhetorik, Stuttgart, Weimar 1996, S. 73–79; auch Stephen Toulmin, The Uses of Argument [1958], Cambridge 1969, S. 111 u.ö. Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, ist zu beachten, dass in wissenschaftstheoretischen Einführungen meist eine andere Terminologie verwendet wird: Ein Argument liegt vor, wenn eine oder mehrere Prämissen eine Konklusion begründen; z.B. Jon Elster/Dagfinn Føllesdal/Lars Walløe, Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentationsund Wissenschaftstheorie, Berlin, New York 1988, S. 244. Mit ‚Argument‘ ist dort also die Folge von Sätzen gemeint, die ich hier im Anschluss z.B. an Manfred Kienpointner, „Argumentationstheorie“, in: Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape (Hrsg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, Bd. 1, Berlin, New York 2008, S. 702–717, und die Alltagsverwendung als ‚Argumentation‘ bezeichne, während das, was im Folgenden ‚Argument‘ genannt wird, in wissenschaftstheoretischen Arbeiten meist ‚Prämisse‘ heißt. 28 Z.B. Tetens, Argumentieren, S. 60, 216, 231; Kienpointner, „Argumentationstheorie“, S. 703. 29 Z.B. Ottmers, Rhetorik, S. 73; Axel Bühler, Bedeutung, Gegenstandsbezug, Skepsis. Sprachphilosophische Argumente zum Erkenntnisanspruch der Geistes- und Sozialwissenschaften, Tübingen 1987, S. 18; Robert J. Matthews, „Describing and Interpreting a Work of Art“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 36/1977, S. 5–14, hier S. 8. 30 Z.B. Tetens, Argumentieren, S. 60; Kienpointner, „Argumentationstheorie“, S. 704 f. – Die drei Bereiche werden kaum klar voneinander getrennt; eine Ausnahme ist Dov M. Gabbay/John Woods, „The Practical Turn in Logic“, in: Dov M. Gabbay/Franz Guenthner (Hrsg.), Handbook of Philosophical Logic, Bd. 13, Dordrecht 2005, S. 15–121, hier S. 68.  

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die Hypothese H, die Argumente A1 und A 2 und die gesamte Argumentation (1) sowie die implizite Schlussregel – eine Variante eines Schlusses von der Gattung auf die Spezies – als plausibel oder als unplausibel beurteilt werden. Diese möglichen Gegenstände der Plausibilität sollen im Folgenden näher betrachtet werden. (a) Argumente: Da in einer Argumentation ein beliebiger Aussagesatz als Argument dienen kann, müssten im Prinzip alle Typen von Aussagesätzen einsetzbar sein. Dass diese Annahme differenziert werden muss, macht folgendes Beispiel deutlich. Die Argumentation (2) Hugo v. Hofmannsthals „Manche freilich“ ist ein gesellschaftskritisches Gedicht (H), weil sich der Autor im Entstehungsjahr des Gedichts 1895 in einem Brief an seinen Freund Edgar Karg v. Bebenburg zur sozialen Frage äußerte (A).

unterscheidet sich von (1) darin, dass hier eine Tatsachen- oder deskriptive Aussage als Argument A angeführt wird, während A1 und A2 im ersten Beispiel interpretative Aussagen sind. Es ist nicht sinnvoll, eine Aussage wie (3) Hofmannsthal äußerte sich 1895 in einem Brief an seinen Freund Edgar Karg v. Bebenburg zur sozialen Frage.

mit ‚Die Aussage ist plausibel‘ zu beurteilen, sondern mit ‚ Die Aussage ist wahr‘. Plausibilität wird nur dann zugeschrieben, wenn die Wahrheit einer Aussage nicht bestimmbar ist,31 und damit sind Aussagen über empirisch prüfbare Tatsachen keine Kandidaten für plausibilitätsfähige Aussagen. Vielmehr sind sie wahrheitsfähig, d.h. die ihnen angemessenen Prädikate sind ‚wahr‘ und ‚falsch‘. In literaturwissenschaftlichen Interpretationen sind deskriptive Aussagen zwar von Bedeutung und gelten, gerade weil sie empirisch prüfbar sind, oft als besonders starke Argumente. Als Argument eingesetzt, lassen sie sich aber nicht sinnvollerweise auf die Plausibilität ihres propositionalen Gehalts hin beurteilen. Allerdings könnten deskriptive Aussagen wie (3) in einer Interpretation in einem anderen Sinne als plausibel aufgefasst werden, als es für Argumente A1 und A2 im ersten Beispiel der Fall ist, nämlich mit Bezug auf ihre Funktion in der Argumentation. So könnte das Argument A im Beispiel (2) als unplausibel beurteilt werden, weil es nicht in der Lage ist, die Hypothese, Hofmannsthals Gedicht sei gesellschaftskritisch, zu belegen. Wenn in diesem Sinne von der fehlenden

31 So z.B. Margolis, „Logic“, S. 158 f.; ähnlich Dutton, „Plausibility“, S. 330. Beardsley dagegen verbindet Plausibilität und Wahrheit enger, wenn er z.B. behauptet, „plausibility is the appearance of truth“ (Monroe C. Beardsley, „Postscript 1980. Some Old Problems in New Perspectives“, in: Ders., Aesthetics: Problems in the Philosophy of Criticism, 2. Aufl., Indianapolis 1981, S. xvii–lxiv, hier S. lii).  

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Plausibilität eines Arguments gesprochen wird, dann wird damit seine Relevanz in der fraglichen Argumentation kritisiert: Es verfehlt seine Funktion, die Hypothese zu stützen. (Man könnte alltagssprachlich auch sagen, es sei gar kein Argument; allerdings wird es in Beispiel [2] als solches eingesetzt und ist als solches zu beurteilen.) Hier scheint es mir jedoch sinnvoller, weil spezifischer, statt von einem unplausiblen von einem irrelevanten Argument zu sprechen, d.h. von einem Argument, das das Relevanzkriterium für plausible Argumente in einer gegebenen Argumentation nicht erfüllt.32 (b) Hypothesen: Die für Argumente angestellten Überlegungen gelten ebenfalls für Interpretationshypothesen, auch wenn es sich bei ihnen in aller Regel um interpretative Aussagen handelt. Anders jedoch als Argumente, deren Plausibilität in einer gegebenen Argumentation nicht der Begründung unterliegt, sondern vorausgesetzt wird (und für deren Begründung eine Anschlussargumentation erforderlich wäre oder bereits durchgeführt wurde), erhält eine Hypothese ihre Plausibilität erst durch die jeweilige Argumentation, die sie begründen soll. Sie wird plausibel, wenn es gelingt, sie mit Hilfe der angeführten Argumente zu stützen. Auch für Hypothesen scheint sich das Prädikat auf ihren propositionalen Gehalt zu beziehen. (c) Argumentationszusammenhang: Der argumentative Zusammenhang einer Interpretation kann in zweifacher Hinsicht als plausibel oder unplausibel beurteilt werden: (i) in Hinsicht auf die eingesetzte Schlussregel und (ii) als Argumentation ‚im Ganzen‘. (i) Eine von den oben erläuterten unterschiedene Beurteilungsoperation ist die Einschätzung der eingesetzten Schlussregel als plausibel oder unplausibel. Als Schlussregeln werden in nicht-logischen Zusammenhängen oft Topoi herangezogen.33 Auch wenn Topoi eine hohe Akzeptanz beanspruchen dürfen, müssen sie doch in der einzelnen Argumentation ihre Plausibilität erweisen.34 Dies gilt schon für die „allgemeinen Topoi“,35 die zwar abstrakte, alltagslogische Schlussmuster bilden und als solche kontextunabhängig plausibel sind, deren Einsatz in der jeweiligen Verbindung von Argument und Hypothese aber ebenfalls plausibel sein muss. Beispiele für das breite Spektrum allgemeiner Topoi sind kausale

32 Vgl. Kienpointner, „Argumentationstheorie“, S. 706. 33 Hier wird nur der argumentationsanalytische Aspekt der rhetorischen Topoi, ihre Funktion als ‚Schlussmuster‘ oder ‚Schlussfiguren‘ gebraucht; vgl. die ausführlicheren Erläuterungen in Ottmers, Rhetorik, Kap. IV.1.4. 34 Vgl. Ottmers, Rhetorik, S. 78; Martin Wengeler, Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985), Tübingen 2003, S. 181. 35 Ottmers, Rhetorik, S. 90.

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Schlüsse, die u.a. nach dem Muster ‚Ursache – Wirkung‘ funktionieren, vergleichende Schlüsse, z.B. nach dem Muster ‚wenn schon x, dann sicher auch y‘, oder einordnende Schlüsse, z.B. nach dem Muster ‚Gattung – Spezies‘. Letzterer Topos dient in einer Variante als Schlussregel in der Argumentation (1): Um von den Argumenten „Hugo v. Hofmannsthals ‚Manche freilich‘ stellt den Gegensatz zwischen den Unterprivilegierten und den Machthabern anschaulich dar (A1) und ergreift Partei für die Leidenden (A2)“ zur Hypothese „Hugo v. Hofmannsthals ‚Manche freilich‘ ist ein gesellschaftskritisches Gedicht“ zu gelangen, muss eine Aussage wie „Gesellschaftskritische Gedichte weisen die Merkmale M1, M2, M3, … Mn auf“ angenommen werden, wobei „den Gegensatz zwischen den Unterprivilegierten und den Machthabern darstellen“ und „Partei für die Leidenden ergreifen“ zu den genannten Merkmalen zählen muss. Den Zusammenhang zwischen Argument und Hypothese sichert ein Topos der Art „Eigenschaften der ‚Gattung‘ kommen auch der ‚Spezies‘ zu“. In einem noch stärkeren Maße als die allgemeinen müssen sich die (weniger gut erforschten) „besonderen Topoi“36 im Einzelfall als plausibel erweisen, die enger mit den Inhalten der Argumentationshandlung verbunden und damit kontextsensitiver sind. (ii) Auch die Gesamtargumentation lässt sich nach ihrer Schlüssigkeit oder ihrer Plausibilität bewerten. Während sich ‚schlüssig‘ auf die Korrektheit des eingesetzten Schlussverfahrens bezieht (mit den für natürlichsprachliche Argumentationen erforderlichen Lizenzen), liegt eine ‚plausible‘ Argumentation dann vor, wenn die Aussagen in Argumentfunktion wahr, wahrscheinlich oder plausibel sind und die eingesetzte Schlussregel einen relevanten Zusammenhang zwischen Argument und Hypothese herstellen kann.37 Hier geht es also um eine zusammengesetzte Beurteilung, die sowohl das Argument (a) als auch den Einsatz der Schlussregel (i) prüft. Dass der Ausdruck ‚plausibel‘ zur Beurteilung unterschiedlicher Elemente einer Argumentation verwendet werden kann, stellt insofern ein Problem dar, als mit den Gegenständen die jeweils angemessenen Beurteilungskriterien variieren können und der Ausdruck damit tendenziell mehrdeutig ist: Die Plausibilität eines Argumentationszusammenhangs etwa ist nach anderen Maßstäben zu beurteilen als die eines Arguments – was sich unter anderem schon daraus ergibt, dass die Plausibilität des Arguments in einer vorliegenden Argumentationshandlung ‚gesetzt‘ und nicht Gegenstand der Argumentationshandlung ist. Dass ‚plausibel‘ ein mehrdeutiger Ausdruck ist, wird noch deutlicher, wenn man unter-

36 Ebd. 37 Dazu z.B. ebd., S. 78; Kienpointner, „Argumentationstheorie“, S. 703; vgl. dazu auch unten den Bedeutungsaspekt der Begründetheit.

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sucht, um welche Art von Eigenschaft es sich bei der Plausibilität von Aussagen oder Argumentationen handelt.

II.2 Welche Eigenschaften werden mit dem Ausdruck ‚plausibel‘ bezeichnet? Drei Bedeutungsaspekte Im oben einbezogenen Beispiel zur Analyse der Abduktion wird Plausibilität zum einen als Kategorie verwendet, um die Begründetheit einer Aussage anzugeben, zum anderen aber auch als Kategorie, die sich auf den Überzeugtheitsgrad einer Aussage bezieht. Beides ist nicht bedeutungsgleich: Die zweite Variante (Überzeugtheit) bezieht explizit den Sprecher oder Hörer ein – überzeugt sein kann nur eine Person –, die erste ist formaler zu verstehen: Es geht um die Begründetheit einer Hypothese in einem argumentativen Zusammenhang. In einer dritten Variante wird Plausibilität als eine Art Passung in ein Set gegebener Hintergrundinformationen verstanden. Diese drei Varianten in der Verwendung des Plausibilitätsbegriffs hängen zwar eng miteinander zusammen, können aber je nach Verwendungskontext und Sprecher unterschiedlich stark fokussiert werden. Ich fasse sie als drei Bedeutungsaspekte des Ausdrucks ‚plausibel‘ auf und erläutere sie im Folgenden unter Einbeziehung von Forschungsliteratur aus verschiedenen Disziplinen.

II.2.1 Plausibilität als Begründetheit Zum Bedeutungsaspekt der Begründetheit, der in sich wieder differenziert werden kann, finden sich Überlegungen in philosophischen Beiträgen, vor allem solchen zur Wissenschaftstheorie, Wahrscheinlichkeitstheorie und Ästhetik, sowie in rhetorischen und literaturwissenschaftlichen Studien.38 (a) In neueren wissenschaftstheoretischen Arbeiten und Beiträgen zur philosophischen Argumentation fehlt der Begriff der Plausibilität als eingeführter Terminus zumeist.39 Da in ihnen Schlüsse und Erklärungen (oder Argumentatio-

38 Zu den Beiträgen aus analytischer Ästhetik und Literaturwissenschaft siehe unten, 3.2. 39 So in Elster/Føllesdal/Walløe, Rationale Argumentation; Thomas Bartelborth, Begründungsstrategien. Ein Weg durch die analytische Erkenntnistheorie, Berlin 1996; Ders., Erklären, Berlin, New York 2007; Andreas Bartels/Manfred Stöckler (Hrsg.), Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch, 2. durchges. u. korr. Aufl., Paderborn 2009; Tetens, Argumentieren. – Gabbay/Woods, „Practical Turn“, S. 68, kritisieren dieses Fehlen: „Given its ubiquity in human reasoning, it is something of a scandal that logic has paid so little attention to the plausible.“

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nen) unter einer formalen Perspektive betrachtet werden, ist dieser Befund nicht erstaunlich: Es geht hier in aller Regel um die Korrektheit des Schließens. Entscheidend für die Schlüssigkeit einer Argumentation ist allein ihre Form,40 während die Plausibilität einer Argumentation über inhaltliche Faktoren wie den gemeinsamen Gegenstand erzeugt wird, die wiederum für die Schlüssigkeit im logischen Sinne keine Rolle spielen.41 Wenn der Ausdruck ‚plausibel‘ verwendet wird – was übrigens in fast allen gesichteten Arbeiten ohne Erläuterung geschieht –, dann wird er stets als Wertprädikat zur Beurteilung natürlichsprachlicher Argumentationen eingesetzt, das im Unterschied zum Prädikat ‚schlüssig‘ die Themen oder Gegenstände von Argumentationen berücksichtigt.42 Im Fokus bleiben dabei aber immer die Begründungsbeziehungen, die formalen (wenn auch nicht formallogischen) Relationen, in denen Hypothese, Argument und Schlussregel stehen.43 (b) Expliziter eingeführt wird der Ausdruck ‚plausibel‘ in wahrscheinlichkeitstheoretischen Beiträgen, die sich mit epistemologischen Fragen befassen. In diesen Arbeiten wird die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese, so beispielsweise Mark Siebel, meist mit ihrer Plausibilität gleichgesetzt.44 Plausible Hypothesen in einem probabilistischen Sinne sind Hypothesen mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit; Argumente stützen eine Hypothese, wenn sie ihre Plausibilität steigern und ihre Unplausibilität verringern.45 Kritiker haben eingewandt, dass wir uns für die Entscheidung, ob eine These plausibel ist oder nicht, nicht allein auf ihre Wahrscheinlichkeit beziehen, sondern z.B. auch ihr „Erklärungspotential“ als weiteren wichtigen Beurteilungsfaktor berücksichtigen.46 Nach einem kohärenztheoretischen Ansatz spielt hierbei die Frage eine entscheidende Rolle, wie gut eine These sich in das Set an Daten und Hintergrundinformationen integrieren lässt, über das eine Person verfügt. Für die Beurteilung einer These kommt der Aspekt der Kohärenz in doppelter Hinsicht zum Tragen: Plausible Thesen dürfen keine Unstimmigkeiten mit dem Set akzeptierter Annahmen auf-

40 Z.B. Tetens, Argumentieren, S. 28. 41 Ebd., S. 54. 42 In ihrer Einführung in das rationale Argumentieren verwenden Elster/Føllesdal/Walløe den Ausdruck ‚plausibel‘ bezeichnenderweise nur im Zusammenhang mit literaturwissenschaftlichen Deutungen; vgl. Elster/Føllesdal/Walløe, Rationale Argumentation, S. 114. 43 Vgl. dazu Carl R. Kordig, „Discovery and Justification“, in: Philosophy of Science, 45/1978, S. 110–117, hier S. 110: „There is no fundamental difference between reasons relevant to plausibility and acceptability. The difference is one of degree. Acceptability requires more than plausibility.“ 44 Dazu ausführlicher Siebel, „Plausibilität“, S. 258, 260 f. 45 Vgl. ebd., S. 260. 46 Vgl. ebd., S. 265.  

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weisen und sie müssen „in inferentiellen oder explanatorischen Beziehungen“47 zu den Aussagen an Argumentstelle stehen. (c) Ein prominenter Ort für die Verhandlung von Plausibilitätskonzepten ist die Rhetorik bzw. die rhetorische Argumentationstheorie. Bezeichnenderweise taucht das Lemma ‚Plausibilität‘ in den Lexika der hier einbezogenen Disziplinen nur im Historischen Wörterbuch der Rhetorik auf.48 Allerdings sind auch in der Rhetorik die Verwendungsweisen von ‚plausibel‘ nicht so einheitlich, wie man es vielleicht erwarten würde. Ein Grund dafür liegt in der im vorigen Abschnitt 2.1 festgestellten Tatsache, dass ‚plausibel‘ als Wertprädikat für unterschiedliche Elemente einer Argumentation verwendet wird und ein plausibles Argument anders bestimmt werden muss als eine plausible Schlussregel. Eine starke Variante der Begriffsverwendung, die Plausibilität und Wahrheit engführt, vertritt z.B. Manfred Kienpointner. In seinem Argumentationsmodell sollen die Aussagen, die in Argumentfunktion die strittige These bzw. die strittige Konklusion in einer Argumentation stützen oder widerlegen, „haltbar und relevant“ sein, und nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, handelt es sich um „rationale bzw. plausible Argumente“:49 Unter der Haltbarkeit von Argumenten versteht man ihre Wahrheit bzw. (hohe) Wahrscheinlichkeit im Fall deskriptiver Argumente oder ihre Richtigkeit im Fall normativer Argumente. Unter der Relevanz von Argumenten versteht man ihre inhaltliche Bezogenheit auf die jeweilige strittige These.50

An Kienpointners Bestimmung plausibler Argumente sind zwei Punkte auffällig. Zum einen führt sie nur deskriptive und normative Aussagen in Argumentfunktion an; es fehlt damit ein Typ von Argumenten, der für literaturwissenschaftliche Argumentationen besonders wichtig ist: die interpretativen Argumente, die weder mit deskriptiven noch mit normativen Argumenten identisch sind. Das ihnen angemessene Kriterium ist – um etwas vorzugreifen – nicht Wahrheit oder Richtigkeit, sondern ihrerseits Plausibilität. Zum anderen: Wenn hier in der Funktion plausibler Argumente wahre oder zumindest sehr wahrscheinliche und relevante Aussagen

47 Vgl. ebd., S. 266. 48 Andrea Steudel-Günther, „Plausibilität“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Gert Ueding (Hrsg.), Tübingen 2003, Sp. 1282–1285. 49 Kienpointner, „Argumentationstheorie“, S. 703. Er versteht unter einer Argumentation eine „komplexe verbale und interaktive Tätigkeit, mittels derer die an der Interaktion beteiligten Personen von der Akzeptabilität bzw. Nicht-Akzeptabilität eines strittigen Standpunkts (einer strittigen These, einer strittigen Konklusion) überzeugt werden sollen“. Zur Verbindung von Plausibilität, Rationalität und „likelihood of being true“ vgl. auch Trudy Govier, A Practical Study of Argument, Wadsworth 2010, S. 315. 50 Kienpointner, „Argumentationstheorie“, S. 703.

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zugelassen werden, dann wird damit zugleich der Begründungsaspekt stark gemacht. Ziel einer Argumentation ist die Stützung der Hypothese eben mithilfe wahrer oder hochwahrscheinlicher Argumente. Dabei ist ein bereichsspezifischer Bezugsrahmen anzunehmen, innerhalb dessen Argumente erst gewonnen werden können und innerhalb dessen die Relevanz der Argumente erst bestimmt werden kann.51 In anderen rhetorischen Argumentationsmodellen wird Plausibilität nicht in erster Linie als mit Rationalität verbundenes Prädikat zur Beurteilung von Argumenten eingesetzt; vielmehr wird als das entscheidende Qualitätskriterium für Argumente ihre Glaubwürdigkeit oder „Überzeugungskraft“ angeführt, womit ein wirkungsbezogener Aspekt der Plausibilität im Mittelpunkt steht.52 In keiner der hier einbezogenen Bestimmungen von ‚Plausibilität‘ wird die Begründetheit – sei es im Sinne der argumentativen Begründetheit der Hypothese, der Wahrscheinlichkeit und Relevanz des Arguments oder als Eigenschaft der gesamten Argumentationshandlung – als einziges Merkmal genannt. Es kommt immer mindestens ein weiterer Bedeutungsaspekt hinzu: das Überzeugtsein als personen- bzw. einstellungsbezogener Aspekt und/oder Varianten einer Passungsbzw. Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den Komponenten einer Argumentation.

II.2.2 Plausibilität als Grad des Überzeugtseins Die Auffassung, dass plausible Aussagen überzeugend sind, stellt die epistemische Komponente des Prädikats in den Mittelpunkt. Auch für diesen Bedeutungsaspekt finden sich in der Forschung verschiedene Spielarten, die von der subjektiven Gewissheit bis zur kollektiven Selbstverständlichkeit reichen.53 Eine recht bekannte soziologische Variante stammt von Niklas Luhmann. Sie lautet: „Plausibel sind Festlegungen der Semantik dort, wo sie ohne weitere Begründung einleuchten und man erwarten kann, daß sie auch anderen einleuchten. Evidenz ist verstärkte Plausibilität. Sie ist gegeben, wenn auch der Ausschluß von Alternativen miteinleuchtet.“54 Plausibilität und Evidenz sind für Luhmann an einen „sozialen Kontext“ gebunden, für den immer dort, wo er nicht spezifiziert wird, ein „gesamtgesellschaftliche[r] Bezug“ angenommen werden kann.55 So verstanden impliziert Plausibilität zweierlei: ‚Mitgedacht‘ werden müssen erstens andere mögliche

51 Dazu auch, in Anlehnung an Toulmin, Josef Kopperschmidt, Methodik der Argumentationsanalyse, Stuttgart 1989, S. 143 f. 52 So bei Kopperschmidt, Argumentationstheorie, S. 62–69, 135; Ottmers, Rhetorik, S. 73. 53 Vgl. z.B. Kopperschmidt, „Argumentationstheorie“, S. 68. 54 Luhmann, Gesellschaftsstruktur, S. 49. 55 Ebd.  

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„Festlegungen der Semantik“ – die „Alternativen“, von denen Luhmann spricht – und zweitens andere Kommunikationsteilnehmer und deren anzunehmende Einstellung. Zum Tragen kommt damit eine soziale Kategorie, für die die Erwartung, welche Einstellungen andere Menschen wohl haben, entscheidend ist. Diese Erwartung hat einen relativ hohen Grad an Verbindlichkeit, wie die Formulierung, dass „man erwarten kann“, nahe legt. Sie ist also nicht beliebig. Auch wenn der Ausdruck ‚plausibel‘ bei Luhmann in aller Regel ohne zweite Argumentstelle verwendet wird, ist diese jedoch impliziert: Plausible Konzepte, Deutungsmuster u.a. sind stets plausibel für jemanden, aber nicht in einem solipsistischen, sondern in einem sozialen Sinn. Nach Stefan Meißners an Luhmann orientierter Auffassung „beschreibt“ der Ausdruck ‚plausibel‘ ein Wissen, „das nur sozial und historisch gebunden einleuchtet“.56 Legt man die konstruktivistische Annahme zugrunde, „dass Wissen bzw. Erkenntnis nicht als Menge von wahren Sätzen angesehen wird, sondern dass jegliches Wissen eine operative Herstellung von Tat-Sachen beinhaltet“,57 löst Luhmanns Konzept der Plausibilität über seine Bindung an die Gesellschaftsstruktur das Problem der Beliebigkeit: Was zu einem Zeitpunkt in einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe aus der Menge an Wissens-Bestandteilen als plausibel ‚selektiert‘ und damit ausgezeichnet wird, ist kontingent, aber eben nicht beliebig, sondern – sehr allgemein gesprochen – rückgebunden an bestimmte Bedingungen dieser Gesellschaft oder Gruppe, die zeitlichen Veränderungen unterworfen sind.58 Ohne diese Auffassung, die sich in ähnlicher Form auch in anderen wissenssoziologischen Beiträgen findet, hier näher diskutieren zu können,59 seien zwei Merkmale in der Bestimmung von Plausibilität festgehalten: Zum einen heißt ‚plausibel‘ immer ‚plausibel für jemanden‘, wobei die Geltung von Plausibilitätskriterien gruppenspezifisch ist.60 Zum anderen kann ‚plausibel‘ in diesem Sinne auch ohne expliziten Begründungszusammenhang verwendet werden. Hierin weicht Luhmanns Auffassung deutlich von den bisher besprochenen Positionen

56 Meißner, „Wahrheit“, S. 88. 57 Ebd. 58 Vgl. dazu genauer ebd., S. 91 f. 59 Nicht ohne Weiteres vereinbar sind z.B. das von mir angenommene linguistische Semantikkonzept und Luhmanns weiter Begriff von Semantik. Unter ihn werden so unterschiedliche Dinge wie gesamtgesellschaftliche Deutungsmuster und einzelne Wissensaussagen gefasst. Während ‚Sinn‘ sich nach Luhmann in konkreten Ereignissen aktualisiert und an Situationen gebunden ist, bestimmt er ‚Semantik‘ als „höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn“ (Luhmann, Gesellschaftsstruktur, S. 19). ‚Semantik‘ bezeichnet die Gesamtheit der Formen einer Gesellschaft, mit denen Sinn typisiert werden kann. 60 Dazu auch Alexandra Grieser, Transformationen von Unsterblichkeit. Zum Wandel religiöser Plausibilitätsmuster in der Moderne, Frankfurt a.M. [u.a.] 2008, S. 36 f.  



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(Bedeutungsaspekt 1) ab: Sie verzichtet explizit auf die Annahme eines argumentativen Zusammenhangs. In dieser Hinsicht stimmt sie mit einer alltagssprachlichen Verwendung des Ausdrucks überein, die z.B. Werner Stegmaier zugrundelegt. Für ihn sind plausible Aussagen „selbstverständlich“ in dem Sinne, dass sie „keine Begründungen mehr brauchen“.61 Als ‚plausibel‘ gilt entsprechend „das, dem man spontan, ohne weitere Fragen und Begründungen, zustimmen kann“.62 Für in diesem Sinne plausible Annahmen braucht nur in Konfliktsituationen argumentiert zu werden, in denen Selbstverständlichkeiten problematisch werden und Reflexion gefordert ist.63 Einen verdeckten Begründungszusammenhang mit zeitlichem Index nimmt jedoch auch Stegmaier an: Plausible Annahmen müssen erst zu solchen werden, d.h. sie beruhen auf Argumentationen, die im Laufe der Zeit aber implizit bleiben können. Vertreter dieser Auffassung nehmen als charakteristisches Merkmalsset für Plausibilität einen hohen Überzeugtheitsgrad an, verbunden mit dem Verzicht auf explizite Rechtfertigung, aber basierend auf einem vorgängigen gruppenspezifischen Prozess der Begründung. Es wird für alle möglichen Arten von Annahmen postuliert; bezogen auf die hier interessierenden Argumentationen kann diese Variante von Plausibilität aber zum einen nur für Argumente gelten, also für die Aussagen einer Argumentation, die als Prämissen eingesetzt werden und von denen ausgehend für eine Hypothese argumentiert wird. In diesem Sinne ‚plausible‘ Argumente haben den Status von Endoxa, die in der Aristotelischen Topik als „allgemein geteilte Meinungen“ und in der neueren Argumentationstheorie als „plausible propositions“ den unproblematischen Ausgangspunkt einer Argumentation bilden.64 Endoxa sind weder wahre Aussagen noch beliebige Meinungen, sondern kollektive Überzeugungen in dem Sinne, dass sie von der Mehrheit und/ oder von Experten im Laufe vorgängiger Argumentationen akzeptiert worden sind. Diese Auffassung steht in keinem Widerspruch zu den Positionen, die im Abschnitt (1) unter dem Aspekt der Begründetheit behandelt worden sind. Übertragen auf die Plausibilität von Interpretationen wäre zu klären, was es heißt, dass Argumente „sozial und historisch gebunden“ einleuchten;65 es müsste nach

61 Vgl. Stegmaier, Philosophie, S. 15 f. 62 Ebd., S. 15. 63 Vgl. ebd., S. 16. 64 Peter Ptassek, „Endoxa“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Gert Ueding (Hrsg.), Tübingen 1994, Sp. 1134–1138, hier Sp. 1134; Luis Vega Renon, „Aristotle’s Endoxa and Plausible Interpretation“, in: Argumentation, 12/1998, S. 95–113, hier S. 95. 65 Meißner, „Wahrheit“, S. 88. Auch die Redeweise von den „Plausibilitätsressourcen“, auf die Argumentierende zurückgreifen, gehört in diesen Verwendungszusammenhang; vgl. Kopperschmidt, Argumentationstheorie, S. 68, 87.  

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gruppenspezifisch geltenden Bedingungen gesucht werden, die dazu beitragen, den Effekt des Einleuchtens oder Überzeugend-Findens zu erzielen. Zum anderen kann ‚Plausibilität‘ im Sinne von ‚hoher Überzeugtheit‘ auch für die Schlussregeln gelten, also für die Argumentationsmuster bzw. Topoi, die vorauszusetzen sind, um vom Argument zur Hypothese zu gelangen: Für sie muss eine hohe Überzeugtheit vorausgesetzt werden, damit sie ihre Funktion übernehmen können.66

II.2.3 Plausibilität als Passung Als dritter Bedeutungsaspekt von ‚plausibel‘ finden sich in den untersuchten Verwendungen verschiedene Arten von Passungsverhältnissen. Wenn nach Luhmann, wie erläutert, Plausibles „ohne weitere Begründung“ einleuchtet und dieses Einleuchten für Endoxa, also Aussagen in Argumentfunktion gelten soll (für Hypothesen muss ein Begründungszusammenhang gegeben sein, wie oben erläutert), dann scheint dem ein bestimmter Mechanismus zugrunde zu liegen, der einer Art Gestaltwahrnehmung entspricht: Sie bildet die Grundlage, auf der man den Eindruck hat, die Aussage, um die es geht, passe mit dem Wissen, über das man verfügt, zusammen. In diesem Sinne ist unter ‚Plausibilität‘ eine ohne großen kognitiven Aufwand hergestellte Variante der Passung zu verstehen.67 Passung unter Voraussetzung eines argumentativen Zusammenhangs spielt dagegen für andere bereits behandelte Begriffsverwendungen eine Rolle, allen voran die Bestimmung des Ausdrucks ‚plausibel‘ als ‚kohärent‘. Eine Hypothese ist plausibel, wenn sie gut zu den Daten und weiteren Hintergrundannahmen passt.68 Eine hohe Passung liegt dann vor, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Zum einen müssen Inkonsistenzen verschiedener Art vermieden werden: vom logischen Widerspruch bis zu argumentativen Konflikten in einem schwächeren Sinn. Zum anderen müssen relevante Beziehungen zwischen Daten und Hypothese bestehen, die sie miteinander verbinden, vor allem Inferenz- und Erklärungsbeziehungen.69 Mit ‚Kohärenz‘ ist in dieser Lesart demnach die Qualität eines Zusammenhangs von Argumenten und Hypothese unter Voraussetzung eines

66 Vgl. z.B. Wengeler, Topos, S. 181; Ottmers, Rhetorik, S. 86 f. 67 Ähnlich Stegmaier, Philosophie, S. 16. 68 Vgl. Siebel, „Plausibilität“, S. 265 f. Ähnlich Govier, Practical Study, S. 315, für die die Plausibilität einer Hypothese „[is] judged by consistency with relevant common knowledge and scientific theory“. 69 Ebd., S. 266.  



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bestimmten Typs von Relationen zwischen ihnen gemeint.70 Die Erklärungsleistung einer Hypothese bemisst sich nach der Menge der „Daten“, die sie erklären kann,71 was neben der Kohärenz als weiteres Kriterium etwas wie ‚Umfassendheit‘ nahelegt.

II.3 Mit welchem Geltungsanspruch wird Plausibilität zugeschrieben? Auch zu der Frage, mit welchem Geltungsanspruch die Plausibilität einer Hypothese und eines Argumentationszusammenhangs behauptet wird, liegen unterschiedliche Antworten vor, was sich schon aus den vorangehenden Ausführungen ergibt. Einander gegenüber stehen die Verwendungsweisen von ‚plausibel‘, in denen die Überzeugtheitskomponente in einem subjektiven Sinne von ‚Das überzeugt mich‘ dominiert, und solche, die einen starken Anspruch auf Begründetheit und Intersubjektivität erheben. Die schwache Variante wird angezeigt in Formulierungen wie ‚Das scheint mir unplausibel zu sein‘.72 Die starke Verwendungsvariante hängt mit dem hohen Begründungsanspruch einer plausiblen Argumentation zusammen: Wer eine Hypothese in diesem Sinne als ‚plausibel‘ bezeichnet, hält sie für mindestens gruppenspezifisch gültig und erwartet die Zustimmung zu dieser Einschätzung auch von anderen. Dasselbe gilt für Argumente und Schlussregeln. Relativierend wird des Öfteren betont, dass die Zuschreibung von Plausibilität nur vorläufigen Charakter habe, dass ‚plausibel‘ also eine Art Übergangsprädikat darstelle. Behauptet wird dies in zwei unterschiedlichen Lesarten. Zum einen wird die Vorläufigkeit der Plausibilitätszuschreibung mit einem defizitären Status nicht wahrheitsfähiger Aussagen begründet: Plausibilität ist nur so lange ein starkes Kriterium für Hypothesen, bis diese auf ihre Wahrheit hin beurteilt werden können. In dieser prinzipiellen Lesart scheint mir in der Annahme, Hypothesen seien bis zum Erweis der Wahrheit oder Falschheit nur vorläufig plausibel, keine für die Literaturwissenschaft sinnvolle Option zu liegen, wenn man interpretative Hypothesen über literarische Texte per se für nicht wahrheitsfähig hält. Zum anderen kann die Relativierung aber auch an den gegenwärtigen Wissensstand des Sprechers gebunden werden: ‚Die Hypothese ist plausibel‘ besagt in diesem Fall beispielsweise, dass der Sprecher noch keine Gelegenheit hatte, die Hypothese genau zu durchdenken oder zu überprüfen, sie aber ‚erst 70 Vgl. dazu auch Pettersson, „Incompatible Interpretations“, S. 156. 71 Siebel, „Plausibilität“, S. 263. 72 Je nach Sprecher und Sprechsituation kann diese Aussage allerdings in mündlicher Kommunikation auch eine sozial angepasste Formulierung für ‚Das ist falsch‘ sein.

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einmal‘ für überzeugend, gut begründet oder passend hält. Hier wird ‚plausibel‘ als ein vorläufiges Prädikat verstanden, das nach einer Prüfung der Hypothese durch ein anderes, stärkeres – ‚wahr‘, ‚korrekt‘ oder ‚falsch‘ – ersetzt wird. Gegen diese subjektivierende Lesart lässt sich einwenden, dass Sprecher über diverse Möglichkeiten verfügen, die Vorläufigkeit ihrer Beurteilung sprachlich zu markieren, etwa in Formulierungen wie ‚Das scheint mir [momentan, mit den gegebenen Informationen u.a.] plausibel zu sein‘. In diesem Fall wird der Überzeugtheitsgrad als hoch, der Grad der Begründetheit aber als niedrig anzusetzen sein. Eine prinzipielle Wissensabhängigkeit der Zuschreibung von Plausibilität ist jedoch einzuräumen: Ändert sich der Wissensstand des Sprechers, kann sich auch die Einschätzung der Hypothese ändern. Generell dürfte für den Ausdruck ‚plausibel‘ die stärkere Verbindlichkeit angemessener sein als die subjektive. Ein Argument dafür liegt in den eben schon genannten sprachlichen Markierungsmöglichkeiten. So kommen, zumindest in mündlicher Kommunikation über Interpretationen, einschränkende Formulierungen wie ‚Das halte ich für plausibel‘ öfter vor. Wäre ‚plausibel‘ in erster Linie ein Ausdruck, der eine subjektive Einschätzung wiedergibt, wären diese Formeln verzichtbar. Für schriftliche Interpretationstexte im literaturwissenschaftlichen Kontext gilt ohnehin, dass sie qua Textsorte Verbindlichkeit beanspruchen. Wenn in diesen Texten einer Interpretationshypothese Plausibilität zugeschrieben wird, dann müssen der Anspruch auf Zustimmung anderer und die Implikation, die eigene Beurteilung begründen bzw. rechtfertigen zu können, unterstellt werden.

III Was heißt ‚plausibel‘ als Wertprädikat zur Beurteilung von Interpretationen? Um diese Frage zu beantworten, sollen zunächst exemplarisch vorliegende Forschungsansätze vorgestellt werden.

III.1 ‚Plausibel‘ in der analytischen Ästhetik und analytischen Literaturwissenschaft Wie eingangs festgestellt, gibt es nur wenige literaturwissenschaftliche Arbeiten zum Begriff der Plausibilität. Zwei Ansätze von unterschiedlicher Reichweite sollen hier kurz dargestellt werden, um das Konzept einer plausiblen Interpretation näher zu bestimmen. Über die Beurteilbarkeit interpretativer Aussagen gibt es in der analytischen Ästhetik eine umfangreiche Diskussion, aus der hier die Beiträge interessieren, die sich mit der Plausibilität als diesen Aussagen angemes-

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sener Beurteilungskategorie befassen. In ihnen dominiert in der Regel der Aspekt der Begründetheit. Die Diskussion ist Teil der weit umfangreicheren Debatten über Wahrheit in der Kunst und über den Interpretationsrelativismus, die ich hier nicht in der gebührenden Ausführlichkeit aufgreifen kann.73 Nach Denis Dutton stellt ‚plausibel‘ in Disziplinen, die sich mit Kunstwerken befassen, das höchste Wertprädikat dar74 und entspricht damit funktional dem Wahrheitsprädikat für naturwissenschaftliche Hypothesen. Während in den Naturwissenschaften, so Dutton, plausible Hypothesen den Ausgangspunkt für Bestätigungsverfahren bilden, die darauf zielen, sie in wahre Sätze zu überführen, sind sie in den Kunstwissenschaften die stärksten Hypothesen, denen sogar „critical truth“ zukommt.75 Dutton bezieht sich in seinen Ausführungen kritisch auf einen einflussreichen Beitrag von Joseph Margolis,76 von dessen Position er allerdings nur in wenigen Punkten abweicht. Auch Margolis schreibt dem Wertprädikat ‚plausibel‘ in den kunstwissenschaftlichen Fächern einen besonders hohen Stellenwert zu – „considerations of plausibility are more nearly central to aesthetic criticism“ –,77 was mit der Relevanz interpretativer Aussagen in diesen Disziplinen zu tun hat. Selbst wenn interpretative Aussagen in einem logischen Sinne schwächer sind als Tatsachenaussagen, sind sie doch, so Margolis, nicht ‚methodologisch schwächer‘: Als Hypothesen können sie mit demselben „conceptual rigor“78 verteidigt werden wie Tatsachenaussagen, vorausgesetzt, es werden angemessene Verfahren herangezogen, die für die Kunstwissenschaften spezifisch sind und die nicht z.B. durch empirische Methoden ersetzt werden können. Zu solchen Spezifika zählen die Kriterien, die zur Plausibilisierung einer Interpretationshypothese erfüllt werden müssen.79

73 Beide Debatten werden in gerade entstehenden Dissertationen genauer untersucht: Jan C. Werner, Interpretation und Wahrheit in der Literaturwissenschaft; Stefan Descher, Relativismus in der Literaturwissenschaft. 74 Dutton, „Plausibility“, S. 327; vgl. auch ebd., S. 331. 75 Ebd., S. 330. 76 Margolis hat seine Positionen im Laufe der Zeit leicht modifiziert; ich beziehe mich hier und im Folgenden auf Margolis, „Logic“, bes. S. 158 f., auch S. 164. Dieser Beitrag von 1980 stellt eine Erweiterung und Präzisierung des Aufsatzes mit demselben Titel dar, den Margolis 1962 veröffentlicht hat und der Gegenstand einer Auseinandersetzung u.a. um das Plausibilitätskonzept geworden ist (Joseph Margolis, „The Logic of Interpretation“, in: Ders. [Hrsg.], Philosophy Looks at the Arts, New York 1962, S. 108–118). Im späteren Beitrag nimmt Margolis die Kritik von Dutton, Barnes und Matthews auf. 77 Margolis, „Logic“, S. 160. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd., S. 163; vgl. auch Robert J. Matthews, „Describing“, S. 10.  

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Nach Margolis ist ‚plausibel‘ ein epistemisches Prädikat, das interpretativen Aussagen unter zwei Bedingungen zukommt: Sie müssen (a) mit den Beschreibungen eines Kunstwerks und (b) mit zulässigen Deutungsschemata übereinstimmen. Beide Bedingungen seien kurz erläutert. (a) Interpretative Aussagen sind, so Margolis, „logically weak in principle“,80 was der Natur ihres Gegenstandes, des Kunstwerks, geschuldet ist. Sie sind daher in Bezug auf ihre Wahrheit und Falschheit unbestimmt. Allerdings müssen sie, sollen sie plausibel sein, auf deskriptiven Aussagen basieren, die wahr sind,81 zumindest aber dürfen sie nicht in Widerspruch zu wahren deskriptiven Aussagen stehen. Neben dieser Fundiertheit in Beschreibungen des Kunstwerks, die auch Torsten Pettersson stark macht,82 müssen plausible Interpretationshypothesen (b) in einem übergreifenden literaturtheoretisch oder kulturell bestimmten Bezugsrahmen situiert sein, der die Anwendung bestimmter Deutungsschemata rechtfertigt. Auch diesen Schemata dürfen plausible interpretative Aussagen nicht widersprechen. Sie gelten historisch und gruppenspezifisch, was sich aus den Beispielen psychoanalytischer, marxistischer und katholischer Deutungsschemata folgern lässt, die Margolis anführt. Für diejenigen, die sie akzeptieren, prägen sie die Wahrnehmung (in einem weiten Sinne) und Deutung sowohl der Welt als auch der Kunst.83 Beide Bedingungen sorgen dafür, dass interpretative Aussagen zwar in Bezug auf ihre Wahrheit oder Falschheit, nicht aber epistemisch unbestimmt sind. Mit der Relevanz der deskriptiven, das Kunstwerk beschreibenden Aussagen und der Deutungsschemata führt Margolis bereichsspezifische Merkmale der Plausibilität als Kriterium der Beurteilung von Interpretationen an; sie bleiben allerdings recht allgemein und schematisch bzw. idealtypisch, wenn man sie auf die Praxis literaturwissenschaftlichen Interpretierens abzubilden versucht. So gründen interpretative Aussagen längst nicht immer auf Beschreibungen, vielmehr beziehen sie sich oft ihrerseits auf interpretative Aussagen; und man würde wohl gerne die zulässigen Schlussregeln bzw. Topoi weniger generisch fassen. Hier führt Werner Strubes differentialistischer Ansatz weiter, in dessen Rahmen Plausibilität als eines von mehreren Kriterien zur Beurteilung literaturwissenschaftlicher Interpretationen erläutert wird. Bekanntlich unterscheidet Strube vier Tätigkeiten, die in literaturwissenschaftlichen Interpretationen zusammen-

80 Margolis, „Logic“, S. 160. 81 Vgl. ebd., S. 159. Ähnlich Pettersson, „Incompatible Interpretations“, S. 151, auch 147, 156 und öfter. Anders als Margolis legt Pettersson viel Wert darauf, die Besonderheiten interpretativer Aussagen zu klären. 82 Vgl. Pettersson, „Incompatible Interpretations“, z.B. S. 156 f. 83 Vgl. Margolis, „Logic“, S. 152.  

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wirken.84 Zu ihnen zählt die auf der fachsprachlichen Beschreibung basierende elementare Auslegung eines literarischen Textes, die sich im Aufstellen einzelner Interpretationshypothesen manifestiert. Für sie veranschlagt Strube das Kriterium der Plausibilität: Plausibel ist eine Auslegung dann, wenn sie in der Beschreibung, auf die sie sich bezieht, „zureichend begründet“ ist.85 Ähnlich wie Margolis ordnet Strube also der Beziehung zwischen Beschreibungen und Interpretationshypothesen das Kriterium der Plausibilität zu; weitergehende Deutungen, die ihrerseits auf diesen ‚einfache Auslegungen‘ genannten Interpretationshypothesen aufbauen, beurteilt er nach anderen Kriterien.86 Eine ‚zureichende Begründung‘ sieht Strube dann gegeben, wenn zwischen Interpretationshypothese und Beschreibung eine hinreichende Ähnlichkeit besteht. Damit legt er genauer fest, was beispielsweise bei Margolis und Pettersson vager bleibt, nämlich was unter der ‚Fundierung‘ der Interpretationshypothese in der Textbeschreibung zu verstehen ist: Es muss bestimmte semantische Merkmale geben, die die Beschreibung und die Auslegung teilen. Wann aber ist eine Ähnlichkeitsbeziehung hinreichend? Nach Strube muss „die Beschreibung aus einer Zusammenstellung von Wörtern besteh[en], deren semantische Merkmale die Unterlegung eines bestimmten Auslegungsschemas nahelegen, wenn nicht sogar fordern“.87 Diese Ähnlichkeitsbeziehung, die zwischen Beschreibung (Argument) und Interpretationshypothese bestehen muss, lässt sich als eine Variante der Passung auffassen. Das Passungsverhältnis wird hier über das Teilen bestimmter Merkmale spezifiziert, die beide Seiten der Relation in der Art von „‚tertia comparationis‘“88 verbinden. Dabei ist die Beziehung zwischen Beschreibung und Auslegung dieser Beschreibung in der Regel nicht eineindeutig; vielmehr kann eine Beschreibung oft auf mehrere Weisen gedeutet werden (ein-mehrdeutige Beziehung) und ein Deutungsschema kann mehrere Beschreibungen subsumieren (mehr-eindeutige Beziehung). Wegen des Abstraktionsgrads dieser Überlegungen bleibt aber offen, anhand welcher Kriterien im konkreten Fall entschieden werden soll, wann genügend semantische Merkmale gegeben sind, um ein bestimmtes Auslegungsschema zu „fordern“, und wie die Ähnlichkeitsbeziehung beschaffen sein muss, um als Schlussregel dienen zu können.

84 Vgl. Strube, „Kriterien“; Werner Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn [u.a.] 1993, Kap. 6 und 7; Strube, „Textinterpretation“. 85 Strube, „Kriterien“, S. 191. 86 Zu diesen Kriterien der Umfassendheit, Integrativität und Spezifizität vgl. ebd., S. 193–196. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 192.

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Während Margolis für eine Position steht, die es unter Rekurs auf den Status geisteswissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung für unstrittig hält, dass ‚Plausibilität‘ als besonders wichtiges, wenn nicht sogar als das wichtigste Kriterium zur Beurteilung von Interpretationen zu gelten hat, steht Strube für die Annahme, ‚Plausibilität‘ sei nur für einen bestimmten Typ interpretativer Aussagen das angemessene Beurteilungskriterium. Die unterschiedlichen Reichweiten der Positionen sind auffällig vor allem dann, wenn man bedenkt, dass in beiden Ansätzen die normativen Aussagen zur angemessenen Verwendung des Prädikats ‚plausibel‘ u.a. auf einer Praxisbeschreibung beruhen: Sie wollen der Praxis der Kunst- bzw. Literaturwissenschaft gerecht werden und beginnen mit einer Deskription bzw. Analyse dieser Praxis. Hier scheint mir ein Problem beider Positionen zu liegen: in einer jeweils zu selektiven Sichtung der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis.89 Zudem bleiben mindestens zwei Fragen offen, die für eine Klärung von ‚Plausibilität‘ als Beurteilungskriterium für Interpretationen zu beantworten sind: die Typen interpretativer Aussagen in Argumentfunktion und die Beschaffenheit akzeptierter Schlussregeln.

III.2 Zusammenfassendes zur literaturwissenschaftlichen Verwendung des Wertprädikats ‚plausibel‘ Die Sichtung theoretischer und methodologischer Beiträge hat ein komplexes Bild von Verwendungsweisen ergeben, das sich für die Bedingungen literaturwissenschaftlicher Interpretationen wie folgt zusammenfassen lässt. (a) Gegenstandsbezug: ‚Plausibel‘ ist ein metasprachlich verwendetes Prädikat, das nicht Sachverhalten oder Ereignissen, sondern bestimmten Typen von Aussagen und Aussagenverknüpfungen zugeschrieben wird. Als plausibel oder unplausibel werden Interpretationshypothesen und nicht-deskriptive Argumente bezeichnet, ebenso aber auch der Argumentationszusammenhang einer Interpretation, etwa die Rechtfertigung und Begründung von Hypothesen oder Urteilen. Genauer betrachtet, sind es die zu diesem Zweck eingesetzten Schlussregeln, in der Regel also die verwendeten Topoi, die als plausibel oder unplausibel beurteilt werden. (b) Relationalität und Dreistelligkeit: ‚Plausibel‘ ist ein Relationsbegriff und zugleich ein dreistelliges Prädikat. Zum einen heißt ‚X ist plausibel‘ immer ‚X ist

89 Auf den gegen Margolis vorgebrachten Einwand, seine Bestimmung von ‚plausibel‘ setze einen Wahrheitsbegriff voraus, kann hier nicht weiter eingegangen werden; dazu schon Beardsley, „Postscript“, S. lii.

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plausibel für einen Interpreten I ‘, auch wenn dieser Sprecherbezug in den meisten Fällen implizit bleibt. Der Interpret kann sich auf sich selbst als Individuum beziehen im Sinne von ‚X ist plausibel für I als Person ‘ oder auch auf den Interpreten als Vertreter einer Bezugsgruppe im Sinne von ‚X ist plausibel für I als Vertreter der Gruppe G‘. Zum anderen bezieht sich ‚X ist plausibel‘ immer auf einen Zusammenhang von Aussagen, vor deren Hintergrund X plausibel ist. Bei diesen Hintergrundaussagen kann es sich um die Überzeugungen eines Interpreten (seinen Wissenshintergrund), kulturell akzeptiertes Wissen oder um den Argumentationszusammenhang in einem Text handeln. ‚X ist plausibel‘ ist mithin zu verstehen als eine abkürzende Redeweise, hinter der eine meist implizit bleibende Formel steht: X ist plausibel für den Interpreten I in Bezug auf den Kontext K

Aussagen des Kontexts K müssen nicht zu den Überzeugungen von I gehören, sondern können von I als in einer Situation angemessen herangezogen werden. Insofern ist es wichtig, zwischen Interpret I und Kontext K zu unterscheiden, auch wenn es z.B. der Wissenshintergrund von I sein kann, der K ausmacht, so dass beide Komponenten nahe zusammenrücken. Anzunehmen ist, dass immer dann, wenn K nicht zu den Überzeugungen von I gehört, ein expliziter Hinweis gegeben wird, der die Plausibilitätszuschreibung auf den einbezogenen Kontext hin relativiert, während in den anderen Fällen der Kontext in der Regel ungenannt bleibt. Ein einfaches Beispiel: Wenn ein Interpret behauptet (4) Die These, dass im Gedicht „Manche freilich“ die Gruppe der ‚Manchen‘ für die unterprivilegierte Klasse der Ausgebeuteten steht, ist plausibel.

dann drückt er damit mindestens aus, dass diese These ihm einleuchtet und dass er sie für gut begründet hält. Wenn er dagegen behauptet (5) Die These, dass im Gedicht „Manche freilich“ die Gruppe der ‚Manchen‘ für die unterprivilegierte Klasse der Ausgebeuteten steht, ist plausibel unter der Voraussetzung einer marxistischen Literaturkonzeption.

dann braucht er diese These selbst nicht für überzeugend zu halten, z.B. weil er die genannte Voraussetzung nicht akzeptiert und eine marxistische Literaturkonzeption ablehnt. Er hält dann die These für plausibel unter einer bestimmten Prämisse, die er nicht teilt. (c) Bewertung und Bedeutungsaspekte: ‚Plausibel‘ ist ein Prädikat, mit dem Hypothesen, Argumente und Argumentationszusammenhänge – Argumentationen als ganze oder Schlussregeln – unter drei Aspekten beurteilt werden: in

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Hinsicht auf ihre Begründetheit, ihren Überzeugtheitsgrad und ihre Passung. Allerdings sind die drei Bedeutungsaspekte nicht trennscharf gegeneinander abzugrenzen und werden teilweise miteinander kombiniert. Beispielsweise kommt die Passung auch bei der begründeten Einschätzung der Wahrscheinlichkeit ins Spiel und ebenfalls beim Prüfen oder Herstellen von Kohärenz, Überzeugtheit kann durch gute Begründung hergestellt werden usw. Welcher Aspekt jeweils dominiert, ist dem Ausdruck nicht anzusehen, bleibt meist implizit und muss aus dem Verwendungszusammenhang erschlossen werden. Die folgende Übersicht fasst schematisch die Einsetzungsinstanzen zusammen, für die in der Formel ‚X ist plausibel für I in Bezug auf K‘ die Variablen stehen, und ordnet, so tentativ wie idealtypisch, diesen Einsetzungsinstanzen die jeweils dominanten Bedeutungsaspekte des Ausdrucks ‚plausibel‘ zu: Variable

Einsetzungsinstanz

dominanter Bedeutungsaspekt

X

Interpretationshypothese

Begründetheit / Passung

Argument

Überzeugtheit / Passung

argumentativer Zusammenhang

I

K

– (gesamte) Argumentation

Begründetheit

– Schlussregel

Begründetheit / Überzeugtheit

Interpret als Einzelperson

Überzeugtheit

Interpret als Repräsentant einer Gruppe

Überzeugtheit / Passung

‚Wissenshintergrund‘ des Interpreten

Überzeugtheit

Menge ‚kulturell akzeptierten Wissens‘

Passung

Argumentationszusammenhang des Texts

Begründetheit

Formel und Begriffsdifferenzierung können dazu dienen, vorliegende Plausibilitätskonzepte genauer zu erfassen, was abschließend am Beispiel von Margolis’ Position kurz demonstriert sei. Die Interpretationen bzw. die interpretativen Aussagen, die im Fokus von Margolis’ Ausführungen stehen, haben die Funktion von Hypothesen; die deskriptiven Aussagen, zu denen die interpretativen in keinem Widerspruch stehen dürfen, haben die Funktion von Argumenten; und die zulässigen Deutungsschemata, die er als Plausibilität erzeugende Faktoren nennt, haben nicht allein die Funktion bezugsgruppenspezifisch zulässiger Schlussregeln bzw. Topoi, sondern zählen auch zu dem ‚kulturell akzeptierten Wissen‘ in dieser Bezugsgruppe. Diese Reformulierung scheint mir deutlich zu machen, dass Margolis, obwohl die Begründetheit als Aspekt der Plausibilität in seinem Ansatz dominiert, doch zum einen auch der Überzeugtheit einen gewissen Stellenwert zuschreibt und zum anderen den Aspekt der Passung ins Spiel bringt, wenn er (nach

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der oben erläuterten Formel als ‚Kontext‘) literaturtheoretische oder kulturelle Rahmenannahmen als Bedingungen für plausible Interpretationen anführt.90 ‚Plausibel‘ ist nach diesem Ansatz eine Hypothese für einen Interpreten (als Repräsentant einer Bezugsgruppe) in Bezug auf den entwickelten Argumentationszusammenhang und die Menge ‚kulturell akzeptierten Wissens‘, das in Anschlag gebracht wird.

