Theologie und Ethos im frühen Christentum: Studien zu Jesus, Paulus und Lukas 9783161499036, 9783161515255, 3161499034

Michael Wolter legt Untersuchungen zu zentralen Themen der Verkündigung Jesu, zur Theologie des Apostels Paulus sowie zu

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Theologie und Ethos im frühen Christentum: Studien zu Jesus, Paulus und Lukas
 9783161499036, 9783161515255, 3161499034

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Jesus
1. „Was heisset nu Gottes reich?“
I
II
III
IV
V
2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer
Semantische und pragmatische Beobachtungen
I. Hinführung
II. Der Stand der Diskussion
III. Gerichtssemantik: Das gemeinsame eschatologische Grundwissen
IV. Gerichtspragmatik: Die Funktion der Rede vom Gericht
V. Fazit
3. Interaktive Erzählungen. Wie aus Geschichten Gleichnisse werden, und was Jesu Gleichnisse mit ihren Hörern machen
I. Was macht eine Erzählung zu einem Gleichnis?
II. Wer macht eine Erzählung zu einem Gleichnis?
III. Wie funktioniert die Interaktion zwischen Jesu Gleichnissen und den Hörern?
IV. Integrative Erzählungen
V. Interaktion und Interpretation
4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen
I. Vorbemerkungen
II. Die Sammlungen
1. Epidauros
a) Gliederung und Aufbau der Sammlung
b) Die Form der Teiltexte
c) Die Intention der Form
2. Lebena
3. Rom („Maffeische Inschriften“)
4. Literarische Belege für die Form der ιάματα (mit Zusammenfassung)
III. Diachronische Analyse der Sammlungen
a) Epidauros W 1
b) Epidauros W 15 par. IG IV2/1, Nr. 125
c) Epidauros W 23 par. Aelian, Nat. Anim. 9,33
IV. Ergebnisse
Paulus
5. Identität und Ethos bei Paulus
I. Die Frage nach der paulinischen Ethik
II. Identität und Ethos
III. Der funktionale Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos
IV. Der materiale Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos
V. Der kontextuelle Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos
VI. Rückblick und Ausblick: Die paulinische Ethik als angewandte Ekklesiologie
6. Der Kompromiss bei Paulus
I
II
III
IV
7. Der Brief des sogenannten Unzuchtsünders
8. „Dumm und skandalös“. Die paulinische Kreuzestheologie und das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens
I. Vorbemerkungen
II. Semantische Voraussetzungen
III. 1.Kor 1,18-25
IV. Gal 6,12-16
V. Ein Resümee
VI. Ein Ausblick
9. Der Apostel und seine Gemeinden als Teilhaber am Leidensgeschick Jesu Christi. Beobachtungen zur paulinischen Leidenstheologie
I. Der allgemeine Interpretationsrahmen
II. Der leidende Apostel als Teihaber am Leidensgeschick Jesu Christi
III. Die leidende Gemeinde als Teilhaberin am Leidensgeschick des Apostels
IV. Zusammenfassung
10. Paulus, der bekehrte Gottesfeind. Zum Verständnis von 1.Tim 1,13
I
II
III
IV
Lukas
11. Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte
I
II
III
IV
V
VI
12. „Reich Gottes“ bei Lukas
I
II
III
IV
13. Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas
I. Bestandsaufnahme
II. Das Heil Israels und die Verzögerungsthematik
III. Die „Hoffnung Israels“ – eine Frage des zeitlichen Standorts
IV. Gottes unglaubliches Werk (Apg 13,41)
Nachtrag 2009
14. Wann wurde Maria schwanger? Eine vernachlässigte Frage und ihre Bedeutung für das Verständnis der lukanischen Vorgeschichte
I
II
III
15. Die Hirten in der Weihnachtsgeschichte (Lk 2,8–20)
I
II
III
16. Prophet oder Messias? Beobachtungen zu den Christologien von Lk 24,19–27
I
II
III
17. Die Juden und die Obrigkeit bei Lukas
I
II
III
a) Apg 16,16–22
b) Apg 17,5–9
c) Apg 18,12–17
d) Apg 21,27 – 26,32
e) Lk 23,1–25
IV
18. Apollos und die Johannesjünger von Ephesus (Apg 18,24 – 19,7)
I. Zur Fragestellung
II. Die Reisenotizen
III. Die Apollosepisode (18,24–28)
IV. Die Johannesjüngerepisode (19,1–7)
V. Zusammenfassung
Übergreifende Beiträge
19. Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament
I. Bestandsaufnahme
1. Voraussetzungen
2. Konsequenzen
3. Zwischenfazit
II. Apokalyptizität als Eigenschaft von Texten
III. Apokalyptische Texte im Neuen Testament
1. Röm 11,25–26a
2. 1.Kor 15,51–52
3. 1.Thess 4,13–18 als Gegenprobe
4. Die Apokalyptizität der Johannesoffenbarung
IV. Fazit und Ausblick
20. „Zeremonialgesetz“ vs. „Sittengesetz“. Eine Spurensuche
I
II
III
IV
V
21. Die Rede von der Sünde im Neuen Testament
I. Einleitende Überlegungen
II. Metaphorische Konkretionen
1. Sünde als Schuld; Sündenvergebung als „Schuldenerlass“
2. Sünde als Schmutz; Sündenvergebung als „Reinigung“
3. Sünde als Krankheit; Sündenvergebung als „Heilung“
4. Zwischenbilanz
III. Bei Jesus geht es nicht um die Sünde, sondern um die Sünder
IV. Das christologische Verständnis von Sünde im Johannesevangelium und im 1. Johannesbrief
V. Das anthropologische Verständnis von Sünde bei Paulus
1. Röm 5,12–14 und 7,7–25
2. Die Sünde als Macht und ihr „Vorsprung“ vor dem Gesetz
3. Die Befreiung von der Macht der Sünde durch die Taufe
VI. Gemeinsame Perspektiven auf die Sünde
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Register
1. Stellen
1. Altes Testament
2. Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments
3. Qumran
4. Jüdisch-hellenistische Literatur
5. Rabbinische Literatur
6. Neues Testament
7. Altkirchliche Literatur
8. Pagane Literatur der Antike
9. Papyri und Inschriften
2. Namen, Orte, Sachen
3. Autoren

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)

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Michael Wolter

Theologie und Ethos im frühen Christentum Studien zu Jesus, Paulus und Lukas

Mohr Siebeck

Michael Wolter, geboren 1950; 1977 Promotion; 1977–83 Redakteur der Theologischen Realenzyklopädie (TRE); 1986 Habilitation; 1988–93 Professor für Biblische Theologie an der Universität Bayreuth; seit 1993 Professor für Neues Testament an der Universität Bonn; seit 2004 Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Pretoria (Südafrika).

e-ISBN PDF 978-3-16-151525-5 ISBN 978-3-16-149903-6 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

UXORI AC LIBERIS

Vorwort Als ich Anfang der 1970er Jahre in Heidelberg studierte, meinte einer meiner dortigen theologischen Lehrer, dass es von der Gattung „Gesammelte Aufsätze“ eigentlich nur ein einziges Exemplar gäbe, dessen Publikation die wissenschaftliche Welt wirklich reicher gemacht hätte: Karl Holls „Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte“ mit den drei Bänden: „Luther“ (1921), „Der Osten“ und „Der Westen“ (jeweils 1928). Ich habe das bis heute nicht vergessen, und damit fällt natürlich ein Schatten auf das vorliegende Buch. Noch ein Stück dunkler wird dieser Schatten dadurch, dass Karl Holls Aufsatzbände seinerzeit von demselben Verlag publiziert wurden, der nun auch dieses Buch mit meinen Bemühungen um das Verständnis der Verkündigung Jesu und des Neuen Testaments das Licht der Welt erblicken lässt. Ich möchte darum meinem Kollegen Jörg Frey aus München und Herrn Dr. Henning Ziebritzki vom Verlag Mohr Siebeck, von denen die Initiative zu dieser Publikation ausging, herzlich dafür danken, dass sie mich eingeladen und ermutigt haben, eine Sammlung mit einer Auswahl aus meinen eigenen Aufsätzen zu veröffentlichen. Keiner der Aufsätze dieses Bandes hat dieselbe Gestalt, in der er ursprünglich publiziert wurde. Bei einigen – vor allen Dingen bei den jüngeren – handelt es sich um das, was man gewöhnlich einen „durchgesehenen und korrigierten Nachdruck“ nennt. Andere können als „zweite Auflage“ angesehen werden, weil sie durch neues Material ergänzt wurden oder weil ich sie auf Grund von Einsichten, die ich seit ihrer Erstpublikation gewonnen habe, nicht mehr unverändert lassen konnte. Den Aufsatz über „Identität und Ethos bei Paulus“ habe ich ganz neu geschrieben. In ihm habe ich nicht nur mehrere ältere Studien zusammengefasst, sondern meine Überlegungen zu dieser Thematik noch ein Stück weitergeführt. Neue Literatur habe ich nicht mechanisch ergänzt, sondern nur dort, wo es mir sinnvoll erschien. Aufs Ganze gesehen wurden die Aufsätze an vielen Stellen aufeinander abgestimmt, und zwar vor allem durch Querverweise sowie durch die Tilgung von Dubletten. Die Verlage, in deren Publikationen die Aufsätze ursprünglich erschienen waren, haben mir die Genehmigungen zum Wiederabdruck in großzügiger Weise erteilt. Dafür möchte ich mich bei ihnen herzlich bedanken.

VIII

Vorwort

Für ihre Mithilfe bei den Korrekturen und bei der Anfertigung der Register bin ich erneut meinen Bonner Mitarbeitern zu ganz besonderem Dank verpflichtet: Dr. Jochen Flebbe mit Maren Bohlen, Oliver Franzmann und Leonie Stein sowie Gerd Maeggi und Nikolai Tischler. Einmal mehr war die Zusammenarbeit mit ihnen die helle Freude. Tanja Mix hat den Band im Verlag mit großer Sorgfalt, Umsicht und Freundlichkeit betreut. Dafür möchte ich ihr an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich danken. Widmen möchte ich diesen Band den Menschen, die über die vielen Jahre hinweg, in denen die in ihm publizierten Aufsätze entstanden sind, ihr Leben mit mir geteilt haben. Ihnen möchte ich auf diesem Wege danken, aber ich weiß auch, dass eine solche Widmung in keinem Verhältnis zu dem steht, was ich von ihnen empfangen habe. Bonn, am 29. Januar 2009

Michael Wolter

Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................... VII Einführung .......................................................................................................... 1

Jesus 1. „Was heisset nu Gottes reich?“ .................................................................. 9 2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer ................................. 31 3. Interaktive Erzählungen. Wie aus Geschichten Gleichnisse werden, und was Jesu Gleichnisse mit ihren Hörern machen ............................. 64 4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen ................................................. 82

Paulus 5. Identität und Ethos bei Paulus ............................................................... 121 6. Der Kompromiss bei Paulus ................................................................... 170 7. Der Brief des sogenannten Unzuchtsünders ........................................ 181 8. „Dumm und skandalös“. Die paulinische Kreuzestheologie und das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens ............ 197 9. Der Apostel und seine Gemeinden als Teilhaber am Leidensgeschick Jesu Christi. Beobachtungen zur paulinischen Leidenstheologie ............................. 219 10. Paulus, der bekehrte Gottesfeind. Zum Verständnis von 1.Tim 1,13 .......................................................... 241

X

Inhaltsverzeichnis

Lukas 11. Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte ............................ 261 12. „Reich Gottes“ bei Lukas ........................................................................ 290 13. Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas ....................... 311 Nachtrag 2009 .......................................................................................... 333 14. Wann wurde Maria schwanger? Eine vernachlässigte Frage und ihre Bedeutung für das Verständnis der lukanischen Vorgeschichte ............................ 336 15. Die Hirten in der Weihnachtsgeschichte (Lk 2,8–20) ......................... 355 16. Prophet oder Messias? Beobachtungen zu den Christologien von Lk 24,19–27 ...................... 373 17. Die Juden und die Obrigkeit bei Lukas ................................................. 388 18. Apollos und die Johannesjünger von Ephesus (Apg 18,24 – 19,7) ..... 402

Übergreifende Beiträge 19. Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament ................................. 429 20. „Zeremonialgesetz“ vs. „Sittengesetz“. Eine Spurensuche .................. 453 21. Die Rede von der Sünde im Neuen Testament .................................... 471

Nachweis der Erstveröffentlichungen .......................................................... 501 Register ............................................................................................................ 503 1. Stellen .................................................................................................... 503 2. Namen, Orte, Sachen .......................................................................... 528 3. Autoren ................................................................................................. 531

Einführung 1. Die in diesem Band zusammengestellten Untersuchungen sind unabhängig voneinander in einem Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren entstanden. Der Titel, unter dem sie hier erneut und zum Teil in veränderter Gestalt publiziert werden, beschreibt jedoch mehr als nur die Eckpunkte eines weiten Rahmens, dessen Aufgabe vor allem darin bestünde, auseinanderstrebende Inhalte mehr oder weniger notdürftig zusammenzuhalten. Er soll seine Bestimmtheit darum vor allem durch den Untertitel finden. Damit ist das Problem freilich zunächst nur verschoben, denn es stellt sich natürlich umgehend die Frage, ob die Reihe „Jesus – Paulus – Lukas“ überhaupt geeignet ist, diese Bestimmtheit auch in inhaltlicher Hinsicht zur Darstellung zur bringen, oder ob sie nicht eher als eine rein formale Addition theologisch heterogener Größen fungiert oder Stationen einer historischen Entwicklung beschreibt, in der die theologischen Unterschiede und Diskontinuitäten über die Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten dominieren. Vor diesem Hintergrund ist es darum schon Programm, dass das vorliegende Buch in seinem Titel von „Theologie“ und „frühem Christentum“ spricht und dann mit vier Beiträgen zur Verkündigung Jesu von Nazareth beginnt.1 Hierin findet die These ihren Niederschlag, dass es zwischen der unverwechselbaren Mitte der Verkündigung Jesu von Nazareth und der christlichen Theologie nach Ostern eine ganz elementare Kontinuität gibt, die auch in diesem Band zum Ausdruck gebracht wird. Sie besteht in der Gewissheit, dass den Menschen im Wirken und im Geschick Jesu von Nazareth niemand anderer als Gott selbst begegnet und dass durch niemand anderen als durch Jesus Christus das Heil Gottes erschlossen wird. 1

Das gilt vor allem im Kontext der Diskussion, die in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts im Gefolge jener Sätze geführt wurde, mit denen Rudolf Bultmann seine Theologie des Neuen Testaments eröffnet hat: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst. Denn die Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert. Christlichen Glauben aber gibt es erst, seit es ein christliches Kerygma gibt, d.h. ein Kerygma, das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. ... Erst mit dem Kerygma der Urgemeinde also beginnt das theologische Denken, beginnt die Theologie des NT“ (R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1958 61968, 1f).

2

Einführung

In diesem Sinne können Verkündigung und Wirken Jesu von Nazareth nur dann sachgerecht verstanden werden, wenn man sie als untrennbaren Bestandteil seiner Selbstauslegung wahrnimmt: dass nämlich durch ihn Gott selbst in authentischer Weise repräsentiert wird, dass das verheißene eschatische Heilshandeln Gottes durch ihn und sein Wirken in Israel die Menschen erreicht hat und dass das Ergehen im Endgericht davon abhängt, wie sich die Menschen diesem Anspruch gegenüber verhalten haben. Diese Selbstauslegung Jesu von Nazareth kehrt bei Paulus dann vor allem in der Weise wieder, wie er von dem durch ihn verkündigten Evangelium spricht: Er nennt es einerseits „Evangelium Gottes“ (Röm 1,1; 15,16; 2.Kor 11,7; 1.Thess 2,2.8.9) und andererseits „Evangelium Christi“ (Röm 15,19; 1.Kor 9,12; 2.Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Phil 1,27a; 1.Thess 3,2), und es ist doch immer ein und dasselbe Evangelium. Die Unverwechselbarkeit des Anspruchs Jesu von Nazareth und die Unverwechselbarkeit des paulinischen Evangeliums entsprechen darum einander: Letzeres ist immer nur insofern „Evangelium Christi“, als es vom Heilshandeln Gottes an Jesus Christus spricht, und es ist immer nur insofern „Evangelium Gottes“, als es die Erschließung von Gottes Heil durch Jesus Christus verkündet. Dem entspricht dann auch der Doppelaspekt des paulinischen Glaubensverständnisses: Der Inhalt des „christlichen Glaubens“ (bei Paulus: der πίστις Χριστοῦ) besteht in nichts anderem als darin, dass Gott durch Jesus Christus zum Heil der Menschen gehandelt hat und dass durch Jesus Christus das Heil Gottes erschlossen wird. Die Christus-Gewissheit des Glaubens ist insofern stets durch seine Gottes-Gewissheit qualifiziert – und umgekehrt. Dass auch Lukas in dieser Kontinuität steht, wird in seinem Doppelwerk auf Schritt und Tritt greifbar2: In seiner Jesuserzählung sowie in ihren apostelgeschichtlichen Zusammenfassungen stellt er immer wieder heraus, dass Gott durch Jesus an Israel zum Heil handelt bzw. gehandelt hat3, und derselbe Gedanke kommt natürlich auch dort zum Ausdruck, wo Lukas die ChristusVerkündigung der Zeugen als Reich-Gottes-Verkündigung charakterisiert (Apg 8,12; 19,8/10; 20,21/25; 28,23.31). Nicht anders als bei Paulus verschränken sich darum auch im lukanischen Glaubensverständnis ChristusGewissheit und Gottes-Gewissheit: Wenn Lukas davon spricht, dass Menschen auf Grund der Christus-Verkündigung der Zeugen „glauben“4, so ist damit nichts anderes gemeint, als dass sie in Jesus denjenigen wahrnehmen, 2

Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung in meinem Kommentar (M. WOLTER, Das Lukasevangelium [HNT 5], Tübingen 2008, 31–33) sowie die Einzelnachweise zu den dort genannten Texten. 3 In Lk 1,16f.76 wird das Kommen Gottes angekündigt. Diese Ankündigung wird dann so erfüllt, dass es Jesus ist, der tatsächlich kommt (s. auch Lk 5,17–26; 7,16; 8,39; 9,43a; 18,43; Apg 2,22; 3,26; 10,36–38; 13,23). 4 Z.B. in Apg 3,16; 4,4; 5,14; 8,12; 10,43; 11,17; 13,12; 14,23; 16,15.31; 18,8; 20,21; 24,24; 26,18.

Einführung

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durch den Gott an seinem Volk zum Heil gehandelt hat. Und wenn man schließlich die Reihe von Jesus über Paulus bis hin zu Lukas im Zusammenhang anschaut, wird offenkundig, dass Lukas die christologischen Heilskonzepte der beiden anderen miteinander verknüpft: Während einerseits Jesu Selbstauslegung als Offenbarer von Gottes Heil sich auf sein Reden und Tun bezog sowie andererseits Paulus das Heilshandeln Gottes in Jesu Tod und Auferstehung in den Vordergrund stellte und das irdische Wirken Jesu theologisch ungedeutet ließ, ist für Lukas charakteristisch, dass er beides miteinander verknüpft: Das irdische Wirken Jesu sowie sein Tod und seine Auferstehung sind untrennbar zusammengehörige Bestandteile eines nach Gottes Plan und in Erfüllung der Schrift ablaufenden Gesamtgeschehens, zu dem ebenfalls – und auch in dieser Hinsicht ist die Anknüpfung an die paulinische Theologie des Evangeliums unübersehbar – die nachösterliche Christusverkündigung gehört. Im Blick auf die eingangs formulierte Frage nach der Kohärenz des Ganzen, kann man darum sagen, dass die durch den Untertitel vorgenommenen Zuordnungen der Einzelbeiträge dieses Bandes als Stationen auf einem exegetischen Weg verstanden werden wollen, in dem die theologischen Kontinuitäten zwischen Jesus, Paulus und Lukas immer deutlichere Konturen gewannen. Darüber hinaus kann der theologische Zusammenhang, der hier erkennbar wird, vielleicht aber auch dazu beitragen, das Profil der lukanischen Geschichtstheologie als eine nachträgliche Reflexion der paulinischen Missionstheologie zu verstehen und damit den theologischen Zusammenhang zwischen Paulus und Lukas wieder deutlicher hervortreten zu lassen.5 Dass Lukas und Paulus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt theologisch gegeneinandergestellt werden konnten – jedenfalls von zahlreichen und bedeutenden protestantischen deutschen Neutestamentlern6 –, dürfte ein unmittelbarer Reflex des zeitgeschichtlichen Kontextes gewesen sein, in dem sich in Deutschland die theologische Interpretation des Neuen Testaments nach dem Ende des Dritten Reiches vorfand. Sie war bestimmt durch die Erfahrung des Kirchenkampfes und das Zusammenbrechen überkommener kultureller Gewissheiten, und dazu gehörte sicher nicht zuletzt auch die Erkenntnis des moralischen Versagens der Kirchen. Es ist darum leicht nachvollziehbar, dass man nach der bedrückenden Erfahrung einer zwölfjährigen Unheilsgeschichte mit einer (Traditions-)Theologie wie der lukanischen, der es um den Aufweis von heilsgeschichtlicher Kontinuität ging, nicht mehr viel 5 Vgl. dazu jetzt auch den Sammelband Réception du paulinisme dans les Actes des apôtres, hg. v. D. Marguerat (BEThL), Leuven 2009. 6 Vgl. hierzu die Darstellung bei W.G. KÜMMEL, Lukas in der Anklage der heutigen Theologie (1970/1972), in: Das Lukasevangelium, hg. v. G. Braumann (WdF 280), Darmstadt 1974, 416–436.

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Einführung

anfangen konnte, während die paulinische (Bekehrungs-)Theologie, die ihre Mitte in der theologischen Bearbeitung eines fundamentalen theologischen Paradigmenwechsels hatte, weitaus besser in den damaligen kulturellen Kontext passte und darum auch sehr viel plausibler war. Dass die Distanzierung der lukanischen Theologie von der paulinischen Bestandteil des Versuchs einer neuen theologischen Selbstvergewisserung gewesen ist, die nach der Krise der Jahre 1933–45 erforderlich wurde, kann man u.a. daran erkennen, dass Lukas von Philipp Vielhauer in einem sehr einflussreichen Aufsatz aus dem Jahr 1950 als Vertreter einer natürlichen Theologie dargestellt wurde und dadurch eine Position zugewiesen bekam, die durch die theologischen und kirchlichen Auseinandersetzungen der vorangegangenen Jahre diskreditiert war.7 In denselben Zusammenhang gehören aber auch die Verdikte, mit denen Ernst Käsemann die lukanische Theologie überaus folgenreich belegt hat: Bei Lukas habe eine theologia gloriae die (paulinische) theologia crucis „verdrängt“8, Lukas wolle „Garantien für die Richtigkeit und Notwendigkeit des christlichen Glaubens“ anbieten9, und das „Merkmal“ der Kirche sei bei ihm „die These der an Hand der Schrift nachprüfbaren historischen Kontinuität der Heilsgeschichte“10, während doch – so Käsemann an anderer Stelle – „die Einheit der Kirche ... wie das Evangelium ... von den Ungesicherten und Angefochtenen ... bekannt (wird), sofern sie die das Evangelium Hörenden und Glaubenden sind“11. Auf jeden Fall wird an solchen Äußerungen aber auch erkennbar, dass die Wissenschaft vom Neuen Testament ihrem Wesen nach ein hermeneutisches Projekt ist und dass sie darum nichts anderes sein kann als eine kirchliche Wissenschaft. Diese Einsicht kann die Möglichkeit eröffnen, in der lukanischen Theologie gerade auch diejenigen Elemente wieder wahrzunehmen, in denen sie als authentische Fortschreibung paulinischer Theologie erkennbar wird: in der theologischen Bearbeitung des christlich-jüdischen Trennungsprozesses, die Lukas mit einem Engagement betreibt, das um nichts geringer ist als das paulinische. Dieser Aspekt des lukanischen Doppelwerks 7 PH. VIELHAUER, Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte, EvTh 10 (1950/51) 1–15 = ders., Aufsätze zum Neuen Testament (TB 31), München 1965, 9–27. – Vgl. dazu P. MATUSKA, Natürliche Theologie in politischer Verstrickung. Die „Deutschen Christen“ und die theologische Erklärung von Barmen, Hamburg 2005. 8 E. KÄSEMANN, Amt und Gemeinde im Neuen Testament (1949), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 109–134, hier 133 u.ö. 9 E. KÄSEMANN, Aus der neutestamentlichen Arbeit der letzten Jahre, VuF 1947/48 (1949/50) 195–223, hier 221. 10 E. KÄSEMANN, ebd. 132f; vgl. hierzu auch Käsemanns Selbstdarstellung: Was ich als deutscher Theologe in fünfzig Jahren verlernte, in: ders., Kirchliche Konflikte I, Göttingen 1982, 233–244, hier 236f. 11 E. KÄSEMANN, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? (1951), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I (s. Anm. 8), 214–223, hier 223.

Einführung

5

bestimmt darum auch sicher nicht ohne Grund den überwiegenden Teil der Aufsätze des Lukasteils. 2. Einer kurzen Erläuterung bedarf darüber hinaus die Verwendung des Begriffs „Ethos“ im Titel dieses Buches. In ihm verdichtet sich eine theologische und exegetische Fragestellung, die meine Bemühungen um das Verständnis des frühen Christentums seit einigen Jahren leitet. In der Vergangenheit ist sie durch das beherrschende Interesse an der christlichen Ethik weitgehend in den Hintergrund gedrängt worden – meiner Meinung nach unberechtigterweise und zum Nachteil nicht nur des neutestamentlichen, sondern auch des interdisziplinären theologischen Diskurses. Ich gebrauche den Ethos-Begriff hier und in anderen Untersuchungen als eine wissenschaftssprachliche Kategorie, weil er einen Sachverhalt beschreibt, der auch für christliche Gemeinden konstitutiv ist, und zwar für die des 1. Jahrhunderts genauso wie für die der Gegenwart: dass nämlich keine Gemeinschaft denkbar ist, die darauf verzichten kann, ihre Identität durch einen Kanon von eindeutigen institutionalisierten Handlungen zur Anschauung zu bringen bzw. – um die Redeweise Friedrich Schleiermachers aufzunehmen – „darzustellen“12, wenn sie ihre kognitive Identität auch als eine soziale Identität wahrnehmen will bzw. ihre Mitglieder sich als zusammengehörig erfahren wollen. Nachgegangen bin ich dieser Frage nach der Korrelation von materialer Gestalt und funktionaler Bedeutung eines Ethos in einer Reihe von Untersuchungen, die hier zum Teil zu einer einzigen Studie zusammengefasst wurden13, ohne dabei das Potential, das in diesem Ansatz steckt, auch nur entfernt ausschöpfen zu können. Hier ist noch viel Arbeit zu erledigen, und ich bin der festen Überzeugung, dass uns mit der Frage nach der Funktion eines Ethos für die soziale Objektivation von Identität eine analytische Kategorie von erheblicher Trennschärfe zur Verfügung steht, denn mit ihrer Hilfe können wir nicht nur diejenigen Faktoren freilegen, die für den christlich-jüdischen Trennungsprozess und für die soziale Gestaltfindung des Christentums in neutestamentlicher Zeit maßgeblich waren, sondern sie macht es auch möglich, die vielfältigen Formen der Kontextualisierung von religiöser Identität – christlicher wie nichtchristlicher – in der Gegenwart besser zu verstehen. 3. Mehrere der hier publizierten Aufsätze sind aber auch noch auf einer anderen Ebene miteinander verknüpft. Sie finden ihre Gemeinsamkeit darin, dass sie auf eine Problematik bezogen sind, die in vielen exegetischen Arbeiten nicht reflektiert wird, obwohl sie eigentlich für die wissenschaftliche Arbeit von grundlegender Bedeutung ist: die Unterscheidung zwischen quellensprachlichen und interpretationssprachlichen Begriffen. Die Unterbestimmt12 13

S.u. S. 128f. Vgl. S. 121–169 und 501.

6

Einführung

heit dieser Unterscheidung hat zur Folge, dass interpretationssprachliche Begriffe, d.h. analytische Kategorien, die von den Interpreten der biblischen Texte gebildet werden und deren Bedeutung von ihnen bestimmt und diesen Begriffen zugeschrieben wird, in vielen Fällen als quellensprachliche Begriffe ausgegeben und behandelt werden. Sie werden immer so benutzt, als kämen sie mit der ihnen zugeschriebenen Bedeutung bereits in den Quellen vor. Tatsächlich sind sie jedoch Geschöpfe der Interpreten, die mit ihrer Hilfe nicht nur Interpretationen vorwegnehmen, sondern auch die Sinnstrukturen, die der Wahrnehmung und Beschreibung der sogenannten Fakten stets vorausgehen, allererst selber schaffen. Erkennbar wird dieser Vorgang vor allem im Gebrauch des Ethos-Begriffs, den ich in den ersten drei Aufsätzen des Paulusteils ohne Rücksicht auf seine quellensprachliche Bedeutung verwenden kann, weil ich ihm eine von mir selbst konstruierte Bedeutung zuschreibe und ihn ausschließlich als interpretationssprachliche analytische Kategorie benutze. An diesem Paradigma der Reflexion auf die Differenz zwischen dem Status und der Semantik quellensprachlicher und interpretationssprachlicher Verwendung von Begriffen orientieren sich gleich die ersten beiden Aufsätze über das Reich Gottes in der Verkündigung Jesu und zur angeblichen Antithese von Gericht und Heil bei Jesus und Johannes dem Täufer. – Im Paulusteil geht es mir in dem Aufsatz über die paulinische Kreuzestheologie darum zu zeigen, dass weder „Sühne“ noch „Stellvertretung“ , die bei vielen als Zentralbegriffe für die Beschreibung der Heilsbedeutung des Todes Jesu fungieren (und das bisweilen auch noch mit der Unterscheidung zwischen „exklusiver“ und „inklusiver“ Stellvertretung!), biblische Begriffe sind, denn weder für den einen noch für den anderen gibt es ein quellensprachliches Äquivalent in den Texten der Bibel. – Im Lukasteil mündet der Aufsatz über Israels Zukunft und die Parusieverzögerung in eine Anfrage an die Verwendung eines unspezifischen Begriffs von „Naherwartung“ zur Beschreibung von bestimmten eschatologischen Erwartungen und Hoffnungen im lukanischen Doppelwerk. – Von den drei übergreifenden Beiträgen am Schluss sind es zwei – die Aufsätze über die Semantik des Apokalyptik-Begriffs sowie über die Herkunft und den Gebrauch des Begriffspaars „Zeremonialgesetz und Sittengesetz“ –, die die Frage nach dem Verhältnis von quellensprachlicher und interpretationssprachlicher Verwendung der Begriffe als Ausgangspunkt nehmen und für eine differenziertere Wahrnehmung der mit ihnen bezeichneten Sachverhalte fruchtbar zu machen versuchen.

Jesus

1. „Was heisset nu Gottes reich?“* I „Was heisset nu Gottes reich?“ So fragt Martin Luther in seiner Erklärung der zweiten Vaterunserbitte im Großen Katechismus von 1529. „Antwort: Nichts anderes als das, was wir oben im Glauben(sbekenntnis) gehört haben: dass Gott seinen Sohn Christus, unseren Herrn, in die Welt geschickt (hat), damit er uns erlöse und frei mache von der Gewalt des Teufels und zu sich bringe und regiere als ein König der Gerechtigkeit, des Lebens und der Seligkeit, gegen Sünde, Tod und böse Gewissen ...“ – Mit der zweiten Vaterunserbitte sei darum „nichts anderes als soviel gesagt: ‚Lieber Vater, wir bitten, gib uns zuerst dein Wort, damit das Evangelium rechtschaffen in der Welt gepredigt werde; zum anderen, dass (es) auch durch den Glauben angenommen werde, in uns wirke und lebe, dass also dein Reich unter uns gehe durch das Wort und die Kraft des Heiligen Geistes‘ ... “1 Knapp 460 Jahre später wird dieselbe Frage im Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union (EKU) über „Die Bedeutung der Reich-Gottes-Erwartung für das Zeugnis der christlichen Gemeinde“2 gestellt: „Reich Gottes – was ist das?“ (49). Trotz Luthers unzweideutiger Antwort wird hier nun in Sachen Reich Gottes ein „empfindliche(s) Lehrdefizit“ konstatiert: „Theologie und Kirche wissen nicht mit hinreichender Klarheit zu sagen, was das ist: Gottes Reich und unsere Erwartung dieses Reiches“ (44) – und mehr noch: Es ist gerade Luthers eingangs zitierte Reich-Gottes-Interpretation, die von den Autoren des Votums für dieses „Lehrdefizit“ mitverantwortlich gemacht wird (45). Gleichzeitig stehen wir aber auch vor dem Phänomen, dass bis in die Gegenwart hinein die Metapher „Reich Gottes“ immer wieder als Etikett für politische und gesellschaftliche Utopien ganz unterschiedlicher Provenienz in Anspruch genommen wird. Ihnen allen ist gemeinsam, das sie nicht aus der Semantik dieses Begriffs selbst abgeleitet sind, sondern von außen auf ihn projiziert werden. Der Reich-Gottes-Begriff muss es sich dabei gefallen * 1 2

Überarbeitete Fassung meiner Bonner Antrittsvorlesung vom 8. Juni 1994. WA 30/I, 200,5–13.30–34 (in sprachlich leicht modernisierter Form). Neukirchen-Vluyn 1986 21989.

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lassen, dass er zur Autorisierung und Legitimation menschlicher Wünsche und Hoffnungen instrumentalisiert wird, auch wenn viele von ihnen durchaus erstrebenswert und konsensfähig sind. Demgegenüber hält das Votum des Theologischen Ausschusses mit Recht daran fest, „dass nicht wir darüber entscheiden, was Reich Gottes ist und bedeutet“ (50). Es will vielmehr seinerseits eine semantische Näherbestimmung auf der Grundlage der „biblischen Verheißungen“ (51) vornehmen, und dies erfolgt dann durch nichts Geringeres als durch einen eschatologischen Gesamtentwurf, in dem wir dann alles wiederfinden, was im klassischen locus de novissimis Rang und Namen hat (107ff): Wiederkunft Jesu Christi, Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben, Neuer Himmel und Neue Erde und schließlich als „Ziel“ „die Verherrlichung des dreieinigen Gottes“ (119). Nun ist es aber auch hier so, dass der eschatologischen Metapher „Reich Gottes“ keinerlei semantischer Eigenwert zukommt. Sie fungiert vielmehr als ein Gegenstandsbegriff (englisch: topic), der durch die Zusammenführung einer Reihe von Bestimmungsbegriffen (englisch: comment) erläutert werden muss.3 Die genannten Inhalte der christlichen Eschatologie könnten in ihrer Gesamtheit durchaus auch für sich stehen, d.h. sie sind in keiner Weise angewiesen auf ihre Einrahmung durch den Reich-Gottes-Begriff, so dass man auf ihn auch hätte verzichten können, ohne dass sich an den Inhalten der christlichen Heilshoffnung materialiter etwas geändert hätte. Nach dem Urteil der Autoren des Votums gilt das Reich Gottes als „Zentralsymbol christlicher Hoffnung“ (95), und diese Würde verdankt es ohne Zweifel dem Sachverhalt, dass es eben diese Größe ist, die im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu von Nazareth stand. Mit Ausnahme der in Qumran und Masada entdeckten sog. „Sabbatopferlieder“4 gibt es weder in den biblischen noch in den übrigen Schriften des frühen Judentums einen Text- oder Überlieferungszusammenhang, in dem die Rede von Gott als König, von 3 Die Terminologie orientiert sich an der Beschreibung der Prädikation als „Determinationsrelation“ durch W. KOLLER, Semiotik und Metapher. Untersuchungen zur grammatischen Struktur und kommunikativen Funktion von Metaphern, Stuttgart 1975, 171: Er unterscheidet ebd. „zwischen dem Gegenstandsbegriff, von dem etwas ausgesagt wird, und dem Bestimmungsbegriff, der den Gegenstandsbegriff spezifiziert“; vgl. auch G. SELLIN, Allegorie und „Gleichnis“ (1978), in: Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft, hg. v. W. Harnisch (WdF 575), Berlin / New York 1982, 367–429, hier 387f. 4 4Q400–407; 11Q17; 0QShirShab Ms. Masada (Text mit englischer Übersetzung: C. NEWSOM, Songs of the Sabbath Sacrifice. A Critical Edition [HSSt 27], Atlanta 1985); vgl. auch A. M. SCHWEMER, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, hg. v. M. Hengel / A. M. Schwemer (WUNT 55), Tübingen 1991, 45–118.

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seinem königlichen Herrschen und von seinem königlichen Reich in einer mit der synoptischen Jesusüberlieferung vergleichbaren Dichte belegt wäre. Erheblich anders sieht die Sache aus, wenn wir den Blick auf Paulus lenken, dessen Briefen wir immerhin die ältesten literarischen Näherbestimmungen „christlicher Hoffnung“ verdanken: Innerhalb seiner Eschatologie ist die βασιλεία τοῦ θεοῦ alles andere als ein „Zentralsymbol“, denn sie steht bei ihm nicht nur zahlenmäßig5, sondern auch sachlich am Rande. Nichts anderes gilt auch für das Johannesevangelium und die drei Johannesbriefe: In ihnen ist nur in Joh 3,3.5 vom Reich Gottes die Rede. Für Paulus und den johanneischen Kreis kann die vorstehend zitierte Formulierung des Votums darum – wenn überhaupt – nur mit starken Vorbehalten Gültigkeit beanspruchen. Ich möchte im folgenden nun versuchen zu zeigen, dass es für diese Vorbehalte und damit auch für das vom Votum des Theologischen Ausschusses der EKU konstatierte „Lehrdefizit“ einen sachlichen Grund gibt, der durch eine Diskontinuität markiert ist, die die Reich-Gottes-Verkündigung des historischen Jesus immer dann von ihrer Verwendung im Kontext der christlichen Eschatologie trennt, wenn diese das Reich Gottes mit konkretisierenden Näherbestimmungen versehen will.6

II 1. Wie gesagt: als „Zentralsymbol“ fungierte der Reich-Gottes-Begriff ohne Zweifel innerhalb der Verkündigung Jesu von Nazareth, der damit nun aber nicht ein neues Heilskonzept einführt, sondern mit diesem Begriff eine traditionsgeschichtlich vorgegebene Metapher aufgreift. Er benutzt eben diese Metapher als Interpretament, weil sie ihm – das ist die notwendige Voraussetzung dieses Interpretationsvorgangs – auf Grund ihres semantischen Profils in herausragender Weise geeignet erschien, das von Gott auf die Menschen zukommende Heil zu kennzeichnen. Der Anstoß dafür erfolgte aller Wahrscheinlichkeit nach durch die in Lk 10,18 erwähnte Vision vom 5

Röm 14,17; 1.Kor 4,20; 6,9f; 15,50; Gal 5,21; s. auch 1.Thess 2,12. Luther und das Votum des Theologischen Ausschusses sprechen durchgängig vom „Reich Gottes“. Demgegenüber wird in neuerer Zeit häufig der Begriff „Gottesherrschaft“ bzw. „Königsherrschaft Gottes“ bevorzugt, weil damit der „dynamische Charakter des Begriffs besser zum Ausdruck“ komme als durch das „eher statische ‚Reich‘ mit seiner räumlichen Konnotation“ (H. MERKLEIN, Die Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft [SBS 111], Stuttgart 21984, 39). Weil hieraus keine starre Alternative konstruiert werden darf (jede „Herrschaft“ impliziert einen räumlichen Herrschaftsbereich, und jedes „Reich“ ist durch eine dynamische Herrschaft konstituiert), werde ich im folgenden beide Bezeichnungen nebeneinander verwenden (vgl. auch J. C. O’NEILL, The Kingdom of God, NT 35 [1993] 130–141, hier 130–132). 6

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Sturz des Satans aus dem Himmel, der von Jesus natürlich nicht als Grund, sondern – darauf hat Erich Gräßer mit Recht insistiert7 – als „Folge“ des Anbruchs der eschatischen8 Heilszeit gedeutet wurde. Insofern Jesus nun aus dem Inventar möglicher Deutekategorien zur Kennzeichnung dieser Heilszeit die Vorstellung vom eschatischen Herrschaftsantritt Gottes aufbietet und in den Mittelpunkt seiner Verkündigung stellt, hat dies ganz bestimmte Konsequenzen und Voraussetzungen: Fragen wie: „Was heisset nu Gottes reich“?, oder: „Reich Gottes – was ist das?“, oder: „Worum bittet die Christenheit ... mit den Worten: ‚Dein Reich komme!‘?“9, in denen „Reich Gottes“ als Gegenstandsbegriff fungiert, der auf eine semantische Profilierung durch ihn erläuternde Bestimmungsbegriffe angewiesen ist, weil er als solcher unverständlich ist, brauchte sich in der jüdischen Umwelt Jesu niemand zu stellen, denn hier war der Inhalt des Begriffs „Reich Gottes“ ein geläufiger Bestandteil der sprachlichen Kompetenz aller Menschen. Das heißt konkret: Wenn Jesus im Vaterunser zum Gebet um das Kommen von Gottes Königsherrschaft aufforderte (Lk 11,2 par. Mt 6,10), so konnte er ebenso damit rechnen, dass seine Hörer wussten, was mit „Reich Gottes“ gemeint war, wie z.B. die Verfasser von AssMos 10,1 (et tunc parebit regnum illius [sc. dei]) oder von OrSib 3,47–48 („dann wird die βασιλεία μεγίστη des unsterblichen Königs unter den Menschen erscheinen“) und die Beter des Qaddish („Groß gemacht und geheiligt werden soll sein großer Name in der Welt, die er geschaffen hat nach seinem Willen, und er bringe zur Herrschaft sein Königtum zu euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel in Eile und in naher Zeit“)10. „Reich Gottes“ fungiert in der jesuanischen Verkündigung nicht wie bei Luther und im Votum des Theologischen Ausschusses der EKU als Gegenstandsbegriff, sondern als Bestimmungsbegriff. Dieses Unterscheidungsmerkmal halte ich für schlechterdings fundamental, und es kann darum auch eine Interpretationsgrundlage abgeben, die ein ganzes Stück weit trägt: Die Verwendung des Reich-Gottes-Begriffs als Bestimmungsbegriff setzt dann näm7

E. GRÄSSER, Die Naherwartung Jesu (SBS 61), Stuttgart 1973, 64. Das Adjektiv „eschatisch“ verwende ich hier und im Folgenden, um endzeitliche Ereignisse und Zustände (also die sog. „letzten Dinge“) zu bezeichnen (s. auch W. HÄRLE, Dogmatik, Berlin / New York 1995, 605 Anm. 8). Demgegenüber beschränke ich den Gebrauch des Adjektivs „eschatologisch“ auf Sachverhalte, die das Reden oder Denken über die letzten Dingen betreffen. Diese sprachliche Präzisierung entspricht also der Unterscheidung zwischen „pneumatisch“ und „pneumatologisch“, „ontisch“ und „ontologisch“ usw. 9 M. WELKER, Das Reich Gottes, EvTh 52 (1992) 497–512, hier 497. 10 Das Qaddish ist erst in spätantiker Zeit entstanden (vgl. A. LEHNARDT, Qaddish [TSAJ 87], Tübingen 2002, 297ff; C. LEONHARD, Art. Vaterunser II, TRE 34 [2002] 512–515, hier 513), so dass das Vaterunser nicht von ihm abhängig sein kann. Man wird darum lediglich annehmen können, dass beide Gebete dieselben Wurzeln in der jüdischen Gebetssprache des 1. Jahrhunderts haben. 8

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lich nicht nur traditionsgeschichtliche Konstanz, sondern auch die Bestimmtheit der semantischen Konnotationen voraus, die mit diesem Heilskonzept, das von Jesus verwendet wurde, verknüpft sind. Sie stellen Jesu Reich-GottesVerkündigung damit nicht nur in eine traditionsgeschichtliche Kontinuität, sondern auch in ein sachliches Einverständnis mit dem semantischen Profil der jüdischen Reich-Gottes-Erwartung, ohne die es eben nicht in der genannten Weise als Bestimmungsbegriff hätte fungieren können. Wenn wir wissen wollen, was in der Verkündigung Jesu denn „nu Gottes reich (heisset)“, sind wir darum zunächst an die Reich-Gottes-Erwartung des frühen Judentums gewiesen. Wir müssen danach fragen, inwieweit sich in denjenigen jüdischen Texten, die von Gott als König und von seiner königlichen Herrschaft sprechen, semantische Merkmale von traditionsgeschichtlicher Konstanz nachweisen lassen.11 2. Die metaphorische Rede von Gott als König oder von seiner Herrschaft als einer königlichen Herrschaft ist im Alten Testament bereits in vorexilischen Texten belegt, jedoch nicht vor der mittleren Königszeit12. Es wird dann von Deuterojesaja an13 zu einem geläufigen Bestandteil des Ausdrucks der Hoffnung auf ein eschatisches Heilshandeln Gottes an Israel. Unbeschadet aller Nuancierungen im Einzelnen können wir als organisierendes Zentrum der frühjüdischen Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes schlagwortartig zwei Elemente benennen, die ganz eng zusammengehören: Gottes Herrschaft ist universal, und sie ist israelzentrisch: Dass Gottes Königsherrschaft zeitlich und räumlich universal ist, insofern sie sich bereits in der Überwindung des Chaos erwies14 sowie Himmel und Erde umgreift, gehört demnach genauso zum königstheologischen Grundwissen Israels wie die Gewissheit, dass Gottes universale Herrschaft 11

Die folgende Darstellung basiert im Wesentlichen auf der Textsammlung von O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften (OBO 58), Fribourg/Göttingen 1984. Das Material konnte mit Hilfe seither erschienener Konkordanzen und elektronischer Hilfsmittel noch vermehrt werden. Unter den Darstellungen sind außerdem hervorzuheben: M. LATTKE, Zur jüdischen Vorgeschichte des synoptischen Begriffs der „Königsherrschaft Gottes“, in: Gegenwart und kommendes Reich. Schülergabe für Anton Vögtle, Stuttgart 1975, 9–25; A. LINDEMANN, Art. Herrschaft Gottes / Reich Gottes. IV. Neues Testament und spätantikes Judentum, TRE 15 (1986) 196–218, hier 196–200; J. J. COLLINS, The Kingdom of God in the Apocrypha and Pseudepigrapha, in: W. Willis (ed.), The Kingdom of God in 20th-Century Interpretation, Peabody 1987, 81–95. 12 Num 23,21; Dtn 33,5.26; Jes 6,5. Vgl. dazu vor allem W. H. SCHMIDT, Königtum Gottes in Ugarit und Israel (BZAW 80), Berlin 21966; N. LOHFINK, Der Begriff des Gottesreichs vom Alten Testament her gesehen, in: Unterwegs zur Kirche, hg. v. J. Schreiner (QD 110), Freiburg u.a. 1987, 33–86; E. ZENGER, Art. Herrschaft Gottes / Reich Gottes. II. Altes Testament, TRE 15 (1986) 176–189, hier 177ff. 13 Vgl. Jes 41,21; 43,14f; 44,6–8; 52,1–10. 14 Vgl. B. JANOWSKI, Das Königtum Gottes in den Psalmen, ZThK 86 (1989) 389–454.

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in der Bewahrung von Israels heilvoller Integrität erfahren wird. Im Tempel als dem Ort der Überschneidung von himmlischer und irdischer Welt findet sie ihre kultische Vergegenwärtigung.15 Seinen exemplarischen Ausdruck findet dieses Grundwissen in der Endgestalt von Ps 29, in dessen ersten und letzten Versen es heißt: (V. 1–2.9b–11)16: „Gebt JHWH, ihr Göttersöhne, gebt JHWH Ehre und Macht. Gebt JHWH seines Namens Ehre, fallt nieder vor JHWH in heiliger Majestät! ... In seinem Palast rufen die Seinen alle: Ehre! JHWH thront über der Flut, König JHWH throne auf immer! JHWH gebe seinem Volke Kraft, JHWH segne sein Volk mit Frieden!“

Von Deuterojesaja bis zu den Texten aus römischer Zeit findet dieses Heilskonzept seine literarische Realisierung fast ausschließlich innerhalb eines ganz spezifischen Situationskontextes, nämlich im Zusammenhang der Erfahrung Israels von Unheil, das von seiner Konfrontation mit der Herrschaft fremder Völker und ihrer Machthaber ausgeht.17 Dass hiergegen gerade Gottes königliche Herrschaft als Gegenkonzept aufgeboten wird, ist insofern plausibel, als die heidnische Fremdherrschaft über Israel den universalen Herrschaftsanspruch Gottes und damit seine Einzigkeit in Frage stellen musste.18 In diesem Sinne ist das Heilskonzept der Königsherrschaft Gottes in fast allen Texten aus dieser Zeit – über die Ausnahmen werden wir gleich noch sprechen – bezogen auf die Situation des von den Heiden bedrängten und unterdrückten Gottesvolkes. Die mit ihm verknüpften Heilserwartungen richten sich dementsprechend darauf, dass Israel in seiner Gesamtheit wieder in den heilvollen Status versetzt wird, der ihm als

15 Vgl. H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 141), Göttingen 1987; SCHWEMER, Gott als König (s. Anm. 4), 58ff. 16 Übers. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart (s. Anm. 15), 165f. 17 H. MERKLEIN, Die Einzigkeit Gottes als die sachliche Grundlage der Botschaft Jesu, JBTh 2 (1987) 13–32, hier 15ff; COLLINS, Kingdom of God (s. Anm. 11), 95. 18 Vgl. MERKLEIN, Einzigkeit (s. Anm. 17), 16ff. – Während bei DtrJes dieses Merkmal gegen die fremden Götter gewendet wird, sind es in den Texten aus hellenistisch-römischer Zeit vor allem die fremden Herrscher, die den Gegenpart spielen (vgl. z.B. Dan 3,31–33; 4,31–34; 2.Makk 7,9; 3.Makk 2,2.21ff; 6,2ff; PsSal 2,28–32; Tob 1,18 [ a]; ZusEsthC 14–26 [= Est 4,171–r]; 1QM 12,7–16; 1QGenApocr 20,12-16; SapSal 6,1–6). Hinter diesem Bezug steht wohl auch die Ausbildung der hellenistischen Königsideologie mit ihrer „zunehmenden Vergöttlichung des irdischen Beherrschers der Welt“ (M. H ENGEL, Die Zeloten [AGJU 1], Leiden 21976, 102; s. auch 103ff).

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dem von Gott erwählten Eigentumsvolk zukommt.19 – Dementsprechend geht mit der irdischen Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes ein Vernichtungshandeln Gottes an den Heiden und/oder ihren Herrschern einher. Sie werden Gottes Zorn- und Vernichtungsgericht (die Schilderung erfolgt z.T. unter Aufnahme von Elementen aus der Tradition des Jahwe-Krieges20) oder der Herrschaft des Gottesvolkes unterworfen21 bzw. wenden sich dem Gott Israels zu, wie dies z.B. Sach 14,16 unter Aufnahme des Motivs von der Zionswallfahrt schildert: „Doch wer dann übrig bleibt von allen Völkern, die gegen Jerusalem gezogen sind, wird Jahr für Jahr hinaufziehen, um den König, den Jahwe Zebaoth anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern.“22

Bei alledem ist aber auch deutlich: Der Universalismus der Gottesherrschaft bleibt stets ganz dezidiert israelzentrisch. Auch das Interesse an einem wie auch immer gearteten Heilsgeschick der Heiden ist in diesem Zusammenhang niemals etwas anderes als ein Aspekt des Interesses am Heilsgeschick Israels. Das „Kommen“ des Reiches Gottes vollzieht sich immer als „Kommen“ Gottes, d.h. als Theophanie. Vgl. in diesem Sinne vor allem: AssMos 10,1–10 („Und dann wird erscheinen seine [sc. Gottes] Herrschaft über seine gesamte Schöpfung ..., denn der höchste Gott ... wird sich erheben, und er wird öffentlich kommen [et palam veniet]“); Jub 1,28 („Und der Herr wird erscheinen dem Auge eines jeden, und jeder wird erkennen, dass ich der Gott Israels bin und der Vater für alle Kinder Jakobs und der König auf dem Berg Zion“; Übers. K. Berger); äthHen 25,3 (der „Thron, auf dem sich der Heilige und Große, der Herr der Herrlichkeit, der König der Welt niedersetzen wird, wenn er herabkommt“); OrSib 3,47–50 („... dann wird die βασιλεία μεγίστη des unsterblichen Königs unter den Menschen erscheinen. Es wird kommen der heilige Herrscher, der das Szepter über die ganze Erde innehaben wird in alle Ewigkeiten“).23 Erst in der Jesusüberlieferung ist davon die Rede, dass das Reich Gottes „kommt“ (Mk 9,1; Lk 11,2 par. Mt 6,10; Lk 17,20; 22,18).

Die Erwartung des Reiches Gottes ist also immer mit der Erwartung der unmittelbaren Präsenz Gottes selbst verbunden, der seine im Himmel bereits

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Vgl. z.B. Jes 43,14f; 52,1–10; Mi 2,12f; 4,6f; Ob 15a.17–21; Dan 2,44; PsSal 2,28–32; 1QM 12,3–16; OrSib 3,46–62.767–784; AssMos 10,1–10. 20 Vgl. z.B. Sach 14; PsSal 2,28–32; OrSib bei Theophilus, Autolyc. 2,36; OrSib 3,46– 62.492–503.551–561; TestDan 5,10–13; AssMos 10,1–10; 1QM 6,5f; 12,13–16. 21 Vgl. z.B. Ob 15–21; Dan 7,27. 22 S. auch Tob 13,13; 1QM 12,13f; OrSib 3,597–623.716–720.767–784.807. 23 S. auch noch Jes 35,4; 40,10; 66,15; Sach 14,5ff; Ps 50,3; 96,10–13; 98; TestLevi 5,2. – Vgl. dazu auch jeweils die Schilderung der theophanie-typischen kosmischen Begleitphänomene in Jes 24,21–23; Sach 14,6f; AssMos 10,1–10; dazu: A. SCRIBA, Die Geschichte des Motivkomplexes Theophanie (FRLANT 167), Göttingen 1995.

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präsente Herrschaft nun auch auf der Erde universal durchsetzt.24 Gott kommt selbst (höchstens bringt er noch wie z.B. in Sach 14,5 seine Engel mit). Aus diesem Grund gilt die irdische Aufrichtung der Herrschaft Gottes auch stets als das ureigene Werk Gottes selbst.25 Er teilt es mit niemand anderem, denn es geht ihm immer um die endgültige Durchsetzung seiner Einzigkeit26 gegen die von den Heiden verehrten Götter bzw. gegen die Herrscher der Völker, die göttliche Verehrung beanspruchen.27 Aus diesem Grunde überrascht es auch nicht, dass im Kontext der frühjüdischen ReichGottes-Erwartung immer wieder auch von Gottes Heiligkeit die Rede ist und die herrscherliche Präsenz Gottes als Anwesenheit seiner Heiligkeit beschrieben wird.28 Von der Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes wird erwartet, dass sie dem von fremden Herrschern unterdrückten Volk und Zion-Jerusalem wieder Anteil an der Heiligkeit Jahwes gibt, indem sie sie aus der Gewalt der Feinde Israels befreit. Gottes Heiligkeit ist dann auch wieder im Tempel präsent und dort von einem geheiligten Gottesvolk erfahrbar.29 Dem entspricht, dass auch in den Theophanieaussagen und -schilderungen das Einschreiten Gottes als Erscheinung seiner Heiligkeit dargestellt wird, die alles ausschaltet, was ihr nicht entspricht oder gar widerstrebt.30 Das semantische Feld der Rede von Gottes Heiligkeit überschneidet sich insofern mit demjenigen des Heilskonzepts von seiner Königsherrschaft, als hier wie dort das Element der Präsenz Gottes konstitutiv ist: Insofern die erhoffte Königsherrschaft Gottes als Erscheinen Gottes selbst erwartet wurde, ist damit zugleich die Hoffnung auf die Gegenwart von Gottes Heiligkeit ausgesagt. Mit der Durchsetzung von Gottes universaler Königsherrschaft geht darum die Durchsetzung seiner Heiligkeit einher, die seinem heiligen Volk dadurch das Heil bringt, dass sie unter ihm manifest wird. Es ist darum vielleicht auch kein Zufall, dass im Qaddish31 und im Vaterunser die Bitten, die auf die Heiligkeit des Namens Gottes und auf sein Reich bezogen sind, unmittelbar nebeneinander stehen.

Damit ist ein weiteres Element genannt, das für die jüdische Erwartung der irdischen Durchsetzung von Gottes universaler Königsherrschaft ebenfalls konstitutiv ist: Zion-Jerusalem und hier namentlich der Tempel als der Ort, an dem die Endtheophanie Gottes stattfinden und von dem aus er seine königliche Herrschaft über die gesamte Welt ausüben wird.32 24 Vgl. auch K. KOENEN, Jahwe wird kommen, zu herrschen über die Erde (BBB 101), Weinheim 1995; J. SCHLOSSER, Le règne de Dieu dans les dits de Jésus I, Paris 1980, 261ff (bes. 269ff). 25 Vgl. auch MERKLEIN, Einzigkeit (s. Anm. 17), 28. 26 In diesem Element sieht H. MERKLEIN „überhaupt das fundamentale semantische Merkmal der (eschatologischen) Gottesherrschaft“ (Einzigkeit [s. Anm. 17], 18). 27 Vgl. z.B. Jes 24,21–23; 41,21; 44,6–8; Sach 14,9; PsSal 2,28–32; Tob 1,18a; äthHen 63,2–4; s. auch 2.Makk 7,9; 3.Makk 1,24–29; 2,2–20. 28 Dasselbe gibt es auch schon in vorexilischen und exilischen Texten; vgl. Ps 47,3.9; 93; 99,3f.5; Jes 6,3.5; 43,15. 29 Vgl. z.B. Ob 15a.16–21; Jes 52,1–10; TestDan 5,5–13; äthHen 25,3–7; 4QFlor 1,1–6; OrSib 5,492–503. 30 Vgl. Sach 14; äthHen 25,3–7; AssMos 10,1–10; OrSib 3,46–62. 31 S.o. S. 12 mit Anm. 10. 32 Vgl. Jes 24,23; 33,17–24; 52,1–10; Mi 4,7; 3./1.Esr 4,45f; Jdt 9,8–14; Tob 13,11; äthHen

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Darüber hinaus verdient festgehalten zu werden, dass die vorstehend beschriebene irdische Realität der Gottesherrschaft als solche nicht notwendig als eine eschatische Größe galt.33 Dies lassen vor allem diejenigen – in der Regel als interpretationsirrelevant, weil „uneschatologisch“, ausgeschiedenen34 – Texte erkennen, die Gottes rettendes Eingreifen zugunsten Israels sowie sein strafendes Handeln an seinen und seines Volkes Feinden als empirisch wahrnehmbare Vergegenwärtigung der universalen Herrschaft Gottes qualifizieren.35 Eine Eschatologisierung dieses Heilskonzepts fand vielmehr erst in dem Moment statt, als aktuelle Rettungshoffnungen, wie sie etwa in Jdt 9,8–14; ZusEsthC 1–10.14–23; 3.Makk 2,2–20; 6,2–15 (vgl. V. 13: die Völker sollen heute erschrecken) artikuliert werden, ausgeschlossen schienen. Weil die Gegenwart auf Grund der sie total beherrschenden widergöttlichen Macht als eine „Bedrängnis“ erfahren wurde, „wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt“ (Dan 12,1; s. auch AssMos 8,1; Mk 13,19), konnte die Transformation der Königsherrschaft Gottes in irdisches Geschehen einzig von einer diese Gegenmacht endgültig ausschaltenden Endtheophanie erwartet werden.

3. Aufschlussreich ist nun aber auch, welche Komponenten nicht zum semantischen Feld von Gottes eschatischer Durchsetzung seiner universalen Königsherrschaft gehören bzw. nur am Rande stehen. Hier ist an erster Stelle die Messiaserwartung zu nennen. Darauf hat vor längerer Zeit schon Philipp Vielhauer hingewiesen.36 Der einzige Text aus der Zeit des Zweiten Tempels, in dem die Messiaserwartung mit der Vorstellung vom Königtum Gottes verbunden wird, ist PsSal 17. Hier wird Gott als König im Unterschied zu den anderen Texten jedoch gerade in seiner himmlischen Transzendenz belassen, und der davidische Messiaskönig übt seine Herrschaft als von Gott autorisierter irdischer Vasallenkönig aus: κύριος αὐτὸς βασιλεὺς αὐτοῦ („Der Herr selbst ist sein König“; 17,34), und: κύριος αὐτὸς βασιλεὺς ἡμῶν εἰς τὸν αἰῶνα καὶ ἔτι („Der Herr selbst ist unser König für immer und ewig“; 17,46).37 – Für alle anderen Texte gilt, dass dort, wo mit Gottes escha91,13; Jub 1,28; OrSib 3,806f; 5,492–503; TgJes 24,23; 31,4; TgMi 4,7; s. auch TestDan 5,13. Möglicherweise ist dieses Element auch in Dan 2 greifbar, wenn mit dem „großen Felsen“, der das Standbild zerstört (V. 34) und dann zu einem großen Berg wird, der die gesamte Erde erfüllt (V. 35), und danach mit Gottes universaler Herrschaft identifiziert wird (V. 44), in Anknüpfung an Jerusalemer Kulttraditionen der Tempelberg gemeint sein sollte (vgl. O. H. STECK, Weltgeschehen und Gottesvolk im Buche Daniel, in: Kirche. FS Günther Bornkamm, Tübingen 1980, 53–78, hier 61 Anm. 33). 33 Vgl. auch C. THOMA, Die gegenwärtige und kommende Herrschaft Gottes als fundamentales jüdisches Anliegen im Zeitalter Jesu, in: ders. (Hg.), Zukunft in der Gegenwart, Bern / Frankfurt a.M. 1976, 57–77, hier 68f; ZENGER, Herrschaft Gottes (s. Anm. 12), 187,1ff. 34 G. KLEIN, „Reich Gottes“ als biblischer Zentralbegriff, EvTh 30 (1970) 642–670, hier 651 Anm. 37. 35 Vgl. z.B. Dan 3,32f, 4,31–34; 6,27f; 2.Makk 5,35; PsSa1 2,28–32. 36 PH. VIELHAUER, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu (1957), in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament (TB 31), München 1965, 55–91, hier 80. 37 Gegenüber der aggressiven Kritik von M. HENGEL und A. M. SCHWEMER, Vorwort, in: Königsherrschaft Gottes (s. Anm. 4), 1–19, hier 8 („eklatante[s] Fehlurteil“) hat Vielhauer

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tischem Herrschaftsantritt in Zion-Jerusalem gerechnet wird, die Hoffnung auf das Heilshandeln eines messianischen Mittlers keine Rolle spielt.38 Auch der Menschensohn von Dan 7, dem dort nach V. 14 „Macht, Würde und Herrschaft“ verliehen wird, so dass „ihm alle Völker, Nationen und Sprachen dienen müssen“, kann diese Rolle nicht übernehmen. Denn er fungiert hier nicht anders als Michael in AssMos 10,2; 1QM 17,6–8 und Melchisedek in 11QMeIch 3,II,12ff als Völkerengel Israels39, d.h. als Israels himmlischer Repräsentant. Geschildert wird dementsprechend jeweils ein himmlisches Geschehen, das nach dem Grundsatz der Ergehensentsprechung den korrespondierenden irdischen Vollzug, d.h. die Einsetzung des Gottesvolkes in den ihm zukommenden Heilsstatus, notwendig nach sich zieht. Das alles ist natürlich nicht weiter überraschend, denn oben konnte als für das Heilskonzept der Königsherrschaft Gottes charakteristisch erwiesen werden, dass für die Erwartung der Gottesherrschaft die Erwartung des Kommens und der unmittelbaren Präsenz Gottes selbst konstitutiv war.40 4. Daneben gibt es aber auch noch eine ganz andere Redeweise von Gottes königlicher Herrschaft: Wir hatten gesehen, dass auf Grund der Unheilserfahrung Israels die heilvolle irdische Realität der universalen Herrschaft Gottes von seinem Volk nicht mehr wahrgenommen werden konnte. Dies hatte zur Folge, dass man die Einheit von irdischer und himmlischer Wirklichkeit der Gottesherrschaft als auseinandergebrochen ansah und ihre Wiederherstellung von der Zukunft erhoffte. Die Heilserwartung richtete sich dementsprechend darauf, dass Gottes Herrschaft aus ihrer gegenwärtigen himmlischen Verborgenheit heraustreten und ihren universalen Anspruch darin auch wieder zum Heil Israels in eine irdisch wahrnehmbare Realität transformieren werde. jedenfalls den Textbefund auf seiner Seite. Zufolge 11QMelch 3, II, 12ff ist der Sieg Melchisedeks über „Belial und die Geister seines Loses“ zunächst ein rein himmlisches Geschehen, und der mit dem Geistgesalbten von Jes 61,1 identifizierte Freudenbote von Jes 52,7 wird in Zl. 18ff jedenfalls nicht auf Melchisedek gedeutet, sondern gilt als eine „prophetische Gestalt“ (O. HOFIUS, Ist Jesus der Messias? Thesen, JBTh 8 [1993] 103–129, hier 113), der die Trauernden dadurch tröstet, dass er sie „über alle Enden der Zeit belehrt“ (Zl. 20; s. auch P. J. KOBELSKI, Melchizedek und Melchireša‘ [CBQ.MS 10], Washington, DC 1981, 61f). 38 Vgl. im übrigen auch W. BOUSSET / H. GRESSMANN, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter (HNT 21), Tübingen 41966, 222; K. G. KUHN, Art. βασιλεύς κτλ. C., ThWNT 1 (1933) 570–573, hier 573; J. MAIER, Zwischen den Testamenten, Würzburg 1990, 209f. 39 Vgl. U. B. MÜLLER, Messias und Menschensohn in jüdischen Apokalypsen und in der Offenbarung des Johannes (StNT 6), Gütersloh 1972, 28ff; K. MÜLLER, Der Menschensohn im Danielzyklus, in: Jesus und der Menschensohn. FS Anton Vögtle, Freiburg u.a. 1975, 37– 80, hier 68. 40 S.o. S. 15f.

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Komplementär zu der oben vorgestellten Hoffnung auf die zukünftige irdische Durchsetzung der Königsherrschaft gibt es nun auch noch eine schmale Schicht von Texten, in denen die Gottesherrschaft als gegenwärtige himmlische Größe zum Thema gemacht wird. Hier spielt das Gegenüber von Israel und den Heiden bezeichnenderweise keinerlei Rolle; wichtigstes Thema ist vielmehr die Frage, wie man Zugang zu Gottes himmlischem Königtum gewinnt, das auf der Linie von Jes 6,1ff als durch den Hofstaat der Engel gebildet angesehen wurde41: Vorbehalten ist er allein auserwählten Einzelnen, und zwar ausschließlich den Gerechten und den Reinen. Zwei Texte scheinbar ganz unterschiedlicher Provenienz mögen dies illustrieren: Zufolge griechBar 11, welches Kapitel für christlich zu halten es keinen Grund gibt, wird der Visionär von einem Engel in den fünften Himmel geführt, dessen Tor aber verschlossen ist. Daraufhin wird ihm von seinem Begleiter die Auskunft zuteil: „Wir können nicht hineingehen (εἰσέρχεσθαι), bevor Michael, der Türhüter der βασιλεία τῶν οὐρανῶν kommt. Aber warte ab, so wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen“ (V. 2). Wenig später empfängt der Erzengel die beiden und spricht zum Führer des Visionärs: „Sei ... gegrüßt, unser Bruder, der du die Offenbarung denen enthüllst, die das Leben gut führen“ (V. 7). – Ganz analog wird in SapSal 10,10 Jakobs Traum von der Himmelsleiter (Gen 28,12–15) gedeutet: „Den Gerechten, der vor dem Zorn des Bruders auf der Flucht war, führte sie (die Weisheit) auf geraden Wegen. Sie zeigte ihm die βασιλεία θεοῦ und gab ihm die Erkenntnis der Heiligen (d.h. der Engel, M.W.).“42 Ganz massiv ist dieses Bild vom himmlischen Königtum Gottes auch in den Qumrantexten belegt: Wegen der Verunreinigung des Jerusalemer Tempels war es in den Augen der Qumrangemeinde unmöglich geworden, Gottes Königsherrschaft im dortigen Kult irdisch zu vergegenwärtigen. An dessen Stelle steht nun die essenische Gemeinde, die zusammen mit den Engeln den himmlischen Gottesdienst im „Palast des Königtums“ (1QSb 4,25f) feiert.43 Greifbar wird dies vor allem in den bereits eingangs erwähnten Sabbat-Liturgien, in denen von der Gottesherrschaft in einer Dichte die Rede ist, wie wir sie sonst nirgendwo finden. In ihrem Mittelpunkt steht der feierliche Lobpreis der königlichen Herrschaft Gottes, vor dem sich die priesterliche Festgemeinde mit den Engeln zusammenfindet.44

41 S. auch 1.Kön 22,19 sowie die Darstellung in 4Q405 23, II, 8–11: „In the midst of the glorious appearance of scarlet, the colors of most holy spiritual light, they stand firm in their holy station before the [K]ing, spirits and garments of [purest] color in the midst of the appearance of whiteness. And this glorious spiritual substance is like fine gold work, shedding [lig]ht. And all their crafted (garments) are purely blended, an artistry of woven work. These are the chiefs of those wondrously arrayed for service, the chiefs of the realm of the holy ones of the King of holiness in all the heights of the sanctuaries of His glorious kingdom“ (Übers. NEWSOM, Songs of the Sabbath Sacrifice [s. Anm. 4], 333f). 42 Gottes himmlisches Königtum ist im Kontext von Visionsschilderungen auch dort im Blick, wo der Aufstieg des Visionärs als Annäherung an Gottes Thron beschrieben wird (vgl. u.a. 1.Kön 22,19; Ez 1,26; TestLevi 5,1; äthHen 14,18; slawHen 20–22; Apk 4,1ff). 43 Vgl. dazu mit weiteren Texten H.-W. KUHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil (StUNT 4), Göttingen 1966, 66ff; H. LICHTENBERGER, Studien zum Menschenbild in den Qumrantexten (StUNT 15), Göttingen 1980, 224ff. 44 In einer weiteren Untersuchung hatte C. NEWSOM („Sectually Explicit“ Literature from Qumran, in: The Hebrew Bible and Its Interpreters, ed. W. H. Propp / B. Halpern / D.

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III 1. Mit dem nächsten Schritt nehmen wir in den Blick, wie Jesus von Nazareth mit diesem Heilskonzept umgeht. Aus den vorhin dargelegten Gründen müssen wir zunächst die kontinuitätsstiftenden Elemente in den Vordergrund stellen. Dabei ist nicht nur nicht zu übersehen, sondern geradezu mit den Händen zu greifen, dass das semantische Profil der Botschaft Jesu von der andringenden Gottesherrschaft fest in jener durch Deuterojesaja inaugurierten eschatologischen Sprachtradition verankert ist, die die universale Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes als Durchsetzung von Gottes Heilswillen gegenüber Israel zum Ausdruck brachte und dabei erwartete, dass Gottes universale Machtergreifung Israel aus seinem gegenwärtigen Unheilsstatus in einen Heilsstatus versetzt. Erkennbar wird dies z.B. in den drei ursprünglichen Seligpreisungen von Lk 6,20b.21, in denen mit den „Armen“, die „hungern“ und „weinen“, das „in seiner Gesamtheit ... in Heillosigkeit und Not verstrickte Volk Gottes“45 angesprochen ist, dem das Heil der Gottesherrschaft bedingungslos zugesprochen wird. Auf derselben Linie liegt auch Jesu Hinwendung zu den Zöllnern und Sündern wie den Kranken und Besessenen als den Repräsentanten von Israels augenblicklicher Unheilslage. Und dass es Jesus bei alledem um die Sammlung46 ganz Israels und seine eschatische Neukonstituierung als Heilsvolk ging, zeigt schließlich auch die Symbolhandlung der Einsetzung des Zwölferkreises (Mk 3,14) als Repräsentanten des endzeitlichen Gottesvolkes. Auch dass Jesus am Ende seines Wirkens nach Jerusalem zog und die dortige Tempelaktion (Mk 11,15–16) lassen sich mit der jüdischen Erwartung in Einklang bringen, dass die Theophanie, die die universale Etablierung der eschatischen Gottesherrschaft einleitet, eben dort stattfindet und

N. Freedman, Winona Lake 1990, 167–187, hier 179–185) die These vertreten, dass die Sabbat-Liturgien außerhalb der Gemeinschaft von Qumran entstanden und von dieser nur zu liturgischem Gebrauch übernommen worden seien (ebd. 18 Anm. 7). Diese Annahme, die allgemeine Akzeptanz gefunden hat, wird inzwischen jedoch mit respektablen Gründen in Zweifel gezogen; vgl. H. W. M. RIETZ, Identifying Compositions and Traditions of the Qumran Community: The Songs of the Sabbath Sacrifice as a Test Case, in: Qumran Studies. New Approaches, New Questions, ed. M. Th. Davies / B. A. Strawn, Grand Rapids 2007, 29– 52; B. A. STRAWN / H. W. M. RIETZ, (More) Sectarian Terminology in the Songs of the Sabbath Sacrifice: The Case of $rd ymymt, in: ebd. 53–64. 45 J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament (NTD.E 10), Göttingen 1993, 35; vgl. auch MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 6), 45ff. 46 Vgl. MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 6), 42 Anm. 18 mit weiterer Literatur; G. LOHFINK, Die Korrelation von Reich Gottes und Volk Gottes bei Jesus (1985), in: ders., Studien zum Neuen Testament (SBB 5), Stuttgart 1989, 77–90, hier 86ff; ROLOFF, Kirche (s. Anm. 45), 31ff.