IV Plausibilität als (richtungsübergreifendes) Beurteilungskriterium? Es ergibt sich, dass bereits die erste leitende Frage des vorliegenden Beitrags, ob Plausibilität als Beurteilungskriterium für literaturwissenschaftliche Interpretationen geeignet sei, nicht einfach beantwortet werden kann. Formal betrachtet, ist das Prädikat ‚plausibel‘ zur Beurteilung literaturwissenschaftlicher Interpretationen geeignet, da diese zum einen argumentative Texte sind und zum anderen einen hohen Anteil an interpretativen Aussagen aufweisen. Gegen den Ausdruck spricht jedoch zum einen, dass er mehrdeutig ist und mit ‚plausibel‘ verschiedene Gegenstände, verschiedene Verbindlichkeitsgrade und verschiedene Bedeutungsaspekte gemeint sein können. Darin allerdings unterscheidet sich ‚Plausibilität‘ nicht von anderen wichtigen literaturwissenschaftlichen Begriffen wie z.B. ‚Interpretation‘: Mehrdeutigkeit stellt offenbar kein Ausschlusskriterium für literaturwissenschaftliche Termini dar. Meine Sichtung hat ein recht breites Spektrum unterschiedlicher Verwendungsmöglichkeiten ergeben, von denen längst nicht alle als höchstes Validierungskriterium für Interpretationshypothesen bzw. Interpretationen in Frage kommen. Untauglich als ein solches Kriterium sind vor allem die Redeweisen, in denen ‚plausibel‘ mit ‚einleuchtend‘ oder ‚überzeugend‘ gleichgesetzt wird, ohne das Maß an Verbindlichkeit zu bestimmen, das argumentativ eingeholt werden muss. Andere Verwendungsweisen sind aber durchaus geeignete Kandidaten für das gesuchte Beurteilungskriterium: ‚Plausibel‘ taugt dann als Prädikat zur Beurteilung von Interpretationen, wenn die Begründetheit stark ist, der Überzeugtheitsgrad in einem kollektiven Sinne gegeben ist und die Passung präzisiert werden kann. In welchem Sinne das Attribut ‚plausibel‘ im Einzelfall verwendet wird, ist

90 Begründetheit und Passung als Kriterien finden sich auch bei Pasternack, der an der Frage der Prüfbarkeit von Interpretationen interessiert ist und in diesem Zusammenhang davon ausgeht, dass sich der „Wissensanspruch“ in hermeneutischen Interpretationen dadurch „sichern“ lasse, „daß problematisches Wissen an weniger problematischem Wissen überprüft wird“ (Gerhard Pasternack, „Zur Rationalität der Interpretation“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt [Hrsg.], Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, Stuttgart 1992, S. 149–168, hier S. 163).

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der Aussage aber oft nicht anzusehen. Hier liegt ein zweites, pragmatisches Problem des Ausdrucks: im Suggerieren von Verbindlichkeit und im potentiellen Unterstellen eines Konsenses, der bei genauerem Nachfragen vielleicht gar nicht gegeben ist. Übergeht man dieses pragmatische Problem und versucht die verbindliche Variante von ‚plausibel‘ zu stärken, dann liegt es nahe, die Ansätze von Margolis und Strube weiter zu verfolgen. Zum einen ist die Bestandsaufnahme auf breiterer Basis weiterzuführen, zum anderen sind die Bedingungen genauer zu bestimmen, unter denen die Verwendung des Plausibilitätskriteriums sinnvoll ist. Mit Blick auf die zweite und spezifischere Leitfrage dieses Beitrags, ob Plausibilität als richtungsübergreifendes Beurteilungskriterium für literaturwissenschaftliche Interpretationen gelten könne, ist dabei Folgendes zu bedenken: Wenn der Ausdruck ‚plausibel‘ mit Validierungspotenzial verwendet wird, dann bezieht er sich auf Standards, die in bestimmten Gruppen gelten. Der Ausdruck ‚K‘ in der Formel ‚X ist plausibel für I in Bezug auf K‘ müsste demnach für einen in der gesamten Disziplin akzeptierten Kontext stehen, wenn Plausibilität als richtungsübergreifendes Beurteilungskriterium dienen können soll. Die Frage nach dem Kriterium ‚Plausibilität‘ erweist sich dann als Frage nach Standards der Literaturwissenschaft und ihrer Reichweite. Geht man diesen – mir lohnend scheinenden – Weg, dann sind neben anderem die oben herausgearbeiteten Fragen zu beantworten: (1) Welche Typen interpretativer Aussagen kommen in Interpretationen in Argumentfunktion vor? Zwar sollte deutlich geworden sein, dass es in Interpretationen Aussagentypen gibt, für die das Wahrheitsprädikat unverzichtbar ist, beispielsweise Textbeschreibungen und Aussagen über Sachverhalte der Textgenese und der Kontextrekonstruktion. Erheblich häufiger aber als deskriptive Aussagen dürften in Interpretationen andere Typen von Aussagen in Argumentfunktion verwendet werden. Sie wurden hier pauschal als ‚interpretative‘ Aussagen bezeichnet, um anzuzeigen, dass sie ihrerseits hypothetischen Charakter haben und es sich weder um deskriptive noch um normative Aussagen handelt. Die Beziehungen zwischen diesen interpretativen Aussagen müssten untersucht werden und zu klären wäre zuerst, welche Typen interpretativer Aussagen (mit welchen Zielen, in welchen Funktionen) überhaupt in Interpretationen vorkommen. Verschiedene Vorschläge der Differenzierung liegen vor; so unterscheidet beispielsweise Hermerén vor allem nach Aspekten und Zwecken der Interpretation, Zabka nach Sprechakten und Pasternack nach Wissenstypen.91 Die Vorschläge müssen

91 Vgl. dazu Hermerén, „Interpretation“, S. 143 f.; Zabka, Pragmatik, z.B. den Überblick S. 73. Pasternack unterscheidet zwischen „Strukturwissen“ und „dem enzyklopädischen (kontingen 

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in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit und Reichweite geprüft werden. Zu berücksichtigen ist auch der Verbindlichkeitsgrad interpretativer Aussagen in Argumentfunktion, und hier dürfte die Frage besonders aufschlussreich sein, wann und unter welchen Bedingungen Argumente als Endoxa gelten und als allgemein akzeptable Argumente bzw. Prämissen in einer Interpretation dienen können. (2) Gibt es spezifische Topoi als Schlussregeln? Nicht allein die zur Beurteilung einer Hypothese als ‚plausibel‘ einzubeziehenden Kontexte haben gruppenspezifische Geltung, auch für die in Interpretationen eingesetzten Plausibilität erzeugenden Schlussregeln wird z.T. gruppenspezifische Geltung angenommen. Wenn das der Fall ist, kommen in Interpretationen nicht nur allgemeine, sondern auch besondere Topoi zum Einsatz. Besondere Topoi lassen sich zwar auf allgemeine, abstrakte Topoi zurückführen, sind aber stärker an einen bestimmten Wissensbereich gebunden als die allgemeinen und fungierten in Argumentationen als „kontextspezifische Muster“.92 Es ist zwar zu vermuten, dass es konventionalisierte literaturwissenschaftliche Topoi gibt; ob diese Vermutung zutrifft, welche Topoi es sind und ob sie für Gruppen oder für das Fach gelten, ist aber noch nicht untersucht worden. Die unterschiedliche Überzeugungskraft, die etwa Analogieschlüsse entfalten, könnte für gruppenspezifische Topoi sprechen. Beide Fragen können nur in einer breit angelegten Studie geklärt werden, die ein klareres Bild von der Praxis des Faches ermöglicht, als wir es bisher haben. Dazu bedarf es der Analyse eines umfangreichen Korpus’ an Interpretationstexten, um zum einen das Spektrum an Beurteilungskriterien zu erheben und die faktischen Verwendungsweisen von ‚plausibel‘ zu rekonstruieren und zum anderen die Strategien der Plausibilisierung von Hypothesen in Interpretationstexten zu untersuchen.93

ten) Wissenssystem des Interpreten“, als Wissenstypen, die in Interpretationen literarischer Texte eingesetzt werden (Pasternack, „Rationalität“, S. 161). Beide werden nach ihrer Plausibilität beurteilt, das Strukturwissen „als analytisches Wissen über kompositorische Ordnungen“ zeichne sich aber durch „einen höheren Plausibilitätsgrad“ aus als das enzyklopädische (ebd.). 92 Wengeler, Topos, S. 183, vgl. auch Ottmers, Rhetorik, S. 88–91. 93 Für wichtige Anregungen und Kritik danke ich Fotis Jannidis, Carlos Spoerhase und Marcus Willand.

Benjamin Gittel, Berlin

Die Bestätigung von Interpretationshypothesen zu fiktionalen literarischen Werken1 I Einleitung Dass sich Interpretationshypothesen zu literarischen Werken bestätigen lassen, ist angesichts der in den Philologien in Bezug auf kanonisierte Werke häufig anzutreffenden Interpretationskontroversen gewiss keine Selbstverständlichkeit. Denn obwohl es zum literaturwissenschaftlichen Alltagsgeschäft gehört, plausible von unplausiblen Interpretationshypothesen zu unterscheiden, ist theoretisch noch nicht hinreichend geklärt, wie eine epistemische Evaluierung von Interpretationshypothesen funktioniert. Die folgenden Überlegungen zu dieser Frage nehmen ihren Ausgang bei einigen Begriffsklärungen (II) und wenden sich dann Problemen zu, die prima facie gegen die Möglichkeit der Bestätigung von Interpretationshypothesen sprechen. Diese sind der sogenannte Zielpluralismus von Interpretationen (III) und bestimmte Vorbehalte gegenüber der Unterscheidung von Beschreibung und Interpretation (IV). Im Anschluss werden verschiedene Arten von Unterscheidungskriterien zwischen beschreibenden Sätzen und interpretativen Sätzen bzw. Interpretationshypothesen vergleichend dargestellt (V). Daraufhin wird versucht, ein solches Kriterium für eine besonders bestätigungsrelevante Teilmenge der beschreibenden Sätze zu fiktionalen literarischen Werken, nämlich die Sätze, die die fiktive Welt betreffen, zu entwickeln (VI). Zu guter Letzt wird die Rolle dieser deskriptiven Sätze in Argumenten zur Bestätigung von Interpretationshypothesen untersucht (VII). Um der Anschaulichkeit willen werden die Überlegungen in den beiden letzten Abschnitten an einem Werk exemplifiziert, das seit langem Gegenstand vielfältiger Interpretationskontroversen ist, Robert Musils unvollendeter Roman Der Mann ohne Eigenschaften.

1 Für wertvolle Kommentare und Anregungen zu meinen Überlegungen danke ich insbesondere Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Jürn Hecht, Olav Krämer, Thomas Petraschka, Carlos Spoerhase, Simone Winko, den Teilnehmern der Tagung am FRIAS, aus der dieser Band hervorging, und den Teilnehmern des Wissenschaftshistorisch-methodologischen Oberseminars am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Benjamin Gittel

II Begriffsklärungen II.1 „Bedeutungszuweisung“, „Interpretation“ und „interpretativer Satz“ Die Verwendungsweisen des Begriffs „Interpretation“ sind, selbst wenn man sich auf sprachliche Äußerungen bzw. Texte als Interpretationsgegenstand beschränkt und ferner die sogenannten performativen Interpretationen, also beispielsweise Aufführungen von Theaterstücken oder Verfilmungen ausschließt, äußerst vielfältig.2 Für die hiesigen Zwecke ist folgende Begriffsexplikation sinnvoll, die die allermeisten der verbleibenden Verwendungsweisen abzudecken scheint: Der Begriff „Interpretation“ bezeichnet alle Formen von Bedeutungszuweisungen an sprachlich verfasste und von Menschen mittels erworbener Fähigkeiten erzeugte Artefakte, d.h. an alle Arten medial fixierter sprachlicher Äußerungen. Diese Explikation profitiert offensichtlich von der Unspezifität des Bedeutungsbegriffs, der zunächst in einem weiten Sinn verstanden werden soll, so dass etwa eine rationale Rekonstruktion von Argumenten genauso wie die Erklärung der Produktion oder Funktion eines Textes als Bedeutungszuweisungen gelten können.3

2 Siebzehn solcher Verwendungsweisen unterscheidet Axel Bühler, „Die Vielfalt des Interpretierens“, in: Ders. (Hrsg.), Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation, Heidelberg 2003, S. 99–119, hier S. 105–113. Zu den vielfältigen damit ausgeschlossenen Verwendungsweisen von „Interpretation“ vgl. ebd., S. 120. Zum Begriff ‚performative Interpretation‘ vgl. Staffan Carlshamre, „Some Metareflections“, in: Ders./Anders Pettersson (Hrsg.), Types of Interpretation in the Aesthetic Disciplines, Montréal 2003, S. 165–179, hier S. 166–168. 3 Einwände gegen die Umschreibung von „Interpretation“ als „Bedeutungszuweisung“ finden sich bei Bühler, der erstens hervorhebt, dass nicht alles, was mit dem Begriff „Interpretation“ bezeichnet wird als Bedeutungszuweisung beschreibbar ist. Das scheint jedoch nur für einen Teil der Verfahren, die nach Bühler keine Bedeutungszuweisungen sind („Erschließen von nicht explizit Geäußertem“, „psychologische Erklärung“, „Beurteilung der Richtigkeit eines Textinhalts“, „Beurteilung der Gültigkeit einer Argumentation“ und „rationale Rekonstruktion“) plausibel. Da sich wohl jedoch nicht alle der angeführten Interpretationsarten zwanglos als Bedeutungszuweisungen beschreiben lassen, ist auf den Status der oben vorgenommenen Begriffsbestimmung als Begriffsexplikation zu verweisen, die nicht zur Erfassung aller Verwendungsweisen von „Interpretation“ verpflichtet ist. Bühlers zweiter Einwand, dass Bedeutungszuweisung als Begriff nicht geeignet ist, weil es keine „Theorien“ gäbe, „die den Bedeutungsbegriff auf höhere Ebenen als die des Satzes beziehen […] und gleichzeitig eine gewisse Problemlösungskraft aufweisen“ (Bühler, „Die Vielfalt“, S. 116 f.), kommt einer Abqualifizierung einer ganzen Reihe von Interpretationstheorien gleich. Vgl. etwa die angloamerikanische Debatte zum Autorintentionalismus, in der der Bedeutungsbegriff (meaning) eine zentrale Rolle spielt. Lediglich neue Nuancen bietet Axel Bühler, „Interpretieren − Vielfalt oder Einheit?“, in: Fotis Jannidis [u.a.] (Hrsg.), Regeln der Bedeutung, Berlin [u.a.] 2003, S. 169–181, hier bes. S. 174–177. –  

Die Bestätigung von Interpretationshypothesen

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Desweiteren sind zwei Unterscheidungen wesentlich: Der Begriff „Interpretation“ kann erstens entweder den Vollzug einer Bedeutungszuweisung oder aber den Gehalt bzw. das Produkt einer Bedeutungszuweisung meinen.4 Wenn im Folgenden von Bedeutungszuweisungen oder Interpretationen die Rede ist, so ist stets der Gehalt der Bedeutungszuweisung gemeint, es geht mithin weder um die Rekonstruktion einzelner Interpretationen in ihren Teilschritten noch um die Entdeckungslogik von Interpretationen allgemein, sondern um die epistemische Rechtfertigung von Interpretationen, d.h. die Validierung ihrer Wissensansprüche. Die Bedeutungszuweisungen erfolgen zweitens entweder mithilfe einzelner Sätze, die im Folgenden als interpretative Sätze bezeichnet werden, oder mithilfe von Satzverkettungen, die, schriftlich niedergelegt, ein Exemplar der Textgattung Interpretation bilden. Die in sich komplexer aufgebauten Bedeutungszuweisungen der zweiten Art, die im Folgenden kurz Interpretationen genannt werden, enthalten zwar interpretative Sätze, bestehen jedoch in aller Regel nicht ausschließlich aus solchen. Sie werden jedoch häufig ihrerseits in interpretativen Sätzen zusammengefasst.5

Teilweise wird der Interpretationsbegriff für Bedeutungszuweisungen an zuvor unverstandene oder rätselhafte (puzzling) Interpretationsgegenstände reserviert. Vgl. Peter Lamarque, „Objects of Interpretation“, in: Metaphilosophy, 31/2000, S. 96–124, hier S. 99. Dies führt jedoch dazu, dass „Interpretation“ ein personenrelativer Begriff wird. Vgl. Torsten Pettersson, „What is an Interpretation?“, in: Carlshamre/Pettersson (Hrsg.), Types of Interpretation in the Aesthetic Disciplines, S. 30–51, hier S. 42–44; auch Carlshamre, „Some Metareflections“, S. 178, Anm. 4. 4 In unterschiedlichem Vokabular nehmen diese Unterscheidung vor: Axel Bühler, „Die Richtigkeit von Interpretationen“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 62/2008, S. 343–357, hier S. 344–348; Christoph Dennerlein/Tilmann Köppe/Jan C. Werner, „Interpretation und Evaluation in handlungstheoretischer Perspektive“, in: Journal of Literary Theory, 2/2008, S. 1–18, hier S. 4 f.; Göran Hermerén, „Interpretation: Types and Criteria“, in: Grazer philosophische Studien, 19/1983, S. 131–161, hier S. 142. 5 Vgl. u.a. Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 4 f.; Thomas Zabka, „Interpretationsverhältnisse entfalten. Vorschläge zur Analyse und Kritik literaturwissenschaftlicher Bedeutungszuweisungen“, in: Journal of Literary Theory, 2/2008, S. 51–69, hier S. 51 f. Bei Bühler ‚verbirgt‘ sich diese Unterscheidung in der von Aktivität und Resultat. Die komplexe Aktivität des Interpretierens führt zu einer „Äußerung“ bzw. einem interpretativen Satz über den Interpretationsgegenstand. Vgl. Bühler, „Die Richtigkeit“, S. 344 f.  







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II.2 Bestätigung Die folgenden Überlegungen stellen nicht die in der Forschung lange diskutierte Frage der Objektivität oder Wahrheitsfähigkeit6 von interpretativen Sätzen in den Mittelpunkt, sondern die ihrer Bestätigung. Bestätigung scheint nicht nur angesichts des oft beklagten Abstraktionsgrades und der Praxisferne interpretationstheoretischer Forschungsliteratur, sondern auch angesichts der bei der Objektivitätsfrage involvierten weitreichenden sprachphilosophischen und wahrheitstheoretischen7 sowie werkontologischen Hintergrundannahmen8 ein attraktiver Begriff. Bestätigung bzw. ‚bestätigt-zu-sein‘ meint im Folgenden eine Eigenschaft der epistemischen Wertschätzung interpretativer Sätze, die relativ zu einem bestimmten Wissensstand des Interpreten ist und sich oft in der Rede von „Plausibilität“ ausdrückt. Der Begriff wird nicht-graduell und nicht-komparatistisch verwendet: Erstens, obwohl Redeweisen wie „Hypothese x ist plausibler als Hypothese y“ auch gebräuchlich sind, soll Bestätigung hier eine Eigenschaft eines Satzes bezeichnen, die relativ zum jeweiligen Wissensstand eines Interpreten entweder vorliegt

6 Für einen kurzen Überblick zu dieser Debatte vgl. Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 11–13; Maria E. Reicher, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Paderborn 2007, S. 7–20, hier S. 16–19. 7 Vgl. Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 13. Die Position, dass interpretativen Sätzen kein Wahrheitsprädikat zugeschrieben werden sollte, kann etwa durch eine anti-realistische Wahrheitskonzeption oder die etwa von Dieter Freundlieb, „Can Meanings Be Objects of Knowledge?“, in: Poetics, 12/1983, S. 259–275, vertretene ontologische Annahme, dass es keine Bedeutungstatsachen gibt, gestützt werden. Vgl. Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 11–13. 8 Die Diskussion rankt sich um die Dichotomien imputationalism versus non-imputationalism und singularism versus multiplism (auch critical monism vs. critical pluralism). Es geht um die Fragen, inwiefern der Interpretationsgegenstand von der Interpretation unabhängig ist bzw. erst durch sie konstituiert wird und ob es ein Ideal der Interpretation ist, dass es für jedes Werk genau eine zulässige Interpretation gibt. Vgl. Lamarque, „Objects“, bes. S. 107–109 und Michael Krausz, „Introduction“, in: Ders. (Hrsg.), Is There a Single Right Interpretation?, Philadelphia 2002, S. 1–8, hier S. 1 f., sowie die wichtigen Beiträge in diesem Band. Auf werkontologische Voraussetzungen weist auch eindrücklich David Davies, „Interpretative Pluralism and the Ontology of Art“, in: Revue internationale de Philosophie, 50/1996, S. 577–592, hier S. 581–585, hin und gelangt zu folgendem Dilemma: „[…] [W]e may describe the situation either in terms of ‚incompatible interpretations of a work‘ – in which case, we commit ourselves to works themselves being things that admit of such incompatible interpretations − or in terms of apparently incompatible interpretations, one of which is of the work and the other(s) of which is of ‚the text of the work‘. But a decision as to which of these ways of describing is appropriate requires that we make reference to something more fundamental − either a thesis about the ‚nature‘ of interpretation, or a thesis about the ‚nature‘ of works, or both.“ (Ebd., S. 584).  

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oder nicht.9 Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass zwei im streng logischen Sinn inkompatible interpretative Sätze plausibel sind;10 „plausibel“ ist in diesem Sinne ein Minimal-, kein Optimalitätsprädikat. Zweitens, interpretative Sätze können isoliert, d.h. unabhängig von konkurrierenden interpretativen Sätzen, bestätigt werden.11 Die gegenteilige Auffasung beruht meiner Meinung nach auf dem häufig auftretenden Phänomen, dass interpretative Sätze, die man anfangs für plausibel hielt, in Folge der Auseinandersetzung mit konkurrierenden interpretativen Sätzen verworfen werden. Dies geschieht jedoch nicht, weil der ursprüngliche Satz durch das In-Betracht-Ziehen der konkurrierenden an Plausibilität verliert, sondern weil in der Auseinandersetzung zuvor vernachlässigte

9 Vgl. auch die Ausführungen zum Kriterium „correctness“ in Stein H. Olsen, The Structure of Literary Understanding, Cambridge 1978, S. 137–144, bes. S. 143 f., das zusammen mit „completeness“ für die „plausibility“ von Interpretationen verantwortlich zeichnet. 10 Das impliziert nicht, dass diese Sätze beide wahr sind. Vgl. Robert Stecker, „Relativism about Interpretation“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 53/1995, S. 14–18, hier S. 17. Das Phänomen sich logisch widersprechender gleich plausibler interpretativer Sätze bildet den Ausgangspunkt der Debatte um den sogenannten Interpretationsrelativismus (relativism in interpretation). Vgl. u.a. Stephen Davies, „Relativism in Interpretation“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 53/1995, S. 8–13; Joseph Margolis, „Plain Talk about Relativism on a Relativistic Model“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 53/1995, S. 1–7; Ders., „Relativism and Interpretative Objectivity“, in: Ders./Tom Rockmore (Hrsg.), The Philosophy of Interpretation, Oxford 2000, S. 200–226; Robert Stecker, „Pettersson on Incompatible Interpretations“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 46/1987, S. 300–302; Stecker, „Relativism“. Ein detailliertes Beispiel für einen solchen Fall liefert Alan H. Goldman, „The Sun Also Rises: Incompatible Interpretations“, in: Krausz (Hrsg.), Is There a Single Right Interpretation?, S. 9–25. Die Entscheidung einer Bedeutungskonzeption, ob literarischen Werken inkompatible Bedeutungen zugewiesen werden dürfen, wird nicht selten objekttheoretisch, durch Annahmen über die Vollkommenheit oder Widerspruchsfreiheit des literarischen Werks, begründet. Vgl. Carlos Spoerhase, „Strukturalismus und Hermeneutik“, in: Andreas Gardt/Marcel Lepper/Hans-Harald Müller (Hrsg.), Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910–1975, Göttingen 2010, S. 13–38, hier S. 25–38. Zur gern beschworenen Vieldeutigkeit literarischer Texte vgl. Fotis Jannidis, „Polyvalenz – Konvention – Autonomie“, in: Ders. [u.a.] (Hrsg.), Regeln der Bedeutung, S. 305–328. 11 Thematisch wird die komparatistische Dimension hingegen im Fall der Rede von der „Beliebigkeit von Interpretationen“, die nach einer sinnvollen Deutung die vergleichende Evaluierbarkeit von Interpretationen hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche verneint. Vgl. dazu Lutz Danneberg, „Einleitung. Interpretation und Argumentation: Fragestellungen der Interpretationstheorie“, in: Ders./Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ‚Theoriedebatte‘, Stuttgart 1992, S. 13–24, hier S. 13–15; Ders., „Philosophische und methodische Hermeneutik“, in: Bernulf Kanitscheider (Hrsg.), Hermeneutik und Naturalismus, Tübingen 1998, S. 194–214, hier bes. S. 202–209.  

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(Text-)Phänomene berücksichtigt werden.12 Die irrtümliche Auffassung, dass Plausibilität eine komparatistische Eigenschaft ist, beruht demnach auf der Relativität jeder Bestätigung zum aktuellen Wissensstand des Interpreten. Zu guter Letzt ist noch darauf hinzuweisen, dass die folgenden Überlegungen nur ein Teilproblem bei der Bestätigung von Interpretationen betreffen. Kriterien der Beurteilung ganzer Interpretationen wie Umfassendheit, Kohärenz, Erklärungskraft etc. sind noch komplexer als die im Folgenden zu bestimmenden Mechanismen der Bestätigung interpretativer Sätze.13

III Zielpluralismus In der jüngeren interpretationstheoretischen Forschung ist es weitgehend anerkannt, dass es vielfältige Interpretationstypen gibt und dass Interpretationen desselben Texts de facto sehr unterschiedliche Ziele verfolgen können.14 Eine Klassifikation von empirisch vorfindlichen Interpretationsarten nach ihren jeweiligen Zielen ist dabei nur eine mögliche, jedoch besonders naheliegende Art und Weise, Interpretationen zu rubrizieren.15 Göran Hermerén, der den Zielpluralis-

12 „Interpretation merely singles out some distinction as important for the artistic significance of the work, and ignores others which other interpretations may take up as important.“ (Olsen, The Structure, S. 124). Vgl. das anschauliche Beispiel, ob Don Quichotte ein zwangsweise getaufter Jude ist, in: Lutz Danneberg, „Weder Tränen noch Logik: Über die Zugänglichkeit fiktionaler Welten“, in: Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hrsg.), Heuristiken der Literaturwissenschaft. Einladung zu disziplinexternen Perspektiven auf Literatur, Paderborn 2006, S. 35–83, hier S. 24–26. 13 Vgl. u.a. Olsen, The Structure, S. 118–159; Werner Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn 1993, S. 113–130. 14 Dies bildet den Ausgangspunkt des wichtigen Sammelbandes Carlshamre/Pettersson (Hrsg.), Types of Interpretation in the Aesthetic Disciplines: „[…] [T]he multiplicity of interpretation, even the diversity of the interpretation of literature and art, may appear to be a well-established fact. Yet I believe that such an impression is incorrect. While interpretation’s multifariousness has been pointed to in several well-known contributions to interpretation theory, it has normally figured there as a side-issue, and actual theorizing about interpretation has all too often proceeded without taking any account of the complications that it represents.“ (Anders Pettersson, „The Multiplicity of Interpretation and the Present Collection of Essays“, in: Ders./Staffan Carlshamre [Hrsg.], Types of Interpretation in the Aesthetic Disciplines, S. 3–29, hier S. 20) 15 Staffan Carlshamre unterscheidet drei Typen der Klassifikation von Interpretationen, anhand des Sprachgebrauchs des Begriffs „Interpretation“, anhand empirisch vorfindlicher Interpretationen (wobei hier verschiedene Perspektiven [points of view] gewählt werden können) und anhand verschiedener systematisch sinnvoller Dimensionen, die sich gegenüber den Klassen der Typologie auf einer höheren Ebene befinden. Vgl. Staffan Carlshamre, „Types of Types of Interpretation“,

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mus besonders deutlich heraustellt und den Referenzpunkt vieler jüngerer Studien bildet, unterscheidet gleich vierzehn Zwecke (purposes) der Interpretation, wobei er andeutet, dass er diese Liste als offen ansieht.16 Es scheint unstrittig, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Ziel einer Interpretation und den Kriterien ihrer Validierung besteht; zwei sich widersprechende Interpretationen mit unterschiedlichen Zielen können offenkundig beide berechtigt sein.17 Dieses Problem betrifft nun auch interpretative Sätze, unabhängig davon, ob sie als Teil einer Interpretation oder isoliert auftreten. Damit verschärft sich das Problem. Denn während zwischen einer Interpretation und ihrem Ziel ein relativ stabiler Zusammenhang besteht, so dass es keine identischen Interpretationen mit unterschiedlichen Zielen geben dürfte, scheint der Zusammenhang zwischen einem interpretativen Satz und dem Interpretationsziel lockerer. Beispielsweise kann ein und derselbe interpretative Satz in Interpretationen mit verschiedenen Zielen vorkommen. Was aber heißt es, dass ein und derselbe interpretative Satz verschiedene Ziele haben kann? Meiner Meinung nach kann diese Rede sich auf zwei verschiedene Aspekte beziehen. Zum einen bezieht sie sich auf unterschiedliche Erkenntnisinteressen, die der Interpret mit diesem Satz verfolgen kann, zum anderen bezieht sie sich auf die illokutionäre Rolle des interpretativen Satzes, sofern mit ihm eine Sprachhandlung vollzogen wird. Der Pluralismus in Bezug auf das Erkenntnisinteresse begreift Interpretationen als radikal unterschiedliche Vorhaben des Interpreten, wie etwa die Erklärung einer Textproduktion, die Bestimmung der historischen Bedeutung eines Texts oder die Bestimmung seiner Bedeutung für den heutigen Leser, um nur einige zu nennen. Dass solche Vorhaben hier alle unter dem Begriff der Bedeutungszuweisung gefasst werden, darf nicht dazu führen, ihre Divergenz zu übersehen: Dass jede Interpretation nach diesem Verständnis einem Text eine Bedeutung zuweist, impliziert keine Einheitlichkeit oder Vergleichbarkeit ihrer Verfahren.18 Außerdem

in: Ders./Anders Pettersson (Hrsg.), Types of Interpretation in the Aesthetic Disciplines, S. 112–137, hier S. 113. 16 Vgl. Hermerén, „Interpretation: Types“, S. 144. Auf Hermerén beziehen sich u.a. Axel Spree, Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn 1995, S. 196; Strube, Analytische Philosophie, S. 68; Zabka, „Interpretationsverhältnisse entfalten“, S. 52–55. Ohne expliziten Bezug auf Hermerén wird der Zielpluralismus auch vertreten in: Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 6 f. Für einen Überblick zur Thematisierung der Pluralität von Interpretationstypen in der Forschung vgl. Pettersson, „The Multiplicity“, S. 14–21. 17 Vgl. Jorge J. E. Gracia, „Relativism and the Interpretation of Texts“, in: Margolis/Rockmore (Hrsg.), Philosophy of Interpretation, S. 43–62, hier S. 54; Carlshamre, „Types of“, S. 112. 18 So der Impetus des Textes von Jeffrey Stout, „What Is the Meaning of a Text?“, in: New Literary History, 14/1982, 1, S. 1−12. Vgl. auch: „Es gehört zu den besonderen Schwierigkeiten im Umgang  

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ist darauf hinzuweisen, dass sich solche Erkenntnisinteressen mit verschiedenen Spezifitätsgraden beschreiben lassen. Mögliche erste Präzisierungen des Interesses an der historischen Bedeutung eines Textes sind etwa die Bedeutung, die sein Autor mit ihm (erfolgreich) intendierte (aktualer Intentionalismus) oder die eine bestimmte (zeitgenössische) Zielgruppe dem Autor als intendierte Bedeutung (hypothetischer Intentionalismus) zuschreiben würde.19 Solche mehr oder minder detaillierten Entfaltungen des Erkenntnisinteresses, die jede Interpretation implizit oder explizit anleiten, lassen sich auch als Bedeutungskonzeptionen20 bezeichnen. „Bedeutungskonzeption“ ist der zentrale Begriff des vor geraumer Zeit von Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller entwickelten Interpretationsmodells, das davon ausgeht, dass Interpretationen von einer Bedeutungs- und Interpretationskonzeption, d.h. durch die Bestimmung der durch die Interpretation zu eruierenden Bedeutung und der Methodik ihrer Ermittlung angeleitet werden. Da die Unterscheidung zwischen beiden eher graduell ist – eine elaborierte Bedeutungskonzeption scheint oft schon implizit eine Methodologie zu enthalten –, werde ich im Folgenden auch aus stilistischen Gründen verkürzt von Bedeutungskonzeptionen sprechen. Als Kernstück einer Bedeutungskonzeption kann die Lizenzierung

mit dem Bedeutungsbegriff, dass er sich auf kein einzelnes Phänomen bezieht, welches durch unterschiedliche Theorien je unterschiedlich erklärt würde; vielmehr erfassen die unterschiedlichen Bedeutungsbegriffe verschiedene Phänomene.“ (Fotis Jannidis [u.a.], „Der Bedeutungsbegriff in der Literaturwissenschaft. Eine historische und systematische Skizze“, in: Ders. [Hrsg.], Regeln der Bedeutung, S. 3–30, hier S. 28.) 19 Für Darstellung und Verteidigung des moderaten-aktualen Intentionalismus vgl. etwa Noël Carroll, „Interpretation and Intention“, in: Metaphilosophy, 31/2000, S. 75–95; Robert Stecker, „Moderate Actual Intentionalism Defended“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 64/ 2006, S. 429–438. Unterschiedliche Spielarten des hypothetischen Intentionalismus vertreten u.a. Jerrold Levinson, „Intention and Interpretation: A Last Look“, in: Gary Iseminger (Hrsg.), Intention and Interpretation, Philadelphia 1992, S. 221–256; William Tollhurst, „On What a Text is and How it Means“, in: British Journal of Aesthetics, 19/1979, S. 3–14. Für einen Überblick zur Debatte vgl. u.a. Stephen Davies, „Author’s Intentions, Literary Interpretation, and Literary Value“, in: British Journal of Aesthetics, 46/2006, S. 223–247; Paisley Livingston, Art and Intention. A Philosophical Study, Oxford 2005, S. 135–174; Carlos Spoerhase, „Hypothetischer Intentionalismus“, in: Journal of Literary Theory, 1/2007, S. 81–110. 20 Vgl. u.a. Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, „Probleme der Textinterpretation. Analytische Rekonstruktion und Versuch einer konzeptionellen Lösung“, in: Kodikas/Code, 3/1981, S. 133–168, hier bes. S. 148–150 und 153–157; Dies., „Wissenschaftstheorie, Hermeneutik, Literaturwissenschaft. Anmerkungen zu einem unterbliebenen und Beiträge zu einem künftigen Dialog über die Methodologie des Verstehens“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 58/1984, S. 177–237, hier S. 199 f.; Lutz Danneberg, „Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention“, in: Fotis Jannidis [u.a.] (Hrsg.), Die Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 77–105, hier bes. S. 83–85 und 101 f.  



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und Hierarchisierung bzw. auch der Ausschluss von Kontexten gelten, was ihren argumentativen Wert zur Stützung von Interpretationshypothesen angeht.21 Der Pluralismus in Bezug auf die illokutionäre Rolle von Interpretationen betrifft die sprachpragmatische Ebene und besteht darin, dass interpretativen Sätzen, sofern sie geäußert werden, entweder ein assertiver, direktiver, expressiver oder seltener ein deklarativer oder kommissiver Charakter zukommt.22 Eine interpretative Äußerung, die uns beispielsweise einlädt, den Interpretationsgegenstand auf neue Weise zu sehen, hat direktiven Charakter.23 Dementsprechend macht es einen großen Unterschied, ob man die viel diskutierte sogenannte wertmaximierende Interpretation24 als eine Interpretation mit assertivem Charakter und der grundlegenden Annahme, die Bedeutung eines literarischen Werks sei diejenige, die zu seiner maximalen ästhetischen Wertschätzung für ein bestimmtes Publikum führt, oder bei gleicher Bedeutungskonzeption mit direktivem Charakter entfaltet. Nur im ersten Fall hat eine solche wertmaximierende Interpretation einen Wissensanspruch, der sich nach den Kriterien validieren lässt, die sich durch Entfaltung des Erkenntnisinteresses bzw. der Bedeutungskonzeption

21 Vgl. Lutz Danneberg, „Interpretation: Kontextbildung und Kontextverwendung“, in: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft, 9/1990, S. 89–130, hier S. 102 f. Eine autorintentionale Bedeutungskonzeption beispielsweise wird glaubhafte und kompetente textexterne Selbstdeutungen des Autors vergleichsweise hoch hierarchisieren und keinesfalls ganz ausschließen oder lediglich als heuristische Vorgabe zulassen wie dezidiert anti-intentionalistische Positionen. Dazu im Einzelnen: Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007, S. 68–79. 22 Zu diesen Begrifflichkeiten vgl. John Searle, Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts, Cambridge 1979, S. 1–29. Eine entsprechende Klassifikation von Interpretationen im Zielvokabular wäre etwa folgende: Interpretationen mit dem Ziel Wahrheit (assertiv), dem Ziel Handlungen auszulösen (direktiv), dem Ziel Gefühlsausdruck (expressiv) etc. – Dieser Vorschlag berührt sich mit der Unterscheidung zwischen „claim“ und „reading“ bei Carlshamre, „Types of“, S. 120–122. Einem „reading“ kommt erst in Verbindung mit einem „claim“ ein Wissensanspruch zu: „A typical sort of interpretive claim, on behalf of a reading, would be that it corresponds to the author’s intentions. […] There might be normative or evaluative claims – for example, that a certain reading makes the text true or interesting or perhaps good, fruitful, or rewarding, in relation to some explicit or implicit evaluative norm.“ (ebd., S. 121). Nach dieser Konzeption hätten „readings“ gar keinen illokutionären Aspekt und selbst in Kombination mit einem „claim“ könnten sie nur assertiven Charakter annehmen. Andere illokutionäre Aspekte sind in der Typologie von Carlshamre nicht vorgesehen. 23 Konkretisiert wird dieses Beispiel in: Robert Stecker, Artworks. Definition, Meaning, Value, Pennsylvania 1997, S. 136 f. Selbstverständlich sind solche Zuweisungen an so hochkomplexe Texte wie Interpretationen selbst Ergebnis eines Interpretationsvorgangs. 24 Namhafte Vertreter sind: Alan H. Goldman, Aesthetic Value, Boulder 1995; Peter Lamarque, „Appreciation and Literary Interpretation“, in: Krausz (Hrsg.), Is There a Single Right Interpretation?, S. 285–306.  



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ergeben. Im zweiten Fall wird kein Wissensanspruch erhoben und es kann keine epistemischen Kriterien mehr geben, die direktive Äußerung kann bestenfalls an ihrem Erfolg, die gewünschte Lesart hervorzurufen, gemessen werden. Während es plausibel scheint, dass wenigstens einige interpretative Äußerungen (nach dem Selbstverständnis des Interpreten) keine Wissensansprüche erheben,25 scheint die radikale, non-kognitivistische Position, dass keine interpretative Äußerung Wissensansprüche erhebt, nicht haltbar. Die These, dass mit interpretativen Äußerungen nur scheinbar Wissensansprüche erhoben werden, da es sich um verkappte imperativische oder expressive Aussagen handelt, scheint gegenüber unserer Praxis letztlich unangemessen und revisionär.26 Eine überzeugende Erklärung, warum wir in unserer Praxis fälschlicherweise davon ausgehen, dass viele interpretative Äußerungen einen assertiven Charakter haben, steht, soweit ich sehe, noch aus und ist angesichts der elaborierten argumentativen Auseinandersetzungen um einzelne Interpretationshypothesen in der Literaturwissenschaft, aber auch der Verwendbarkeit interpretativer Sätze bei der argumentativen Verteidigung eines Wissensanspruchs wohl nicht einfach zu finden. Vielmehr scheint die non-kognitivistische Position ihre Attraktivität aus den Schwierigkeiten bei der Validierung interpretativer Sätze zu beziehen. Selbst die Unterscheidung von Erkenntnisinteresse und illokutionärer Rolle ist jedoch noch nicht hinreichend, um alle denkbaren Fälle zu kategorisieren. Zu berücksichtigen ist noch der in der Forschung erwogene Fall, dass es bedeutungskonzeptionsexterne Kriterien zur Wahl von Interpretationen bzw. interpretativen Sätzen geben könnte. Es ließe sich etwa die Position vertreten, dass eine Interpretation gemessen an einer autorintentionalen Bedeutungskonzeption wahr sein 25 Vgl. Stecker, „Relativism“, S. 16. 26 Eine solche radikale Position vertritt etwa Charles L. Stevenson, „Interpretation and Evaluation in Aesthetics“, in: Max Black (Hrsg.), Philosophical Analysis, Englewood Cliffs (NJ) 1963, S. 319–358, hier bes. S. 349–351. Die von Stevenson behauptete quasi-imperativische Bedeutung interpretativer Sätze bezieht sich auf eine Beobachtungshaltung bzw. Einstellung, die man gegenüber dem Werk einnehmen sollte. Zum ursprünglich in Bezug auf ethische Sätze entwickelten Nonkognitivismus vgl. Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2003, S. 40–53. − In jüngerer Zeit wurde aus pragmatischer bzw. sprechakttheoretischer Perspektive sogar dafür argumentiert, dass alle (literaturwissenschaftlichen) Interpretationen implizit Wissensansprüche erheben. Nach Zabka, „Interpretationsverhältnisse entfalten“, vgl. insb. S. 55–58, hier S. 58, erhebt jede „literaturwissenschaftliche Interpretation“ „den Anspruch konstativer Wahrheit“. Nach Vandevelde gilt für Interpreten nicht nur: „they implicitly accept that their interpretation will be tested for its validity […]“ (Pol Vandevelde, „A Pragmatic Critic of Pluralism in Text Interpretation“, in: Metaphilosophy, 36/2005, S. 501–521, hier S. 505). Darüber hinaus verpflichte ein „claim to rightness“ den Interpreten sogar implizit dazu, seine Wissensansprüche nicht nur vor speziellen Interpretationsgemeinschaften, sondern vor jedem Publikum (any audience) zu rechtfertigen (vgl. ebd., S. 517 f.).  

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sollte und – als zusätzliches bedeutungskonzeptionsexternes Kriterium – dass sie das Werk für das heutige Publikum ästhetisch möglichst wertvoll machen sollte. Gesetzt den Fall, es gibt mehrere gleich gut begründete, sich widersprechende Hypothesen über die Autorintention, wird der Interpret diejenige behaupten, die den ästhetischen Wert des Werks maximiert. Entscheidend ist jedoch, dass eine Validierung der Interpretation lediglich das bedeutungskonzeptionsinterne Kriterium zu berücksichtigen hat, da die Behauptbarkeit der Interpretation ausschließlich an die Bedeutungskonzeption bzw. das Erkenntnisinteresse gebunden ist. So würden neu auftauchende Belegstücke, die die bisher favorisierte Hypothese über die Autorintention einwandfrei widerlegen, es dem Interpreten unmöglich machen, seine bisherige Interpretation weiterhin zu behaupten.27 Welches sind nun die Konsequenzen dieser interpretationstypologischen Überlegungen für die Validierung interpretativer Sätze? Erstens, der Pluralismus in Bezug auf die illokutionäre Rolle kann im Folgenden vernachlässigt werden. Denn die Frage nach der Bestätigung von interpretativen Sätzen stellt sich nur, wenn diese assertiven, d.h. behauptenden Charakter haben. Dies ist unter anderem in allen Interpretationen der Fall, in denen sie in argumentativen Zusammenhängen auftauchen. Zweitens können bedeutungskonzeptionsexterne Kriterien zur Wahl von interpretativen Sätzen vernachlässigt werden, da, wie gesehen, für die Bestätigung lediglich die Bedeutungskonzeption ausschlaggebend ist. Der Kern des sogenannten Zielpluralismus von Interpretationen für die Bestätigungsproblematik interpretativer Sätze besteht also im Bedeutungskonzeptionspluralismus. Interpretative Sätze lassen sich nur unter Bezug auf eine Bedeutungskonzeption validieren. Dabei besteht folgende zusätzliche Schwierigkeit: Während eine Interpretation die Bedeutungskonzeption, nach der sie verfährt, idealiter offenlegt bzw. sie aus ihr rekonstruiert werden kann, lässt sich an isoliert, ohne Bezugsinterpretation auftretenden interpretativen Sätzen nicht ablesen, gemäß welcher Bedeutungskonzeption sie zu validieren sind. Damit stellt sich die in der Forschung bisher selten explizit diskutierte Frage der argumentativen Begründung der Wahl einer bestimmten Bedeutungskonzeption bzw. eines Interpretationsziels.28 In der Forschung finden sich denoch verschiedene Argumentationsmuster, die zu einer Einschränkung der Wahl von Bedeutungskonzeptionen führen sollen. Rekurrent sind hier nicht im Einzelnen

27 Vgl. Stecker, Artworks, S. 126–128. Stattdessen könnte er das bedeutungskonzeptionsabhängige Kriterium fallen lassen und seine Interpretation in eine mit direktivem Charakter umwandeln. 28 Vgl. jedoch die Überlegungen in: Carlshamre, „Some Metareflections“, S. 172–177; auch Gracia, „Relativism“, S. 58 f.  

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zu erläuternde Analogieargumente bezüglich mündlicher Äußerungen,29 kontextualistische Argumente (z.B. Anforderungen des Kontexts Wissenschaft),30 auf die Eigenheiten des Gegenstands Literatur abhebende Argumente (zugunsten einer wertmaximierenden Bedeutungskonzeption)31 sowie Intuitionsargumente.32 Sofern diese Argumente überhaupt stichhaltig sind, erlauben sie es – selbst in Kombination – nicht, eine bestimmte Bedeutungskonzeption vor allen anderen auszuzeichnen. Dies hat unterschiedliche Gründe. Einige Argumente selegieren nur Klassen von Bedeutungskonzeptionen und manche haben eine beschränkte ‚Reichweite‘, wie das Intuitionsargument, das lediglich für eine basale semantische Ebene historische Bedeutungskonzeptionen auszeichnet. Die Validierung interpretativer Sätze muss also immer eine zu einem gewissen Grad kontingent gewählte Bedeutungskonzeption voraussetzen. Interpretative Sätze sind demnach elliptisch. Obwohl wir wohl in den seltensten Fällen die Ergänzung „gemäß der Bedeutungskonzeption B“ mitdenken, wenn wir einen interpretativen Satz behaupten, wären wir auf Nachfrage gezwungen, diese Ergänzung vorzunehmen.

IV Vorbehalte gegenüber der Unterscheidung von Beschreibung und Interpretation Die Vorstellung, dass Beschreibungen eine wesentliche Rolle bei der Bestätigung von Interpretationen zukommen könnte, begegnet heutzutage häufig zwei grundlegenden Vorbehalten. Erstens scheint eine Analyse tatsächlich stattfindender Interpretationsprozesse eine Dynamik zu offenbaren, in der unkontroverse Beschreibungen nicht vorkommen. Der Erfolg des Topos ‚hermeneutischer Zirkel‘ dürfte nicht zuletzt auf dem Eindruck beruhen, dass im Laufe von Interpretationsprozessen im Vergleich mit anderen kognitiven Anstrengungen in besonderem Maße vermeintlich gesicherte Annahmen korrigiert oder verworfen werden:

29 Vgl. etwa Stecker, Artworks, S. 163–166. 30 Vgl. u.a. Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, „Ein Rahmenkonzept zur (Re-)Konstruktion und Evaluation von Vorschlägen zur wissenschaftlichen Fundierung der Literaturwissenschaft“, in: Achim Eschbach/Wendelin Rader (Hrsg.), Literatursemiotik I. Methoden − Analysen − Tendenzen, Tübingen 1980, S. 17–38, hier S. 29; E. D. Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven, London 1971. Zu Hirschs Argument vgl. die Debatte: Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, „On Justifying the Choice of Interpretative Theories“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 43/ 1984, S. 7–16; E. D. Hirsch, „On Justifying Interpretative Norms“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 43/1984, S. 89–91. 31 Vgl. Lamarque, „Appreciation“. 32 Vgl. Reicher, „Einleitung“, S. 18 und ebd., Anm. 15.

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Our interpretation of the words and sentences is influenced by our interpretation of the whole work, but the interpretation of the whole work depends of course on the interpretation of the individual parts, so that we often have to go for a long time back and forth between whole and part before we arrive at a ‚reflective equilibrium‘, that is, a satisfactory interpretation, where the interpretation of the whole and the interpretation of the parts fit in with one another. This movement back and forth, which is so conspicuous in the humanities and the social sciences, is what is usually called the ‚hermeneutic circle‘. It is particularly striking in the humanities, but as we noted, we find it in the natural sciences as well.33

Ob diese Analyse von empirisch ablaufenden Interpretationsprozessen richtig ist, sei dahingestellt, wesentlich ist jedoch, dass die sich aus ihr ergebenden Vorbehalte gegen den Beschreibungsbegriff nicht die Rechtfertigung von Interpretationen bzw. interpretativen Sätzen, sondern lediglich ihre Entdeckung betreffen. Eine bestätigungstheoretische Verwendung des Beschreibungsbegriffs, wie sie hier infrage steht, wird also von diesem Einwand nicht getroffen. Der zweite Vorbehalt gegenüber dem Beschreibungsbegriff ist ein wissenschaftstheoretischer und betrifft explizit die Rechtfertigungslogik. Nachdem das Projekt des Wiener Kreises, die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften auf sogenannte theoriefreie „Protokoll- bzw. Beobachtungssätze“ zurückzuführen, sowohl im Wiener Kreis selbst als auch durch ihm nahestehende Philosophen, besonders Willard O. Quine, nachhaltig kritisiert worden ist,34 gehört die Formel von der Theorieimprägniertheit der Beobachtung bzw. Beschreibung zum Allgemeingut der Wissenschaftstheorie. Da dem Programm des Wiener Kreises verwandte Vorstellungen, etwa die Rückführung interpretativer Sätze auf Beobachtungssätze über zeichenähnliche Formen, in der Literaturwissenschaft von jeher Seltenheitswert hatten, lässt sich diese Formel nur wie die sprichwörtliche Eule nach Athen in die Literaturwissenschaft tragen. Wenn die Rede von der Theorieimprägniertheit dennoch in die interpretationstheoretische Fachliteratur Eingang

33 Dagfinn Føllesdal, „The Hypothetico-deductive Method“, in: Dialectica, 33/1979, S. 319–336, hier S. 332. Der Begriff „reflective equilibrium“ stammt von John Rawls, A Theory of Justice, Harvard 1999, S. 18 und 42–45. 34 Vgl. u.a. Rudolf Carnap, „Über Protokollsätze“, in: Erkenntnis, 3/1932, S. 215–228; Otto Neurath, „Protokollsätze“, in: Erkenntnis, 3/1932, S. 204–214 und Willard O. Quine, „Two Dogmas of Empiricism“, in: The Philosophical Review, 60/1951, S. 20–43. Quines epochemachender Aufsatz kritisiert den Reduktionismus, also die Auffassung, dass die Verifikation komplexerer Sätze durch Reduktion auf Protokollsätze erfolgt, und die analytisch-synthetisch-Unterscheidung als zwei an der Wurzel identische Dogmen. Dabei nimmt Quine zum einen an, analytische Aussagen seien durch keine Erfahrung revidierbar, also der Grenzfall der Falsifikation. Zum anderen argumentiert er, da einzelnen Sätzen keine Erfahrungen eindeutig entsprächen (bestätigungstheoretischer Holismus), folge, die Verifikationstheorie der Bedeutung vorausgesetzt, auch ein semantischer Holismus, demzufolge es keine analytischen Sätze gibt.

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gefunden hat, dann weil mit ihr nicht selten weitergehende Wissensansprüche, etwa die Erschaffung des Werks durch den Interpreten, verbunden werden.35 Die Theorieimprägniertheit der Beschreibung bzw. der korrespondierende bestätigungstheoretische Holismus, demzufolge alle Sätze inklusive der deskriptiven prinzipiell fallibel sind und verworfen werden können, bedeutet jedoch nicht, dass der Beschreibungsbegriff sinnlos wird. Denn es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass unter den Bedingungen des bestätigungstheoretischen Holismus alle Sätze den gleichen Status bei der Bestätigung von Hypothesen haben.36 Vielmehr gibt es revisionsresistente und revisionsaffine Sätze. Dementsprechend spiegelt sich in interpretationstheoretischen Überlegungen unterschiedlichster Natur die Tatsache wider, dass Bedeutungszuweisungen an ein Werk sehr unterschiedlich voraussetzungsreich sein können.37 Die Unterscheidung von Beschreibung und Interpretation scheint dafür geeignet, besonders gravierende Unter-

35 Vielleicht das bekannteste Beispiel dafür ist Arthur C. Danto, der unter explizitem Bezug auf die Theorieimprägniertheit der Beobachtung (vgl. Ders. [Hrsg.], The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge [MA] 1981, S. 124) behauptet: „[…] [T]he structure of the work, the system of artistic identifications, undergoes transformation, in accordance with differences in interpretation.“ (Ebd., S. 120) Eine genauere Analyse von Dantos Ausführungen, die hier aufgrund ihrer Orientierung an Bildender Kunst nur angedeutet wird, ergibt, dass er drei verschiedene Thesen vertritt: (a) Je nach Interpretation werden verschiedene Aspekte eines Werks beschrieben. (b) Je nach Interpretation sind andere Beschreibungen des Werks bestätigungsrelevant. (c) Es sind Fälle denkbar, in denen zwei Interpretationen des gleichen Werks keine einzige deskriptive Aussage teilen würden. 36 Von einem „holistischen Charakter von Begründungsstrukturen“ der einer „Interpretationshandlung zugrunde liegenden Überzeugungen“ gehen auch Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 8 f., aus. Es wird allerdings nicht ganz deutlich, ob ein bestätigungstheoretischer Holismus oder ein Holismus zur Bewertung von Handlungen anhand all ihrer Konsequenzen gemeint ist. 37 Vgl. die Unterscheidung von „explication“, „elucidation“ und „interpretation“ in Monroe C. Beardsley, Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism. 2. Aufl., Indianapolis 1981; die „Verkettungen“ von Denotations-, Exemplifikations- und Analogierelationen, „auf die sich jede Bedeutungszuschreibung an einen Text zurückführen“ lasse, in Lutz Danneberg/Carlos Spoerhase, „Wissen in Literatur als Herausforderung einer Pragmatik von Wissenszuschreibungen: Sechs Problemfelder, sechs Fragen und zwölf Thesen“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin, New York 2011, S. 29–76, hier S. 66; die „hierarchy of interpretative descriptions“ in Olsen, The Structure, bes. S. 94 f., hier S. 91; das Sechs-Stufen-Modell der Interpretation in Strube, Analytische Philosophie, S. 97–112; die Unterscheidung von „Erst- und Zweitbedeutung“ in Thomas Zabka, Pragmatik der Literaturinterpretation. Theoretische Grundlagen – kritische Analysen, Tübingen 2005, S. 25–38, sowie die Unterscheidung verschiedener „Ebenen der Literaturinterpretation“ in Zabka, „Interpretationsverhältnisse entfalten“, S. 58–62.  



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schiede dieser Art einzufangen und sie einer Erhellung der Bestätigung von Bedeutungszuweisungen zuzuführen.