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dass der Tempel die Residenz ist, von der aus Gott seine Herrschaft über die Erde ausüben wird. 2. Wenn wir weiter nach dem spezifischen Profil fragen, das Jesu Rückgriff auf das traditionelle Heilskonzept der Gottesherrschaft in seiner Besonderheit kennzeichnet und möglicherweise auch eine Diskontinuität markiert, stoßen wir oft auf den Hinweis, dass die traditionelle Opposition von Israel und den Heiden bei Jesus keine Rolle gespielt habe und die Gottesherrschaft dementsprechend auch nicht als Befreiung von heidnischer (resp. römischer) Fremdherrschaft verstanden sei.47 Letzteres trifft sicher zu, denn unsere Quellen lassen davon in der Tat nichts erkennen. Doch auch das stellt Jesu Reich-Gottes-Verkündigung noch nicht in eine Diskontinuität zum überkommenen Verständnis der Gottesherrschaft. Denn unsere Quellen lassen auch davon nichts erkennen, dass Jesus die Israelzentrik der Gottesherrschaft aufgegeben hätte; er hat sie vielmehr programmatisch zur Sprache gebracht. Denn insofern die eschatische Durchsetzung von Gottes Herrschaft immer als ein universales Geschehen erwartet wurde, haftet angesichts der exklusiven Hinwendung Jesu zu Israel die traditionelle Opposition von Israel und den Völkern notwendig auch an Jesu Reich-GottesVerkündigung und darf darum nicht leichthin eskamotiert werden. Hinzu kommt noch, dass es offenbar alles andere als schwer war, Jesus bei den Römern als einen politischen Aufrührer zu denunzieren, dessen Aktivitäten darauf ausgerichtet waren, das römische Imperium in Israel zu beseitigen. Jedenfalls bilden die in solchen Fällen vorgesehene Hinrichtung am Kreuz durch den römischen Statthalter und die Semantik des traditionellen Basileia-Konzepts einen kohärenten Zusammenhang.48 Wir müssen die Diskontinuität vielmehr an einem ganz anderen Punkt festmachen, und es gibt im Grunde genommen nur ein einziges, freilich fundamentales Unterscheidungsmerkmal, das alle anderen Besonderheiten der jesuanischen Basileia-Verkündigung determiniert: Entscheidend ist – und in dieser Hinsicht besteht ein sehr weitreichender Konsens – Jesu Auftreten als solches, d.h. sein Anspruch, authentischer Repräsentant der Herrschaft Gottes zu sein.49 Wir hatten vorhin gesehen, dass die endzeitliche Durchsetzung der Gottesherrschaft unmittelbar an die Präsenz Gottes selbst gebunden ist. Gott kommt und handelt in eigener Person. 47

Z.B. MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 6), 42f; ROLOFF, Kirche (s. Anm. 45), 33. Vgl. dazu R. A. HORSLEY, The Death of Jesus, in: Studying the Historical Jesus, ed. B. Chilton / C. A. Evans (NTTS 19), Leiden u.a. 1994, 395–422; P. EGGER, „Crucifixus sub Pontio Pilato“. Das „Crimen“ Jesu von Nazareth im Spannungsfeld römischer und jüdischer Verwaltungs- und Rechtsstrukturen (NTA.NF 32), Münster 1997; W. REINBOLD, Der Prozess Jesu (BTSP 28), Göttingen 2006. 49 Vgl. z.B. MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 6), 63ff. 48

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Demgegenüber nimmt Jesus für sich in Anspruch, nicht nur der Prophet der andringenden Gottesherrschaft zu sein, sondern er identifiziert auch sein eigenes Wirken als Bestandteil ihrer irdischen Durchsetzung. Damit kehrt sich die semantische Determinationsrelation um: „Reich Gottes“ wird zum Bestimmungsbegriff (englisch: comment), und das Extensional, auf das er verweist, ist nichts anderes als das Wirken Jesu. Als Beleg dafür taugt Lk 11,20 par. Mt 12,28: Wenn Jesus dort von sich sagt, „Wenn ich mit dem Finger/Geist Gottes die Dämonen austreibe, ist die Gottesherrschaft schon bei euch angelangt“, so beansprucht er mit dieser Feststellung nicht weniger, als dass in seinem eigenen Wirken die Einheit von himmlischer und irdischer Wirklichkeit der Gottesherrschaft wiederhergestellt und wahrnehmbar ist. Die Bedeutung dieser Aussage wird vor allem darin erkennbar, dass sowohl der griechische Ausdruck ἔφθασεν ἐπί wie auch das ihm wohl zugrundeliegende aramäische Äquivalent l[ ajm – das lässt der außerneutestamentliche Sprachgebrauch klar erkennen – einen räumlichen Vorgang beschreiben50: Es geht darum, dass eine im Himmel bereits bestehende Wirklichkeit in den Exorzismen Jesu irdische Realität gewinnt – also gewissermaßen vom Himmel auf die Erde herunterkommt.51 Ihr Inhalt liegt ganz auf der Linie der analog formulierten Aussagen von TestLevi 6,11; TestAbrA 1,3; Dan 4,24.28Theod.; 1.Thess 2,16 (ἔφθασεν ἐπί + Akk. der Person)52: In allen Texten geht es darum, dass eine im Himmel bestehende Realität in irdisches Geschehen überführt wird. Die Formulierung beschreibt eine Bewegung von oben nach unten. Jesus behauptet mit dieser Aussage also nicht in erster Linie die Gegenwärtigkeit des Zukünftigen, sondern die irdische Präsenz des Himmlischen.

50 Vgl. auch den Gebrauch von φθάνειν ἐπί + Akk. bei Plutarch, Caes. 18,2; Mor. 988c; Philo, Opif. 5.8; Mut. Nom. 179; Vit. Cont. 90; Flacc. 1; Josephus, Bell. 1,121; TestNaph 6,9. 51 Vgl. die analogen Formulierungen in Dan 4,24.28Theod.; TestLev 6,11; TestAbrA 1,3; 1.Thess 2,16. – So auch schon J. WEISS, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 3 1964, 71. 52 TestLevi 6,11 (ἔφθασε δὲ ἡ ὀργὴ κυρίου ἐπ’ αὐτοὺς εἰς τέλος [„es kam auf sie der Zorn des Herrn bis zum Ende“]; s. auch 1.Thess 2,16) resümiert den Vollzug des Urteils Gottes über Sichem (6,8), zu dem Levi zuvor durch einen Engel beauftragt wurde (5,3). – TestAbr A 1,3 (ἔφθασε καὶ ἐπὶ τοῦτον [sc. Abraham] τὸ ... τοῦ θανάτου πικρὸν ποτήριον [„es kam auch über diesen der ... bittere Becher des Todes“]) gehört zur Einleitung des Erzählers, der in V. 4 fortfährt: „Gott, der Herrscher, rief nun seinen Erzengel Michael zu sich und sagte zu ihm: ‚Geh hinab ... zu Abraham und sage ihm vom Tod‘.“ Der Tod kommt also vom Himmel her über Abraham (s. auch ebd. 16,1ff). – In Dan 4,24Theod. (σύγκριμα ὑψίστου ἐστίν ὃ ἔφθασεν ἐπὶ ... τὸν βασιλέα [„es ist das Urteil des Höchsten, das über ... den König gekommen ist“]) leitet die Formulierung die Deutung desjenigen Teiles von Nebukadnezars Traum ein, der die Darstellung von Gottes Strafhandeln an diesem zum Inhalt hat. 4,28Theod. (ταῦτα πάντα ἔφθασεν ἐπὶ Nebukadnezar, den König) eröffnet dann als Überschrift die Darstellung der Transformation des visionär Geschauten in irdische Realität.

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Gegenüber der eingangs angesprochen Verwendung des Reich-GottesBegriffs im Votum des Theologischen Ausschusses der EKU geht der Verweisungsbezug bei Jesus damit genau in die entgegengesetzte Richtung: Dadurch, dass Jesus den Reich-Gottes-Begriff zum Bestimmungsbegriff für sein eigenes Wirken macht, greift er auf das semantische Profil der jüdischen Reich-Gottes-Erwartung zurück, um die Eigenart seines Wirkens zu erklären. Inhaltlich bedeutet die in Lk 11,20 par. Mt 12,28 überlieferte Auskunft Jesu nun aber nichts anderes, als dass er für sich selbst etwas reklamiert, was der frühjüdischen Basileia-Erwartung schlechterdings fremd ist. Genau an dieser Stelle haben wir darum eine semantische Innovation der traditionellen Vorstellung, deren Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Sie steht in schroffer Spannung zur frühjüdischen Erwartung, dass allein Gott es ist, der seine universale Königsherrschaft durchsetzen wird. Jesus deutet sich und sein Wirken damit nicht lediglich als auf das noch ausstehende Kommen der Gottesherrschaft hingeordnet, sondern als authentische Repräsentation der erwarteten heilvollen Anwesenheit Gottes in Israel. Vor dem Hintergrund, dass die Erwartung der eschatischen Durchsetzung der Gottesherrschaft untrennbar mit der Vorstellung verbunden war, dass Gott selbst und Gott allein es sein wird, der mit einer den gesamten Erdkreis erschütternden Theophanie in Jerusalem seine universale Herrschaft durchsetzen wird, wird sofort deutlich, worin die semantische Innovation der jüdischen Reich-Gottes-Erwartung besteht, die Jesus hier vornimmt: Er erhebt den Anspruch, eine Hoffnung zu erfüllen, die sich in exklusiver Weise auf Gott selbst richtete. In dieselbe Richtung weist auch das aus der Logienquelle stammende Wort Lk 7,22 par. Mt 11,5, mit dem Jesus sein Wirken als Erfüllung prophetischer Heilsverheißungen deutet („Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, und Taube hören, Tote werden auferweckt, Arme bekommen frohe Botschaft verkündet“): Dieser Text besteht aus Anspielungen auf eine Reihe von Jesaja-Texten (Jes 26,19; 29,18; 35,5f; 42,7.18; 61,1). Ihnen ist gemeinsam, dass sie das eschatische Heilshandeln Gottes an seinem Volk beschreiben bzw. als Metaphern für die durch Gott herbeigeführte Umkehr von Israels Unheil in Heil fungieren.53 Die Pointe dieses Wortes liegt dem53 Eine ähnliche katalogartige Verdichtung gibt es auch in 4Q521,2 II,4–13, wo ebenfalls das Heilshandeln Gottes beschrieben wird: „... dass Er ... Gebundene löst, blinde (Augen) öffnet, G[ebeugte] aufrichtet. ... Dann heilt Er Durchbohrte, und Tote belebt Er. Armen verkündigt Er (Gutes), und [Niedrig]e (?) wird er sät[tigen, Ve]rlassene (?) wird Er leiten und Hungernde rei[ch machen(?)]“ (Übers. J. MAIER, Die Qumran-Essener II, München/Basel 1995, 684); s. auch mit zusätzlicher Literatur: H. KVALBEIN, Die Wunder der Endzeit, ZNW 88 (1997) 111–125; K.-W. NIEBUHR, Die Werke des eschatologischen Freudenboten, in: The Scriptures in the Gospels, ed. C. M. Tuckett (BEThL 131), Leuven 1997, 637–646.

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entsprechend darin, dass Jesus diese Texte auf sein Wirken in Israel bezieht: Was Israel auf Grund der prophetischen Verheißungen durch Gottes Handeln erwartete, wird durch Jesu Handeln verwirklicht. Michael Welker hat mehrfach von der „Unscheinbarkeit“ des Reiches Gottes gesprochen54, und diese Charakterisierung trifft in der Tat sehr präzise das besondere Merkmal der jesuanischen Rede von der Gottesherrschaft: Gegenüber der überkommenen Vorstellung, die das eschatische Kommen des Reiches Gottes als ein Theophaniegeschehen von universalen, ja kosmischen Dimensionen erwartete55, musste der Anspruch eines galiläischen Wanderpredigers, dass sich dieses Kommen in ein paar von ihm vollbrachten Heilungen und Exorzismen ereignet, hoffnungslos defizitär bleiben. – Dieser Spannung wollen wir nun im Folgenden nachgehen. 3. Jesu Anspruch, dass in seinem Wirken das Heil der Gottesherrschaft Wirklichkeit geworden sei, bedeutet zunächst nicht, dass die jesuanische Basileia-Verkündigung auch in der Hinsicht in Diskontinuität zur traditionellen Reich-Gottes-Erwartung trat, dass Jesus nun nicht mehr mit einer Endtheophanie rechnete. Dem widersprechen nicht nur sein Zug nach Jerusalem und die Tempelaktion56, sondern vor allem die Reich-Gottes-Gleichnisse im Markusevangelium und in der Logienquelle, denn gerade ihnen kommt die Aufgabe zu, die Spannung zwischen Jesu eigenem Anspruch und dem Inhalt der überkommenen Reich-Gottes-Erwartung zu bearbeiten. Charakteristisch für diese Gleichnisse ist, dass sie den Bezug auf das Reich Gottes als den zu erklärenden Gegenstandsbegriff gewissermaßen im Titel tragen und dass dieser Bezug mit guten Gründen als authentisch gelten kann. Im Einzelnen geht es um die Gleichnisse von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29), vom Senfkorn (Mk 4,30–32 par. Lk 13,18f; Mt 13,31f) und vom Sauerteig (Lk 13,20f par. Mt 13,33).57 Gegenüber den frühjüdischen Texten auffällig ist allein schon, dass Jesus überhaupt von der Gottesherrschaft in der Form der metaphorischen Rede spricht, deren Intention darin besteht, eine Prädikation vorzunehmen, die mit eigentlicher Rede nicht aussagbar ist. Schon dieser Sachverhalt zeigt an, dass Jesus ein Wissen von der Gottesherrschaft voraussetzt – das ist die Vorbedingung einer jeden, d.h. auch der metaphorischen Prädikation 58 – und dass er ein neues Verständnis erschließen will, das in semantischer Spannung zu diesem Wissen steht und dessen Richtungssinn sich ohne Mühe von der oben skizzierten Diskontinuität her bestimmen lässt: 54

WELKER, Reich Gottes (s. Anm. 9), 510 u.ö. S.o. S. 13f. 56 S.o. S. 20. 57 Zum Folgenden vgl. auch u. S. 76ff. 58 Vgl. KOLLER, Semiotik (s. Anm. 3), 166ff. 55

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Jesu Anspruch, irdischer Repräsentant der Gottesherrschaft zu sein, steht in Spannung zur „usuellen Bedeutungsstruktur“59 dieses Heilskonzepts, und es ist exakt diese Spannung, die nicht nur als Kontext jener Gleichnisse zu veranschlagen ist, sondern auch in der erzählungsimmanenten Spannung abgebildet wird: Die drei von Jesus erzählten Vorgänge, die den Zusammenhang zwischen Anfang und Ende veranschaulichen, durch den auch der Kontrast zwischen Klein und Groß umschlossen ist, dienen dazu, Jesu punktuelles Wirken als integralen Bestandteil der eschatischen Durchsetzung von Gottes universaler Herrschaft verständlich zu machen und so die semantische Spannung zwischen der traditionellen Basileia-Erwartung und seinem eigenen Anspruch auszugleichen. In diesen Gleichnissen geht es gerade darum, die Unscheinbarkeit des im Wirken Jesu präsenten Gottesreiches – sie wird durch die Kleinheit des Senfkorns (Mk 4,31 parr.) und durch die in der Relation geringe Menge des Sauerteigs (Lk 13,21 par.) in eindeutiger Weise metaphorisch prädiziert – in einen unauflösbaren Zusammenhang mit der noch ausstehenden universalen Durchsetzung von Gottes Herrschaft zu stellen.60 Im Blick auf sie wird in diesen Gleichnissen also geradezu programmatisch zur Sprache gebracht, dass das unverwechselbare Kennzeichen der in Jesu Wirken bereits präsenten und erfahrbaren Wirklichkeit der Gottesherrschaft gerade ihre Unscheinbarkeit ist, die darum auf die eschatische Vollendung durch Gott selbst angewiesen bleibt. 4. Dieser Zusammenhang von Jesu Handeln in der Gegenwart und Gottes Handeln in der Zukunft kann darüber hinaus auch die seit nunmehr mehr als 100 Jahren diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu61 einer plausiblen Antwort zuführen: Als eine bereits in der Gegenwart erfahrbare Wirklichkeit ist das Reich Gottes in der Unscheinbarkeit des Wirkens Jesu punktuell präsent. Was aber noch aussteht und einer zukünftigen Realisierung vorbehalten bleibt, ist die Endtheophanie Gottes in Zion-Jerusalem, die die Durchsetzung seiner Herrschaft in einem universalen Maßstab mit sich bringen wird. Es ist darum auch allererst der Repräsentanzanspruch Jesu im Blick auf die Gottesherrschaft, der dann nicht nur die Autorität seiner ethischen 59

KOLLER, ebd. 168. Im Senfkorngleichnis kommt diese Intention vor allen Dingen darin zum Ausdruck, dass Jesus es wider jede botanische Realität zu einem „Baum“ mit „Ästen“ werden lässt, in dem „die Vögel des Himmels wohnen“ (Lk 13,19 par. Mt 13,32; Mk 4,32), und damit auf die in Ps 104,12 und in anderen alttestamentlichen Texten überlieferte Weltenbaumsymbolik zurückgreift (vgl. dazu M. WOLTER, Das Lukasevangelium [HNT 5], Tübingen 2008, 486f). 61 Vgl. dazu den Überblick bei H. MERKEL, Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu, in: Königsherrschaft Gottes (s. Anm. 4), 119–161. 60

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Weisung begründet, sondern es den Adressaten seiner Botschaft überhaupt möglich macht, auf das endzeitliche Heilshandeln Gottes an Israel in angemessener Weise ethisch zu reagieren. Und nicht anders ist es auch erst dieser Anspruch, der den besonderen Charakter der Umkehrforderung Jesu in angemessener Weise verstehen lehrt. Die beiden Gleichnisse vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle (Mt 13,44f.46), die zur Preisgabe des gesamten Besitzes auffordern, legen dafür das deutlichste Zeugnis ab. Und wenn Jesus in Lk 10,12.13–15 par. Mt 11,21–24 über Chorazin, Bethsaida und Kapernaum das Gericht ankündigt, so geschieht dies deshalb, weil sich die Bewohner dieser Städte wie auch „dieses Geschlecht“ (Lk 11,32 par. Mt 12,41) geweigert haben, sein Wirken als den eschatischen Einbruch der Gottesherrschaft in die Unheilswirklichkeit Israels anzuerkennen.62

IV 1. Wenn wir uns nun auf die literarische Interpretationsebene begeben und danach fragen, wie die Autoren der neutestamentlichen Schriften mit dem Thema der Gottesherrschaft umgehen, ergibt sich ein aufschlussreicher Gesamteindruck: Die aus ganz unterschiedlichen Überlieferungsbereichen stammenden Texte, die vom Eingehen in das Reich Gottes sprechen63, finden ihre semantische Kohärenz darin, dass sie die βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht als eine universale, sondern als eine partikulare Größe explizieren, die nicht von Gott, sondern vom Menschen her entfaltet wird. Sie gilt als Heilsraum, in den man „hineingehen“ (εἰσέρχεσθαι)64 bzw. in den Gott „rufen“ (καλεῖν; 1.Thess 2,12) kann, als Heilsgut, das man „erben“ (κληρονομεῖν)65, „sehen“ (ἰδεῖν; Lk 9,27; Joh 3,3; vgl. SapSal 10,1066) oder dessen man „gewürdigt werden“ (καταξιοῦσθαι; 2.Thess 1,5) kann – oder eben auch nicht. Dem entspricht: Das Hineingehen in den Heilsraum bzw. die Teilhabe am Heilsgut der βασιλεία τοῦ θεοῦ wird an die Erfüllung von besonderen Bedingungen geknüpft: Wer nicht Gottes Willen tut (Mt 7,21), wer nicht „von oben“, d.h. „aus Wasser und Geist geboren wird“ (Joh 3,3.5), wer nicht „größere Gerechtigkeit“ als Pharisäer und Schriftgelehrte hat (Mt 5,20), bleibt ebenso

62

S. dazu o. S. 20. Zu ihnen vgl. mittlerweile außer F. W. HORN, Die synoptischen Einlaßsprüche, ZNW 87 (1996) 187–203, vor allem M. BOHLEN, Die Einlasssprüche in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, ZNW 99 (2008) 167–184. 64 Mt 5,20; 7,21; 23,13; Mk 9,47 (diff. Mt 18,9; εἰς τὴν ζωήν); 10,15par.; 10,23–25par.; Joh 3,5; Apg 14,22; s. auch Mt 21,31; Lk 16,16; 2.Tim 4,18. 65 1.Kor 6,9.10; 15,50; Gal 5,21; Eph 5,5; Jak 2,5; s. auch Mt 25,34. 66 S.o. S. 19. 63

1. „Was heisset nu Gottes reich?“

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draußen, wie Ehebrechern, Giftmischern, Säufern etc. die Erbschaft des Gottesreiches vorenthalten wird (1.Kor 6,9f). Der Unterschied zur Konzeption der jüdischen Texte, die von der eschatischen Durchsetzung der universalen Gottesherrschaft sprechen, ist offenkundig. Es ist dabei auch nicht zu übersehen, dass dieser Sprachgebrauch traditionsgeschichtliche Entsprechungen zu jener schmalen Schicht jüdischer Texte aufweist, die die Basileia als einen transzendenten Heilsraum verstehen, in den nur einzelne Auserwählte und Gerechte Zugang haben.67 Darüber hinaus ist für diese wie für jene Texte charakteristisch, dass in ihnen auch das Gegenüber von Israel und den Heiden im Kontext der Basileia keine Rolle mehr spielt. An seiner Stelle werden vielmehr neue Kriterien ausdifferenziert, die sich am Verhalten des Einzelnen orientieren. 2. Der Grund für diese auffällige Verschiebung zwischen der Reich-GottesVerkündigung Jesu und ihrer Rezeption in den Schriften des Neuen Testaments ist offenkundig: Als für diese Verschiebung im Reden von der Basileia maßgeblicher historischer Kontext zu veranschlagen ist der christlichjüdische Trennungsprozess. Dieser Vorgang fand sein Widerlager in einem Heilsuniversalismus, in dessen Zentrum nun nicht mehr Israel stand, sondern der „für alle“ gestorbene (2.Kor 5,14f) und auferstandene Gottessohn und Kyrios Jesus Christus, durch den Gott „allen“, d.h. Juden und Heiden gleichermaßen und das auf Grund ihrer πίστις Χριστοῦ, den Weg zum Heil eröffnet hat (vgl. Röm 1,16–17; 3,27–30; 10,11–13). Dass damit zugleich auch die Orientierung der traditionellen Basileia-Erwartung an Israel aufgebrochen wurde, liegt auf der Hand. Aus diesem Grunde ist es auch nur konsequent, dass die βασιλεία τοῦ θεοῦ innerhalb der paulinischen Theologie mit deren, den Unterschied zwischen Juden und Heiden einebnenden Universalismus nur mehr marginale Bedeutung als „Randbegriff“68 erhielt und vorwiegend in paränetischen Kontexten begegnet.69 Nicht prinzipiell anders gelagert ist auch die johanneische Reduktion des Gottesreiches auf einen nur im Wege der Taufe zugänglichen himmlischen Heilsbereich (Joh 3,3.5) bzw. seine Explikation als Christusreich, dessen Wesen darin besteht, dass es nicht ἐκ τοῦ κόσμου τούτου ist (18,36): Beides lässt sich plausibel machen als integraler Bestandteil eines sich im Gefolge des Ausschlusses der johanneischen Gemeinde aus der Synagoge (vgl. Joh 9,22; 12,42; 16,2) vollziehenden Bruchs „mit den traditionellen ‚theokra-

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S.o. S. 18ff. U. LUZ, Art. βασιλεία, EWNT 1 (1980) 481–491, hier 490. 69 Vgl. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer III (EKK 6/3), Zürich u.a. / NeukirchenVluyn 1982, 93; s. auch G. HAUFE, Reich Gottes bei Paulus und in der Jesustradition, NTS 31 (1985) 467–472. 68

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tischen‘ Idealen des Judentums“70, wie sie eben an der frühjüdischen ReichGottes-Erwartung mit ihren semantischen Konnotationen hafteten. 3. Diese semantische Ablösung des Heilskonzepts der Gottesherrschaft von seiner ursprünglichen Orientierung an Israel hat in der neutestamentlichen Überlieferung nun aber auch unmittelbare Spuren hinterlassen. Zwei von ihnen möchte ich an dieser Stelle71 exemplarisch vorstellen: Das Logion von Mt 8,11f („viele werden von Osten und Westen kommen und sich mit Abraham, Isaak und Jakob im Reich Gottes zu Tisch legen; die Söhne der βασιλεία aber werden hinausgeworfen“) reflektiert das Geschick der nachösterlichen Israelmissionare72, insofern die von ihnen erfahrene Ablehnung eine nun nicht mehr nur bedingte Ankündigung des Gerichts über Israel evozierte. Das Logion ist darum nicht nur ein typischer Bestandteil jener Gerichtsbotschaft, sondern es knüpft auch direkt an die BasileiaErwartung Israels an: Zu ihr gehören das Motiv der Völkerwallfahrt (V. 11) und die Feststellung der besonderen Affinität Israels zur Gottesherrschaft („die Söhne der βασιλεία“; V. 1273). Das „schockierende Novum“74 besteht nun aber darin, dass beides umgedreht und gegen Israel gewendet wird: Die Bindung der Gottesherrschaft an Israel wird ausdrücklich suspendiert, und die Heiden kommen nicht zu Israel hinzu, sondern sie verdrängen es und nehmen den Platz ein, der für Israel bestimmt war. Aufschlussreich ist auch, wie Matthäus mit diesem Logion umgeht: Er verbindet es mit der Erzählung vom Glauben des Hauptmanns von Kapernaum, eines Heiden also, und er benutzt es als eschatologisches Kommentarwort zur Feststellung von V. 10 („Bei niemandem in Israel habe ich einen solchen Glauben gefunden“ – zu ergänzen wäre: ‚wie eben bei diesem Heiden‘). Nun hat Jesus innerhalb der erzählten Welt des Matthäusevangeliums bis zu diesem Zeitpunkt aber noch keinerlei negative Erfahrung mit Israel machen müssen, die ein solches Wort rechtfertigte, und darum lassen sich diese Verse nur von der besprochenen Welt des Evangelisten her recht verstehen: Mt reflektiert hier die konkrete Erfahrung seiner Gemeinde und 70 M. HENGEL, Reich Gottes und Weltreich im 4. Evangelium, ThBeitr 14 (1983) 201– 216, hier 214; s. auch C. K. BARRETT, Das Evangelium nach Johannes (KEK.S), Göttingen 1990, 229. 71 Zum lukanischen Umgang mit der Basileia-Verkündigung Jesu s.u. S. 290–310. 72 Zur nachösterlichen Herkunft dieses Logions vgl. D. ZELLER, Das Logion Mt 8,11f. / Lk 13,28f. und das Motiv der „Völkerwallfahrt“, BZ NF 15 (1971) 222–237; 16 (1972) 84– 93, hier 91 im Anschluss an E. KÄSEMANN, Die Anfänge christlicher Theologie (1960), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 31968, 82-104: 98; s. auch MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 6) 35 Anm. 37. 73 Möglicherweise stammt die Formulierung υἱοὶ τῆς βασιλείας auch nicht aus Q, sondern von Matthäus (vgl. Mt 13,38). 74 ZELLER, Logion (s. Anm. 72) 87.

1. „Was heisset nu Gottes reich?“

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trägt sie in seine Jesuserzählung ein. Dementsprechend sind nach 13,38 die „Söhne der Basileia“ in der Kirche zu finden, in die „alle Völker“ (28,19) eingeladen sind und der jetzt anstelle Israels die Option (mehr nicht!) auf die Basileia zukommt. Geradezu mit den Händen zu greifen ist dieser Vorgang in der Parabeltrilogie von Mt 21,28 – 22,1475: Matthäus stellt diese drei Parabeln zusammen, um eine heilsgeschichtliche Abfolge zu veranschaulichen: Zuerst kommt die Erzählung von den beiden ungleichen Söhnen (21,28–32) – Matthäus deutet sie auf die Reaktion Israels gegenüber Johannes dem Täufer. Dann kommt die Parabel von den bösen Winzern (21,33–46) – Matthäus deutet sie auf die Reaktion der Führer Israels76 gegenüber der Sendung Jesu. Zum Schluss kommt die Parabel von der königlichen Hochzeit (22,1–14) – Matthäus deutet sie auf die Reaktion Israels gegenüber der nachösterlichen Sendung der Boten. In allen drei Parabeln geht es um die Gottesherrschaft, und in ihnen allen ist das theologische Ziel gleich: (1) Zöllner und Huren werden den Hohenpriestern und Ältesten Israels „in die βασιλεία τοῦ θεοῦ vorangehen“ (21,31); (2) Die Basileia wird „ihnen“ (d.h. den Israel repräsentierenden Führern) „genommen und einem Volk gegeben, das ihre Früchte bringt“ (21,43); (3) Israel wurde zuerst in die Basileia eingeladen; weil es sich aber verweigerte, wird es durch neue Gäste ersetzt (22,9f). Alle drei Parabeln gehen von der ursprünglichen Affinität Israels zur Basileia aus, und alle drei enden damit, dass diese Bindung zerbricht und durch eine andere Bindung ersetzt wird.

V Der Prozess der Trennung von Christentum und Judentum77 brachte es mit sich, dass die traditionelle Reich-Gottes-Erwartung mit ihrem israelzentrischen Universalismus, wie sie auch im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu von Nazareth stand, neu interpretiert werden musste, wenn denn dieser Begriff beibehalten werden sollte.78 Dies hatte dann zur Konsequenz, dass der Begriff „Reich Gottes“ nicht mehr wie noch im Wirken Jesu von Nazareth als Bestimmungsbegriff mit eindeutigen semantischen Konnotationen 75

Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund und Kirche Christi (NTA 10), Münster 1974, 248f. Sie stehen Israel aber nicht gegenüber, sondern repräsentieren es; s. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III (EKK 1/3), Zürich und Düsseldorf / Neukirchen-Vluyn 1997, 225 zu Mt 21,43: „Der Gedanke an das ganze Volk Israel liegt aber nicht weit weg. ... Vor allem aber wird ihnen (sc. den Lesern, M.W.) auffallen, daß der Text den jüdischen Führern nicht andere, bessere Führer, sondern ein ἔθνος gegenüberstellt.“ 77 Vgl. dazu B. WANDER, Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentum und Judentum im 1. Jahrhundert n. Chr. (TANZ 16), Tübingen 1994. 78 S. dazu u. S. 310f. 76

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fungieren konnte, sondern zu einem Gegenstandsbegriff wurde, der seinerseits auf eine von außen kommende inhaltliche Näherbestimmung angewiesen war. Insofern haben wir bereits hier die entscheidende Weichenstellung für das vom Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union konstatierte „Lehrdefizit“, und sie markiert gleichzeitig ziemlich genau eine christlicherseits nicht mehr revidierbare Diskontinuität zur Basileia-Verkündigung Jesu von Nazareth. Trotzdem wäre es aber falsch, darüber die Kontinuität stiftenden Elemente unter den Tisch fallen zu lassen. Das christliche Osterbekenntnis ist sich nicht nur gewiss, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt und ihn in seine himmlische Herrlichkeit erhöht hat, sondern es impliziert auch, dass Gott dadurch auch die Verkündigung des Irdischen ins Recht gesetzt hat. Als Konsequenz für die christliche Rede vom Reich Gottes ergibt sich daraus – zunächst ganz allgemein gesagt –, dass die intensionale Bedeutung von „Reich Gottes“ christologisch zu konturieren ist. Wir können darum nur christozentrisch vom Reich Gottes reden, denn Gott hat dem Osterbekenntnis zufolge eben den von den Toten auferweckt und in die Rechtsstellung des Gottessohnes eingesetzt, der den Anspruch erhob, in seinem Auftreten die eschatische Heilswirklichkeit des Reiches Gottes authentisch zu repräsentieren. Dementsprechend gibt es eine ganz fundamentale Kontinuität zwischen der Verkündigung Jesu von Nazareth und der nachösterlichen christlichen Theologie. Diese Kontinuität ist überall dort greifbar, wo es nach Ostern zur Christusverkündigung kommt79, und es ist dementsprechend die Christologie, die diese Kontinuität markiert. Im Neuen Testament selbst hat Lukas diese „Determinationsrelation“80 am konzentriertesten formuliert, wenn er immer wieder sagt, dass „Christus verkündigen“ dasselbe ist wie „die Gottesherrschaft verkündigen“ (Apg 8,5.12; 28,23.31; s. auch 19,8.10; 20,21.25).81 Christliche Rede vom Reich Gottes findet ihre Unverwechselbarkeit aus diesem Grunde einzig und allein darin, dass sie von nichts anderem spricht als von Jesus Christus. Wo Martin Luther recht hat, hat er recht.

79

Vgl. KLEIN, „Reich Gottes“ (s. Anm. 34), 659ff. KOLLER, Semiotik (s. Anm. 3), 171. 81 S. dazu u. S. 290–310. 80

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer Semantische und pragmatische Beobachtungen Auch für die Frage nach dem historischen Jesus gilt, was Hans-Jürgen Goertz von der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen gesagt hat: Sie „hat keinen Gegenstand, sondern nur Probleme“1. In Bezug auf die Geschichtswissenschaft hat diese Feststellung ihren Grund darin, dass wir zu den sog. historischen Tatsachen keinen unmittelbaren Zugang haben, sondern immer nur einen solchen, der durch unsere eigene, vorauslaufende Konstruktion von Zusammenhängen und Bedeutungen vermittelt ist. Für unsere Rückfrage nach dem historischen Jesus verschärft sich dieses Problem noch einmal dadurch, dass der Zugang zum Gegenstand unserer Untersuchung durch Quellen – die Evangelien – vermittelt ist, die ebenfalls nichts anderes sind als Konstruktionen von geschichtlicher Wirklichkeit. Und dementsprechend hat auch der geschichtstheoretische Diskurs der letzten Jahre mit Recht herausgestellt, dass es keine Geschichtsschreibung ohne Fiktion gibt und dass jede Rekonstruktion vergangener Ereignisse immer auch Konstruktion ist.2 Verantwortlich für diesen Sachverhalt sind unter anderem die wissenschaftssprachlichen Begriffe, mit deren Hilfe wir unsere Quellen interpretieren. Diese Begriffe stellen bereits eine vorweggenommene Interpretation dar, denn die semantische Bestimmtheit, die ihrer Verwendung als analytische Kategorien zugrundeliegt, fungiert gewissermaßen als Filter, und zwar sowohl für unsere Wahrnehmung als auch für die Darstellung des Textbefundes. Die Begriffe erhalten ihre Bedeutung im Wege der Zuschreibung, und dieser Vorgang bestimmt darum auch ihre Ordnungsfunktion: 1

H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek bei Hamburg 1995, 95. 2 Vgl. dazu allgemein die Aufsatzsammlung von H. WHITE, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Typologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986 = 1991, sowie mit Bezug auf die Frage nach dem historischen Jesus J. SCHRÖTER, Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis (2001), in: ders., Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens (BThSt 47), Neukirchen-Vluyn 2002, 6–36.

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Sie geben die Kriterien vor, mit deren Hilfe Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt werden. Sie stellen Zusammenhänge her und ziehen dabei gleichzeitig Grenzen. Mit der Wahl der Kategorien, die wir für die Interpretation verwenden, und mit der Bedeutung, die wir ihnen zuschreiben, schaffen wir Sinnstrukturen, die unserer Wahrnehmung und Beschreibung der sogenannten Fakten immer schon vorausgehen. Daraus folgt, dass Begriffe Wirklichkeit nicht abbilden, sondern sie allererst herstellen, denn als sprachliche Zeichen haben sie keine andere Funktion, als jenen aus Bedeutungen zusammengesetzten Sinnzusammenhang zu konstruieren, den wir „Wirklichkeit“ zu nennen gewohnt sind. Selbstverständlich ist auch der historische Jesus, wie er in der wissenschaftlichen Jesusforschung dargestellt wird, nichts anderes als eine solche Konstruktion. Ihr Sinngefüge ist durch ein Inventar von interpretationssprachlichen Kategorien strukturiert, zu denen auch das Begriffspaar „Gericht und Heil“ bzw. „Heil und Gericht“ gehört.3 Sein Gebrauch in diesem Zusammenhang basiert auf der unausgesprochen vorausgesetzten Bedeutungszuschreibung, dass dieses Begriffspaar als antithetischer Dualismus zu verstehen ist. Diese semantische Binnenstruktur fungiert als Parameter, mit dessen Hilfe das Profil der eschatologischen Verkündigung Jesu beschrieben wird.4 Darüber hinaus geht mit der Verwendung dieses Begriffspaares als analytische Kategorie einher, dass sich mit ihm eine bestimmte Annahme in Bezug auf seinen pragmatischen Gebrauch verbindet. Im folgenden soll zunächst der Gebrauch des Gegenübers von „Gericht“ und „Heil“ innerhalb der Jesusforschung und der ihm zugrundeliegenden semantischen und pragmatischen Voraussetzungen problematisiert werden. Im Anschluss daran soll ein Weg skizziert werden, der vielleicht zu einem differenzierteren Verständnis der jesuanischen Gerichtsaussagen hinführen kann.

3 Vgl. bereits J. WEISS, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 21900, 113. – Dies hält sich bis in die neueren Jesusbücher hinein durch; vgl. z.B. G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart u.a. 81968, 85; J. GNILKA, Jesus von Nazaret (HThK.S 3), Freiburg u.a. 1990, 157; J. BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin / New York 1996, 59; G. THEISSEN / A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 241ff; R. HOPPE, Jesus. Von der Krippe an den Galgen, Stuttgart 1996, 35. 4 In diesem Sinne kann J. WEISS das Gegenüber von „Gericht“ und „Heil“ durch die semantische Antithese von „Gericht und Reichserrichtung“ ersetzen (Predigt [s. Anm. 3], 1 1892, 36 = 21900, 112); „Heil“ und „Reich Gottes“ gehören zusammen (ebd., 11892, 39 = 2 1900, 115), während „das Gericht ... hauptsächlich in dem Ausschluss aus dem Reiche Gottes (besteht)“ (ebd. 21900, 112; in der 1. Aufl. 1892 hieß es an dieser Stelle noch: „der empfindlichste Teil der Strafe ist der Ausschluss aus dem Reiche Gottes“ [37]).

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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I. Hinführung Der Weg zum historischen Jesus führt über Johannes den Täufer. Die meisten neueren Jesusbücher stellen ihrer Darstellung des Auftretens und der Verkündigung Jesu darum auch eine Darstellung des Auftretens und der Verkündigung Johannes des Täufers voran. Dies hat seinen guten Grund darin, dass die Taufe Jesu durch Johannes (Mk 1,9) als das chronologisch erste der in den Jesusgeschichten der Evangelien berichteten Ereignisse gelten kann, deren Historizität außer Frage steht. Daraus lässt sich schließen, dass Jesus zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens die prophetische Verkündigung des Täufers kennengelernt hat5, dass er sich von ihrem Inhalt überzeugen ließ und dass er wie andere Juden auch sich nach Ablegung eines Sündenbekenntnisses6 dem als „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν, Mk 1,4 par. Lk 3,3) gedeuteten Tauchritus im Jordan unterzogen hat. Ebenso können wir auf Grund der Berichte in den Evangelien aber auch mit einiger Sicherheit sagen, dass Jesus einige Zeit danach eigene Wege zu gehen begann, die sich von denen seines Täufers deutlich unterschieden: Jesus wirkte anders als Johannes nicht in der „Wüste“ (Mk 1,4 parr.), d.h. in unbewohnten Gebieten, sondern im galiläischen Kulturland, also dort, wo die Menschen lebten, und er zog dann nach Jerusalem. Er teilte nicht die Nahrungsaskese des Johannes (vgl. Mk 1,6b par. Mt 3,4b; Lk 7,33f par. Mt 11,18f; s. auch Mk 2,18 parr.), und er übernahm auch nicht den Kleidungscode des Täufers (vgl. Mk 1,6a par. Mt 3,4a). Anders als Johannes trat Jesus den Menschen als charismatischer Heiler und Exorzist gegenüber, als Weisheits- und Gesetzeslehrer, als Erzähler von Gleichnissen über die Landwirtschaft, über Gott und über die Menschen, und er fiel vor allem auch dadurch auf, dass er geradezu programmatisch Gemeinschaft mit religiös und sozial Marginalisierten praktizierte (vgl. Lk 7,34b par. Mt 11,19b: φίλος τελωνῶν καὶ ἁμαρτωλῶν). Nicht so eindeutig zu beantworten ist demgegenüber die Frage nach dem Verhältnis der Verkündigung Jesu zu derjenigen des Täufers. Die Hauptverantwortung für diese Schwierigkeit trägt in erster Linie natürlich die Quellenlage mit den bekannten methodischen Problemen und Aporien der 5

Wie es dazu kam, wissen wir nicht. Vgl. Mk 1,5 (ἐξομολογούμενοι τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν). Dass es sich hierbei um einen historisch plausiblen Bestandteil des gesamten Ritus gehandelt hat, dem sich auch Jesus nicht verweigert haben dürfte, erhellt aus dem traditionsgeschichtlich aufweisbaren Zusammenhang von Sündenbekenntnis und Sündenvergebung; vgl. nur 1.Kön 8,33f.35f = 1.Chron 6,24f.26f; Ps 32,5. Vgl. auch H. MERKLEIN, Die Umkehrpredigt bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth (1981), in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 109–126, hier 115. 6

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historischen Rückfrage. Hinzu kommt dabei noch, dass uns die Evangelien über den Täufer sehr viel weniger erzählen als über Jesus. Wenn wir nun davon ausgehen – und es gibt gute Gründe, dies zu tun –, dass Worte und Taten bei Johannes wie bei Jesus jeweils ein in sich kohärentes Sinngefüge bildeten, müssen wir auch nach der theologischen Grundorientierung fragen, die den oben beschriebenen Differenzen zwischen den beiden ihren Richtungssinn gegeben hat. Etwas konkreter formuliert: Gibt es so etwas wie eine Basisdifferenz zwischen Johannes und Jesus, die allen anderen Unterschieden vorausgeht und zu der sich alle anderen Unterschiede wie Ableitungen verhalten? Es liegt auf der Hand, dass aus den eingangs beschriebenen Gründen die entscheidende Weichenstellung für die Beantwortung dieser Frage in der Wahl der Kategorie liegt, an deren Semantik sich die Beantwortung dieser Fragen orientiert. Und genau an dieser Stelle kommt wieder das Gegenüber von „Gericht“ und „Heil“ ins Spiel, denn ein Blick in die einschlägige Literatur lässt sofort erkennen, dass es eben dieses Begriffspaar ist, dem die Funktion des Paradigmas zugeschrieben wird, das der Darstellung des Unterschieds zwischen Johannes und Jesus zugrundegelegt wird.7 Wir können dieser Frage freilich nicht nachgehen, ohne dabei in Rechnung zu stellen, dass es keine Diskontinuität ohne Kontinuität gibt. Wir können also nicht Differenzen trennscharf beschreiben, ohne dass wir auch nach Gemeinsamkeiten fragen. In Bezug auf das Verhältnis von Johannes und Jesus ergibt sich die Nötigung dazu vor allem natürlich daraus, dass davon auszugehen ist, dass Jesus mindestens bis zum Beginn seines eigenen öffentlichen Auftretens das Wirklichkeitsverständnis des Täufers geteilt hat, denn sonst hätte er sich nicht der von Johannes propagierten Umkehrtaufe unterzogen. Hinzu kommt aber auch noch ein weiterer Aspekt: Weil Johannes und Jesus ihre Sozialisation in ein und demselben kulturellen Kontext erfahren haben, können wir bei beiden auch ein über weite Strecken gemeinsames kulturelles Grundwissen bzw. eine gemeinsame „enzyklopädische Kompetenz“8 voraussetzen. Ohne deren Berücksichtigung können wir weder den einen noch den anderen verstehen, und darum ist auch die Beschreibung des beiden gemeinsamen kulturellen Wissens unerlässlich, wenn wir die Unterschiede zwischen ihnen darstellen wollen.

7

Vgl. vor allem Abschn. II.2. U. ECO, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 31998, 94ff. 8

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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II. Der Stand der Diskussion In der Jesus-Literatur des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts hat sich in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus insofern eine Veränderung vollzogen, als zunehmend auch der „Gerichtsprediger“ Jesus entdeckt und theologisch ernst genommen wird. Eindrucksvoller Beleg dafür ist das Erscheinen von gleich drei deutschsprachigen Monographien über die Gerichtsverkündigung Jesu in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts9, nachdem dieses Thema jahrzehntelang nur am Rande Beachtung gefunden hatte. Auch in den Jesusbüchern wird in den letzten Jahren zunehmend dazu übergegangen, die „Gerichtsaussagen“, die „Gerichtspredigt“ oder die „Gerichtsverkündigung“ Jesu in einem eigenen Kapitel zu behandeln, das der Darstellung von Jesu „Heilspredigt“10 vorangestellt wird.11 Damit stellt sich sofort aber auch die Frage nach dem Verhältnis der Verkündigung Jesu zu derjenigen des Täufers in neuer Weise: Insofern es nämlich gerade die Ankündigung des unmittelbar bevorstehenden Gerichts war, die als Zentrum der Botschaft des Täufers galt, musste von der neugewonnenen Einsicht in das Gewicht der Gerichtsaussagen innerhalb der Verkündigung Jesu das Erfordernis einer präziseren Beschreibung des Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität zwischen beiden ausgehen. Ein Blick in die Literatur zu unserem Thema kann zeigen, dass diesem Erfordernis durchaus Rechnung getragen wird. Gleichzeitig ist aber auch nicht zu übersehen, dass die Beschreibung der Gemeinsamkeiten sehr viel deutlicher und konsenshafter greifbar ist als die Beschreibung der Differenzen. 1. In wenigen Sätzen zusammenfassen lassen sich diejenigen Merkmale, in denen man eine Kontinuität zwischen Johannes und Jesus wahrnehmen zu können meint: a) Johannes wie Jesus teilten die Überzeugung, dass „ganz Israel ..., wie es sich vorfindet, ... dem Gericht verfallen ist“12 bzw. dass es „in einem ausweglosen Negativverhältnis zu seinem Gott“ steht13. Als Belege dafür werden vor allem Lk 13,1–5 und Jesu Worte gegen „dieses Geschlecht“ (Lk 11,29–32 par.

9

Vgl. M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (NTA NF 23), Münster 1990; W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu (BZNW 82), Berlin / New York 1996; CH. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (EHS.T 653), Bern u.a. 1999. 10 THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 246. 11 Vgl. z.B. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (SBS 111), Stuttgart 3 1993, 33ff; BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 58ff; THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 241ff; anders GNILKA, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3). 12 MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 11), 34; s. auch BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 61; THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 245. 13 BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 64.

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Mt 12,39–42) angeführt, aber auch die Gleichnisse vom törichten Kornbauern (Lk 12,16–20) und vom klugen Verwalter (Lk 16,1–7). b) Beide hätten die Erwählung Israels als suspendiert angesehen: „Israels Gottesverhältnis ... ist so kaputt, dass ... Israels Erwählung verbraucht ist“14; dementsprechend seien auch „ein Rückgriff und eine Berufung auf ein früheres Erwählungshandeln ausgeschlossen“15. c) Bei beiden gehe die Scheidung zwischen Heil und Unheil „mitten durch Israel selbst“ hindurch.16 d) Beide hätten übereinstimmend mit der unmittelbaren Nähe des kommenden Gerichts gerechnet, wodurch die Gegenwart zur eschatischen Entscheidungszeit werde.17 e) Beide hätten darum eine Umkehr als „Distanz vom Bisherigen“ verlangt.18 2. Demgegenüber fällt es sehr viel schwerer, die Beschreibung der Diskontinuität zwischen Johannes und Jesus ähnlich kompakt zu referieren. Dies hat seinen Grund nicht darin, dass die Interpretation der einschlägigen Texte kontrovers diskutiert wird. Verantwortlich dafür ist vielmehr die Unschärfe der Begriffe, mit deren Hilfe die Differenz beschrieben wird, und die Uneindeutigkeit des Gesamtbildes. Als charakteristisch für letzteres kann die Formulierung von Rudolf Hoppe gelten, die den derzeitigen Diskussionsstand am präzisesten wiedergibt: „Entgegen verbreiteter Vorstellung ist Johannes nicht nur der Gerichtsprediger und Jesus nicht nur der Heilsprediger“.19 Als Unterschied zwischen beiden gilt demnach die unterschiedliche Gewichtung der Rede von Gericht und Heil. In diesem Sinne ist dann die Rede von einer „eindeutigen Heilspräponderanz in der Verkündigung Jesu“20 oder davon, dass der „Akzent“21 bei Jesus auf der Heilsseite liegt, dass das Heilsangebot der Gerichtsdrohung „vorgeordnet“ ist22 und die Ge14

BECKER, ebd. 92. MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 11), 35. 16 REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 304; vgl. auch BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 70ff; P. WOLF, Gericht und Reich Gottes bei Johannes und Jesus, in: Gegenwart und kommendes Reich. FS Anton Vögtle, Stuttgart 1975, 43–49, hier 49. 17 Vgl. REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 304f; BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 61; THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 243. 18 MERKLEIN, Umkehrpredigt (s. Anm. 6), 118; vgl. auch REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 305; BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 63; THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 243. 19 HOPPE, Jesus (s. Anm. 3), 35 (Hervorhebungen im Original). 20 J. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth (BSt 63), Neukirchen-Vluyn 1972, 85.100. 21 ZAGER, Gottesherrschaft (s. Anm. 9), 316. 22 BECKER, Johannes der Täufer (s. Anm. 20), 100; WOLF, Gericht (s. Anm. 16), 49. 15

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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richtsverkündigung dementsprechend „zurücktritt“23, dass bei Jesus das Heil in den „Vordergrund“24 gestellt wird, dass Jesus „die Gerichtspredigt des Täufers“ zwar „fort(setzt)..., aber stärker das mit der βασιλεία-Predigt verbundene Heilsangebot (auch für die Sünder) betont zu haben (scheint)“25 oder dass das Heil bei Jesus anders als bei Johannes „das Primäre“26 ist. Dementsprechend gilt die Gerichtsankündigung bei Jesus „als die negative Kehrseite seiner positiven Praxis und Verkündigung“27. Es werde denen angedroht, „die das Heilsangebot nicht annehmen“28. In diesem Sinne heißt es bei Helmut Merklein, dass das Gericht Gottes bei Jesus „als Konsequenz des abgelehnten Heils, nicht aber als Voraussetzung und Ermöglichung des Heils (erscheint)“29, während Marius Reiser das Gericht als „die unumgängliche Voraussetzung für das endgültige Heil des Reiches Gottes“30 bestimmt. Merklein kann unter Zustimmung von Jürgen Becker die Differenz dann auch so beschreiben, dass der Täufer „das Gericht apodiktisch angesagt“ und die Heilsperspektive „nur indirekt artikuliert“ hätte, während für Jesus „die apodiktische Heilszusage“ charakteristisch sei sowie „Umkehr und Gericht im konditionalen Verhältnis (stehen)“31. Diese Sicht der Dinge wird von Reiser mit dem Hinweis darauf kritisiert, dass sie zum einen ein semantisch deviantes Begriffsverständnis voraussetze und zum anderen auch inhaltlich falsch sei, „denn für Jesus wie für den Täufer kommt beides, Gericht und Heil, unbedingt“.32 Große Aussicht auf Konsensfähigkeit dürfte wohl auch Reisers metaphorische Beschreibung der Differenz haben: „Gericht und Heil sind zwei Seiten einer Medaille. Der Täufer hält dem Volk die Gerichtsseite vor, Jesus die Heilsseite; aber beide wissen, was auf der anderen 23

WOLF, Gericht (s. Anm. 16), 48. REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 306. 25 THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 194. 26 GNILKA, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 157. 27 RINIKER, Gerichtsverkündigung (s. Anm. 9), 459. 28 H. MERKLEIN, Gericht und Heil. Zur heilsamen Funktion des Gerichts bei Johannes dem Täufer, Jesus und Paulus (1990), in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, 60–81, hier 66; s. auch GNILKA, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 157: „Das Gericht ist der Verlust des Heiles, der sich daraus ergibt, dass das Heil nicht angenommen, die Botschaft nicht akzeptiert und abgelehnt wird. Es ist die gleichsam nicht beabsichtigte Konsequenz des Heiles für den Fall der Verweigerung des Menschen“; BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 73ff; THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 250f; RINIKER, Gerichtsverkündigung (s. Anm. 9), 459. 29 MERKLEIN, Gericht und Heil (s. Anm. 28), 67. 30 REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 307; s. auch ZAGER, Gottesherrschaft (s. Anm. 9), 316: „das bereits anhebende und sich in einem zukünftigen endgültigen Akt ereignende Endgericht“ war für Jesus „die notwendige Voraussetzung des Reiches Gottes“. 31 MERKLEIN, Botschaft (s. Anm. 11), 36.35f; s. auch DERS., Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchungen zur Ethik Jesu (fzb 34), Würzburg 21981, 147; DERS., Gericht und Heil (s. Anm. 28), 66f; vgl. dazu BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 65. 32 REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 306 (Hervorhebung im Original). 24

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Seite ist, und machen auch keinen Hehl daraus“33. Dementsprechend werde die geforderte Umkehr bei Johannes „allein durch die Furcht vor dem Gericht motiviert“, während „Jesus zuerst die Hoffnung auf das endgültige Heil (weckt)“.34 3. Wenn wir uns zunächst die Beschreibungen der Diskontinuität näher anschauen, wird sofort erkennbar, was zu der unübersehbaren Diffusität des Gesamtbildes geführt hat: Sie basiert zunächst darauf, dass das Begriffspaar „Gericht und Heil“ als analytische Leitkategorie für die Beschreibung der Unterschiede zwischen Johannes und Jesus fungiert, wobei vorausgesetzt wird, dass seine beiden Elemente, „Gericht“ und „Heil“ also, in semantischer Opposition zueinander stehen. Da es nun aber die Quellen verwehren, das Gegenüber dieser beiden Begriffe einfachhin auf das Gegenüber von Johannes und Jesus zu projizieren, sieht man sich genötigt, nicht nur das Ineinander dieser semantischen Opposition auf beiden Seiten plausibel zu machen, sondern mit ihrer Hilfe auch noch die Unterschiede zwischen Johannes und Jesus aufzuzeigen. Das Ergebnis dieser Doppelfunktion des Begriffspaars „Gericht und Heil“ lässt sich anhand des vorstehenden Überblicks studieren: Die Beschreibung des Unterschieds zwischen Johannes dem Täufer und Jesus reduziert sich auf bloße Gewichtsangaben, und der Unterschied selbst wird dadurch relativ. Im Vordergrund stehen dann auch Kategorien wie „Akzent“, „Vordergrund/Hintergrund“, „Vorderseite/Rückseite“, „Zentrum-Rand“ oder „Präponderanz“ bzw. „Prävalenz“. Beide, Johannes wie Jesus, verkündigen demnach im Grunde genommen dasselbe: der eine etwas mehr von diesem und etwas weniger von jenem, der andere etwas weniger von diesem und etwas mehr von jenem.35 Was unter dem Strich übrig bleibt, sind darum auch keine inhaltlichen Differenzen, sondern lediglich ein unterschiedlicher Gestus im Spiel mit den bekannten Leitaffekten des rhetorischen Genus deliberativum, der Furcht (metus) und der Hoffnung (spes)36: Dadurch, dass Johannes das „Gericht“ in den Vordergrund stelle, mobilisiere er den Affekt der Furcht, während Jesus mit seiner Betonung des „Heils“ den Affekt der Hoffnung evoziere.37 Schon der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass hier etwas nicht stimmen kann, denn de facto ist das Ergebnis immer dasselbe: Nicht anders als bei Jesus entscheidet auch bei Johannes einzig und allein die Annahme 33

REISER, ebd. 307. REISER, ebd. 306. 35 Ausdruck dieser Verlegenheit ist auch J. BECKERs anachronistischer Rückgriff auf Kategorien aus der Theologie Martin Luthers: „das opus proprium des Gottes Jesu (ist) die Güte und Liebe und das Richten nur das opus alienum“; hierin liege „der fundamentale Unterschied zum Täufer“ (Johannes der Täufer [s. Anm. 20], 97). 36 Vgl. H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 21973, §§ 229.237. 37 So in der Tat expressis verbis REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 306 (s.o.). 34

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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oder Ablehnung der Verkündigung über die eschatische Zuweisung von Heil und Unheil, und insofern ist auch der Kritik von M. Reiser an der von H. Merklein eingebrachten Unterscheidung von „apodiktisch“ und „bedingt“ bzw. „konditional“38 unbedingt Recht zu geben. Aber auch Reisers eigene, auf den rhetorischen Gestus bezogene Unterscheidung zwischen Jesus und Johannes39 wird durch die Texte widerlegt, denn in Lk 13,1–5 begründet Jesus seine Umkehrforderung ganz eindeutig mit dem Hinweis auf das drohende Unheil, das den Verweigerern der Umkehr droht, und damit mobilisiert er natürlich nichts anderes als den Affekt der Furcht.40 Es ist offensichtlich, dass die analytischen Kategorien nicht recht zum Textbefund passen, denn es will offensichtlich nicht gelingen, mit Hilfe der semantischen Opposition von „Gericht“ und „Heil“ Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Johannes dem Täufer und Jesus mit hinreichender Präzision zu bestimmen. Verantwortlich dafür ist vor allem – und das ist nun meine erste These –, dass dem Begriff „Gericht“ eine Semantik zugeschrieben wird, die von einer anachronistischen interpretatio christiana bestimmt ist und wenig bis gar nichts mit der Gerichtserwartung Jesu und Johannes des Täufers zu tun hat. Anders gesagt: Die vorstehend skizzierte Verwendung des Begriffspaars „Gericht und Heil“ als analytische Kategorien zur Beschreibung des Unterschieds zwischen Johannes und Jesus basiert auf der Unterstellung, dass unsere eigene kulturelle Enzyklopädie (konkret: das, was wir heute unter „Gericht“ verstehen) mit der kulturellen Enzyklopädie Jesu und des Täufers übereinstimmt. Es lässt sich jedoch leicht zeigen, dass es sich hierbei um eine unzutreffende petitio principii handelt, die wir überwinden müssen, um präzise sagen zu können, was Johannes und Jesus miteinander verbindet und was sie voneinander trennt. Einen ersten, wenn auch noch inkonsequenten Schritt in diese Richtung hat bereits H. Merklein in seinem Aufsatz über „die heilsame Funktion des Gerichts bei Johannes, Jesus und Paulus“ getan41, über den ich im folgenden aber noch deutlich hinausgehen möchte. Die Diffusität des entworfenen Bildes von Kontinuität und Diskontinuität zwischen Johannes und Jesus hat ihren Grund aber auch darin, dass auch die Pragmatik der Rede von „Gericht“ und „Heil“ bei Johannes und Jesus bisher unterbestimmt geblieben ist: Weithin unberücksichtigt bleibt vor allem die Frage nach der Adressatenorientierung und dem Hörerbezug42 der 38

S.o. bei Anm. 31 und 32. S.o. bei Anm. 33 und 34. 40 Vgl. auch BECKER, Johannes der Täufer (s. Anm. 20), 89: „Die Umkehr wird hier nicht motiviert durch das neu verkündigte Heil, sondern durch das unmittelbar drohende Gericht“. 41 MERKLEIN, Gericht und Heil (s. Anm. 28). 42 Vgl. dazu u. Anm. 67. 39

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Gerichtsaussagen, obwohl sie es sind, die allererst darüber entscheiden, in welcher Weise das semantische Potential der Gerichtsaussagen zur Geltung gebracht und gedeutet wird. Ebensowenig findet Beachtung, dass im Zusammenhang der Frage nach der Adressatenorientierung gegebenenfalls zwischen zwei verschiedenen Adressaten unterschieden werden kann: den im Text genannten, aber gleichwohl nur fiktiven Adressaten und den intendierten Adressaten43, und dementsprechend wird auch nicht darüber reflektiert, ob es denn wirklich immer nur die „Umkehr“ ist, auf die hin die Rede von „Gericht“ und „Heil“ jeweils ausgerichtet ist.

III. Gerichtssemantik: Das gemeinsame eschatologische Grundwissen 1. Ein Aspekt des Gerichtsverständnisses, das die im vorangegangenen Abschnitt skizzierten exegetischen Wahrnehmungen der Gerichtsaussagen Jesu und Johannes des Täufers bestimmt, lässt sich mit Hilfe eines Zitats auf den Punkt bringen: „Sie ist gerichtet!“, sagt Mephistopheles am Ende des ersten Teils von Goethes Faust über Gretchen, um Faust von ihr loszureißen (4611). „Ist gerettet!“, ruft es daraufhin vom Himmel zurück (4612). – Dieses Gegenüber von „richten“ und „retten“ ist innerhalb der christlichen Frömmigkeits- und Theologiegeschichte zu einer der beiden Weisen geworden, in denen von Gottes Gericht gesprochen wird, und sie leitet auch – wie wir gesehen haben – die Interpretation der einschlägigen neutestamentlichen Texte. Unter „Gericht“ wird in diesem Sinne ein „Handeln Gottes“ verstanden, „das sich vielfältig als Leben beeinträchtigend oder auch gänzlich entziehend oder vernichtend erfahren lässt und das so auch in Erwartungen oder Befürchtungen für die irdische und jenseitige Zukunft bewertet wird“44. – Als zweites Designat wird diesem Begriff die vor allem in paränetischen Argumentationszusammenhängen angesiedelte Vorstellung eines Verfahrens zugeschrieben, das vor dem Richterthron Gottes stattfindet und in dem die menschlichen Taten beurteilt werden. Dieses Verfahren endet

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S. dazu u. Abschn. IV. 1.c. E. BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen (1991), in: ders., Studien zur Geschichte und Theologie des Urchristentums (SBAB.NT 15), Stuttgart 1993, 289–338, hier 291; s. auch E. AMELUNG, Art. Gericht Gottes. V. Neuzeit und ethisch, TRE 12 (1984) 492–497, hier 492,43–45: „Der Begriff ist Instrument zur Deutung persönlicher oder gemeinschaftlicher negativer Erfahrungen“. Zur Kritik an dieser Sicht vgl. K. MÜLLER, Gott als Richter und die Erscheinungsweisen seiner Gerichte in den Schriften des Frühjudentums, in: Weltgericht und Weltvollendung. Zukunftsbilder im Neuen Testament, hg. v. H.-J. Klauck (QD 150), Freiburg u.a. 1994, 23–53, hier 25f. 44

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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mit einer Entscheidung über Heil und Unheil, und es hat bis zu dieser Entscheidung einen offenen Ausgang. Wenn wir auf Grund dieses Gerichtsverständnisses die Gerichtsaussagen Jesu und des Täufers in den Blick nehmen, verfehlt unsere Interpretation ihren Gegenstand, und zwar aus zwei Gründen: – zum einen, weil sie „Gericht“ und „Heil“ als Gegensatz versteht und damit „Gericht“ semantisch mit „Unheil“ gleichsetzt, – und zum anderen, weil sie die Vorstellung eines allererst der Urteilsfindung dienenden Gerichtsverfahrens mit offenem Ausgang, die sich im Judentum und im Christentum erst später herausgebildet hat45, in die Zeit Jesu und des Täufers zurückprojiziert. Es ist nun nicht so furchtbar kompliziert, demgegenüber das Jesus und Johannes gemeinsame eschatologische Grundwissen in Bezug auf die Gerichtserwartung zu skizzieren. Dieses Vorhaben lässt sich kurz und knapp realisieren, weil es trotz der Vielfalt von individuellen Gerichtskonzeptionen und -vorstellungen im frühen Judentum ein Substrat von Gemeinsamkeiten gibt, das wir dank der intensiven Forschung der letzten Zeit auf diesem Gebiet leicht zusammenfassen können.46 2. Es lassen sich zwei Gerichtstypen voneinander unterscheiden:47 a) Das sog. Vernichtungsgericht (die Verwendung der Metapher „Gericht“ ist in diesem Zusammenhang eigentlich irreführend): Es handelt sich hierbei um ein eschatisches Vernichtungshandeln Gottes an seinen und seines Volkes Feinden, das unter Anknüpfung an die alten Jahwe-Kriegs-Traditionen beschrieben werden kann. Als Beispiele können angeführt werden: Sach 14;

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Vgl. REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 145. Vgl. zum Folgenden P. VOLZ, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, Tübingen 21934 = Hildesheim 1966, 272ff; REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 1ff; BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen (s. Anm. 44), 307ff; MÜLLER, Gott als Richter (s. Anm. 44), 30ff. 47 Vgl. zum Folgenden vor allem MÜLLER, Gott als Richter (s. Anm. 44), 38ff. – E. BRANDENBURGER (Gerichtskonzeptionen [s. Anm. 44], 306ff) meint vier Gerichtstypen voneinander unterscheiden zu können: „das Erlösungs- oder Heilsgericht“, „das Vernichtungsgericht“, „das Rechtsverfahren vor dem Richterthron“ und „das universale Weltgericht“. Demgegenüber hat MÜLLER (Gott als Richter [s. Anm. 44], 40f) mit Recht darauf hingewiesen, dass das „Erlösungs- oder Heilsgericht“ kein eigener Gerichtstyp ist, sondern als ein integraler Bestandteil des sog. „Vernichtungsgerichts“ gelten kann. Auch das „universale Weltgericht“ ist kein eigener Gerichtstyp: BRANDENBURGER sieht diesen Typ in Mt 25,31–46 beschrieben (Gerichtskonzeptionen [s. Anm. 44], 314), doch wird hier in geradezu idealtypischer Weise ein forensisches Verfahren vor dem Thron des Richters geschildert. Brandenburger kommt zu seinem typologisch inkohärenten Katalog, weil er unterschiedliche Paradigmen miteinander vermischt. 46

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AssMos 10,1–10; 1QM 12,3–16 oder – wegen seiner Nähe zu Lk 3,7 par. Mt 3,7 vielleicht nicht ganz uninteressant – ein Fragment aus dem Henochbuch48: „Und nun sage ich euch, ihr Menschenkinder: ὁργὴ μεγάλη gegen euch und eure Söhne! Dieser Zorn wird nicht von euch ablassen bis zur Zeit der Niedermetzelung eurer Kinder. Und verderben werden die von euch Geliebten und sterben die von euch Geehrten aus jedem Land ..., denn es gibt für sie von jetzt an keinen Fluchtweg wegen des Zornes, den zu zürnen begonnen hat (ὀργή, ἣν ὠργίσθη ὑμῖν) der König der Ewigkeiten. Denkt nicht, dass ihr diesem (ταῦτα) entfliehen werdet.“

Ausgerichtet ist dieses „Gericht“ ursprünglich am Gegenüber von Israel und den Völkern und dann später am Gegenüber von Sündern und Gerechten innerhalb Israels. Es wird so vollzogen, dass von ihm immer nur die Völker bzw. die Sünder betroffen sind, nie hingegen das Gottesvolk selbst bzw. die Gruppe der Gerechten und Frommen. Wenn dieser Gerichtstyp beschrieben wird, so wendet er sich immer nur gegen die empirisch identifizierbaren „Anderen“, niemals gegen die Gruppe, der derjenige angehört, der von ihm spricht. Im Gegenteil: Israel resp. die Gruppe der Frommen und Gerechten bzw. die Gruppe derjenigen, die dieses Gericht beschreiben, sehnen sich nach diesem Gericht, weil es ihnen nichts als Rettung und Befreiung von Unterdrückung und Verfolgung bringt. Wichtig ist noch: Dieses Vernichtungshandeln Gottes ist integraler Bestandteil der Erwartung der universalen Durchsetzung von Gottes Königsherrschaft, die zu einer heilvollen Restitution seiner Schöpfungsordnung führen wird. Konstitutiv für beides ist vor allem das Element der Theophanie. b) Das forensisch ausgerichtete Verfahren vor dem Thron des Richters, wie es z.B. in äthHen 62 geschildert wird: Dieses Verfahren dient jedoch weder der Urteilsfindung noch hat es einen offenen Ausgang. Sein Zweck ist vielmehr ausschließlich die Zuweisung von Heil und Unheil, deren Verteilung schon vorher feststeht.49 Auch dieser Gerichtstyp ist gruppenorientiert: Entweder müssen nur die Sünder vor ihm erscheinen, damit sie ihre Verurteilung, d.h. die Zuweisung von eschatischem Unheil, entgegennehmen, oder – wenn denn auch die Gerechten vor dem Thron des Richters auftreten – dann tun sie dies ebenfalls nur als Gruppe und ausschließlich zu dem Zweck, das eschatische Heil zugesprochen zu bekommen. 3. Beiden Gerichtstypen ist gemeinsam, dass Gottes Gerichtshandeln immer als integraler Bestandteil seines Heilshandelns verstanden wird. Dieser Heilscharakter des Gerichts kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass es 48 Text bei M. BLACK, Apocalypsis Henochi Graece (PVTG 3), Leiden 1970, 37; eine deutsche Übersetzung gibt es auch bei S. UHLIG, JSHRZ V/6, 754. 49 Vgl. auch REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 147: „Niemals hat das Gericht den Charakter einer Untersuchung, um festzustellen, wer zu den Sündern gehört und wer zu den Gerechten; ihre Sonderung ist immer schon vorausgesetzt“.

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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über die Feinde Gottes und seines Volkes sowie über die Sünder und Frevler Unheil und Vernichtung bringt. Es ist darum unmöglich, beides auseinander zu dividieren, und aus diesem Grunde ist es auch nicht sachgemäß, wenn immer wieder gesagt wird, „Gericht“ und „Heil“ seien „zwei Seiten“ von Gottes eschatischem Handeln50 – etwa die dunkle und die helle Seite oder Vorder- und Rückseite. Gericht und Heil stehen vielmehr immer auf ein und derselben Seite: Die Vernichtung und Verurteilung der Sünder, das Unheil, das Gottes Gericht über die Frevler und Gottlosen bringt, ist vor allem aber auch darum nichts anderes als ein Heilsgeschehen, weil es die Verlorenheit des Heilsvolkes und der Gerechten in Heil transformiert. Der Richter handelt als Retter und umgekehrt; das Richten und das Retten Gottes sind „Korrelate“ ein und desselben Handelns Gottes.51 Das Gericht ist darum auch nicht lediglich die „Voraussetzung“ des Heils oder ein „notwendiger Schritt auf dem Weg zum Heil“52, sondern es ist der Vorgang, mit dem Gott seine heilvolle Schöpfungsordnung eschatisch aufrichtet und sie gegen alles ihr Entgegenstehende durchsetzt: Gottes Gerichtshandeln ist Heilshandeln. 4. Übertragen wir diese Ergebnisse auf Johannes und Jesus, kann man sagen, dass Johannes offenbar mit dem erstgenannten Gerichtstyp, d.h. mit dem sog. „Vernichtungsgericht“ rechnete, obwohl angesichts der Kargheit der Textüberlieferung (als Quellen stehen ja lediglich Lk 3,7–9.16–17 par. Mt 3,7–12 zur Verfügung) gegenüber vorschnellen Urteilen Vorsicht geboten sein sollte. Gleichwohl darf man aber wohl die Rede von der μέλλουσα ὀγρή (Lk 3,7 par. Mt 3,7) und den Rückgriff auf die Feuer-Metapher (Lk 3,9.16.17 par. Mt 3,10.11.12) als zuverlässige Indizien dafür nehmen, dass bei Johannes dieser Gerichtstyp zumindest im Vordergrund stand.53 Für Jesus sind demgegenüber beide Gerichtstypen belegt: Lk 13,1–5 und 17,26– 30 scheinen die Erwartung eines Vernichtungsgerichts vorauszusetzen, während z.B. in Lk 11,31f par. Mt 12,41f eindeutig die Situation eines forensischen Gerichts vor dem Thron des Richters vor Augen steht.