V Vier Arten eines Unterscheidungskriteriums zwischen Beschreibung und Interpretation Die Aufgabe, ein praktikables Kriterium der Abgrenzung von Beschreibung und Interpretation zu entwickeln, lässt sich in zwei Teilprobleme unterteilen, erstens überhaupt ein anwendbares und einigermaßen trennscharfes Kriterium zu benennen und zweitens ein Kriterium zu benennen, das möglichst bestätigungsrelevante Beschreibungen kreiert. Dies soll anhand einer kurzen Diskussion zweier von Tom Kindt und HansHarald Müller unterschiedener Hauptauffassungen hinsichtlich der Extension von „Beschreibung“ im Unterschied zur „Interpretation“ näher ausgeführt werden.38 Nach der ersten Auffassung betreffen Beschreibungen ausschließlich die syntaktische Verfasstheit eines Textes, d.h. eine Analyse des Auftretens bestimmter Zeichen und ihrer formalen Beziehungen in einem Text, jedoch keinerlei Formen der Bedeutungszuweisung. Nach der zweiten Auffassung betrifft die Beschreibung eines Textes neben syntaktischen auch semantische Eigenschaften, die aufgrund eines „intersubjektiv geteilte[n] kulturelle[n] Wissen[s]“39 bestimmt werden.40 Die erste Auffassung liefert ein trennscharfes Unterscheidungskriterium, jedoch einen eindeutig zu engen, weil zu wenig interpretationsdifferenzierenden Beschreibungsbegriff. Selbst eine allumfassende syntaktische Beschreibung eines Textes ist zu wenig bestätigungsrelevant und lässt eine Unzahl konkurrierender interpretativer Sätze bzw. Interpretationen zu.41 Die daher zu favorisierende zweite Auffassung kann verschieden ausgestaltet werden, je nachdem welches

38 Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Wieviel Interpretationen enthalten Beschreibungen?“, in: Jannidis [u.a.] (Hrsg.), Regeln der Bedeutung, S. 286–304, hier S. 288–290. 39 Ebd., S. 289. 40 Eine vergleichbare Unterscheidung zweier Beschreibungstypen ist die zwischen makrophysikalische Eigenschaften des Textes betreffenden Beschreibungen, die „gegenüber den Textinterpretationen […] invariant“ sind, einerseits, und denen, die auf „vorangegangenen Interpretationen des jeweiligen Textes“, etwa dem Aufbau einer Textwelt beruhen, andererseits. Vgl. Lutz Danneberg, „Beschreibungen in den textinterpretierenden Wissenschaften“, in: Rüdiger Inhetveen/Rolf Kötter (Hrsg.), Betrachten – Beobachten – Beschreiben: Beschreibungen in Kultur- und Naturwissenschaften, München 1996, S. 193–224, hier S. 208–216, Zitate aus S. 212 und 215. 41 Einen Eindruck davon, welche Art von Hypothesen sich mit nicht-semantischen Beschreibungen überprüfen lassen, vermittelt: Donald Ross, „Stylistics and the Testing of Literary Hypotheses“, in: Poetics, 7/1978, S. 389–416.

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Unterscheidungskriterium zwischen beschreibenden und interpretierenden Bedeutungszuweisungen benannt wird. Unabhängig vom gewählten Unterscheidungskriterium bedarf es hier einer terminologischen Präzisierung. Da interpretative Sätze eingangs als satzförmige Bedeutungszuweisungen definiert worden sind, ist an dieser Stelle zwischen interpretativen Sätzen im weiteren Sinn und interpretativen Sätzen im engeren Sinn zu unterscheiden. Die Menge der interpretativen Sätze im weiteren Sinn umfasst dann die deskriptiven Sätze einerseits und die interpretativen Sätze im engeren Sinn andererseits. Was immer das Unterscheidungskriterium zwischen deskriptiven Sätzen und interpretativen Sätzen im engeren Sinn ist, es teilt die Menge der interpretativen Sätze im weiteren Sinne disjunkt. Semantische Beschreibungsbegriffe kämpfen mit widersprüchlichen Anforderungen, zwischen denen ein Optimum zu finden ist: Je semantisch gehaltvoller die Beschreibung ist, desto gefährdeter scheint die für ihre intendierte Kontrollfunktion der Interpretation notwendige Intersubjektivität, je unkontroverser ihre semantischen Inhalte sind, desto bestätigungsirrelevanter ist sie.42 Grundsätzlich lassen sich verschiedene Arten eines Unterscheidungskriteriums in Anschlag bringen, die im Anschluss skizziert und diskutiert werden sollen: (a) Inhaltliches Kriterium: Welche Gegenstände bzw. welche Klassen von Gegenständen betreffen die deskriptiven Sätze? (b) Inferenzkriterium: Durch welche Schlüsse bzw. Verfahren werden die Sätze gewonnen? (c) Akzeptanzkriterium: Welchen Rechtfertigungsstatus genießen die deskriptiven Sätze in einer interpretatorischen Gemeinschaft? (d) Epistemisch-methodisches Kriterium: Welches Wissen wird wie verwandt, um die deskriptiven Sätze zu rechtfertigen? Ad (a): Wenig aussichtsreich ist es, deskriptive Sätze durch ihren Gegenstand bzw. ihre Gegenstandsklasse auszuzeichnen. Gegen Vorschläge, die deskriptive Sätze als Sätze zu bestimmen suchen, die etwa den Plot oder Figuren und ihre Eigenschaften betreffen, lassen sich stets Gegenbeispiele vorbringen.43 Selbst die Beschreibung der „Sprache“ bzw. des Stils literarischer Werke, vielleicht noch der plausibelste Kandidat für ein thematisches Beschreibungskriterium, ist nicht

42 Dies spiegelt sich auch in der Forschungsliteratur wider, wo das „Ausmaß der Kontrollmöglichkeiten von Deskriptionen“ mit der „Extension, die dem Beschreibungsbegriff zugeschrieben wird“, korreliert. Vgl. Kindt/Müller, „Wieviel Interpretationen“, S. 299. 43 Für eine überzeugende Kritik solcher Vorschläge von Morris Weitz, Hamlet and the Philosophy of Literary Criticism, Chicago 1964, und Joseph Margolis, The Language of Art and Art Criticism, Detroit 1965, vgl. John F. Reichert, „Description and Interpretation in Literary Criticism“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 27/1969, S. 281–292, hier S. 281–284.

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gegen Kontroversen gefeit, da nicht wenige der in Stilanalysen verwandten Begriffe, etwa Akrostichon, Hyperbel, Metapher oder Synekdoche, Bedeutungszuweisungen voraussetzen. Wenn man Stilanalysen infolgedessen auf rein formale Texteigenschaften beschränkt, so handelt es sich um eine Neuauflage des syntaktischen Unterscheidungskriteriums, das, wie gesagt, deutlich zu wenig bestätigungsrelevante Beschreibungen liefert. Jedenfalls nominell lässt sich auch die von Peter Tepe entwickelte „Kognitive Hermeneutik“ dem inhaltlichen Kriterium zuordnen, insofern sich die „BasisAnalyse“ genannte Beschreibung von der „Basis-Interpretation“ durch die jeweiligen Fragen, die sie zu beantworten trachten, unterscheidet. Während die BasisAnalyse untersucht, „wie der Text beschaffen ist“, vor allem, „was in der Textwelt geschieht“, beantwortet die „Basis-Interpretation“ die Frage: „Wie kommt es, dass der Text so ist, wie er ist?“44 Eine genaue Lektüre zeigt jedoch, dass dieses Kriterium allein Tepe selbst offenbar ungenügend scheint, insofern er sowohl ein methodisches Kriterium als auch ein Akzeptanzkriterium verwendet.45 Diese beiden Kriterientypen sind nun näher zu beschreiben. Ad (b): Nach einer verbreiteten Vorstellung zur Unterscheidung von Beschreibung und Interpretation sind Beschreibungen das, was man direkt an einem Werk ‚sieht‘ oder ‚ablesen‘ kann, was nicht erschlossen werden muss.46 Während

44 Zitate aus: Peter Tepe, Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Mit einem Ergänzungsband auf CD, Würzburg 2007, S. 54, 55 und 56. Zum Begriff der „Textwelt“, der weitestgehend dem herkömmlichen Begriff der „fiktiven Welt“ zu entsprechen scheint, vgl. ebd., S. 52–54. 45 Ein methodisches Kriterium scheint implizit am Werk, wenn Tepe schreibt, dass das zur Beschreibung der Textwelt notwendige „Bilden von Schlussfolgerungen […] über die rein beschreibende Tätigkeit hinaus[geht]“ und „als eine elementare Form der Interpretation bezeichnet“ werden kann (ebd., S. 55). Ein Akzeptanzkriterium, das auf die Unstrittigkeit bestimmter Aussagen abhebt, scheint am Werk, wenn sich Tepe in der Auseinandersetzung mit Kindt/Müller, „Wieviel Interpretationen“, den Vertretern eines „erweiterten Beschreibungsbegriffs“ anschließt, dem zufolge es auf der Basis eines „interkulturell geteilte[n] Wissen[s]“ möglich sei, „sich zumindest über Teile der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken mit ähnlicher Verbindlichkeit zu äußern – und mithin zu verständigen − wie über einige Aspekte der Beschaffenheit von ‚natürlichen‘ Gegenständen“ (Hervorhebung von mir): „Die Fähigkeit zu erkennen, dass in der Textwelt bestimmte Figuren leben, dass sie bestimmte Eigenschaften haben und dass in der Textwelt dieses und jenes geschieht, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Fähigkeit zu erkennen, dass reale Personen bestimmte Eigenschaften haben und dass in der realen Welt dieses und jenes geschieht.“ (Ebd., CD-Ergänzung 10, S. 1) Zur Verschränkung von Beschreibung und Interpretation vgl. auch Jürgen Rauter/Tanja Semlow/Peter Tepe, Interpretationskonflikte am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns ‚Der Sandmann‘, Würzburg 2009, bes. S. 60. 46 Vgl. Alan H. Goldman, „Interpreting Art and Literature“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 48/1990, S. 205–214, hier S. 205 f.: „The distinction lies first of all between directly  

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Interpretationen einen beträchtlichen kognitiven Aufwand erfordern, sind Beschreibungen das Ergebnis bloßer Lektüre, d.h. eines amethodischen Umgangs mit dem Werk. Es ist jedoch relativ offensichtlich, dass dieses Kriterium nicht trennscharf ist, da von Interpret zu Interpret unterschiedlich ist, was erst mühselig unter der Berücksichtigung von Hintergrundwissen erschlossen werden muss und was nicht; professionelle Interpreten ‚sehen‘ mehr als Laien.47 Bekannt ist auch das Phänomen, dass man nach der Internalisierung entsprechenden Hintergrundwissens am Text ‚ablesen‘ kann, was vorher lediglich eine Interpretationshypothese schien. Die entscheidende Schwäche dieser Unterscheidung besteht darin, dass sie auf einer nur aus der Perspektive der ersten Person zu treffenden Unterscheidung zwischen bewussten und unbewusst ablaufenden Inferenzprozessen beruht. Ad (c): Einen auf den ersten Blick faszinierend einfachen Vorschlag stellt das Akzeptanzkriterium dar: Deskriptive Sätze sind solche, die innerhalb einer interpretatorischen Gemeinschaft bzw. in einer Forschungsdiskussion anerkannt werden.48 Vertreten wird eine solche Auffassung etwa von Wolfgang Stegmüller in seinem sehr lesenswerten Aufsatz zum hermeneutischen Zirkel. Nachdem er

perceiving and inferring.“ Goldman kombiniert dieses Kriterium jedoch mit einem Akzeptanzkriterium: „Elements and properties of artworks that can be described without being interpreted are those whose direct perception elicits (nearly) universally accepted descriptions.“ (Ebd.) – Auch der Vorschlag von Joseph Margolis, „Describing and Interpreting Works of Art“, in: Francis J. Coleman (Hrsg.), Contemporary Studies in Aesthetics, New York [u.a.] 1968, S. 176–191, hier bes. S. 180, lässt sich dem methodischen Kriterium zuordnen. Der Gegensatz von Beschreiben und Interpretieren sei der zwischen „inspection“ einerseits und einer vom Interpret „virtuosity“ erfordernden „performance“ andererseits. (Gegenüber Margolis, The Language, hat Margolis seine Position substanziellen Änderungen unterworfen.) 47 So auch Goldman, „Interpreting Art“, S. 206. 48 Hierunter lässt sich auch die Auffassung von Robert J. Matthews, „Describing and Interpreting a Work of Art“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 36/1977/1978, S. 5–14, hier S. 5–10, subsumieren, dass Beschreibung gegenüber Interpretation aufgrund einer konversationellen Implikatur („Es ist der Fall, dass p“ implikatiere, dass der jeweilige Sprecher weiß, dass p) eine stärkere epistemische Position voraussetzt. Dass die Beurteilung der Stärke einer epistemischen Position immer in einer epistemischen bzw. interpretatorischen Gemeinschaft erfolgt, macht schon Matthews’ Paradebeispiel, die Diskussion um Henry James’ „The Turn of the Screw“ deutlich, in der die von einem Interpreten im Hinblick auf die fiktive Welt behauptete Realität der Geister von anderen Interpreten als interpretativ bzw. spekulativ angesehen wurde (vgl. ebd., S. 6). Terminologisch ist hier besondere Sorgfalt angebracht, denn obwohl Matthews selbst sein Kriterium als „epistemic“ bezeichnet, ist es nicht epistemisch in dem Sinn, der unter (d) entfaltet wird, also nach dem zur Rechtfertigung der deskriptiven bzw. interpretativen Sätze verwandten Wissen. Im entscheidenden Punkt nicht überzeugen kann die Kritik von Michael Hancher, der Beispiele nicht gegen die These vorbringt, dass „Ich beschreibe, dass p“ eine starke epistemische Position voraussetzt, sondern gegen die These, dass „Ich interpretiere, dass p“ eine schwache Position voraussetzt.

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verschiedene, keineswegs nur für die Geisteswissenschaften spezifische Dilemmata, die der oft unexplizierte Begriff „hermeneutischer Zirkel“ bezeichnen kann, unterschieden hat,49 wendet er sich dem „Dilemma der Unterscheidung von Fakten und Hintergrundwissen“ zu. Dabei argumentiert er, dass dem hermeneutischen Zirkel durchaus eine phänomenologische Plausibilität zukommt, insofern Interpreten oft den Eindruck, haben, ihre Hypothese einfach aus dem Text abzulesen bzw. sie in dem Text zu sehen, weil sie eine große Menge von Hintergrundwissen unbewusst applizieren. Jedoch ändere das nichts daran, daß hier kein logischer Zirkel vorliegt und eine Diskussion über H [die Hypothese] in durchaus vernünftiger Weise geführt werden kann. Um das Letztere zu ermöglichen, muß das ‚Hinüberfließen von O [Oberhypothesen bzw. Hintergrundwissen] in E [die empirischen Daten]‘, so weit wieder rückgängig gemacht werden, daß nur mehr die von beiden Diskussionspartnern anerkannten Hypothesen in E verbleiben, während alles Übrige in das jetzt wieder problematisch gewordene Hintergrundwissen ‚zurückrutscht‘. Dabei wird dann auch die Hypothese H, die vorher bereits ‚von E verschluckt‘ worden war, wieder als solche sichtbar.50

Die zugrunde liegende Idee ist also eine auf „bestimmte Problemdiskussion[en] relativiert[e]“51 Beschreibungskonzeption, d.h., was als Beschreibung gilt, wird relativ zu einer Menge faktisch vorliegender Interpretationen bestimmt. Deskriptiv wären die Sätze über den Text, die alle Interpretationen bzw. die entsprechenden Interpreten auf Nachfrage anerkennen würden. Die Probleme dieses Vorschlags liegen gerade angesichts der heutigen Situation in den Textwissenschaften, in denen unterschiedliche Ansätze bzw. Schulen des Umgangs mit literarischen Texten nebeneinander existieren, auf der Hand. Solange man nur Werkinterpretationen des gleichen Ansatzes berücksichtigt, wird die Beschreibung präsumtiv eine nicht geringe Menge an Sätze enthalten, die für Interpreten anderer Ansätze äußerst kontrovers sind. Die Effektivität eines solchen Beschreibungsbegriffs hängt also von dem Maße ab, in dem ansatzüber-

Vgl. Michael Hancher, „Describing and Interpreting as Speech Acts“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 36/1977/78, S. 483−485, hier S. 484. 49 Im Einzelnen sind das das eigensprachliche Interpretationsdilemma, das fremdsprachliche Interpretationsdilemma, das Problem des theoretischen Zirkels, das Dilemma der Standortgebundenheit des Betrachters und das Bestätigungsdilemma. Vgl. Wolfgang Stegmüller, „Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe und Quasar 3 C 273. Betrachtungen zum sogenannten Zirkel des Verstehens und zur sogenannten Theoriebeladenheit der Beobachtungen“, in: Ders., Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart 1986, S. 27–86. 50 Ebd., S. 74. 51 Ebd., S. 80.

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greifende Interpretationsdiskussionen berücksichtigt werden. In diese Richtung geht der Vorschlag von Tom Kindt und Hans-Harald Müller, der als eine subtile Variante des Akzeptanzkriteriums rekonstruiert werden kann. Der Vorschlag besteht im Kriterium ‚interpretationstheoretischer Neutralität‘: Begriffe sind genau dann als ‚neutral‘ im Hinblick auf Auslegungsrichtungen zu charakterisieren, wenn ihre Verwendung insofern von der Wahl eines spezifischen Interpretationsansatzes unabhängig ist, als sie keine Festlegung auf eine bestimmte Bedeutungskonzeption voraussetzt.52

Überträgt man dieses Kriterium, das Kindt und Müller zur Einstufung nicht einzelner Sätze, sondern einzelner (insbesondere narratologischer) Begriffe vorschlagen, auf Sätze und berücksichtigt ferner die Einschränkung, dass mit „von der Wahl eines spezifischen Interpretationsansatzes unabhängig“ lediglich „nach eigenem Anspruch bzw. allgemeiner Auffassung als wissenschaftlich anzusehen [de]“53 Interpretationstheorien gemeint sind, so erhält man folgendes Kriterium: (Akz-Neutr) Eine Bedeutungszuweisung an einen Text ist dann deskriptiv, wenn sie nach allen als wissenschaftlich geltenden Bedeutungskonzeptionen akzeptabel ist.

Die Auszeichnung der Bedeutungszuweisungen, die zwar „möglicherweise als ‚Interpretationen‘, keinesfalls aber als solche eines spezifischen ‚Interpretationstyps‘ einzustufen sind“,54 umgeht die Schwierigkeit des aus Stegmüllers Überlegungen gewonnenen Kriteriums, indem es von vorneherein eine große Bandbreite von Bedeutungskonzeptionen miteinbezieht. Eine Entwertung des Kriteriums durch interpretationsschuleninterne Anwendung ist somit ausgeschlossen. Ein schwerwiegender Nachteil, den man schon gegen Stegmüllers Variante des Kriteriums erheben konnte, betrifft jedoch auch (Akz-Neutr): Sofern man die Akzeptanz eines Satzes innerhalb einer interpretatorischen Gemeinschaft nicht immer nur ex post durch Ausbleiben von Widerspruch feststellen möchte, wäre man auf die Auswertung riesiger Korpora von Interpretationen möglichst verschiedener Interpretationsansätze zu einem Werk angewiesen. Dabei stände die Auswertung selbst vor großen Schwierigkeiten, da ja nicht nur die in der jeweiligen Interpretation explizit vorgenommenen Bedeutungszuweisungen, sondern auch Präsuppositionen, Implikationen und pragmatische Implikaturen zu berücksichti-

52 Kindt/Müller, „Wieviel Interpretationen“, S. 294. 53 Ebd., S. 295. 54 Ebd., S. 294.

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gen wären, ein Vorgehen, dass selbst implizit oder explizit durch eine Bedeutungskonzeption angeleitet wird. Das Akzeptanzkriterium erweist sich also, so lässt sich festhalten, als äußerst plausibel, jedoch in beiden Varianten als nicht oder nur schwer anwendbar. Ad (d): Vorschläge eines epistemischen Kriteriums speisen ihre Plausibilität aus der Beobachtung, dass es offenbar eine ganze Reihe von Bedeutungszuweisungen gibt, die aufgrund der bloßen Sprachzuordnung eines Textes und, in einigen Fällen, aufgrund eines Wissens um historische Verwendungsweisen bestimmter Termini weitgehend unhinterfragt ablaufen.55 Solche Zuweisungen führen zu zunächst so banalen Erkenntnissen wie denen, dass der Protagonist im „Mann ohne Eigenschaften“ männlichen Geschlechts ist, dass sein Vater Mitglied des „Herrenhauses“56, also eines Teils des Parlaments von Österreich-Ungarn ist, und dass Ulrich ein „Logistiker“, also ein auf streng kalkülisierte Logik spezialisierter Wissenschaftler ist. Zu dem sprachlichen Wissen, das für das basale Verständnis literarischer Texte notwendig ist, gehört neben dem semantischen ein umfassendes pragmatisches bzw. sprechakttheoretisches Wissen; zu verstehen sind sowohl Präsuppositionen, Implikaturen nach Grice wie auch der Vollzug bzw. Bericht von Sprechakten (durch Erzähler oder Figuren) mit ihren jeweiligen Implikationen.57 Für die bisher gegebenen Beispiele ist ein sprachliches Wissen ausschlaggebend. Zum basalen Verständnis literarischer Texte ist jedoch auch ein kulturelles Wissen bzw. ein Welt- oder Lexikonwissen – diese Begriffe werden im Folgenden austauschbar verwendet – notwendig. Dabei ist es keinesfalls notwendig, 55 Dies bestreitet auch John F. Reichert nicht, der in einer Extremvariante des epistemischen Kriteriums selbst den einfachsten Bedeutungszuweisungen den Beschreibungsstatus mit der Begründung abspricht, „[they] depend logically upon other assumptions about the play.“ (Reichert, „Description and Interpretation“, S. 283). 56 Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch“, in: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, Klaus Amann/Karl Corino/Walter Fanta (Hrsg.), Klagenfurt 2009 [1930/33], hier S. 18, I.3. (Die römische Ziffer gibt hier wie im Folgenden das Buch, die unmittelbar folgende Ziffer das Kapitel an.) 57 Die Anwendbarkeit der Sprechakttheorie auf geschriebene Sprache überhaupt, geschweige denn auf fiktionale Texte ist trotz Searles Ansatz einer sprechakttheoretischen Fiktionalitätstheorie bisher weitgehend unerforscht. Dennoch scheint es für das Verständnis von Literatur wesentlich, dass Figuren entweder Sprechakte ausführen oder dass diese Sprechakte berichtet werden. Vgl. jedoch Mary L. Pratt, Toward a Speech Act Theory of Literary Discourse, Bloomington, London 1977, deren praxisbezogene Überlegungen sich allerdings großteils auf Implikaturen beschränken. Vgl. auch Sandy Peterey, Speech Acts and Literary Theory, New York [u.a.] 1990, und für die Interpretation biblischer Texte Richard Briggs, Words in Action. Speech Act Theory and Biblical Interpretation, London 2001, bes. S. 98–102.

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dass sich der Interpret dieses Wissen im Sinne eines Für-wahr-Haltens zu eigen macht; der Wissensbegriff wird hier daher in einem heuristisch-restringierten Sinn, d.h. im Sinne von in einer bestimmten epistemischen Situation gerechtfertigte Überzeugung, verwendet. Beiseite gelassen werden kann hier die schwierige, auch in der Linguistik kontrovers diskutierte Frage, inwiefern sich Sprachund Weltwissen unterscheiden. Entscheidend für die hiesigen Zwecke ist letztlich die Beschränkung des für die Interpretation legitimerweise verwendbaren Wissens, sei es Welt- oder Sprachwissen (1) und die methodische Beschränkung der Operationen mit diesem Wissen (2). Zu (1): Hier gibt es zwei Teilprobleme: Erstens die Variabilität des legitimerweise verwendbaren Wissensbestandes in Abhängigkeit von der Bedeutungskonzeption, zweitens seine aufwendige, komplexe empirische Eruierung. Während es einen Kernbereich sprachlich-historischen Wissens zu geben scheint, der unkontrovers zur Beschreibung des jeweiligen Werkes verwendet werden kann, gibt es ein spezielleres Wissen eines Randbereichs, dessen Applikation umstritten ist. Diese Randbereiche machen deutlich, dass die Frage des legitimerweise verwendbaren Wissens letztlich nicht unabhängig von einer spezifischen Bedeutungskonzeption diskutiert werden kann. Zur Illustration: Die Frage, ob man den Topos der ‚Unrettbarkeit des Ichs‘ als ein „allgemeine[s] kulturelle[s] Wissen“58 der MusilZeit ansehen soll, lässt sich in dieser Form nicht beantworten. Sie kann jedoch in Bezug auf ein personen- bzw. gruppenspezifisches Wissen beantwortet werden. So wird man dem Bildungsbürger der Weimarer Zeit ein Wissen um diesen Topos zuschreiben können, dem ‚Allerweltsleser‘ jedoch weniger. Welchen Wissensbestand man jedoch für Bedeutungszuweisungen heranzieht, betrifft einen Aspekt der Bedeutungskonzeption. Sehr schematisch zur Illustration: Im Falle einer hypothetisch-autorintentionalen Bedeutungskonzeption wird man das Wissen

58 Vgl. Michael Titzmann, Strukturale Textanalyse, 2. unver. Aufl., München 1989, S. 263–329, hier S. 324. Michael Titzmanns umfangreiche, inspirierende Überlegungen zur Relevanz kulturellen Wissens für eine strukturale Textanalyse, die durch ihren Anspruch, „intersubjektive[] interpretatorische[] Aussagen“ (ebd., S. 20) über Einzeltexte zu formulieren, gerade für die Beschreibung von Texten einschlägig sind, zielen durchweg auf eine Marginalisierung des Gewichts der Wahl einer Bedeutungskonzeption: „Aus leicht einsehbaren praktischen Gründen möchten wir nun die Legitimität interpretatorischer Verwendung kulturellen Wissens, das eines der Relevanzkriterien erfüllt, aber gruppenspezifisch ist, weder davon abhängig machen, ob es Wissen einer der Gruppen ist, die zum vom Autor intendierten Publikum gehören, noch auch davon, ob es Wissen einer der Gruppen ist, die zum faktischen Publikum gehören“ (ebd., S. 325). Zum Anspruch der strukturalistischen Position vgl. auch Oliver Jahraus, „Analyse und Interpretation. Zu Grenzen und Grenzüberschreitungen im struktural-literaturwissenschaftlichen Theorienkonzept“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 19/1994, S. 1–51, hier S. 16–19.

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eines kompetenten zeitgenössischen Lesers heranziehen, im Falle einer aktualautorintentionalen Bedeutungskonzeption das Wissen des Autors, und falls man die Bedeutung eruieren möchte, die dem Werk von dem zeitgenössischen ‚Allerweltsleser‘ zugeschrieben wurde, so ist sein (beschränktes) Wissen zugrunde zu legen. Die Unschärfe des angesprochenen Randbereichs sprachlich-kulturellen Wissens rührt zum Teil daher, dass sich das Wissen des Bildungsbürgers, des Autors und des Allerweltslesers in großen Teilen überschneiden und häufig nicht expliziert wird, welche Bedeutungskonzeption zugrunde gelegt wird. Lässt sich also die auf variablen Bedeutungskonzeptionen beruhende Unschärfe relativ leicht ausräumen, stellt einen die empirische Eruierung des genauen Umfangs des Wissens – war ‚die Unrettbarkeit des Ichs‘ nur als Topos bekannt oder kannte man gar Einzelheiten aus Machs einschlägiger Schrift Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886) und, wenn ja, welche? – vor ganz eigene Schwierigkeiten, die hier nur erwähnt werden können. Zum einen ist dies natürlich die Bildung eines Textkorpus für die Rekonstruktion dieses Wissens, zum andern aber auch die drohende Zirkularität bei der Rekonstruktion: Entweder man verlässt sich ausschließlich auf die expliziten Propositionen eines Textes, was angesichts der Anteile kulturellen Wissens, die nie oder nur höchst selten ausgesprochen werden, zu wenig scheint, oder man steht vor der Frage, welches kulturelle Wissen man bei der Rekonstruktion impliziter Propositionen voraussetzt.59 Zu (2): Die Bestimmung des Umfangs des für die Beschreibung relevanten Wissensbestands ist jedoch nur der erste Schritt zur Ausformulierung des epistemisch-methodischen Unterscheidungskriteriums. Die Bestimmung des verwendbaren Wissensbestandes ist durch eine Begrenzung der mit diesem Wissen durchführbaren Operationen zu ergänzen. Denn selbst aus einem gemäß einer Vielzahl plausibler Bedeutungskonzeptionen für den Mann ohne Eigenschaften relevanten Wissen, etwa über Walther Rathenau, lassen sich durch Verkettungen verschiedener Operationen schnell Sätze gewinnen, denen man gewiss keinen deskriptiven Charakter zusprechen wird: Die Figur Arnheim weist in wesentlichen der Öffentlichkeit bekannten Punkten signifikante Übereinstimmungen mit Walter Rathenau auf, Walter Rathenau ist der Autor des bekannten Werks Zur Mechanik des Geistes, also ist Arnheim der Autor eines Werks mit dem Titel Zur Mechanik des Geistes. Die Kardinalfrage ist also die methodische Frage, unter welchen

59 Zur korpusgestützten Rekonstruktion vgl. Michael Titzmann, „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, in: Hans Krah/Michael Titzmann (Hrsg.), Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, Passau 2006, S. 67–92, hier S. 82 f., zur drohenden Zirkularität ebd., S. 90, und Danneberg, „Interpretation: Kontextbildung“, S. 100 f.  



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Umständen und in welcher Weise das relevante Wissen verwendet werden darf, um zu deskriptiven Sätzen über den Text bzw. die fiktive Welt zu gelangen. Ergebnis der Untersuchung der vier Arten eines Unterscheidungskriteriums zwischen Beschreibung und Interpretation ist es, dass lediglich das Akzeptanzkriterium und das epistemisch-methodische Kriterium plausibel sind. Das Akzeptanzkriterium ist jedoch wenig praktikabel. Aussichtsreich aufgrund seiner variablen Ausgestaltbarkeit ist das epistemisch-methodische Kriterium.

VI Beschreibungen der fiktiven Welt Im Folgenden soll versucht werden, ein epistemisch-methodisches Kriterium zu modellieren, das im Fall fiktionaler Werke eine Teilmenge der deskriptiven Sätze auszeichnet, die besonders bestätigungsrelevant sind: die Menge der deskriptiven Sätze, die die fiktive Welt betreffen.60 Es bietet sich an, hierbei an die Debatte um explizite und implizite fiktionale Wahrheiten anzuknüpfen.61 Wie nur selten erläutert wird, handelt es sich bei den hier diskutierten Prinzipien ihrer Generierung um „eine Ausformulierung textanalytischer und interpretatorischer Operationen für die Betrachtungs-Ebene der Geschichte einer Erzählung“.62 Die Grundlage dieser Diskussion bilden unsere Intuitionen darüber, was eine unkontroverse Beschreibung der fiktiven Welt ist, was also unkontrovers fiktional wahr ist und was eine Hypothese über die fiktive Welt ist. Die Prinzipien der Generierung fiktionaler Wahrheiten werden nahezu ausschließlich durch das Vorbringen von realen oder imaginierten Beispielen fiktionaler Werke diskutiert. Ein Beispiel gilt dann als Argument gegen ein vorgeschlagenes Prinzip, wenn das Prinzip entweder fiktionale Sätze generiert, die intuitiv nicht wahr sind, oder

60 „[…] if we cannot agree about what is going on in the story, we shall hardly agree about other matters. Conversely, an argument about symbols or genres that is not reflected in the least disagreement at the level of what is fictional seems an excellent candidate for being a spurious or at least unresolvable dispute.“ (Gregory Currie, „Interpretation and Objectivity“, in: Mind, 102/ 1993, S. 413–428, hier S. 414). 61 Zurück geht diese Unterscheidung auf Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge (MA) [u.a.] 1990, S. 140–144, der von primären (primary) und implizierten (implied) Wahrheiten spricht. 62 Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, S. 90. Waltons Auffassung scheint in eine ähnliche Richtung zu gehen, wenn er sein Ziel als „clarifying the principles on which conflicting interpretative claims rest“ beschreibt (Walton, Mimesis, S. 138). Im Gegensatz dazu: Alexander J. Bareis, „Was ist wahr in der Fiktion?“, in: Scientia Poetica, 13/2009, S. 230–254, hier S. 237.

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wenn es fiktionale Wahrheiten gibt, die das Prinzip nicht abdeckt.63 Auch wenn es äußerst unwahrscheinlich scheint, dass sich ein allgemeines Prinzip finden lässt, das alle impliziten fiktionalen Wahrheiten in allen Fällen generiert,64 schließt dies jedoch nicht aus, dass es mehrere Prinzipien gibt, die gemeinsam für eine Vielzahl fiktionaler Werke eine große Anzahl fiktionaler Wahrheiten generieren. Mein Vorschlag zur Verknüpfung der Debatte um fiktionale Wahrheiten mit der Debatte um Beschreibung und Interpretation besteht darin, Prinzipien bzw. Regeln zur Gewinnung deskriptiver Sätze – d.h. die methodische Komponente des Unterscheidungskriteriums – durch Systematisierung unserer Intuitionen darüber, was in den fiktiven Welten verschiedenster fiktionaler Werke im Einzelnen unkontrovers der Fall ist, zu gewinnen. Dieser Vorschlag ruft wahrscheinlich zwei als Fragen formulierbare Einwände hervor: Erstens, wenn man ohnehin durch Intuition weiß, was fiktional wahr ist und was nicht, wozu bemüht man sich dann überhaupt um ein Kriterium zur Unterscheidung von Beschreibung und Interpretation in Bezug auf die fiktive Welt? Dieser Einwand übersieht jedoch, dass die Abfrage von Intuitionen tendenziell unzuverlässig wird, wenn ihr Ergebnis relevant für weitere interpretatorische oder ästhetische Fragestellungen ist, und dass es Grenzfälle gibt, in denen unsere Intuitionen nicht distinkt sind. Intuitionen selbst können aus diesen Gründen kein Kriterium zur Auszeichnung deskriptiver Sätze sein. Vielmehr ist es notwendig, unsere Intuitionen, denen präsumtiv ein systematisches Muster zugrunde liegt, durch intersubjektiv ausweisbare Prinzipien zur Generierung deskriptiver Sätze abzubilden. Intuitionen haben insofern nur eine Korrektivfunktion bei der Entdeckung von Prinzipien zur Generierung deskriptiver Sätze. Zweitens, warum gelten diese mithilfe von Intuitionen zu eruierenden Prinzipien? Eine sehr verkürzte Antwort auf diese hier nicht in extenso diskutierbare, weitreichende Frage lautet: weil sie unsere Praxis im Umgang mit fiktionalen Werken abbilden.65 Dies führt offensichtlich zu einer grundlegenden Frage der

63 Exemplarisch für dieses Vorgehen ist etwa die folgende Argumentation: „So (1) [= Lewis’ reality principle] has it that it is true in the story that Gladstone is immoral – assuming he in fact was. But this is not intuitively true in our Victorian novel […].“ (Gregory Currie, The Nature of Fiction, Cambridge [MA] [u.a.] 1990, S. 66, Hervorhebung des Verf.). Vgl. auch: „I think it clear that Lewis thinks of his theory as a piece of conceptual analysis, which is ultimately about the reading habits of fiction readers. He explicitly says that analyses 1 and 2 may both be correct for different groups of readers.“ (Staffan Carlshamre, Truth in (of) Fiction, 2004, http://www.phil.gu. se/posters/festskrift/festskrift_carlshamre.pdf [Stand: 07.10.2010], S. 10). 64 Vgl. Walton, Mimesis, S. 184; Zipfel, Fiktion, Fiktivität, S. 89 f. 65 Lediglich hingewiesen werden kann hier auf die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengende Frage, ob sich die in Frage stehenden Prinzipien als (vergleichsweise spezifische) Präsumtionen für fiktionale literarische Werke verstehen lassen. Zu Rechtfertigungsarten von Präsumtionen vgl.  

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Interpretationstheorie, der Frage nach dem Verhältnis von empirischer Rezeptionsforschung und normativer Interpretationstheorie,66 insofern der oben genannte Vorschlag zur Gewinnung der methodischen Komponente des epistemischmethodischen Kriteriums darauf hinausläuft, basale Züge der Rezeption fiktionaler Darstellungen in normativer Hinsicht auszuzeichnen. Obwohl die grundlegende Frage in diesem Rahmen nicht annähernd adäquat zu diskutieren ist, soll eine mir aussichtsreich erscheinende Argumentationslinie jedoch angedeutet werden: Gegen den Verdacht, hier läge ein naturalistischer Fehlschluss, d.h. ein Schluss von unserem tatsächlichem auf unser durch die Hermeneutik normativ ausgezeichnetes Leseverhalten, vor, ließe sich geltend machen, dass sinnvolle normative interpretatorische Vorgaben sich an dem orientieren müssen, was wir als (professionelle) Leser können. Wenn die hier untersuchten basalen Rezeptionsund Inferenzprozesse so automatisiert ablaufen, wie die Schwierigkeiten, den durch sie generierten Sätzen widersprechende Überzeugungen auszubilden, vermuten lassen, können sie im individuellen empirischen Rezeptionsprozess nur partiell bzw. lokal ausgesetzt werden. Dementsprechend wäre eine Interpretation bzw. eine Bedeutungskonzeption, die ihnen nicht Rechnung trägt, faktisch unbrauchbar. Bevor ich zur Diskussion einzelner Prinzipien zur Generierung deskriptiver Sätze komme, eine Vorbemerkung zum Anspruch der folgenden Überlegungen: Wie schon die Ausführungen im vorherigen Abschnitt erkennen ließen, ist die Interpretationsrelevanz von Wissen ein vergleichsweise wenig erschlossenes Forschungsfeld, das sich zudem mit komplexen linguistischen und wissenschaftstheoretischen Problemen berührt. Daher haben die folgenden Überlegungen in Teilaspekten skizzenhaften Charakter und verstehen sich als Vorschläge für Prinzipien zur Generierung deskriptiver Sätze. Ziel ist jedoch dabei stets, die Komplexität der Probleme sichtbar werden zu lassen, anstatt sie zu bemänteln.

Thomas Petraschka, „Locating Literary Meaning. A Formal Framework for a Philological Principle of Charity“, in: Jürgen Daiber [u.a.] (Hrsg.), Understanding Fiction. Knowledge and Meaning in Literature, Paderborn 2012, S. 146–165, hier S. 153–155. 66 Diese Unterscheidung wird oft von dem Hinweis auf bestehende Zusammenhänge begleitet. Zu unterscheiden sei eine „empirische Theorie von ‚Verstehensprozessen‘“ von der „methodischen Hermeneutik“, jedoch habe „die systematische Analyse hermeneutischer Fragen die Praxis der (philologischen) Textinterpretation als Fundus einer differenzierten Praxis nicht aus dem Blick“ zu verlieren (Danneberg, „Philosophische und methodische Hermeneutik“, S. 204 und 212); zu unterscheiden seien „eine Phänomenologie der Literaturrezeption“ und eine „Hermeneutik der Literaturrezeption“, jedoch müsse „eine ausgearbeitete Interpretationsmethodologie der Philologien unsere faktisch vorliegenden wissenschaftlichen Umgangsweisen mit Literatur angemessen beschreiben, aufklären und rekonstruieren können.“ (Spoerhase, Autorschaft, S. 2 und 5).

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Die Generierung deskriptiver Sätze erfolgt nach dem hier zu skizzierenden Modell nach folgenden Stufen. Generiert werden – deskriptive Sätze erster Ordnung (explizite fiktionale Wahrheiten) – deskriptive Sätze zweiter Ordnung durch das Prinzip allgemeiner Überzeugungen – deskriptive Sätze dritter Ordnung durch Bildung referenzialisierender Sätze und – deskriptive Sätze vierter Ordnung durch Schlüsse auf die beste Erklärung. Die deskriptiven Sätze erster und zweiter Ordnung beruhen auf einer Adaption von Prinzipien aus der Debatte um sogenannte fiktionale Wahrheiten. Die Prinzipien zur Auszeichnung deskriptiver Sätze dritter und vierter Ordnung werden in der Auseinandersetzung mit interpretationstheoretischer Forschungsliteratur entwickelt.

VI.1 Explizite fiktionale Wahrheiten Deskriptive Sätze erster Ordnung sind sogenannte explizite fiktionale Wahrheiten. Dass der Begriff expliziter fiktionaler Wahrheiten im Gros der Forschungsliteratur eher durch Beispiele eingeführt wird, liegt präsumtiv daran, dass eine Definition fiktionaler Wahrheiten, die über ‚was im Text gesagt wird‘,67 „was direkt im Erzähl-Text ausgesagt wird“68 oder „fiktional wahre[] Beschreibungen, die im Text eines Werks zu finden sind“,69 hinausgeht, aus drei Gründen äußerst schwierig ist: Erstens ist der Begriff „fiktional wahr“ doppeldeutig. In Bezug auf Sachverhalte, die die fiktive Welt betreffen, hat es wenig Sinn, „wahr“ in einem ontologischen Sinn (was der Fall ist) von „wahr“ im epistemischen Sinn (was mit guten Gründen anzunehmen ist) zu unterscheiden,70 denn wir haben keine ande-

67 Implizit arbeitet auch Walton, Mimesis, S. 141, mit einer solchen Definition − auch wenn er sie kurz darauf problematisiert, wenn er schreibt: „Nowhere in the novel is it said in so many words that she does this [= commits suicide; B.G.]. But her suicide is clearly indicated in the following passage […].“ 68 Zipfel, Fiktion, Fiktivität, S. 84. 69 Tilmann Köppe, Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke, Paderborn 2008, S. 66. 70 Vgl. Currie, The Nature, S. 90–92. Der Grund dafür liegt in dem, was man auch die ‚Univialität‘ fiktiver Welten nennen kann: Ihr einziger Zugang ist die Interpretation der fiktionalen Darstellung. Die Eigenschaft einer Aussage, fiktional wahr zu sein, ist dementsprechend nicht auf eine fiktionale Darstellung, sondern auf eine fiktive Welt, die eine Interpretation dieser Darstellung ‚aufbaut‘, bezogen. Vgl. Danneberg, „Weder Tränen“, bes. S. 31–34.

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re Möglichkeit festzustellen, was in der fiktiven Welt der Fall ist, als das fiktionale Werk zu interpretieren. Nun verfügt man für manche Sätze über die fiktive Welt über mehr Evidenz als für andere, wobei diese von Interpretation zu Interpretation variieren kann. Entweder man gestattet infolgedessen, dass „wahr“ (wie „epistemisch gerechtfertigt“) ein gradueller bzw. relativer Begriff wird (manche Sätze sind dann wahrer als andere bzw. wahr innerhalb einer Interpretation71), oder man reserviert das Prädikat „wahr“ für die unkontrovers wahren Sätze und unterscheidet sie von den interpretativen Sätzen im engeren Sinn. Ich folge der zweiten Variante. Zweitens beruht das Verständnis der in einem Text vorfindlichen Beschreibungen auf Phänomenen der Textkohäsion (Bindungsphänomene, Referenzialisierung von Pronomina, implizite Kausalbeziehungen etc.), die oft, jedoch nicht immer, unproblematisch, sind.72 Darüber hinaus scheint es unproblematisch – hier sind Michael Titzmanns Überlegungen, obwohl sie sich nicht ausschließlich auf fiktionale Texte beziehen, instruktiv –, Präsuppositionen73 oder logische Folge-

71 Explizit vertritt Peter Lamarque, „Reasoning to What is True in Fiction“, in: Argumentation, 4/ 1990, S. 333–346, hier bes. S. 340 f., einen solchen Begriff von „fiktional wahr“: „While I would agree that propositions for which we have no evidence at all, either from the text or from the background, might best be considered as lacking a truth-value, I do not think we should automatically dismiss in the same way all propositions about a character’s (or narrator’s) attitudes and beliefs over which there is some indeterminacy. I am inclined to say, at least of some propositions of this kind, that they are true on some readings of the text, false on others; or that they are true relative to an interpretation. […] There is something like a hermeneutic circle here. A general interpretative scheme will determine many of the truths within a fictional world, but these truths will in turn give support to the interpretation.“ 72 So ist etwa in der folgenden Aussage mit „der alte Professor“ zweifelsohne Ulrichs Vater gemeint, ohne dass es ‚gesagt‘ ist: „Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns.“ (Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, S. 20, I.4). So wird der Terminus „Möglichkeitssinn“ im selben Kapitel nicht nur „definier[t]“ (ebd.), sondern als Gegenbegriff zu Wirklichkeitssinn umfangreich erläutert. Zur Generierung expliziter fiktionaler Wahrheiten aus einem Textabschnitt ist mithin die Berücksichtigung angrenzender Passagen erforderlich. Dies scheint auch Beardsley, Aesthetics, S. 129–147, mit seiner „explication“, also der kontextuellen Bedeutungsbestimmung von Wortgruppen, im Sinn zu haben, obwohl seine Ausführungen diesbezüglich nicht sehr deutlich sind. Der sich auf ihn berufende Lamarque spricht zwar vom „sentential level“ (Lamarque, „Appreciation“, S. 293), berücksichtigt in seinem Beispiel jedoch auch zwei aneinander angrenzende Propositionen. 73 Unter Präsupposition verstehe ich eine implizite Voraussetzung einer Aussage, die unter Negation dieser Aussage bestehen bleibt (semantischer Präsuppositionsbegriff, vgl. Jörg Meibauer, Pragmatik. Eine Einführung, Tübingen 2006, S. 44–54). Typische Auslöser von Präsuppositionen sind faktive Verben (etwa bedauern, wissen, erkennen), implikative Verben (etwa schaffen,  

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rungen aus den bereits vorliegenden fiktionalen Wahrheiten auch zu den expliziten fiktionalen Wahrheiten zu rechnen, da sie der Text „als wahr setzt“.74 So präsupponiert der Satz „[…] während Ulrich noch überlegte, wie unangenehm es gewesen wäre, wenn er seine Zeit wieder für eines dieser Liebesabenteuer hätte hergeben müssen, deren er längst satt war, wurde ihm eine Dame gemeldet, die ihren Namen nicht nennen wollte und tief verschleiert bei ihm eintrat“75 u.a., dass Ulrich schon mehrere „dieser Liebesabenteuer“ erlebt hat. Logische Folgerungen aus expliziten fiktionalen Wahrheiten und ihren Präsuppositionen allein, d.h. ohne Hinzuziehung von kulturellem Wissen sind selten, kommen jedoch vor. Zum Beispiel heißt es: Alle seine [Ulrich] Beziehungen zu Frauen waren seither [seit der Begegnung mit der „Frau Major“] unrecht gewesen, und bei einigem guten Willen auf beiden Seiten geht das leider sehr einfach.76

Da es eine explizite fiktionale Wahrheit ist, dass Bonadea zu einem Zeitpunkt nach der Begegnung mit der Frau Major Ulrichs „Geliebte“77 wird, lässt sich ableiten, dass auch diese Beziehung in dem komplexen, im Fortgang des Textes beschriebenen nicht-moralischen Sinn „unrecht“ ist. Nicht als explizite fiktionale Wahrheiten dürfen jedoch Implikaturen bzw. pragmatische Präsuppositionen betrachtet werden, da sie abhängig vom Hintergrundwissen des Rezipienten sind. Neben diesem linguistischen Problem bei der Fassung des Begriffs „explizite fiktionale Wahrheit“ gibt es jedoch auch rhetorisch-narratologische Verwicklungen, die hier nur angedeutet werden können. Schwierigkeiten bereiten alle Arten uneigentlicher Rede (Hyperbel, Ironie, Litotes, Metonymie, Synekdoche und Metapher) sowie unzuverlässige Erzähler. Uneigentliches Sprechen kann nur vor dem Hintergrund von Annahmen über den Sprecher und die jeweilige Kommunikationssituation erkannt werden, stellt aber in narrativen Texten ein kleineres

vermeiden, vergessen), aspektuelle Verben, die eine Zustandsänderung ausdrücken, aspektuelle/ iterative Adverbien (etwa wieder, nicht mehr), Kennzeichnungen/definite Nominalausdrücke, Temporalsätze und Appositionen. 74 Titzmann, „Propositionale Analyse“, S. 70. Für eine detaillierte Darstellung solcher, mit einem Terminus der Linguistin Irena Bellert, „Quasi-Implikationen“ vgl. Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 180–196. Streng genommen sind bereits hier Fragen einer Bedeutungskonzeption einschlägig. In Bezug auf den Begriff der logischen Folgerung stellt sich etwa die Frage, ob dieser „selbst als Element des zeitgenössischen Wissens zu rekonstruieren ist“ oder ob ein heute favorisiertes Verständnis der logischen Folgerung zugrunde gelegt wird. Vgl. Danneberg, „Interpretation: Kontextbildung“, S. 94 f. 75 Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, S. 44, I.7. 76 Ebd., S. 452 f., I.68. 77 Ebd., S. 44, I.7.  



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Problem dar als etwa in Aphorismen, da hier der Äußerungskontext und die bereits generierten expliziten fiktionalen Wahrheiten die Deutungsoffenheit einschränken. Größeres Gewicht fällt der Problematik unzuverlässiger Erzähler zu. Nicht nur gemäß dem Forschungsstand – diskutiert wird u.a. die Frage, ob auch Dritte-Person-Erzähler unzuverlässig sein können –, sondern auch aufgrund der Abhängigkeit des Begriffs von komplexen Bedeutungszuweisungen – als Indikatoren für unzuverlässige Erzähler gelten interne Inkonsistenzen, Konflikte zwischen story und discourse, multiperspektivische Darstellung derselben Ereignisse78 – kann es kein allgemeingültiges Kriterium für die Zuverlässigkeit des Erzählers geben.79 Obwohl also für die beiden letztgenannten Schwierigkeiten – die linguistische und die rhetorisch-narratologische – aus den genannten Gründen keine einfachen allgemeingültigen Lösungen verfügbar sind, stellen sie beim Umgang mit konkreten Texten in aller Regel keine unüberwindlichen Hindernisse dar.

VI.2 Das Prinzip allgemeiner Überzeugungen Wesentlich für die Generierung weiterer deskriptiver Sätze bzw. impliziter fiktionaler Wahrheiten ist die Berücksichtigung eines kulturellen Wissens. Die entscheidende Frage neben der Extension dieses Wissensbestandes ist, welche seiner Elemente tatsächlich relevant sind und welche Bedeutungszuweisungen sie im Einzelnen erlauben.80 Die Generierung einer Vielzahl impliziter fiktionaler

78 Vgl. Kathleen Wall, „The Remains of the Day And Its Challenges to Theories of Unreliable Narration“, in: Journal of Narrative Technique, 24/1994, S. 18–42. Für einen Überblick: Ansgar Nünning, „Reliability“, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hrsg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London 2005, S. 495–497. 79 Vgl. Ansgar Nünning, „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“, in: Ders. (Hrsg.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998, S. 3–40, hier bes. S. 23–32. 80 Elaborierte Überlegungen zur Relevanz kulturellen Wissens hat Michael Titzmann im Rahmen seiner Strukturalen Textanalyse entwickelt. Durch den Anspruch, Teile der ‚Textbedeutung‘ als durch kulturelles Wissen gewonnene „Folgerungen“ (Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 316 u. ö.), nicht als Interpretationshypothesen, zu bestimmen, treten hier ganz ähnliche Probleme auf wie bei der Bestimmung fiktionaler Wahrheiten. Da die Bezugnahmen auf Titzmanns umfangreiche Überlegungen im Folgenden notwendig selektiv ausfallen, soll die Grundidee Titzmanns wenigstens skizziert werden: Potenziell relevant sind die „kulturellen Propositionen“, die es erlauben, aus den „textuellen Propositionen“, d.h. aus dem Text ohne Zuhilfenahme der kulturellen Propositionen ableitbaren Propositionen, neue Propositionen zu folgern (vgl. ebd., S. 273 und 283 f.). Wesentliches Kennzeichen der faktisch relevanten Propositionen ist, dass sie „vom Text  

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Wahrheiten erlaubt das sogenannte Prinzip allgemeiner Überzeugung (mutual belief principle), dass in bereits adaptierter Variante besagt: (PaÜ) Ein deskriptiver Satz 2. Ordnung ist jeder Satz, der Teil des durch die Bedeutungskonzeption ausgezeichneten Wissensbestands ist, sofern er nicht durch einen deskriptiven Satz erster Ordnung negiert wird.

Durch den kursiv gesetzten Teil flexibilisiere ich das Prinzip und trage der Tatsache Rechnung, dass eine begründete Entscheidung zwischen den beiden diskutierten Hauptvarianten des Prinzips, die entweder das Wissen der Entstehungsgemeinschaft des Werks (the community in which the story originated) oder der Gemeinschaft, in der die fiktive Geschichte angesiedelt ist (the community where the makebelieve of the stories was set) auszeichnen, wohl nicht möglich ist.81 (PaÜ) umfasst nicht nur die direkte ‚Übernahme‘ von Tatsachen aus dem Bild der historischen Welt in die fiktive Welt – es ist eine implizite fiktionale Wahrheit im „Mann ohne Eigenschaften“, dass der Thronfolger Franz Ferdinand Ende Juni 1914 in Sarajevo erschossen wurde –, sondern auch die Inkorporation von Gesetzmäßigkeiten und Allsätzen, die die Ableitung weiterer impliziter fiktionaler Wahrheiten gestatten: Alle Menschen haben ein Herz und eine Niere; Ulrich ist ein Mensch; Ulrich hat ein Herz und eine Niere; um ein in der Forschung kursierendes Beispiel abzuwandeln. Entscheidend ist hierbei die Annahme, die Menge deskriptiver Sätze in Bezug auf ein Werk müsse logisch konsistent, d.h. widerspruchsfrei, und logisch geschlossen

funktionalisiert werden“, d.h. es erlauben, Fragen zu beantworten, „die wir im Rahmen unseres kulturbedingten Kategoriensystems zur Weltbeschreibung stellen würden“ („Nullpositionen“ auffüllen) oder „nicht-triviale Zuordnungen zu Klassen ermöglichen.“ (Titzmann, „Propositionale Analyse“, S. 89, 72 und 89). Für die hiesigen Zwecke ist entscheidend, wann kulturelles Wissens faktisch relevant ist, denn „interpretatorische Folgerungen, die auf potenziell relevantem Wissen als Zusatzprämisse basieren, sind Folgerungen, die der „Text“ nicht ‚erzwingt‘, sondern ‚in Kauf nimmt‘.“ (Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 316). Faktisch relevant ist eine kulturelle Proposition nach Titzmann genau in drei Fällen, wenn sie: (1) eine textuelle Proposition total oder partiell bestätigt oder negiert (vgl. ebd., S. 275–279 und 283 f.), (2) es als „kennzeichnende Proposition“ erlaubt, ein durch eine textuelle Proposition gekennzeichnetes X zu identifizieren (ebd., S. 317) oder (3) von einer Textstelle „funktionalisiert“ wird, d.h. wenn sie es erlaubt, zusammen mit textuellen Propositionen (und weiteren kulturellen Propositionen) auf eine bestimmte textuelle Proposition logisch zu schließen (vgl. ebd., S. 317 und 358). 81 Vgl. Cristopher New, „A Note on Truth in Fiction“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 55/1997, S. 421–423, hier S. 422 f. Ich verzichte hier bewusst auf eine Formulierung des Prinzips im Vokabular der Mögliche-Welten-Semantik, wie sie zuerst von David Lewis, „Truth in Fiction“, in: American Philosophical Quarterly, 15/1978, 1, S. 37−46, vorgeschlagen wurde, da diese bestimmten Missverständnissen ausgesetzt ist. Diese betreffen vor allem die Frage, wann eine mögliche Welt einer anderen möglichen Welt näher ist als eine dritte mögliche Welt. Vgl. auch die entproblematisierende Bemerkung bei Walton, Mimesis, S. 145.  



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sein, d.h. alle aus ihr möglichen Folgerungen ebenfalls enthalten. Auch wenn diese Annahme gelegentlich kritisiert wird,82 sehe ich keine Alternative zu ihr. Denn jede Grenzziehung zwischen möglichen Folgerungen, die noch erlaubt sind, und solchen, die zwar möglich sind, aber dennoch keine deskriptiven Sätze generieren, wäre willkürlich. Lediglich entproblematisiert scheint eine solche Grenzziehung in kontrafaktischen Formulierungen des Prinzips allgemeiner Überzeugungen, die zum Kriterium machen, was ein Leser glauben würde.83 Die vorgeschlagene Verwendung des Prinzips allgemeiner Überzeugungen scheint gegen eine Vielzahl in der Forschung erhobener Einwände gefeit. Dabei lassen sich generell zwei Typen von Einwänden unterscheiden: Entweder ein Prinzip generiert zu wenig fiktionale Wahrheiten oder es generiert zu viele fiktionale Wahrheiten, d.h. solche, die wir intuitiv nicht als solche ansehen.84 Der erste Einwandtyp ist hier aus unterschiedlichen Gründen nicht einschlägig. Teilweise liegt dem Einwand der weite Begriff von „fiktional wahr“ zugrunde, insofern er geltend macht, dass die wirklich interessanten fiktionalen Wahrheiten erst durch Interpretation generiert werden.85 Da es hier jedoch um die unkontrovers fiktional wahren, deskriptiven Sätze geht, ist dieser Einwand nicht einschlägig. Die deskriptiven Sätze sollen keine erschöpfende Charakterisierung der fiktiven Welt liefern, sondern die Bestätigung weiterer interpretativer Sätze über sie ermöglichen. Teilweise zielt die erste Art von Einwänden jedoch auf unkontrovers fik-

82 Vgl. Currie, The Nature, S. 67–70 und 73–75; Danneberg, „Weder Tränen“, S. 18–22. Currie plädiert dafür, die Menge fiktionaler Wahrheiten eher als teilweise widersprüchliches und deduktiv nicht geschlossenes Überzeugungssystem eines fiktiven Autors (fictional author) anzusehen, das der informierte Leser (informed reader) zu rekonstruieren hat. Dieser Vorschlag der schon eine Variante einer autorintentionalen Bedeutungskonzeption darstellt, wird überzeugend kritisiert in Livingston, Art and Intention, S. 192 f.: „Currie must also answer the question about how the fictional author’s beliefs are determined. His proposal on this issue is at bottom that we are left with a version of the mutual-belief principle to be modified and applied in vague and unspecified ways. He allows that the simple, mutual-belief strategy is not accurate and ‚won’t do‘, yet he says he has no rules to substitute for it, and adds that there is ‚considerable agreement‘ in practice as to how the inferences ought to be drawn.“ Vgl. auch die weiterführende reichhaltige Kritik in: David Davies, „Fictional Truth and Fictional Authors“, in: British Journal of Aesthetics, 36/1996, S. 43–55. – Gemäß Danneberg ist Widerspruchsfreiheit sowohl für „fiktionale Welten“ als auch für „fiktionale Darstellungen“ „keine allgemein geltende Präsumtion“, plausibel sei sie jedoch für die „Argumentationen für die Interpretation einer fiktionalen Darstellung, durch die sich die fiktionale Welt aus der fiktionalen Darstellung aufbaut“ (Danneberg, „Weder Tränen“, S. 21). 83 Vgl. etwa Waltons „rule of thumb“: „The fictionality of r1, …, rn, (whether generated directly or indirectly) prima facie implies the fictionality of q if and only if it is mutually believed in the artist’s society that were r1, …, rn true, q would be true.“ (Walton, Mimesis, S. 152). 84 Vgl. auch Carlshamre, Truth in, S. 7. 85 Vgl. etwa Köppe, Literatur und Erkenntnis, S. 71.  