50 So z.B. GNILKA, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 157; THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 3), 241; ZAGER, Gottesherrschaft (s. Anm. 9), 105. 51 B. JANOWSKI, Art. Gericht Gottes. II. Altes Testament, RGG4 3 (2000) 733–734, hier 733; s. auch J. ASSMANN / B. JANOWSKI / M. WELKER, Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption, in: B. JANOWSKI, Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 1999, 220–246; A. WEISER, Die Gerichtsgleichnisse in der Verkündigung Jesu, in: ders., Studien zu Christsein und Kirche (SBA.NT 9), Stuttgart 1990, 67–76, hier 68. 52 So MERKLEIN, Gericht und Heil (s. Anm. 28), 64. 53 Vgl. auch BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen (s. Anm. 44), 312; E. BRANDENBURGER, Art. Gericht Gottes. III. Neues Testament, TRE 12 (1984) 469–483, hier 469,14ff.

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Diese Differenz – wenn es sie denn überhaupt gegeben haben sollte – ist jedoch nur von nachgeordneter Bedeutung, denn in Bezug auf den Gehalt der Gerichtserwartungen von Johannes und Jesus gibt es keinen Unterschied. Beide stehen in ungebrochener Kontinuität zum gerichtseschatologischen Grundwissen ihres kulturellen Kontextes, und diese Übereinstimmung reicht völlig aus, um das Profil ihrer beider Gerichtserwartungen zu beschreiben: Gott wird in Kürze mit Hilfe eines endgültigen Gerichtshandelns seine universale Heilsordnung auf Erden durchsetzen. Dieses Gericht hat keinen offenen Ausgang, sondern es wird eine Zuweisung von Heil und Unheil vornehmen, über deren Verteilung bereits in der Gegenwart entschieden wird. Kriterium für diese Verteilung – und auch in dieser Hinsicht gibt es zwischen dem Täufer und Jesus keinen Unterschied in der Gerichtskonzeption – ist die Reaktion auf die jeweilige Verkündigung: Wer sie annimmt, wird auf der Heilsseite zu stehen kommen, wer das nicht tut, auf der Unheilsseite.54 Wenn wir Jesus und Johannes von ihrem kulturellen Kontext und dem in ihm in Geltung stehenden überindividuellen gerichtseschatologischen Grundwissen her in den Blick nehmen, erweist es sich darum als viel zu oberflächlich geurteilt, wenn ihrer beider Ankündigungen des andringenden Gerichts Gottes – sei es nun in Gestalt eines Vernichtungsgerichts oder in Gestalt eines forensischen Verfahrens – schon als solche einfachhin mit der Ankündigung von Unheil gleichgesetzt werden. Aus diesem Grunde fällt auch die undifferenzierte Rede vom „dunklen Gerichtsprediger Jesus“55 hinter die in den letzten Jahren neu gewonnene Einsicht in die Einbettung Jesu in das Judentum seiner Zeit56 zurück, denn sie verdankt sich eher den überkommenen christlichen Sprachgewohnheiten als einer traditionsgeschichtlich differenzierten Wahrnehmung frühjüdischer Gerichtserwartungen. 5. Damit ist freilich noch nicht alles gesagt, denn in der vorstehenden Darstellung haben wir lediglich eine systematisierende Außenperspektive bezogen und das gemeinsame gerichtseschatologische Grundwissen Johannes des Täufers und Jesu gewissermaßen ausschließlich sub specie Dei in den Blick genommen. Die Nötigung zu weiterer Differenzierung ergibt sich, wenn wir ihre Gerichtsaussagen vor dem Hintergrund ihrer jüdischen Um54

Vgl. in diesem Sinne jetzt auch J. SCHRÖTER, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Leipzig 2006, 137, der hier mit Bezug auf die Gerichtserwartungen Jesu und des Täufers mit Recht von einer „Analogie“ spricht. 55 So U. LUZ in seinem Geleitwort zur Untersuchung von CH. RINIKER (Gerichtsverkündigung [s. Anm. 9], 7). 56 Vgl. dazu z.B. G. VERMES, Jesus der Jude (engl. 1973), Neukirchen-Vluyn 1993; J. H. CHARLESWORTH, Jesus within Judaism. New Light from Exciting Archaeological Discoveries, London 21990; E. P. SANDERS, Jesus and Judaism, London/Philadelphia 31991.

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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welt sub specie hominum in den Blick nehmen. Dieses Vorhaben findet seine leicht nachvollziehbare Begründung darin, dass mit Gottes weltordnendem Gerichtshandeln für die Menschen ein unterschiedliches Geschick einhergeht: Den einen wird Heil und Rettung zugewiesen, den anderen – und auch dies ist Bestandteil von Gottes eschatischem Heilshandeln – Vernichtung und Unheil. Sub specie hominum ist darum entscheidend, wer auf welcher Seite zu stehen kommt. Darüber hinaus ergibt sich diese Nötigung aber auch daraus, dass wir bisher lediglich nach dem für Johannes und Jesus vorauszusetzenden gerichtseschatologischen Grundwissen gefragt haben. Dabei ist unberücksichtigt geblieben, dass die sprachliche Realisierung solchen Wissens immer auch ein Kommunikationsgeschehen ist und dass überindividuelle Gerichtsvorstellungen und die situationsbezogene aktuelle Rede von ihnen voneinander zu unterscheiden sind. Das soll nun nachgeholt werden.

IV. Gerichtspragmatik: Die Funktion der Rede vom Gericht Die Gerichtsaussagen bei Johannes und Jesus werden in der Regel immer nur auf ihren propositionalen Gehalt hin befragt. Dies hat seinen Grund darin, dass sie immer nur als an die Öffentlichkeit gerichtete Mitteilungen eschatologischer Erwartungen interpretiert werden. Die Einordnung in diesen Kontext hat zur Folge, dass die Gerichtsaussagen als Bestandteile einer protreptischen Rhetorik aufgefasst werden, deren Intention sich darauf richtet, die jeweiligen Adressaten in ihrer Existenzorientierung zu verunsichern und zu destabilisieren.57 Ein Indiz dafür ist die verbreitete Rede von der „Gerichtspredigt“, der „Gerichtsbotschaft“ oder der „Gerichtsverkündigung“ Jesu und des Täufers. Diese Wahrnehmung ist freilich noch zu oberflächlich, denn sie lässt das pragmatische Potential, das dem Reden vom Gericht Gottes innewohnen kann, weithin unbeachtet. Ansätze für eine Interpretation, die die pragmatische Tiefenstruktur der Gerichtsaussagen demgegenüber sehr viel sachgerechter zu Geltung bringt, finden sich bereits bei Egon Brandenburger:58 Er betont völlig zurecht, dass für das Verständnis von „Gerichtskonzeptionen“ „entscheidend ist ..., wie und wozu sie angewendet werden und was ... sie im 57 Erkennbar wird dies an der durchgängigen Verknüpfung der Gerichtsaussagen Jesu und des Täufers mit der Umkehrforderung. Im Blick sind damit auch diejenigen Interpretationen der jesuanischen Gerichtsankündigung, die „Gericht“ als Unheilsfolge der Ablehnung des Heils verstehen (s. oben bei Anm. 27–29): Ihnen wird eine Pragmatik unterstellt, die auf die „Umkehr“ von der Abweisung der Heilsverkündigung Jesu abzielt; vgl. z.B. MERKLEIN, Umkehrpredigt (s. Anm. 6), 122. 58 Gerichtskonzeptionen (s. Anm. 44), 321ff.

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Rahmen jeweils unterschiedlicher, theologisch anders wahrzunehmender typischer Situationen und Funktionen prägt“.59 Dies führt ihn zu einer Unterscheidung zwischen einem „prophetisch-eschatologische(n)“ und einem „apokalyptische(n) Gerichtsverständnis“60. Letzteres habe „die Funktion, die Religionsgemeinschaft angesichts tiefer Krisenlagen zum Durchstehen der überkommenen Gottesverehrung zu stabilisieren“.61 Ihm gegenüber seien die prophetischen Gerichtskonzeptionen „von der Wahrnehmung verfehlten, nichtigen Existierens (geleitet)“; in ihnen würden darum „Mensch und Welt und deren konkreter Wandel vor Gott kritisch in Frage gestellt“.62 In dem einen Fall hätte die Rede vom Gericht demnach vergewissernde Funktion, in dem anderen Fall diente sie der Verunsicherung. Auch wenn Brandenburgers Terminologie partiell irreführend ist – statt von „Gerichtsverständnis“ oder „Gerichtskonzeptionen“ wäre besser von „Gerichtsrede“ zu sprechen, weil „Gerichtsverständnis“ und „Gerichtskonzeptionen“ in beiden Fällen dieselben sind und nur ihr Gebrauch unterschiedlich ist –, hat er doch den Weg zu einer wichtigen Differenzierung gewiesen, die eigentlich trivial ist, jedoch in der Literatur zu unserem Thema eine erstaunlich geringe Rolle spielt: dass nämlich die Adressaten- und Hörerorientierung63 derjenige Parameter ist, der allererst über den Sinn und die Funktion von Gerichtsaussagen entscheidet. Anders gesagt: Für die Frage, welche Erwartung dem Gericht Gottes entgegengebracht wird, ist nicht die Vorstellung von Gottes Gerichtshandeln entscheidend, sondern die Rede von ihm, weil von ein und denselben Gerichtsvorstellungen je nach Kommunikationssituation und Adressatenorientierung in funktionaler Hinsicht ein ganz unterschiedlicher, ja völlig gegensätzlicher Gebrauch gemacht werden kann. Hierbei spielt der gegen Ende von Abschnitt II angesprochene doppelte Ausgang von Gottes zukünftigem Gerichtshandeln, der sub specie hominum in den Blick kommt64, unmittelbar in die Gegenwart hinüber, denn als Adressaten der Rede vom Gericht können sowohl diejenigen fungieren, die nach der Überzeugung des Autors der Gerichtsrede Heil erwarten dürfen (sie werden dementsprechend ihrer gegenwärtigen Existenzorientierung vergewissert und zur Standhaftigkeit ermahnt), als auch diejenigen, denen Unheil droht (sie werden ob ihrer Existenzweise kritisiert und zur Umkehr aufgefordert). In diesem Sinne wurde dann auch längst gesehen, dass die Gerichtsaussagen in der apokalyptischen Literatur in der Tat nichts anderes als Heils59

BRANDENBURGER, ebd. 329. BRANDENBURGER, ebd. 321. 61 BRANDENBURGER, ebd. 332. 62 BRANDENBURGER, ebd. 63 Zur Unterscheidung von „Adressaten“ und „Hörern“ s.u. Anm. 67. 64 S.o. S. 39f. 60

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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aussagen sind, weil die intendierte Adressatenschaft der Apokalypsen stets unter den Frommen und Gerechten zu suchen ist, denen sie die Gewissheit vermittelt wollen, dass Gott ihr gegenwärtiges Unheilsgeschick mit Hilfe der Vernichtung der Sünder und Frevler im Endgericht in Heil verwandeln wird.65 Dementsprechend sollen die apokalyptischen Gerichtsankündigungen von ihren intendierten Adressaten nicht als Drohworte, sondern als Worte der Verheißung und der Vergewisserung gelesen werden. Es verwundert darum auch nicht, dass den massiven Gerichtsankündigungen zu Beginn des Wächterbuches (äthHen 1–36) als Rezeptionsanweisung für die Leser die Überschrift „Das Segenswort Henochs, wie er die Auserwählten und Gerechten segnete, die am Tage der Bedrängnis dasein werden, damit alle Bösen und Frevler vertilgt werden“ vorangestellt wird (äthHen 1,1).66 Die Übertragung dieser situationsbezogenen und pragmatischen Differenzierung der Gerichtsaussagen auf die Johannes- und die Jesusüberlieferung stellt uns jedoch vor erhebliche, wenn nicht unüberwindbare Schwierigkeiten. Dies hat seinen einfachen Grund darin, dass wir die synoptische Wort-Überlieferung nur in einem narrativen Aggregatszustand vorliegen haben und wir darum in keinem einzigen Fall mit Sicherheit sagen können, ob die in den Evangelien erzählten Adressaten und/oder Hörer der Gerichtsworte Jesu und des Täufers mit den jeweiligen historischen Adressaten und/oder Hörern identisch sind.67 Für eine Fragestellung, die die pragmati65 Vgl. z.B. BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen (s. Anm. 44), 324f; J. J. COLLINS, The Apocalyptic Imagination. An Introduction to the Jewish Matrix of Christianity, New York 1992, 31f. 66 Übers. S. UHLIG, Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6), Gütersloh 1984, z.St.; in der griechischen Fassung lautet die Überschrift: λόγος εὐλογίας Ἑνώχ, καθὼς εὐλόγησεν ἐκλεκτοὺς δικαίους οἵτινες ἔσονται εἰς ἡμέραν ἀνάγκης ἐξᾶραι πάντας τοὺς ἐχθρούς, καὶ σωθήσονται δίκαιοι („Henochs Segensrede, wie er gesegnet hat die auserwählten Gerechten, die sein werden bis zum Tag der Not, um zu vernichten alle Feinde, und die Gerechten werden gerettet werden“). 67 Dass zwischen „Adressaten“ und „Hörern“ zu unterscheiden ist, wissen wir aus der Rezeptionsforschung (vgl. z.B. H. LINK, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart u.a. 21980, 16ff): Unter „Adressaten“ verstehe ich hier diejenige produktionshermeneutische Größe, die der Autor eines Textes als intendierte Hörer oder Leser voraussetzt. Die Begriffe „Hörer“ oder „Leser“ sollen im folgenden ausschließlich den sog. realen Hörern oder Lesern vorbehalten bleiben, d.h. solchen Menschen, die den Text tatsächlich hören bzw. lesen und deuten – ob sie nun zu den „Adressaten“ gehörten oder nicht. Innerhalb der erzählten Welt wird eine solche Unterscheidung z.B. in Lk 16 vorgenommen: Als „Adressaten“ des Gleichnisses vom klugen Verwalter und seiner Deutung (V. 1b–13) nennt Lukas die Jünger (V. 1a); als „Hörer“ in dem beschriebenen Sinne führt er dann auch die Pharisäer in die Erzählung ein (V. 14). Im Blick auf die besprochene Welt wäre hier noch einmal zu unterscheiden zwischen den erzählten Adressaten (d.h. den Jüngern), den intendierten Adressaten (d.h. denjenigen Christen, von denen Lukas sein Evangelium gelesen wissen wollte), den erzählten Hörern (d.h. die Pharisäer) und den realen Lesern oder Hörern (d.h. denjenigen Menschen, die die Jüngerunterweisung bis auf den heutigen

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sche Funktion der Gerichtsaussagen von ihrer Adressatenorientierung her ermitteln will, ist das einerseits natürlich fatal. Andererseits nötigt uns diese Ungewissheit aber auch dazu, in jedem Einzelfall immer auch eine Gegenprobe durchzuführen und danach zu fragen, ob auch eine andere als die erzählte Adressatenorientierung möglich ist. Kann diese Frage bejaht werden, muss sich daran sofort die Frage nach den Konsequenzen für die Pragmatik des jeweiligen Gerichtswortes anschließen. Als Beispiel für die Leserlenkung, die die Quellen der synoptischen Überlieferung mit Hilfe der Adressatenorientierung vornehmen, lassen sich die unterschiedlichen Fassungen der Beschreibung des Unterschieds zwischen Johannes dem Täufer und dem kommenden ἰσχυρότερος in Mk 1,8 diff. Lk 3,16 par. Mt 3,11 anführen. Es gibt zwei Differenzen, auf die es in diesem Zusammenhang ankommt, weil sie miteinander korrespondieren: (a) Johannes spricht von seiner eigenen Tauftätigkeit bei Markus im Aorist (ἐγὼ ἐβάπτισα ὑμᾶς ὕδατι, 1,8a), während die bei Lukas und Matthäus überlieferte Q-Fassung das Präsens verwendet (ἐγὼ ... ὑμᾶς βαπτίζω ἐν ὕδατι, Lk 3,16b par. Mt 3,11a)68. Bei Markus interpretiert die Aussage also das, was der Täufer getan hat, in Q hingegen charakterisiert sie hingegen seine Tätigkeit. (b) Nach Mk 1,8b tauft „der Stärkere“ nur „mit heiligem Geist“ (ἐν πνεύματι ἁγίῳ), bei Lukas und Matthäus „mit heiligem Geist und Feuer“ (ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρί).

In der neueren Literatur wird der Aorist bei Markus einmütig als redaktionelle Änderung erklärt, während umstritten ist, ob die Formulierung ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ (α) von Matthäus und Lukas aus Mk 1,8b in die QFassung des Logions eingetragen wurde, die dementsprechend nur davon gesprochen habe, dass der „Stärkere“ ἐν πυρί taufen wird69, ob (β) die Verknüpfung von „(heiligem) Geist und Feuer“ durch Q vorgenommen wurde, während Johannes selbst nur von der Feuertaufe gesprochen habe70 oder ob Tag tatsächlich lesen oder hören); zur Unterscheidung von „erzählter“ und „besprochener“ Welt vgl. H. WEINRICH, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, München 62001. – Auf der historischen Ebene ist eine solche Unterscheidung im Einzelfall exegetisch natürlich unkontrollierbar; wir können lediglich postulieren, dass es möglich bis wahrscheinlich ist, dass z.B. an die Öffentlichkeit ‚adressierte‘ Worte Jesu und des Täufers auch von ihren jeweiligen Anhängern ‚gehört‘ wurden und dass diese das Gehörte mit einer durchaus anderen pragmatischen Deutung versahen als die „Adressaten“. – Noch einmal eine andere Frage ist die Unterscheidung zwischen den fiktiven und den intendierten Adressaten (s. dazu u. Abschn. IV. 1.3). 68 εἰς μετάνοιαν in Mt 3,11 ist mit großer Wahrscheinlichkeit redaktionelle Ergänzung durch den Evangelisten. 69 So z.B. T. W. MANSON, The Sayings of Jesus, London 1949, 40f; S. SCHULZ, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 368; P. HOFFMANN, Studien zur Theologie der Logienquelle (NTA NF 8), Münster 1972, 30f. 70 So z.B. S. V. DOBBELER, Das Gericht und das Erbarmen Gottes (BBB 70), Frankfurt a.M. 1988, 49ff; J. ERNST, Johannes der Täufer. Interpretation – Geschichte – Wirkungsgeschichte (BZNW 53), Berlin / New York 1989, 53f; H. T. FLEDDERMANN, Mark and Q. A Study of the Overlap Texts (BEThL 122), Leuven 1995, 35 sowie The Critical Edition of Q, ed. J. M. Robinson / P. Hoffmann / J. S. Kloppenborg, Leuven/Minneapolis 2000, 14f.

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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(γ) bereits Johannes selbst angekündigt habe, dass „der Stärkere“ „mit (heiligem) Geist und Feuer“ taufen wird71. In der Diskussion keine Rolle spielt erstaunlicherweise die Frage nach den Adressaten dieses Wortes: Auf wen verweist das Pronomen ὑμᾶς in Mk 1,8a.b und in Q 3,16b.e innerhalb des jeweiligen Kontextes? Wen lassen die beiden Erzähler den Täufer mit dieser Proform anreden? Der Unterschied ist nicht zu übersehen:72 Markus stellt in 1,5 das Wirken des Täufers als eine Erfolgsgeschichte dar, indem er mit Hilfe zweier durativer Imperfekte (ἐξεπορεύετο und ἐβαπτίζοντο) die positive Resonanz beschreibt, die Johannes zuteil wurde: „Das ganze Land Judäa und alle Jerusalemer kamen heraus zu ihm und ließen sich von ihm im Jordanfluss taufen, wobei sie ihre Sünden bekannten“. Sie sind es, d.h. diejenigen, die sich der „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ (V. 4) unterzogen haben, die Markus damit zu den mit ὑμᾶς in V. 8 Angesprochenen macht. Dadurch bekommt nicht nur der Aorist ἐβάπτισα seinen guten Sinn73, sondern auch die Ankündigung, dass der „Stärkere“ eben sie „mit heiligem Geist“ taufen wird: Markus macht die Ankündigung des Täufers damit zu einem Verheißungswort an die von ihm Getauften, das diese ihres zukünftigen Heils vergewissern will, und er bringt damit zum Ausdruck, dass die Überbietung der Wassertaufe des Täufers durch die Geisttaufe des „Stärkeren“ nicht als Ablösung zu verstehen ist, sondern Kontinuität impliziert.74 71

So z.B. J. D. G. DUNN, Spirit-and-Fire Baptism, NT 14 (1972) 81–92, mit einem ausführlichen Bericht über ältere Positionen; F. LANG, Erwägungen zur eschatologischen Verkündigung Johannes des Täufers, in: Jesus Christus in Historie und Theologie. FS Hans Conzelmann, Tübingen 1975, 459–473, hier 466ff; O. BÖCHER, Johannes der Täufer in der neutestamentlichen Überlieferung (1978), in: ders., Kirche in Zeit und Endzeit. Aufsätze zur Offenbarung des Johannes, Neukirchen-Vluyn 1983, 70–89, hier 71; R. L. WEBB, John the Baptizer and Prophet. A Socio-Historical Study (JSNT.S 62), Sheffield 1991, 272ff; ZAGER, Gottesherrschaft (s. Anm. 9), 131f. – Mit Recht nicht durchgesetzt hat sich die Interpretation von πνεῦμα als „Sturm“ oder „Wind“ (so z.B. H. SAHLIN, Studien zum dritten Kapitel des Lukasevangeliums (UUA 2), Uppsala 1949, 50ff; E. SCHWEIZER, Art. πνεῦμα κτλ., ThWNT 6 (1959) 387–453, hier 396f; E. BEST, Spirit-Baptism, NT 4 (1960) 236–243; zur Kritik vgl. REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 156. – Noch einmal anders R. LAUFEN, Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums (BBB 54), Königstein/Bonn 1980, 107ff, der die bereits früher vertretene Auffassung erneuert, derzufolge der historische Täufer „nur“ von einer Geisttaufe durch den kommenden Stärkeren gesprochen habe (vgl. auch ebd. 101 mit Anm. 54 [S. 413]). 72 Vgl. auch schon M. SATO, Q und Prophetie. Studien zur Gattungs- und Traditionsgeschichte der Quelle Q (WUNT 2/29), Tübingen 1988, 127. 73 In der Regel wird angenommen, Markus wolle mit Hilfe des Aorists den Täufer zum Ausdruck bringen lassen, dass seine Wassertaufe „ihre Gültigkeit verloren hat“ (ZAGER, Gottesherrschaft [s. Anm. 9], 129; s. auch V. DOBBELER, Gericht [s. Anm. 70], 53). Diese Interpretation geht jedoch mit Sicherheit am Aussagewillen des Textes vorbei, denn in der erzählten Welt ist der Täufer, als er diese Worte spricht, ja noch aktiv; Jesus ist noch gar nicht auf dem Plan und muss sogar erst selbst noch von Johannes getauft werden. Darüber hinaus scheitert diese Deutung allein schon an der Ankündigung ἔρχεται ... ὀπίσω μου (Mk 1,7), die das Kommen des ἰσχυρότερος als einen Vorgang kennzeichnet, der vom Standpunkt des erzählten Sprechers aus gesehen noch in der Zukunft liegt. 74 Man kann darum auch nicht sagen, dass Markus einen „Gegensatz“ von Wasser- und Geisttaufe konstruiert (so z. B. E. KLOSTERMANN, Das Markusevangelium [HNT 3], Tübingen 51971, 7; s. auch HOFFMANN, Studien [s. Anm. 69], 21).

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Demgegenüber setzt die Logienquelle eine ganz andere Konstellation voraus:75 Sie besteht aus dem Gegenüber von Johannes und Angehörigen einer noch unentschiedenen Öffentlichkeit, die Umkehr und Taufe noch nicht absolviert haben und darum noch dazu gebracht werden müssen (vgl. Q 3,8: ποιήσατε οὖν καρπὸν ἄξιον τῆς μετανοίας)76. Ihre Bezeichnung als γεννήματα ἐχιδνῶν (Q 3,7b) lässt deutlich erkennen, dass sie sich noch in einer Situation befinden, in der ihnen – wenn sie sich nicht ändern – künftige Vernichtung droht. Darüber hinaus steckt auch in der rhetorischen Frage τίς ὑπέδειξεν ὑμῖν φυγεῖν ἀπὸ τῆς μελλούσης ὀργῆς (V. 7) und in der Bestreitung des Nutzens ihrer Abrahamskindschaft (Q 3,8b–d) ein propositionaler Gehalt, der die Adressaten der Rede des Täufers in eindeutiger Weise qualifiziert: Ihnen wird eine Daseinsgewissheit zugeschrieben, der Gott die Basis entzogen hat und die darum als völlig unbegründet entlarvt werden kann. Auf diese Adressaten bezieht sich das zweifache ὑμᾶς in Q 3,16b.e, und das hat mehrere Konsequenzen: Zunächst kann auf Grund der semantischen und pragmatischen Kohärenz der gesamten Rede zuverlässig davon ausgegangen werden, dass in Q 3,16e nur von einer Feuertaufe gesprochen wurde und die Geisttaufe durch Matthäus und Lukas aus Mk 1,8 übernommen wurde. Darüber hinaus lässt sich aber auch die besondere Akzentuierung verständlich machen, mit der das Präsens βαπτίζω die Selbstaussage des Täufers in 3,16b versieht: Es charakterisiert die Eigenart der Taufe des Johannes im Gegenüber zur Eigenart der Taufe des „Stärkeren“ und hat die Funktion, die Wassertaufe als eine Alternative zur Feuertaufe darzustellen und damit unter den von der Vernichtung Bedrohten für sie zu werben: Die Wassertaufe eröffnet die Möglichkeit, dem Unheilsgeschick der Feuertaufe77 zu entgehen.78

Anhand von drei weiteren Beispielen soll zunächst die Eindeutigkeit bisheriger Interpretationen von Gerichtsaussagen problematisiert werden (mehr 75 In Mt 3,7 sind die „Pharisäer und Sadduzäer“ als Adressaten der Rede des Täufers sicher redaktionell; ob ὄχλοις (Lk 3,7a) in Q stand, ist unsicher. Nicht zu Q gehörten auch die sog. „Standespredigt“ (Lk 3,10–14) und die Exposition des Vergleichs zwischen Johannes und dem ἰσχυρότερος (Lk 3,15–16a), bei der es sich um eine redaktionelle Überleitung handeln dürfte. 76 Der Plural καρποὺς ἀξίους (Lk 3,8) ist lukanisch und weist auf die Forderungen der Standespredigt voraus. 77 Eigentlich ist die Verwendung der Begriffe „taufen“ und „Taufe“ im Vorstehenden sowie in der Diskussion um das Selbstverständnis Johannes des „Wäschers“ oder des „Eintauchers“ (so müssten wir eigentlich übersetzen) generell anachronistisch, weil sie die theologische Bedeutung des christlichen Taufsakraments auf den von Johannes praktizierten Wasserritus überträgt. Die geläufige Übersetzung verdeckt, dass βάπτω, βαπτίζω für „eintauchen“ oder „waschen“ steht und darum nicht mit den am Begriff „taufen“ etc. haftenden Konnotationen aufgeladen werden darf (vgl. z.B. Josephus, Bell 1,437; Vita 15; zur Bezeichnung von rituellen Reinigungen z.B. 2.Kön 5,14; Jdt 12,7). Die Formulierung βαπτίζειν ἐν πυρί ist insofern nicht mehr als eine metaphorische Analogiebildung zu dem, was Johannes tut: Wie er jetzt in Wasser taucht, wird der kommende Stärkere in Feuer tauchen. Nicht vergessen werden sollte auch, dass der Begriff βαπτιστής in der gesamten außerchristlichen griechischen Literatur nur noch bei Josephus, Ant. 18,116 belegt ist – und hier ebenfalls unseren Johannes bezeichnet („Johannes ὁ ἐπικαλούμενος βαπτιστής“). 78 Zur Korrelation von Wasser und Feuer als Reinigungsmittel (die Zerstörungsfunktion des Feuers darf von diesem Gebrauch nicht getrennt werden) vgl. z.B. Num 31,23: „... alles, was Feuer verträgt, sollt ihr durchs Feuer gehen lassen, so wird es rein; ... aber alles, was Feuer nicht verträgt, sollt ihr durchs Wasser gehen lassen“; s. auch Plutarch, Mor. 263e: τὸ πῦρ καθαίρει καὶ τὸ ὕδωρ ἁγνίζει („das Feuer reinigt, und das Wasser heiligt“).

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nicht!). In einem zweiten Schritt will ich dann versuchen, mit Hilfe einer Typologie potentieller kommunikativer Konstellationen Parameter für eine adressaten- und hörerorientierte Interpretation der jesuanischen Gerichtsaussagen zu gewinnen. 1. Am Anfang der Untersuchung sollen drei exemplarische Problematisierungen stehen: a) Als erstes Beispiel sei noch einmal die Q-Fassung der in Lk 3,7–9.16–17 par. Mt 3,7–12 überlieferten sog. „Gerichtspredigt“ Johannes des Täufers in den Blick genommen. Sie wird in der Regel so interpretiert, als hätte sie ein und denselben Adressatenkreis, nämlich die in V. 7 als γεννήματα ἐχιδνῶν angesprochene Zuhörerschaft, die Johannes vom Feuergericht bedroht sieht und der er seine Taufe im Jordan als Möglichkeit anbietet, dem andringenden Unheil zu entgehen. So hat sich das ganz offensichtlich auch schon die Redaktion der Logienquelle vorgestellt, weil es im Text kein Indiz für einen Adressatenwechsel gibt. Auch in unseren deutschen Bibelübersetzungen steht durchweg „Die Bußpredigt des Täufers“79 o.ä. über diesem Textzusammenhang. – Nun hat jedoch die Q-Forschung längst plausibel machen können, dass wir hier nicht einen zusammenhängenden Redetext vorliegen haben (von einer „Predigt“80 ganz zu schweigen – an dieser Formulierung sieht man im übrigen auch, welches Kommunikationsmodell die Textinterpretation unterschwellig leitet), sondern eine kleine Sammlung von Einzellogien, deren Herkunft und Situationsbezug im Einzelnen offen ist.81 Damit wird aber auch die Annahme fraglich, alle diese Logien hätten ursprünglich ein und denselben Adressaten- und Hörerkreis gehabt82, denn sie setzt die literarische Fiktion ungeprüft mit der historischen Situation gleich. Nun sind in der Regel unsere Möglichkeiten, die jeweiligen historischen Adressaten und Hörer zuverlässig zu identifizieren, zwar begrenzt, sie sind aber nicht von vornherein ausgeschlossen. In diesem Sinne können wir z.B. mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die historischen Adressaten der in Q 3,7–8 überlieferten Drohworte aus den oben angeführten Gründen83 jüdische Männer und Frauen waren, die der Aufforderung zur Umkehrtaufe 79 So z.B. auch noch in der Revision der Übersetzung Martin Luthers von 1984 als Überschrift zu Mt 3,1–12. 80 So z.B. HOFFMANN, Studien (s. Anm. 69), 15; V. DOBBELER, Gericht (s. Anm. 70), 60; REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 154. 81 Vgl. z.B. J. S. KLOPPENBORG, The Formation of Q, Philadelphia 1987, 102ff: Mindestens zwei Einheiten seien zu unterscheiden: Q 3,7–9 als „threat of imminent judgment and a call to repentance“ und Q 3,16–17 als „apocalyptic prediction concerning a figure who will effect both fiery judgment and salvation of the elect“ (102f); SATO, Q und Prophetie (s. Anm. 72), 209ff; WEBB, John the Baptizer and Prophet (s. Anm. 71), 263. 82 Vgl. z.B. V. DOBBELER, Gericht (s. Anm. 70), 64ff. 83 S.o. S. 49f.

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bisher noch nicht Folge geleistet hatten. Möglich bis wahrscheinlich ist aber ebenfalls, dass zu den historischen Hörern dieser Worte neben der Gruppe der Adressaten auch Menschen gehörten, die die Umkehrtaufe bereits absolviert hatten und zu Anhängern Johannes des Täufers geworden waren, d.h. eben jener Kreis, der uns in Mk 1,8 als literarische Adressaten begegnet84. Es ist ohne weiteres vorstellbar, dass ein solcher Jüngerkreis85 sich auch nach der Taufe weiterhin in der Umgebung des Täufers aufhielt und damit zu Hörern seiner prophetischen Verkündigung wurde.86 Wenn wir nun die Adressatenfrage auch in Bezug auf die anderen Einzellogien stellen und dabei jeweils eine diese beiden Gruppen – zum einen bereits getaufte Täuferjünger, zum anderen die Öffentlichkeit vor Umkehr und Taufe – als Adressaten einsetzen, lässt sich mindestens für das Bildwort vom Worfeln und dem unterschiedlichen Geschick von Stroh und Weizen (Q 3,17)87 auch eine andere als die gemeinhin angenommene Ausrichtung postulieren: Das Bild setzt voraus, dass der nicht erwähnte Vorgang des Dreschens, der das Korn vom Rest des Getreides trennt, bereits erfolgt ist und dass die Adressaten und Hörer dies auf Grund ihrer kulturellen Enzyklopädie auch wissen. Ihnen wird damit in Bezug auf den zeitlichen Ablauf der Vorgänge, den das Bild in ihrer Imagination aufruft, eine Position zwischen Dreschen und Worfeln zugewiesen. Übertragen auf den Kontext, in dem das Bild sprachlich realisiert wird, verschränken sich bildspendender und bildempfangender Bereich in der Weise, dass der Vorgang des Dreschens metaphorisch auf die Johannestaufe und die mit ihr einhergehende Scheidung unter den Menschen verweist und auf sie zurückblickt. Was noch aussteht, ist einzig und allein die eschatische Sanktionierung dieser Scheidung durch die Zuweisung von Heil an die Getauften und Unheil an die Nichtgetauften.88 Diese Perspektive erlaubt es, Q 3,17 auch als ein Wort zu verstehen, das der Täufer an diejenigen gerichtet hat, die Umkehr und Taufe bereits hinter sich haben. Es liegt auf der Hand, dass es dadurch sofort eine ganz andere Ausrichtung bekäme: Es wäre in diesem Fall als stabilisierendes Trostwort an die Angehörigen des Täuferkreises konzipiert, das ihnen als Anhänger eines sozial marginalisierten und stigmatisierten Propheten die beruhigende Vergewisserung vermitteln will, dass die eschatische Sanktionierung ihrer Entscheidung für die Umkehrtau84

S.o. S. 49. Zu seiner möglichen Gestalt vgl. K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes. Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Christentums (PThSt 19), Paderborn 1991, 326ff. 86 Vgl. dazu WEBB, John the Baptizer and Prophet (s. Anm. 71), 263. 87 Nicht die Spreu wird verbrannt, sondern das Stroh (vgl. REISER, Gerichtspredigt [s. Anm. 9], 165); die Spreu wird demgegenüber vom Winde verweht. 88 Vgl. auch R. L. WEBB, The Activity of John the Baptist’s Expected Figure at the Threshing Floor (Matthew 3.12 = Luke 3.17), JSNT 43 (1991) 103–111. 85

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fe unmittelbar bevorsteht. Ihnen wird in Kürze das Heil zugewiesen, während diejenigen, die sich dem Aufruf des Täufers versagt haben, „in unauslöschlichem Feuer“ verbrannt werden. Zur Vermeidung von möglichen Missverständnissen sei noch einmal betont: Sicherheit ist natürlich nicht zu gewinnen, weder zur einen Seite hin, aber auch nicht zur anderen. Es ging mir an dieser Stelle lediglich um die Problematisierung allzu selbstverständlich gewordener exegetischer Scheingewissheiten, und ich wollte ein Bewusstsein dafür wecken, dass mit einem sehr viel differenzierteren pragmatischen Potential von Gerichtsaussagen zu rechnen ist, als in der Regel angenommen wird. b) Als zweites Beispiel kann das Doppelwort über das Auftreten der Königin des Südens und der Niniviten im Jüngsten Gericht (Lk 11,31–32 par. Mt 12,41–42) fungieren. Es wurde zwar schon in der Logienquelle als sog. „Kommentarwort“89 mit dem Wort von der Zeichenforderung „dieses Geschlechts“ und dem Zeichen des Jona verknüpft, doch existierte es ursprünglich ebenfalls selbständig.90 Mit Recht gilt dieses Wort, das von Matthäus und Lukas zwar in unterschiedlicher Reihenfolge, jedoch nahezu wortgleich überliefert wird, fast durchweg als authentische Jesusüberlieferung.91 Dieses Wort reagiert zweifellos auf die weitgehende Ablehnung, die Jesus in Israel erfahren hatte. Vor diesem Hintergrund sieht man es in der Regel als „Drohwort“92 an, dem die pragmatische Funktion zugeschrieben wird, Israel mit Hilfe eines „letzten, dringlichen Appell(s)“93 doch noch zur Umkehr zu veranlassen.94 Als Adressaten werden dabei die Angehörigen „dieses Geschlechts“ vorausgesetzt, von denen hier gesagt wird, dass die Königin des Südens und die Niniviten gegen sie im Endgericht als Belastungszeugen auftreten werden. Als Hörer sind aus den oben angeführten Gründen95 auch Jünger vorauszusetzen (wer sollte dieses Wort sonst überliefert haben?). Die exegetische Redlichkeit nötigt uns freilich dazu, noch einen Schritt weiterzugehen, denn die Annah89 Vgl. J. WANKE, „Bezugs- und Kommentarworte“ in den synoptischen Evangelien. Beobachtungen zur Interpretationsgeschichte der Herrenworte in der vorevangelischen Überlieferung (EThSt 44), Leipzig 1981, 56ff. 90 Vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus II (EKK 1/2), Zürich und Braunschweig / Neukirchen-Vluyn 1990, 275. 91 Vgl. dazu die Darstellung mit dem Referat der Gegenpositionen bei RINIKER, Gerichtsverkündigung (s. Anm. 9), 296ff. – Umso unverständlicher ist, dass W. Zager auf eine Einbeziehung dieses Textes in seine Untersuchung ohne jede Begründung verzichtet. 92 Vgl. R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 29), Göttingen 91979, 118; LUZ, Evangelium nach Matthäus II (s. Anm. 90), 275. 93 LUZ, ebd. 94 Vgl. REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 206; RINIKER, Gerichtsverkündigung (s. Anm. 9), 295.300. Demgegenüber stellt J. BECKER diese Worte den Wehe-Worten über die galiläischen Städte in Lk 10,13–15 par. Mt 11,21–23 an die Seite, in denen er Jesus „eine Art abschließende Beurteilung“ ausprechen sieht (Jesus von Nazaret [s. Anm. 3], 82). 95 S.o. S. 52.

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me, dass die erzählten Konstellationen (zufolge Mt 12,38 sind Schriftgelehrte und Pharisäer die Adressaten, zufolge Lk 11,29 offensichtlich Menschen aus den ὄχλοι)96 die faktische Konstellation im Kontext des Wirkens Jesu abbilden, ist nichts als eine petitio principii. Sie verdeckt nämlich, dass wir über die pragmatische Situation, der sich dieses Jesuswort verdankt, nicht das Geringste wissen. Mit nicht geringerem methodischen Recht können wir darum auch den Kreis der Jünger Jesu als Adressaten dieses Wortes postulieren, und dann erhielte es sofort eine völlig andere Pragmatik: Es ließe sich dann im Sinne von Brandenburgers „apokalyptischem“ Gerichtsverständnis97 als ein stabilisierendes Trostwort verstehen, dem die Intention zukam, die von der weitgehenden Ablehnung Jesu ausgehende Irritation und Verunsicherung unter seinen Anhängern aufzufangen. Jesus vermittelte den Jüngern mit diesem Wort die Gewissheit, dass „diese Generation“, die auf seine Verkündigung mehrheitlich anders reagiert hat als sie, der sicheren Verurteilung im Gericht entgegengeht, und bestätigte damit nicht nur deren eigene Entscheidung für ihn, sondern motivierte sie auch zum Durchhalten ihrer Heilsorientierung. Zugunsten einer solchen Interpretation ließe sich darüber hinaus auch die verschiedentlich beobachtete Konvergenz dieses Wortes mit der in Lk 10,23–24 par. Mt 13,16–17 überlieferten Seligpreisung anführen.98 Sie gilt in beiden literarischen Zusammenhängen den Jüngern, was aber z.B. M. Reiser und J. Becker nicht daran hindert, als historische Adressaten die jüdische Öffentlichkeit zu postulieren99. c) Das dritte Beispiel, die Wehe-Worte gegen Chorazin und Bethsaida (Lk 10,13–14 par. Mt 11,21–22), lässt die Problematik noch deutlicher werden: Trotz ihres performativen Charakters haben sie gewissermaßen zwei Adressaten, einen fiktiven Adressaten und einen intendierten Adressaten, und zwischen beiden ist sorgfältig zu unterscheiden. Illustrieren lässt sich diese Differenz mit Hilfe der Wehe-Worte, die sich in den hinteren Kapiteln des äthiopischen Henochbuches100 und in den Sibyllinischen Orakeln101 reichlich 96 Vgl. auch das analoge Gegenüber in Mt 3,7 (Pharisäer und Sadduzäer) und Lk 3,7 (ὄχλοι). 97 S.o. S. 45f. 98 In der Critical Edition wird als Q-Fassung rekonstruiert: „23bSelig die Augen, die sehen, was ihr seht ...; 24denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wünschten zu sehen, was ihr seht, und sie sahen es nicht, und zu hören, was ihr hört, und sie hörten es nicht“ (196–199); ebenso auch H. T. FLEDDERMANN, Q. A Reconstruction and Commentary, Leuven 2005, 886 (lediglich zu Beginn von V. 24 postuliert er auch noch das ἀμήν aus Mt 13,17 für Q). 99 Vgl. BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 82; REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 202f. 100 Vgl. äthHen 94,6–8; 95,4–7; 96,4–8; 97,7–8; 98,9f.11–15; 99,1–2.11–15; 100,7–9. 101 Vgl. OrSib 3,303.319.323.480.492.504.508.512; 4,143; 5,126.168.289.290.317.434; 7,22. 118; 8,95; 11,33.64.106.183.204.285.

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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finden: Sie richten sich stets (in äthHen) gegen Frevler, Ausbeuter, Gewalttäter und andere Sünder sowie (in OrSib) vor allem gegen die Bewohner fremder Städte und Länder, und sie reden diese jeweils auch direkt an. Von diesen fiktiven Adressaten der Wehe-Worte wird nun aber gerade nicht erwartet, dass sie sie auch lesen, denn für sie wurden die Schriften, in denen die WeheWorte stehen, eben gerade nicht geschrieben. Als Leser der gesamten Schrift, und damit als intendierte Adressaten102 der in ihr enthaltenen Wehe-Worte, sind vielmehr die Angehörigen derjenigen Gruppe anzusehen, der auch der Verfasser der Schrift und Autor der Wehe-Worte angehört und die den fiktiven Adressaten der Wehe-Worte feindlich gegenübersteht. Die Wehe-Worte sind insofern Bestandteil einer gruppeninternen Kommunikation, und ihre Frontstellung gegen die gemeinsamen Gegner gibt ihnen die pragmatische Funktion, die Kohäsion innerhalb dieser Gruppe zu stärken. Nichts anderes gilt auch für die Wehe-Worte gegen Chorazin und Bethsaida (hinzunehmen ließe sich auch noch das Wort gegen Kapernaum Lk 10,15 par. Mt 11,23): Weil diese Worte überliefert wurden, können wir voraussetzen, dass sie im Beisein von Anhängern Jesu gesprochen wurden, die darum aber nicht nur als ihre „realen“, sondern auch als „intendierte Hörer“ gelten können103 und damit in die Position der Adressaten einrükken. Auch diese Wehe-Worte lassen sich mithin als Bestandteil eines gruppeninternen Kommunikationsgeschehens verstehen, und dadurch wird es möglich, ihnen dieselbe, auf Vergewisserung und Stabilisierung der eigenen Anhänger ausgerichtete Pragmatik zuzuschreiben wie den anderen Gerichtsworten.104 d) Wenn wir eine kurze Zwischenbilanz ziehen, tritt das Dilemma klar zutage: Es reicht bei weitem nicht aus, lediglich nach dem Vorstellungsgehalt der Gerichtsvorstellungen, Gerichtskonzeptionen und Gerichtserwartungen 102

S. dazu o. Anm. 67. Vgl. ebd. 104 Vgl. bereits C.-P. MÄRZ, Zum Verständnis der Gerichtspredigt in Q, in: Weltgericht und Weltvollendung (s. Anm. 44), 128–148, hier 148 in Bezug auf die Intention dieser Gerichtsworte innerhalb der Logienquelle. – Ähnliches lässt sich auch von einem bei Theophilus, Autolyc. 2,36 erhaltenen Stück aus den Sibyllinischen Orakeln sagen: Der Abschnitt beginnt mit einer Unheilsankündigung gegen diejenigen, die sich der Verehrung „des wahren und ewigen Gottes“ verweigert haben und stattdessen „falsche und nichtige Götter“ anbeten. Der Text fährt dann fort: „Und doch wollt ihr nicht erwachen und kommen zu weis’rer Gesinnung, wollt nicht erkennen den König, den Gott, der alles erschauet. Deshalb wird euch die Glut des verzehrenden Feuers erfassen, und in loderndem Feuer in Ewigkeit werdet täglich ihr brennen ... Aber den treuen Verehrern des wahren und ewigen Gottes wird zum Erbe das Leben, und ewiglich werden sie wohnen im Paradies ...“ (Übers. J.-D. GAUGER, Sibyllinische Weissagungen. Griechisch-deutsch, Düsseldorf/Zürich 1998, 65). – Als intendierte Adressaten dieses Textes dürften diejenigen anzusehen sein, von deren eschatischem Heil am Ende in der 3. Person die Rede ist, während die angeredete Gruppe (2. Person) in ihm lediglich als fiktiver Adressat präsent ist. 103

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zu fragen. Es ist vielmehr unerlässlich, die Gerichtsaussagen Johannes des Täufers und Jesu auch im Blick auf ihre Adressatenorientierung zu interpretieren und nach ihrer Pragmatik zu fragen, denn es ist allererst die Rede vom Gericht, die über Sinn und Funktion der jeweils mitgeteilten Gerichtskonzeption entscheidet. Angesichts des Zustandes, in dem die synoptische Überlieferung auf uns gekommen ist, vervielfachen sich damit aber auch die Probleme, die sich der historischen Rückfrage entgegenstellen. Die Adressaten der jesuanischen Gerichtsaussagen ermitteln zu wollen, was für die Frage nach deren Pragmatik ja unerlässlich ist, dürfte sich in den meisten Fällen als gänzlich undurchführbar erweisen. Aus der Gleichnisforschung sind die diesbezüglichen Schwierigkeiten hinlänglich bekannt105 – gleichzeitig aber auch die Bedeutung und die Unverzichtbarkeit einer solchen Fragestellung. Ich möchte darum den umgekehrten Weg beschreiten und nicht von den Einzeltexten, sondern von einer Typologie der pragmatischen Situationen ausgehen, denen Gerichtsaussagen zugeordnet werden können. Sie lassen sich ohne Mühe ermitteln, wenn wir die einzelnen kommunikativen Konstellationen, in die die synoptischen Erzähler Johannes den Täufer und Jesus hineinstellen, zu Typen zusammenfassen. Ein solches Vorgehen hat auch den methodischen Vorteil einer gegen Null gehenden Hypothetizität, denn historische Zweifel, die immer zurückbleiben, wenn wir Einzeltexte einer bestimmten Situation zuordnen, lassen sich bei der Arbeit mit typischen Konstellationen so gut wie ganz ausschließen. 2. Auf dieser Grundlage können wir drei pragmatische Situationen, denen sich die Gerichtsaussagen Johannes des Täufers und Jesu potentiell zuordnen lassen, idealtypisch voneinander unterscheiden: a) Johannes/Jesus und die noch indifferente Öffentlichkeit: Auf diese Konstellation bezogen ist die protreptische Rede, die die Adressaten zu einer Entscheidung mit „Schwellenfunktion“106 auffordert. Ihr Kennzeichen ist das Stichwort „Umkehr“. Dem Verweis auf das bevorstehende Gericht kommt die Funktion zu, die Adressaten in ihrer augenblicklichen Existenzorientierung zu verunsichern, und dementsprechend wird mit den Unheilsfolgen gedroht, die bei der Verweigerung der Umkehr eintreten.107 Aus der Johannesüberlieferung lässt sich Mt 3,7–10 par. Lk 3,7–9 dieser Konstellation zuordnen, und 105 Wie wir aus Lk 12,41 wissen, hatte bereits der lukanische Petrus an dieser Stelle dieselben Probleme wie die modernen Gleichnisinterpreten. 106 Ich orientiere mich hier an der Terminologie von K. BERGER, der unter den Begriff der „protreptische(n) Mahnrede“ alles fasst, „was die grundsätzliche Wahl des ... Weges zum Thema macht“ (Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 217). 107 Diese Funktion der Rede vom Gericht entspricht dem, was E. BRANDENBURGER unter den Begriff des „prophetisch-eschatologische(n) Gerichtsverständnis(ses)“ gefasst hat (Gerichtskonzeptionen [s. Anm. 44], 321); s.o. S. 45f (auch zur Kritik an Brandenburgers Terminologie).

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aus der Jesusüberlieferung gilt Entsprechendes für Lk 13,1–5. Hier wie dort ist die Eindeutigkeit dieser Adressatenorientierung und der mit ihr einhergehenden Pragmatik der Gerichtsankündigung dadurch gesichert, dass das Unheilsgeschick, das den jeweiligen Adressaten auf Grund ihrer gegenwärtigen Verfasstheit unausweichlich droht, als noch vermeidbar dargestellt wird (Q 3,7f: „Schlangenbrut, wer hat euch weisgemacht, dass ihr dem kommenden Zorn entfliehen werdet? Bringt Frucht, die der Umkehr entspricht!“; Lk 13,3.5: „Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle genauso umkommen!“). Auch die in Mt 5,25–26 par. Lk 12,58–59 überlieferte metaphorische Warnung vor der drohenden, aber noch vermeidbaren Verurteilung, die dasselbe argumentative Gefälle aufweist, ließe sich dieser Konstellation zuweisen.108 b) Johannes/Jesus und ihr jeweiliger Jüngerkreis (gemeint sind damit diejenigen, die der an die Öffentlichkeit adressierten protreptischen Aufforderung nachgekommen sind). Innerhalb dieser Konstellation ist zwischen zwei pragmatischen Orientierungen von Gerichtsaussagen zu unterscheiden: α) Gerichtsworte können auf die zurückliegende Entscheidung und die mit ihr einhergehende Differenzierung bezogen werden. Sie lassen sich dann in pragmatischer Hinsicht als stabilisierende Heils- und Trostworte für die eigenen Anhänger verständlich machen: Angesichts der Erfolglosigkeit Johannes des Täufers und Jesu stellen sie das definitive Unheilsgeschick derer fest, die die protreptische Rede abgewiesen haben und der Umkehrforderung nicht nachgekommen sind. Sie vermögen dadurch die Marginalisierungserfahrung ihrer Jünger zu kompensieren und die mit ihr einhergehende Verunsicherung abzubauen, indem sie diesen die Richtigkeit ihrer Entscheidung bestätigen und sie zum Durchhalten ihrer neugewonnenen Heilsorientierung motivieren. Dieses funktionale Potential kann solchen Gerichtsaussagen vor allem auch dann zuwachsen, wenn sie dem Unheilsgeschick der Außenstehenden das Heilsgeschick der eigenen Gruppe gegenüberstellen. Eine Vergewisserungsfunktion, die in einer solchen pragmatischen Situation plausibel ist, lässt sich darum vor allem solchen Gerichtsaussagen zuschreiben, wie sie in Mt 3,12 par. Lk 3,17109; Mt 7,13–14 par. Lk 13,24; Mt 8,11–12 par. Lk 13,28–29; Mt 12,41–42 par. Lk 11,31–32110 (vielleicht auch Lk 12,49) überliefert sind. Darüber hinaus bekommt vor allem auch der rätselhafte Doppelvergleich der gegenwärtigen Situation mit den Tagen Noahs und Lots in Lk 17,26–30 (par. Mt 24,37–39)111 einen plausiblen Sinn, wenn wir ihn auf diese Konstellation beziehen. 108

Vgl. die plausible Interpretation bei REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 270ff. S. dazu o. S. 52. 110 S. dazu o. S. 53f. 111 Zur überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktion vgl. BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 258ff; RINIKER, Gerichtsverkündigung (s. Anm. 9), 143ff. – Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Verbindung von Sintflut und Untergang Sodoms vgl. D. 109

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J. Becker und Ch. Riniker interpretieren dieses Logion als Bestandteil der sich an die jüdische Öffentlichkeit wendenden Verkündigung Jesu112, mit deren Pragmatik es sich jedoch kaum in Einklang bringen lässt: Weder die Menschen zur Zeit und mit Ausnahme Noahs noch die Bewohner Sodoms hatten jemals eine Chance, ihrer Vernichtung zu entgehen. Sie sind darum gänzlich ungeeignet, um als Beispiele innerhalb einer protreptischen Rede fungieren zu können, die ihren Adressaten einen Ausweg aus der kommenden Katastrophe eröffnen will. Das Fehlen jeder Rettungsmöglichkeit aus dem kommenden Unheil, das sich aus der Semantik der beiden Beispiele ergibt, machte es in diesem pragmatischen Kontext darum völlig funktionslos. Riniker stellt darum auch mit Recht die Frage, „ob ein solches Wort seinen Zweck, wachzurütteln im Hinblick auf die kommende Krise, überhaupt erfüllen konnte“113. Diese Probleme lassen sich hingegen sofort beseitigen, wenn wir den Kreis der Jünger als Adressaten voraussetzen. Wir können das Logion dann nämlich mühelos als stabilisierendes Trostwort verständlich machen, das die Jünger der Richtigkeit ihrer Entscheidung für Jesus vergewissern will. Aus den beiden Beispielen dürften vor allen Dingen zwei Elemente für die Jünger plausibel gewesen sein: zum einen die Tatsache, dass in beiden Fällen die Rettung einiger weniger mit der Vernichtung aller anderen einhergeht, und zum anderen die auffällige Beschreibung der noachitischen Menschheit und der Bewohner Sodoms in V. 27a.28b. Abgestellt ist gerade nicht auf ihre Sündhaftigkeit (obwohl sie natürlich im Hintergrund vorausgesetzt ist, denn nur sie erklärt, warum es in beiden Fällen zur Vernichtung kommt), sondern auf die Regelhaftigkeit der elementaren Lebensvollzüge.114 Derartige Verrichtungen, die als solche auf Grund ihrer unspektakulären Alltäglichkeit eigentlich nicht bemerkenswert wären, werden hier in den Vordergrund gestellt, um den Jüngern die Möglichkeit zu eröffnen, die Mehrheitsgesellschaft in ihrer Imagination mit der noachitischen Menschheit und den Bewohnern Sodoms gleichzusetzen: Von den Menschen der beiden biblischen Beispiele wird genau das gesagt, was die Jünger auch in ihrer eigenen Umwelt sehen: dass die Menschen essen, trinken, heiraten, verheiraten, kaufen, verkaufen, pflanzen und bauen – und zwar gänzlich unbeeindruckt von der Verkündigung Jesu. In beiden Hinsichten unterscheiden sie sich charakteristisch von der marginalisierten und sozial entwurzelten Exi-

LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle (WMANT 33), Neukirchen 1969, 75–83; DERS., Noah und Lot (Lk 17,26–29) – ein Nachtrag, ZNW 63 (1972) 130–132; J. SCHLOSSER, Les jours de Noé et le Lot. À propos de Luc, XVII,26–30, RB 80 (1973) 13–36. 112 Vgl. BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 260; RINIKER, Gerichtsverkündigung (s. Anm. 9), 154ff; vgl. auch REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 9), 309. 113 RINIKER, Gerichtsverkündigung (s. Anm. 9), 157. Als „Ruf zur Besinnung und Umkehr“ (REISER, Gerichtspredigt [s. Anm. 9], 309) lässt es sich jedenfalls nicht verstehen. 114 Bisweilen wird mehr oder weniger unter der Hand ein ethischer Vorwurf in diese Beschreibung eingelesen (vgl. z.B. R. SCHNACKENBURG, Der eschatologische Abschnitt Lk 17,20–37 [1970], in: ders., Schriften zum Neuen Testament. Exegese in Fortschritt und Wandel, München 1971, 220–243, hier 232f: „wer ... nur an sich selbst denkt und sein Leben genießen will, fällt dem Verderben anheim“; RINIKER, Gerichtsverkündigung [s. Anm. 9], 156: „eine kritische [ironische?] Beschreibung der Befangenheit im Alltagsleben“). Damit ist jedoch der Sinn der Beschreibung um Längen verfehlt. Völlig zurecht sieht BECKER demgegenüber hier „die nicht abgewertete Normalität des Lebens dieser Leute“ in den Vordergrund gestellt (Jesus von Nazaret [s. Anm. 3], 260).

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stenzweise des Jüngerkreises, die für einen Schatz im Acker bzw. für eine kostbare Perle – für die Gottesherrschaft also – alles andere aufgegeben haben (vgl. Mt 13,44.45–46).115 Indem Jesus dieses Verhalten, in dem sich die Ablehnung seiner Verkündigung dokumentiert, zu Merkmalen der Sintflutgeneration und der Bewohner Sodoms macht, liest er deren Geschick in die Geschichte seiner Zeitgenossen ein: Er entwertet damit nicht nur die Normalität des alltäglichen Lebens der Außenstehenden, sondern gibt seinen Jüngern auch ein Modell an die Hand, mit dessen Hilfe sie die Story derer, die Jesu Umkehrruf nicht gefolgt sind, fortschreiben können. Dadurch wird ihnen ihre eigene Entscheidung für Jesus bestätigt, und die Attraktivität dieser Deutung ihrer historischen Erfahrung besteht sicher nicht zuletzt auch darin, dass auch die Jünger sich in den beiden Stories, die Jesus aus ihrem kulturellen Wissen abruft, unterbringen können: in dem Geschick Noahs und Lots, die gerettet wurden, während alle anderen umkamen.

β) Formgeschichtlich davon unterscheiden lassen sich Gerichtsworte, die innerhalb von postkonversionalen Mahnreden116 Verwendung finden. Die Intention dieser Gattung besteht darin, die Adressaten der paränetischen Weisung zur Beibehaltung ihrer neugewonnenen Existenzorientierung anzuhalten.117 Dabei kann es z.B. um die Warnung vor der Abwendung von der Gruppe gehen, wofür man z.B. die in Mk 9,43–48 erhaltene Tradition (mit überlieferungsgeschichtlich vielleicht eigenständiger Parallele in Mt 5,29–30)118 als Beispiel anführen könnte.119 Auch Mt 10,28 par. Lk 12,4–5 ergibt im Kontext dieser Konstellation einen guten Sinn, und dasselbe gilt natürlich auch für Mt 10,32–33 par. Lk 12,8–9. Oder es geht darum, ein bestimmtes Gruppenethos einzuschärfen. Gerichtsaussagen bzw. Aussagen über eschatisches Heil und Unheil beschreiben in diesem Zusammenhang die Folgen eines bestimmten Handelns im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Während in der Täuferüberlieferung derartige Gerichtsworte fehlen, lässt sich aus der Jesusüberlieferung als schönes Beispiel das Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23–35) anführen: Mit seiner gerichtsparänetisch bewehrten Aufforderung zur Weitergabe der 115 Vgl. dazu G. THEISSEN, „Wir haben alles verlassen“ (Mc. X.28). Nachfolge und soziale Entwurzelung in der jüdisch-palästinischen Gesellschaft des 1. Jahrhunderts n. Chr. (1977), in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 31989, 106–141; DERS., Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der soziologischen Fragestellung (1979), in: ebd., 3–34, bes. S. 27f; TH. SCHMELLER, Brechungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese (SBS 136), Stuttgart 1989, 68ff. 116 Begriff nach BERGER, Formgeschichte (s. Anm. 106), 130ff. 117 Vgl. auch BRANDENBURGER, Art. Gericht (s. Anm. 53), 472,51ff. 118 RINIKER führt Mt 5,29f auf Q zurück und hält die hier belegte Struktur des Einzelwortes für älter, während er annimmt, dass in Mk 9,43ff die ursprüngliche Reihenfolge bewahrt ist (Gerichtsverkündigung [s. Anm. 9], 176ff). Andere sind anderer Meinung (z.B. D. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern [fzb 17], Würzburg 1977, 74). Non liquet. 119 Ich folge hier ZELLER, Mahnsprüche (s. Anm. 118), 76: „Die Sprüche wollen verhindern, dass der Hörer ... durch die Einzelsünde ... wieder aus der Heilssphäre herausfällt“.

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durch Gott empfangenen Vergebung fügt es sich viel ungezwungener in den pragmatischen Kontext der Anhängerunterweisung ein als in den Zusammenhang der auf Umkehr abzielenden öffentlichen Verkündigung Jesu. Wenn Matthäus dieses Gleichnis zu einem Bestandteil der Gemeindeinstruktion Jesu macht, so gibt er damit zu erkennen, dass er es viel besser verstanden hat als die meisten seiner Exegeten. Als apotreptisches Gegenstück dazu kann vielleicht die Aufforderung zum reziproken Verzicht aufs Richten/Verurteilen (erhalten in Mt 7,1–2 par. Lk 6,37–38) verstanden werden.120 γ) Die Wehe-Worte gegen Chorazin und Bethsaida (Lk 10,13–14 par. Mt 11,21–22)121 machen es erforderlich, auch noch eine dritte Konstellation in den Blick zu nehmen: das Verhältnis zwischen Johannes/Jesus und den definitiven Verweigerern der Umkehr. Tatsächlich gibt es diese Konstellation aber nicht wirklich. Verständlich machen lässt sich dies durch eine Erinnerung an unsere Unterscheidung zwischen den fiktiven Adressaten, den intendierten Adressaten und den Hörern eines Wortes122: Es steht außer Frage, dass die Bewohner dieser beiden Städte die textinternen Adressaten der Wehe-Worte sind. Wenn sie auch deren intendierte Adressaten und/oder Hörer sind, ändert sich sofort die pragmatische Situation, denn in diesem Fall hätten die Worte die Funktion, sie doch noch zur Umkehr aufzufordern, bzw. sie würden sie als eine solche Aufforderung wahrnehmen; die Bewohner der beiden Städte würden damit wieder zu der unter (a) beschriebenen indifferenten Öffentlichkeit, denn sie hätten die Möglichkeit, der Aufforderung doch noch nachzukommen oder sie erneut abzulehnen. Wenn sie hingegen weder das eine noch das andere sind, gibt es auch keine Interaktion mit ihnen mehr. – Mit Hilfe dieser hypothetischen Annahme können wir aber so etwas wie eine Gegenprobe vornehmen: Sie lässt nämlich erkennen, dass die Wehe-Worte gegen Chorazin und Bethsaida in der Tat lediglich Worte über diese beiden Städte sind. Ihre Bewohner sind lediglich die fiktiven Adressaten dieser beiden Worte, die darum auch den definitiven Abbruch der Kommunikation feststellen. Die intendierten Adressaten müssen wir darum anderswo suchen, und das heißt nach Lage der Dinge: bei ihren realen Hörern, dem Jüngerkreis.

V. Fazit Mit dem Vorstehenden wollte und konnte ich keine Neuinterpretation aller jesuanischen Gerichtsaussagen liefern. Das ist, wie wir gesehen haben, heutzutage sowieso nur noch in monographischem Rahmen möglich. Es ging 120 121 122

Vgl. auch BECKER, Jesus von Nazaret (s. Anm. 3), 309. S. dazu o. S. 54f. S. dazu o. Anm. 67.

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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mir lediglich darum, zunächst deutlich zu machen, dass die verbreitete semantische Antithese von „Gericht“ und „Heil“ der frühjüdischen Gerichtserwartung nicht gerecht wird, weil Gottes Gerichtshandeln immer ein Heilshandeln ist, insofern es eine Zuweisung von Heil und Unheil an die Menschen vornimmt, die Gottes Gerechtigkeit gemäß ist. Und darum ist natürlich auch die durch das Gericht erfolgende Zuweisung von Unheil an die Sünder und Feinde Gottes und an die Unterdrücker des Gottesvolkes ein Heilsgeschehen. Diese Verlagerung der Unterscheidung macht zwei weitere Differenzierungen erforderlich: Zum einen reicht es nicht aus, nur nach den Gerichtsvorstellungen und Gerichtskonzeptionen zu fragen. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Frage nach der Rede vom Gericht, nach ihrer Funktion und ihrer Pragmatik, d.h. nach dem Gebrauch der Gerichtsvorstellungen. Hierbei reicht es zum anderen bei weitem nicht aus, einfach immer nur mit der jüdischen Öffentlichkeit als einzigem Adressaten von Jesu Gerichtsaussagen zu rechnen. Die Frage nach der Adressatenorientierung der einschlägigen Texte muss vielmehr in jedem Einzelfall immer wieder neu gestellt werden. Dass unsere Quellen uns dabei häufig bis in der Regel im Stich lassen werden, leidet keinen Zweifel. Das dispensiert uns aber nicht von der Verpflichtung zum Fragen. Eine andere Frage ist aber immer noch offen: Wenn es nicht das Paradigma von Gericht und Heil ist, an dem sich der Unterschied zwischen Jesus und Johannes festmachen lässt, was ist es dann? Denn dass es einen Unterschied gibt, steht außer Frage – er ist an den eingangs beschriebenen Merkmalen, die das Auftreten und die Verkündigung Johannes des Täufers und Jesu voneinander unterscheiden, deutlich zu erkennen. Die Frage ist darum wiederaufzunehmen: Was gibt diesen Einzeldifferenzen des Auftretens und der Verkündigung ihren Richtungssinn? Oder: gibt es so etwas wie eine Grunddifferenz zwischen Johannes und Jesus, die allen Einzeldifferenzen zugrundeliegt und sie zusammenhält? Die Antwort ist einfach: Der Unterschied zwischen Johannes und Jesus ist Jesus. Es ist nichts anderes als das Auftreten Jesu selbst und die theologische Qualifikation dieses Auftretens, die den entscheidenden Unterschied zwischen ihm und seiner Verkündigung sowie dem Täufer und dessen Verkündigung markieren und an denen sich alle anderen Teildifferenzen ausrichten. Dies gilt zunächst in einem ganz äußerlichen Sinne: Mit seinem eigenen Auftreten bestreitet Jesus die Ankündigung des Täufers, dass nach ihm nur noch der Feuerrichter kommt, denn erst kommt er noch, Jesus. Gegen seinen eigenen Anspruch wird Johannes damit vom letzten zum vorletzten Boten Gottes.123 Darüber hinaus werden aber auch die Verkündigung des 123

Vgl. BACKHAUS, „Jüngerkreise“ (s. Anm. 85), 106.

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Täufers und vor allen Dingen auch seine Taufe im Jordan theologisch depotenziert: Jesu Selbstverständnis macht es gänzlich bedeutungslos, ob man sich der von Johannes propagierten Umkehrtaufe unterzogen hat oder nicht, denn über die Zuweisung von Heil und Unheil im Gericht entscheidet jetzt einzig und allein, wie man sich zur Verkündigung Jesu verhält. Es wäre nun aber ein Missverständnis, wenn man annehmen wollte, dass Jesus selbst nunmehr diese Rolle des letzten Propheten vor dem Gericht für sich beansprucht hätte, denn die Differenz gegenüber der Verkündigung des Täufers geht noch sehr viel weiter: Sie findet ihr theologisches Zentrum darin, dass Jesus sein eigenes Auftreten als integralen Bestandteil der machtvollen Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes auf Erden ansah, dass also das Israel verheißene eschatische Heil Gottes in seinem Wirken bereits punktuell erfahrbar ist und durch ihn als den authentischen Repräsentanten Gottes verbindlich ausgelegt wird.124 Das spezifische Profil der jesuanischen Verkündigung besteht also nicht lediglich in der Gewissheit, dass das erwartete Heil der Königsherrschaft Gottes bereits in der Gegenwart zugänglich ist, sondern darin, dass es in seinem Wirken zugänglich ist. Diese Extension der Rede von der Gottesherrschaft, die vor allem in Lk 11,20 par. Mt 12,28 („Wenn ich mit dem Finger/Geist Gottes die Dämonen austreibe, ist das Reich Gottes auf euch herabgekommen“) greifbar wird, steht in einer offenkundigen Spannung mit dem Inhalt der frühjüdischen Reich-Gottes-Erwartung: Hier ist es zum einen allein Gott selbst, von dessen Eingreifen die Durchsetzung seiner königlichen Herrschaft erhofft wurde, und zum anderen wurde erwartet, dass sich dieses Eingreifen immer in einem universalen Maßstab vollzog und mit kosmischen Begleiterscheinungen einherging. Hinter dieser Erwartung musste der Anspruch Jesu, dass sich das Kommen der Gottesherrschaft in ein paar Heilungen und Exorzismen ereignete, hoffnungslos zurückbleiben. – Erkennbar wird diese Deutung, die Jesus seinem Wirken gibt, darüber hinaus auch in Lk 7,22 par. Mt 11,5 („Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote werden auferweckt, Arme bekommen frohe Botschaft verkündet“): Jesus aktualisiert hier eine Reihe von Jesaja-Texten (Jes 26,19; 29,18; 35,5f; 61,1) und deutet sein eigenes Wirken als Erfüllung der dort ausgesprochenen Verheißungen. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die alttestamentlichen Praetexte stets Gottes eschatisches Heilshandeln an seinem Volk beschreiben bzw. als Metaphern für die durch Gott herbeigeführte Transformation von Israels Unheil in Heil fungieren. Dementsprechend liegt die theologische Pointe dieses Wortes darin, dass Jesus mit ihm den Anspruch erhebt, an der Stelle Gottes zu handeln: Was Israel auf Grund der prophetischen Verheißungen von Gott erwartete, wird ihm durch Jesus zugänglich gemacht. Den Ursprung dieses Selbstverständ124

Vgl. dazu ausführlicher: o. S. 9–30.

2. „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer

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nisses haben wir aller Wahrscheinlichkeit nach in der Vision vom Satanssturz zu sehen, die der lukanische Jesus in Lk 10,18 erwähnt.125 Mit dem Vorstehenden ist freilich nicht gesagt, dass Jesus die Gottesherrschaft als eine rein präsentische Größe ansah, denn was auch für ihn als noch ausstehend gelten musste, war – das lässt sich auf Grund der überkommenen jüdischen Reich-Gottes-Erwartung erschließen –, ihre universale Durchsetzung durch Gott selbst: durch die herrscherliche Erscheinung seiner Heiligkeit im Jerusalemer Tempel mit all ihren kosmischen Begleiterscheinungen und Folgen.126 Die Erwartung, dass dieses Geschehen unmittelbar bevorstand, führte Jesus vermutlich nach Jerusalem und veranlasste ihn zu der in Mk 11,15–16 beschriebenen sog. „Tempelreinigung“. Bestandteil der Erwartung Jesu war aber auch, dass Gott das Heil seiner universalen Herrschaft mit Hilfe eines umfassenden Gerichts weltweit durchsetzen und dabei eine gerechte Verteilung von Heil und Unheil vornehmen wird, die sich einzig und allein daran orientiert, wie die Menschen sich seinem eigenen Anspruch gegenüber verhalten hatten.

125 So z.B. U. B. MÜLLER, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, ZThK 74 (1977) 416–448. – Das ist jedenfalls wahrscheinlicher als die These, es sei die Erfahrung gewesen, dass bei Jesu Kommen die Dämonen weichen und die Kranken gesund werden, die zu der Gewissheit geführt hätte, dass in Jesu Wirken das Heil der Gottesherrschaft präsent ist (so z.B. P. W. HOLLENBACH, The Conversion of Jesus: From Jesus the Baptizer to Jesus the Healer, ANRW 2/25/1 [1982] 196–219; H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg u.a. 1993, 323ff). Diese Annahme ist darum unwahrscheinlich, weil das Weichen der Dämonen und die Gesundung der Kranken in den jüdischen Reich-Gottes-Texten niemals als für das Heil der Gottesherrschaft charakteristisch genannt werden. Beides kann darum nicht den Erkenntnisgrund für die Anwesenheit der Gottesherrschaft im Wirken Jesu abgeben. 126 S. dazu o. S. 24f.