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tionale Wahrheiten, die durch das Prinzip nicht berücksichtigt werden.86 Diese Einwände sind generell ernst zu nehmen, treffen jedoch nicht den Gebrauch, der hier vom Prinzip allgemeiner Überzeugungen gemacht wird, da (PaÜ) keinesfalls für die Generierung aller unkontrovers fiktional wahren Sätze verantwortlich zeichnen soll. Am zweiten Einwandtyp, der die Generierung fiktionaler Wahrheiten beanstandet, die wir nicht als solche ansehen würden, scheitert der bekannteste Rivale des Prinzips allgemeiner Überzeugungen, das Realitätsprinzip (reality principle), demzufolge in der fiktiven Welt das der Fall ist, was in unserer Welt der Fall ist, es sei denn explizite fiktionale Wahrheiten besagen etwas anderes.87 Entsprechende Einwände gegen das Prinzip allgemeiner Überzeugungen scheinen auf relativ spezielle Fälle inkonsistenter Geschichten, z.B. Geschichten über Zeitreisen beschränkt.88

VI.3 Referenzialisierende Sätze Ein wichtiger Teil von deskriptiven Sätzen, der durch (PaÜ) nicht abgedeckt wird, hängt mit der Referenzialisierung von Eigennamen bzw. kennzeichnenden Sätzen zusammen. Es ist beispielsweise ein deskriptiver Satz, dass Diotima die Werke von Maurice Maeterlinck, dem Autor von Le Trésor des humbles, liest und nicht die fiktiven Werke eines fiktiven Autors Maeterlinck, dessen Vorname im Text nicht genannt wird und daher unbekannt ist. Nun werden seit längerer Zeit sogenannte reale Objekte (immigrant objects) und pseudo-reale Objekte (surrogate 86 Denken kann man hier etwa an genrespezifische Wahrheiten, etwa, dass ein Drache in einer Fantasy-Erzählung immer Feuer speien kann. Vgl. schon Lewis, „Truth in Fiction“, S. 273, der hier von „inter-fictional carry-over“ spricht. 87 Vgl. u.a. Walton, Mimesis, S. 144–169; Zipfel, Fiktion, Fiktivität, S. 84–90. Besonders schlagend scheint mir der Einwand, dass sich das, was fiktional wahr ist, durch neue (wissenschaftliche) Erkenntnisse nach Entstehung des Werks ändert. Vgl. Currie, The Nature, S. 62–67; Livingston, Art and Intention, S. 190 f. 88 Vgl. Currie, The Nature, S. 68–70. Nicht triftig scheint mir folgender interessanter Einwand: Das Prinzip mache Autoren, die in rassistischen Gemeinschaften publizieren, unter Umständen ohne Absicht zu Rassisten. Angenommen, in einem Werk, das während des Dritten Reichs entstand, gibt es eine weiter nicht charakterisierte jüdische Nebenfigur, und angenommen, es war im Dritten Reich eine bekanntermaßen vorherrschende Überzeugung, dass Juden eine minderwertige Rasse sind, dann wäre es fiktional wahr, dass diese Nebenfigur einer minderwertigen Rasse angehört (vgl. Bareis, „Was ist wahr in der Fiktion?“, S. 236). Meiner Meinung nach beruht unsere Intuition, dies nicht für fiktional wahr halten zu wollen, auf dem Wunsch, den Autor in Schutz zu nehmen. Jedoch ließe sich dagegenhalten, dass der Autor diese Schlussfolgerung angesichts der bekanntermaßen rassistischen Überzeugungen seiner Gemeinschaft in Kauf genommen hat.  

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objects) als Bestandteil fiktiver Welten diskutiert,89 wenig untersucht ist jedoch ihre Rolle für die Interpretation dieser Texte und die dabei stattfindende Aktivierung von kulturellem Wissen.90 Die Probleme, die hierbei auftreten, können am besten anhand einer Entfaltung des eben genannten Beispiels verdeutlicht werden. Zu Beginn des 25. Kapitels des ersten Buchs heißt es: Sie [Diotima] las in ihrem Leiden viel und entdeckte, daß ihr etwas verloren gegangen war, von dessen Besitz sie vordem nicht viel gewusst hatte: eine Seele. Was ist das? – Es ist negativ leicht bestimmt: es ist eben das, was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört. Aber positiv? Es scheint, daß es sich da allen Bemühungen, die es fassen wollen, erfolgreich entzieht. Es mag sein, daß einstmals etwas Ursprüngliches in Diotima gewesen war, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit, damals eingerollt in das dünngebürstete Kleid ihrer Korrektheit, was sie jetzt Seele nannte und in der gebatikten Metaphysik Maeterlincks wiederfand, in Novalis, vor allem aber in der namenlosen Welle von Dünnromantik und Gottessehnsucht, die das Maschinenzeitalter als Äußerung des geistigen und künstlerischen Protestes gegen sich selbst eine Weile lang ausgespritzt hat.91

Ungeachtet aller vertrackten, hier nicht diskutierbaren, jedoch generell analysewürdigen sprachlichen Verwicklungen und Perspektivierungen dieser Passage, generiert sie u.a. folgende deskriptive Sätze erster und zweiter Ordnung bzw. explizite und implizite fiktionale Wahrheiten: (e1) Es gibt einen Urheber einer metaphysischen Konzeption, der „Maeterlinck“ heißt. (e2) In dieser metaphysischen Konzeption fand Diotima etwas Ursprüngliches, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit wieder. (i1) In dieser metaphysischen Konzeption wird etwas Ursprüngliches, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit beschrieben. (e3) Diotima nennt „Seele“, was die Metaphysik von Maeterlinck als etwas Ursprüngliches, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit beschreibt. (e4) Diotima glaubt, dass sie eine Seele verloren hat.

89 Für einen Überblick vgl. Zipfel, Fiktion, Fiktivität, S. 90–102. Ausschlaggebend sind dabei letztlich stets unterschiedlich starke Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen fiktiven und realen Entitäten. Vgl. Danneberg, „Weder Tränen“, S. 24, Anm. 56. 90 Die aufgrund ihres Titels vielversprechende Studie von Peter Blume, Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur, Berlin 2004, liefert zwar ein ausgefeiltes Klassifikationssystem für solche nicht-fiktionalen Elemente, ist in Bezug auf die Frage der Relevanz des Wissens für die Interpretation jedoch wenig analytisch. Welche unterschiedlichen Effekte und Formen – von „modellbildenden“ bis zu „IntegumentumVerfahren“ – das von Autoren teilweise werkintern und -extern gesteuerte „Spiel mit Referenzen“ haben kann, zeigen die Überlegungen in Ralf Klausnitzer, Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin 2008, S. 210–249, hier S. 235 und 237. 91 Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, S. 160 f., I.25.  

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Die implizite fiktionale Wahrheit i1 ist dabei eine semantische Implikation von e2.92 Im Wissen des zeitgenössischen kompetenten Lesers kommen nun folgende sogenannte „kennzeichnende“, d.h. „den Grund seiner kulturellen Bekanntheit angebende und seinen Träger individualisierende Propositionen“93 bzw. Sätze vor: (k1) Es gibt einen Urheber einer metaphysischen Konzeption der „Maeterlinck“ heißt. (k2) In dieser metaphysischen Konzeption wird etwas Ursprüngliches, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit beschrieben.

Da diese beiden kennzeichnenden Sätze eine signifikante Übereinstimmung mit den Sätzen e1 und i1 aufweisen, genauer zu ihnen homophon sind, kann das durch die fiktionalen Wahrheiten e1 bis e3 sowie i1 thematisierte Subjekt mit dem realweltlichen Maurice Maeterlinck (1862–1849) identifiziert werden. Durch die Referenzialisierung des Ausdrucks „Maeterlinck“, nicht durch Deduktion, gibt es u.a. einen neuen deskriptiven referenzialisierenden Satz r1, wie sich durch den Gebrauch von Indizes verdeutlichen lässt: (e3) Diotima nennt das „Seele“, was die Metaphysik von Maeterlinck1 als etwas Ursprüngliches, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit beschreibt. (r1) Diotima nennt das „Seele“, was die Metaphysik von Maeterlinck2 als etwas Ursprüngliches, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit beschreibt. (referenzialisierender Satz)

Während Maeterlinck1 in e3 noch eine fiktive Figur bezeichnet, die weder notwendigerweise Maurice heißt noch 1911 den Nobelpreis für Literatur bekommen hat, bezeichnet Maeterlinck2 gemäß r1 ein immigrant object in der fiktiven Welt, das einen ganzen Cluster des kulturellen Wissens, aus dem k1 und k2 stammen, relevant werden lässt.94 Nachdem r1 generiert wurde, erfolgt die Erzeugung weiterer deskriptiver Sätze durch logische Ableitung. Ist einmal klar, dass Diotima den real-

92 Eine Entität bzw. ein Konstrukt in einem Text wiederzufinden, scheint mir vorauszusetzen, dass es in diesem Text beschrieben wird. Deutlicher als in e2 wird das am Widerspruch in folgendem Beispiel: Frau Schmidt fand den Tathergang in der Morgenzeitung wieder, aber er ist darin nicht beschrieben. Möglicherweise liegt der Fall jedoch komplizierter und ob die Implikation vorliegt, hängt auch von der Komplexität der wiederzufindenden Entität ab. – Ein möglicher Einwand gegen e2 betrifft die Tatsache, dass hier ein Glied (die „gebatikte[] Metaphysik Maeterlincks“) aus einer längeren Aufzählung im Zitat herausgelöst wird. Dies ist jedoch legitim. Aus der Wahrheit von „Hans hat einen Hund und eine Katze“ folgt „Hans hat einen Hund“ und „Hans hat eine Katze“. 93 Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 296. 94 Vgl. bes. die Diskussion des Beispiels in ebd., S. 299–301. Ganz explizit findet sich dieser Punkt in Titzmann, „Propositionale Analyse“, S. 88. Vgl. auch die Bemerkung in Klaus W. Hempfer, „Überlegungen zu einem Gültigkeitskriterium für Interpretationen und ein komplexer Fall:

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weltlichen Maeterlinck liest, werden verschiedene Sätze, die gemäß (PaÜ) schon vorher, nur unverbunden bzw. „unbetont“ (deemphasized95), Beschreibungen der fiktiven Welt waren, relevant. Dazu gehört – immer noch unter der Voraussetzung, dass die Bedeutungskonzeption den Wissensbestand eines kompetenten zeitgenössischen Lesers auszeichnet – folgender Satz über Maeterlincks Seelenkonzept: (k3) Als etwas Ursprüngliches, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit beschreibt Maeterlinck2 die metaphysische Entität, die alle Menschen, bis sie durch den Tod „befrei[t]“ wird, besitzen, die unberührt von der „alltäglichen Erfahrungsweisheit“ existiert und die von sich aus nach Schönheit strebt.96

Aus k3 und r1 (= Diotima nennt das „Seele“, was die Metaphysik von Maeterlinck2 als etwas Ursprüngliches, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit beschreibt.) lässt sich nun ableiten: (i2) Diotima nennt „Seele“ eine metaphysische Entität, die alle Menschen, bis sie durch den Tod „befrei[t]“ wird, besitzen, die unberührt von der „alltäglichen Erfahrungsweisheit“ existiert und die von sich aus nach Schönheit strebt.

i2 ist ein deskriptiver Satz, der durch Berücksichtigung von Wissen gewonnen wurde, das erst durch die realweltliche Referenzialisierung von Ereignisträgern bzw. Ereignissen, nicht aber durch (PaÜ) lizenziert wurde.97 Allgemein gilt: (Ref) Deskriptive Sätze dritter Ordnung sind alle referenzialisierenden Sätze sowie die Sätze, die unter Zuhilfenahme mindestens eines referenzialisierenden Satzes abgeleitet werden können. Ein referenzialisierender Satz ist ein zu einem deskriptiven Satz erster und zweiter Ordnung homophoner Satz, der auf der Basis einer signifikanten Übereinstimmung der Sätze p1, …, pn aus der Menge deskriptiver Sätze erster und zweiter Ordnung mit zu ihnen jeweils homophonen, kennzeichnenden Sätzen k1, …, kn ‚ die Bestandteil des durch die Bedeutungskonzeption ausgezeichneten Wissensbestandes sind, gebildet wird.

Die italienische Ritterepik der Renaissance“, in: Ders., Grundlagen der Textinterpretation. Stefan Hartung (Hrsg.), Stuttgart 2002, S. 11–40, hier S. 24. 95 Walton, Mimesis, S. 149. 96 Vgl. Maurice Maeterlinck, Der Schatz der Armen. In das Deutsche übertragen v. Friedrich von Oppeln-Bronkowski, Jena 1898, bes. S. 33 f., 86 und 150. 97 Aus e4 (Diotima glaubt, dass sie eine Seele verloren hat.), i2 und der impliziten fiktionalen Wahrheit, „Diotima glaubt, dass sie nicht tot ist“ folgt nur prima facie ein eklatanter Widerspruch in Diotimas Überzeugungssystem (nicht im System der deskriptiven Sätze!): Diotima glaubt, dass sie eine Seele hat und dass sie sie verloren hat. Denn i2 kann sich auf ein implizites begriffliches Wissen beziehen, beinhaltet also nicht zwingend, dass Diotima die bewusste Überzeugung hat, dass jeder Mensch bis zu seinem Tod eine Seele hat.  

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Aus zwei Gründen ist (Ref) eher eine Richtlinie als eine eindeutige Regel. Erstens ist es in manchen Fällen schwer zu entscheiden, ob die Kennzeichnung des Ereignisträgers bzw. des Ereignisses für eine Referenzialisierung ausreichend ist,98 und zweitens ist nicht immer klar, welche Sätze aus dem ‚aktivierten‘ Cluster kulturellen Wissens legitimerweise heranzuziehen sind.

VI.4 Schlüsse auf die beste Erklärung Eine weitere wichtige Gruppe deskriptiver Sätze sind Sätze, die durch eine bestimmte Art von Schlüssen auf die beste Erklärung generiert werden. Wiederum ein Beispiel zur Illustration, es geht um die Frage, was im 29. Kapitel des ersten Buches zwischen Ulrich und Bonadea geschieht. Bonadea war, ohne dass Ulrich das vereinbarte Zeichen gegeben hatte, zu Ulrich nach Hause gekommen und machte Ulrich Vorwürfe, dass er sich zu wenig um sie kümmere: Sie machte ihm einen leidenschaftlichen Auftritt, und als er vorbei war, stürzten Vorwürfe, Beteuerungen, Küsse in das dadurch entstandene Vakuum. Als auch die vorbei waren, war nichts geschehn; zurückquellendes Tagesgerede füllte die Leere aus, und die Zeit setzte Bläschen an wie ein Glas schalen Wassers. „Wie viel schöner ist sie, wenn sie wild wird,“ überlegte Ulrich „und wie mechanisch hat sich dann wieder alles vollzogen.“ Ihr Anblick hatte ihn ergriffen und zu Zärtlichkeiten verführt; jetzt, nachdem es geschehen war, fühlte er wieder, wie wenig es ihn anging. Das unglaublich Schnelle solcher Veränderungen, die einen gesunden Menschen in einen schäumenden Narren verwandeln, wurde überaus deutlich daran. Es kam ihm aber vor, daß diese Liebesverwandlung des Bewußtseins nur ein besonderer Fall von etwas weit Allgemeinerem sei; denn auch ein Theaterabend, ein Konzert, ein Gottesdienst, alle Äußerungen des Inneren sind heute solche rasch wieder aufgelöste Inseln eines zweiten Bewußtseinszustands, der in den gewöhnlichen zeitweilig eingeschoben wird.99

Dass es hier zu sexuellen Handlungen zwischen Ulrich und Bonadea gekommen ist, würde angesichts der Tatsache, dass sich Bonadea danach wieder „[a]nkleiden“100 muss, wohl kein Interpret bestreiten. Es scheint jedoch keine logische Ableitung, die die erklärungsbedürftige explizite fiktionale Wahrheit, dass Bonadea partiell entkleidet ist, als Konklusion und die Hypothese, dass Ulrich und Bonadea miteinander geschlafen haben, sowie bestimmte Sätze aus dem kulturellen Wissen als Prämisse enthalten. Eine solche Ableitung müsste Gesetzmäßig98 Instruktiv sind hier die weiterführenden Überlegungen zu kennzeichnenden Propositionen in Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 293–297. 99 Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, S. 179, I.29. 100 Ebd., S. 180, I.29.

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keiten voraussetzen, die sehr sicher nicht zum kulturellen Wissen gehört haben.101 Vielmehr scheint die Hypothese auf einem Schluss auf die beste Erklärung102 zu beruhen.103 Das erklärungsbedürftige Ereignis, dass Bonadea nach dem Austausch der Küsse und „Zärtlichkeiten“ entkleidet ist, wird durch die Hypothese, dass Ulrich und Bonadea miteinander geschlafen haben, am besten erklärt. Wesentlich für die Erklärung ist das kulturelle Wissen, dass sich zwei Personen, um miteinander zu schlafen, in aller Regel (partiell) entkleiden. Will man deskriptive Sätze, die ausgesparte bzw. nur angedeutete Handlungen oder Tatsachen betreffen, berücksichtigen, obwohl Gesetzmäßigkeiten über menschliches Verhalten, wie sie Michael Titzmann in einem Beispiel stipuliert („Reiche Bauern geben ihre Töchter niemals armen Bauern“104), wohl äußerst selten Teil des kulturellen Wissens sind, darf man sich wie schon bei der Bildung deskriptiver Sätze dritter Ordnung nicht auf logische Ableitbarkeit beschränken. Vielmehr sind, so legen es das Beispiel und bereits in der Forschung vorliegende Überlegungen nahe, Schlüsse auf die beste Erklärung zu berücksichtigen.105 Allerdings haben Schlüsse auf die beste Erklärung die Nachteile,

101 Eine solche Ableitung müsste folgendes unplausibles kulturelles Wissen in Anspruch nehmen (k1): *Immer wenn zwei Personen, die im Verhältnis der Geliebten zueinanderstehen, allein sind und Zärtlichkeiten austauschen, schlafen sie miteinander. 102 Zu diesem Begriff vgl. Holger Klärner, Der Schluss auf die beste Erklärung, Berlin 2003, bes. S. 10–12. 103 Die Idee, dass Bedeutungszuweisungen an literarische Texte aufgrund von Erklärungen erfolgen, findet sich des Öfteren. Vgl. Currie, „Interpretation and Objectivity“, bes. S. 415–417; Christoph Lumer, „Handlungstheoretisch erklärende Interpretationen als Mittel der semantischen Bedeutungsanalyse“, in: Danneberg/Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang, S. 75–113; Tepe, Kognitive Hermeneutik, S. 56–70, und Tepe/Rauter/Semlow, Interpretationskonflikte, S. 28–35, der den Begriff der „textprägenden Instanzen“ ins Feld führt, sowie Wolfgang Detel, „Hermeneutik und Erklärung“, 2010, http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/wd_erklaerung.pdf (Stand: 11.02.2012). Unterschiede bestehen dabei vor allem hinsichtlich der bevorzugten Erklärungsart und hinsichtlich der Ebene, auf der die Erklärung − Figurenverhalten oder Autorverhalten − ansetzt. Interessant hierzu Jon Elster, „Interpretation and Rational Choice“, in: Rationality and Society, 21/2009, S. 5–33, der jedoch Interpretation von vorneherein als autorintentional auffasst, weil er anzunehmen scheint, dass nur so die Intersubjektivität der Interpretation gesichert werden kann. Robert Stecker, „Objectivity and Interpretation“, in: Philosophy and Literature, 19/1995, S. 48–59, hier S. 54, sieht aktual-autorintentionale Interpretationen hinsichtlich des durch sie erreichbaren Objektivitätsgrads als historischen Erklärungen (historical explanations) vergleichbar an. 104 So die kulturelle Proposition im imaginierten Beispiel in Titzmann, Strukturale Textanalyse, S. 359 f. 105 Vgl. Goldman, „The Sun Also Rises“, S. 17 f.; Fotis Jannidis, „Literarisches Wissen und Cultural Studies“, in: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hrsg.), Nach der Sozialgeschichte, Tübingen 2000, S. 335–358, hier S. 337–346; Tilmann Köppe, „Prinzipien der Interpretation − Prinzipien der  



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dass sie nicht wahrheitserhaltend sind, d.h. von wahren Prämissen nicht immer zu wahren Konklusionen führen, und dass sich die beste Erklärung stets nur graduell von anderen alternativen Erklärungen unterscheidet. Das bedeutet, dass es je nach der Wahrscheinlichkeit der miteinander konkurrierenden Erklärungen bessere und schlechtere Schlüsse auf die beste Erklärung gibt. Daher generieren die meisten Schlüsse auf die beste Erklärung bestenfalls Interpretationshypothesen, jedoch keine deskriptiven Sätze. Aus diesem Grund darf nur eine Teilklasse von Schlüssen auf die beste Erklärung lizensiert werden. Ein nochmaliger Blick auf das Beispiel legt nahe, welche das sind: Die Erklärung, dass Ulrich und Bonadea miteinander geschlafen haben, scheint keineswegs nur besser als andere alternative Erklärungen, vielmehr scheint es in einem gewissen Sinn gar keine alternative Erklärung zu geben. Führt man Kriterien für gute Erklärungen ein, lässt sich dieser Eindruck genauer fassen. Eine Hypothese h ist eine gute Erklärung des Ereignisses E, wenn: (1) h eine Behauptung über etwas ist, das E verursacht hat, (2) von h auf E mit hoher Wahrscheinlichkeit geschlossen werden kann und (3) h im Vergleich zu alternativen Hypothesen relativ wahrscheinlich ist.106 Mithilfe dieser Kriterien lässt sich nun verdeutlichen, warum keine alternativen Erklärungen infrage kommen. Die alternative Erklärung, Bonadea war heiß, erfüllt (1) und schneidet auch in Bezug auf (3) keinesfalls schlecht ab. Die Szene spielt im Sommer 1913 und Bonadea hat Ulrich zuvor in einem „leidenschaftlichen Auftritt“ Vorwürfe gemacht und ihn anschließend geküsst; dass ihr heiß sei, scheint mit fiktionalen Wahrheiten gut zusammenzustimmen. Allerdings scheitert diese Erklärung an (2), denn gegeben gewisser sozialer Konventionen, die wir dank (PaÜ) auch für die fiktive Welt voraussetzen dürfen, ist es keineswegs ein ausreichender Grund für eine Frau, sich in einer fremden Wohnung zu entkleiden, nur weil ihr heiß ist. Andere Hypothesen scheitern eher an (3), etwa die Hypothese, dass Ulrich ein passionierter Aktmaler ist und Bonadea zum fraglichen Zeitpunkt gemalt hat. Da wenigstens solche künstlerischen Neigungen Ulrichs im ganzen Roman nicht erwähnt werden,107 kommt eine solche Hypothese einer Ad-hoc-Stipulation gleich und scheidet von vorneherein aus. Diese Überlegungen legen folgendes Prinzip zur Generierung deskriptiver Sätze nah:

Rationalität. Oder wie erkundet man fiktionale Welten?“, in: Scientia Poetica, 9/2005, S. 310–329, hier S. 316–321. 106 Vgl. Richard Johns, Inference to the Best Explanation, 2010, http://faculty.arts.ubc.ca/ rjohns/ibe.pdf (Stand: 13.09.2010), hier S. 4. 107 Davon, dass Ulrich lange Zeit Gedichte geschrieben hat, ist jedoch bekanntlich die Rede. Vgl. Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, S. 475, I.30.

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(besteErkl) Eine Hypothese h ist ein deskriptiver Satz vierter Ordnung, wenn sie die einzige Erklärung eines durch deskriptive Sätze beschriebenen Ereignisses bzw. Sachverhalts E in der fiktiven Welt ist, d.h., wenn es keine alternative Hypothese gibt, die (1) eine Behauptung über etwas ist, das E verursacht hat, (2) einen Schluss auf E mit hoher Wahrscheinlichkeit erlaubt und (3) im Vergleich zur Hypothese h relativ wahrscheinlich ist.

Zwei einschränkende Anmerkungen: Es soll hier keineswegs suggeriert werden, dass Schlüsse auf die beste Erklärung durch dieses Kriterium der Einzigkeit der Erklärung, vollkommen entproblematisiert werden. Natürlich gibt es zu einem Ereignis potenziell unendlich viele, unterschiedlich komplexe Hypothesen, die dieses Ereignis erklären würden, geprüft werden jedoch nur einige wenige, nämlich diejenigen, die dem Interpreten in den Sinn kommen. Sowohl welche Hypothesen ihm in den Sinn kommen als auch ihre Bewertung anhand der drei Kriterien hängt jedoch von seinem Wissen über die fiktive Welt und seinem Wissen über das kulturelle Wissen der Entstehungszeit ab. Sofern dieses fallibel und unvollständig ist, kann auch (besteErkl) zu falschen Ergebnissen führen.108 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass (besteErkl) sich auf Hypothesen bezieht, die Sachverhalte in der fiktiven Welt, nicht aber Eigenschaften fiktionaler Erzählungen erklärt – dieser Unterschied wird im nächsten Abschnitt deutlich werden. Die durch die vorgeschlagenen, möglicherweise zu ergänzenden Prinzipien erzeugten expliziten und impliziten fiktionalen Wahrheiten,109 so lässt sich zusammenfassen, sind deskriptive Sätze, d.h. revisionsresistente, jedoch prinzipiell fallible Bedeutungszuweisungen, die weitestgehend unabhängig von spezifischen Bedeutungskonzeptionen erfolgen. Der Aufbau fiktiver Welten bei der Rezeption fiktionaler Darstellungen erfolgt offensichtlich in einer regelgeleiteten Weise, die keine Interpretation ohne gute Gründe unterlaufen kann, ohne sich dem Vorwurf der Absurdität auszusetzen.110 Lediglich in einer Hinsicht hängt die

108 Am Beispiel: Möglicherweise ist die soziale Konvention vor dem Ersten Weltkrieg, dass man sich nicht ohne Weiteres in fremden Wohnungen entkleidet, (und das Wissen um sie zur Entstehungszeit des Romans) komplexer als angenommen: Die Konvention ist ausgesetzt, wenn es sich um die Wohnung des Geliebten handelt. In diesem Fall, wäre Bonadeas Hitzewallung ein zureichender Grund für ihre Entkleidung und es gäbe eine alternative Erklärung, sodass es nicht länger eine fiktionale Wahrheit, sondern nur noch eine Interpretationshypothese wäre, dass Ulrich und Bonadea miteinander geschlafen haben. 109 Diskutiert werden z.B. Prinzipien zur Generierung genrespezifischer Wahrheiten. Vgl. Bareis, „Was ist wahr in der Fiktion?“. 110 Vgl.: „The convergence, while far from perfect, is nonetheless striking, particularly with regard to clearly posed questions about basic, yet unstated or implicit, story facts. This convergence cuts across striking disagreements about the larger ‚point‘ and themes of the work of fiction, which indicates that the problem of fictional truth should not be dissolved in some holistic account of work-interpretation. It is also significant in this regard to note that in spite of their

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Anwendung der vorgeschlagenen Prinzipien bereits von der Wahl einer Bedeutungskonzeption ab. Sie betrifft die Extension des Wissensbestands, der bei der Bildung expliziter fiktionaler Wahrheiten und der Anwendung von (PaÜ), (Ref) und (besteErkl) zugrunde zu legen ist. Die Bedeutungskonzeption entscheidet darüber, welcher Wissensbestand welcher Person bzw. welcher Personengruppe (Autorwissen, Zielgruppe des Autors, zeitgenössischer kompetenter Leser etc.) zugrunde gelegt wird. Dass der damit entwickelte semantische Beschreibungsbegriff, der notwendigerweise ein spezifisches Sprach- bzw. Weltwissen voraussetzen muss, tatsächlich das eingangs angesprochene Optimum zwischen Intersubjektivität und Bestätigungsrelevanz trifft, führt der Vergleich der relativ einfachen Prinzipien mit den im Anschluss zu untersuchenden Abwägungsargumentationen mithilfe der deskriptiven Sätze vor Augen.

VII Die Funktionalisierung deskriptiver Sätze zur Bestätigung interpretativer Sätze VII.1 Arten interpretativer Sätze Zunächst gilt es, sich anhand von Beispielen einen Überblick über die Arten von interpretativen Sätzen zu verschaffen, die bestätigt werden sollen: Tab. 1: Arten interpretativer Sätze Singuläre Sätze

Vag-quantifizierte Sätze

Allsätze

Einfache interpretative Sätze

(1) Ulrich wird gegen seinen Willen ‚Ehrenamtlicher Sekretär der großen patriotischen Aktion‘.

(2) Ulrich ist frauenverachtend. (3) Alle Frauen (In vielen Situationen, in denen fühlen sich von Ulrich Frauen begegnet, zeigt er Ulrich angezogen. ein frauenverachtendes Verhalten.)

Genuin interpretative Sätze

(4) Meingast verkörpert Ludwig Klages.

(5) Die meisten Figuren sind Repräsentanten einer zeitgenössischen Weltanschauung oder Ideologie.

(6) Alle Frauenfiguren werden vom Erzähler ironisiert.

notorious polemics and professional desideratum regarding originality, academic critics do agree on many implicit story facts.“ (Livingston, Art and Intention, S. 192).

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Zunächst zu den Unterscheidungen des Tabellenkopfes und ihren Implikationen: Die übliche Unterscheidung zwischen singulären und allquantifizierten Sätzen wurde hier um die Kategorie der vag-quantifizierten Sätze ergänzt. Die Bestätigung vag-quantifizierter und der allquantifizierter Sätze hängt von der Bestätigung singulärer Sätze ab. Bevor ich mich diesem Problem zuwende, einige kurze Bemerkungen zu den beiden erstgenannten Typen interpretativer Sätze: Die Schwierigkeit bei der Bestätigung vag-quantifizierter interpretativer Sätze besteht in der Unschärfe der quantifizierenden Ausdrücke „wenig“, „manche“, „viel“, „die meisten“. Diese kann zwar nicht beseitigt aber reduziert werden, wenn man den Umfang der jeweiligen Bezugsmenge berücksichtigt. Im Fall von (2) ist die große Zahl der Situationen, in denen Ulrich im Roman Frauen begegnet, zu berücksichtigen, sodass drei Situationen mit frauenverachtendem Verhalten sicher nicht ausreichend sind, obwohl dieselbe Anzahl für eine These über Ulrichs Verhältnis zu den im Roman unterrepräsentierten Hausangestellten durchaus ausreichend sein kann. Ob Ulrich frauenverachtend ist, hängt demnach von singulären Sätzen über sein Verhalten in einzelnen Situationen ab. Die allquantifizierten Sätze stellen keine Gesetzeshypothesen, sondern sogenannte „zufällige Generalisierungen“111 dar. Sie sind im Gegensatz zu Gesetzeshypothesen, die grundsätzlich nur falsifizierbar sind, auch verifizierbar. Aus arbeitsökonomischen Gründen scheint es empfehlenswert, Allsätze durch Falsifikationsversuche zu prüfen. Scheitern alle Falsifikationsversuche, hat man die Allaussage nicht nur vorläufig, sondern endgültig bestätigt: Führt die Suche nach einer Frauenfigur, die sich nicht von Ulrich angezogen fühlt, im Fall von (3) nicht zum Erfolg, lässt sich die Hypothese, dass alle Frauenfiguren sich von Ulrich angezogen fühlen, als bestätigt ansehen. Bei der Bestätigung singulärer Sätze – und damit komme ich zum Tabellenrand – ist zu unterscheiden zwischen einfachen interpretativen Sätzen und genuin interpretativen Sätzen. Diese Unterscheidung teilt die Menge der interpretativen Sätze im engeren Sinn, d.h. die Menge aller bedeutungszuweisenden Sätze, die nicht bereits als deskriptiv ausgezeichnet wurden, disjunkt. Ein einfacher interpretativer Satz ist ein interpretativer Satz im engeren Sinn über die fiktive Welt. Ein genuin interpretativer Satz ist ein interpretativer Satz im engeren

111 Solche Generalisierungen implizieren im Gegensatz zu Gesetzen keine kontrafaktischen Urteile. Aus (3) „Alle Frauenfiguren im Roman fühlen sich von Ulrich angezogen“ folgt natürlich nicht, dass, wenn Musil dem Romanpersonal eine weitere Frauenfigur hinzugefügt hätte, diese sich auch von Ulrich angezogen gefühlt hätte. Der im Deutschen etwas irreführende Begriff „zufällige Generalisierung“ geht zurück auf Nelson Goodman, Fact, Fiction and Forecast, Harvard 1954, der von „accidental truths“ (ebd., S. 46) oder „accidental hypotheses“ (ebd., S. 76 u.ö.) gegenüber „laws“ spricht.

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Sinn, der nicht über die fiktive Welt spricht.112 Einfache interpretative Sätze setzen eine ‚interne Perspektive‘, in der es um die imaginierte Welt geht, genuin interpretative Sätze dagegen eine ‚externe Perspektive‘, die fiktionale Äußerungen bzw. das fiktionale Werk betrifft, voraus.113 Der Satz (1) „Ulrich wird gegen seinen Willen ‚Ehrenamtlicher Sekretär der großen patriotischen Aktion‘“ ist ein einfacher interpretativer Satz, der Satz (4) „Meingast verkörpert Ludwig Klages“ hingegen ein genuin interpretativer Satz. Drei erläuternde Bemerkungen: Die vorgeschlagene Unterscheidung darf erstens nicht als Unterscheidung zwischen nicht-symbolischen und symbolischen Bedeutungszuweisungen verstanden werden, denn es gibt selbstverständlich auch symbolische Beziehungen in fiktiven Welten.114 Zweitens ist zu unterscheiden zwischen Sätzen über die fiktive Welt und Sätzen über fiktive Entitäten. Nicht alle Sätze über fiktive Entitäten sind Sätze über die fiktive Welt; Satz (4) betrifft eine Bedeutungsbeziehung zwischen einer fiktiven Figur und der realen Welt, ohne ein Satz über die fiktive Welt zu sein. In anderem Vokabular: Jemand, der diesen Satz behauptet, beansprucht damit nicht einen Sachverhalt der fiktiven Welt zum Ausdruck zu bringen. Drittens sind manche Sätze ambig hinsichtlich der Unterscheidung einfach/genuin interpretativ. Der Satz „Die Hofburg, in der Graf Stallburg amtiert, repräsentiert die kaiserliche Macht“ kann als einfacher interpretativer und als genuin interpretativer Satz gelesen werden. Je nachdem unterscheiden sich die Arten seiner Bestätigung.

112 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich in der Forschung unter dem Label „interpretations made from inside and outside the story“ (Ben Levinstein, „Facts, Interpretation, and Truth in Fiction“, in: British Journal of Aesthetics, 47/2007, S. 64–75, hier S. 68). Levinstein macht jedoch implizit zum Kriterium der Unterscheidung, ob die Interpretation angemessen wäre, wenn man die Geschichte als faktual ansehen würde: „For a more clear-cut case, suppose I tell you a story believed by both of us to be fact, and someone in such a story is named John Badguy. It would be absurd of you to make any assumptions about Mr Badguy’s personality because of his surname. But if I tell you a fictional story with a character named John Badguy, then you will assume from the start that such a name is (or at least could be) relevant to how you should conceive of Mr Badguy.“ (Ebd., S. 68). 113 Zu dieser Unterscheidung, die auf Kendall Walton zurückgeht, vgl. Peter Lamarque/Stein H. Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective, Oxford 1994, S. 143–148. 114 Zum Beispiel repräsentiert Kaiser Franz Joseph I. in der durch den Mann ohne Eigenschaften geschilderten fiktiven Welt Österreich-Ungarn.

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VII.2 Die Bestätigung einfacher interpretativer Sätze Der im Folgenden anhand eines Beispiels zu entfaltende Grundgedanke besteht darin, dass einfache interpretative Sätze bestätigt werden, indem Argumente für sie formuliert werden, die dann gegeneinander abgewogen werden. Die stärksten Argumente beruhen dabei auf deskriptiven Sätzen.115 Zur Illustration soll der interpretative Satz (1) „Ulrich wird gegen seinen Willen ‚Ehrenamtlicher Sekretär der großen patriotischen Aktion‘“ dienen. Die Wahrheit dieses Satzes hängt von der Wahrheit folgender beiden Teilhypothesen ab: (a) Ulrich ist zu einem gewissen Zeitpunkt t ‚Ehrenamtlicher Sekretär der großen patriotischen Aktion‘. (b) Ulrich wollte zu einem Zeitpunkt früher als t nicht ‚Ehrenamtlicher Sekretär‘ werden.

Die Teilhypothese (a) wird durch einen deskriptiven Satz, nämlich die explizite fiktionale Wahrheit, dass Ulrich „bei dieser Gelegenheit sofort ehrenamtlicher Sekretär der großen patriotischen Aktion“116 wurde, bestätigt. Für die Bestätigung von (b) sind folgende deskriptive Sätze relevant: (i) Ulrich erfährt vom Arrangement seines Vaters mit dem Grafen Stallburg, der ihm eine Stellung in einer Unternehmung zugunsten des siebzigjährigen „Friedenskaisers“ zugedacht hat.117 (ii) Ulrich sucht „aus verschiedenen Gründen“, darunter der wichtige Grund „[N]eugier[]“, den Grafen Stallburg auf, wo er ein Schreiben für die „Hauptperson der großen vaterländischen Aktion“, Graf Leinsdorf, erhält.118

115 Ganz ähnliche inspirierende, aber ergänzungsbedürftige Überlegungen finden sich in Jon Elster/Dagfinn Føllesdal/Lars Walloe, Rationale Argumentation: Ein Grundkurs in Argumentationsund Wissenschaftstheorie, Berlin 1977, S. 107–115. Ähnlich Heide Göttner, Logik der Interpretation. Analyse einer literaturwissenschaftlichen Methode unter kritischer Betrachtung der Hermeneutik, München 1973, S. 24–60, bes. S. 24–29. Sowohl Göttner als auch Føllesdal vernachlässigen u.a., dass es unterschiedliche Arten von Interpretationen mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen gibt. Vgl. jedoch die zusätzliche „Arbeitshypothese“ „daß die Interpretation zu bevorzugen ist, in deren Licht das Werk am interessantesten und am künstlerisch zufriedenstellendsten erscheint.“ (Elster/Føllesdal/Walloe, Rationale Argumentation, S. 113). In anderem Vokabular vertritt Olsen, The Structure, S. 118–159, bes. S. 119 f., dieselbe Grundidee wie Føllesdal und Göttner. – Andere gehaltvolle Beiträge, die aus sehr unterschiedlicher Perspektive die Bestätigung von Interpretationen thematisieren, sind: Karl Eibl, „Sind Interpretationen falsifizierbar?“, in: Danneberg/Vollhardt (Hrsg.), Vom Umgang, S. 169–184; Hempfer, „Überlegungen zu einem Gültigkeitskriterium für Interpretationen“; David Novitz, „Interpretation and Justification“, in: Metaphilosophy, 31/ 2000, S. 4–24. 116 Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, S. 256, I.40. 117 Vgl. ebd., S. 123 f., I.19. 118 Vgl. ebd., S. 127 und 132, I.20.  



Die Bestätigung von Interpretationshypothesen

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(iii) Bei Erhalt des Schreibens hat Ulrich das Gefühl, „wie ein Kork gehoben und irgendwo abgesetzt“ worden zu sein.119 (iv) Ulrich beschließt, den Grafen Leinsdorf nicht aufzusuchen.120 (v) Ulrich lügt gegenüber zwei Polizeibeamten, „Freund des Grafen Leinsdorf und Sekretär der großen patriotischen Aktion“ zu sein, um nach seiner Verhaftung wieder freizukommen.121 (nach (besteErkl)) (vi) Da der Polizeipräsident Ulrich aufgrund seiner Verbindung mit dem Grafen Leinsdorf, der bereits nach seiner Adresse geforscht hat, auf freien Fuß setzt, „fühlte Ulrich sich verpflichtet“, dem Grafen am nächsten Tag seine Aufwartung zu machen.122 (nach (besteErkl))

Diese Beschreibungen der fiktiven Welt lassen sich nun (auf verschiedene Weise) in Argumente für (b) umformen:123 Argument 1: Obwohl Ulrich weiß, dass seine Aussichten auf eine Tätigkeit in der Parallelaktion von der Kontaktaufnahme mit Stallburg abhängen, sucht er diesen nicht primär deshalb, sondern aus Neugier auf. Argument 2: Als Ulrich das Schreiben für Leinsdorf übereicht wird, hat er das Gefühl, ein von externen Mächten bewegtes Objekt, ein „Kork“ auf dem Wasser zu sein, er empfindet die Empfehlung an Leinsdorf als unbeabsichtigtes Ergebnis seines Besuchs. Argument 3: Ulrich beschließt, Leinsdorf nicht aufzusuchen, was impliziert, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht ‚Ehrensekretär‘ der Parallelaktion werden will.

Scheinbare Gegenevidenz entkräftet folgendes Argument: Argument 4: Ulrich behauptet zu einem Zeitpunkt, zu dem er es noch nicht ist, ‚Ehrensekretär‘ der Parallelaktion zu sein, um wieder freizukommen. Nur weil ihn diese Lüge zum Polizeipräsidenten führt, der ihn in der Erwartung seines Besuchs bei Leinsdorf entlässt, besucht Ulrich Leinsdorf und wird Ehrensekretär der Parallelaktion.

Es ergibt sich folgendes Bild der Bestätigung durch auf deskriptiven Sätzen beruhende Argumente: Aus singulären Sätzen werden Teilhypothesen abgeleitet, für deren Wahrheit, sofern sie nicht direkt durch deskriptive Sätze bestätigt werden, Belege beigebracht werden. Auf der Basis dieser Belege lassen sich

119 Vgl. ebd., S. 133, I.20. 120 Vgl. ebd., S. 141, I.22. 121 Vgl. ebd., S. 253, I.40. Der Schluss auf die beste Erklärung betrifft hier die Motivation Ulrichs für die Lüge. 122 Vgl. ebd., S. 256, I.40. Der Schluss auf die beste Erklärung betrifft hier die Frage, warum Ulrich sich zum Besuch verpflichtet fühlt, also die Herstellung einer Kausalbeziehung. 123 Zur unterschiedlichen Funktionalisierung von Textbelegen zur Stützung logisch widersprüchlicher Thesen sehr anschaulich ist: Torsten Pettersson, „The Literary Work as a Pliable Entity“, in: Krausz (Hrsg.), Is There a Single Right Interpretation?, S. 211–230, hier S. 220–228.

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Argumente für die Teilhypothesen formulieren. Die Argumente selbst beruhen teilweise auf (impliziten oder expliziten) Prämissen, die keine deskriptiven Sätze sind, sondern von der Argumentation als Hintergrundwissen in Anspruch genommen werden. So hat Argument 3 die implizite Prämisse, dass sich Korken auf dem Wasser schwer kalkulierbar bewegen und dass eine solche Bewegung dem menschlichen Handeln vergleichbar ist, insofern es unkalkulierbare bzw. unbeabsichtigte Handlungsergebnisse zur Folge haben kann. Dieses Hintergrundwissen muss selbst wieder dem durch die Bedeutungskonzeption ausgezeichneten Wissensbestand entstammen. Es gibt jedoch auch von einer vollständigen Bedeutungskonzeption abhängige Argumente für (b). Diese sind entweder von deskriptiven Sätzen unabhängig oder nur sekundär abhängig. In einer aus dem Nachlass edierten Vorstufe des „Mann ohne Eigenschaften“ mit dem Titel „Der Erlöser“, die auf 1921–23 zu datieren ist, heißt es über Anders, wie Ulrich zu dieser Zeit noch hieß: Anders, der kurzerhand zum Sekretär der Aktion gemacht worden war, wurde von Menschen mit Vorschlägen überlaufen, die wie Insekteneier von einer plötzlichen Hitze ausgebrütet waren.124

Angesichts der zahlreichen Veränderungen des „Mann ohne Eigenschaften“ im Vergleich zum „Erlöser“ wird sich aus diesem Beleg trotz der starken Formulierung „gemacht worden war“ sicher kein besonders starkes Argument für (b) formen lassen. Hier geht es allein darum, zu zeigen, dass die jeweilige Bedeutungskonzeption bestimmt, ob und wie sich aus dem Beleg ein Argument bilden lässt, insofern sie Interpretationskontexte legitimiert oder ausschließt und die mithilfe legitimer Kontexte gewonnenen Argumente hierarchisiert.125

124 Robert Musil, „Der Erlöser“, in: Amann/Corino/Fanta (Hrsg.), Klagenfurter Ausgabe, Bd. 4: Aus dem Nachlass Ediertes. Die Romanprojekte 1918–1926, Kap. III (Nachlassmappe VII/3/260). Unsicherheiten der Datierung – nach Auskunft der Klagenfurter Ausgabe handelt es sich bei dem Manuskript „möglicherweise“ um „ein Bruchstück aus einem Entwurfsmanuskript zur ‚Zwillingsschwester‘, das ab Anfang 1926 verfasst und nachträglich mit ‚α‘ sigliert“ und so dem früheren „Erlöser“-Projekt zugeordnet wurde – spielen aufgrund der Illustrationsfunktion des Beispiels hier keine Rolle. 125 „Eine Bedeutungs- und Interpretationskonzeption für die Interpretation ist spezifischer als eine Argumentationstheorie, denn erst durch die gewählte Bedeutungskonzeption wird festgelegt, wann ein Befund überhaupt relevant ist, um den Status eines Arguments für oder gegen eine Interpretation zu erlangen […]“ (Danneberg, „Einleitung. Interpretation“, S. 20). Zum Begriff Interpretationskontext und zu seiner Abgrenzung von anderen Kontextbegriffen bzw. Verwendungen (heuristische Kontextverwendung, Entnahme der Darstellungssprache aus dem Kontext, Vergleichskontext und Einflusskontext) vgl. Danneberg, „Interpretation: Kontextbildung“, S. 102−109.

Die Bestätigung von Interpretationshypothesen

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Unter Voraussetzung des radikalen aktualen Autorintentionalismus (identity thesis), d.h. die Intentionen des realen Autors sind allein ausschlaggebend, lässt sich folgendes Argument bilden: Argument 5: Der angeführte Beleg aus der Erlöser-Vorstufe, lässt auf Musils Intention schließen, zu erzählen, dass Anders bzw. Ulrich gegen seine Absicht bzw. ohne eigenes Zutun zum Sekretär der Parallelaktion wird. Diese basale Handlungsaspekte betreffende Intention hat Musil beibehalten. Daher ist (b) wahr.

Dieses Argument ist unabhängig von deskriptiven Sätzen. Unter Voraussetzung des moderaten-aktualen Autorintentionalismus, demzufolge die erfolgreich realisierten Intentionen des realen Autors ausschlaggebend für Bedeutungszuweisungen sind, lässt sich folgendes Argument bilden: Argument 5*: Der angeführte Beleg aus der Erlöser-Vorstufe, lässt auf Musils Intention schließen, zu erzählen, dass Anders bzw. Ulrich gegen seine Absicht bzw. ohne eigenes Zutun zum Sekretär der Parallelaktion wird. Diese Intention wird im „Mann ohne Eigenschaften“ erfolgreich realisiert, wie die Argumente 1−4 zeigen. Daher ist (b) wahr.

Dieses Argument ist sekundär abhängig von deskriptiven Sätzen, da es auf die Argumente 1−4 referiert; der Erlöser-Beleg ist nur relevant, wenn es Hinweise dafür gibt, dass die Intention realisiert wurde. Legt man hingegen einen hypothetischen Intentionalismus zugrunde, derzufolge die Intentionen eines fiktiven, vom kompetenten zeitgenössischen Leser aufgebauten Autorkonstrukts ausschlaggebend sind, lässt sich aus dem Erlöser-Beleg kein Argument für (b) gewinnen. Denn einem zeitgenössischen Leser, und mag er noch so kompetent gewesen sein, stand dieser Beleg einfach nicht zur Verfügung. Demzufolge konnte er dem Autorkonstrukt diese Intention, jedenfalls auf Basis dieses Belegs nicht zuweisen (auf Basis der Argumente 1−4 indes schon). Die Unterscheidung zweier verschiedener möglicher Argumenttypen bei der Bestätigung einfacher interpretativer Sätze lässt die Frage aufkommen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Obwohl diese Frage hier nicht umfassend behandelt werden kann, spricht einiges dafür, dass eine starke Evidenz, die nach Abwägung aller auf deskriptiven Sätzen beruhenden Argumente gegeben ist, unter keinen Umständen durch Argumente ausgehebelt werden kann, die auf einer vollständigen Bedeutungskonzeption beruhen. Ich glaube, dass die Unplausibilität des radikalen aktualen Autorintentionalismus wesentlich darauf beruht, dass er die Suprematie der auf deskriptiven Sätzen beruhenden Argumente nicht berücksichtigt: Angenommen, aus einer Menge deskriptiver Sätze wäre klar ersichtlich, dass Ulrich seit dem Erhalt des Briefes seines Vaters, der ihn von dieser Möglichkeit in Kenntnis setzt, die Absicht hat, Sekretär der Parallelaktion zu werden, so ließe sich auf der Basis von Argumenten des Typs 5 – und führten

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sie Briefe vom Tag der Niederschrift der entsprechenden Passagen des Romans an – nicht das Gegenteil behaupten. Dass plausible autorintentionale Bedeutungskonzeptionen die Möglichkeit des Scheiterns des Autors berücksichtigen müssen, ist Ausdruck des Primats der auf deskriptiven Sätzen beruhenden Argumente. Fälle, in denen die von vollständigen Bedeutungskonzeptionen abhängigen Argumente den Ausschlag geben, sind Fälle, in denen es keine auf deskriptiven Sätzen beruhenden Argumente gibt. So etwa in diesem der Forschung entnommenen Beispiel: Der Roman The Secret Agent (1907) von Joseph Conrad endet mit dem Selbstmord von Mrs. Verloc, der allerdings nie explizit erzählt wird. Stattdessen erfährt man, dass Mrs. Verloc eine Ärmelkanal-Fähre besteigt, woraufhin eine andere Figur in einer Zeitung die Schlagzeile „Suicide of Lady Passenger from a cross-Channel Boat“ liest. In diesem Fall gibt es kein auch nur halbwegs plausibles auf deskriptiven Sätzen beruhendes Argument dafür, dass Mrs. Verloc Selbstmord begangen hat, denn der Selbstmord jedes beliebigen weiblichen Passagiers an Bord ihres Schiffes oder einer anderen Ärmelkanalfähre hätte zu eben dieser Schlagzeile geführt. Dass gerade der Selbstmord von Mrs. Verloc hier als so evident erscheint, beruht auf einer konversationellen Implikatur nach Grice,126 deren eingehende Untersuchung für das Verständnis literarischer Texte noch aussteht.127 Die scheinbare Verletzung der Maxime „Gestalte deinen Beitrag so relevant wie möglich für den jeweiligen Gesprächszweck“ durch den Autor lässt sich folgendermaßen in ein Argument umwandeln:

126 „Since speakers tend to observe the Cooperative Principle, and hearers know this in a vague and tacit sort of way, hearers tend to assume that particular speakers are cooperating, in the absence of evidence to the contrary. If the hypothesis that S is implicating p fits better with the assumption that S is being cooperative than the hypothesis that S is not, the hearer may conclude that S is implicating p, by abduction.“ (Wayne Davis, „Implicature“, 2005, http://plato.stanford. edu/entries/implicature/ [Stand: 11.02.2012], hier: Abschn. 5). Tatsächlich erklärt Mikael Pettersson, „What’s the story?“, in: Greger Andersson/Lars-Åke Skalin (Hrsg.), Fact and Fiction in Narrative. An Interdisciplinary Approach, Örebro 2005, S. 227–250, hier S. 237–39 und 242–244, dieses Beispiel durch „some sort of implicature“ (ebd., S. 239) nach Grice. Für den fraglichen Schluss seien Überzeugungen ausschlaggebend, die nicht Teil des make-believe sind. Vgl. mit einem anderen Beispiel auch Carlshamre, Truth in. 127 Vgl. jedoch die Überlegungen in Geoffrey N. Leech/Michael H. Short, Style in Fiction. A Linguistic Introduction to English Fictional Prose, London 2007, S. 236–245; Pratt, Toward a Speech Act Theory, S. 152–200. Zentrale Fragen sind hier erstens, welcher Instanz, dem Erzähler oder dem Autor, man die Einhaltung von Grice’s Kooperationsprinzip unterstellen soll und zweitens bis zu welchem bzw. in welcher Hinsicht man sie ihm unterstellen kann. Die Maximen der Qualität (so wahr wie möglich) und der Modalität (so klar wie möglich) scheinen bei literarischer Kommunikation nur eingeschränkt zu gelten.

Die Bestätigung von Interpretationshypothesen

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Argument 6: Die Annahme, dass der „Lady Passenger“ Mrs. Verloc ist, ist die beste Erklärung der Erwähnung der scheinbar nichts zum Fortgang der Geschichte beitragenden Schlagzeile durch den Autor, da diese Annahme sie in einen nicht-offensichtlichen Zusammenhang mit dem Rest der Geschichte bringt.

Dieses Argument setzt eine spezifische Bedeutungskonzeption voraus, die Erklärungen des Verhaltens einer Kommunikationsinstanz als Argumente für einzelne Bedeutungszuweisungen legitimiert. Das Argument hat ferner die wichtige implizite Prämisse, dass das in alltagssprachlicher Kommunikation geltende Kooperationsprinzip auch in literarischer Kommunikation gilt. Zudem macht dieses Beispiel deutlich, dass die Unterscheidung von auf deskriptiven Sätzen beruhenden Argumenten und von Bedeutungskonzeptionen abhängigen Argumenten nicht identisch ist mit der Unterscheidung von auf textinternen und textexternen Belegen beruhenden Argumenten.128 Denn Argument 6 kommt mit textinternen Belegen aus, ist jedoch kein auf deskriptiven Sätzen beruhendes Argument.

VII.3 Die Bestätigung genuin interpretativer Sätze Genuin interpretative Sätze lassen sich im Gegensatz zu den einfachen interpretativen Sätzen nicht durch auf deskriptiven Sätzen beruhende Argumente bestätigen. Ihre Bestätigung erfordert von einer vollständigen Bedeutungskonzeption abhängige Argumente. Anhand von (4) „Meingast verkörpert Ludwig Klages“ lässt sich dies illustrieren. Dieser Satz impliziert, dass Meingast die Eigenschaften x1, …, xn zukommen, die Klages kennzeichnen. Ein entsprechendes Argument hätte dementsprechend mindestens zwei Prämissen. Erstens einen einfachen interpretativen Satz, der die Eigenschaften von Meingast benennt und hauptsächlich durch Rückgriff auf deskriptive Sätze zu belegen ist. Zweitens muss unter Rückgriff auf einen durch die Bedeutungskonzeption legitimierten Wissensbestand über Klages eine (partielle) Identität seiner Eigenschaften mit den Eigenschaften Meingasts festgestellt werden. Drittens muss diese Eigenschaftsidentität gemäß einer Bedeutungskonzeption ein Grund dafür sein, dass (4) wahr ist. Unter Voraussetzung etwa des hypothetischen Intentionalismus wäre dafür zu argumentieren, dass der kompetente zeitgenössische Leser aufgrund der Eigenschaftsidentität auf die entsprechende Intention Musils geschlossen hätte, dass Meingast Klages verkörpert.

128 Vgl. etwa Beardsley, Aesthetics, S. 20 f.  

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In dem Maße, in dem die von einer vollständigen Bedeutungskonzeption abhängigen Argumente auf einfachen interpretativen Sätzen beruhen, sind sie von deskriptiven Sätzen bzw. den auf ihnen beruhenden Argumenten abhängig.

VII.4 Zur Abwägung von Argumenten Das Ergebnis dieses Kapitels mag in zweierlei Hinsicht unbefriedigend wirken, da bis hierhin weder die Bewertung der unterschiedlichen Stärke einzelner Argumente noch ihre Abwägung untereinander erläutert wurde. Dazu ist Folgendes zu sagen: Die Stärke eines Arguments hängt von der Wahrscheinlichkeit seiner Prämissen und dem angewandten Schlussverfahren ab. Da insbesondere die Argumente zugunsten von genuin interpretativen Sätzen auf unsicheren, oft unausgesprochenen Prämissen, z.B. dem Fortbestehen einer Intention über einen gewissen Zeitraum, beruhen und ihren Konklusionen dementsprechend nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit zukommt, wäre eine Abwägung, die auf einer bloßen Auszählung einzelner Argumente beruht – etwa: zwei Pro-Argumente schlagen ein Kontra-Argument −, unzureichend. Allerdings steht eine adäquate alternative Analyse vor großen Schwierigkeiten, wie hier nur angedeutet werden kann. Mithilfe der Bayes’schen Bestätigungstheorie lassen sich auf der Basis von Anfangswahrscheinlichkeiten einzelner Sätze ihre Wahrscheinlichkeiten bei Berücksichtigung weiterer Evidenz (Nachwahrscheinlichkeiten) errechnen. Eine solche quantitative Analyse erlaubt theoretisch sowohl die Bewertung einzelner Argumente als auch die Abwägung unterschiedlich starker Argumente nach statistischen Maßstäben.129 Ein fundamentales Problem der Bayes’schen Epistemologie in puncto Anwendbarkeit besteht jedoch in der Bestimmung der Ausgangswahrscheinlichkeiten.130 Wie wahrscheinlich ist es auf einer Skala von 0 bis 1, dass – um beim obigen Beispiel zu bleiben – Musil seine Intention nicht geändert hat, und wie wahrscheinlich ist die Hypothese, dass Ulrich gegen seinen Willen Sekretär der Parallelaktion wird, bevor man den „Erlöser“-Beleg berücksichtigt? Die statistische Exaktheit, die die Bayes’sche Bestätigungstheorie verspricht,

129 Vgl. den immer noch lesenswerten konzisen Überblick in Gordon G. Brittan/Karel Lambert, Eine Einführung in die Wissenschaftsphilosophie. Übers. von Joachim Schulte, Berlin 1991, S. 114–128. 130 Vgl. Luc Bovens/Stephen Hartmann, Bayesianische Erkenntnistheorie, Paderborn 2006, S. 51–53; Brittan/Lambert, Eine Einführung, S. 124–128; Patrick Suppes, „Where Do Bayesian Priors Come From?“, in: Synthese, 156/2007, S. 441–471, hier bes. S. 441–446 und 455 f. Zur Verteidigung des Bayesianismus gegen diesen Einwand vgl. Colin Howson/Peter Urbach, Scientific Reasoning. The Bayesian Approach, Chicago 2006, S. 265–302.  

Die Bestätigung von Interpretationshypothesen

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kann hier offenkundig nur um den Preis willkürlicher Festlegungen zu Beginn eingeführt werden.

VIII Zusammenfassung Interpretative Sätze im engeren Sinn können nur gemäß einer Bedeutungskonzeption bzw. unter Berücksichtigung des jeweiligen Erkenntnisinteresses des Interpreten validiert werden. Auch unter den Bedingungen des bestätigungstheoretischen Holismus ist der Beschreibungsbegriff nicht obsolet. Anhand eines epistemisch-methodischen Kriteriums lassen sich revisionsresistente, jedoch prinzipiell fallible deskriptive Sätze über die fiktive Welt auszeichnen, denen eine besondere Rolle bei der Bestätigung interpretativer Sätze zukommt. Diese deskriptiven Sätze sowie die auf ihnen beruhenden Argumente sind nur von einem spezifischen Aspekt einer Bedeutungskonzeption – dem zur Interpretation legitimerweise verwendbaren Wissen – abhängig. Die Funktionalisierung deskriptiver Sätze bei der Bestätigung von Interpretationshypothesen lässt sich in einem Schaubild veranschaulichen:

Abb. 1: Funktionalisierung deskriptiver Sätze bei der Bestätigung von Interpretationshypothesen

Es ist zu unterscheiden zwischen der Bestätigung einfacher interpretativer Sätze und der Bestätigung genuin interpretativer Sätze, die eine ‚externe Perspektive‘ auf das fiktionale Werk voraussetzen. Bei der Bestätigung einfacher interpretativer Sätze haben auf deskriptiven Sätzen beruhende Argumente das Primat gegenüber von vollständigen Bedeutungskonzeptionen abhängigen Argumenten, insofern sie letztere, bei gleicher Stärke, stets übertrumpfen. Die Bestätigung genuin interpretativer Sätze erfordert von einer vollständigen Bedeutungskonzeption

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abhängige Argumente. Diese haben jedoch in aller Regel deskriptive Sätze als Prämissen. Die Bestätigung vag-quantifizierter und all-quantifizierter Sätze hängt von der Bestätigung singulärer Sätze ab. Ein Surplus der entwickelten Überlegungen besteht in ihrem Beitrag zur Klärung der Position des moderaten-aktualen Autorintentionalismus, für Bedeutungszuschreibungen sei die erfolgreich im Werk realisierte Intention des realen Autors ausschlaggebend. Diese Position wird durch das Primat der auf deskriptiven Sätzen beruhenden Argumente gegenüber den auf vollständigen Bedeutungskonzeptionen beruhenden Argumenten ex negativo erhellt: Ein Autor scheitert darin, seine Intention im Werk zu realisieren, wenn auf deskriptiven Sätzen beruhende Argumente gegen einen interpretativen Satz über sein Werk sprechen, der gemäß seiner Intention wahr sein sollte.

Kai Büttner, Berlin

Beliebigkeit der Literaturwissenschaft? Literaturtheorie zwischen Pluralismus und Verdrängungswettbewerb Während im Anschluss an die intensiven Diskussionen der 1970er und 80er Jahre das fachwissenschaftliche Interesse für Literaturtheorie zeitweilig abgenommen hatte,1 erfährt dieser Bereich gegenwärtig wieder zunehmend Aufmerksamkeit.2 Neben weiterführenden Bearbeitungen von bereits traditionellen Problemstellungen3 rücken immer mehr auch neuere Ansätze in den Fokus. Hierzu ist beispielsweise der vielschichtige Bereich der ‚Cognitive Poetics‘ zu zählen.4 Die fachwis-

1 Ralf Klausnitzer zufolge hat sich Ende der 1980er Jahre eine sichtbare ‚Theoriemüdigkeit‘ eingestellt. Vgl. Ralf Klausnitzer, „Koexistenz und Konkurrenz. Theoretische Umgangsformen mit Literatur im Widerstreit“, in: Ders./Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern 2007, S. 15–48, hier S. 39. Vgl. hierzu auch Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt, „Vorwort“, in: Dies. (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der „Theoriedebatte“, Stuttgart 1992, S. 7–9, hier S. 7. 2 Dies zeigt sich etwa darin, dass seit dem Jahr 2000 wieder zunehmend Einführungen und Überblicke zur Literaturtheorie erscheinen. Vgl. Tilmann Köppe/Simone Winko, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart 2008; vgl. hier S. 2. Dass im Jahr 2007 mit dem Journal of Literary Theory ein eigenständiges Publikationsorgan für aktuelle Fragestellungen und Kontroversen der Literaturtheorie gegründet wurde, ist ein weiteres Indiz für das wieder verstärkte Interesse der Disziplin an diesem Themenfeld. 3 So zeigt sich etwa verstärkt eine Wiederaufnahme der Debatte zur Autorschaft. Vgl. dazu u.a. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999; Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002; Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007. Vgl. darüber hinaus den Bericht zu einer entsprechenden Tagung des Jahres 2011: Christoph Plaumbaum/Jan-Noël Thon, „Autorschaft zwischen Intention, Inszenierung und Gesellschaft. Positionsbestimmungen nach der ‚Rückkehr des Autors‘ (Tagung in Berlin v. 31.3.–2.4.2011)“, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 21/2011, 3, S. 620–622. 4 Vgl. Köppe/Winko, Neuere Literaturtheorien, S. 300–312. Martin Huber und Simone Winko zufolge mag die zunehmende Bedeutung kognitionswissenschaftlicher Aspekte in der Literaturwissenschaft ggf. auf den Attraktivitätsverlust von zuvor vorherrschenden ‚Supertheorien‘ zurückzuführen sein. Vgl. Martin Huber/Simone Winko, „Literatur und Kognition. Perspektiven eines Arbeitsfeldes“, in: Dies. (Hrsg.), Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, Paderborn 2009, S. 7–26, hier S. 7: „Tatsache ist: Eine starke Tendenz im Fach geht seit Beginn der 2000er Jahre dahin, in den Kognitionswissenschaften neue Bezugstheorien und Modelle zu suchen.“

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senschaftlichen Auseinandersetzungen verlaufen hierbei – nicht zuletzt in Bezug auf diese neueren Ansätze – durchaus kontrovers.5 Kontroversen – als Austragungsformen wissenschaftlichen Dissenses – müssen nicht zwangsläufig als negative Erscheinungen der akademischen Kultur bewertet werden. Wie Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase hervorgehoben haben, liefern sie hingegen vielfach einen epistemischen Mehrwert, indem sie etwa klärende, evaluative und produktive Funktionen übernehmen.6

5 Vgl. etwa die Kontroverse zwischen Karl Eibl und Frank Kelleter: Frank Kelleter, „A Tale of Two Natures: Worried Reflections on the Study of Literature and Culture in an Age of Neuroscience and Neo-Darwinism“, in: Journal of Literary Theory, 1/2007, 1, S. 153–189; Karl Eibl, „On the Redskins of Scientism and the Aesthetes in the Circled Wagons“, in: Journal of Literary Theory, 1/2007, 2, S. 421–442; Frank Kelleter, „The Polemic Animal (or, How I Learned to Stop Worrying and Love Partisan Politics). A Reply to Karl Eibl“, in: Journal of Literary Theory, 2/2008, 1, S. 127–154. – Vgl. auch die Kontroverse um den durch Gerhard Lauer vertretenen Ansatz einer auf Spiegelneuronen bezugnehmenden Literaturtheorie: Gerhard Lauer, „Spiegelneuronen: Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung“, in: Karl Eibl/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hrsg.), Im Rücken der Kulturen, Paderborn 2007, S. 137–163; Kilian Koepsell/Carlos Spoerhase, „Neuroscience and the Study of Literature. Some Thoughts on the Possibility of Transferring Knowledge“, in: Journal of Literary Theory, 2/2008, 2, S. 363–374; Gerhard Lauer, „Das Spiel der Einbildungskraft. Zur kognitiven Modellierung von Nachahmung, Spiel und Fiktion“, in: Thomas Anz/Heinrich Kaulen (Hrsg.), Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, Berlin 2009, S. 27–37; Ders., „Going Empirical. Why We Need Cognitive Literary Studies“, in: Journal of Literary Theory, 3/2009, 1, S. 145–154; Massimo Salgaro, „The Text as a Manual. Some Reflections on the Concept of Language from the Neuroaesthetic Perspective“, in: Journal of Literary Theory, 3/2009, 1, S. 155–166; Virginia Richter, „‚I cannot endure to read a line of poetry‘. The Text and the Empirical in Literary Studies“, in: Journal of Literary Theory, 3/2009, 2, S. 375–388; Stefan Börnchen, „Auf den Affen gekommen. Anthropologie, Spiegelneuronen, ‚Neurogermanistik‘ 1772/ 2007“, in: Ders./Georg Mein (Hrsg.), Weltliche Wallfahrten. Auf der Spur des Realen, München 2010, S. 151–176. – Vgl. auch die Kontroverse um Strukturalismus und Kognitivismus in der Narratologie, die von Matthias Aumüller bereits aus kontroversetheoretischem Blickwinkel analysiert wurde: Matthias Aumüller, „Die Kontroverse um Strukturalismus und Kognitivismus in der Narratologie“, in: Klausnitzer/Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie, S. 413–425. 6 Vgl. Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase, „Vorwort“, in: Dies. (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie, S. 9–13, hier S. 11, sowie Carlos Spoerhase, „Kontroversen: Zur Formenlehre eines epistemischen Genres“, in: Ebd., S. 49–92, S. 61 f. – Einzelne Überlegungen des vorliegenden Textes – dies bezieht sich vor allem auf die Abschnitte zur Kontroverseforschung und zu dem Ansatz Gerhard Lauers bezogen auf Spiegelneuronen – gehen zurück auf meine am 23.02.2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin beantragte Magisterarbeit mit dem Titel „Spiegelneuronen in der Literaturwissenschaft. Analyse der wissenschaftlichen Kontroverse um den durch Gerhard Lauer formulierten Ansatz einer auf Spiegelneuronen ausgerichteten Literaturtheorie – aus dem Blickwinkel der Kontroverse als epistemisches Genre – sowie kritische Evaluation der durch Lauer vertretenen Position.“ Da diese Arbeit unveröffentlicht ist, sind an dieser Stelle keine genaueren Textstellenverweise möglich.  

Beliebigkeit der Literaturwissenschaft?

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In der Regel entsteht erst in epistemischen Kontroversen ein Rechtfertigungsdruck, der die Kontroverseteilnehmer dazu anhält, ihre sonst impliziten inhaltlichen Vorannahmen auf die Ebene eines expliziten argumentativen Diskurses zu heben.7

Für die Bewertung von Kontroversen stellt sich vor diesem Hintergrund jedoch die Frage, wann diese ihr epistemisches Potential am besten ausnutzen, wie positive von negativen Effekten entkoppelt werden können und, nicht zuletzt, wie somit Kontroversen im Idealfall zu führen sind.8 Ein zentraler Aspekt bei Kontroversen zur Literaturtheorie liegt hierbei auf der Ebene von Grundlagendissensen zwischen unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Stilen,9 wie bereits ein Beitrag Harald Frickes aus den 1990er Jahren nahelegt. Seine Retrospektive zu vorangegangenen literaturtheoretischen Diskussionen führt Fricke zum Plädoyer für ein einerseits rigoroseres Vorgehen gegen ungenügende Argumentationen und zugleich für „mehr Offenheit auch gegenüber Hypothesen, die im eigenen methodologischen Schulzusammenhang verpönt sind“.10 Dieser Appell für eine Entideologisierung literaturtheoretischer Debatten ist eine Reaktion auf ein Kontroverseverhalten, bei dem für eigene Ansätze ein hegemonialer Geltungsanspruch erhoben wird und Kontroversen auf diese Weise als ‚Verdrängungswettbewerbe‘ initialisiert werden. Mit ‚Verdrängungswettbewerb‘ soll hier umschrieben werden, dass im Rahmen neuerer Ansätze nicht immer alleine das heuristische Potential der eigenen Position herausgestellt wird, sondern damit gelegentlich eine Disqualifikation bestehender Ansätze einhergeht. Matthias Aumüller sieht hierin ein mitunter sogar als typisch zu bezeichnendes Verhalten bei literaturtheoretischen Kontroversen. Es lässt sich an dieser Stelle bereits ein erster, vielleicht nicht untypischer Zug literaturtheoretischer Kontroversen ausmachen: Zur Legitimation der eigenen Konzeption (bzw.

7 Carlos Spoerhase, „Wissenschaftsgeschichte als Konfliktgeschichte. Am Beispiel von Kontroversen in der Literaturtheorie“, in: Geschichte der Germanistik, 29/30/2006, S. 17–24, hier S. 21. 8 Vgl. ebd., S. 19, sowie Klausnitzer/Spoerhase, „Vorwort“, S. 10. 9 Ich beziehe mich hier auf den ‚Stil‘-Begriff, wie er von Dirk Werle expliziert wurde. Vgl. Dirk Werle, „Stil, Denkstil, Wissenschaftsstil. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften“, in: Lutz Danneberg/Wolfgang Höppner/Ralf Klausnitzer (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a.M. 2005, S. 3–30. Der Begriff des ‚Stils‘ hat hier etwa gegenüber dem Begriff der ‚Schule‘ den Vorteil, nicht zwangsläufig „die Vorstellung sozialer Interaktion und gruppenbezogener Verhandlung von Wissensansprüchen“ (ebd., S. 14) zu beinhalten. 10 Harald Fricke, „Methoden? Prämissen? Argumentationsweisen! Überlegungen zur Konkurrenz wissenschaftlicher Standards in der Literaturwissenschaft“, in: Danneberg/Vollhardt (Hrsg.),Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 211–227, hier S. 223.

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ihrer Originalität) wird mitunter eine Krise der gegnerischen Konzeption herbeigeredet, die in dieser Form gar nicht existiert hat.11

Wo literaturtheoretische Grundlagendiskussionen in Form von Verdrängungswettbewerben geführt werden, stellt sich der Eindruck ein, als gäbe es für die Frage nach einer adäquaten literaturwissenschaftlichen Methodik – angesichts des breiten Spektrums literaturtheoretischer Ansätze – lediglich Entweder-oderOptionen. Als könne beispielsweise entweder nur ein strukturalistischer oder aber nur ein autorintentionaler Zugang zu Literatur Adäquatheit für sich beanspruchen; als bedinge etwa die ‚Geburt des Lesers‘ – als literaturwissenschaftliche Analysekategorie – notwendigerweise auch den ‚Tod des Autors‘.12 Im Kontrast hierzu betonen pragmatistische Positionen bereits seit längerem, dass divergierende literaturtheoretische Annahmen nicht zwangsläufig in einem direkten Konflikt miteinander stehen, sondern vielmehr in einem komplementären Verhältnis, d.h. sie ergänzen sich gegenseitig, da sie am gleichen Gegenstand unterschiedliche Aspekte zu verdeutlichen suchen.13 Dieser Position zufolge erscheint es nicht

11 Aumüller, „Die Kontroverse um Strukturalismus und Kognitivismus in der Narratologie“, S. 417. Vgl. dazu auch Klausnitzer/Spoerhase, „Vorwort“, S. 11 f. 12 Der polemische Schlusssatz des bekannten Beitrags von Roland Barthes trägt die Züge eines Verdrängungswettbewerbs. Um „der Schrift eine Zukunft zu geben“ (Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko [Hrsg.], Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193, hier S. 193), erscheint es Barthes notwendig, auf das Konzept der Autorintentionalität grundlegend zu verzichten. „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“ Ebd., S. 193. (Die kursive Schreibweise im Original der deutschen Übersetzung kennzeichnet die im französischen Original divergierende Schreibweise des Wortes auteur und ist in diesem Sinne keine Hervorhebung. Vgl. ebd., S. 185, Anm. 1). Für die scheinbare Notwendigkeit zur radikalen Abkehr vom Konzept der Autorintentionalität scheint es bei Barthes jedoch eher wissenschaftspolitische als streng logische Gründe zu geben. Das von Barthes fokussierte Problem gründet vor allem in einer als zu einseitig empfundenen Dominanz von Intentionalitätskonzepten. „Unsere heutige Kultur beschränkt die Literatur tyrannisch auf den Autor, auf seine Person, seine Geschichte, seinen Geschmack, seine Leidenschaften. Noch immer sehen Kritiker im Werk von Baudelaire nichts als das Versagen des Menschen Baudelaire, im Werk von van Gogh nichts als dessen Verrücktheit, im Werk von Tschaikowski nichts als dessen Laster.“ Ebd., S. 186. Dies mag darauf hindeuten, dass Barthes die kategorische Forderung zur Aufgabe von autorintentionalen Konzepten notwendig erschienen sei, um die Literaturwissenschaft dazu zu befähigen, im Werk Baudelaires mehr sehen zu können, als nur das Versagen des Menschen Baudelaires. Es ist jedoch noch keine schlüssige Begründung dafür, dass die Frage nach der Intention des Autors prinzipiell keine von der Literaturwissenschaft sinnvoll zu stellende Fragestellung sein könne. 13 Vgl. Jeffrey Stout, „Was ist die Bedeutung eines Textes?“, in: Tom Kindt/Tilmann Köppe (Hrsg.), Moderne Interpretationstheorien. Ein Reader, Göttingen 2008, S. 230–247. Vgl. auch Richard Rorty, „Der Fortschritt des Pragmatisten“, in: Umberto Eco, Zwischen Autor und Text.  

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sinnvoll, bezüglich eines singulären Ansatzes aus dem Spektrum literaturwissenschaftlicher Interessenslagen einen hegemonialen Geltungsanspruch zu verkünden, da jeder Ansatz nur Ausgewähltes beleuchtet und anderes im Dunkeln lässt.14 Es gibt folglich eine Diskrepanz zwischen dem typischen Argumentationsverhalten im Rahmen literaturtheoretischer Kontroversen und dem tatsächlichen Verhältnis von literaturtheoretischen Positionen zueinander. Dieses Argumentationsverhalten ist keineswegs folgenlos, sondern führt mitunter zu hartnäckigen disziplinären ‚Verbotstafeln‘ – wie etwa die Autorschaftsdebatte gezeigt hat. Wo literaturtheoretische Kontroversen als Verdrängungswettbewerbe geführt werden, birgt dies die Gefahr, dass sich eine einseitige Überbetonung singulärer Aspekte von Literatur einstellt.15 Hieraus könnte folgen, dass im Zuge einer Modernisierung der disziplinären Methodologie produktive Verfahren der Literaturwissenschaft verdrängt werden – ‚das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird‘.16 Angesichts dieses Risikos bietet sich die Frage an, ob es mit Hilfe der pragmatistischen Position möglich ist, einem solchen Kontroverseverhalten nicht allein einen Appell, sondern auch eine Argumentation entgegenzusetzen.

Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini, München 2004, S. 99–119. Beachtung findet diese Position gegenwärtig etwa bei Christoph Dennerlein, Tilmann Köppe und Jan C. Werner. Vgl. Christoph Dennerlein/Tilmann Köppe/Jan C. Werner, „Interpretation: Struktur und Evaluation in handlungstheoretischer Perspektive“, in: Journal of Literary Theory, 2/2008, 1, S. 1–18. Vgl. zudem auch Thomas Zabka, „Interpretationsverhältnisse entfalten. Vorschläge zur Analyse und Kritik literaturwissenschaftlicher Bedeutungszuweisungen“, in: Journal of Literary Theory, 2/2008, 1, S. 51–70. 14 Vgl. Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 2 sowie auch Werner Strube, „Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen“, in: Danneberg/Vollhardt (Hrsg.),Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 185–209, hier S. 189, sowie Ders., „Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation“, in: Paul Michel/Hans Weder (Hrsg.), Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik I, Zürich 2000, S. 43–69, hier S. 63–66. 15 Vgl. Klaus Blaudzun/Heinz-Jürgen Staszak, „Dialektik der Interpretation. Zu Voraussetzungen des methodologischen Nachdenkens über die literaturwissenschaftliche Interpretation“, in: Danneberg/Vollhardt (Hrsg.),Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 43–59, hier S. 48. 16 Vgl. Richter, „‚I cannot endure to read a line of poetry‘“, S. 385 f. Eine weitere Gefahr besteht darin, dass es bei verhärteten Fronten zwischen divergierenden Positionen zu einem Ausbleiben von Kontroversen kommt, und damit zu einem Verzicht auf den produktiven Nutzen des wissenschaftlichen Streits. Vgl. hierzu Spoerhase, „Kontroversen“, S. 66 f.  



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I Verdrängungswettbewerbe Als ein Beispiel für die Argumentationsform des Verdrängungswettbewerbs lässt sich etwa auf Susan Sontags Beitrag Against Interpretation17 verweisen. In ihrem Aufsatz liefert Sontag nicht alleine die Explikation der von ihr favorisierten heuristischen Perspektive auf Literatur, sondern auch die These, dass die von ihrer Position abweichende Praxis der Interpretation grundsätzlich abzulehnen sei. Sie erläutert somit nicht alleine, wie ihrer Ansicht nach ein Zugang zu Literatur18 erreicht werden könne – ausgerichtet auf formale Aspekte und hierbei beschreibend –,19 sondern eben auch, wie nicht.20 Sie beschränkt sich hierbei nicht darauf, problematische Prämissen oder Argumentationen von konkreten Interpretationen zu evaluieren, sondern stellt die Interpretationstätigkeit als Ganzes als unangemessen heraus – als unangemessen gegenüber dem Gegenstand – als eine Gewaltanwendung.21 Dies stellt somit den Versuch dar, die Praxis der Interpretation durch die Praxis der beschreibenden Formanalyse zu ersetzen und ist in diesem Sinne ein Bestreben, die Hegemonialität der eigenen literaturtheo-

17 Susan Sontag, „Gegen Interpretation“, in: Dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Deutsch von Mark W. Rien, Frankfurt a.M. 2003, S. 11–22. 18 Die Ausführungen Sontags beziehen sich auf den Umgang mit Kunstwerken im Allgemeinen, wobei literarische Texte explizit mit einbezogen werden. Vgl. ebd., etwa S. 16. 19 „Welcher Art sind die Kunstkritik und der Kunstkommentar, die wir heute brauchen? Denn ich sage nicht, daß Kunstwerke schlechterdings unbeschreibbar, daß sie nicht zu erläutern sind. Sie können durchaus erläutert werden. Die Frage ist nur: wie? Wie müsste die Kritik aussehen, die dem Kunstwerk diente, statt sich an seinen Platz zu drängen? Was zunächst vonnöten ist, ist ein verstärktes Interesse für die Form in der Kunst. Während eine übertriebene Betonung des Inhalts die Arroganz der Interpretation provoziert, ist eine intensivere und umfassendere Beschreibung der Form dazu angetan, diese Arroganz zum Schweigen zu bringen. Was wir brauchen, ist ein Vokabular – ein beschreibendes und kein vorschreibendes Vokabular – zur Erfassung der Formen.“ Ebd., S. 20 f. Hervorhebungen im Original. 20 Dies scheint vielmehr im Vordergrund zu stehen, denn der Titel lautet ja nicht ‚Erläuterung der heuristischen Produktivität beschreibender Formanalysen‘, sondern ‚Against Interpretation‘. 21 „Eine Interpretation, die von der höchst zweifelhaften Theorie ausgeht, daß ein Kunstwerk aus inhaltlichen Komponenten zusammengesetzt ist, tut der Kunst Gewalt an.“ Ebd., S. 18. Bezüglich der Rezeption des Werks Kafkas spricht Sontag gar davon, dieses sei „Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten geworden.“ Ebd., S. 16. Mit Bezugnahme auf Fricke (vgl. Ders., „Methoden? Prämissen? Argumentationsweisen!“) wäre hier jedoch die Frage zu stellen, ob das Problem bei der Kafka-Rezeption in der Praxis der Interpretation an sich liegt oder aber in der jeweiligen Qualität der Argumentation im Rahmen einzelner Interpretationen. Eine detaillierte Evaluation konkreter Interpretationen zum Werk Kafkas ist sicherlich aufwändiger, als die Rezeption zur Gänze als eine ‚Gewaltanwendung‘ zu disqualifizieren, es ist jedoch das redlichere Verfahren.  

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retischen Position zu erwirken. Es ist der Versuch, einen Verdrängungswettbewerb zu generieren. An dieser Stelle gilt es jedoch, eine wichtige Einschränkung zu formulieren. Das Beispiel Sontags ist im vorliegenden Text gewählt worden, da hierbei die Vehemenz der Auseinandersetzung um literaturtheoretische Positionen in einem besonderen Maße plakativ zum Ausdruck kommt. Es ist jedoch zu beachten, dass dieser Text Sontags selbst nicht zum Diskurs der institutionalisierten Literaturwissenschaft gehört. Eher noch wäre er (u.a.) als eine Herausforderung der Literaturwissenschaft zu verstehen, dessen Vehemenz auf kulturtheoretische und gesellschaftspolitische Gründe zurückzuführen ist. Er ist insofern kein ideales Beispiel für einen Verdrängungswettbewerb innerhalb der Literaturwissenschaft.22 Argumentationsmuster des Verdrängungswettbewerbs finden sich nicht alleine bei Gegnern der ‚Interpretation‘,23 sondern auch bei deren Befürwortern. Deutlich wird dies bei Umberto Ecos Unterscheidung von Interpretation und bloßem Gebrauch.24 Unter Interpretation versteht Eco ausschließlich Verfahrensweisen, die an einem literarischen Text die intentio operis herauszuarbeiten suchen, womit eine interne Textkohärenz gemeint ist,25 bei der etwa „die Absicht eines empirischen Autors ganz und gar überflüssig“26 wird. Eco unterscheidet nicht alleine zwischen intentio operis und intentio auctoris – also der ‚Textintenti-

22 Axel Spree unterscheidet in seiner Analyse interpretationskritischer Literaturtheorien zwischen ästhetisch fundierten, wissenschaftstheoretisch fundierten und erkenntnistheoretisch fundierten Beiträgen, wobei er Sontags Essay dem erstgenannten Bereich zuordnet. Vgl. Axel Spree, Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn 1995. Spree zufolge richtet sich Sontags Kritik „nicht in erster Linie gegen die methodisch expliziten Verfahren einer akademischen Literaturwissenschaft“, sondern gegen eine allgemeine ‚Neigung‘ zur Interpretation (ebd., S. 69). 23 Der Begriff der Interpretation ist – zumindest in der literaturwissenschaftlichen Verwendungsweise – problematisch, da hierunter divergierende Zielsetzungen und Verfahrensweisen verstanden werden, wie bereits Göran Hermerén gezeigt hat. Vgl. Göran Hermerén, „Interpretation: Typen und Kriterien“, in: Kindt/Köppe (Hrsg.), Moderne Interpretationstheorien, S. 251–276. Vgl. auch Axel Bühler, „Die Vielfalt des Interpretierens“, in: Analyse und Kritik, 21/ 1999, 1, S. 117–137. 24 Vgl. Umberto Eco, „Theorien interpretativer Kooperation. Versuch zur Bestimmung ihrer Grenzen“, in: Ders., Streit der Interpretationen, Konstanz 1987, S. 31–48, hier v.a. S. 43 f.; Ders., Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1998, S. 72–74; Ders., Die Grenzen der Interpretation, München 2004, S. 47 f.; Ders., „Zwischen Autor und Text“, in: Ders., Zwischen Autor und Text, S. 75–98. 25 Umberto Eco, „Überzogene Textinterpretation“, in: Ders., Zwischen Autor und Text, S. 52–74, hier S. 72 f. 26 Ebd. S. 73.  





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on‘27 und der Intention eines Textverfassers –, sondern von diesen auch die intentio lectoris – die „chaotischen Impulse des Lesers“.28 „Zwischen der unergründlichen Intention des Autors und der anfechtbaren Intention des Lesers liegt die transparente Textintention, an der unhaltbare Interpretationen scheitern.“29 Eco geht es hierbei nicht alleine um eine Binnendifferenzierung zwischen wissenschaftlichen Verfahrensweisen. Seine Unterscheidung hat vielmehr eine normative Dimension. Wo Verfahrensweisen in den Bereich des bloßen Gebrauchs – im oben genannten Sinne – abdriften, scheinen sie den Status der Wissenschaftlichkeit nicht mehr für sich beanspruchen zu können. Einen Text kritisch zu interpretieren heißt, ihn in der Absicht zu lesen, im Vollzug der eigenen Reaktionen auf ihn etwas über seine Natur zu entdecken. Einen Text zu gebrauchen heißt dagegen, mit einem Stimulus zu beginnen, der auf weiteres abzielt, und dabei das Risiko zu akzeptieren, den Text vom semantischen Gesichtspunkt aus fehlzuverstehen. Wenn ich aus einer Bibel Seiten herausreiße, um meinen Pfeifentabak einzupacken, dann gebrauche ich diese Bibel, aber es wäre gewagt, mich einen Textualisten zu nennen […].30

Diese Art der Kontroversegestaltung ist jedoch nicht alleine ein Charakteristikum vergangener Auseinandersetzungen, sondern lässt sich auch in gegenwärtigen Kontroversen finden. Literaturtheoretische Verdrängungswettbewerbe sind kein Relikt der ‚Theoriedebatte‘ der 1970er und 80er Jahre. Als ein aktuelles Beispiel hierzu lässt sich auf den jüngst durch Gerhard Lauer ins Spiel gebrachten Ansatz verweisen, die Literaturwissenschaft auf eine Anbindung an neurobiologische Ergebnisse zur Erforschung der sogenannten Spiegelneuronen zu verpflichten.31 Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die bei einer lediglich beobachteten Handlung so reagieren, wie sie auch reagieren würden, wenn das Individuum diese Handlung selbst ausführen würde.32 Hierbei werden fremde Handlungen auf neuronaler Ebene wie eigene Handlungen gewissermaßen ‚gespiegelt‘. Lauer zufolge bildet dies die Grundlage für menschliche Empathie und hat daher Auswirkungen auf eine adäquate Theorie der Interpretation.33 Im Rahmen dieses Ansatzes versucht Lauer nicht alleine, einen neuen Aspekt in die Literaturwissenschaft einzubringen, ein lediglich mögliches – zusätzlich zu

27 Vgl. Eco, „Interpretation und Geschichte“, in: Ders., Zwischen Autor und Text, S. 29–51, hier S. 31. 28 Eco, „Überzogene Textinterpretation“, S. 73. 29 Ders., „Zwischen Autor und Text“, S. 87. 30 Ders., „Theorien interpretativer Kooperation“, S. 43. 31 Vgl. oben, Anm. 5. 32 Vgl. Lauer, „Spiegelneuronen“, S. 138 f. 33 Vgl. ebd., S. 157.  

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bestehenden Ansätzen relevantes – Erkenntnisziel an der neuronalen Verarbeitung beim Lesen literarischer Texte anzubieten. Seine These besteht vielmehr darin, „dass die Literaturwissenschaft nur dann eine Wissenschaft wird, wenn sie sowohl die Einsichten der humanwissenschaftlichen Forschungen als Standard aufnimmt wie auch ihre Hypothesen einer empirischen Prüfung aussetzt.“34 Angesichts der großen Bandbreite unterschiedlicher Ansätze des Bereichs der Literaturtheorie wirkt dies wie eine Art ‚literaturwissenschaftlicher Hallstein-Doktrin‘, deren ‚Alleinvertretungsanspruch‘ den Status der Wissenschaftlichkeit ausschließlich den kognitionswissenschaftlich orientierten Theorien zuerkennt und konkurrierenden Beiträgen diesen Status somit generalisierend abspricht.35 Zudem erscheint aus diesem Blickwinkel die Vergangenheit des Fachs als eine Art ‚Vor- bzw. Frühgeschichte‘ auf dem Weg zur Ausbildung einer wissenschaftlichen Disziplin.36 Während literaturtheoretische Kontroversen mitunter die Form von Verdrängungswettbewerben annehmen, gibt es Positionen, die einen Pluralismus von Ansätzen als unproblematisch bewerten.37 Christoph Dennerlein, Tilmann Köppe

34 Ebd., S. 158. Hervorhebungen von mir (K.B.). 35 Vgl. dazu auch Börnchen, „Auf den Affen gekommen“, S. 157. 36 Lauer spricht explizit davon, dass sein Ansatz als ‚Rasiermesser‘ für verfehlte Positionen der Literaturtheorie dienen könne. Vgl. Lauer, „Das Spiel der Einbildungskraft“, S. 35. Vgl. auch Lauer, „Going Empirical“, S. 150. Hierbei bezieht er sich auf ‚cartesianische Ansätze‘ (vgl. ebd.), Ansätze, die durch bloße Strukturbeschreibung von Literatur auf deren Bedeutung kommen wollen (vgl. Lauer, „Spiegelneuronen“, S. 157), und auch auf Ansätze des Bereichs der Hermeneutik (vgl. Lauer, „Going Empirical“, S. 151). Letztere werden von Lauer als ‚bourgeois traditions‘ bezeichnet (vgl. ebd.). Während Stefan Börnchen in seiner Kritik an Lauer den Ansatz als grundlegend verfehlt bewertet – Börnchen bezeichnet ihn bewusst polemisch als ‚weltliche Wallfahrt‘ (vgl. Börnchen, „Auf den Affen gekommen“, S. 153) –, leisten sowohl Koepsell und Spoerhase als auch Richter eine differenziertere Kritik. Vgl. Koepsell/Spoerhase, „Neuroscience and the Study of Literature“, S. 364 f. Virginia Richter hebt hierbei die grundlegende Divergenz der jeweiligen Forschungsinteressen hervor. Vgl. Richter, „‚I cannot endure to read a line of poetry‘“, S. 376. 37 Neben Stout und Rorty scheint dies auch auf die Position von Dennerlein, Köppe und Werners zuzutreffen. Vgl. Anm. 14. Zudem wäre auf die Position von Blaudzun und Staszak hinzuweisen. Vgl. Blaudzun/Staszak, „Dialektik der Interpretation“. Auch bei Ansgar Nünning und Klaus Weimar finden sich dementsprechende Äußerungen. Vgl. Ansgar Nünning, „Vom Nutzen und Nachteil literaturwissenschaftlicher Theorien, Modelle und Methoden für das Studium: Eine Einführung in eine studentInnenorientierte Einführung“, in: Ders. (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung. 4., erweiterte Aufl., Trier 2004, S. 1–12, hier S. 8; Klaus Weimar, „Text, Interpretation, Methode. Hermeneutische Klärungen“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950−1990), Stuttgart 1996, S. 110–122, hier S. 119 f.  



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und Jan C. Werner haben hierfür den Ausdruck ‚programmatischer Pluralismus‘38 angeboten. Ich möchte vorschlagen, hierbei eher von einer Haltung der ‚Pluralismusakzeptanz‘ zu sprechen. Denn es macht einen Unterschied, ob ein Pluralismus von Ansätzen als konsequente Folge divergierender Fragestellungen akzeptiert werden kann oder aber von der Disziplin Literaturwissenschaft programmatisch zu fordern sei, sich pluralistisch aufzustellen.39 Im Folgenden wird zu erörtern sein, welche Argumente für die Position der Pluralismusakzeptanz sprechen und welche Folgen sich hieraus ergeben. Für provokante Zuspitzungen nach oben genanntem Muster lassen sich fraglos auch rationale Gründe angeben. So mag etwa die Zielsetzung, ein höheres Maß an Aufmerksamkeit für ansonsten weitgehend ignorierte Positionen zu erreichen,40 durch bewusste Provokation zuverlässig erreicht werden.41 Dies ist jedoch durchaus ein zweischneidiges Schwert. Wie Sandra Pott verdeutlicht, kann nicht jede akademische Kontroverse auch zwangsläufig als eine epistemisch produktive Kontroverse bewertet werden.42 Zudem ist inner- oder auch interdisziplinäre Aufmerksamkeit an sich noch keine originär epistemische Größe. Bezüglich des Beispiels Sontags kommt Axel Spree sogar zu dem Ergebnis, dass gerade die dort angewandte Polemik der Verbreitung und Diskussion ihrer Thesen eher geschadet als genützt habe.43 Zu den rationalen Gründen für die Vehemenz des Sprachgebrauchs bei literaturtheoretischen Kontroversen gehört jedoch sicherlich die Tatsache, dass sich die Literaturwissenschaft (wie andere Disziplinen auch) mit einem ganz realen Wettbewerb um knappe Ressourcen konfrontiert sieht. Dieser findet sowohl im Bereich der akademischen Stellenvergabe als auch bezogen auf das Einwerben

38 Vgl. Dennerlein/ Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 2. 39 Darauf weist etwa Klaus Weimar hin, der sich für eine Pluralismusakzeptanz ausspricht, ohne jedoch einen Pluralismus programmatisch fordern zu wollen. Vgl. Weimar, „Text, Interpretation, Methode“, hier S. 120 (Anm. 31). 40 Vgl. Lauer, „Going Empirical“, S. 145. Vgl. dazu auch Huber/Winko, „Literatur und Kognition“, S. 10. 41 Während etwa der bereits 2005 ebenfalls aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auf Spiegelneuronen bezugnehmende Beitrag von Raymond Mar und Keith Oatley bislang keine maßgebliche Resonanz verursachen konnte (vgl. Raymond Mar/Keith Oatley, „Evolutionary Preadaption and the Idea of Character in Fiction“, in: Journal of Cultural and Evolutionary Psychology, 3/2005, 2, S. 179–194), hat der zwei Jahre später von Lauer veröffentlichte Beitrag in kurzer Zeit zu einer entwickelten Kontroverse geführt. Vgl. oben, Anm. 5. 42 Vgl. Sandra Pott, „[Rez. zu:] Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Bd.17), Bern 2007“, in: Zeitschrift für Germanistik, 18/2008, 1, S. 229–233, hier S. 232. 43 Vgl. Spree, Kritik der Interpretation, S. 86.

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von Fördermitteln statt. Hinter dem auf sprachlicher Ebene ausgetragenen Verdrängungswettbewerb befindet sich somit auch ein ganz realer ökonomischer Wettbewerb. Die ökonomisch gewählte Metapher erscheint insofern als durchaus passend gewählt. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Kontext (neben anderen – wie etwa weltanschaulichen oder gesellschaftspolitischen) einen Einfluss auf die sprachliche Gestaltung der jeweiligen Kontroversen hat.

II Pluralismusakzeptanz In dem eingangs geschilderten Zusammenhang besteht die Position eines Pragmatismus – wie sie etwa durch Jeffrey Stout formuliert wurde – in der These, dass sich die meisten Konflikte zwischen literaturtheoretischen Grundpositionen durch eine Binnendifferenzierung der Zielvorstellungen auflösen lassen.44 Ob diese These als zutreffend bewertet werden muss, hängt zentral mit der Frage zusammen, wie die Situation des sogenannten ‚Methodenpluralismus‘ adäquat zu beschreiben ist. Die Literaturwissenschaft nennt eine solche Vielzahl von theoretischen und methodologischen Grundpositionen ihr Eigen, dass Ansgar Nünning zufolge in Bezug auf die Methodik der Literaturwissenschaft sinnvollerweise nur noch im Plural gesprochen werden kann.45 Die Frage ist jedoch, was hierunter zu verstehen ist. Handelt es sich (1) um eine Vielzahl von − sich gegenseitig ausschließenden − Verfahrensweisen der wissenschaftlichen Analyse zur Erreichung desselben Ziels? Oder handelt es sich vielmehr (2) darum, dass im Rahmen der Literaturwissenschaft unterschiedliche Zielvorstellungen und Fragestellungen verfolgt werden, die konsequenterweise mitunter unterschiedliche Verfahrensweisen und Beschreibungssprachen benötigen? Die erste Position hätte zur Folge, dass entweder zu entscheiden wäre, welche Literaturtheorie die einzig adäquate Methode liefert, oder aber sich die Problematik eines grundlegenden Relativismus ergeben würde, wenn nicht abschließend entschieden werden kann, welche texttheoretischen Prämissen der divergierenden Ansätze als zutreffend anzusehen sind.46 Die zweite Position hätte hingegen lediglich zur Folge, dass die Disziplin bezüglich der in ihr verfolgten Zielsetzungen und Fragestellungen als heterogen

44 Vgl. Stout, „Was ist die Bedeutung eines Textes?“, S. 238 f. 45 Vgl. Nünning, „Vom Nutzen und Nachteil literaturwissenschaftlicher Theorien“, S. 1. 46 Vgl. Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, S. 2 f.  



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strukturiert aufzufassen ist.47 So ließe sich etwa Thomas Anz zufolge der sogenannte ‚Methodenpluralismus‘ auch als ein Anzeichen für den ausdifferenzierten Entwicklungsstand einer modernisierten wissenschaftlichen Disziplin ansehen.48 Stout gelingt es, zu erläutern, aus welchen Gründen ggf. der Eindruck entstehen könne, divergierende Ansätze würden dieselbe Zielvorstellung verfolgen, ohne dass dies tatsächlich der Fall ist. Dies erklärt sich Stout zufolge daraus, dass es aufgrund einer Mehrdeutigkeit des Terminus der ‚Bedeutung‘ literarischer Texte zu einem sprachlichen Dissens kommt. Divergierende Ansätze geben ihm zufolge mitunter übereinstimmend an, die ‚Bedeutung‘ literarischer Texte zum Gegenstand zu haben, verweisen jedoch auf unterschiedliche Verfahren, diese zu ermitteln. Hierdurch entsteht der Eindruck, dass es einen Konflikt darüber gibt, wie ‚die Bedeutung‘ literarischer Texte überhaupt adäquat zu ermitteln ist – dass sich bei übereinstimmender Zielsetzung ein Konflikt in der als adäquat empfundenen Zielerreichung abbildet. Ein Methodenpluralismus führe insofern zu der Frage, was nun – angesichts einer Vielzahl divergierender Ansätze – das adäquate Verfahren (im Singular) der Literaturwissenschaft sei. Dies sind Stout zufolge jedoch Konflikte „rein terminologischer Art“,49 da der Terminus der ‚Bedeutung‘ literarischer Texte bei unterschiedlichen Ansätzen nicht das Gleiche bedeutet und diese somit tatsächlich auf unterschiedliches am Gegenstand ‚zu Erklärendes‘ abzielen. Was ist die Bedeutung eines Textes? Marxisten werden sagen, dass sich die Bedeutung eines Textes aus seiner Stellung in der Geschichte des Klassenkampfes ergibt. Ein Freudianer wird sagen, dass die wahre Bedeutung eines Textes eine Sache von Persönlichkeitsstrukturen oder „Familienromanen“ von Neurotikern ist, wie sie sich mit Hilfe der Psychoanalyse entschlüsseln lassen. Der Strukturalist wird sagen, dass Textbedeutungen die Tiefenstrukturen des menschlichen Bewusstseins widerspiegeln, das nur vor dem Hintergrund von de Saussures und Jakobsons Überlegungen zum Wesen der Sprache verständlich ist. Ein Intentionalist wird sagen, dass Bedeutung davon anhängt, was Sprecher mit ihren Äußerungen zu verstehen geben wollen, und dass niemand jemals bewusst solche Bedeutungen zu

47 Dies wird etwa deutlich bei Hermerén. Dieser analysiert die literaturwissenschaftliche Praxis der Interpretation und identifiziert hierbei unterschiedliche Typen, die sich hinsichtlich ihrer Fragestellung unterscheiden. Vgl. Hermerén, „Interpretation: Typen und Kriterien“. 48 „Versteht man unter dem, was als ‚Methodenpluralismus‘ bezeichnet wird, nicht nur die mehr oder weniger friedliche Koexistenz verschiedener Verfahrensweisen, sondern auch Formen der wissenschaftlichen Spezialisierung und Arbeitsteilung, der Entfaltung unterschiedlicher Interessenschwerpunkte, Untersuchungsbereiche und Fragestellungen, so scheint es angemessen, im Hinblick auf die Geschichte der Literaturwissenschaft seit den späten sechziger Jahren in systemtheoretischer Perspektive von einem ‚Modernisierungsschub‘ zu sprechen.“ Thomas Anz, Literatur- und Kulturwissenschaften. Einführende Skizzen und Literaturhinweise, 1999, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=541 (Stand: 23.03.2012). 49 Stout, „Was ist die Bedeutung eines Textes?“, S. 232.

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vermitteln versucht, wie sie Marxisten, Freudianer und Strukturalisten den von ihnen untersuchten Texten zuschreiben. Ein Vertreter des New Criticism wird sagen, dass die Bedeutung eines Textes durch den Zusammenhang seiner internen Strukturen determiniert wird, ungeachtet der historischen Kontexte und der Verlautbarungen des Autors. Und so weiter und so weiter.50

Die Mehrdeutigkeit des Terminus der ‚Bedeutung‘ erzeugt somit fälschlicherweise den Eindruck eines inhaltlichen Konflikts, wo lediglich ein Konflikt rein sprachlicher Art vorliegt, da die grundlegende Divergenz bereits auf der Ebene der jeweils fokussierten Fragestellung herrscht. So macht es etwa einen wesentlichen Unterschied aus, ob mich ein Text im Sinne eines kommunikativen Aktes als Träger einer (mal mehr, mal weniger aufwändig codierten) Botschaft seines Verfassers an den Leser interessiert51 oder aber ob mein Interesse vor allem darauf abzielt, eine möglichst differenzierte Beschreibung etwa seines narrativen Rhythmus52 zu liefern, ohne dabei vorauszusetzen, dass dieser selbst wieder eine zu decodierende Botschaft darstellt. Ein solcher Unterschied ist derart grundlegend, dass diese beiden hier skizzierten Aufgabenstellungen nicht in einen direkten inhaltlichen Konflikt miteinander geraten. „Bei zu großen Unterschieden wird es unsinnig, noch von Unterschieden innerhalb einer Theorie zu sprechen: Es handelt sich in einem solchen Fall schlicht um Theorien mit unterschiedlichen Gegenständen.“53 Entscheidend ist hierbei Folgendes. Die gegenwärtige Situation ist nicht die eines Methodenpluralismus – im

50 Ebd., S. 237. 51 Auch wenn es Sontag als höchst zweifelhaft ansieht, dass literarische Texte aus Inhalten zusammengesetzt seien (vgl. oben, Anm. 21), lassen sich doch Hinweise angeben, die darauf hindeuten, dass Texte zumindest mitunter eine Botschaft eines Verfassers tragen. Es lässt sich etwa auf Bertolt Brechts Kommentar im Couragemodell verweisen. Hier gibt Brecht an, „[w]as eine Aufführung von ‚Mutter Courage und ihre Kinder‘ hauptsächlich zeigen soll“. Bertolt Brecht, „Couragemodell 1949“, in: Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller (Hrsg.), Bd. 25, Berlin 1994, S. 169−541, hier S. 177. „Daß die großen Geschäfte in den Kriegen nicht von den kleinen Leuten gemacht werden. Daß der Krieg, der eine Fortführung der Geschäfte mit anderen Mittel ist, die menschlichen Tugenden tödlich macht, auch für ihre Besitzer. Daß für die Bekämpfung des Krieges kein Opfer zu groß ist.“ (Ebd.) Die Annahme, ein literarischer Text sei in diesem Sinne Träger einer Botschaft, ist nicht prinzipiell für jeden Text plausibel. Darauf deuten etwa literarische Produktionsweisen des Surrealismus hin. Vgl. André Breton, „Erstes Manifest des Surrealismus“, in: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 9–43. Sie ist jedoch auch nicht prinzipiell auszuschließen. 52 Vgl. etwa Gérard Genette zu den Rhythmen von Prousts A la recherche du temps perdu. Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, München 1998, hier S. 65. 53 Stout, „Was ist die Bedeutung eines Textes?“, S. 238.

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Sinne eines Pluralismus konkurrierender Verfahrensweisen zur Erreichung desselben Ziels –, sondern vielmehr die eines Pluralismus der Fragestellungen.54 Welche Folgen ergeben sich hieraus? Für die Frage nach einer Gestaltung literaturtheoretischer Kontroversen (1) folgt aus dem Genannten, dass keinesfalls die Notwendigkeit besteht, diese als Verdrängungswettbewerbe zu initialisieren, da divergierende Ansätze nicht zwangsläufig in einem direkten Konflikt miteinander stehen. Für die Beurteilung der Angemessenheit von literaturwissenschaftlichen Methoden (2) ergibt sich, dass die Frage nach der Adäquatheit umzuformulieren ist. Die Frage lautet nicht: Was ist – in einem universellen Sinne – das adäquate Verfahren der Literaturwissenschaft? Sondern sie lautet vielmehr: Was ist das jeweils adäquate Verfahren angesichts eines spezifischen und hinreichend konkret bestimmten Erkenntnisziels? Während etwa das Parallelstellenverfahren für die Zielsetzung der Ermittlung der Autorintention – oder Autordisposition – angemessen erscheint,55 wird dies im Falle einer am New Criticism orientierten Fragestellung nicht von Belang sein.56 Dies verdeutlicht zudem, dass aus einer Haltung der Pluralismusakzeptanz noch nicht zwangsläufig eine Notwendigkeit zum Evaluationsverzicht folgt. Die Frage nach der Angemessenheit eines spezifischen Verfahrens wird durch Pluralismusakzeptanz nicht ausgeschlossen. Es wird jedoch verdeutlicht, dass die Frage der Adäquatheit in besonderer Weise von der jeweils gewählten Fragestellung abhängig ist. Für die Frage nach der Bewertung eines Pluralismus (3) zeigt sich nun, was hierbei eigentlich zum Verhandlungsgegenstand wird. Hierbei geht es weniger darum, wie einem drohenden Relativismus zu begegnen sei – der Eindruck des Relativismus ergibt sich erst, wenn das eigentlich komplementäre Verhältnis divergierender Ansätze nicht berücksichtigt wird.57 Vielmehr geht es darum, ob es akzeptierbar ist, dass im Rahmen ein und derselben Disziplin unterschiedliche Fragestellungen verfolgt werden. Hierbei scheinen zwei Aspekte von besonderer Bedeutung zu sein. Zum einen die Frage danach, ob der Gegenstand Literatur es

54 Vgl. Anz, Literatur- und Kulturwissenschaften. 55 Vgl. Strube, „Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen“, S. 192 f. Strube unterscheidet Autorintention als bewusste Absichten eines Autors und Autordisposition als unbewusst zur Anwendung gelangte Schemata. Er bestimmt die Vereinbarkeit mit der Autordisposition als ein Kriterium für geglückte Interpretationen. Hierfür empfiehlt er vor allem das Parallelstellenverfahren, also die Bezugnahme auf „die Autobiographie oder andere Werke des betreffenden Autors und seiner Zeitgenossen.“ Ebd., S. 192. 56 Vgl. oben, Anm. 50. 57 Vgl. Werle, „Stil, Denkstil, Wissenschaftsstil“, S. 27 f.  



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zulasse, auf unterschiedliche Weise zum Analyseobjekt zu werden.58 Zum anderen, ob bei divergierenden Erkenntnisinteressen noch ein gemeinsamer Status von Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten werden kann.59

III Mehrdimensionalität Literaturtheoretische Grundlegungen beschränken sich oftmals nicht darauf, ihr jeweilig spezifisches Erkenntnisziel zu erläutern und die für diese Fragestellung geeignete Methode zu benennen, sondern ergänzen dieses vielfach durch objekttheoretische Bestimmungen, indem sie ‚wesensgemäße‘ Attribute von Kunstwerken im Allgemeinen und Literatur im Besonderen anzugeben suchen. Kunstwerke erscheinen hierbei mitunter als ‚fundamental offen‘ oder aber gerade im Gegenteil als ‚geschlossen mit der Konsistenz eines Kristalls‘.60 Der Text ist mal ein Mosaik61 – oder Gewebe62 – von Zitaten, nicht etwa eine Reihe von Wörtern,63 mal ein Gegenstand von besonderem ästhetischen Wert.64 Für diese objekttheoretischen Erörterungen gibt es gute Gründe. Vor dem Hintergrund, dass es keine Möglichkeit gibt, einen theoriefreien Zugang zu Literatur zu erlangen,65 ist es sinnvoll, die eigenen Prämissen zu reflektieren. Um einem Kohärenzanspruch genügen zu können und verdeckte Widersprüche im eigenen Ansatz zu vermeiden, ist es sinnvoll, etwa den eigenen Text-Begriff zu explizieren. Der heuristische Aspekt solcher Bestimmungen wird mitunter sogar explizit benannt. Dies wird etwa deutlich, wo Roland Barthes sich im Rahmen der Einfüh-

58 Vgl. im Folgenden Abschnitt III. Mehrdimensionalität. 59 Vgl. im Folgenden Abschnitt IV. Beliebigkeit. 60 Vgl. die Auseinandersetzung zwischen Eco und Claude Lévi-Strauss. Vgl. Eco, Lector in fabula, hier S. 6. 61 Vgl. Julia Kristeva, „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1972, S. 345–375, hier S. 348. 62 Vgl. Barthes, „Der Tod des Autors“, hier S. 190. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. Julia Kristeva, „Probleme der Textstrukturation“, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. II/2, Frankfurt a.M. 1971, S. 484–506, hier S. 484 f. 65 Neben Köppe und Winko sowie Strube hat bereits Terry Eagleton auf diesen Umstand hingewiesen. Vgl. Köppe/Winko, Neuere Literaturtheorien, S. 1; Strube, „Über Kriterien der Beurteilung von Textinterpretationen“, S. 189; Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1997, hier S. V f.  