3. Interaktive Erzählungen Wie aus Geschichten Gleichnisse werden und was Jesu Gleichnisse mit ihren Hörern machen Jesus wird in den synoptischen Evangelien nicht nur als Wundertäter oder als ethischer Lehrer dargestellt, sondern auch als Erzähler. In den Evangelien wird erzählt, dass Jesus Geschichten erzählt hat, doch so sagen die Evangelisten das nicht. Sie sprechen vielmehr davon, dass Jesus „in Gleichnissen redet“ (Mt 13,3; 22,1; Mk 3,23; 12,1) oder gar dass er „in Gleichnissen lehrt“ (Mk 4,2; s. auch 13,28par.). Es gibt auch kein Jesusbuch, das nicht ausdrücklich darauf hinweist, dass das Erzählen von Gleichnissen für den historischen Jesus charakteristisch war und ganz eng mit dem inhaltlichen Anliegen seiner Verkündigung zusammenhing.1 – Bevor wir uns damit ausführlicher beschäftigen, müssen wir aber erst noch eine andere Frage beantworten:

I. Was macht eine Erzählung zu einem Gleichnis? In der neueren Gleichnisforschung wird diese Frage in der Regel von einem metapherntheoretischen Ansatz aus beantwortet.2 Diskutiert wird dabei vor allem, ob es das Element der semantischen Dissonanz, der Spannung bzw. der Verfremdung ist, das eine Erzählung zu einem Gleichnis werden lässt3, 1 Vgl. z.B. J. BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin / New York 1996, 179; s. auch H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (SBS 111), Stuttgart 21984, 73; G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart u.a. 81968, 62ff. – J. JEREMIAS erhebt die Gleichnisse gar in den Rang von „Kennzeichen der ipsissima vox Jesu“ (Abba, Göttingen 1966, 145–152). 2 Vgl. dazu CH. KÄHLER, Gleichnisse, GlLern 13 (1998) 98–111 sowie E. ARENS, Metaphorische Erzählungen und kommunikative Handlungen Jesu, BZ NF 32 (1988) 52–71. 3 Z.B. P. RICŒUR, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (EvTh.S), München 1974, 45–70; W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 1985, 125ff.141ff.151ff: „Metapher und Parabel (treffen sich) im Wesensmoment einer sprachlichen Verfremdung, die zu denken gibt. Hier wie dort handelt es sich um eine sprachlich inszenierte Irritation, die den Hörer der gewohnten Anhaltspunkte seiner Welt beraubt“ (151).

3. Jesu Gleichnisse als interaktive Erzählungen

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oder ob dies bereits für jede Geschichte gilt, die über sich selbst hinausweist und in eine Beziehung zum Kontext der Erzählung4 tritt5. Weil das zuletzt genannte Kriterium offener ist und einen größeren Spielraum bei der Erfassung der Texte gewährt6, wollen wir es zur Grundlage unserer Untersuchung machen. Das heißt: wie immer erst der sog. ‚Kontext‘ darüber entscheidet, ob eine Prädikation metaphorisch aufzufassen ist oder nicht7, so entscheidet er auch darüber, ob eine Erzählung zu einem Gleichnis wird oder nicht. Jede denkbare Erzählung kann damit zu einem Gleichnis werden, und sie wird es in dem Moment, in dem sie sich auf den Kontext hin, in dem sie erzählt und gehört wird, öffnet und auf eine außerhalb der erzählten Welt liegende Wirklichkeit hin transparent wird. Als Kontext gilt dabei nicht nur die individuelle Situation der Erzählung (die aber natürlich auch und sogar an ganz prominenter Stelle)8, sondern sehr viel umfassender die gesamte Wirklichkeit der Alltagswelt als eines dem Erzähler und dem Hörer gemeinsamen „kollektiven Wissensbestandes“9, der im Medium der Sprache präsent ist. Entscheidend für den Gleichnischarakter einer Erzählung ist also – abgekürzt und mit den Worten Harald Weinrichs gesagt –, dass ein Verweisungsbezug von der ‚erzählten Welt‘ des Textes auf die ‚besprochene Welt‘ des Kontextes hergestellt wird.10 – Das führt uns nun aber zur zweiten Frage:

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Der Begriff ‚Erzählung‘ wird hier in seiner doppelten Bedeutung verwendet: zur Kennzeichnung des Erzählvorgangs wie des Erzähltextes. 5 So z.B. G. SELLIN, Allegorie und „Gleichnis“, in: Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft, hg. v. W. Harnisch (WdF 575), Darmstadt 1982, 367–429, hier 404: „Ohne Kontext oder Situation ist das Gleichnis sinnlos. Gleichnisse sind also wie Metaphern situations- und kontextgebunden.“ 6 Das erweist sich vor allem bei den Texten als Vorteil, deren Gleichnischarakter nicht vom Erzähler produziert ist, sondern erst von den Hörern entdeckt wird (s. z.B. u. S. 67f). Hier beruht die Übertragung gerade nicht auf Verfremdung, sondern auf Übereinstimmung, die im Wege des Analogieschlusses wahrgenommen wird. 7 Ein einfaches Beispiel: Ob die Aussage „Du bist ein Kind“ metaphorisch gemeint ist (bzw. als solche verstanden wird) oder nicht, entscheidet sich erst durch die Redesituation, d.h. den individuellen Kontext (wenn nämlich ein Erwachsener so tituliert wird). 8 Unmittelbar zugänglich ist uns im Fall der Gleichnisse Jesu sowieso nur der von den Evangelisten hergestellte literarische Kontext, der nicht vorschnell mit dem historischen Kontext identifiziert werden darf, sondern schon Bestandteil der Rezeptionsgeschichte von Jesu Gleichnissen ist. Vgl. dazu die unterschiedlichen Adressaten des Gleichnisses vom verlorenen Schaf (s.u. Anm. 14). 9 P. L. BERGER / TH. LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1994, 73. 10 H. WEINRICH, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart u.a. 31977.

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II. Wer macht eine Erzählung zu einem Gleichnis? Ganz allgemein gesagt: derjenige, der den genannten Verweisungsbezug herstellt, und das ist zunächst natürlich in erster Linie der Erzähler. Er ist es, der zuerst darüber entscheidet, ob er eine Geschichte um ihrer selbst bzw. um ihres Inhalts willen erzählt oder ob er den Text auf seinen Kontext hin geöffnet wissen will. Auch Jesus hat seine Geschichten in diesem Sinne von vornherein als Gleichnisse erzählt. Die neutestamentliche Gleichnisforschung trägt diesem Sachverhalt dadurch Rechnung, dass sie – von seltenen Ausnahmen abgesehen11 – produktionsorientiert nach der Intention des Erzählers fragt, wenn sie die Gleichnisse zu verstehen sucht. Dieser Ansatz entspricht auch dem literarischen Überlieferungsbefund: Zu Beginn und am Ende einzelner Gleichnisse stoßen wir immer wieder auf ausdrückliche Rezeptionsanweisungen, mit deren Hilfe der Erzähler einen solchen Verweisungsbezug herstellt und den Hörern damit signalisiert, dass es sich bei der jeweiligen Erzählung um ein Gleichnis handelt. Der Erzähler verwendet dafür entweder Vergleichspartikel („so ... wie“; vgl. Mk 4,26.31; 13,34; Mt 25,14) und -prädikationen (z.B. Mt 13,44: „das Himmelreich gleicht ...“; s. auch Lk 6,47f.; 13,18–21; Mt 22,2 u.ö.), oder er leitet die Erzählung durch eine rhetorische Frage ein, die die Hörer zur Stellungnahme auffordert (z.B. Lk 15,4: „Wer unter euch, der 100 Schafe hat und eines von ihnen verliert ...?“; s. auch Mt 11,5; 14,28.31; 18,12; 21,28; Lk 11,11par.; 15,8; 17,7). Noch deutlicher kann der Erzähler in der sog. ‚Anwendung‘ am Ende werden: Hier wird aus der erzählten Welt nicht nur expressis verbis auf die besprochene Welt verwiesen, sondern es wird auch ausdrücklich gesagt, an welchen Punkten die beiden Welten miteinander verbunden sind.12 Es dürfte sich hierbei jedoch in den meisten Fällen um sekundäre Interpretationsanweisungen aus der Feder der Evangelisten handeln, die nicht zur ursprünglichen Erzählung dazugehört haben. Zeigen lässt sich dies am Beispiel der Erzählung vom verlorenen Schaf (Lk 15,4–7 par. Mt 18,12–14): In der lukanischen Fassung (V. 7: „So wird im Himmel eher Freude sein über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die keine Umkehr nötig haben“) wird die Freude nach dem Wiederfinden des verlorenen Schafes betont, während bei Matthäus (V. 14: „So ist es nicht der Wille eures Vaters im Himmel, dass eines von diesen Kleinen verloren geht“) das Suchen des Verirrten betont wird. Beide Anwendungen passen nicht ganz zum erzählten Geschehen (bei Mt fehlt in der Anwendung das Motiv der Freude, und bei Lk geht es in der Erzählung nicht um die „Umkehr“ eines „Sünders“, sondern um das Wiederfinden eines Verlorengegangenen). Wie in anderen Fällen auch13 hat die Formulierung der Anwendung hier wie dort keinen anderen Zweck, als das Gleichnis in den jeweiligen literarischen Kontext, der ganz unterschiedlich ist14, einzupassen. Von Jesus selbst sind die Gleichnisse wahrscheinlich ohne jede Anwendung erzählt worden.

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Z.B. D. O. VIA, Die Gleichnisse Jesu (BEvTh 57), München 1970. Beispiele dafür finden wir in Lk 15,7 par. Mt 18,14; Lk 12,21; 15,10; 16,9; 18,8; Mt 18,35; 20,16. 13 Vgl. nur die Korrespondenz von Mt 20,16 mit 19,30 oder die Wiederaufnahme von Mt 18,21f in 18,35. 14 Bei Lukas sind Pharisäer und Schriftgelehrte Adressaten des Gleichnisses (Lk 15,1–2), während Matthäus es an den Jüngerkreis gerichtet sein lässt (Mt 18,1.10). 12

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Trotzdem ist dieser Befund für unsere Ausgangsfrage von nicht geringer Bedeutung. Es wird hieran nämlich erkennbar, dass es noch eine andere Instanz gibt, die aus Erzählungen Gleichnisse macht: der Hörer. 1. Gemeint sind damit zunächst die intendierten Hörer, d.h. diejenigen, die der Erzähler im Sinn hat bzw. für die er das Gleichnis erzählt.15 Sie sind Bestandteil der Intention des Erzählers, der sie mit Hilfe des Gleichnisses provozieren oder stabilisieren, verändern oder trösten will. Diese Hörer sind das Bild, das der Erzähler von ihnen hat, und als solche kommen sie auch in den Gleichnissen vor. Drei Beispiele können das veranschaulichen: Im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) ist es die Erzählfigur des älteren Bruders, der gegen die Restitution des zurückgekehrten Sohnes protestiert (V. 25–30), in dem sich – folgt man der lukanischen Situierung des Gleichnisses – die gegen Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern protestierenden Pharisäer und Schriftgelehrten (V. 1–2) begegnen sollen. Im Gleichnis vom Festmahl (Lk 14,16–24) sind es für den historischen Jesus als den ersten Erzähler16 die eingeladenen Gäste, die sich dann aber „in der Stunde des Mahls“ (V. 17) aus wichtigen Gründen entschuldigen lassen (V. 18–20), in denen sich diejenigen begegnen sollen, die Jesu Ansage des Anbruchs der eschatischen Heilszeit nicht ernst nehmen. Im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23–35) soll sich der intendierte Hörer in dem ehemaligen (großen) Schuldner begegnen, der aber immer noch ein (kleiner) Gläubiger ist und nun vor der Situation steht, das, was er im Großen selbst erfahren hat, im Kleinen an seine Mitmenschen weiterzugeben.

In diesem Sinne spricht Georg Eichholz durchaus mit Recht davon, dass „eine der Figuren des Gleichnisses ... so auf ihn (sc. den Hörer) zugeschnitten sein (kann), daß er sich in ihr selbst begegnet“.17 Diese Auskunft ist jedoch sofort einzuschränken, denn sie gilt eben nur für den intendierten Hörer, d.h. für den Hörer, wie er sich aus der Erzählerperspektive darstellt. Es ist nämlich noch lange nicht gesagt, ob es auch tatsächlich zu einer solchen Begegnung des Hörers mit sich selbst kommt. 2. Wir müssen darum als weitere Instanz auch die möglichen realen Hörer in den Blick nehmen. – In bezug auf unsere Ausgangsfrage sind dabei vier Konstellationen möglich: a) Die realen Hörer erkennen sich in dem Bild, das der Erzähler in Gestalt der intendierten Hörer von ihnen entwirft, wieder und lassen den Text der Erzählung in der vom Erzähler angebotenen Weise auf den Kontext ihrer Le15

Vgl. dazu z.B. G. EICHHOLZ, Gleichnisse der Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1971, 12.31ff. 16 Zur Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung des Gleichnisses vgl. H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern (FRLANT 120), Göttingen 31984, 177ff. 17 EICHHOLZ, Gleichnisse (s. Anm. 15) 35; s. auch DERS., Das Gleichnis als Spiel, EvTh 31 (1961) 309–326, hier 319ff.

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benswirklichkeit hin transparent werden. Das ist der Idealfall einer geglückten Kommunikation. b) Die realen Hörer machen die ihnen vom Erzähler angebotene Öffnung der erzählten Welt auf die besprochene Welt hin – aus welchen Gründen auch immer – nicht mit. Der vom Erzähler intendierte Verweisungsbezug der Erzählung wird von den Hörern nicht mitvollzogen, so dass die Erzählung zwar als Gleichnis erzählt, aber nicht gehört wird, und die Kommunikation scheitert. c) Umgekehrt kann sich aber auch ebensogut eine ohne jeglichen Verweisungsbezug, d.h. eine ursprünglich nicht als Gleichnis produzierte Erzählung unter bestimmten Bedingungen zum Kontext der Hörer hin öffnen und einen nicht vom Erzähler intendierten Verweisungsbezug erhalten. Es ist dann ausschließlich der Hörer, der eine Erzählung zu einem Gleichnis macht. Auf diesem rezeptionshermeneutischen Weg kann sich jede beliebige Erzählung in ein Gleichnis verwandeln.18 d) Der reale Hörer kann das Gleichnis zwar wie vom Erzähler intendiert auch als ein solches wahrnehmen, doch stellt er den Verweisungsbezug in ganz anderer Weise her als vom Erzähler beabsichtigt. Oder er begegnet sich selbst nicht in dem vom Erzähler intendierten Hörer, sondern in einer anderen Erzählfigur. Illustrieren lässt sich das z.B. anhand der unterschiedlichen Fassungen des Gleichnisses vom verlorenen Schaf bei Lukas (15,4–7) und Matthäus (18,12–14): Beide haben das Gleichnis in der Logienquelle vorgefunden, beide haben es aber offensichtlich ganz unterschiedlich verstanden:19 Lukas sieht von ihm die Aufforderung zur Freude über die Wiedergewinnung des Verlorenen ausgehen und gestaltet dementsprechend die Schilderung der Reaktion des Finders breit aus (Lk 15,5–6). Für Matthäus liegt demgegenüber der Akzent der Erzählung darauf, dass der Eigentümer der Schafe das eine verlorene Schaf sucht (Mt 18,12). Dementsprechend knapp schildert er dann auch die Reaktion des Finders (V. 13). – Diese unterschiedlichen Rezeptionsweisen des Gleichnisses drücken sich dann auch in der jeweiligen literarischen Einbettung aus: Bei Lukas ist die Betonung der Freude dem „Murren“ der Pharisäer und Schriftgelehrten über Jesu Gemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern (Lk 15,1–2) entgegengesetzt, während bei Matthäus das Gleichnis innerhalb einer Rede an den Jüngerkreis steht, in der es paränetisch „um die Solidarität in der Gemeinde und um die Bewahrung der Gemeinschaft“ geht (Mt 18,1–35).20 In der Literatur wird zumeist angenommen, dass Lukas es ist, der den Situationskontext, in dem Jesus das Gleichnis ursprünglich erzählt hat, historisch zuverlässig wiedergibt. Doch selbst wenn das der Fall sein sollte, ist damit die matthäische Lesart des Gleichnisses nicht als falsch erwiesen, so dass wir sie zurückweisen müssten. Es ist vielmehr so, dass Matthäus 18 Ein gutes Beispiel dafür ist die metaphorische Evidenz, die die Erzählungen vom sog. Murren Israels in der Wüste (Ex 14,10–12; 16,2–3; Num 11,4–6; 14,1–4) in vielen Gemeinden der ehemaligen DDR in der Zeit des kulturellen Umbruchs nach der sog. „Wende“ der Jahre 1989/90 gewonnen haben. 19 Das lassen die unterschiedlichen Anwendungen (s.o.) deutlich erkennen. 20 U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus III, Zürich und Braunschweig / NeukirchenVluyn 1997, 8.

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der ursprünglichen Erzählung innerhalb eines veränderten Kontextes einen Verweisungsbezug abgewinnen konnte, der ihr eine nicht geringere Plausibilität und Evidenz zuteil werden ließ. Analoges gilt auch von der in Lk 15,11–32 erzählten Geschichte vom Vater und den zwei Söhnen, denn auch hier ist der Kontext, in dem sie gehört wird, für das Verständnis ihres Verweisungsbezuges von entscheidender Bedeutung: Es ist möglich, das Gleichnis aus drei verschiedenen Perspektiven zu hören: aus der Perspektive des jüngeren Sohnes, aus der des älteren Bruders und aus der des Vaters. Entscheidend ist jeweils der individuelle biographische Kontext. Es handelt sich hierbei um echte Alternativen, denn niemand ist alles zugleich. Obwohl die Geschichte ursprünglich so erzählt wurde, dass sich die intendierten Hörer in der Figur des älteren Sohnes wiederfinden sollten und es darum sachgerechter wäre, vom „Gleichnis vom eifersüchtigen Bruder“ zu sprechen, lesen wir die Erzählung als „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ und geben damit zu erkennen, dass wir das Gleichnis von einem ganz anderen Kontext aus hören, als dies ursprünglich intendiert war. Als Plausibilitätsbasis, die diesen spezifischen Verweisungsbezug ermöglicht, fungiert zweifellos die reformatorische Gnadenlehre, die es ermöglichte, in der Restitution des verlorenen Sohnes das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders dargestellt zu sehen.21

3. Als vorläufiges Zwischenergebnis können wir darum festhalten, dass eine Erzählung immer dann zu einem Gleichnis wird, wenn sie in eine Interaktion mit ihren Hörern eintritt. Hierbei kann es sich sowohl um den vom Erzähler intendierten Hörer handeln als auch um den möglichen realen Hörer. Für beide kann eine Erzählung in ganz unterschiedlicher Weise zum Gleichnis werden, denn sie müssen einander nicht kennen, damit es jeweils zu einem Verweisungsbezug von der erzählten Welt des Textes auf die besprochene Welt der beiden Kontexte kommen kann. Die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Hörer-Typen dürfen wir jedoch nicht übertreiben, denn die intendierten Hörer und die realen Ersthörer haben mehr gemeinsam als sie voneinander trennt. Das hat seinen Grund darin, dass der Stoff, aus dem Hörer gemacht werden, aus nichts anderem besteht als aus kulturellem Wissen, das sie im Wege ihrer Sozialisation erworben haben. Umberto Eco hat in dieser Hinsicht von einer „enzyklopädischen Kompetenz“ gesprochen22, und er hat damit dasselbe gemeint, was die Wissenssoziologie einen „kollektiven Wissensbestand“ genannt hat, der durch Sprache konstituiert wird23. Daraus lässt sich mit guten Gründen schließen: Insofern Jesus als der Ersterzähler der Gleichnisse und die ersten realen Hörer ihre kulturelle Sozialisation in ein und demselben Kontext empfingen, sind das Bild, das Jesus von seinen Hörern hat (die intendierten Hörer), und die Hörer selbst (die realen Hörer) auf der 21 Vgl. z.B. die klassische Interpretation bei A. JÜLICHER, Die Gleichnisreden Jesu II, Tübingen 21910 = Darmstadt 1976, 360ff. 22 U. ECO, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 31998, 94ff. 23 BERGER/LUCKMANN, Konstruktion (s. Anm. 9), 73.

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ganz elementaren Ebene eines gemeinsamen kulturellen Grundwissens miteinander verbunden. 4. Die auf den ersten Blick plausible Unterscheidung zwischen dem intendierten und dem möglichen realen Hörer ist jedoch nur mit erheblichen Einschränkungen auf die Gleichnisse der Evangelien übertragbar: Sobald diese Gleichnisse im Kontext der christlichen Verkündigung zu Gehör gebracht werden oder Christen ihnen bei ihrer Bibellektüre begegnen, sind sie als reale Hörer nicht mehr mit der Erzählung allein, sondern sie treffen auf den Erzähler und damit auch auf den von ihm intendierten Hörer. Die Erzählung und darum auch unsere, der realen Hörer, Begegnung mit ihr kann von der Intention des Erzählers nicht absehen, weil dieser Erzähler niemand anderer ist als Jesus Christus, der Kyrios des christlichen Bekenntnisses (Röm 10,9; 1.Kor 12,3; Phil 2,11). Nicht eine außerordentliche poetische Qualität stattet die Gleichnisse Jesu darum mit einer nicht verhandelbaren Rezeptionsvorgabe aus, sondern der Glaube an den Auferstandenen und Erhöhten, der damit auch die Rezeption von Jesu Gleichnissen steuert: Er beinhaltet, dass der Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat (Röm 4,24; 8,11; 10,9; Gal 1,1; Eph 1,20; Kol 2,12; 1.Thess 1,10; 1.Petr 1,21), in den Gleichnissen Jesu authentisch ausgelegt wird. Damit gewinnt zugleich aber auch die Intention des Erzählers und mit ihr die intendierten Hörer eine theologische Bedeutung, die darin besteht, dass die realen Hörer gehalten sind, die intendierten Hörer aufzusuchen. Wir fragen also:

III. Wie funktioniert die Interaktion zwischen Jesu Gleichnissen und den Hörern? Wir lassen die diskursiven Rezeptionsanweisungen24 außen vor und fragen ausschließlich nach der Interaktion, in die die Erzählung als solche die Hörer hineinzieht. a) Schlechthin fundamental ist in diesem Zusammenhang, dass allen Gleichnissen Jesu ein und dieselbe thematische Substruktur zugrunde liegt: Es geht um Gott, um seine durch Jesus von Nazareth auf die Menschen zukommende Forderung, um deren Reaktion darauf und schließlich um die aus dieser Reaktion erwachsenden Konsequenzen. Auf Grund ihres metaphorischen Charakters gelingt es der Erzählung dabei, die Hörer in die Begegnung mit dem von Jesus authentisch ausgelegten Gott zu verwickeln. Herbeigeführt wird dies durch die Verwendung von sog. stehenden Metaphern, deren Kenntnis auf Seiten der Hörer vorausgesetzt werden kann, mit deren 24

S.o. S. 66.

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Kenntnis die Erzählung arbeitet und die den intendierten Transfer vom Text zum Kontext eben dadurch ermöglichen, dass sie aus der erzählten auf die besprochene Welt verweisen. Als solche stehenden Metaphern lassen sich z.B. identifizieren: Auf Gott hin durchsichtig sind die Erzählfiguren des Königs (Mt 18,23; 22,14), des Vaters (Lk 15,11ff) oder des Weinbergbesitzers (Mt 20,1ff; Mk 12,1ff; vgl. Jes 5,1–7). Die Relation Knecht – Herr (Mt 18,23ff; Lk 16,1ff25; 17,7ff; 19,12ffpar.) ist als Verweis auf das Verhältnis des Menschen zu Gott identifizierbar.26 Die Rede von einer Hochzeit oder einem Festmahl (Mk 2,19; Lk 14,15ffpar.; Mt 25,1ff) konnte als bekannte Metapher für die eschatische Heilszeit vorausgesetzt werden. Analog fungieren Ernte (Mk 4,29; Mt 13,30) und Abrechnungen bzw. Entlohnungen (Mt 18,23; 20,8ff; Lk 16,2; 19,15ff) als Gerichtsmetaphern sowie das Motiv der Geldschuld (Mt 18,24; Lk 7,41– 43) als stehende Metapher für das Schuldverhältnis, in dem die Menschen Gott gegenüber stehen.27 Es liegt auf der Hand, dass Erzählung und Hörer damit einander nicht mehr gegenüber stehen, denn mit Hilfe der stehenden Metaphern greift die Erzählung in die Welt der Hörer über, die erzählte in die besprochene Welt. Sie erzeugt in ihnen eine Imagination, die ihr Wissen von der in Geltung stehenden Ordnung der Wirklichkeit als einer von Gott garantierten Wirklichkeit fraglich werden lässt. b) An zwei Beispielen aus dem Matthäusevangelium können wir illustrieren, wie das vor sich gehen kann: Das Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23–35) besteht aus drei Szenen, die wir auf Grund der verwendeten Metaphern ohne Mühe in die besprochene Welt einlesen können. Von entscheidender Bedeutung sind die beiden ersten Szenen28: In V. 23–27 wird zunächst davon erzählt, dass ein „König“ sich eines bei ihm hochverschuldeten „Knechts“ „erbarmt“ und diesem nicht einfach nur den erbetenen Zahlungsaufschub (V. 26) gewährt, sondern die gesamte „Schuld“ erlässt (V. 27). In der zweiten Szene (V. 28–30) begegnet derselbe Knecht dann einem Kollegen, der ihm eine relativ geringe Summe schuldet und ihn mit denselben Worten wie zuvor er den König (vgl. V. 29 mit V. 26) um Zahlungsaufschub bittet, diesen Wunsch aber nicht erfüllt bekommt, sondern in Schuldhaft genommen wird. Die besondere Raffinesse des Gleichnisses besteht darin, dass in der zweiten Szene ein ganz normaler Vorgang aus der Alltagswelt der Hörer geschildert wird, der den Rahmen

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Vgl. zu diesem Text Jes 22,15ff. Vgl. A. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien (StANT 29), München 1971, 17ff. 27 Vgl. dazu M. WOLTER, Art. ὀφειλέτης/ὀφείλημα, EWNT 2 (1981) 1344–1350; K. ERLEMANN, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen (BWANT 126), Stuttgart u.a. 1988, 87ff. 28 In V. 35 wird die Anwendung formuliert. Sie stammt ohne Zweifel von Matthäus und verbindet das Gleichnis über die Anknüpfung an die Petrusfrage in V. 21 mit dem literarischen Kontext. 26

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des Üblichen an keiner Stelle sprengt. Der Schalksknecht hat das Recht auf seiner Seite.29 Man kann ihm keinen Vorwurf machen. Trotzdem ruft seine Handlungsweise Protest hervor, und zwar aus dem einzigen Grund, weil zuvor die erste Szene erzählt wurde. Durch sie wurde die Erwartung der Hörer an das Verhalten des Knechtes zunächst verändert und dann enttäuscht, weil nur sie, nicht aber die Gesetzmäßigkeiten des Alltags sich geändert haben. – In der Interaktion zwischen der Erzählung und dem Hörer ist damit eine ganze Menge passiert: Unter der Perspektive von Gottes grenzenloser30 Barmherzigkeit erweisen sich die menschliche Alltagswirklichkeit und die ihr zugrundeliegenden Handlungsnormen als revisionsbedürftig. Der Hörer wird seiner bisher für in sich stimmig gehaltenen Welt entfremdet. Er wird dadurch genötigt zu erkennen, dass die Wirklichkeit Gottes eine Neuorientierung verlangt, und entsprechend zu handeln. In der Sache analog, vom erzählerischen Gefälle her aber genau umgekehrt, geht das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15) mit den Hörern um: Die für die Aussageabsicht der Erzählung maßgebliche Konditionierung der Rezeption erfolgt dadurch, dass der Hausherr den später angeworbenen Arbeitern zusagt, „das, was gerecht ist“, zu geben (V. 4). Die intendierten Hörer werden dadurch auf die zuvor quantifizierte Lohnvereinbarung für die Arbeit eines ganzen Tages (V. 2) zurückverwiesen, und in ihnen wird damit „die Erwartung einer proportional abgestuften Auszahlung am Ende“31 erzeugt. Als die Erzählung dann genau an dem Punkt angelangt ist, an dem es darum geht, diese Erwartung zu realisieren (nach V. 9), wechselt sie von der äußerlich wahrnehmbaren Handlungsebene auf die von außen nicht erkennbare Wiedergabe eines innerseelischen Vorgangs bei einem der beteiligten Akteure: „Und als die ersten kamen, dachten sie, dass sie mehr erhalten würden“ (V. 10). Das Raffinement dieses Einblicks in das Innere der Ganztagsarbeiter besteht nun aber darin, dass nicht nur sie es sind, die diese Erwartung hegen, sondern auch die Hörer: Weil sie wissen, dass der Hausherr „gerecht“ (V. 4) entlohnt, stellt sich bei ihnen nun die Erwartung eines proportionalen „mehr“ ein. Insofern sind es gerade deren Erwartungen in Bezug auf den Fortgang der Erzählung, die hier verbalisiert werden, und es ist diese Stelle, an der die Erzählung in die Welt der Hörer überspringt. Nicht umsonst ist aus dem „Hausherrn“ inzwischen auch „der Herr des Weinbergs“ geworden (V. 8), und damit ist klar, dass es hier um das Gottesbild geht, genauer: um die Erwartungen der Hörer an Gottes Gerechtigkeit. Die gleiche (und insofern gerade nicht gerechte) Entlohnung aller Arbeiter sowie vor allem das Schlusswort des Weinbergbesitzers (V. 13–15) sollen auf Seiten der Hörer bestehende Vorstellungen von und Erwartungen an Gottes Gerechtigkeit revidieren: Gottes Gerechtigkeit ist nicht einfach als Verlängerung dessen zu denken, was im zwischenmenschlichen Verkehr als gerecht gilt, sondern ist – das heben die letzten vier Worte der Erzählung dezidiert hervor – durch seine Güte normiert.

c) Darüber hinaus können wir am Beispiel des zuletzt besprochenen Gleichnisses zwei weitere Elemente beobachten, die auch an anderer Stelle wiederkehren: In Bezug auf den Schluss der Erzählung fällt auf, dass die Geschichte nicht zu Ende erzählt wird, sondern mit einem Wort des Handlungssouve29

Vgl. dazu LUZ, MtEv III (s. Anm. 20), 71. Diese Qualität zu akzentuieren, ist das Ziel der in V. 24 genannten Schuldsumme und ihrer Hyperbolik: 10.000 (μύριοι) ist im Griechischen die größte Zahl, und das Talent die größte Münzeinheit (s. LUZ, MtEv III [s. Anm. 20], 69). 31 ERLEMANN, Bild (s. Anm. 27), 95. 30

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räns endet, und dasselbe gibt es auch in anderen Gleichnissen32: Wie die jeweils angeredeten Erzählfiguren reagieren oder die begonnenen Erzählhandlungen weitergehen, bleibt offen, und es entsteht der Eindruck, dass der Erzähler an beidem auch gar nicht mehr interessiert ist. Diese offenen Enden sind nun aber nicht Indizien für erzählerische Defizite, sondern sie zeigen an, dass die jeweiligen Hörer die eigentlichen Adressaten der Schlussworte sind. Sie haben die Funktion, eine Transzendierung der erzählungsinternen Interaktion zu erleichtern, und sie verweisen damit aus der erzählten Welt in die besprochene Welt der Hörer, die das jeweilige Schlusswort auf ihre eigene Geschichte übertragen sollen.33 Eine solche Tür, die den Hörern den Übergang aus der erzählten in die besprochene Welt öffnen will, gibt es in manchen Gleichnissen auch am Schluss der Erzählung: Wenn es z.B. in Lk 3,17 par. Mt 3,12 heißt, dass das Stroh „mit unauslöschlichem Feuer“ verbrannt wird, so wird damit das Bild der Erzählung gesprengt, weil es in der menschlichen Welt natürlich keine „unauslöschlichen“ Feuer gibt: Sobald das Stroh verbrannt ist, geht das Feuer aus. Hier ragt also die Sache in das Bild hinein: die Vorstellung vom niemals verlöschenden Gerichtsfeuer34. Mit derselben erzählerischen Technik arbeiten auch andere Gleichnisse, wie z.B. das Gleichnis vom vierfachen Acker, das am Ende von einem 100fachen Ertrag spricht (Mk 4,8) oder das Gleichnis von der Wachsamkeit mit den zwei unterschiedlichen Ausgängen in Lk 12,37 und 12,46 oder das Gleichnis vom Thronprätendenten in Lk 19,27. Mit zahlreichen anderen Gleichnissen teilt Mt 20,1–15 darüber hinaus die Figurenkonstellation des sog. ‚dramatischen Dreiecks‘35: Das Erzählgerüst basiert auf der Interaktion zwischen einem „Handlungssouverän“36, d.h. einer Hauptperson, die in der Regel im ersten Satz eingeführt wird und 32

Vgl. Mt 13,24–30; Lk 13,6–9; 14,15–24; 15,11–32; 16,19–31. Analoges lässt sich im Übrigen auch für Erzählungen, die nicht als Gleichnisse konzipiert sind, sagen. Drei weit auseinanderliegende Beispiele können das veranschaulichen: Am Schluss des Jonabuches bleibt offen, ob es Gott gelingt, seinen Propheten aus der Verzweiflung herauszuführen. Wie in Mt 20,13–15 endet der Dialog vielmehr mit einer rhetorischen Frage (Jon 4,10–11), die in Wirklichkeit an die Leser gerichtet ist. – In Joh 20,29b endet der Dialog zwischen Jesus und Thomas mit einer die individuelle Situation transzendierenden Seligpreisung derer, „die nicht sehen und (doch) zum Glauben kommen“. – In Charlie Chaplins Film Der große Diktator aus dem Jahr 1940 wird nicht mehr erzählt, wie sich die Verwechselung des jüdischen Friseurs mit Adolf Hitler auflöst, sondern die Handlung endet mit einer ans Publikum gerichteten Rede des Helden, in der die Werte der westlichen Demokratien gepriesen werden. 34 Vgl. Hiob 20,26; Jes 66,24; äthHen 10,13; 18,11; 21,7; 90,24; griechApkEsr 1,24; Mt 25,41; Mk 9,48; s. auch Bill. IV/2,1075ff; H. LICHTENBERGER, EWNT 3,483f. 35 Vgl. dazu G. SELLIN, Lukas als Gleichniserzähler, ZNW 65 (1974) 166–189, hier 180ff; HARNISCH, Gleichniserzählungen (s. Anm. 3), 73ff. 36 Vgl. HARNISCH, ebd. 77f. 33

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die Handlung in Gang setzt, und einem „antithetischen Zwillingspaar“37. In Lk 15,11–32 und in Mt 20,1–15 wird die Rolle des Handlungssouveräns durch den Vater bzw. den Hausherrn besetzt, während als antithetisches Zwillingspaar die beiden Brüder bzw. die Arbeiter der ersten Stunde und die der letzten Stunde fungieren.38 Ohne dass sich alle diese Gleichnisse, die mit dem dramatischen Dreieck arbeiten, in ihrem inhaltlichen Aussagewillen über einen Leisten schlagen lassen, ist ihnen doch eines gemeinsam: Durch das erzählte Handlungsgefüge wird jeweils eine Umkehr oder zumindest ein Ausgleich zwischen der Ausgangs- und der Endkonstellation herbeigeführt, weil neue Paradigmen über die Relation zwischen dem Handlungssouverän und dem antithetischen Zwillingspaar entscheiden: Das eine Schaf wird dadurch gegenüber den 99 aufgewertet, dass es verloren gegangen war. Sein Wiederfinden löst darum große Freude aus (Lk 15,4–7). Dasselbe gilt für die Aufwertung des verschwenderischen Sohnes gegenüber seinem braven Bruder (Lk 15,32). Der Zöllner geht am Ende gerechtfertigt nach Hause, nicht der Pharisäer (Lk 18,9–14). Die Arbeiter der letzten Stunde erhalten genausoviel wie die der ersten Stunde (Mt 20,1–15). Der Samaritaner wird dem unter die Räuber gefallenen Juden zum Nächsten, weil er sich anders als Priester und Levit seiner erbarmt (Lk 10,30–37). Eine größere Schuld führt, nachdem sie erlassen worden ist, zu größerer Nähe zwischen Gläubiger und Schuldner, weil die Dankbarkeit größer ist (Lk 7,41–43). In allen Erzählungen, die hier genannt wurden, wird ein Paradigmenwechsel, eine Umwertung der Werte dramatisch in Szene gesetzt, den die Hörer ihrer eigenen Heils- und Existenzorientierung anverwandeln sollen: Gottes Güte (Mt 20,15) und Freude über das Wiederfinden des Verlorenen (Lk 15,6.32), sein Erbarmen (Lk 15,20; Mt 18,27), die Vergebung der Sünden (Lk 7,41–43; Mt 18,27), das Tun der Barmherzigkeit (Lk 10,37). Sie bewirken eine radikale Veränderung der überkommenen Statuszuweisungen, weil sie ein neues Koordinatensystem einziehen, das die gesamte von Gott garantierte Wirklichkeit, in der die Hörer sich vorfinden, neu ordnet und von den Hörern eine Neuorientierung verlangt, die nicht unterhalb dessen erschwinglich ist, was nun in Aufnahme der dem Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle (Mt 13,44.45–46) gemeinsamen Metaphorik wiederum metaphorisch formuliert werden soll: sich nämlich von dem gesamten Wissensvorrat, aus dem sie bisher lebten, zu trennen und ihre Wirklichkeitsauffassung neu zu justieren. Es ist dann genau das 37

HARNISCH, ebd. 79 u.ö. Weitere Beispiele: Mt 21,28–32 (ein Vater, zwei Söhne); Lk 7,41–43 (ein Gläubiger, zwei Schuldner); 10,30–37 (ein unter die Räuber Gefallener, zwei Typen von Passanten: vorbeigehend [Priester und Levit] und sich erbarmend [Samaritaner]); 15,4–7 (ein Mensch, zwei Mengen von Schafen: 1 und 99); 18,9–14 (Gott, zwei Beter). 38

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aus dem Vertrauten nicht ableitbaren Neue einer immer nur im Medium der Sprache präsenten Wirklichkeit39, das in Gestalt der metaphorischen Erzählung sachadäquat erschlossen wird und auch nur so erschlossen werden kann. d) Darüber hinaus ist für eine inhaltliche Interpretation der Gleichnisse von entscheidender Bedeutung, dass sie nur als Bestandteil von Jesu Selbstauslegung sachgerecht verstanden werden können. Sie haben also eine implizite christologische Substruktur, denn sie sind nicht ohne ihren Erzähler und seine Intention zu haben. Das gilt in doppelter Weise: Zum einen tritt die christologische Substruktur dort zutage, wo sich für die Erzählfiguren des Textes Handlungsoptionen ergeben. Die Entlassung des Verwalters in Lk 16,1–3 will ebenso eine metaphorische Beschreibung der Situation sein, in die die Menschen durch das Kommen Jesu gestellt sind, wie die gleiche Entlohnung aller Arbeiter in Mt 20 oder der Erlass der Schuld in Mt 18: Diese Erzählungen wollen nicht allgemeine Wahrheiten über Gott mitteilen, sondern sie reden über Gott in seiner Ausgelegtheit durch Jesus. Damit reden sie gleichzeitig über die Situation, in der die Hörer sich auf Grund ihrer Begegnung mit Jesus befinden. Auch im Gleichnis von der zurückgewiesenen Einladung (Lk 14,15–24 par. Mt 22,1–10) wird diese Intention erkennbar: Jesus erzählt das Gleichnis so, dass seine Hörer sich in derselben Situation befinden, in der innerhalb des Gleichnisses die Aufforderung ausgesprochen wird, nunmehr zum fertig vorbereiteten Festmahl zu kommen (Lk 14,17 par. Mt 22,3). Er führt ihnen vor Augen, welche Konsequenzen die Ablehnung dieser Aufforderung hat, und der implizite christologische Anspruch kommt dann im Schlusswort der lukanischen Fassung dieses Gleichnisses zum Ausdruck (Lk 14,24: „Denn ich sage euch: Keiner von den Eingeladenen wird von meinem Mahl essen“): Hier spricht nicht nur Gott als der Veranstalter des Festes, sondern hier spricht auch Jesus als der Erzähler des Gleichnisses zu seinen Hörern. Das Ich Jesu und das Ich Gottes werden miteinander verschmolzen, und wie in Lk 11,8; 12,37d.44 wird auch hier die erzählte Situation durch die Formulierung „ich sage euch“ in die Situation der Erzählung eingelesen. Die eigentliche Thematik der Gleichnisse ist also nicht „das ganze menschliche Leben vor Gott“, wie es im Jesusbuch von Gerd Theißen und Annette Merz heißt40, sondern die Selbstauslegung Jesu, der für sich den Anspruch erhebt, dass in ihm Gottes Heilswille für die Menschen zugänglich wird. Es ist darum noch einmal an bereits Gesagtes zu erinnern:41 Die Gleichnisse können niemals als von ihrem Erzähler ablösbare autonome ästheti39

S.o. S. 65. G. THEISSEN / A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 297. 41 S.o. S. 70. 40

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sche Objekte oder allein auf Grund ihrer poetischen Qualität überzeugen. Sie funktionieren vielmehr nur, wenn man sich auf die Vorgabe des Erzählers einlässt, dass er nicht einfach Geschichten von exzentrischen Weinbergbesitzern oder von sentimentalen Vätern erzählt, sondern dass er von Gott spricht. Und das ist dann auch das eigentlich Raffinierte an diesen Gleichnissen: Jeder reale Hörer, der akzeptiert, dass in den Gleichnissen von Gott die Rede ist, begegnet dem intendierten Hörer und in ihm niemand anderem als dem Erzähler selbst.