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rung in die strukturale Erzähltheorie für ein deduktives Vorgehen und die Entlehnung von linguistischen Modellen ausgesprochen hat. Sie [die Erzählanalyse; K.B.] ist zwangsläufig zu einem deduktiven Vorgehen verurteilt; sie ist verpflichtet, zunächst ein hypothetisches Beschreibungsmodell (was die amerikanischen Linguisten als ‚Theorie‘ bezeichnen) zu entwerfen und von diesem Modell ausgehend allmählich auf die Arten herabzusteigen, die gleichzeitig von ihm erfasst werden oder von ihm abweichen: Erst auf der Ebene dieser Übereinstimmungen und dieser Abweichungen wird sie, mit einem einmaligen Beschreibungsinstrument ausgerüstet, wieder auf die Vielzahl der Erzählungen und auf deren historische, geographische und kulturelle Mannigfaltigkeit stoßen. Zur Beschreibung und Einteilung der Unmenge von Erzählungen bedarf es also einer ‚Theorie‘ (im pragmatischen Sinn, der eben genannt wurde): und sie gilt es zunächst zu suchen und zu skizzieren. Die Ausarbeitung dieser Theorie kann beträchtlich erleichtert werden, wenn man sich von vornherein einem Modell unterwirft, das ihr die ersten Termini und die ersten Prinzipien liefert. Beim derzeitigen Forschungsstand scheint es vernünftig, der strukturalen Erzählanalyse die Linguistik selbst als Modell zugrunde zu legen.66

Mitunter geht die Funktion von objekttheoretischen Bestimmungen jedoch über die Explikation notwendiger heuristischer Prämissen heraus und wird zum argumentativen Werkzeug von Verdrängungswettbewerben. Das bedeutet, dass literarische Texte in einigen Fällen als eindimensionale Objekte dargestellt werden – als könnten sie in sinnvoller Weise nur bezüglich eines Aspektes zum Analyseobjekt werden. Dem genannten Beispiel Sontags zufolge wäre Literatur etwa nur in Bezug auf die formalästhetische Dimension zu beschreiben, nicht aber bezüglich einer Inhaltsebene zu interpretieren. Im Unterschied hierzu gibt es auch Ansätze, die eine Mehrdimensionalität literarischer Texte hervorheben. Göran Hermerén zufolge weisen literarische Texte etwa einen ‚Doppelstatus‘ auf. Sie können sowohl als historische Objekte angesehen werden als auch als ästhetische Objekte.67 Dieser Doppelstatus lässt sich leicht erweitern durch einen Verweis auf die Trias von Produktionszusammenhang, formalästhetischer Struktur und Rezeptionszusammenhang. Literarische Texte können als Ergebnisse eines Produktionsprozesses betrachtet werden, als Objekte mit signifikanter formalästhetischer Struktur oder auch als Objekte von Rezeptionsprozessen. Und auch hierbei sind tiefergehende Binnendifferenzierungen denkbar: etwa, indem man im Rahmen des Produktionszusammenhanges

66 Roland Barthes, „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“, in: Ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M. 1988, S. 102–143, hier S. 104. Hervorhebungen von mir (K.B.). Barthes weist ausdrücklich darauf hin, dass die Verwendung linguistischer Modelle ihm zufolge zwar vernünftig erscheint, dass damit jedoch nicht gesagt sei, dass dieses auch zwingend bzw. alternativlos wäre. Vgl. die Anm. 5 von Barthes zu der oben zitierten Textstelle (ebd., S. 137). 67 Vgl. Hermerén, „Interpretation: Typen und Kriterien“, hier S. 274 f.  

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noch einmal zwischen bewussten und unbewussten Gestaltungsprinzipien unterscheidet.68 Die These der Mehrdimensionalität setzt lediglich voraus, dass es zu ein und demselben Untersuchungsgegenstand qualitativ hochwertige literaturwissenschaftliche Analysen geben kann, die unterschiedliche Aspekte des jeweiligen Gegenstandes beleuchten. Der Begründungsdruck für Thesen der Eindimensionalität liegt ungleich höher. Diese Ansätze müssten zeigen, dass abweichende Zielsetzungen tatsächlich nicht sinnvoll verfolgbar sind. Alleine die heuristische Plausibilisierung der eigenen Position ist hierfür nicht hinreichend.69 Um an dieser Stelle ein drohendes Missverständnis zu vermeiden, ist darauf hinzuweisen, dass unter ‚Mehrdimensionalität‘ nicht das verstanden werden soll, was üblicherweise unter dem Terminus der ‚Offenheit literarischer Kunstwerke‘ verhandelt wird.70 Gerade vor der Annahme der Mehrdimensionalität – also der Annahme, dass literarische Texte bezüglich unterschiedlicher Parameter in potentiell sinnvoller Weise zum Analysegegenstand werden können – stellt sich die Frage, was an einem literarischen Text denn ‚offen‘ sei. Ist es die formalästhetische Struktur? Diese verändert sich schließlich nicht zwischen zwei Lektüren. Es ändern sich lediglich mitunter die Beschreibungssprachen, die zur Erläuterung herangezogen werden. Oder ist es eher die semantische Bedeutung der sprachlichen Zeichen? Legt man für den Terminus des ‚sprachlichen Zeichens‘ den Cours de linguistique générale71 zu Grunde und versteht unter Zeichen das Verhältnis von Signifikant und Signifikat,72 dann mag die im Cours als erster Grundsatz über

68 Vgl. oben, Anm. 55. An dieser Stelle wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. 69 So wenig der Hinweis darauf, dass ein neuerer Ansatz bezüglich seiner Fragestellung mit klassischen Vorstellungen von Geisteswissenschaft unvereinbar erscheint, hinreichend ist, um diesem die heuristische Plausibilität abzusprechen (vgl. die Argumentation Stefan Börnchens gegen den Ansatz Lauers: Börnchen, „Auf den Affen gekommen“, hier S. 158), so wenig folgt alleine aus der heuristischen Plausibilität eines neueren Ansatzes, dass traditionelle Verfahrensweisen als unwissenschaftlich zu bewerten sind. Vgl. Lauers Argumentation gegen die Kritik von Spoerhase und Koepsell: „There is no methodical need for a higher epistemological claim to make use of these findings. Absolute truths are not at stake here, but heuristic theses.” Lauer, „Going Empirical“, S. 148 f. Zur Rechtfertigung eines innovativen Ansatzes ist der Nachweis einer heuristischen Plausibilität hinreichend – nicht jedoch zur Rechtfertigung eines hegemonialen Geltungsanspruchs. 70 Vgl. zum Problem der ‚Offenheit‘ literarischer Texte als literaturwissenschaftliches ‚Paradigma‘ Fotis Jannidis, „Polyvalenz – Konvention – Autonomie“, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/ Matías Martínez/Simone Winko (Hrsg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin 2003, S. 305–328. 71 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Charles Bally/ Albert Sechehaye (Hrsg.), Berlin 2001. 72 Wie dies etwa bei Eco geschieht. Vgl. Umberto Eco, „Analyse der dichterischen Sprache“, in: Ders., Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M.1977, S. 60–89, hier S. 68 (Anm. 17).  

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die Natur des sprachlichen Zeichens hervorgehobene ‚Beliebigkeit des Zeichens‘73 auf eine Offenheit hindeuten. Hierbei gilt es jedoch im Auge zu behalten, dass das sprachliche Zeichen in dieser Terminologie als etwas Prozessuales74 zu verstehen ist. Es ist sowohl an einen konkreten Akteur als auch an eine konkrete Situation gebunden. Bedeutung entsteht durch eine Kombination von Signifikant und Signifikat als ein Prozess, der in einem Akteur in einer konkreten Situation vorgeht.75 Demnach ist die Formulierung von ‚der semantischen Bedeutung eines Textes‘ (als losgelöst von einem konkreten Prozess und lediglich gebunden an den Text selbst) im Rahmen dieser Terminologie eine unangemessene Vereinfachung. Ein Text kann vielmehr zum Auslöser unterschiedlicher semantischer Bedeutungen werden.76 Das schließt jedoch nicht aus, dass die semantische Bedeutung, die ein Text für einen konkreten Akteur zu einem konkreten Zeitpunkt hat, auch zu einem konkreten Untersuchungsziel werden kann. So lässt sich trotz einer ‚Beliebigkeit des sprachlichen Zeichens‘ etwa die von einem Verfasser zu einem spezifischen Zeitpunkt intendierte Bedeutung als konkretes Untersuchungsziel benennen.77 Alternativ lässt sich aber auch die semantische Bedeutung als Zielsetzung angeben, die von einem konkreten Leser – oder ggf. von einer spezifischen Gruppe von Lesern – mit einem Text verbunden wird. Die Annahme, ein literarischer Text sei fundamental offen bezogen auf ‚die semantische Bedeutung‘ (im Singular und losgelöst von einem konkreten Verstehensprozess), ist im Rahmen der Terminologie des Cours schlichtweg unzureichend genau formuliert und damit in erster Linie ein Ausweis von Zielvergessenheit.78 Gerade aufgrund der Beliebigkeit des Zeichens – und damit der prinzipiellen Möglichkeit, dass ein und derselbe Text bei unterschiedlichen Akteuren abwei-

73 Vgl. Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hier S. 79–82. 74 Dies scheint auch Eco zu sehen. Er spricht hierbei vom „Signifikationsprozeß“: Eco, „Analyse der dichterischen Sprache“, hier S. 68 (Anm. 17). 75 Der prozessuale Charakter der Verbindung von ‚Vorstellung‘ und ‚Lautbild‘ zu einem ‚sprachlichen Zeichen‘ wird besonders deutlich anhand der Darstellung des ‚Kreislaufs des Sprechens‘. Vgl. Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hier S. 13–15. 76 „Zwischen allen Individuen, die so durch die menschliche Rede verknüpft sind, bildet sich eine Art Durchschnitt aus: alle reproduzieren – allerdings nicht genau, aber annähernd – dieselben Zeichen, die an dieselben Vorstellungen geknüpft sind.“ Ebd. S. 15. Diese zwar durchschnittlich übereinstimmende, doch aber eben nicht stets genaue Reproduktion von Zeichen ist es, die divergierende Bedeutungen ermöglicht. 77 Die Frage nach den Möglichkeiten zur Verifikation von Hypothesen zu einer konkreten Autorintention ist jedoch eine andere. Dies kann an dieser Stelle allerdings nicht eingehender erörtert werden. 78 Zum Problem der Zielvergessenheit vgl. Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“, hier S. 15 f.  

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chende Bedeutungen annimmt – besteht die Notwendigkeit, bei der Analyse der semantischen Bedeutung eines Textes konkret anzugeben, wessen Bedeutungszuordnung hier fokussiert wird.

IV Beliebigkeit Ansätze, die eine Pluralismusakzeptanz vertreten, sehen sich dem Vorwurf der ‚Beliebigkeit‘ ausgesetzt. Besonders deutlich wird dies etwa bei einer entsprechenden Auseinandersetzung zwischen Umberto Eco und Richard Rorty. Rorty wendet sich gegen die von Eco getroffene Unterscheidung von Interpretation und bloßem Gebrauch. Diese Trennung mögen wir Pragmatisten naturgemäß nicht. Nach unserer Auffassung tun wir alle nie etwas anderes, als Dinge zu gebrauchen. Etwas interpretieren, es erkennen, zu seinem Wesen vordringen und so fort – das alles sind nur unterschiedliche Formen, den Prozeß des Gebrauchmachens von einer Sache zu beschreiben.79

Hierbei kommt zum Ausdruck, dass Rorty zufolge jede Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine ‚interessierte‘ ist, d.h. einer jeweils spezifischen Problemstellung folgt, die sie zu lösen trachtet.80 Rorty wendet sich somit gegen die Vorstellung, dass es ein prinzipiell zu favorisierendes Verfahren der Literaturwissenschaft gäbe, einen Zugang zu Literatur, welcher der ‚Natur des Gegenstandes‘81 entspricht. „Anti-Fundamentalisten wie ich bedauern diese Unterscheidung zwischen innen und außen, nicht-relationalen und relationalen Merkmalen, denn für uns gibt es gar keine intrinsischen, nicht-relationalen Eigenschaften.“82 In seiner Erwiderung auf Rorty erkennt Eco den relationalen Charakter von Interpretationen durchaus an,83 bringt jedoch zum Ausdruck, aus welchen Gründen eine Unterscheidung von Interpretation und Gebrauch ihm zufolge dennoch

79 Rorty, „Der Fortschritt des Pragmatisten“, S. 103. 80 Vgl. hierzu auch Blaudzun und Staszak: „Der Begriff ‚Interpretation im allgemeinen‘ läßt sich nun mit ziemlicher Sicherheit präzisieren: Interpretation ist die Denkform und Tätigkeit problemlösender literaturwissenschaftlicher Werkerkenntnis. Er läßt nun erkennen, daß die Verschiedenheit der Interpretationen nicht bloße Beliebigkeit sein muß, sondern daß sie wesentlich (aber nicht alleine) entsteht durch verschiedene Problemlagen und Probleme, auf die Interpretationen Antworten geben wollen.“ Blaudzun/Staszak, „Dialektik der Interpretation“, S. 48. 81 Vgl. Rorty, „Der Fortschritt des Pragmatisten“, S. 116. 82 Ebd. S. 104. 83 Vgl. Eco, „Erwiderung“, in: Ders., Zwischen Autor und Text, S. 150–162, hier S. 154 f.  

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notwendig ist. Sie erscheint ihm als notwendig, um eine Begrenzung von zulässigen Verfahren zu ermöglichen. In meiner Vorlesung über Interpretationen von Texten anderer Autoren und meiner Romane habe ich betont, daß die Qualität einer Interpretation sehr schwer zu beurteilen ist. Dennoch bin ich überzeugt, daß man gewisse Grenzen setzen kann, jenseits deren eine Interpretation als schlecht und an den Haaren herbeigezogen gelten muß. Auch wenn mein an Popper orientiertes Kriterium dafür zu schwach sein mag, genügt es, um zu erkennen, daß es nicht wahr ist, daß alles geht.84

Hierin kommt die Annahme zum Ausdruck, dass ohne eine Vorabbegrenzung zulässiger Verfahren der Literaturwissenschaft Beliebigkeit drohe. „Ich wehre mich nur gegen die Ansicht, ein Text könne jede beliebige Bedeutung haben.“85 Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit eine Position der Pluralismusakzeptanz, im Sinne einer Akzeptanz gegenüber einem Pluralismus von Fragestellungen, zu Beliebigkeit führt – was unter Beliebigkeit in diesem Zusammenhang sinnvollerweise zu verstehen ist. Soll unter Beliebigkeit etwa Regellosigkeit verstanden werden, so trifft dieser Vorwurf sicherlich nicht zu. Pluralismusakzeptanz führt nicht zu einem Plädoyer für Regellosigkeit oder Verzicht auf methodisch geleitetes Vorgehen. Sie bindet methodisch geleitete Praxis vor allem an die Explikation der jeweils spezifischen Zielsetzung und hebt die Forderung nach kohärenten Begründungsverfahren in den Vordergrund. Vertreter einer Pluralismusakzeptanz haben diesbezüglich bereits auf die Möglichkeit zur Bestimmung von programmneutralen Standards der Literaturwissenschaft hingewiesen. Auch angesichts eines Pluralismus von Fragestellungen sind einheitliche Bedingungen für eine Wissenschaftlichkeit der Disziplin prinzipiell möglich. Klaus Blaudzun und Heinz Jürgen Staszak sprechen hierbei von ‚variablen Determinationszusammenhängen‘86 – also von Standards, die auch über ansatzspezifische Grenzen hinweg als allgemein konsensfähig betrachtet werden können. Es lassen sich m.E. mindestens drei Anforderungen benennen, die Aussicht auf eine programmneutrale Konsensfähigkeit haben und die die literaturwissenschaftliche Praxis hinreichend determinieren, um ‚Beliebigkeit‘ – im Sinne einer Gefahr für den Status der Wissenschaftlichkeit der Disziplin – auszuschließen. 1. Unabhängig davon, welche konkrete Fragestellung im Rahmen eines spezifischen Ansatzes verfolgt wird, müssen wissenschaftliche Forschungsergebnisse einem Kohärenzanspruch genügen. D.h., Zielsetzung, Prämissen, Me-

84 Ebd. S. 155. Hervorhebungen im Original. 85 Ebd., S. 152. 86 Vgl. Blaudzun/Staszak, „Dialektik der Interpretation“, S. 44 f. und 53 f.  



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thode und Beschreibungssprache müssen in einem kohärenten Passungsverhältnis zueinander stehen. Und die jeweiligen Ergebnisse müssen sich schlüssig aus den oben Genannten herleiten lassen. Die Möglichkeit, unterschiedliche Fragestellungen zu verfolgen, bedeutet nicht gleichzeitig, dass Prämissen frei von Rechtfertigungsdruck wären. Handlungsleitende Vorannahmen bei literaturwissenschaftlichen Forschungen sollten im Idealfall so gewählt werden, dass sie dem für sie relevanten Forschungsstand weitgehend entsprechen. Wo Prämissen nicht als konsensfähig oder zumindest plausibel87 angenommen werden können, bedürfen sie selbst einer argumentativen Rechtfertigung.88 Soweit Literaturwissenschaft eine Textwissenschaft ist, Einzelergebnisse als Aussagen zu literarischen Texten getroffen werden, sehen sich diese dem Druck ausgesetzt, jeweils entsprechende Nachweise am Text anzugeben.89

Hieraus ergibt sich, dass auch die Forderung nach einer Akzeptanz für einen Pluralismus literaturwissenschaftlicher Fragestellungen noch nicht zur Folge hat, dass es damit notwendigerweise zu einem Verzicht auf Evaluation kommt. Auch Positionen, die sich für Pluralismusakzeptanz aussprechen, treten nicht dafür ein, „daß alles geht.“90 Die oben genannten Standards können und sollten zur Evaluation dienen.91 Pluralismusakzeptanz ist insofern also kein Gegenpol zu

87 Sollte es bezüglich einer konkreten Prämisse keinen Konsens in der scientific community geben, so ließe sich Plausibilität dadurch erweisen, dass sie zumindest einer der zur Diskussion stehenden Positionen entspricht, nicht aber mit der Gesamtheit des Forschungsstandes als unvereinbar erscheint. 88 Es ist sicher vorstellbar, dass eine Prämisse, die im Widerspruch zur Gesamtheit des Forschungsstandes steht, dennoch sinnvoll sein kann. Eine Argumentation, die sich auf eine solche Prämisse gründet, steht jedoch auf tönernen Füßen, solange die Glaubwürdigkeit der Prämisse nicht eigens hergeleitet wird. Es haben vor allem Dennerlein, Köppe und Werner jüngst darauf hingewiesen, dass eine Evaluation von literaturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen nicht zwangsläufig dazu verurteilt ist, bei den jeweils gewählten Prämissen halt zu machen. Selbstverständlich lassen sich auch Prämissen und nicht etwa alleine Argumentationsverfahren evaluieren. Vgl. Dennerlein/Köppe/ Werner, „Interpretation“. 89 Vgl. hierzu auch Fricke, „Methoden? Prämissen? Argumentationsweisen!“, hier S. 223. 90 Vgl. oben, Anm. 84. 91 Bei Pluralismusakzeptanz ist in der Regel eben nicht die Zielsetzung, in einen Kontroverseverzicht überzugehen. Es geht vielmehr um die Frage, wie bei einem Pluralismus von Fragestellungen eine sinnvolle Möglichkeit zur Evaluation aufrechterhalten werden kann. Fricke hebt hierbei vor allem die Möglichkeit zur Evaluation von konkreten Argumentationswegen hervor. Vgl. Fricke, „Methoden? Prämissen? Argumentationsweisen!“. Zabka verweist auf die Möglichkeit zur ansatzrelativen Kritik. Vgl. Zabka, „Interpretationsverhältnisse entfalten“. Dennerlein, Köppe

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wissenschaftlicher Genauigkeit. Dort, wo sich einzelne Beiträge etwa für eine genauere Binnendifferenzierung spezifischer Erkenntnisziele einsetzen,92 versuchen diese, wissenschaftliche Genauigkeit vielmehr zu fördern. Was demnach von dem Vorwurf der Beliebigkeit übrig bleibt, richtet sich nur noch auf die Möglichkeit zur Wahl von Fragestellungen. Wenn literarische Texte jedoch als mehrdimensionale Objekte betrachtet werden können, dann liegt alleine in der Möglichkeit zur Wahl von Interessenschwerpunkten noch keine Gefahr für den Status der Wissenschaftlichkeit der Disziplin.

V Sprachlicher Dissens oder bewusste Herbeiführung von Fundamentalkonflikten? Wie bereits gesagt, äußert sich Stout nicht alleine zum Verhältnis literaturtheoretischer Ansätze zueinander, sondern auch zu der möglichen Ursache von diesbezüglichen Kontroversen. Diese führt er auf einen sprachlichen Dissens zurück, der sich aus einer Mehrdeutigkeit des Terminus der ‚Bedeutung‘ ergebe. Insofern sieht er als Ursache von Kontroversen über literaturtheoretische Grundlagen lediglich terminologische Missverständnisse an. Dies ist eine vergleichsweise optimistische Sichtweise zur Ursachenforschung der Kontroverse. Wo anderenorts eher ideologische Gründe als Ursache von Grundlagenkonflikten vermutet werden, nimmt Stout lediglich eine mangelhafte Verständigung an, die etwa durch eine Ersetzung des Terminus der ‚Bedeutung‘ leicht zu überwinden wäre.93 Was die Akzeptanzerwartung seiner Position betrifft, äußert er sich dennoch pessimistisch. „Die Gefahr ist nun recht groß, dass ich durch meine Erwägungen alle möglichen Verbündeten abgeschreckt haben könnte.“94 Ein Indiz dafür, dass literaturtheoretische Grundlagenkonflikte nicht alleine auf eine mangelhafte Verständigung zurückzuführen sind, zeigt sich darin, dass diese Grundlagenkonflikte auch dort entstehen, wo die terminologischen Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung offen zu Tage liegen. So unterscheidet etwa Sontag terminologisch konkret zwischen Beschreibung von formalen Aspekten und Interpretation. Hier ist also klar, dass unterschiedliche Zielvorstellungen verfolgt werden. Dass hier lediglich ein terminologisches Missverständnis als Verursachung der Kontroverse anzunehmen sei, kann folglich ausgeschlossen werden.

und Werner erweitern dies durch die Möglichkeit zur Kritik von jeweils gewählten Prämissen. Vgl. Dennerlein/Köppe/Werner, „Interpretation“. 92 Vgl. ebd., S. 4 f. 93 Vgl. Stout, „Was ist die Bedeutung eines Textes?“, hier S. 232–235. 94 Ebd., S. 246.  

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Es handelt sich vielmehr um die bewusste Herbeiführung eines Fundamentalkonflikts. Und auch Eco benennt konkrete terminologische Binnendifferenzierungen. Er unterscheidet zum einen dezidiert zwischen Interpretation und Gebrauch und zum anderen zwischen intentio operis, intentio lectoris und intentio auctoris. Lediglich die Zielsetzung, die intentio operis zu bestimmen, wird von ihm als Interpretation gewertet. Die beiden anderen Zielvorstellungen fallen somit in den Bereich des bloßen Gebrauchs und damit in den der unwissenschaftlichen Tätigkeit. Auch hier gibt es somit eine dezidierte terminologische Binnendifferenzierung zwischen divergierenden Zielvorstellungen, so dass als Ursache der Kontroverse nicht lediglich ein terminologisches Missverständnis vermutet werden kann. Auch hier liegt vielmehr die bewusste Herbeiführung eines Fundamentalkonfliktes vor. Sowohl im Falle Sontags als auch Ecos ist somit recht eindeutig festzustellen, welche Zielsetzung bei einer Analyse von Literatur als die jeweils angemessene betrachtet wird und welche Zielsetzungen als unangemessen bewertet werden. Im Falle Lauers sieht dies m.E. – zumindest gegenwärtig – noch anders aus. Bei Lauers auf Spiegelneuronen bezogenem Ansatz erscheint sowohl die konkrete Bestimmung der angestrebten Zielsetzung – dessen, was im Rahmen einer Analyse von Literatur mittels Bezugnahme auf Spiegelneuronen an einem konkreten Text zu bestimmen sei – als auch die konkrete Methode – das konkrete zur Anwendung kommende regelgeleitete Verfahren – bislang noch vergleichsweise unklar. Zum einen wendet er sich kritisch gegen Hermeneutik,95 zum anderen gibt er jedoch an, insbesondere intentionsorientierte Ansätze stärken zu wollen.96 Auf den ersten Blick scheint dies widersprüchlich zu sein. Seine Kritik an gegenwärtig vorherrschender Hermeneutik scheint sich jedoch in erster Linie auf die zur Anwendung kommenden Verfahrensweisen zu beziehen, da diese ihm zufolge nicht hinreichend empirisch ausgerichtet seien.97 Es wäre somit durchaus möglich, dass es ihm tatsächlich darum geht, bei literarischen Texten etwa die Intention des Autors zu bestimmen, hierzu jedoch die Methodik der Analyse grundlegend zu reformieren.98 Eindeutig geht dies so jedoch aus den bisherigen

95 Vgl. Lauer, „Going Empirical“, S. 151 sowie Ders., „Das Spiel der Einbildungskraft“, S. 27. 96 Vgl. Ders., „Das Spiel der Einbildungskraft“, S. 35 sowie auch Ders., „Going Empirical“, S. 150. 97 Vgl. Ders., „Das Spiel der Einbildungskraft“, S. 27. Mit dieser Kritik setzt sich insbesondere der Beitrag Virginia Richters auseinander. Vgl. Richter, „‚I cannot endure to read a line of poetry‘“, S. 379. 98 „Against the background of cognitive science, theories of cooperative interpretation are more substantiated. They emphasize a pragmatic common ground between author and reader as well as they assume that readers attempt to understand the hypothetical intentions of an author and,

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Texten nicht hervor, was wohl auch dazu geführt haben mag, dass sowohl Kilian Koepsell und Carlos Spoerhase als auch Massimo Salgaro eher vermuten, dass Lauers Ansatz auf rezeptionsästhetische Zielsetzungen ausgerichtet sei.99 Welches die hierbei zur Anwendung kommenden Verfahrensweisen sind, ist m.E. ebenso noch nicht deutlich ersichtlich. Lauer verweist an einigen Stellen stichwortartig auf Verfahrensweisen wie etwa „statistical and corpus-based methods“,100 aber es ist nicht ganz klar, wie diese mit Spiegelneuronen in Verbindung zu bringen sind. Durch die Bezugnahme auf Spiegelneuronen würde man eher erwarten, dass Verfahrensweisen der neurobiologischen Forschung zur Anwendung kommen sollen − wie etwa bildgebende Verfahren. Dies wird jedoch nicht eindeutig genannt. Zudem ist m.E. nicht klar, wie über eine Analyse von neuronalen Erregungsmustern bei der Rezeption von Literatur auf die Ebene der Autorintention zu gelangen sei, wenn dies denn tatsächlich die von Lauer veranschlagte Zielsetzung einer auf Spiegelneuronen ausgerichteten Literaturwissenschaft ist. Möglicherweise hat Lauers Verweis auf Spiegelneuronen jedoch auch lediglich die Funktion, eine grundlegende Basisthese zu rechtfertigen, der zufolge eine zuverlässige Einfühlung in fremde Bewusstseinszustände aufgrund neuronaler Dispositionen grundsätzlich möglich ist, so dass an der vergleichsweise konservativen Zielsetzung der Bestimmung der Autorintention trotz aller postmodernen Angriffe festzuhalten wäre – ohne dass dies zugleich bedeuten solle, innerhalb der Literaturwissenschaft nun selbst neuronale Erregungsmuster zu untersuchen. Die Forderung nach einer größeren Hinwendung zu empirischen Verfahrensweisen wäre somit in erster Linie eher als eine Kritik gegenüber historisch vergleichenden Verfahren der Hermeneutik zu verstehen – nicht aber als Kritik an der Zielsetzung. Und diese Kritik wäre erst einmal als unabhängig von dem Verweis auf Spiegelneuronen anzusehen, bei dem es eher um eine Abwehr antiintentionaler Ansätze des postmodernen Spektrums gehe.101

vice versa, that authors construct their texts in order to motivate their authorial readers to come to the right conclusions.“ Lauer, „Going Empirical“, S. 150. 99 Vgl. Koepsell/Spoerhase, „Neuroscience and the Study of Literature“, S. 369; sowie Salgaro, „The Text as a Manual“, S. 157. Lauer verwahrt sich gegen die Einschätzung von Koepsell und Spoerhase, sein Ansatz habe lediglich rezeptionsästhetischen Belang, jedoch nichts für die Frage einer adäquaten Interpretation beizutragen. Vgl. Lauer, „Going Empirical“, S. 150. 100 Lauer, „Going Empirical“, S. 150. 101 Ebd.: „The alterocentric approach that is linked to the MNS [Mirror Neuron System] supports models of interpretation that focus on the conversational implicatures and precepts between author, text, and reader. To put it bluntly, cognitive literary studies are ‚against Cartesian interpretation‘. Processes of interpretation are more cooperative than the solipsistic assumptions of many current theories suggest.“

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Da dies jedoch noch nicht in entsprechender Deutlichkeit den bisherigen Texten zu entnehmen ist, besteht hier m.E. gegenwärtig noch ein gewisser Klärungsbedarf.

VI Ergebnis Unterschiedliche literaturtheoretische Stile divergieren nicht alleine bezüglich der anzuwendenden Verfahrensweisen, sondern in der Regel bereits bezüglich des jeweils am Gegenstand ‚zu Erklärenden‘. Sie bearbeiten folglich unterschiedliche Fragestellungen und stehen damit nicht in einem direkten Konfliktverhältnis. Daher besteht keine Notwendigkeit, bereits auf einer Metaebene eine Vorabbestimmung von zulässigen und nicht zulässigen Verfahrensweisen der Literaturwissenschaft zu treffen. Die Zulässigkeit einer Methode bemisst sich vielmehr danach, ob sie im Rahmen einer konkreten Fragestellung als adäquat angesehen werden kann und ob sie auf plausiblen Prämissen beruht. Wo hingegen die Bestrebung besteht, die Disziplin der Literaturwissenschaft prinzipiell an eine ‚Supertheorie‘ zu binden, führt dies zu einer einseitigen Übersteigerung singulärer Aspekte. Solange konkrete Forschungen einem konsensfähigen Standard an wissenschaftlicher Genauigkeit genügen, führt eine Pluralismusakzeptanz in keiner Weise zu einer – den Status der Wissenschaftlichkeit der Disziplin gefährdenden – Beliebigkeit. Zudem zeigt sich, dass Ansätze, die im Gegensatz zu einer Pluralismusakzeptanz auf hegemoniale Geltungsansprüche setzen, einem spezifischen Begründungsdruck ausgesetzt sind. Um einen hegemonialen Geltungsanspruch zu rechtfertigen, ist es nicht hinreichend, die heuristische Plausibilität des eigenen Ansatzes zu verdeutlichen. Es wäre vielmehr der Nachweis notwendig, dass ein Verfolgen abweichender Zielvorstellungen nicht in wissenschaftlich sinnvoller Weise möglich ist. Wissenschaftliche Kontroversen haben nicht alleine den Effekt, das akademische Geschäft mit Leben zu füllen. Sie fungieren auch als Motor für epistemischen Mehrwert, indem sie weiterführende Explikationen und die Vertiefung konkreter Problemstellungen fördern. Ansätze, die eine Position der Pluralismusakzeptanz vertreten, zielen nun keineswegs darauf ab, Kontroversen zu verhindern. Sie suchen vielmehr ihr epistemisches Potential zu stärken, indem sie auf die Notwendigkeit zur Binnendifferenzierung bezüglich literaturwissenschaftlicher Fragestellungen verweisen. Wo Kontroversen vornehmlich durch Missverständnisse (seien diese nun lediglich Effekt einer ungenauen Terminologie oder aber bewusst herbeigeführt) dominiert werden, besteht hingegen die Gefahr, dass gerade die Fragen aus dem Fokus geraten, die es zu vertiefen gilt.

Thomas Petraschka, Regensburg

Takt als heuristische Kategorie in Erkenntnis- und Interpretationsprozessen Beim Versuch, das Zustandekommen von Interpretationsergebnissen oder von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen im Allgemeinen zu erklären, stellt man fest, dass in vielen Fällen Kategorien eine Rolle spielen, die nur schwer oder gar nicht methodologisch explizit gemacht werden können. Der über die Struktur von Benzol nachdenkende August Kekulé etwa soll – so erzählt es zumindest die bekannte Geschichte – im Winter am Schreibtisch sitzend eingedöst sein. Im Halbschlaf auf den Kamin starrend hätte eine Reihe von Atomen vor seinen Augen begonnen, sich zu drehen und zu winden, um sich schließlich wundersamerweise zu einer Schlange zusammenzufügen, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Inspiriert durch die Form der Schlange sei Kekulé auf die Idee gekommen, Benzol als eine Ringverbindung von Kohlenstoffatomen darzustellen.1 Es mag also besonderer, sich unbewusst äußernder Spürsinn Kekulés oder auch nur pures Glück gewesen sein, das ihm an dieser Stelle zum Durchbruch verhalf – zumindest war es nicht die Anwendung einer wissenschaftlichen Methode. Sowohl in der Philologie als auch in den Naturwissenschaften und in der Mathematik ist es durchaus üblich, derartige nicht-methodische Kategorien als erklärende Größen für die Entstehung neuer Erkenntnisse zu bemühen. Wie groß deren Rolle in wissenschaftlichen Behauptungsdiskursen vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts ist, hat Lutz Danneberg ausführlich nachgewiesen.2 Ich werde in

1 Eine ausführliche Diskussion der immer wieder zitierten, von Kekulé selbst anlässlich eines Festakts zum 25. Jubiläum der Benzoltheorie zum Besten gegebenen Geschichte liefert Heinz L. Kretzenbacher, „Metaphern und ihr Kontext in der Wissenschaftssprache. Ein chemiegeschichtliches Beispiel“, in: Lutz Danneberg/Jürg Niederhauser (Hrsg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen 1998, S. 277–297, insbesondere S. 285–292. 2 Vgl. Lutz Danneberg, „‚ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein‘. Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden im kulturellen Behauptungsdiskurs der Mathematik und der Naturwissenschaften im 19., mit Blicken ins 20. Jahrhundert“, in: Andrea Albrecht/Gesa von Essen/Werner Frick (Hrsg.), Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur, Berlin, New York 2011, S. 600–658 [im Folgenden zitiert als: Danneberg, „Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden“] und Ders., „Dissens, ad-personam-Invektiven und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts: Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche“, in: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern 2007, S. 93–147.

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der Folge dementsprechend keine historische Bestandsaufnahme versuchen, sondern lediglich exemplarisch einige wenige aussagekräftige Stellen beleuchten, um den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser insgesamt durchaus divergenten Konzepte zu bestimmen. Die daran anschließende Kernfrage wird – eher interpretations- als wissenschaftstheoretisch orientiert – sein, wo und wie derartige Konzepte im Rahmen von Interpretationsprozessen, speziell im Rahmen von Prozessen der literaturwissenschaftlichen Interpretation fiktionaler Texte, verortet werden könnten, bzw. worin ihre Relevanz aus wissenschaftlicher Sicht liegen könnte. In den Beiträgen Dannebergs findet sich eine Reihe von Begriffen, die im 19. und 20. Jahrhundert in diesem Zusammenhang genannt werden. In der Philologie sind dies neben vielen anderen etwa „Genialität“3, „Divination“4, „Intuition“5, außerdem „Gefühl“6, „Gespür“7 und eben „Takt“8, im auf die Mathematik und die Naturwissenschaften erweiterten Kontext kommen unter anderem „Geschmack“9 und „ästhetisches Empfinden“10 hinzu. Die Definitionen dieser und vergleichbarer Konzepte sind dabei im Detail durchaus divergent. Sie reichen von einem „keiner weiteren Rechenschaft fähigen Gefühl[]“11, das in hermeneutischen Prozessen helfen könne, problematische „Knoten“12 zu zerhauen, über eine Art allgemeiner wissenschaftlicher Effizienz, die den Forscher davor bewahre, seine Zeit auf „wertlose Probleme und abstruse Gebiete“13 zu verschwenden, bis hin zu einem in einer aktuelleren Untersuchung von Marie Antoinette Glaser ausgemachten „Spürsinn“14

3 Danneberg, „Dissens“, S. 98. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Danneberg, „Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden“, S. 602. 10 Ebd., S. 607. 11 August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, Ernst Bratuschek (Hrsg.), Leipzig 1877, S. 86. 12 Ebd. 13 Hermann Hankel, Die Entwicklung der Mathematik in den letzten Jahrhunderten [1869], Tübingen 1884, S. 21. Ausführlicher auf Hankel geht Danneberg, „Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden“, S. 603 f. ein. Eine vergleichbare Charakterisierung von Takt findet sich außerdem in Danneberg, „Dissens“, S. 100 f.: „Soll die kürzeste Charakterisierung des Ausdrucks ‚Takt‘ versucht werden, dann besteht er nicht allein darin, eine Wahl zu treffen, die sich nach der ‚philologischen Methode‘ nicht begründen lässt, sondern zugleich darin, dass das, was nach ihr nicht ausgeschlossen ist, unterlassen wird.“ 14 Marie Antoinette Glaser, Literaturwissenschaft als Wissenschaftskultur. Zu den Praktiken, Mechanismen und Prinzipien einer Disziplin, Hamburg 2005, S. 118.  



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und „literaturwissenschaftliche[n] Blick“15, der sich speziell in einer Fähigkeit des „Motiv-Erkennens“16 niederschlage, welche den Forscher – hier erneut den Literaturwissenschaftler – bei der Interpretation bestimmter Texte anleiten könne. Eine für die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner besonders instruktive Passage zum Takt speziell des philologischen Forschers findet sich bei Hermann Usener, der ebenfalls mehrere differenzierbare Kategorien unter dem Begriff Takt zusammenführt: Der spezifische grammatische Takt des Philologen ist das Resultat eigener Beanlagung, Erfahrung und Beobachtung, gezeitigt und gereift durch das Streben nach rationellem und geschichtlichem Verständnis der Spracherscheinungen. So notwendig nun dafür das Wissen und wissenschaftliches Verstehen ist, so kann doch dies Vermögen selbst nicht überliefert werden. Nur ein Trieb, ein Verlangen und Streben läßt sich erwecken und anerziehen, das, wenn es stark genug sich regt, von selbst zum Erwerb jener Virtuosität hindrängt.17

Einerseits besteht Takt nach Usener also in einer „Beanlagung“, das heißt in einer angeborenen Fähigkeit, andererseits sei er zu verstehen als Ergebnis von „Erfahrung“, womit er zumindest durch fortgesetzte philologische Tätigkeit und Einübung bestimmter Routinen sehr wohl befördert werden könnte. Dass Takt als „Vermögen“ selbst nicht „überliefert“ werden kann, spricht tendenziell für das erstere Verständnis als naturgegebene Anlage, dass ein einmal erwecktes Streben zumindest einen „Erwerb“ taktvoller „Virtuosität“ ermöglichen kann, eher für letzteres Verständnis als indirekt erwerbbares Erfahrungswissen. Es wird deutlich, dass all diese bislang benannten Konzepte aus systematischer Sicht zwei Dinge gemeinsam haben: (1) Sie sind nicht (oder mindestens nicht vollständig) methodisierbar18 und können (2) nicht auf direktem Weg ge-

15 Ebd., S. 119. 16 Ebd., S. 124. Glaser verweist in diesem Zusammenhang auf Studienanfänger, denen diese Fähigkeit noch nicht zukommt. Erworben werden kann dieses Können laut Glaser nicht durch das theoretische Studium von Regeln, sondern durch Übung: „Im Einführungsproseminar müssen AnfängerInnen lange üben, bis sie diese Strategie des Motiv-Erkennens beherrschen. AnfängerInnen assoziieren oftmals Motive, die bei der Besprechung nicht als bedeutungstragende Indikatoren gelten gelassen werden.“ 17 Hermann Usener, „Philologie und Geschichtswissenschaft [1882]“, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Leipzig, Berlin 1907, S. 1–35, hier S. 22. 18 Auf den Aspekt der Nicht-Methodisierbarkeit derartiger Kategorien machen auch Steffen Martus und Carlos Spoerhase aufmerksam. Nach ihrem Dafürhalten ist eine „Könnerschaft“, die sich durch den Besitz eines „Praxiswissens“ erklärt, welches „nur mit großer Mühe artikuliert und zum Gegenstand expliziter theoretischer Diskussion gemacht werden kann“, entscheidend für „[g]elungene Wissenschaft“. Vgl. Steffen Martus/Carlos Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, in: Geschichte der Germanistik, 35/36/2009, S. 89–96, hier S. 95 f. Vgl. dahingehend  

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lehrt oder gelernt werden.19 Wenn überhaupt, können sie nur indirekt, etwa durch fortgesetztes Training und Einübung, erworben werden. In der Folge werde ich den Terminus Takt als Sammelbegriff verwenden, unter den ich all jene Begriffe rubriziere, die auf den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser beiden grundlegenden Eigenschaften gebracht werden können. Ausgehend von der für den Takt konstitutiven Nicht-Methodisierbarkeit und Nicht-Lehr- und Lernbarkeit, stellt sich gerade aus einer evaluativen Perspektive, die an der epistemischen Güte von Erkenntnissen interessiert ist, die Frage nach der Rolle, die der Takt in diesem Kontext spielen kann. Für die historische Sicht auf diese Fragestellung sind erneut die Ausführungen Dannebergs hilfreich. Danneberg macht deutlich, dass die Berufung auf den Takt historisch verwendet wurde, um das Zustandekommen von Erkenntnissen retrospektiv erklärbar zu machen. Takt wurde als eine Kategorie verstanden, die erst ex post zugeschrieben werden kann, um bestimmte bereits vorliegende Erkenntnisse nachträglich zu legitimieren: Es gibt Verhaltensdispositionen, die in bestimmten Situationen (mehr oder weniger) automatisch ausgelöst werden, und es gibt erworbene Handlungskapazitäten, seien sie regelgestützt oder nicht, die sich nach Belieben aktivieren lassen. Beides ist in gewissem Umfang vorab zuschreibbar. Bei Takt und anderen, ähnlichen Ausdrücken wie Geschmack ist das gerade nicht gegeben. Sie sind faktisch immer erst ex post zuschreibbar, wenn es sich mithin gezeigt hat, dass man darüber verfügt. Beide erscheinen so als etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt, sondern nur zum Ausdruck kommt, das sich – wenn man so will – nur zeigt.20

Damit wird der Takt in evaluativer Hinsicht mit wissenschaftlicher Methode analogisiert: „Die Berufung sowohl auf Takt als auch auf Methode erfolgt angesichts beständig drohender Gefahr von Willkür“21 und soll verhindern, dass bestimmten Erkenntnissen der Status bloß zufälliger Einsichten zugeschrieben werden muss. Die Aufgabe des Takts ist mithin, „das, was stattgefunden hat, als nicht zufällig oder als nur unwesentlich zufällig entstanden und in einem erklä-

außerdem Danneberg, „Dissens“, S. 98: „Der geringste (und vielleicht sogar der einzige) gemeinsame Nenner solcher Umschreibungen ist, dass sie sich der methodischen Analyse entziehen, im ‚Methodisierbaren‘ nicht aufgehen.“ 19 Danneberg kommt nach der detaillierten Sichtung eines umfassenden Textkorpus zu derselben Schlussfolgerung. Vgl. Danneberg, „Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden“, S. 630: „Was den verschiedenen Taktkonzepten gemeinsam ist, ist genau, dass Takt weder als direkt lehrbar noch als direkt erlernbar gilt – und das gleichermaßen in der Mathematik, den Naturwissenschaften wie in der Philologie.“ 20 Ebd., S. 637 f. 21 Ebd., S. 635.  

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renden Zusammenhang zu sehen [zu] erlauben“,22 womit ihm eine „ähnliche Funktion“23 zugewiesen wird wie „retrospektiven (rationalen) Rekonstruktionen“24. Im Idealfall sollten beide Komponenten – Methode und Takt – zusammenkommen, um wissenschaftliche Problemlösungen umfassend zu erklären: Der Appell an Methode allein vermag weder vollständig zu erklären, wie bestimmte wissenschaftliche Problemlösungen gefunden worden sind, noch weshalb ihnen bestimmte epistemische Eigenschaften zukommen. Doch ebenso wenig vermag das der Rückgriff allein auf den Takt (das Gefühl, den Geschmack, die Intuition).25

Aus evaluativer Perspektive ist an dieser Konzeption des Takts besonders zu diskutieren, inwiefern der „Appell an Methode allein“ nicht in der Lage ist, bestimmte „epistemische Eigenschaften“ einer „wissenschaftliche[n] Problemlösung[]“ zu erklären – gerade daran ist eine Evaluation bestimmter Problemlösungen ja interessiert. Geht man davon aus, dass die Evaluation einer Erkenntnis darin besteht, dass man ihre (logische) Relation zu anderen Erkenntnissen analysiert, ist der „Appell an Methode allein“ nämlich durchaus in der Lage, zu klären, ob bestimmte Erkenntnisse bestimmte epistemische Eigenschaften haben, also beispielsweise wahr oder falsch, mehr oder weniger zutreffend etc. sind. Von diesem Standpunkt aus kann nur aus zwei Gründen Uneinigkeit über den epistemischen Status einer Erkenntnis bestehen – entweder, weil Uneinigkeit über die zur Analyse verwendete Methode besteht, oder weil ein Fehler in der Anwendung der Methode vorliegt.26 Besteht Uneinigkeit über die Methode, ist die Unklarheit bezüglich der Evaluation einer bestimmten Erkenntnis nicht epistemisch substantiell. Der Streit dreht sich in diesem Fall gar nicht um epistemische Fragen, es handelt sich eher um ein Missverständnis als um eine Meinungsverschiedenheit zwischen den uneinigen Parteien, da kein geteiltes Fundament existiert, auf dem der epistemische Disput erst sinnvoll ausgetragen werden könnte.27

22 Ebd., S. 638. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 636. 26 Aus der engeren Perspektive einer logischen Analyse von Erkenntnissen wird oftmals argumentiert, dass logische Regeln überzeitlich und kontextunabhängig gültig seien und damit nicht einmal ein Disput über methodische Konventionen der logischen Analyse sinnvoll zu führen sei. Vgl. in diesem Zusammenhang Paul Hoyningen-Huene, „Context of Discovery versus Context of Justification and Thomas Kuhn“, in: Jutta Schickore/Friedrich Steinle (Hrsg.), Revisiting Discovery and Justification. Historical and philosophical perspectives on the context distinction, Dordrecht 2006, S. 119–131, insbesondere S. 123 f. 27 Vgl. ausführlich zu einer Unterscheidung von Meinungsverschiedenheiten und Missverständnissen in diesem Sinn: Hans Rott, „Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse“, in:  

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Um überhaupt substantielle Aussagen über die epistemische Güte einer Erkenntnis treffen zu können, müssen sich die Parteien also über die methodischen Rahmenbedingungen einig sein – wenn auch nur for the sake of argument –‚ um die epistemische Güte einer Erkenntnis zumindest methodenabhängig zu klären. Sind sich zwei Parteien wiederum über die Verbindlichkeit einer Methode einig, über die epistemischen Eigenschaften einer Erkenntnis jedoch nicht, muss das Problem darin begründet liegen, dass einer der beiden Parteien ein Fehler unterlaufen ist. Dieses Problem ist aber prinzipiell immer zu beheben – sobald geklärt ist, welche Partei einen Fehler gemacht hat, sind die Differenzen über die epistemische Rechtfertigung der fraglichen Erkenntnis damit ausgeräumt. Epistemisch substantielle Differenzen in einem konkreten Rechtfertigungsfall sind unter diesen Umständen also – im Gegensatz zu Uneinigkeiten über den allgemeinen Zuschnitt bzw. die detailliertere Spezifikation einer bestimmten Methode28 – konzeptuell unmöglich. Daraus folgt, dass die Methode im Rahmen der Evaluation der epistemischen Güte von Erkenntnissen eine Rolle spielt, die der Takt nicht analog ausfüllen kann. Da eine wissenschaftliche Methode sowohl umfassender theoretischer Beschreibung zugänglich als auch direkt lehr- und lernbar ist, ist eine intersubjektiv nachvollziehbare Evaluation bestimmter Erkenntnisse prinzipiell immer möglich. Man lernt die methodischen Regeln und überprüft deren Anwendung im Einzelfall – liegt kein Fehler vor, ist die Erkenntnis gerechtfertigt. Da es sich bei Takt um eine Kategorie handelt, die, wie wir oben festgehalten hatten, weder methodologisch einholbar noch direkt lehr- und lernbar ist, ist der Rekurs auf den Takt nur für denjenigen überzeugend, der glücklicherweise ebenfalls ohnehin schon über Takt verfügt. Eine Meinungsverschiedenheit bezüglich der Evaluation der epistemischen Güte einer Erkenntnis kann unter diesen Umständen nicht sinnvoll diskutiert werden, da eine taktlose Partei nicht nachvollziehen können wird (und zwar nicht einmal for the sake of argument), wodurch genau die Rechtfertigung der betreffenden Erkenntnis eigentlich begründet sein soll. Das heißt, dass die retrospektive Berufung auf den Takt weit weniger intersubjektiv nachvollziehbares legitimierendes Potential hat als die Berufung auf eine wissenschaftliche Methode.

Achim Geisenhanslüke/Hans Rott (Hrsg.), Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen, Bielefeld 2008, S. 61–96. 28 Mit dieser Unterscheidung von „allgemeinem Zuschnitt“ und „detaillierter Spezifikation“ ist gemeint, dass man sich allgemein z. B. auf die Anwendung der Methode des Schlusses auf die beste Erklärung einigen könnte, dabei aber im Detail immer noch zu klären wäre, welche Kriterien eine Erklärung unter welchen Umständen als die beste Erklärung auszeichnen.

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Die ab den späten 1950er Jahren von Seiten der analytischen Wissenschaftstheorie gegen das hermeneutische Verstehen vorgebrachte Kritik bildet derartige Bedenken gegen das Rechtfertigungspotential nicht methodisierbarer Kategorien wie Takt exemplarisch ab. Theodore Abel kritisiert am hermeneutischen Verstehen, dass es abhängig sei von „personal experience“29 und einer subjektiven „introspective capacity“30 des Interpreten. Aus methodologischer Sicht sei dies eine „obvious limitation of the operation“.31 Da diese Fähigkeiten im Gegensatz zu einer apersonalen wissenschaftlichen Methode nicht für jeden Verstehenden im selben Maß zur Verfügung stehen, ist ihre intersubjektive Aussagekraft in Bezug auf die Evaluation epistemischer Güte eingeschränkt, weswegen das Verstehen nicht als eine dem „realm of scientific research“32 zugeordnete „method of verification“33 verstanden werden sollte. Wolfgang Stegmüller weist weitgehend analog darauf hin, dass das Verstehen „nichts weiter liefert als ein heuristisches Verfahren“,34 das „kein Verifikationsverfahren“35 sein könne. Von der „Logik der Erklärung“36 her müsse klar sein – so Hans Albert –, dass eine wissenschaftliche Interpretation sich nicht darauf beschränken könne, „sinnhafte Elemente in den betreffenden Verhaltensweisen aufzusuchen und daran anknüpfend das betreffende Verhalten in irgendeiner Weise […] mehr oder weniger ‚verständlich‘ erscheinen zu lassen“.37

29 Theodore Abel, „The Operation Called Verstehen“, in: May Brodbeck/Herbert Feigl (Hrsg.), Readings in the Philosophy of Science, New York 1953, S. 677–687, hier S. 684. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 685. 33 Ebd. 34 Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin [u.a.] 1969, S. 363. 35 Ebd. 36 Hans Albert, „Hermeneutik und Realwissenschaft. Die Sinnproblematik und die Frage der theoretischen Erkenntnis“, in: Axel Bühler (Hrsg.), Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation, 2., durchges. Aufl., Heidelberg 2008, S. 23–58, hier: S. 50. 37 Ebd. In der Folge deutet Albert implizit die in der Folge näher diskutierte heuristische Dimension des sich auf Takt berufenden Verstehens an: „Verstehende Methoden […] bieten keinen Ersatz für die theoretische Erklärung von Verhaltensweisen, sondern sie schaffen unter Umständen die Voraussetzung für diese.“ (Ebd., S. 51) Für weitere, ähnlich motivierte Kritik vgl. Frank Cunningham, „More on Understanding in the Social Sciences“, in: Inquiry, 10/1967, 3, S. 321–326; Peter D. Juhl, „The Doctrine of Verstehen and the Objectivity of Literary Interpretations“, in: Ders., Interpretation. An essay in the philosophy of literary criticism, Princeton (NJ) 1980, S. 239–300; Wolfgang Stegmüller, „Betrachtungen zum sogenannten Zirkel des Verstehens und zur sogenannten Theorienbeladenheit der Beobachtungen“, in: Bühler (Hrsg.), Hermeneutik, S. 191–231.

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Zusammengefasst heißt das, dass aus der Perspektive der Evaluation von Erkenntnissen der Takt von untergeordnetem Stellenwert ist. Sofern sich Erkenntnisse nicht durch ein anderes Verifikationsverfahren legitimieren lassen, kann ihnen zumindest nicht der Status von wissenschaftlichen Erkenntnissen zugeschrieben werden. Teilt man diese Überzeugung, ist es sinnvoll, die Rolle des Takts im Rahmen von Erkenntnisprozessen anders zu bestimmen. Ich werde versuchen, einen alternativen Vorschlag im Anschluss an interpretationstheoretische Überlegungen des späten Donald Davidson zu entwickeln, in denen ebenfalls Kategorien eine Rolle spielen, die wir oben unter dem Sammelbegriff Takt subsumiert hatten – allerdings in einem anderen Zusammenhang. In Eine hübsche Unordnung von Epitaphen und Kommunikation und Konvention schlägt Davidson das folgende Bild von Interpretationsprozessen vor:38 Immer dann, wenn wir versuchen, die Äußerungen eines Sprechers zu interpretieren, legen wir zunächst eine Theorie an, die eine Reihe von Unterstellungen hinsichtlich der Rationalität des Interpretierten zum Inhalt hat. Wir nehmen an, dass der Sprecher die Wahrheit sagen wird, kohärente Aussagen macht, die außerdem relevant sind etc. Nach Davidson sind diese Unterstellungen transzendentaler Natur – er geht davon aus, dass ein Interpretationsprozess erst gar nicht in Gang kommen kann, sofern der Interpret dem Interpretierten nicht unterstellt, dass seine Überzeugungen und die geäußerten Sätze, die diese Überzeugungen abbilden, im Großen und Ganzen rational (nach den Maßstäben des Interpreten) sind.39

38 Vgl. Donald Davidson, „Eine hübsche Unordnung von Epitaphen“, in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt a.M. 1990, S. 203–227; Ders., „Kommunikation und Konvention“, in: Ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M. 1984, S. 372–393. 39 Auf diesen Punkt weist Davidson an verschiedensten Stellen immer wieder hin. Nur zwei Beispiele: „Nur indem ich deine Worte so interpretiere, daß wir im großen und ganzen übereinstimmen, kann ich sie richtig interpretieren.“ (Donald Davidson, „Die Methode der Wahrheit in der Metaphysik“, in: Ders., Wahrheit und Interpretation, S. 283–305, hier S. 284) „Der methodische Ratschlag, in einer Weise zu interpretieren, in der Einigkeit optimiert wird, sollte nicht so aufgefaßt werden, als beruhe er auf einer nachsichtigen Voraussetzung mit Bezug auf die menschliche Intelligenz, die sich auch als falsch herausstellen könnte.“ (Donald Davidson, „Radikale Interpretation“, in: Ebd., S. 183–203, hier S. 199) Ohne an dieser Stelle hierauf genauer eingehen zu müssen, ist anzumerken, dass Davidsons Überlegungen ihre Relevanz auch dann nicht verlieren, wenn man den interpretativen Rationalitätsunterstellungen keinen Status als Möglichkeitsbedingung von Interpretation, sondern beispielsweise nur den Status von Präsumtionen zuschreibt. Auch in diesem Fall lassen sich Rationalitätsunterstellungen durch drei Typen von Gründen motivieren: Für die Präsumtion von Rationalität – gegenüber etwa einer Präsumtion von Irrationalität – in Interpretationsprozessen sprechen induktiv-probabilistische Gründe (es ist ein empirisch erhärtbares Faktum, dass sich Sprecher in der großen Mehrzahl der Fälle rational

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Die aus derartigen initialen Annahmen bestehende Theorie bezeichnet Davidson als „Ausgangstheorie“40 (prior theory). Nun wird es offensichtlich eine Reihe von Fällen geben, in denen unsere Ausgangstheorie nicht ausreicht, um zu einem befriedigenden Verständnis des Interpretandums zu kommen, d.h. Fälle, in denen das Interpretationsobjekt in irgendeiner Hinsicht von den in der Ausgangstheorie enthaltenen Rationalitätserwartungen abweicht. Dies passiert keineswegs nur in Ausnahmefällen, in der alltagssprachlichen Kommunikation würden z. B. Metaphern oder andere Tropen, Ironie, Versprecher, Malapropismen etc. unter diese Kategorie fallen.41 Tritt solch ein Fall, in dem unsere Ausgangstheorie enttäuscht wird, ein, müssen wir uns einen Reim darauf machen, wieso es eine Abweichung gibt. Gerade in den Fällen, in denen unsere Ausgangstheorie nicht auf ein konkretes Interpretandum zu passen scheint, sind wir als Interpreten mit der Frage konfrontiert, wieso eine mündliche Äußerung oder ein Text von unseren Erwartungen bezüglich ihrer Rationalität abweicht. Auch wenn eine interpretierte Äußerung bzw. ein interpretierter Text augenscheinliche Unwahrheiten, Inkohärenzen etc.

verhalten, weswegen wir als Interpreten in der Mehrzahl der Fälle gut beraten sind, von ihrer Rationalität auszugehen), normative Gründe (es ist moralisch besser, von der Rationalität eines Sprechers auszugehen, obwohl diese Annahme fehl am Platz ist, als von der Irrationalität eines Sprechers auszugehen, obwohl dieser rational ist) und prozedurale Gründe (Interpretationsprozesse laufen aus pragmatischer Sicht reibungsloser ab, wenn man Interpretanda zunächst als rational auffasst, als wenn man sie als irrational auffasst). Vgl. ausführlicher zu diesem Thema Edna Ullmann-Margalit, „On Presumption“, in: Journal of Philosophy, 80/1983, S. 143–163; Oliver R. Scholz, „Präsumtionen, Rationalität und Verstehen“, in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Rationalität, Realismus, Revision. Rationality, Realism, Revision: Vorträge des 3. internationalen Kongresses der Gesellschaft für Analytische Philosophie vom 15. bis zum 18. September 1997 in München, Berlin [u.a.] 1999, S. 155–163 und Thomas Petraschka, „Locating Literary Meaning. A Formal Framework for a Philological Principle of Charity“, in: Jürgen Daiber/Eva-Maria Konrad/Thomas Petraschka/ Hans Rott (Hrsg.), Understanding Fiction. Knowledge and Meaning in Literature, Paderborn 2012, S. 146–165, insbesondere S. 153–156. 40 Davidson, „Eine hübsche Unordnung von Epitaphen“, S. 219. Von Theorien spricht Davidson an dieser Stelle, weil seiner Ansicht nach „eine Beschreibung der Kompetenz des Interpreten eine rekursive Erklärung verlangt.“ (Ebd., S. 217) Ein vergleichbarer Vorschlag zur Struktur der Revision interpretativer Theorien findet sich – übrigens schon vor Davidsons bekanntem Eine hübsche Unordnung von Epitaphen-Aufsatz – bei Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, „Probleme der Textinterpretation. Analytische Rekonstruktion und Versuch einer konzeptionellen Lösung“, in: Kodikas/Code, 3/1981, S. 133–168. 41 Gerade im Fall der Literaturinterpretation sind noch viel häufiger Abweichungen von unserer Ausgangstheorie zu erwarten. Es ist beispielsweise ein fundamentales Charakteristikum von Literatur, dass Autoren nicht ohne Weiteres auf die Wahrheit des in literarischen Texten Gesagten festgelegt sind, was beispielsweise Probleme für das traditionell etablierte Rationalitätskriterium der Wahrheit mit sich bringen wird.

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beinhaltet, geben wir unsere Rationalitätspräsumtionen nicht einfach auf, sondern gehen dennoch davon aus, dass der Sprecher bzw. der Autor des Textes etwas Sinnvolles kommunizieren will. Wir versuchen, unsere Ausgangstheorie so anzupassen, dass sie in der Lage ist, die spezifischen Abweichungen zu erklären. Durch diese Anpassungen, die von kaum merklichen Modifikationen bis zu gravierenden Revisionen reichen können, entsteht eine neue Theorie, die Davidson eine „Übergangstheorie“42 (passing theory) nennt. Eine solche Übergangstheorie ist aufgrund der einzelfallspezifischen Modifikationen konkreter auf bestimmte Interpretanda zugeschnitten als eine allgemeine Ausgangstheorie.43 Genau an dieser prekären Schwelle des Übergangs von Ausgangstheorien zu Übergangstheorien findet nun eine Reihe von Kategorien Eingang in Davidsons Überlegungen, die im obigen Sinn unter den Sammelbegriff des Takts gefasst werden können. Der Prozess der Revision bzw. Modifikation einer Ausgangstheorie ist Davidsons Ansicht nach nämlich nicht methodisierbar, gerade für den Übergang von Ausgangstheorien zu Übergangstheorien gibt es nach seiner Ansicht keine präzisen methodischen Regeln, denen der Interpret zu folgen hätte. Eine Methode müsste uns an dieser Stelle systematisch anleiten können, in den jeweiligen Einzelfällen zu einer angepassten Übergangstheorie zu gelangen, und es ist für Davidson nicht ersichtlich, wie das möglich sein sollte. Zumindest gibt es, so die Formulierung Davidsons, „keine Regeln im strengen Sinn, im Gegensatz zu ungefähren Maximen und methodologischen Gemeinplätzen“44. Davidson weiter: Daß man dieses Vorgehen regulieren oder lehren könnte ist ebenso aussichtslos wie der Versuch, den Prozeß zu regulieren oder zu lehren, durch den man zur Aufstellung neuer Theorien gelangt, die auf irgendeinem beliebigen Gebiet mit neuen Gegebenheiten zurechtkommen – denn ebendarum geht es ja bei diesem Prozeß.45

42 Davidson, „Eine hübsche Unordnung von Epitaphen“, S. 219. 43 Davidson skizziert den Übergang von Ausgangs- zu Übergangstheorien ebd., S. 217 f. wie folgt: „Während der Sprecher seine Äußerungen vorbringt, modifiziert der Interpret seine Theorie, fügt Hypothesen über neue Namen ein, ändert die Interpretation altbekannter Prädikate und revidiert frühere Interpretationen spezifischer Äußerungen im Hinblick auf neue Belege. Einige dieser Vorgänge lassen sich als Verbesserung der Interpretationsmethode anhand wachsender Indizienbasis beschreiben. […] Die Theorie, die wir tatsächlich verwenden, ist auf die jeweilige Gelegenheit abgestimmt.“ 44 Ebd., S. 226. 45 Ebd. Vgl. ebenso Davidson, „Kommunikation und Konvention“, S. 392: „Womit wir jedoch nicht rechnen können, ist, daß wir imstande sind, die Überlegungen zu formalisieren, die uns dazu bewegen, unsere Theorie dem Zustrom neuer Informationen anzupassen.“  

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An die Stelle einer die Revision interpretativer Erwartungen anleitenden Methode müssten laut Davidson Dinge wie „Verstand, Glück und Klugheit“46 (wit, luck, and wisdom), „Gefühl, Glück und Geschicklichkeit“47 (intuition, luck, and skill) oder „Geschmack und Sympathie“48 (taste and sympathy) treten. Verstand, Klugheit, Geschicklichkeit und Geschmack sind dabei zu bestimmen als Gaben bzw. praktische Fertigkeiten, die entweder naturgegeben sind oder nur mittelbar durch Einübung und Training erworben werden können. Sympathie ist hier, angelehnt an die Bedeutung des englischen Begriffs sympathy, nicht nur zu verstehen als spontane Zuneigung, sondern als Einfühlungsvermögen in den emotionalen Status des Gegenübers und passt damit ebenfalls in diese Reihe. Glück ist als zufällige Größe zu verstehen. Alle von Davidson benannten Kategorien sind jedenfalls auf den eingangs bestimmten kleinsten gemeinsamen Nenner von Nicht-Methodisierbarkeit und bestenfalls mittelbarer Lehr- und Lernbarkeit zu bringen und damit unter dem Begriff des Takts subsumierbar.49 Die Rolle, die der Takt innerhalb der Interpretationstheorie Davidsons spielt, ist damit aber klarerweise eine andere als diejenige, die dem Takt im Rahmen der Behauptungsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts generell zugewiesen wurde. Wie wir oben im Anschluss an die Überlegungen Dannebergs festgehalten hatten, galt der Takt gemeinhin als ex post zugeschriebene Kategorie, die durch ihre legitimierende Funktion verhindern sollte, dass eine Erkenntnis als bloß zufällig oder willkürlich beschrieben wurde. Bei Davidson hat der Takt diese Funktion nicht. Schon dadurch, dass Davidson nicht erkennbar zwischen bloßem Glück und Größen mit zumindest diskutabler legitimierender Funktion (wie z.B. Klugheit oder Geschicklichkeit) unterscheidet, wird deutlich, dass es ihm gar nicht darum geht, nachträglich das Zustandekommen bestimm-

46 Davidson, „Eine hübsche Unordnung von Epitaphen“, S. 226. 47 Davidson, „Kommunikation und Konvention“, S. 393. 48 Ebd. 49 Dass Davidson an dieser Stelle auf Takt-Kriterien rekurriert, brachte ihm einige Kritik ein. Spoerhase beschreibt Davidson deswegen als Vertreter einer Position, die „von der Position des erkenntnistheoretischen Esoterikers nur noch schwer zu unterscheiden“ sei (Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007, S. 343). Auch Hans Friedrich Fulda scheint vergleichbare Bedenken zu haben, weswegen er die nicht theoretisch einholbare Dimension in Davidsons Interpretationstheorie des Öfteren herunterspielt. Vgl. etwa: „Für nebensächlich kann dabei zunächst gelten, ob es außer diesem theoretischen Verständnis (in einem expliziten wissenschaftlichen Wissen) noch ein Interpretenwissen gibt, das nur ein Können ist“. (Hans Friedrich Fulda, „Unterwegs zu einer einheitlichen Theorie des Sprechens, Handelns und Interpretierens. Laudatio auf Donald Davidson“, in: Donald Davidson/Hans Friedrich Fulda [Hrsg.], Dialektik und Dialog, Frankfurt a.M. 1993, S. 24–63, hier S. 35)

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ter Erkenntnisse zu rechtfertigen. Stattdessen hat der Takt bei Davidson eine heuristische Funktion: Der Interpret kann die Hypothesen, die ihm sein Takt nahelegt, versuchsweise als Erklärungen für Abweichungen von seiner Ausgangstheorie aufnehmen, um so eine möglichst gut geeignete Übergangstheorie zu generieren.50 Der Unterschied zwischen einer heuristischen Funktion des Takts und einer ex post zugeschriebenen Rechtfertigungsfunktion liegt dabei gar nicht in erster Linie in dem Moment der nachträglichen Zuschreibung, sondern in dem Maß an rechtfertigendem Potential, das dem Takt zugeschrieben wird. Heuristisch relevant kann so gut wie alles sein – jedes Verfahren, das „etwas zur Erkenntnisgewinnung beitragen [kann], ohne selbst die Sicherheit der gewonnenen Erkenntnisse begründen zu können“,51 lässt sich als heuristisch begreifen. Dass ein Interpret (oder ein Erkenntnissuchender im allgemeineren Sinn) Takt nicht sozusagen at will abrufen kann, sondern eher darauf hoffen muss, dass er sich zeigt – was man dann ex post feststellen kann –, scheint mir völlig zutreffend zu sein und würde wohl auch von Davidson nicht bestritten.52 Das heißt nach diesem Heuristikverständnis allerdings keineswegs, dass Takt seinen Status als Heuristik verliert, sondern nur, dass er keine besonders verlässliche heuristische Kategorie ist.53

50 In dieser heuristischen Dimension wurde der Takt historisch nicht gedacht. Vgl. Danneberg, „Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden“, S. 634: „Der Ausdruck Takt kann dazu dienen, nachträglich über Vorhandenes zu urteilen, und er scheint zugleich verwendet zu werden, um etwas über die heuristische Tätigkeit des Findens auszudrücken. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich allerdings um keinen Ausdruck, der etwas Heuristisches umschreibt.“ 51 Heinrich Schepers, [Art.] „Heuristik, heuristisch“, in: Joachim Ritter [u.a.] (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3: G–H, Darmstadt 1974, Sp. 1115–1120, hier Sp. 1119. 52 Wie hoch das Maß an Abrufbarkeit von Takt als heuristischer Kategorie ist, hängt von der genaueren Ausdifferenzierung des von mir sehr umfassend verwendeten Begriffs ab. Zumindest bei denjenigen Spezifikationen von Takt, die durch Einübung und Training befördert werden können, wird mit gesteigerter Erfahrung und Expertise auch die Chance steigen, dass sich der Interpret darauf verlassen kann, durch seinen Takt zu bestimmten Hypothesen zu gelangen. Bei einer Kategorie wie Glück ist dies nicht der Fall, was zwar dessen heuristische Verlässlichkeit einschränkt, nicht aber die mitunter entscheidende Rolle, die Glück bei dem Zustandekommen neuer Erkenntnisse gespielt hat. Die wissenschaftliche Verbindlichkeit einer Erkenntnis ist – hierauf weist schon Max Weber hin – mithin unabhängig davon, ob sie von einem taktvollen Experten oder einem taktlosen Dilettanten stammt: „Der Einfall eines Dilettanten kann wissenschaftlich genau die gleiche oder größere Tragweite haben wie der des Fachmanns.“ (Max Weber, „Wissenschaft als Beruf“ [1919], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Marianne Weber (Hrsg.), Tübingen 1922, S. 524–555, hier S. 532) 53 Im konkreten interpretationstheoretischen Zusammenhang bei Davidson ist diese Diagnose nur in abgeschwächter Form zutreffend. Da so gut wie jeder rationale Akteur in der Interpretation normalsprachlicher Äußerungen ein gewisses Maß an Erfahrung besitzt und damit auch ziemlich sicher über die nötige Geschicklichkeit (skill) oder Intuition (intuition) verfügt, ist sozusagen die

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Die Evaluation von interpretativen Erkenntnissen, die auf eine durch den Takt gewonnene Übergangstheorie zurückgehen, ist ein Vorgang, der von der angelegten Heuristik unabhängig und relativ zu jeweiligen epistemischen Kontexten diskutiert werden kann. Eine emphatische Einschätzung auf Takt zurückgreifender Erkenntnisgewinnung als „das vollkommenste Erkennen, das uns menschlicherweise möglich ist“,54 ist aus dieser Perspektive unangebracht. Genauso unangebracht ist allerdings Kritik, die darauf abzielt, dass durch den Takt beförderte Erkenntnisprozesse an diversen Stellen „den Boden der Sicherheit“55 verlassen und dementsprechend „kein Verifikationsverfahren“56 darstellen würden. Verstanden als heuristisches Hilfsmittel, das beispielsweise an der Gelenkstelle der Modifikation von Ausgangstheorien zu Übergangstheorien Hypothesen zur Lösung interpretativer Probleme zur Disposition stellen kann, trägt der Takt zwar tatsächlich zur Erkenntnisgewinnung bei, ohne selbst die Sicherheit der betreffenden Erkenntnisse begründen zu können – als bloß heuristisches Hilfsmittel muss er diese Begründung aber auch gar nicht liefern können.57 In vielen epistemischen Kontexten reicht es außerdem völlig aus, sich auf den Takt zu berufen, um interpretative Erkenntnisse zu rechtfertigen (z. B. in der alltäglichen Kommunikation). Erst dann, wenn bestimmte Erkenntnisse des Interpreten einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten müssen und die epistemischen Ansprüche dementsprechend als deutlich höher als üblich ausgezeichnet sind, ist es nicht mehr damit getan, allein auf eine Heuristik interpretativen Takts als Rechtfertigungsinstanz zu rekurrieren. Das gilt nach meinem Dafürhalten auch für die literaturwissenschaftliche Interpretation von (fiktionalen) Texten. Um wissenschaftlichen Status für Interpretationsergebnisse beanspruchen zu können, muss ein Interpret in der Lage sein, diese rational und methodisch zu rechtfertigen. Sein Takt wird ihm dabei durchaus hilfreich sein und es ihm ermöglichen, in der richtigen Richtung nach Interpretationshypothesen zu suchen. Er entlastet ihn allerdings nicht von der Verpflichtung, die Interpretationsergebnisse durch Angabe von rationalen Gründen plausibel zu machen. Diese Plausibilisie-

Latte für die Zuschreibung eines taktvollen Vermögens sehr niedrig gelegt. Davidson kann zurecht davon ausgehen, dass in paradigmatischen Interpretationsprozessen Interpreten problemlos in der Lage sind, mittels einer auf Takt rekurrierenden Heuristik zu geeigneten Übergangstheorien zu gelangen, und interpretativer Erfolg damit nicht nur einer Art von taktvoller Elite vorbehalten ist. 54 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Rudolf Hübner (Hrsg.), 4. Aufl., Darmstadt 1960, S. 26. 55 Stegmüller, Wissenschaftstheorie, S. 368. 56 Ebd., S. 363. 57 Zu einem ähnlichen Schluss kommt letztlich auch Stegmüller; vgl. ebd., insbesondere S. 363.

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rung darf selbst wiederum nicht durch Rekurs auf Takt, sondern muss durch eine Offenlegung der methodischen Genese erfolgen.58 Wenn der Rekurs auf Takt im Zweifelsfall, unter dem epistemischen Druck eines wissenschaftlichen Verbindlichkeitsanspruchs, nicht zumindest nachträglich durch Explikation methodischer Verfahren ersetzt werden kann, verlieren die betreffenden interpretativen Erkenntnisse ihren Wissenschaftlichkeitsstatus. Ein grob skizziertes Beispiel aus der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation kann diese Stoßrichtung deutlicher machen: Ein Interpret von Swifts A Modest Proposal wird aufgrund seines Takts wohl recht bald den Eindruck gewinnen, dass der Text trotz der scheinbar seriösen, soziologisch-wissenschaftlichen Rhetorik nicht als ernstgemeinter Vorschlag für Infantizid und Kannibalismus gelesen werden kann und dass – in Davidsons Terminologie – eine Revision der interpretativen Erwartungen z. B. über die Ernsthaftigkeit des Gesagten nötig ist. In anderen Worten: Jeder einigermaßen erfahrene Interpret wird, ohne darüber immer schon methodische Rechenschaft ablegen zu müssen, zu der spezifischen Interpretationshypothese gelangen, dass es sich bei A Modest Proposal keineswegs um einen bescheidenen Vorschlag im eigentlichen Sinn, sondern um eine Satire handeln muss. Sobald der Interpret als Philologe im epistemischen Kontext der Literaturwissenschaft für seine Interpretation wissenschaftlichen Status samt (potentieller) Falsifizierbarkeit und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit beanspruchen können will, muss er diese Hypothese jedoch im Rekurs auf anderweitige, methodologisch rekonstruierbare Begründungsverfahren plausibilisieren. Er könnte etwa versuchen zu zeigen, dass die Hypothese „Bei A Modest Proposal handelt es sich um eine Satire“ vom Textbestand und anderen vorhandenen interpretationsrelevanten Daten am besten gestützt wird und nach der Methode des Schlusses auf die beste Erklärung dementsprechend als die beste Erklärung für diese Daten gelten kann. Welche Daten hier als interpretationsrelevant gelten, wird von den literaturtheoretischen Parametern abhängen, die der Interpret für plausibel hält. Unter (hypothetischen) Intentionalisten würde

58 Laut Danneberg, „Dissens“, S. 112 ist die Philologie des späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts in Bezug auf eine derartige methodische Rekonstruktion pessimistisch. Ein überzeugender Grund, sich diesem Pessimismus anzuschließen, ist mir nicht ersichtlich. Exemplarisch vorgeführt wird die Möglichkeit einer Interpretation von Literatur, die durchaus umfassend methodisch rekonstruierbar ist, etwa im Rahmen der Kognitiven Hermeneutik Peter Tepes. Vgl. dazu grundlegend Peter Tepe, Kognitive Hermeneutik. Textwissenschaft ist als Erfahrungswissenschaft möglich, Würzburg 2007. Die dort grundgelegte Methode wird in der Anwendung vorgeführt in Ders./Jürgen Rauter/Tanja Semlow, Interpretationskonflikte am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns ‚Der Sandmann‘, Würzburg 2009.

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wohl ein Verweis darauf als interpretationsrelevant akzeptiert werden, dass Swift eine ganze Reihe von anderen Satiren verfasste, selbst in großer Armut aufgewachsen war und über einige faktisch existierende, recht absurde Vorschläge zur Lösung der im Irland des frühen 18. Jahrhunderts virulenten Armutsproblematik Bescheid wusste. Damit wäre es plausibel, dem Autor die Intention zuzuschreiben, mit A Modest Proposal eine die Unmenschlichkeit der englischen Regierung kritisierende Satire zu verfassen. Analog würde sich eine strukturalistisch vorgehende Interpretation wohl darauf berufen, dass der Text traditionelle rhetorische Merkmale einer Satire aufgreift, an Stellen wie „Ich gebe zu, daß diese Speise etwas teuer kommen wird; aber eben deshalb wird sie sich sehr für den Großgrundbesitzer eignen; da die Gutsherrn bereits die meisten Eltern verschlungen haben, so haben sie offenbar den nächsten Anspruch auf die Kinder“59 oder „Denn diese Ware eignet sich nicht für den Export, da das Fleisch zu zart ist, um sich selbst in Salz lange zu halten, obschon ich vielleicht ein Land nennen könnte, das mit Freude unsere ganze Nation auch ohne Salz aufessen würde“60 ironisch die Wortfelder des Essens und der Ökonomie aufeinander bezieht etc. Natürlich war die Hypothese „Bei A Modest Proposal handelt es sich um eine Satire“ zuvor schon durch den Takt nahegelegt worden. Um dem hohen epistemischen Anspruch der Wissenschaft gerecht zu werden, reicht dies aber für eine Evaluation der Güte der Hypothese noch nicht aus. Erst die methodische Rekonstruktion legt gewissermaßen einen durch theoretisch nachvollziehbare Regeln geleiteten ‚Rechenweg‘ offen, der hätte beschritten werden können – dass dieser von dem Interpreten de facto erst retrospektiv beschritten wurde und die Hypothese zunächst einfach taktvoll erkannt wurde, ist aus evaluativer Perspektive irrelevant. Insgesamt ist damit der Einschätzung, dass sich „gelungene Wissenschaft“ nicht „auf die korrekte Anwendung einer apersonalen (wissenschaftlichen) Methode reduzieren“61 lässt, auch aus Davidsons Sicht genauso zuzustimmen wie der oben schon zitierten Einschätzung, dass ein „Appell an Methode allein“ nicht vollständig erklären kann, „wie bestimmte wissenschaftliche Problemlösungen gefunden worden sind.“ Die Rolle, die der Takt für eine gelungene (Literatur-) Wissenschaft genauso wie für die Erklärung des Zustandekommens gelungener wissenschaftlicher Problemlösungen spielt, beschränkt sich nach dem aus Davidsons Überlegungen abgeleiteten Verständnis aber eben auch auf den Bereich des 59 Jonathan Swift, Ein bescheidener Vorschlag, wie man verhindern kann, daß die Kinder der Armen ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen. Satiren, Frankfurt a.M. 1975, S. 56. 60 Ebd., S. 63. 61 Martus/Spoerhase, „Praxeologie der Literaturwissenschaft“, S. 94.

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Zustandekommens von Erkenntnissen. Takt hilft dem Interpreten (oder dem Erkenntnissuchenden im allgemeinen Sinn), zu einer Interpretation (oder Problemlösung) zu kommen. Gerechtfertigt – zumal aus wissenschaftlicher Perspektive – ist die betreffende Interpretation bzw. Erkenntnis damit jedoch noch nicht, dafür muss eine retrospektive Beschreibung der methodischen Genese nachgeliefert werden. Wichtig scheint mir abschließend der Hinweis, dass das Verständnis von Takt als heuristischer Kategorie ohne rechtfertigendes Potential im wissenschaftlichen Kontext keine Unterscheidung von Entdeckungskontext (context of discovery) und Rechtfertigungskontext (context of justification) im strengen Sinn nach sich ziehen muss. Wie angemessen es ist, „scharf zwischen dem Zustandekommen des Einfalls und den Methoden und Ergebnissen seiner logischen Diskussion [zu] unterscheiden“,62 mag aus wissenschaftstheoretischer Sicht durchaus diskutabel sein,63 eine dahingehende Festlegung ist für die oben vertretenen Thesen aber gar nicht zwingend erforderlich. Der Standardformulierung nach postuliert eine Trennung von Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext nämlich nicht zuletzt eine zeitliche Divergenz zwischen einer Periode der Entdeckung und einer anschließenden Periode der Rechtfertigung einer Erkenntnis: In its standard formulation, this distinction [zwischen ‚context of discovery‘ und ‚context of justification‘; T.P.] divides the history of a new theory into a discovery period (before the theory is on hand) and a justification period (the subsequent testing of and giving good reasons for that theory).64

Die von mir vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer deskriptiven und einer evaluativen Perspektive auf (interpretative) Erkenntnisse erfordert keine Antwort auf die Frage, ob diese Perioden eindeutig voneinander getrennt werden können, sie geht lediglich davon aus, dass man Erkenntnisse grundsätzlich sowohl in ihrer faktischen Entstehung beschreiben als auch ihre epistemischen Eigenschaften normativ bestimmen kann. Eine nur in dieser Hinsicht relevante

62 Karl Popper, Logik der Forschung [1934], 10. Aufl., Tübingen 1994, S. 9. 63 Uwe Wirth etwa geht davon aus, dass „die heutige Wissenschaftsgeschichte“ eine „strikte[] Grenzziehung zwischen Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext […] verabschiedet hat, da sie den Blick für die Übergänge und Interferenzen zwischen beiden Kontexten verstellt.“ Vgl. Uwe Wirth, „Dilettantische Konjekturen“, in: Uwe Wirth/Safia Azzouni (Hrsg.), Dilettantismus als Beruf, Berlin 2009, S. 11–29, hier S. 18. 64 Bryan Mowry, „From Galen’s Theory to William Harvey’s Theory: A Case Study in the Rationality of Scientific Theory Change“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 16/1985, 1, S. 49–82, hier S. 79.

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Unterscheidung von Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext ist so schwach, dass sie selbst von Kritikern gar nicht bezweifelt wird.65

65 Vgl. Hoyningen-Huene, „Context“, S. 128: „Actually, I do believe that there is a core of the DJ [discovery – justification; T.P.] distinction that has, to the best of my knowledge, never been attacked in the discussion about it. […] What I have in mind is an abstract distinction between the factual on the one hand, and the normative or evaluative on the other hand. This is a distinction of two perspectives that can both be taken regarding scientific knowledge, especially epistemic claims (but also about claims of differing characteristics such as legal, moral or aesthetic claims). From the descriptive perspective, I am interested in facts that have happened, and their description. Among these facts may be, among other things, epistemic claims that were put forward in the history of science, that I may wish to describe. From the normative or evaluative perspective, I am interested in an evaluation of particular claims. In our case, epistemic claims, for instance for truth, or reproducibility, or intersubjective acceptability, or plausibility, and the like are pertinent. Epistemic norms (in contrast to, say, moral or aesthetic norms) govern this evaluation. By using epistemic norms we can evaluate particular epistemic claims according to their being justified or not.“ Vgl. ebd., S. 130: „But the critics never doubted the difference between the descriptive and the normative or evaluative perspectives.“

Erik Schilling, München/Oxford

Literatur als Theorie – Theorie als Literatur Chancen und Grenzen der Deutung literaturtheoretischer Komponenten in literarischen Werken Meinem Vater Michael Schilling zum 65. Geburtstag

I Einleitung: Den ‚Interpreten‘ schaffen In der Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ schreibt Umberto Eco, einen Roman zu verfassen heiße zugleich, „mit Hilfe des eigenen Textes den gewünschten Lesertyp schaffen“.1 Dieser Vorgang hat eine lange Tradition: Vergils ‚Erschaffung‘ des Lesers im Proöm der Aeneis kann exemplarisch für das antike Epos als ein Ausgangspunkt erwähnt werden, Wolframs Anforderungskatalog an die Rezipienten des Parzival zeigt die Relevanz dieser Frage für den höfischen Roman des Mittelalters, und die Momente des selbstreflexiven Spiels romantischer Texte mit ihrem Publikum, wie etwa E.T.A. Hoffmann sie in den Lebens-Ansichten des Katers Murr praktiziert, stehen für eine Stufe der Entwicklung in der Moderne. Was umgekehrt passiert, wenn es einem Text nicht kontinuierlich ‚gelingt‘, seinen Leser zu formen, sondern sich Brüche in der Rezeption eines Werkes aufweisen lassen, hat Hans Robert Jauß im Rahmen seiner Rezeptionsästhetik beschrieben.2 Ausgehend von dieser – hinreichend bekannten – Situation erfährt die literarische Gestaltung der Interaktion von Text und Leser seit einigen Jahrzehnten einen Wandel. Dieser vollzieht sich primär im Anschluss an die Theoriebildung des Poststrukturalismus und damit in etwa ab dem Beginn der literarischen Postmoderne.3 Der entscheidende Unterschied zu literarischen Werken früherer Epo-

1 Umberto Eco, Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, München, Wien 1984, S. 56. 2 Vgl. etwa Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970. 3 Da der Begriff ‚Postmoderne‘ bezüglich Relevanz, Anwendungsbereich und Bedeutung immer noch umstritten ist, wird er hier – als Minimaldefinition – ausschließlich im Sinne einer chronologischen Strukturierung der Literatur ex post verwendet, unter Bezugnahme auf die Literatur von ca. 1970–2000. Welche literarischen Charakteristika für diese ‚Epoche‘ bezeichnend sind, ist z.B. bei Paul Michael Lützeler nachzulesen, der u.a. einen Wandel hin zu ironisch-spielerischen Elementen, eine Mischung von Hoch- und Massenkultur, Doppelkodierungen und Pluralität sowie eine damit verbundene Präferenz für Multiperspektivität anführt (vgl. Paul Michael Lützeler, Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte: Sondierung, Analyse, Interpretation, Berlin 1997). Für das Selbstverständnis der Postmoderne ist zudem eine neue Zeitkonzeption charakteristisch, weswe-

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chen, die antizipieren, welcher Leser sie rezipieren wird bzw. wie dieser als geeigneter Rezipient zu formen ist, besteht darin, dass literarische Texte seit der Postmoderne (auch) einen Leser voraussetzen, der literaturtheoretisch erfahren ist.4 Zur terminologischen Differenzierung soll ein solcher ‚Leser‘ hier als ‚Interpret‘ bezeichnet werden.5 Dieser (postmoderne) Interpret unterscheidet sich vom (vormodernen und modernen) Leser dadurch, dass er aufgrund seiner Kenntnis des ausdifferenzierten literaturtheoretischen Instrumentariums, auf das er für seinen Akt der Lektüre zurückgreifen kann, kritischer liest und daher widerstandsfähiger ist gegenüber Versuchen literarischer Werke, ihren Leser so zu formen, dass dieser „nach überstandener Initiation […] die Beute des Textes“6 wird.7 Zahlreiche Romane seit der Postmoderne können als Beispiele für das Bewusstsein literarischer Texte angeführt werden, dass sie nicht nur von ‚Lesern‘, sondern auch von ‚Interpreten‘ rezipiert werden; diese Entwicklung stellt einen Aspekt des Spannungsfeldes von Literatur und Literaturtheorie dar, das im gleichen Zeitraum insgesamt an Komplexität gewinnt.8 Italo Calvinos Wenn ein

gen z.B. Hans Ulrich Gumbrecht die Postmoderne als „[d]ie auf ein neues Zeitbewußtsein gegründete Gegenwart, verstanden als Folgezeit nach dem Ende einer als Sequenz von Epochen gedachten Moderne“ beschreibt. Hans Ulrich Gumbrecht, „Postmoderne“, in: Jan-Dirk Müller [u.a.] (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin 2003, S. 136–140, hier S. 136. 4 Damit soll nicht behauptet werden, dass es sich um einen prinzipiell neuen Vorgang handelt, wenn ein Text seinen Leser antizipiert. Jeder Text zu jeder Zeit geht von einem bestimmten Wissen und einem bestimmten Zugang seiner potentiellen Leser zu Literatur aus. So setzt etwa der Liebesroman der zweiten Sophistik einen rhetorisch gebildeten Leser voraus – und ‚findet‘ ihn, weil der Literaturunterricht im Rahmen der ‚Rhetorik‘ stattfindet. Besondere Brisanz gewinnt dieser Vorgang bei den hier zu besprechenden Texten jedoch dadurch, dass es sich nicht um die bloße Situierung des Textes im Diskursraum seiner Leser handelt, wie sie für den antiken Liebesroman anzuführen wäre, sondern um ein bewusstes Arbeiten am interpretatorischen Horizont, so dass die literaturtheoretischen Herangehensweisen vom literarischen Artefakt fortgeschrieben und modifiziert werden. 5 Selbstverständlich ist diese Differenzierung unscharf und daher rein pragmatischer Natur: Jeder Leser ist immer auch Interpret, und jeder Interpret immer auch Leser. 6 Eco, Nachschrift, S. 59. 7 Darüber hinaus sind zahlreiche postmoderne Texte doppelt kodiert, also sowohl auf einen ‚naiven‘ als auch auf einen ‚kritischen‘ Leser (in der Terminologie Ecos) hin ausgerichtet, womit sie der zeitgenössischen Forderung nach einer Überwindung der Kluft zwischen Massen- und Eliteliteratur genügen. Für den vorliegenden Beitrag ist diese Frage nicht relevant – es wird bei dem im Folgenden zu untersuchenden Verhältnis von Text und Interpret immer um den Interpreten als ‚kritischen‘ Leser gehen. 8 Vgl. dazu Daniel Müller Nielaba/Boris Previšič, „Reflexion literarischer (Selbst-)Beobachtung. Skizzen zu einer radikalen Philologie“, in: Boris Previšič (Hrsg.), Die Literatur der Literaturtheorie, Bern [u.a.] 2010, S. 9–19, die den Fall wechselseitiger Interaktion von Theorie und Literatur als Ideal beschreiben: „Die Theorie kann sich nicht von ihrer Literatur emanzipieren, sondern ist

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Reisender in einer Winternacht oder Umberto Ecos Der Name der Rose greifen poststrukturalistische, rezeptionsästhetische und semiotische Theoriekonzepte auf. In Christoph Ransmayrs Die letzte Welt wird das hermeneutische Modell von Autor, Leser und Text infrage gestellt. Adolf Muschgs Der Rote Ritter weist die Erzählinstanz der „3 Eier“ auf, die eine strukturalistisch-erzähltheoretische Analyse des Romans zugleich herausfordert und ad absurdum führt. Thomas Meinecke greift in Tomboy auf Gedanken der psychoanalytischen Literaturwissenschaft und der Gendertheorie zurück. Helmut Krausser spielt in UC mit Zeitvorstellungen, die auf existentialphilosophischen Theorien basieren und unter Zuhilfenahme von Präsenzkonzepten untersucht werden können. Unter diesen Voraussetzungen stellt sich in verschärfter Weise die Frage, ob und inwieweit diese Texte mit den Mitteln gängiger literaturtheoretischer Ansätze zu erfassen sind. Insbesondere steht zur Debatte, ob ein theoretischer Ansatz, der im Roman explizit aufgegriffen und literarisch ausgestaltet wird, seitens der Literaturwissenschaft zur Analyse und Interpretation des Textes herangezogen werden kann. Dieses Problem tritt etwa dann auf, wenn der Text sich durch einen ironisch-parodistischen Umgang mit Literaturtheorie der Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Interpretierbarkeit kritisch bewusst zeigt. Kann – so ist zu fragen – in einem solchen Fall die literarische Ausgestaltung einer bestimmten theoretischen Herangehensweise gerade mittels derselben beleuchtet werden? Sollte die im Text verwendete Theorie nicht für die Deutung herangezogen werden? Oder ist zur Lösung des Problems an eine ‚Literaturtheorie zweiter Ordnung‘ zu denken, die Elemente von Theorie in literarischen Texten über einen metatheoretischen Zugriff erfasst?9 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird sich der folgende Beitrag in vier Teile gliedern. Zunächst soll der traditionelle Vorgang der ‚Leserschaffung‘ anhand der drei erwähnten Beispiele (Vergil, Wolfram, Hoffmann) kursorisch umrissen werden. Sodann sind zwei Thesen zu entwickeln, die von einem kurzen Blick auf die Praxis der Literaturwissenschaft unterbrochen werden:

ihr – im Idealfall: vice versa – eingeschrieben“ (ebd., S. 9). Ausführlich mit diesem Phänomen beschäftigt sich auch der Sammelband: Klaus Birnstiel/Erik Schilling (Hrsg.), Literatur und Theorie seit der Postmoderne. Mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Stuttgart 2012. 9 Nielaba/Previšič, „Reflexion“, S. 14, werfen diese Frage auf (zusammen mit denjenigen nach einem ‚blinden Fleck‘ von Theorie sowie nach der ‚literarischen Gattung‘ von Literaturtheorie), verfolgen sie aber nicht weiter. Der Sammelband Mario Grizelj/Oliver Jahraus (Hrsg.), Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften, München 2011, setzt sich primär mit der Theoretisierbarkeit von Theorien auseinander, also einer Metatheorie mit anderem Objektbereich.

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Es lässt sich erstens zeigen, dass nicht nur die Literaturtheorie – etwa zum Zwecke einer phänomenologischen Darstellung im Rahmen der Literaturgeschichte – auf Tendenzen in der Literatur reagiert und auf dieser Basis ihr methodisches Instrumentarium variiert oder modifiziert, sondern dass zahlreiche literarische Texte (insbesondere seit der Postmoderne) im Bewusstsein ihrer theoretischen Erschließungsmöglichkeiten entstehen und selbige fiktionsimmanent reflektieren oder ironisieren. Sie gehen nicht mehr ‚nur‘ von einem Leser aus, sondern von einem literaturtheoretisch versierten Interpreten. Im Anschluss an diese erste These ist in einem praxeologischen Abschnitt zu zeigen, dass viele literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu den besprochenen Texten das benannte Problem zwar identifizieren, jedoch nicht hinlänglich interpretatorisch erschließen: Sie verfahren entweder rein deskriptiv, indem sie Theorie und literarische Verwendung vergleichend beschreiben, oder rein systematisch, indem sie die aufgegriffene Theorie ohne kritisches Hinterfragen ihrer Gültigkeit und ihres Anwendungsbereiches auf den literarischen Text applizieren. Auf der Basis der literarischen und literaturwissenschaftlichen ‚Befunde‘ wird zweitens die These formuliert, dass für eine adäquate Analyse und Interpretation dieser und ähnlich gestalteter Texte eine interpretatorische Herangehensweise erforderlich ist, die in einem höheren Maße als bestehende Literaturtheorien ihren Ansatzpunkt und ihre Reichweite selbstreflexiv hinterfragt. Literatur und Theorie bilden damit keine systemisch getrennten Sphären, sondern weisen eine Reihe von Interferenzen und Rückkopplungen auf, so dass sich eine unaufhörliche Spirale wechselseitiger Beeinflussung, Reflexion und Modifikation ergibt. Welche methodischen Bausteine im Kontext dieses Phänomens für die Literaturwissenschaft eine Rolle spielen können, wird abschließend skizziert.10

10 Dieser Beitrag beschränkt sich bewusst darauf, auf das Phänomen hinzuweisen, es diachron zu verorten, es anhand einer detaillierten Textanalyse für die Gegenwartsliteratur nachzuweisen und einige ‚Lösungsvorschläge‘ allgemeiner Natur aufzuzeigen. Wie hingegen eine ‚Anwendung‘ der Theorie zweiter Ordnung auf die Romane aussehen könnte, die für die Beschreibung des Phänomens herangezogen werden, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Einige Vorschläge dazu finden sich in Birnstiel/Schilling (Hrsg.), Literatur und Theorie.

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II Zur literarischen Rolle des Lesers Die literarhistorische Rolle des Lesers kann in diesem Rahmen nur höchst schlaglichtartig in den Blick genommen werden.11 Nichtsdestoweniger sollen drei verschiedene Modelle eines ‚impliziten Lesers‘ vorgeführt werden, um von diesen den ‚impliziten Interpreten‘ abzusetzen, den postmoderne Texte oft installieren. (1) Wie Vergil in der Aeneis seinen Leser ‚erschafft‘, hat Werner Suerbaum ausführlich untersucht:12 „Vergil will ‚seinem‘ Leser keine Rätsel aufgeben, und er will ihn nicht irreführen. Er rechnet mit einem vor-informierten Leser.“13 Dieser vorinformierte Leser ist in der Lage, die im Proöm der Aeneis erwähnten Orte (Troja, Latium, Rom) in ihrer jeweiligen semantischen Aufladung zu verstehen. Er kann den namenlosen vir des ersten Verses mit Aeneas identifizieren und kennt die Gründe für den Zorn Junos. Vergil setzt dies voraus, weil das Epos den Gründungsmythos Roms poetisiert und sich damit an einen römischen Leser wendet, der an einer gleichermaßen mythischen wie historischen Darstellung der Ursprünge seines Volkes interessiert ist. Die Voraussetzungen der Aeneis beziehen sich somit in erster Linie auf inhaltliches Vorwissen, in zweiter Linie auch auf Gattungstraditionen, auf Homer sowie auf die Werke des Livius Andronicus, des Ennius und des Naevius.14 Doch auch das Wissen um die Gattungstradition ist primär ein inhaltliches, es betriff etwa den Götterapparat, die zentrale Rolle von Kampfschilderungen und die ekphrastischen Beschreibungen, daneben das Metrum des Hexameters. Selbstverständlich wäre die Rolle des von Vergil antizipierten Lesers im Detail zu untersuchen;15 für die hiesigen Zwecke reicht jedoch die Feststellung, dass es sich primär um einen Leser mit einem bestimmten Faktenwissen handelt, das als Teil des kollektiven Gedächtnisses vorausgesetzt werden kann. (2) Wolframs von Eschenbach Parzival kann schon quantitativ exemplarisch für eine Untersuchung der Leser- bzw. Hörer-Rolle höfischer Romane des deut-

11 Eine ausführlichere Untersuchung dazu müsste in jedem Fall weitere Texte betrachten, etwa solche der Frühromantik, Kafkas oder Becketts mit ihrem jeweiligen selbstreflexiven Potential im Hinblick auf die eigenen Rezeptionsbedingungen. 12 Vgl. Werner Suerbaum, Vergils ‚Aeneis‘. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999. 13 Ebd., S. 19. 14 Vgl. ebd., S. 141–156. 15 Ansätze für solche Untersuchungen gibt es bei Thomas Baier, „Die Wandlung des epischen Erzählers. Apologe bei Homer, Vergil und Ovid“, in: Hermes, 127/1999, S. 437–454; Bernd Effe, Epische Objektivität und subjektives Erzählen. ‚Auktoriale‘ Narrativik von Homer bis zum römischen Epos der Flavierzeit, Trier 2004, S. 37–46; Ernst A. Schmidt, „Vergils Aeneis als augusteische Dichtung“, in: Jörg Rüpke (Hrsg.), Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, Stuttgart 2001, S. 65–92.

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schen Mittelalters stehen.16 Hier seien die zwei bekanntesten Beispiele für poetologische Aussagen zu Werk und Rezeption herausgegriffen: der Prolog und das ‚Bogengleichnis‘.17 Im Prolog führt Wolfram das Symbol der Elster ein, die man mit ihrem schwarz-weiß gescheckten Gefieder sowohl auf den Menschen beziehen kann, der sich in moralischer Hinsicht nicht eindeutig zuordnen lässt, als auch auf die Erzählung, die auf Eindeutigkeiten verzichtet und stattdessen Ambivalenzen propagiert. Seitens der Rezipienten sind daher strukturelle Kompetenzen gefordert: Wird auf eine sich eindeutig, linear und logisch entwickelnde Handlung in Teilen verzichtet, erfordert dies einen aufmerksamen, literarisch geschulten Leser – und es ist noch offensichtlicher als im Falle der Aeneis, dass es sich beim Parzival um ein Werk für eine Leserschaft, nicht für eine Hörerschaft handelt, dass also Schriftlichkeit mit entsprechender Komplexitätszunahme in der Kommunikation vorausgesetzt ist.18 Diese Voraussetzungen unterstreicht der Text, indem im Bogengleichnis die Idee vom Verzicht auf Eindeutigkeit aufgegriffen wird. Der Bogen wird dort zur Metapher für ein Kommunikationsmodell, bestehend aus demjenigen, der den Bogen spannt, dem Bogen selbst und dem Zielpunkt des Pfeils. Eindeutig zu klären sind die verschiedenen Bedeutungen dabei nicht; man kann sich sogar fragen, ob Wolfram mit der Gebrochenheit seiner Metapher die Uneindeutigkeit des Textes darstellt. Dies wäre an anderer Stelle zu klären; für den Kontext der Leser-Erwartungen relevant ist hier die Feststellung, dass der Parzival weniger auf ein inhaltliches Vorwissen als auf bestimmte strukturelle Kompetenzen im Umgang mit fiktionalen Texten abzielt.

16 „In keinem anderen höfischen Epos gibt es eine solche Fülle von Hörer-Anreden wie im ‚Parzival‘“ (Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart, Weimar 1997, S. 133). 17 Vgl. dazu ebd., S. 128–151; Helmut Brall, „‚Diz vliegende bîspel‘. Zu Programmatik und kommunikativer Funktion des ‚Parzival‘-Prologes“, in: Euphorion, 77/1983, S. 1–39; Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1992, S. 155–177; Eberhard Nellmann, Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers, Wiesbaden 1973. 18 Diese These wird etwa von Hans Fromm vertreten: „Das Großepos bedeutet, auch wenn es anonym überliefert ist, etwa gegenüber dem Heldenlied das Erreichen einer neuen und komplexeren Bewußtseinsstufe und setzt Schriftlichkeit voraus“ (Hans Fromm, „Epos“, in: Klaus Weimar [u.a.] (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 480–484, hier S. 481 f.). Texte, die Elemente von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nebeneinander inszenieren, treffen damit literaturtheoretische Aussagen, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Autor und Publikum. Es handelt sich um eine „Poetik der fingierten Mündlichkeit […], die die Bedingungen der schriftgestützten Memorialkultur voraussetzt“ (Klaus Ridder, „Fiktionalität und Medialität. Der höfische Roman zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, in: Poetica, 34/2002, S. 29–40, hier S. 30). Dies ist eng mit dem Fiktionalitätsproblem verknüpft, insbesondere mit der Frage, inwieweit sich die Texte ihrer eigenen Fiktionalität nicht nur indirekt bewusst zeigen, sondern sie offen thematisieren.  

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(3) Eine dritte hier vorzustellende Variante, die Rolle des Lesers im literarischen Text zu antizipieren, bieten die selbstreflexiven Formen romantischer Erzählliteratur. Stellvertretend sei auf E.T.A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr verwiesen. An die Stelle des Proöms antiker bzw. mittelalterlicher Epen tritt hier ein Vorwort, das ‚den Leser schafft‘. Es handelt sich jedoch um kein gewöhnliches Vorwort, sondern um eine vielfach ironisch gebrochene Reihe an Vorreden.19 Ein „Vorwort des Herausgebers“, das mit einer genauen lokalen und zeitlichen Situierung und einer eindeutigen und scheinbar sinnvollen Zuschreibung zu E.T.A. Hoffmann der literarischen Tradition der Handschriftenfiktion genügt, wird um eine „Vorrede des Autors“ ergänzt, die zwar ironisch-parodistische Züge offenbart, aber auch im konventionellen Sinne gelesen werden kann. Erst durch das folgende „unterdrückte“ Vorwort des Autors und die ‚Reaktion‘ des Herausgebers auf diesen Druckfehler werden die Spielregeln für die Lektüre des Romans geklärt, wird der Leser vollständig auf ein sich selbstreflexiv und ironisch als Kunstwerk ausstellendes Artefakt eingestimmt.20 Trotz der damit verbundenen Beobachtung zweiter Ordnung (der Erzähler beobachtet sich selbst beim Erzählen) geht es jedoch auch bei Hoffmann darum, einen ‚Leser‘ zu schaffen – einen Leser, der inhaltlich, strukturell, motivgeschichtlich und terminologisch auf romantisches Erzählen vorbereitet ist –, nicht aber einen ‚Interpreten‘, der auf ein differenziertes methodisches Instrumentarium zur Analyse und Interpretation des Textes zurückzugreifen vermag.21

19 Dazu Detlef Kremer, „Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819/21)“, in: Ders. (Hrsg.), E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, 2., erw. Aufl., Berlin, New York 2010, S. 338–356; Manfred Momberger, Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann, München 1986, S. 132–144. 20 „Durch Motivrekurrenzen, affektische Rhetorik, modalisierende Kunstgriffe u.a. arbeitet er [Hoffmann] darauf hin, dem Leser den Nachvollzug jener Grenzüberschreitungen zu ermöglichen, denen seine Gestalten ausgesetzt sind“ (Gerhard R. Kaiser, E.T.A. Hoffmann, Stuttgart 1988, S. 155). 21 Vielleicht aber – dieses Fragezeichen sei bereits hier angemerkt – ist die Tatsache, dass der Text die möglichen Interpretationszugänge zum Thema macht, nicht nur ein Charakteristikum postmoderner Texte, sondern auch ein Hinweis darauf, dass der Objektivitätsanspruch, der sich mit manchen literaturtheoretischen Ansätzen der vergangenen Jahrzehnte verbindet, nicht gerechtfertigt ist, weil der Unterschied zwischen literarischem Text und literaturwissenschaftlichem Sprechen über den Text kein kategorial anderer ist. Da jeder Text nur die in seiner Zeit gängigen interpretatorischen Herangehensweisen zum Thema seiner literarischen Reflexion machen kann, wären in einem solchen Fall die im diachronen Überblick angeführten Beispiele nicht als Argument gegen eine solche Annäherung von Objekt- und Metasprache anzuführen. Wie im letzten Abschnitt des vorliegenden Beitrags ausgeführt werden soll, ist das Problem in Teilen daher möglichweise schon durch einen Perspektivwechsel in den Griff zu bekommen.

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III Zur literarischen Rolle des Interpreten Dieser Aspekt ändert sich bei zahlreichen literarischen Werken, die einige Jahre nach der Hochphase der literaturtheoretischen Diskussionen der 1950–70er Jahre erscheinen und die damit – wenn nicht beim breiten Publikum, so zumindest beim wissenschaftlichen Leser – spezielle Interpretationstechniken und epistemologische Voraussetzungen annehmen dürfen. Wie im Folgenden zu zeigen ist, antizipieren viele dieser Werke eine entsprechende methodische Kompetenz des Lesers, um sie in die erzählte Welt zu integrieren und damit literarisch zur Verhandlung theoretischer Konzepte beizutragen. (1) Adolf Muschgs Der Rote Ritter ist, wie der Untertitel verrät, „eine Geschichte von Parzivâl“, also ein Roman, der in vielerlei Hinsicht den mittelalterlichen Vorlagen von Chrétien de Troyes und Wolfram von Eschenbach verpflichtet ist. Der Plot entwickelt sich – wie bei Wolfram – ausgehend von der Geschichte der Eltern Parzivâls über dessen sukzessiv sich erfüllende Initiation als Ritter. Diese gipfelt in der Krönung zum Gralskönig, nachdem er in der Gralsburg die entscheidende Frage gestellt hat, die den vorherigen Gralskönig Anfortas von einem Fluch erlöst. Eine der wichtigsten Stationen auf diesem Weg – bei Wolfram ebenso wie bei Muschg – ist Parzivâls Begegnung mit seinem Onkel Trevrizent, Anfortas’ Bruder, der sich, um dessen Sünde zu sühnen, als Einsiedler in die Wildnis zurückgezogen hat. Bei ihm lernt Parzivâl lesen: [Trevrizent:] Ich will Euch lehren, nicht lesen zu können! Dazu muß ich Euch lehren, wie es im Buche steht, und zwar einen Buchstaben nach dem andern. Und zu jedem will ich Euch etwas vorschreiben, was Ihr wissen müßt, über mich und über Euch, über das Leben und über den Grâl. Und will Euch nicht nur lesen lehren, sondern auch recht fragen. Und um Euch fragen zu lehren, will ich Euch alles fragen, was zu Eurer Geschichte gehört.22

Diese Ankündigung Trevrizents nimmt vorweg, was im folgenden Kapitel mit dem Titel „Die Fibel“ durchgeführt wird: eine strukturalistisch-semiotische Erschließung der Welt, die zudem Anklänge von Friedrich Ohlys mittelalterlicher Bedeutungsforschung aufweist.23 Parzivâl lernt lesen, indem er bestimmte Lautbilder (zunächst nur isolierte Buchstaben) und bestimmte Vorstellungsbilder (die jeweils evozierten Begriffe und Zusammenhänge) miteinander verknüpft. Mit Roland Barthes kann Parzivâl in der Folge als ‚strukturaler Mensch‘ bezeichnet werden, da er nicht länger „durch seine Ideen oder seine Sprache definiert wird, 22 Adolf Muschg, Der Rote Ritter. Eine Geschichte vom Parzivâl, Frankfurt a.M. 1993, S. 649. 23 Zu Letzterem vgl. Friedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1983. Im vorliegenden Text soll es primär um die strukturalistischen Elemente und deren Dekonstruktion gehen.

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sondern durch seine Imagination oder noch besser durch sein Imaginäres, also durch die Art, wie er die Struktur geistig erlebt.“24 Durch das, was sich Parzivâl bei Trevrizent angeeignet hat, ist er in der Lage, der Welt im Rahmen strukturalistischer Tätigkeit gegenüberzutreten. Sein Alphabet macht er zur Grundlage der Wahrnehmung, er zerlegt die Umwelt in Einzelteile, bis hin zu Buchstaben, um sie in der Folge neu zusammenzusetzen. Dieser Weltzugang des Helden ist jedoch mehrfach gebrochen. Der erste Bruch tut sich bereits im Zuge von Parzivâls Lernvorgang auf, weil sein Lehrer Trevrizent sich nicht darauf beschränkt, ihm die Strukturen von Text und Welt aufzuzeigen, sondern diese Strukturen zugleich mit Inhalt füllt, sich also nicht an der Arbitrarität der Verknüpfung von Signifikant und Signifikat orientiert. Exemplarisch sei der Buchstabe T angeführt: Trevrizent. Tel quel tauf und titulier mich. Tyturel war der erste Treuhänder des teuren Tiegels. Tonlos treibt er im Totenbaum. täglich trieft sein Totenmund von dem trickreichen Trank. Täglich Tauchen die Testikel des Anfortas in die trübe Tunke, die den Trost des Transitorischen tilgt. Teufelswerk, die Turteltaube, die Tisch und Trage des Taumelnden teilt. Totgeboren Tyturel, Anfortas totgeschossen, totgelacht Trevrizent. Triste Trinität! Nimmst teil? trauerst tief? Tatest das Triftige nicht, tapsiger Tor, trockne die Tränen! Trenn dich vom Traum den du zu tätigen träge warst. Niemals taust du den Turm des Todes. Trafst den Ton nicht, triff den Text. Treu bleib Tusche und Tinte.25

Trevrizent beschreibt dem kurzen Abschnitt über das T zahlreiche Themen ein, die für den gesamten Plot zentral sind. Zunächst spielt er mit der Frage der Namensgebung, in die ein Hinweis auf die französische Literaten- und Theoretikergruppe Tel quel eingebaut ist. Sodann erklärt er Parzivâl die Genealogie der Gralsritter und die Gestalt des Fluchs, unter dem sie zu leiden haben. Hier bindet er Parzivâl emotional ein. Schließlich tadelt er ihn, die Erlösungsfrage nicht gestellt zu haben, und verweist ihn auf den Text als Ersatz für Sprache. Durch diese inhaltliche Aufladung der Struktur T leitet Trevrizent Parzivâl auf einen hermeneutischen Weg, der die ursprüngliche strukturalistische Ausrichtung konterkariert – und dabei handelt es sich nicht nur um eine ‚Umlenkung‘, die sich auf eine Figur des Romans beschränkt, sondern um eine, die sich poetologisch 24 Roland Barthes, „Die strukturalistische Tätigkeit“, in: Dorothee Kimmich/Rolf G. Renner/ Bernd Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 214–222, hier S. 215. 25 Muschg, Ritter, S. 656.

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auf das Verfahren einer jeden Lektüre beziehen lässt. Hier wird anstelle eines einfachen Lesers ein Interpret erschaffen, der genau für eine Situation, in der sein ‚erster‘ interpretatorischer Zugang zum Text nicht glückt, gewappnet ist, indem er in einem solchen Fall einen Wechsel hin zu einem anderen Verfahren der Interpretation vollzieht. Ein weiterer Schritt der Veränderung strukturalistischen Gedankengutes zeigt sich in der ‚praktischen Anwendung‘ des Gelernten, wie Parzivâl sie im folgenden Kapitel vollzieht. Zunächst entziffert er die Natur als Leser. Dann aber begegnet er der Dame Orgelûse, die ihn unter Zuhilfenahme von ‚strukturalistischer Terminologie‘ zu verführen versucht: „Habt ihr ein P für mich? klang es halblaut an sein Ohr. – Dann habe ich für Euch ein O.“26 Kann man Orgelûses Worte an dieser Stelle noch als Spiel mit den Anfangsbuchstaben der Dialogpartner auffassen, bekommen sie kurze Zeit später eine polyvalente Konnotation: „Nimm dein P heraus und tunk’s in mein O, schreib mich um, wie du glaubst, daß ich lauten soll, und ich will O und A dazu sagen!“ Vermittelt durch die Bildlichkeit sind mindestens zwei Assoziationen denkbar: P und O können – im engeren Kontext der zitierten Passage – als Füller und Tintenfass gedeutet werden, so dass Parzivâl mit seiner ‚strukturalen Kompetenz‘ in der Lage ist, die Welt über den Zugang mittels der Struktur auch inhaltlich zu verändern; nicht zufällig sind A und O gleichermaßen Ausdruck von Erstaunen und Entzücken wie Alpha und Omega eines Textes. Im umfassenderen Kontext bekommt das Bild von P und O eine weitere Bedeutung: Ihm liegt der angedeutete sexuelle Diskurs zugrunde. Obwohl Parzivâl auf keine der eröffneten Weisen mit Orgelûse in Interaktion tritt, erkennt er, dass es Möglichkeiten gibt, die Welt zu betrachten, die von seiner strukturalistischen Wahrnehmung abweichen, indem sie die Strukturen um eine inhaltliche Dimension erweitern. Die Erkenntnis des Protagonisten, dass die Welt auch auf hermeneutische Weise wahrgenommen werden kann, gliedert sich ein in den Prozess, den ein weiteres scheinbar strukturales Element des Romans durchmacht, die Erzählinstanz der 3 Eier.27 Die 3 Eier stellen die übergeordnete narrative Ebene des Textes dar, sie sind allwissend und funktional differenziert: Ein Ei ist für das Sprechen, eines für das Hören, eines für das Sehen zuständig. Zudem teilen sie sich ein Gehirn. Dieses entdeckt Zusammenhänge und bereitet damit den Weg für die Fabel. Da aber die Fabel erst die Eier geschaffen hat und das Hirn Teil der Eier

26 Ebd., S. 664. 27 Sie wird in Kapitel I, 11 folgendermaßen eingeführt: „Jemand muß diese Fabel doch erzählen. […] Wo bleibt sie, die übergeordnete Instanz? Sie ist immer da, wo es etwas zu erzählen gibt, oder einen Strich drüber; im Bedarfsfall auch mehr als nur einen. […] Vorweg: die höhere Instanz ist zerbrechlich. Sie besteht aus 3 Eiern. Sie ist 3 Eier“ (ebd., S. 104).

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ist, liegt eine kreisförmige, widersprüchliche Figur vor, die nicht hierarchisch, kausal oder chronologisch strukturiert werden kann. Dass die 3 Eier nicht durch ein Strukturmodell zu erfassen sind, wird zusätzlich unterstrichen durch ihr abruptes Ende: Weil der Gral keine Speisen mehr hervorbringt, werden sie in die Pfanne gehauen, um die hungrigen Gralsritter zu sättigen. Das Ende der Eier bedeutet aber keineswegs das Ende der Handlung: Nach der Zerstörung der auktorialen Eier-Erzählinstanz geht diese noch ein gutes Stück weiter. Ähnlich wie Parzivâls Erlebnis mit Orgelûse, das einer alphabetischstrukturierenden Betrachtung der Welt ihre Grenzen aufzeigt, deutet also die Erzählinstanz der 3 Eier auf ein bewusstes Spielen des Romans mit strukturalistischem (bzw. in einem weiteren Sinne: narratologischem) Gedankengut hin, das zunächst als scheinbare Hilfe bei der Lektüre des Romans installiert, dann aber rasch infrage gestellt wird. (2) Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt spielt in der Antike, zur Zeit des Augustus. Der Kaiser hat Ovid (bei Ransmayr durchgängig: Naso) aus Rom ans Schwarze Meer verbannt. Cotta, ein Freund des Dichters, macht sich auf den Weg in dessen Exilort Tomi, um Naso oder zumindest dessen – so Ransmayrs Fiktion – verschollenes Hauptwerk, die Metamorphosen, wiederzufinden. Die Unternehmung misslingt: Über den Autor kursieren nur Gerüchte, die Überreste des Werkes beschränken sich auf Fragmente. Doch Cotta scheitert nur scheinbar. Tatsächlich treten in Tomi Figuren aus den Metamorphosen auf, die Phantasie ergreift Schritt für Schritt Besitz von der Realität. Der ‚Modell-Leser‘ Cotta geht ein in diese Welt der Phantasie, die zuvor bereits den ‚Modell-Autor‘ Naso absorbiert hat.28 Der Text der Phantasie wird Realität: „Die Erfindung der Welt bedurfte keiner Aufzeichnungen mehr.“29 Eine Gemeinsamkeit der heterogenen (literatur-)theoretischen Strömungen, die unter dem Begriff ‚Poststrukturalismus‘ zusammengefasst werden, ist der vielzitierte „Tod des Autors“.30 Bei Roland Barthes zerstört die écriture das Subjekt; der Autor wird ersetzt durch den Schreiber, dessen einzige Macht darin besteht, „die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren, ohne sich jemals auf eine einzelne von ihnen zu stützen“.31 Ist der Autor auf diese

28 Die Begriffe ‚Modell-Leser‘ und ‚Modell-Autor‘ folgen der Terminologie Umberto Ecos. Vgl. Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München, Wien 1987, S. 61–82. 29 Christoph Ransmayr, Die letzte Welt. Mit einem Ovidischen Repertoire, Nördlingen 1988, S. 286. 30 Vgl. Roland Barthes, „Der Tod des Autors“, in: Fotis Jannidis [u.a.] (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193. 31 Ebd., S. 190.

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Weise verabschiedet, bleibt für den Interpreten nur der Gang durch den „Raum der Schrift“: „Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden. Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen. Sie führt zu einer systematischen Befreiung vom Sinn.“32 Michel Foucault greift Barthes’ These auf und ergänzt sie. Er ersetzt dazu den Begriff des ‚Autors‘ durch den der ‚Autor-Funktion‘. Diese sei ein weitaus komplexeres Verfahren als die Zuschreibung eines Diskurses zu seinem Produzenten: [D]ie Autor-Funktion ist mit dem rechtlichen und institutionellen System verknüpft, das das Universum der Diskurse umfasst, determiniert, gliedert. Sie wirkt nicht einheitlich und auf dieselbe Weise auf alle Diskurse zu allen Zeiten und in allen Zivilisationsformen. Sie ist nicht definiert durch die spontane Zuschreibung eines Diskurses zu seinem Produzenten, sondern dies geschieht durch eine Reihe spezifischer und komplexer Verfahren; sie verweist nicht schlicht und einfach auf ein reales Individuum, sie kann gleichzeitig mehreren Egos Raum geben, mehreren Subjekt-Positionen, die von verschiedenen Gruppen von Individuen eingenommen werden können.33

Wird bei Barthes der Autor von der Schrift verdrängt, fällt er bei Foucault dem Zusammenwirken heterogener Diskurse zum Opfer. Andere Wege des ‚Verzichts‘ auf den Autor – etwa im Rahmen psychoanalytischer Literaturtheorie34 – ließen sich ergänzen. Hier sei jedoch gleich zu dem literarischen Tod übergegangen, den der Autor – vertreten durch Naso als Modell-Autor – in Ransmayrs Letzter Welt erleidet. Der Autor zeichnet sich im Roman durch Abwesenheit, durch kontinuierliches Entgleiten aus. Dies beginnt mit den Gerüchten, die bezüglich seiner Person die Stadt Rom erreichen: „Der Satz hieß, Naso ist tot“.35 Die Vorstellung vom eigenständig schaffenden Autor wird zwar zitiert, dann aber infrage gestellt: Sein Werk, die Metamorphosen, findet sich in Tomi nicht als zusammenhängender Text, sondern in Form von Fragmenten, Erzählungen und sogar als fiktionsontologische Realität. Das Verschwinden des Autors „gibt den Blick frei auf die textuelle Struktur seines Werkes“.36 Eine solche Abwesenheit gilt jedoch nicht für

32 Ebd., S. 191. 33 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“, in: Kimmich/Renner/Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie, S. 232–247, hier S. 242. 34 Vgl. etwa Jacques Lacan, „Das Drängen des Buchstaben im Unbewußten oder die Vernunft nach Freud“, in: Ders., Schriften II, Weinheim, Berlin 1986, S. 15–55; Ders., „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, in: Kimmich/Renner/Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie, S. 175–185. 35 Ransmayr, Die letzte Welt, S. 11. 36 Holger Mosebach, Endzeitvisionen im Erzählwerk Christoph Ransmayrs, München 2003, S. 204.

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den Autor allein, auch der Leser als zweite Instanz einer hermeneutischen Interpretation – etwa im Sinne von Gadamers ‚Horizontverschmelzung‘ – scheitert. Zu keinem Zeitpunkt existiert (außer im subjektiven Hoffen Cottas) die Möglichkeit, eine verlässliche Überlieferung oder gar Edition der Metamorphosen zu gewinnen. Konnte man angesichts des verschwundenen Autors zunächst – etwa mit Hans Robert Jauß oder Wolfgang Iser37 – davon ausgehen, dass sich der Versuch einer Deutung der Autorintention hin zu einer rezeptionsästhetischen Beteiligung des Lesers verlagert, so wird über die Absorption Cottas durch die Realität des phantastischen Textes, wie sie Tomi kennzeichnet, auch eine solche Lesart des Romans als unhaltbar entlarvt. Autor und Leser treten als Instanzen sukzessive zurück und verbergen sich hinter dem Text, hinter einer Vielzahl an (intertextuellen) Stimmen, die den eigentlichen Kern des Romans ausmachen. Ransmayrs Roman kann somit als literarische Ausgestaltung poststrukturalistischen Gedankenguts gelesen werden. Derridas berühmtes Diktum vom nicht vorhandenen Text-Äußeren („il n’y a pas de hors-texte“)38 gewinnt in der Letzten Welt neues Gewicht. Ein Text-Äußeres existiert in Ransmayrs Roman insofern nicht, als die Instanzen des Modell-Autors und des Modell-Lesers sukzessive vom Text der Romanwelt absorbiert und damit auch die Instanzen eines hermeneutischen Verfahrens dekonstruiert werden. (3) Thomas Meineckes Roman Tomboy ist ein Panoptikum der Gendertheorie. Eine längere Passage sei beispielhaft angeführt und einer knappen Untersuchung des dort erzeugten produktiven Verhältnisses von Literaturtheorie und Literatur zugrunde gelegt: The She-Man. The She-Male. Die phallische Frau. Der lesbische Phallus. Keine Angst, Viv, sagte Korinna Kohn, als sie den Dildo aus ihrem Rucksack zog, dies hier ist auch ein Zeichen meiner persönlichen Akzeptanz heterosexueller Muster, nenne mich meinetwegen, mit Frauke Stöver, zwangsheterosexuell. Vivian Atkinson erinnerte sich, vor gar nicht langer Zeit bei Judith Butler gelesen zu haben, mit dem sinnbildlich lesbischen Phallus werde das Verhältnis zwischen der Logik des ausgeschlossenen Widerspruchs und der Gesetzgebung der Zwangsheterosexualität auf der Ebene der symbolischen und körperlichen Morphogenese angefochten. Ich weiß, ich weiß, sagte Korinna, und sie schreibt weiter, daß das Einbringen des lesbischen Phallus einen diskursiven Ort eröffne, an dem die stillschweigenden politischen Beziehungen überprüft würden, welche die Aufteilung zwischen Körperzonen und Körperganzem, mein Thema, Vivian, zwischen der Anatomie und dem Imaginären, der Körperlichkeit und der Psyche konstituierten und in diesen Aufteilungen Bestand hätten.39

37 Vgl. Jauß, Literaturgeschichte; Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976. 38 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, S. 227. 39 Thomas Meinecke, Tomboy, Frankfurt a.M. 1998, S. 215.

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Die Bezugnahmen auf Judith Butlers Gendertheorie, die seit den 1990er Jahren auch literaturtheoretisch große Wirkung entfaltet,40 sind in der zitierten Passage so offensichtlich, dass auf einen detaillierten intertextuellen Nachweis verzichtet werden kann. Für den Kontext des vorliegenden Beitrags ist nicht primär die Feststellung relevant, dass Meinecke auf Butler verweist, sondern wie er dies tut. Mindestens drei verschiedene Ebenen der Produktivität von Literaturtheorie für Literatur lassen sich an diesem Beispiel nachweisen: Zum einen werden Butlers Thesen – wie oben ersichtlich – von den Figuren des Romans als Thesen Butlers ‚zitiert‘. Am prominentesten geschieht dies immer dann, wenn die Protagonistin Vivian Atkinson an ihrer Magisterarbeit „über die vertrackte Triade von Haben, Sein und Schein“41 schreibt, sich also im Rahmen der erzählten Handlung auf (scheinbar) wissenschaftliche Weise mit Theorie auseinandersetzt. Zweitens ist Theorie ein konstitutives Merkmal der einzelnen Figuren. Im Rahmen der zitierten Passage wird dies daran deutlich, dass das Konzept der ‚Zwangsheterosexualität‘ von einer Romanfigur (Korinna Kohn) einer anderen (Frauke Stöver) zugeschrieben wird. Fiktionsontologisch liegt also nicht ein intertextueller Verweis vor, sondern eine Referenz auf eine ‚wahre‘ Aussage, so dass die Theorie im Text performativen Charakter gewinnt. Dies wird drittens dadurch gesteigert, dass Meineckes Figuren Butlers Theorie ‚leben‘ und dadurch dazu beitragen, sie zu adaptieren und zu modifizieren. Indem Korinna Kohn nicht nur theoretisch über den „lesbischen Phallus“ referiert, sondern sich einen Phallus aus Plastik umschnallt und ihre Freundin Vivian damit penetriert, setzt sie die Theorie unmittelbar in die Praxis um. Es ist dies nicht der Ort, die Frage nach dem Grad an Ironie zu stellen, der Meineckes Roman zugrunde liegt und damit potentiell auch eine Kritik der Thesen Butlers betrifft. Dies müsste im Rahmen einer ausführlichen funktionsanalytischen Auseinandersetzung mit dem Roman im Hinblick auf die Rolle der Theorie-Elemente erfolgen. Im vorliegenden Kontext reicht die Feststellung, dass in keinem der anderen hier herangezogenen Texte eine so unverkennbare Bezugnahme auf Literaturtheorie erfolgt wie in Tomboy.42 (4) Deutlich weniger explizit – und deswegen hier nur als Beispiel für einen Diskursrahmen, den Literaturtheorie der Produktion von Literatur bietet, nicht aber als direkter intertextueller Bezug angeführt – ist die Bezugnahme auf Theorie in Helmut Kraussers Roman UC. Dort werden verschiedene Zeitkonzepte verhan-

40 Vgl. z.B. Franziska Schößler, Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008. 41 Meinecke, Tomboy, S. 9. 42 Judith Butler tritt in Tomboy sogar als Romanfigur auf (vgl. ebd., S. 87–90).

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delt. Die gesamte Handlung vollzieht sich in den letzten bewusst erlebten Momenten des sterbenden Dirigenten Arndt Hermannstein, im ‚Ultrachronos‘: Der UC ist die allerletzte Phase des physischen Daseins. Traumhaft und zeitlos. Gemeinhin beschrieben wird er als der Film, der vor dem Auge eines Sterbenden abläuft und alles ihm Wesentliche noch einmal in Erinnerung ruft. Die höchste Transzendenzstufe einer menschlichen Entität […].43

So durchlebt Hermannstein – und mit ihm der Leser – ein zweites Mal seine Karriere als berühmter Musiker, die Entwicklung seiner Ehe und seiner Liebschaften, den Todesfall einer ehemaligen Klassenkameradin, bei dem die genauen Umstände ungeklärt sind und Hermannstein des Mordes verdächtigt wird, sowie seine Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Samuel Kurthes, der Parallelen zum realen Autor Krausser aufweist. Für eine Betrachtung dieser Darstellung von zeitlicher Wahrnehmung soll ein knapper Blick auf die Thesen zum Zeitverständnis der Postmoderne und zum Erleben von Präsenz geworfen werden, die Hans Ulrich Gumbrecht entwickelt.44 Das Erleben von Zeit sei – so Gumbrecht – seit der Postmoderne durch eine neue Erfahrung der Gegenwart geprägt. Diese werde nicht länger als unbedeutende, flüchtige Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft angesehen, sondern als breiter Raum an ‚Simultaneitäten‘ im Erleben, Verhalten und Handeln.45 Das cartesianische Subjekt könne nicht länger Ausdruck der Selbstreferenz sein; stattdessen zeige sich eine Hinwendung zu Präsenzerlebnissen.46 In diesem Spannungsfeld zwischen einer sich ausdehnenden, breiten Gegenwart und dem Erleben von Präsenz ist Kraussers UC situiert. Die Ausgangssituation – der Film seines Lebens vor den Augen des sterbenden Hermannstein – changiert zwischen diesen beiden Erfahrungen von Zeit. In seiner radikalen Fokussierung auf den Augenblick, unabhängig von Vergangenheit und Zukunft, gleicht dieser Moment dem Erleben von Präsenz: „Im Moment des Todes steht für den Sterbenden die Zeit still.“47 Zugleich aber umfasst dieser Augenblick die gesamte

43 Helmut Krausser, UC, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 311. 44 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004; Ders., Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010. Hier ist wegen der Chronologie kein – wie auch immer geartetes – ‚Einflussverhältnis‘ von Gumbrechts theoretischem auf Kraussers literarisches Werk anzunehmen; eine solche hierarchische Beziehung von Theorie und Literatur ist im Übrigen auch für die anderen Romane nicht intendiert. In allen Fällen soll nur gezeigt werden, wie ein bestimmter theoretischer Diskurs Eingang in literarische Werke findet. 45 Vgl. Gumbrecht, Postmoderne, S. 137 bzw. Ders., Unsere breite Gegenwart, S. 15–17. 46 Solche Präsenzerlebnisse seien „diesseits der Hermeneutik“, als nur in einem Moment „vor jeglicher Interpretation“ möglich (Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 10). 47 Krausser, UC, S. 203.

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Vergangenheit, und dehnt sich auch in die Zukunft aus: Der Sterbende verharre – so Kraussers Figur Kurthes – „in diesem Moment ‚in alle Ewigkeit‘. […] Der Tod ist […] das Entrée in die Gleichzeitigkeit von allem, Nacheinander wird Nebeneinander. Alles findet statt. Kausalitäten sind nicht mehr nach- noch vorvollziehbar.“48 In den Sekundenbruchteilen vor dem Tod verliert die zeitliche Linearität an Bedeutung. An ihre Stelle tritt eine Ausdehnung des Moments, die alle Raum- und Zeithorizonte des Subjekts umfasst. Indem er seinen Protagonisten dem ‚Ultrachronos‘ einbeschreibt, ist es Krausser möglich, die beiden Erfahrungen von Zeit, die anhand von Gumbrechts Thesen dargestellt wurden, in seinem Roman zu verbinden und damit verschiedene Facetten postmoderner Zeittheorie zu berücksichtigen.49 Die postmoderne Zeiterfahrung und das Erleben von Präsenz werden jedoch nicht einfach dargestellt, sondern ironisch überformt. Die Simultanität der Wahrnehmung wird durch eine pathetisch-übertriebene Begrifflichkeit zu erfassen versucht. Das Erleben von Präsenz ist in UC insofern ironisch gestaltet, als es in dem Moment erfolgt, der der letzte des (er)lebenden Individuums ist: Auf einen vollendeten Moment von Präsenz folgt bei Krausser der Tod.50

IV Zur literaturwissenschaftlichen Praxis der Interpretation Die Frage, ob literaturtheoretisch informierte literarische Texte den literaturwissenschaftlichen Leser vor besondere Herausforderungen stellen, wurde in der Forschung wiederholt thematisiert. Wie sich diese Situation etwa für Umberto Ecos Der Name der Rose nahezu ausweglos gestalten kann, skizziert Stephan Jaeger. Er sieht für den wissenschaftlichen Leser nur zwei Möglichkeiten, der Aporie einer scheiternden Interpretation zu entgehen: „Einerseits, indem er Verfahren und semiotische Struktur beschreibt; andererseits, indem er eine literatur-

48 Ebd. 49 Ähnliche Thesen zur postmodernen Zeittheorie wie Gumbrecht vertritt Ursula K. Heise, Chronoschisms. Time, Narrative, and Postmodernism, Cambridge 1997. 50 War Kraussers früherer Roman Melodien von der destruktiven Kraft postmoderner Simultaneitäten gekennzeichnet, die dort das Subjekt zum ‚Zeitentaumler‘ machte und es der Fähigkeit zur Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart beraubte, so tritt der Simultaneität in UC das Erleben von Präsenz gleichberechtigt zur Seite. Im ‚Ultrachronos‘ verbinden sich – wenngleich mit dem ironischem Unterton der Einmaligkeit – beide zu einer unauflöslichen Einheit. Vielleicht ist dies das Angebot, das Krausser den Lesern einige Zeit nach einer literarischen Postmoderne macht, in der Körperlichkeit und Präsenz dem vermischenden Spiel von Vergangenheit und Gegenwart zum Opfer gefallen waren?

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historische Einordnung des Romans vornimmt“.51 Darüber hinaus, so Jaeger weiter, bleibt jedoch für den Wissenschaftler […] nichts mehr zu tun. Er wird zum gewöhnlichen Leser, der vielleicht ein paar Relationen mehr entdeckt, doch durch deren virtuelle Unendlichkeit der Willkür bzw. Beliebigkeit dieser Spurensuche nicht entgehen kann.52

Eine erste Möglichkeit, der Herausforderung einer Verwischung der vermeintlich klaren Grenzen von Literatur und Theorie zu begegnen, besteht also darin, einen deskriptiven Ansatz zu verfolgen:53 Literaturtheorie und literarische Gestaltung werden vergleichend nebeneinandergehalten, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Für den Namen der Rose und Umberto Ecos semiotische Theoriebildung wurde dies in vielen Formen praktiziert.54 So schreibt Dieter Mersch, Ecos Romane seien „als ‚narrative Semiotik‘ zu verstehen, als Exemplifizierung der Theorie und metanarrative Spekulation gemäß der – Wittgenstein konterkarierenden – Maxime: ‚Wovon man nicht theoretisch sprechen kann, darüber muss man erzählen‘.“55 Eine solche ‚Erzählung von der Theorie‘ gestaltet Eco im Namen der Rose etwa mit der ‚Brunellus-Episode‘, in der William von Baskerville das entlaufene Pferd des Abtes anhand von Spuren, Zeichen und Abduktionen beschreiben kann, ohne es je gesehen zu haben.56 Neben den semiotischen Implikationen spielt Eco dabei auch mit intertextuellen Konzepten,

51 Stephan Jaeger, „Postmodernes Lesevergnügen oder die Unlust des wissenschaftlichen Lesers. Umberto Ecos ‚Der Name der Rose‘“, in: Weimarer Beiträge, 46/2000, S. 582–594, hier S. 592 f. 52 Ebd., S. 593. 53 Dies entspricht – neben einer literarhistorischen Einordnung des Textes, auf die als interpretatorische Variante nicht weiter eingegangenen werden soll – dem ersten von Jaeger vorgeschlagenen ‚Ausweg‘ und wurde auch in diesem Beitrag in erster Linie praktiziert, um die Bedingungen, unter denen eine Literaturtheorie zweiter Ordnung zu entwickeln ist, klar zu umreißen. 54 Exemplarisch seien erwähnt: Helen T. Bennett, „Sign and De-Sign. Medieval and Modern Semiotics in Umberto Eco’s ‚The Name of the Rose‘“, in: M. Thomas Inge (Hrsg.), Naming the Rose. Essays on Eco’s „The Name of the Rose“, Jackson 1988, S. 119–129; Koloman N. Micskey, „Zeichenräume des Geistes. Ecos Rosenroman als Zeichen der kairologischen Bestimmtheit geistiger und historischer Räume und der offenen Semiose“, in: Wilfried Engemann/Rainer Volp (Hrsg.), Gib mir ein Zeichen. Zur Bedeutung der Semiotik für theologische Praxis- und Denkmodelle, Berlin 1992, S. 123–146; Ursula Schick, „Erzählte Semiotik oder intertextuelles Verwirrspiel?“, in: Burkhart Kroeber (Hrsg.), Zeichen in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“. Aufsätze aus Europa und Amerika, München 1989, S. 107–133. 55 Dieter Mersch, Umberto Eco zur Einführung, Hamburg 1993, S. 7 f. 56 Vgl. Umberto Eco, Der Name der Rose, München, Wien 1982, S. 32–36.  



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indem er die Passage eng an Voltaires Zadig rückbindet.57 Für beides kann nun eine Tabelle oder Matrix erstellt werden, in der das Theoriekonzept bzw. die literarische Vorlage einerseits der Bearbeitung in Ecos Roman andererseits gegenübergestellt wird. Wie die literarhistorische Einordnung – der zweite von Jaeger vorgeschlagene Ausweg des wissenschaftlichen Lesers aus der Aporie der Interpretation – konkret funktionieren würde, ist für den hiesigen Kontext nicht relevant. Somit wäre der Wissenschaftler, der Jaegers pointierte These beherzigt, bereits am Ende seiner Deutung angekommen: Wer dieses für Der Name der Rose nicht einsieht, wird sich schnell von der Lust zur Unlust des wissenschaftlichen Lesers bewegen. Einer der Urtexte der Postmoderne-Debatte hat sich damit in seiner vermeintlichen Produktivität selbst eingeholt.58

Andere literaturwissenschaftliche Arbeiten reagieren in komplexerer Weise auf das beschriebene Phänomen. Sie versuchen etwa, den Text mit der literarturtheoretischen Terminologie zu erfassen, die ihm einbeschrieben ist, im Wissen um die damit verbundene Gefahr von Widersprüchen. Ein Beispiel ist das oben skizzierte Verhältnis von strukturalistischer Theoriebildung und ihrer literarischen Funktionalisierung in Adolf Muschgs Der Rote Ritter: Beschreibt man die Erzählinstanzen mit dem gängigen Instrumentarium der Narratologie, so tut sich die erwähnte zirkuläre Struktur auf; außerdem besteht das Problem, dass die zentrale Erzählinstanz verschwindet. Es gibt jedoch die Möglichkeit, das narratologische Modell eine Ebene höher anzusetzen. Fasst man – wie Patrick Heller es tut59 – die 3 Eier nicht als die zentrale Erzählinstanz des Romans, sondern als einen unter vielen Erzählern auf der Ebene der Figuren, können damit sowohl die strukturellen Widersprüche als auch die Verabschiedung der Erzählinstanz aus dem Erzählkontext erklärt werden: Die den 3 Eiern übergeordnete Instanz schiebt die 3 Eier vor und versteckt sich gleichzeitig hinter ihnen […]. Erst dadurch aber, daß sie die 3 Eier erzählt und von ihnen weiß, während die 3 Eier offenbar nichts von ihr wissen, erweist sie sich als übergeordnete Instanz.60

Die Inszenierung narratologischer Verfahrensweisen auf der Ebene der Diegese hat im Falle des Roten Ritters demnach eine Neureflexion und Umorientierung der

57 Vgl. Ders., Die Grenzen der Interpretation, München 1995, S. 315–317. 58 Jaeger, „Postmodernes Lesevergnügen“, S. 594. 59 Vgl. Patrick Heller, „Ich bin der, der das schreibt“. Gestaltete Mittelbarkeit in fünf Romanen der deutschen Schweiz 1988–1993. Bern [u.a.] 2002, S. 237-254. 60 Ebd., S. 251.

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Theorie zur Folge, nicht aber ihre ‚Bankrotterklärung‘.61 Mit dieser Methodik kommt Heller in seiner Deutung zwar ein gutes Stück weiter, als das von Jaeger prognostizierte Scheitern des Interpreten es hatte vermuten lassen, die Frage nach der Funktion einer solchen Hinterfragung des narratologischen Instrumentariums – denn als solche muss Muschgs Vorgehensweise (auch) gelesen werden – bleibt bei ihm offen. Aus diesem Grund sei ein drittes Beispiel aus der Praxis der Literaturwissenschaft vorgestellt, das noch einen Schritt weitergeht, indem es auf literaturtheoretischer Ebene multiperspektivisch verfährt: Thomas Anz’ Deutung von Ransmayrs Letzter Welt.62 Anz identifiziert mehrere Aspekte der Postmoderne in Ransmayrs Roman, die auch als Aspekte des Poststrukturalismus angesehen werden können. So stellt Anz zunächst fest, dass die Ausführungen von Roland Barthes und Michel Foucault über das Verschwinden des Autors „etliche Übereinstimmungen mit Ransmayrs Romankonzept“63 aufweisen. Dies führt er im Hinblick auf die Frage nach ihrer Funktion für den Roman und dessen Interpretation weiter aus. Unter Berücksichtigung des ‚offenen Textes‘, den die Letzte Welt darstelle, lautet sein Fazit: „Der Roman handelt zu weiten Teilen von der vergeblichen, willkürlichen oder sich permanent wandelnden Interpretation von Zeichen.“64 Diese Poetik des Wandels, die in dem zugrunde gelegten literaturtheoretischen Konzept des Romans verankert ist, sieht Anz als Zeichen von Macht- und Zivilisationskritik. Die literaturtheoretischen Elemente werden damit zu einem unter sehr vielen Faktoren, die eine „Destabilisierung durch Verwandlung“65 bedingen: „‚Verwandlung‘ hat in dem Roman zugleich semiotische, mythologische, apokalyptische, zivilisations- und machtkritische Implikationen.“66 Abgesehen von seinem argumentativen Ausgangspunkt bei Barthes und Foucault liegt Anz’ Fokus – wie auch der Titel des Beitrags es vorgibt – somit stärker auf den Charakteristika der literarischen Postmoderne als auf den (in

61 Dasselbe gilt im Roten Ritter für Parzivâls ‚strukturalistische Weltwahrnehmung‘, die durch die Begegnung mit Orgelûse und deren abweichende Diskursverfahren infrage gestellt wird. Fehlt der strukturalistischen Methodik auf der Ebene der Diegese zunächst das Instrumentarium, den Fall einer inhaltlich aufgeladenen Struktur zu erfassen, so können die Figuren Parzivâl und Orgelûse aus einer anderen Perspektive durchaus strukturalistisch gedeutet werden – etwa als Manifestation binärer Strukturen (männlich/weiblich, nicht sexualisiert/sexualisiert, Kultur/Natur). 62 Thomas Anz, „Spiel mit der Überlieferung. Aspekte der Postmoderne in Ransmayrs ‚Die letzte Welt‘“, in: Uwe Wittstock (Hrsg.), Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt a.M. 1997, S. 120–136. 63 Ebd., S. 122. 64 Ebd., S. 124 f. 65 Ebd., S. 130. 66 Ebd.  

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Teilen deckungsgleichen) literaturtheoretischen Elementen des Romans. Trotz seiner ‚multiperspektivischen‘, auf unterschiedliche Aspekte von Theorie abstellenden Lektüre kann also auch dieser Beitrag als Beleg dafür gelten, dass ein differenziertes Instrumentarium für die Analyse von literarturtheoretischen Elementen in literarischen Texten für die literaturwissenschaftliche Praxis ein Desiderat ist. Darauf wird der nun folgende letzte Teil dieses Aufsatzes reagieren, indem er einige Bausteine für eine modifizierte Interpretationstheorie literaturtheoretisch informierter Texte vorstellt.

V Bausteine für eine modifizierte Interpretationstheorie Die Untersuchung der vier Romane konnte die These unterstützen, dass Literatur und ihre Theorie seit der Postmoderne in einem vielfältigen Wechselverhältnis stehen. Verschiedene theoretische Konzepte sind literarischen Texten bald selbstreflexiv, bald ironisch, bald kritisch einbeschrieben. Dies geschieht sowohl mit theoretischen Herangehensweisen, die eher textimmanent orientiert sind, als auch mit solchen, die grundsätzliche Fragen hinsichtlich der Interpretierbarkeit von Texten aufwerfen und z.B. mit Autor, Leser und Textkohärenz gängige Ansatzpunkte der Deutung verabschieden. Die Romane verwenden Literaturtheorie somit nicht nur als intertextuelles Material, wie es zu allen Zeiten mit den verschiedensten theoretischen Konzepten geschehen ist, etwa mit philosophischem Gedankengut oder mathematischen Theoremen. Eine solche intertextuelle Bezugnahme auf ‚fremdes‘ theoretisches Material stellt die Literaturtheorie insofern vor eine geringere Herausforderung, als dort keine Interferenz von Objektund Metasprache vorliegt.67 Bei den untersuchten Romanen ist hingegen eine kategoriale Verschiebung zu konstatieren, die literaturtheoretisch neu gefasst werden muss. Dass dies im literaturwissenschaftlichen Kontext bislang noch nicht hinlänglich geschieht, hat der praxeologische Abschnitt verdeutlicht. Einige Ideen, wie mit dieser Tendenz literaturwissenschaftlich umgegangen werden kann, werden im Folgenden skizziert. Sie sollen Vorschläge darstellen,

67 Einen Zwischenbereich zwischen ‚fremden‘ Theorien und Literaturtheorie könnte die Spieltheorie darstellen, die des Öfteren literaturwissenschaftlich eingesetzt wurde. Sollte sich der Nachweis führen lassen, dass etwa Juli Zehs Roman Spieltrieb (2004) nicht nur auf Konzepte der Spieltheorie im Allgemeinen, sondern auch auf eine literaturtheoretische Funktionalisierung derselben Bezug nimmt, würde sich hier dieselbe Problematik ergeben. Zum Komplex von Literatur und Spiel vgl. z.B. Thomas Anz/Heinrich Kaulen (Hrsg.), Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, Berlin [u.a.] 2009; Bernhard Jahn/Michael Schilling (Hrsg.), Literatur und Spiel. Zur Poetologie literarischer Spielszenen, Stuttgart 2010.

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wie eine Beschreibung solcher literarischer Texte möglich ist, die sich nicht – poetologisch – die Umstände der eigenen Produktion selbstreflexiv einbeschreiben, sondern – ‚theorietheoretisch‘68 – die Chancen und Grenzen der eigenen Interpretierbarkeit verhandeln. (1) Der erste Zugriff auf Texte, die literaturtheoretisches Gedankengut verhandeln, kann in dem oben erörterten deskriptiven Ansatz bestehen, allerdings im Wissen um dessen Unzulänglichkeit. Dennoch ist die phänomenologische Beschreibung der in den Romanen aufgegriffenen literaturtheoretischen Verfahren erforderlich, um zunächst Qualität und Quantität der literarturtheoretischen Referenzen zu erfassen. (2) Ergänzend kann versucht werden, den Text mit der literarturtheoretischen Terminologie zu erfassen, die ihm einbeschrieben ist. Scheint der ‚unmittelbare‘ literaturtheoretische Zugang etwa durch ironische oder parodistische Rezeption im literarischen Text zunächst verstellt, heißt dies nicht, dass er per se unmöglich ist. Stattdessen muss er differenziert werden, sein Bezugsfeld klären, sich im Detail abgrenzen. Entsprechend gestaltete Texte versperren sich nicht jeder literaturtheoretischen Betrachtung, sondern nur einer pauschal verfahrenden. Sie fordern eine aufwendigere, ambitioniertere, aufgeklärtere Interpretation und tragen so auch für die Theorie zur Steigerung ihres selbstreflexiven Potentials bei. Mit dem Wechsel von Perspektive und Anwendungsebene der verhandelten Theorie ist eine Möglichkeit in den Raum gestellt, Texte, denen Grenzen der eigenen Interpretierbarkeit einbeschrieben sind, außer auf den Wegen einer deskriptiven Interpretation und einer literarhistorischen Einordnung literaturtheoretisch zu erfassen.69 (3) Da jedoch auch diese Herangehensweise bestimmte Aspekte des Textes nicht zu erklären vermag, seien abschließend einige konkrete (dabei aber notwendig unvollständige) Fragehorizonte umrissen, wie theoretische Elemente in literarischen Texten über ihre Funktion beschrieben werden können und aus den Texten ein komplexifizierten Modell-Leser entwickelt wird, der – qua seiner

68 Indem der Begriff Theorietheorie hier nicht für eine Theorie von Theorien, sondern eine Theorie von Literaturtheorie in Literatur verwendet wird, ist er anders akzentuiert als bei Oliver Jahraus, „Theorietheorie“, in: Ders./Mario Grizelj (Hrsg.), Theorietheorie, S. 17–39, hier S. 20. 69 Dies gilt darüber hinaus auch deswegen, weil die Texte keinen eindimensionalen Umgang mit Elementen von Theorie pflegen, sondern z.B. an verschiedenen Stellen verschiedene Theorien aufgreifen und verarbeiten. Auch durch dieses Nebeneinander wird eine Differenzierung nötig: nicht eine feinere Ausfächerung einer der Theorien selbst, sondern eine Differenzierung z.B. hinsichtlich der Anwendbarkeit nur auf bestimmte Teile oder auf den fragwürdigen ‚Absolutheitsanspruch‘ einiger Theorien.

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Theorie-Kenntnis – als ‚Interpret‘ zu bezeichnen ist. Fragen, die zu diesem Zweck gestellt werden können, sind etwa: – Von welcher narratologischen Instanz des Romans wird die Literaturtheorie verwendet? Dient sie lediglich der Charakterisierung einer Figur, ohne dass sich Auswirkungen auf die umfassendere Anlage des Textes ergeben – wie es für Muschgs Parzivâl zu konstatieren wäre? Sind eine Figur und eine Instanz des Textes der Verarbeitung von Literaturtheorie über- und vorgeordnet, oder werden die Figuren insgesamt von den Implikationen der Theorie erfasst – wie in Ransmayrs Letzter Welt? Für diese Frage ist ein Kontinuum anzunehmen zwischen einer rein gestaltenden Funktion der Theorie-Elemente auf der einen Seite (Literaturtheorie als Figureneigenschaft) und einer Funktionalisierung der Theorie-Elemente auch im Hinblick auf grundlegende Fragen des Erzählens (Literaturtheorie als literaturimmanente Theorie des Erzählens). – Werden die Theorie-Elemente affirmativ, wertfrei oder kritisch in den Text eingebaut? Oder stehen – etwa im Falle einer Theorie-Funktionalisierung als Figureneigenschaft – mehrere Umgangsformen mit Theorie plural nebeneinander? Letzteres wäre der Fall für Muschgs Roten Ritter, wo neben den erwähnten strukturalistischen Elementen, die für Trevrizent und Parzivâl charakteristisch sind, auch psychoanalytische Theorie-Elemente (als Eigenschaft der Figur Klinschor) oder rezeptionsästhetische Ansätze (als Eigenschaft von Sigune) verhandelt werden. Verschiedene Stufen auf der Skala von affirmativ bis ironisch-kritisch lassen sich für Thomas Meineckes Tomboy und die Gendertheorie ausmachen. – Wird die Theorie vom Text selbstreflexiv thematisiert? Ein Text wie Ransmayrs Letzte Welt, der den Akt der Dekonstruktion, auf den die entsprechenden Theorie-Anleihen verweisen, narrativ dergestalt vollzieht, dass die literarischen Instanzen Autor, Leser und Text am Ende des Romans verschwunden sind, während an ihre Stelle das freie Spiel der Diskurse tritt, weist – trotz eines hohen Maßes an Selbstreflexivität etwa zu historiographischen Fragen – in dieser Hinsicht nur ein geringes Maß an Reflexion auf. Stattdessen ist die Dekonstruktion von Autor, Leser und Text Teil der Erzählillusion. Selbstreflexiv thematisiert wird dieselbe Theorie-Anleihe an die Dekonstruktion hingegen in Ecos Foucaultschem Pendel. Indem die Dekonstruktion klassisch-literarischer Instanzen nicht nur vorgeführt, sondern in einem zweiten Schritt auf der Ebene der Diegese zum Problem gemacht wird – etwa durch den fiktionsontologisch realen Tod des Autors, den einer der Protagonisten erleidet –, wird die illusionsbildende Kraft der literarisch umgesetzten Theorie gebrochen und selbstreflexiv auf ihre Grenzen befragt, in diesem Fall auf die Grenzen einer hermetisch-beliebigen dekonstruktivistischen Interpretation von Texten. In Bezug auf die Frage nach dem selbstreflexiven Potential der Theorie-Einbindung zeichnet sich also ein Kontinuum ab zwischen illusionsbildend und illusionsbrechend verfahrenden Texten.

Literatur als Theorie – Theorie als Literatur

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– Wird die Theorie im Rahmen der Diegese als ‚offener Text‘ (im Sinne von Ecos ‚offenem Kunstwerk‘) dargestellt oder als ‚geschlossener Text‘, der außer der eigenen keine Methode der Interpretation zulassen möchte? Diese Frage zielt darauf ab, inwieweit die Theorie auf der Ebene der literarischen Adaptation performativ ausgeführt wird. Sie ist eng mit dem Grad an Selbstreflexion verknüpft, der der Theorie-Adaptation zugesprochen wird. Trotz des dekonstruktivistischen (und damit plural-offenen) Charakters, der Ransmayrs Letzter Welt eigen ist, ist in diesem Falle daher zu fragen, ob der Text nicht insofern geschlossen ist, als er neben der dekonstruktivistischen Lesart möglicherweise keine weitere zulässt – und dies auch im Rahmen der Diegese ausführt. Dass dies so nicht zutrifft, zeigt die hermeneutische Lesart, die trotz – oder gerade wegen der Theorie-Elemente aus dem Bereich der Dekonstruktion – für Ransmayrs Roman vorgenommen werden kann.70 Ob es seit der Postmoderne (und überhaupt) Texte gibt, die tatsächlich in einem fundamentalen Sinne ‚geschlossen‘ sind, darf bezweifelt werden. Nichtsdestoweniger entspricht der Umgang mit der Theorie in Ransmayrs Roman – und nur auf diese Selbstdarstellung des Textes kommt es in diesem Fall an, nicht auf die interpretatorischen Möglichkeiten, die jeder Leser natürlich dennoch hat – viel stärker demjenigen eines geschlossenen Kunstwerks als etwa Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht, dessen ‚Offenheit‘ für eine Vielzahl an interpretatorischen Zugängen programmatisch im Roman ausgestellt wird. – Wendet sich der Text an einen ‚Leser‘, an einen ‚Interpreten‘ oder über plurale Kodierung an beide? Ein stark leserorientierter Text würde – ähnlich wie ein ‚geschlossener‘ Text – darauf abzielen, seine Rezipienten nach bestimmten Vorstellungen zu formen, so dass sie den Text entsprechend der dort vorgegebenen Wege rezipieren. Ein stark interpretenorientierter Text hingegen würde gerade darauf abzielen, dem Interpreten die Brüchigkeit seines literaturtheoretischen Instrumentariums vor Augen zu führen und ihn dadurch zu einer erhöhten Stufe an selbstreflexiver Kompetenz bei der Analyse und Interpretation literarischer Texte ‚anzuleiten‘. Auf diese Weise tragen Werke, die sich an Interpreten richten, zu einer Fortschreibung der Theorie bei. Fiktionsontologisch vermittelt werden kann die Hinwendung an den Interpreten auf verschiedenen Ebenen: über die interpretatorische Kompetenz einzelner Figuren, über den Entwurf einer interpretatorischen Methodik, die in ihren Chancen vorgeführt oder ihrer Begrenztheit entlarvt wird, oder über einen auf der Ebene der Diegese inszenierten

70 Vgl. Erik Schilling, „Der zweite Tod des Autors? Metamorphosen der Postmoderne in Christoph Ransmayrs ‚Die letzte Welt‘“, in: Textpraxis, 4/2012, http://www.uni-muenster.de/Textpraxis/erik-schilling-der-zweite-tod-des-autors (Stand: 02.12.2012).

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Methodenpluralismus, der seinerseits das gültige und produktive Nebeneinander verschiedener interpretatorischer Zugänge aufzeigt und metatheoretische Distanz fordert. Komponenten von Literaturtheorie in literarischen Werken erfüllen also eine Reihe unterschiedlicher Funktionen. In jedem Fall aber gilt, dass das Aufgreifen von Theorie durch Literatur die Berechtigung eines theoretischen Zugriffs keinesfalls einschränkt, sondern ihn gerade verlangt – jedoch einen solchen, der sich der Chancen und Grenzen der eigenen Methodik selbstreflexiv bewusst zeigt. Aus diesem Grund muss eine adäquate Deutung neben der inhaltlichen Seite des Nachweises von Theorie in Literatur stets mit einer Pluralität der interpretatorischen Methoden verfahren, über die die Funktion von Theorie in literarischen Texten beschrieben werden kann. Nur auf diese Weise ist gewährleistet, dass adäquat differenziert wird zwischen (a) mikroskopischer Verwendung von Theorie einzig auf der Ebene der Figuren und makroskopischem Theoriegebrauch für den ganzen Text, (b) verschiedenen Formen wertenden Umgangs, der mit der Theorie verbunden ist, (c) Theorie-Elementen, die der Illusionsbildung, und solchen, die der Illusionsbrechung dienen, (d) Texten, die Theorie zur Erzeugung eines scheinbar geschlossenen Kunstwerks verwenden, und solchen, die über den Zugriff auf Theorie ihre Offenheit gerade betonen sowie (e) Texten, die einen ‚Leser‘, und solchen, die einen ‚Interpreten‘ als Rezipienten voraussetzen.

VI Fazit Anhand von vier Beispielen konnte gezeigt werden, in wie vielfältiger Weise postmoderne literarische Texte ihre literaturtheoretischen Erschließungsmöglichkeiten reflektieren und im Rahmen des fiktionalen Werks verhandeln. Sie unterscheiden sich dadurch von vormodernen und modernen Texten, die den Akt der Lektüre durch die textimmanente Entwicklung entsprechender Spielregeln antizipieren, dass sie keinen ‚Leser‘ mit einem bestimmten inhaltlichen, motivgeschichtlichen oder erzähltechnisch-strukturellen Wissen voraussetzen, sondern einen methodisch vielseitig geschulten und dabei zudem flexiblen ‚Interpreten‘. Da das Instrumentarium für die literaturwissenschaftliche Untersuchung einer solchen Vorgehensweise bislang nur unzureichend konturiert ist, wurden einige Bausteine aufgezeigt, die Elemente einer ‚Literaturtheorie zweiter Ordnung‘ zur Erschließung dergestalt operierender Texte bilden können. Ob damit nur die bekannte Debatte zwischen einem theorieorientierten Zugang zu literarischen Texten und dem reflektiert-hermeneutischen eines close reading eine neue Wendung erfährt, sei dahingestellt. Sowohl die These, dass literarische Texte mit erhöhtem Theoriebewusstsein nur über eine weitere ‚Volte‘

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der Theorie zu erfassen sind, als auch die Gegenthese, dass sich gerade an solchen literarischen Texten zeigt, dass Literatur nur durch einen ‚direkten‘ Zugang zu erschließen ist, stehen im Raum. Eine Entscheidung sollte in diesem Rahmen nicht angestrebt werden, vielmehr ist eine Untersuchung, die die Rolle von ‚Leser‘ und ‚Interpret‘ diachron vertieft untersucht und die entsprechenden Implikationen für eine Fortschreibung der Literaturtheorie aufzeigt, ein Desiderat. Hier sollten – neben der beschreibenden Beobachtung eines relevanten Phänomens postmoderner Literatur – lediglich einige Ansatzpunkte vorgeschlagen werden, wie die Literaturwissenschaft sich zu dergestalt operierenden Texten positionieren kann: Nicht nur kann das Verhältnis von literarisch umgesetzter und literaturwissenschaftlich anzuwendender Literaturtheorie deskriptiv erfasst werden, es besteht auch die Möglichkeit, die im Text aufgegriffene Literaturtheorie bei der Analyse erneut anzuwenden, indem Perspektive oder Ansatzpunkt modifiziert werden. Am fruchtbarsten erscheint es aber, in einer funktionalen Analyse die Verwendungsweisen von Literaturtheorie in der Literatur zu untersuchen. Auf diesem Wege können auch solche Texte, die sich einem literaturtheoretischen Zugriff zu verweigern scheinen, vielfältig befragt werden; die Literaturtheorie erfährt zudem eine Ausdifferenzierung und Modifikation, ganz im Sinne einer hierarchiefreien, wechselseitigen Inspiration von Literatur und Theorie.

Zu den Autorinnen und Autoren Andrea Albrecht; Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Buchveröffentlichungen: Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800 (2005); Integrität. Europäische Konstellationen im Medium der Literatur. Sonderheft der Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur (Hrsg. zus. mit Hans Adler und Horst Turk; 2005); Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur (Hrsg. zus. mit Gesa von Essen und Werner Frick; 2011). Herausgeberin von Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften (zus. mit Lutz Danneberg u.a.; seit 2012). Tobias Bulang; Professor für Ältere deutsche Philologie mit Schwerpunkt wissensvermittelnder Texte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Buchveröffentlichungen: Barbarossa im Reich der Poesie. Verhandlungen von Kunst und Historismus bei Arnim, Grabbe, Stifter und auf dem Kyffhäuser (2003); Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit (2011). Kai Büttner; Magister Artium (Humboldt-Universität zu Berlin). Lutz Danneberg; Professor für Methodologie und Geschichte der Hermeneutik und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Methodologien. Struktur, Aufbau und Evaluation (1989); Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Methodische Aspekte – theoretische Überlegungen – Fallstudien (Hrsg. zus. mit Jürg Niederhauser; 1998); Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Die Anatomie des TextKörpers und Natur-Körpers. Das Lesen im liber naturalis und supernaturalis (2003); Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte (Hrsg. zus. mit Carlos Spoerhase und Dirk Werle; 2009); Hermeneutik – Hebraistik – Homiletik. Die ‚Philologia Sacra‘ im frühneuzeitlichen Bibelstudium (Hrsg. zus. mit Christoph Bultmann; 2011). Herausgeber von Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften (zus. mit Andrea Albrecht u.a.). Benjamin Gittel; DAAD-Lektor an der Universidade Federal de Pernambuco in Recife (Brasilien). Buchveröffentlichungen: Lebendige Erkenntnis und ihre literarische Kommunikation. Robert Musil im Kontext der Lebensphilosophie (2013); Wissenstransfer. Konditionen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis (Hrsg. zus. mit Jan Behrs und Ralf Klausnitzer; 2013).

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Zu den Autorinnen und Autoren

Constanze Güthenke; Associate Professor of Classics and Hellenic Studies an der Universität Princeton. Buchveröffentlichung: Placing Modern Greece: The Dynamics of Romantic Hellenism, 1770–1840 (2008). Mitherausgeberin der Zeitschrift Classical Receptions Journal. Olav Krämer; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. Buchveröffentlichungen: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry (2009); Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung (Hrsg. zus. mit Lilith Jappe und Fabian Lampart; 2012). Marcel Lepper; Leiter des Forschungsreferats und der Arbeitsstelle Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach; Lehrtätigkeit an der Universität Stuttgart. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910–1975 (Hrsg. zus. mit HansHarald Müller und Andreas Gardt; 2010); Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750 (Hrsg. zus. mit Dirk Werle; 2011); Philologie zur Einführung (2012). Steffen Martus; Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Friedrich von Hagedorn. Konstellationen der Aufklärung (1999); Ernst Jünger (2001); Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George (2007); Die Brüder Grimm. Eine Biographie (2009); Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens (Hrsg. zus. mit Thorsten Burkard, Markus Hundt, Steffen Ohlendorf und Claus-Michael Ort; 2013). Thomas Petraschka; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik an der Universität Regensburg. Buchveröffentlichungen: Understanding Fiction. Knowledge and Meaning in Literature (Hrsg. zus. mit Jürgen Daiber, Eva Konrad und Hans Rott; 2012); Interpretation und Rationalität. Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik (2014); Fiktion – Wahrheit – Interpretation. Philologische und philosophische Perspektiven (Hrsg. zus. mit Jürgen Daiber, Eva Konrad und Hans Rott; 2014). Sandra Richter; Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland (2002); Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Medizin, Medizin-

Zu den Autorinnen und Autoren

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ethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert (2002); Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke (2004); A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770–1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost and Sandra Richter (2010); Mensch und Markt. Warum wir Wettbewerb fürchten und trotzdem brauchen (2012). Erik Schilling; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU München, zur Zeit Feodor-Lynen-Stipendiat der Humboldt-Stiftung an der University of Oxford. Buchveröffentlichungen: Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur (2012); Literatur und Theorie seit der Postmoderne (Hrsg. zus. mit Klaus Birnstiel; 2012). Arbogast Schmitt, Professor em. für Klassische Philologie (Schwerpunkt Gräzistik) an der Philipps-Universität Marburg, Honorarprofessor an der FU Berlin. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers (1990); Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität (2., überarbeitete Aufl. 2008, 1. Aufl. 2003; engl. Übers. 2012); Aristoteles: Poetik (übersetzt und erläutert; 2., durchgesehene und ergänzte Aufl. 2011, 1. Aufl. 2008); Denken und Sein bei Platon und Descartes. Kritische Anmerkungen zur ‚Überwindung‘ der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts (2011); Homer und wir (2012). Claudius Sittig; wissenschaftlicher Assistent an der Universität Rostock. Buchveröffentlichungen: Kulturelle Konkurrenzen. Studien zu Semiotik und Ästhetik adeligen Wetteifers um 1600 (2010); Was ein Poëte kan! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640) (Hrsg. zus. mit Stefanie Arend; 2012); Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum. 3 Bände (Hrsg. zus. mit Wolfgang Adam, Siegrid Westphal und Winfried Siebers; 2012); Literaturwissenschaftliche Lehrbuchkultur. Zu Geschichte und Gegenwart germanistischer Bildungsmedien (Hrsg. zus. mit Jan Standke; 2013); Arbeitstechniken Germanistik (Überarbeitete und verbesserte Aufl. 2013; 1. Aufl. 2008). Jørgen Sneis; promoviert als Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung an der Universität Stuttgart. Carlos Spoerhase; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Au-

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Zu den Autorinnen und Autoren

torschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik (2007); Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse (Hrsg. zus. mit Ralf Klausnitzer; 2007); Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700 (Hrsg. zus. mit Kai Bremer; 2011); Heinrich von Kleist: Robert Guiskard, Herzog der Normänner. Studienausgabe (Hrsg.; 2011); Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpretation (Hrsg. zus. mit Alexander Nebrig; 2012). Gregor Vogt-Spira; Professor für Klassische Philologie an der Philipps-Universität Marburg. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Dramaturgie des Zufalls. Tyche und Handeln in der Komödie Menanders (1992); Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. 6 Bände (Hrsg. zus. mit Luc Deitz; 1994–2011); Was ist Literatur in Rom? Eine antike Option der Schriftkultur (2008). Dirk Werle; PD am Institut für Germanistik der Universität Leipzig; Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580–1630 (2007); Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte (Hrsg. zus. mit Lutz Danneberg und Carlos Spoerhase; 2009); Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850 (Hrsg. zus. mit Carlos Spoerhase und Markus Wild; 2009); Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750 (Hrsg. zus. mit Marcel Lepper; 2011); Leipziger Germanistik. Beiträge zur Fachgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Hrsg. zus. mit Günther Öhlschläger, Hans Ulrich Schmid und Ludwig Stockinger; 2013). Marcus Willand; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Stuttgart. Buchveröffentlichungen: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven (2014); Theorien und Praktiken der Autorschaft (Hrsg. zus. mit Matthias Schaffrick; 2014). Simone Winko; Professorin für Literaturwissenschaft (Neuere Deutsche Literatur) an der Georg-August-Universität Göttingen. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Wertungen und Werte in Texten. Axiologische Grundlagen und literaturwissenschaftliches Rekonstruktionsverfahren (1991); Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900 (2003); Neuere Literaturtheorien (zus. mit Tilmann Köppe; 2. Aufl. 2013, 1. Aufl. 2008). Claus Zittel; stellvertretender Direktor des Stuttgart Research Centre for Text Studies, lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie an den

Zu den Autorinnen und Autoren

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Universitäten Stuttgart, Olsztyn und Frankfurt am Main. Buchveröffentlichungen (in Auswahl): Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘ (2., durchges. Aufl. 2011; 1. Aufl. 2000); Theatrum philosophicum. Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft (2009); Ludwik Fleck: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse (Hrsg. zus. mit Sylwia Werner; 2011); Carl Sternheim: Revolution der Sprache in Drama und Erzählwerk (Hrsg. zus. mit Ursula Paintner; 2013); The Making of Copernicus. Early Modern Transformations of a Scientist and his Science (Hrsg. zus. mit Wolfgang Neuber und Thomas Rahn; 2014).