IV. Integrative Erzählungen Mit dieser Überschrift soll zunächst darauf aufmerksam gemacht werden, dass die bisher besprochenen Gleichnisse mit ihrer unmittelbaren Interaktion zwischen der Erzählung und den Hörern sowie mit ihrer Verfremdung der vertrauten und Erschließung einer neuen Wirklichkeit durchaus nicht für den gesamten synoptischen Gleichnisstoff repräsentativ sind. Als „Gleichnis“ (παραβολή) gelten vielmehr auch Texte, die entweder überhaupt nicht erzählerisch dramatisiert sind42 oder deren erzählerischer Aufriss den Rahmen des Gewohnten an keiner Stelle verlässt43, so dass man in diesen Fällen weniger von einer Erzählung als von einer Beschreibung zu sprechen geneigt ist. Sie scheinen auch eher auf Einverständnis mit den Hörern abzuzielen, denn sie schildern seine Welt so, wie er sie kennt und wie sie ihm vertraut ist: Ein Senfkorn ist ganz klein, wenn es gesät wird, wächst sich aber zu einer Staude von imposanter Größe aus (Mk 4,30–32). Analoges gilt auch für die Gleichnisse vom Sauerteig (Lk 13,21par.), vom vierfachen Acker (Mk 4,3–8) oder von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29). In keinem einzigen Fall wird die im Laufe der Erzählung aufgebaute Erwartung der Hörer in ihren Fortgang und Ausgang getäuscht. Hier gibt es keine Überraschungen, und es liegt auf der Hand, dass in diesen Gleichnissen der Verweisungsbezug zwischen Text und Kontext ein anderer sein muss und dass darum auch das Erzählziel ein anderes sein muss als in denen, die so virtuos mit dem Vertrauten, dem Erwarteten und dem Erzählten umgehen. Die neutestamentliche Forschung hat dementsprechend versucht, den gesamten Gleichnisstoff in unterschiedliche Formen oder Gattungen einzuteilen44 und dies auch begrifflich zum Ausdruck zu bringen. Sie hat dabei

42

Vgl. z.B. Mk 3,23; 7,17par.; 13,28parr.; Lk 5,36; 6,39. Vgl. z.B. Mk 4,3ff.21f.26ff.30ff.; Mt 13,33; Lk 14,7; 15,3. 44 Klassisch geworden ist die Unterteilung in ‚Bildworte‘, ‚Gleichnisse im engeren Sinn‘, ‚Parabeln‘ und ‚Beispielerzählungen‘. Vgl. dazu die Überblicke bei HARNISCH, Gleichniserzählungen (s. Anm. 3), 66ff; J. ROLOFF, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn 41985, 91ff; 43

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aber immer mit dem Problem zu kämpfen, dass in den Evangelien hier eben gerade nicht begrifflich differenziert wird und dass von außen an die Texte herangetragene Unterscheidungsmerkmale immer auf subjektiven Vorentscheidungen beruhen bzw. mit fließenden Grenzen zu kämpfen haben.45 Es gibt jedoch ein aus den Texten selbst gewinnbares Unterscheidungsmerkmal, das darauf beruht, dass es allererst der Hörer ist, der eine Erzählung zu einem Gleichnis macht, und das dementsprechend nach der Art der Interaktion zwischen der Erzählung und dem Hörer fragt. Wir haben gesehen, dass die maßgebliche Interaktion zwischen der Erzählung und den Hörern an den Knotenpunkten des Handlungsablaufs stattfindet46: Hier entscheidet sich, welchen weiteren Verlauf die Handlung nimmt und ob dabei die Erwartung der Hörer erfüllt oder enttäuscht wird. Wenn wir nun in analoger Weise nach den Knotenpunkten im Handlungsablauf der im vorigen Abschnitt genannten Gleichnisse fragen, wird die Differenz sofort erkennbar: Ein Teil dieser Gleichnisse wird so erzählt, dass sie überhaupt keine Knotenpunkte enthalten, an denen die Handlung auch einen anderen Verlauf nehmen könnte (Mk 4,30–32parr.; Lk 13,21). Und wenn es in einem anderen Teil dieser Gleichnisse doch solche Knotenpunkte gibt (Mk 4,3– 8.26–29), dann werden sie erzählerisch so realisiert, dass sie den Hörern keine Handlungsoptionen anbieten, die sie fragen lassen, wie die Geschichte an diesem Punkt weitergeht. Der Hörer fragt sich in diesen Erzählungen überhaupt nichts, denn er bekommt keine Einladung, um an ihr als potentiell Handelnder (im Sinne von: „ich würde jetzt dieses oder jenes tun“) teilzunehmen. Geradezu zwangsläufig läuft das Geschehene jeweils ab, und nicht ohne Grund steht im Zentrum des Gleichnisses von der selbstwachsenden Saat darum auch das Stichwort „automatisch“ (Mk 4,28). Warum werden diese Gleichnisse dann aber überhaupt erzählt? Diese Frage ist einfach zu beantworten: Solche Geschichten wollen nicht das scheinbar Geordnete stören, sondern genau umgekehrt Differenzerfahrungen in das vorhandene kulturelle Grundwissen integrieren oder Widersprüchliches ausgleichen. Unbekanntes, Befremdliches, Neues soll mit Hilfe des Bekannten erklärt werden. Diese Gleichnisse dienen mithin der Integration einer dissonanten besprochenen Welt in die Harmonie der erzählten H. CONZELMANN / A. LINDEMANN, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 142004, 102ff. 45 Vgl. auch die Kritik der bisherigen Versuche bei CH. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie (WUNT 78), Tübingen 1995, 41ff und vor allem bei R. ZIMMERMANN, Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klassifikation in „Bildwort“, „Gleichnis“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“, in: Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, hg. v. dems. (WUNT 231), Tübingen 2008, 383–419. 46 Vgl. dazu W. EGGER, Methodenlehre zum Neuen Testament, Freiburg i.Br. u.a. 1987, 123f.

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Welt. Sie wollen nicht des Vertraute verfremden, sondern Fremdes vertraut machen. Der Text der erzählten Welt und der Kontext der besprochenen Welt verhalten sich dabei so zueinander, dass das Befremdliche auf der Seite des Kontextes der besprochenen Welt sich befindet und dem Text die Aufgabe zukommt, diese Dissonanz in Harmonie zu überführen. Der Erzähler bietet dafür ein Modell an, um das, was als widersprüchlich oder schwer zu verstehen empfunden wurde, verständlich zu machen. Wenn wir diese allgemeinen Feststellungen auf die ursprüngliche Erzählsituation übertragen, können wir als These formulieren: Diese Gleichnisse werden erzählt, weil gerade in diesen Geschichten die Selbstauslegung Jesu stattfindet, weil gerade diese Geschichten viel direkter und unmittelbarer als die sog. „großen“ Gleichnisse den Kontext des Auftretens Jesu als hermeneutischen Schlüssel voraussetzen. Worum es konkret geht, wird in dem Verweisungsbezug der Gleichnisse auf die Königsherrschaft Gottes deutlich (Mk 4,26.30parr.; Lk 13,20par.), der hier anders als in den meisten übrigen Gleichnissen auf den historischen Jesus selbst zurückgehen dürfte: Diese Gleichnisse wollen einen deutlich identifizierbaren Widerspruch ausgleichen. Er bestand zwischen der traditionellen Vorstellung von Gottes eschatischer Aufrichtung seiner Königsherrschaft, die immer das Kommen Gottes selbst einschloss und in einem universalen, den gesamten Kosmos berührenden Maßstab erfolgte47, und Jesu etwa in Lk 11,20par. formuliertem Anspruch, dass in seinem Wirken diese Erwartung Realität geworden ist48. Gerade diese Gleichnisse mit ihrem so wenig aufregenden Inhalt sind darum von entscheidender Bedeutung für Jesu Selbstauslegung, denn sie formulieren eine ausgesprochen profilierte implizite Christologie. Die Vorgänge, die hier jeweils beschrieben werden, wollen deutlich machen, dass jedes Ende auch einen Anfang haben muss, dass Anfang und Ende in einem unlöslichen Zusammenhang miteinander stehen und dass dieser Zusammenhang auch den Kontrast zwischen Klein und Groß umschließt. Dementsprechend kommt diesen Gleichnissen die Funktion zu, den Blick der Hörer auf die alltägliche Erfahrung zu lenken, um dadurch das unscheinbare Wirken Jesu als integralen Bestandteil der eschatischen Durchsetzung von Gottes universaler Herrschaft zu erklären. Nichts anderes gilt im Übrigen auch für das sog. Gleichnis vom vierfachen Acker (Mk 4,3– 8): In der Frömmigkeitsgeschichte ist es in zahllosen Predigten immer wieder paränetisch ausgelegt worden: Demzufolge sei hier von vier verschiedenen Modellen der christlichen Existenz die Rede, von denen drei zum Scheitern verurteilt sind. Diese Predigten enden

47 Vgl. nur die Schilderungen in Sach 14; AssMos 10,1–10 sowie zum Ganzen die Ausführungen auf S. 13ff. 48 S. dazu o. S. 21ff.

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regelmäßig mit der Aufforderung, guter Acker zu sein.49 Nichts liegt der Intention der Erzählung aber ferner. Für ihr Verständnis entscheidend ist vielmehr, dass man die der szenischen Abfolge zugrundeliegende Zeitstruktur erkennt: Hier stehen nicht „vier Perspektiven“50 nebeneinander, sondern gleichsam im Zeitraffer wird eine ganze Wachstumsperiode zwischen Anfang und Ende beschrieben, wie sie jedes Jahr auf jedem Feld zu beobachten ist: Viele Monate lang ist nur Verlust zu konstatieren51 – erst durch die Vögel, dann durch die Sonne und schließlich noch durch das Unkraut – und trotzdem kann der Beobachter gewiss sein, dass am Ende der ausgesäte Same reiche Frucht bringt.52 Mit Verweis auf die alljährliche Erfahrung wird also auch hier der selbst durch zwischenzeitliche Misserfolge nicht zu unterbrechende Zusammenhang von Anfang und Ende betont. Und dass dieses Gleichnis natürlich auch ein ganz erheblicher Trost für all diejenigen ist, die in der Schule, in der Universität oder auf der Kanzel mit dem Ausstreuen von „Wort-Samen“ beschäftigt sind und schwermütig zu werden drohen, weil sie immer nur Misserfolg sehen, bedarf keines zusätzlichen Nachweises.

V. Interaktion und Interpretation Gleichnisse haben wie alle (und zumal Erzähl-)Texte ein unerschöpfliches Sinnpotential. Es konstituiert sich durch die Unerschöpflichkeit der Menge der möglichen realen Leser und Hörer, und es geht einher mit einer Ablösung des Textes von der Intention seines Produzenten und dem Gewinn einer Autonomie gegenüber dem Autor in der unmittelbaren Interaktion zwischen seinem Hörer bzw. Leser. Dies gilt nicht anders natürlich auch für die Gleichnisse Jesu, und doch ist damit noch nicht alles gesagt: Wenn sie als Jesu Gleichnisse gelesen werden und damit zugestanden wird, dass ihr Erzähler nicht beliebig austauschbar ist, kommt ihnen aus den oben genannten Gründen53 sofort auch eine unverhandelbare Autonomie gegenüber ihren Hörern zu. Diese theologisch begründete Nichtablösbarkeit der Gleichnisse Jesu von der Intention ihres Erzählers stellt auf der anderen Seite jedoch einer Interaktion zwischen der Erzählung und den heutigen Hörern etliche Hindernisse in den Weg: Wir wissen von vornherein, wie die Erzählungen ausgehen, und das für die Interaktion konstitutive Spannungsund Überraschungsmoment der narrativen Dramatisierung wird damit wirkungslos. Das hat seinen Grund darin, dass wir die Gleichnisse Jesu immer nur in ganz bestimmten literarischen und kulturellen Deutungs- und Wirkungszusammenhänge kennenlernen, die z.T. auch durch sie selbst beein49

Vgl. vor allem EG 196,3–4; s. aber auch EG 166,4. D. LÜHRMANN, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 83. 51 S. auch G. LOHFINK, Das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–9), BZ NF 30 (1986) 36–69, hier 62. 52 S. auch WEDER, Gleichnisse (s. Anm. 16), 109. – Die allegorische Auslegung des Gleichnisses in Mk 4,13–20 hat diese Zeitstruktur besser erfasst als viele spätere Interpreten des Gleichnisses. 53 S.o. S. 70f.75f. 50

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flusst sind. Im Wege seiner Rezeptionsgeschichte ist der Text damit schon vor unserer Begegnung mit ihm zu einem Teil des Kontextes geworden, der uns als reale Hörer konstituiert und unsere Erwartungen steuert. Das, was den ursprünglichen Hörern fremd war, kommt uns vertraut vor. Umgekehrt ist uns aber das Kolorit der erzählten Welt, das die Erzählung einsetzt, um mit den Hörern zu interagieren, auf Grund der kulturgeschichtlichen Distanz fremd geworden. Die Gleichnisse spielen in einer uns fremden Welt, ihr Stoff erzeugt gerade dort Distanz, wo er ursprünglich Nähe voraussetzen konnte. Hinzu kommt schließlich noch, dass wir über die ursprüngliche Erzählsituation, in die hinein die Gleichnisse jeweils gesprochen wurden und die für ihr und ihrer Intention Verständnis von konstitutiver Bedeutung sind, nichts wirklich Sicheres mehr sagen können.54 Jesu Gleichnisse wollten Hörer haben, und wir können ihnen in der Regel lediglich Betrachter sein, deren Interaktion mit den Erzählungen im Wege einer Interpretation erfolgt, die – und das ist dann wieder sachgerecht – nach der Intention des Erzählers fragt. Wollte man nun aber eine Theologie der Gleichnisse schreiben, müsste man eine Gesamtdarstellung der Verkündigung Jesu liefern. Das ist so, weil die Gleichnisse integraler Bestandteil seines Anspruchs sind, authentischer Repräsentant der andringenden Gottesherrschaft zu sein. In ihnen findet darum die Selbstauslegung Jesu statt: dass sein eigenes Wirken Teil der irdischen Durchsetzung von Gottes bereits im Himmel vollzogenem (vgl. Lk 10,18) Herrschaftsantritt ist, dass Gottes eigenes, weltordnendes Einschreiten im universalen Maßstab unmittelbar bevorsteht und dass die Verteilung von Heil und Unheil für die Menschen sich an nichts anderem orientiert als an ihrer Reaktion auf Jesu Anspruch. Diese Interaktion ist der Zusammenhang, auf den die Erzählstruktur der Gleichnisse die Hörer und Leser verweist und in die sie sie verwickeln will. Dieser Vorgang spiegelt sich zum einen in den gleichnisimmanenten Interaktionen und zum anderen in dem oben bereits angesprochenen55 wechselseitigen Verweisungszusammenhang, durch den die Gleichnisse miteinander verbunden sind. Man kann vielleicht sogar sagen, dass sie komplementär sind, doch handelt es sich hierbei mit Sicherheit nicht um eine Komplementarität, die einfach nur die Wünsche der Hörer und Leser fortschreibt. Denn Jesus spricht in den Gleichnissen eben nicht nur von Gottes Güte (Mt 20,15), von seinem Erbarmen (Lk 15,20; Mt 18,27) und von seiner Vergebung (Lk 7,41–43; Mt 18,27), sondern auch von seinem Zorn (Lk 14,21 par. Mt 22,7; Mt 18,34). Der Gleichnisinterpretation ist dementsprechend vor allem die Aufgabe gestellt, die Gleichnisse von ihrer Vereinnahmung durch selbstverständlich gewordene Rezeptionsgewohnheiten zu distanzieren. Nur so kann es gelingen, das für jeden 54 55

Vgl. dazu o. S. 69f. S.o. S. 76f.

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Leser und Hörer bleibend unverfügbare Potential der Gleichnisse und ihrer ursprünglichen Intention immer wieder neu zur Geltung zu bringen: Voreingenommenheiten zu zerbrechen, selbstverständlich gewordene Sicherheiten in Frage zu stellen und die Wirklichkeit Gottes als eine Wirklichkeit zu erschließen, die es ohne die Gleichnisse und ihren ersten Erzähler nicht gäbe.

4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen1 Überlieferungs- und formgeschichtliche Beobachtungen I. Vorbemerkungen 1. Seit dem Beginn der Ausgrabung und Publikation der Inschriften aus dem Asklepios-Heiligtum von Epidauros im Jahr 1883, vor allem aber seit Otto Weinreichs Buch über die Topik der antiken Heilungswunder von 19092 hat man die inschriftlichen Heilungsberichte, die an den Kultorten der antiken Heilgötter gefunden wurden, in erster Linie zur motivgeschichtlichen Interpretation der neutestamentlichen Wunderüberlieferung herangezogen.3 Erstmals auch für eine überlieferungs- und formgeschichtliche Fragestellung ausgewertet hat sie Martin Dibelius in der Neubearbeitung seiner „Formgeschichte des Evangeliums“ von 1933.4 Die Erweiterung gegenüber der ersten Auflage von 19195 erfolgte zweifellos unter dem Eindruck von Rudolf Herzogs zwei Jahre zuvor erschienener Arbeit über die Inschriften aus dem Asklepieion von Epidauros6, und dementsprechend ist vor allem diese Sammlung Gegenstand von Dibelius’ Vergleich. „Eine gewisse Analogie zur evangelischen Überlieferung“7 meint er zunächst darin erkennen zu können, dass hier wie dort ältere Berichte und Stoffe unterschiedlicher Art und Herkunft durch eine „Redaktion ... zusammengebracht 1 Grundlage dieser Untersuchung ist ein Referat, das ich am 12. März 1990 in Bethel für die Projektgruppe „Formgeschichte“ innerhalb der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie vorgetragen habe. 2 O. WEINREICH, Antike Heilungswunder (RVV 8), Gießen 1909 = Berlin 1969. 3 Vgl. z.B. R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 29), Göttingen 21931 = 91979, 236ff, der zwar vorgibt, den „Stil der Wundergeschichten“ untersuchen zu wollen, faktisch aber Motivgeschichte treibt; G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (StNT 8), Gütersloh 51987, 57ff. 4 M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 21933 = 61971, 165ff. – Vgl. auch L. J. MCGINLEY, Form-Criticism of the Synoptic Healing Narratives, Woodstock, MD 1944, 119ff. 5 In der ersten Auflage fehlte das gesamte Kap. VI „Analogien“ (2. Aufl. S. 130–178). 6 R. HERZOG, Die Wunderheilungen von Epidauros (Ph.S 22/3), Leipzig 1931. 7 DIBELIUS, Formgeschichte (s. Anm. 4), 170.

4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen

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und unter einheitlichen Gesichtspunkt gestellt“ wurden.8 Entsprechungen sieht Dibelius aber vor allem im formgeschichtlichen Charakter des jeweils übernommenen älteren Materials: Wie er innerhalb der neutestamentlichen Wunderüberlieferung zwischen den kurz und knapp erzählten ‚Paradigmen‘ mit „relative(r)“ historischer „Zuverlässigkeit“9 und den ausführlichen, durch profane Wundertopik angereicherten ‚Novellen‘10 unterscheidet, so differenziert er auch innerhalb des den Heilungsberichten von Epidauros zugrundeliegenden Traditionsbestandes: Auf der einen Seite sieht er in der epidaurischen Sammlung Heilungsgeschichten verarbeitet, die ursprünglich auf „Votivtafeln oder Weihgaben“ festgehalten worden waren und wie die neutestamentlichen Paradigmen eine „geschichtliche Grundlage“ gehabt hätten.11 Diese „Urberichte der Geheilten“12 seien auf der anderen Seite um Novellen nichtepidaurischer Herkunft ergänzt bzw. „durch die Aufnahme novellistischer Motive erweitert und ausgeschmückt worden“13. Hierbei ließe sich nur bei den Erzählungen, denen eine reale Heilung im Asklepieion zugrunde liegt, ein „festgelegtes stilistisches Schema“ beobachten (Schilderung der Krankheit, Darstellung von Inkubation und Erscheinung, Feststellung des Heilerfolgs).14 In den „ausführlichen Berichten“ sei diese „Grundform“ „aufgefüllt“ worden, während „der Stil jener novellistischen Berichte ... der Einheitlichkeit entbehrt“.15 Zur Absicht von Tradition und Redaktion schreibt Dibelius: „Die ganze Sammlung dient einem einheitlichen Zweck: die Pilger, die sie in Epidauros lesen, sollen in ihrem Glauben an die Heilkraft des Gottes gestärkt, in ihrer Hoffnung auf Heilung gefestigt werden. Die Urberichte der Geheilten ... entstammten dem Bestreben, dem Gott zu danken und seinen Namen zu erheben; die auf den Stelen verwerteten Novellen waren ursprünglich von der Lust am Mirakel diktiert.“16

Hierin sieht Dibelius dann auch die Hauptdifferenz zwischen den beiden Überlieferungsbereichen begründet17: Die Wunderüberlieferung der Evangelien sei personbezogen, während diejenige von Epidauros eine „viel stär8

DIBELIUS, ebd. 172. DIBELIUS, ebd. 23ff.34ff (Zitat S. 59). 10 DIBELIUS, ebd. 66ff. 11 DIBELIUS, ebd. 166.168. 12 DIBELIUS, ebd. 171. 13 DIBELIUS, ebd. 168. – Dibelius unterscheidet „fremde Stoffe“ (172), d.h. Novellen, die ursprünglich in keiner Verbindung mit Epidauros standen (z.B. W 25.46.47), sondern „mit dem epidaurischen Gott erst nachträglich verbunden“ wurden (168), von „fremden, d.h. aus der Novellistik stammenden Motiven“, durch die die epidaurischen Berichte lediglich „erweitert und ausgeschmückt“ wurden (172.168). 14 DIBELIUS, ebd. 169. 15 DIBELIUS, ebd. 16 DIBELIUS, ebd. 171. 17 DIBELIUS, ebd. 172. 9

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kere kultische und lokale Bindung“ aufweise. Dies führe dazu, dass der Stil der epidaurischen Heilungsberichte erheblich stereotyper sei als derjenige der Paradigmen. Dibelius nimmt eine Verwandtschaft zwischen der Sammlung von Epidauros und den neutestamentlichen Texten darum vor allem in den jeweiligen Überlieferungsvorgängen wahr. Fast 50 Jahre später nimmt Dieter Zeller gerade dieses Fazit von Dibelius auf und konkretisiert es kritisch im Blick auf die neutestamentliche Wunderüberlieferung:18 Vor allem bei den Krankenheilungen sieht er den ursprünglichen Sitz im Leben der Erzählungen im „Heildank“ der Geheilten selbst, wie er in der alttestamentlich-jüdischen Tradition und eben auch an den Kultstätten der hellenistischen Heilgötter belegt ist:19 „Analog zu dem, was wir von antiken Heilstätten wissen, wären diese Geschichten zwar nicht im Tempel, aber in den Ortsgemeinden von interessierten Funktionären zusammengetragen, dabei in die 3. Person und stereotype Form umgegossen worden“20. In diesem Überlieferungsvorgang vermutet Zeller eine Ergänzung zu der von den Jüngern des irdischen Jesus weitergegebenen Wundertradition. Die Intention dieser Weitergabe lässt sich ein Stück weit in Analogie zu den epidaurischen Heilungsberichten verstehen: Wie durch die inschriftlichen Sammlungen vor allem die heilungsuchenden Kranken ermutigt werden sollten, diente auch die Verschriftlichung der urchristlichen Wunderüberlieferung dem Zweck, „bei den Hörern in der Gemeinde das Vertrauen auf Jesus zu stärken“21. Weit über beide hinaus geht Klaus Berger, der in den inschriftlichen Heilungsberichten überhaupt den „formgeschichtlichen Ursprung“ der meisten der „üblicherweise als Wundergeschichten behandelten Texte“ sieht; sie seien allerdings zu „Anekdoten mit chrienhafter Struktur“ umgestaltet worden22: An die Stelle des im Traum erscheinenden Gottes sei Jesus getreten, und dadurch hätte sich die Form des Heilungsberichts mit derjenigen der Chrie bzw. Anekdote verbunden, während Heiligtum und Heiltraum als Haftpunkte der Erzählungen zurückgetreten seien.23

18 D. ZELLER, Wunder und Bekenntnis. Zum Sitz im Leben urchristlicher Wundergeschichten, BZ NF 25 (1981) 204–222, hier 212.220f; zur Kritik an Dibelius vgl. 205f. 19 Mit Hinweis auf Epidauros und Lebena sowie auf die maffeischen Inschriften in Rom (ebd. 212). 20 ZELLER, Wunder (s. Anm. 18), 221; er vermutet dies „vor allem bei Traditionen ..., die einen Eigennamen oder eine Nachfolgenotiz enthalten“ (Jairus, Bartimäus, Maria Magdalena) (ebd. mit Anm. 86). 21 ZELLER, ebd. 22 K. BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW 2/25/2 (1984) 1031–1432.1831–1885, hier 1216. 23 BERGER, ebd. 1217.

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2. Inschriftliche Heilungsberichte sind in zweierlei Gestalt überliefert: a) als Sammlung, d.h. als unverbundene Aneinanderreihung einer Mehrzahl von Heilungsberichten. Erhalten sind solche Sammlungen von den Asklepios-Heiligtümern in Epidauros, Lebena (Kreta) und Rom. Dass es auch an anderen Heiligtümern zu derartigen – und nicht nur inschriftlichen – Zusammenstellungen kam, wissen wir z.B. aus Strabo, Geogr. 17,1,7 über den Sarapistempel in Kanopos: Die dortigen Heilungen (θεραπείαι) und ‚Erfolge der Sprüche‘ (ἀρεταὶ τῶν ... λογίων24) seien aufgezeichnet worden (συνγράφειν). Analog weiß Aelius Aristides von der Existenz „heiliger Bücher“ in „heiligen Schränken“ (ἱεραὶ θῆκαι) mit zahllosen Berichten über Taten des Sarapis25 (Or. 45,29).26 b) als Einzelinschriften, auf denen Geheilte jeweils dem Heilgott für ihre Genesung danken und dabei das Zustandekommen der Heilung berichten. Die meisten dieser Inschriften sind verloren, einige sind aber noch erhalten. Nach Ausweis der Überschrift der Sammlung von Lebena bildeten diese Einzelinschriften die Quelle für die spätere Zusammenstellung.27

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Zufolge WEINREICH, Heilungswunder (s. Anm. 2), 119 handelt es sich hierbei um „Aufzeichnungen der Heilorakel und wunderbaren Weisungen, die den Inkubanten in Visionen und Träumen zuteil wurden“. 25 Der Autor fährt fort: „Die Marktplätze sind voll, heißt es, und die Häfen und die Plätze in den Städten von Leuten, die davon καθ’ ἕκαστα erzählen. Wenn ich versuchen wollte, sie zu erzählen, würde (selbst) eine endlose Zahl der Tage die Aufzählung (κατάλογος) gleichsam unvollständig lassen“ (45,30; die Nähe zu Joh 21,25 ist nicht zu übersehen). Als κατάλογος wird die Aufzählung der Heilungstaten des Gottes auch in Lebena bezeichnet (s.u. S. 93). 26 Weitere Beispiele nennt M. SMITH, Prolegomena to a Discussion of Aretalogies, Divine Men, the Gospels and Jesus, JBL 90 (1971) 174–199, hier 177f Anm. 27. – Wie die bei Artemidorus, Oneirocr. 2,44 erwähnten Aufzeichnungen von συνταγαί („Rezepten“) und θεραπεῖαι („Heilungen“) des Sarapis durch Geminus v. Tyrus, Demetrius v. Phaleron und Artemon v. Milet formgeschichtlich zu beurteilen sind, muss offen bleiben, da keines dieser Werke erhalten ist. – Die Existenz einer solchen Sammlung ist auch für das thrakische Chersonesos belegt, in dessen Parthenos-Heiligtum eine Ehreninschrift für einen Syriskos Herakleiton gefunden wurde, der τὰ[ς ἐπιφαν]είας τᾶς πα[ρ]θένου φιλ[οπόνως συγ]γράψας („die Epiphanien der Jungfrau eifrig aufgeschrieben hat“; vgl. M. ROSTOWZEW, Ἐπιφάνειαι, Klio 16 [1919] 203–206, hier 204). 27 Vgl. auch die Überschrift der Chronik des Athene-Tempels von Lindos (Die lindische Tempelchronik, neu bearb. v. Ch. Blinkenberg [KlT 131], Bonn 1915, Kol. A, Zl. 2–8).

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II. Die Sammlungen 1. Epidauros Asklepiostempel – 4 Stelen, ca. 170 x 75 x 17 cm. IG IV2/1, 121–123; HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 8–35 (mit deutscher Übersetzung); E.J. EDELSTEIN / L. EDELSTEIN, Asclepius I, Baltimore 1945, Nr. 423 (mit englischer Übersetzung); DELLING, Wundertexte (s. Anm. 28), 20–24. – 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. Überschrift: Θεός Τύχα [ἀγ]αθά

[’Ιά]ματα τοῦ Ἀπόλλωνος καὶ τοῦ Ἀσκλαπιοῦ28

Die in Epidauros gefundenen vier Stelen bieten eine Aufzählung von 70 mehr oder weniger gut rekonstruierbaren ἰάματα, wie es in der Überschrift heißt. Diese steht jedoch zum Inhalt der Sammlung in einer doppelten Spannung: Zum einen besteht die Sammlung abweichend von der einleitenden Ankündigung keineswegs nur aus der Schilderung von Heilungsvorgängen. Vielmehr finden sich auch mantische Weisungen mit dem Ziel der Wiederauffindung von Verlorenem (W 24.46.63), und unter die genannte Überschrift gestellt wurden auch die Bestrafung von finanzieller Untreue durch Krankheit (W 7) sowie die wunderbare Reparatur eines zerbrochenen Trinkbechers (W 10) – in allen drei Fällen handelt es sich zweifellos nicht um ἰάματα. Herzog hält aus diesem Grunde ἐπιφάνειαι für den angemesseneren, weil allgemeineren Begriff zur Beschreibung der auf den Stelen festgehaltenen Berichte.29 – Zum anderen schreibt die Überschrift die Heilungen auch Apollon zu, den sie sogar an erster Stelle nennt. In der Sammlung selbst findet er dann aber keinerlei Erwähnung mehr; vielmehr ist ausschließlich von Asklepios die Rede. – Diese doppelte Inkohärenz ist m.E. vor allem aus methodischen Gründen aufschlussreich, weil sie sichtbar macht, dass derartige Spannungen durchaus auktorial intendiert sein können und nicht vorschnell zum Ansatzpunkt für literarkritische Operationen gemacht werden dürfen. Doch ist hier natürlich weder eine ursprünglich thematisch geschlossene Sammlung von Heilungsberichten sekundär um die erwähnten ‚sachfremden‘ Texte ergänzt worden, noch sind ursprünglich auch dem Apollon zugeschriebene Heilungen im Nachhinein auf Aklepios übertragen worden. Erwähnt sei bereits an dieser Stelle, dass auf einer ebenfalls in Epidauros gefundenen Einzelstele aus dem Jahr 224 n. Chr.30 eine analoge Nennung des Apollon neben dem eigentlichen Wundertäter Askle-

28

Da der Text bei HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6) und G. DELLING, Antike Wundertexte (KlT 79), Berlin 21960 bequem zugänglich ist, verzichte ich hier auf eine Wiedergabe. 29 HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 49. 30 IG IV2/1,127 = DELLING, Nr. 25 (Antike Wundertexte [s. Anm. 28], 24) = HERZOG, W 80 (Wunderheilungen [s. Anm. 6], 45); vgl. zu diesem Text auch u. S. 103.106.

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pios belegt ist: Sie berichtet von einer Erscheinung des Asklepios, ist aber neben „dem Heiland Asklepios“ auch dem Apollon Maleatas geweiht. a) Gliederung und Aufbau der Sammlung Die ἰάματα sind ohne kommentierende Ein-, Aus- oder Überleitungen katalogartig nebeneinandergestellt, d.h. sie sprechen durch sich selbst. Das unterscheidet die Heilungen der epidaurischen Sammlung von vergleichbaren Texten, die in einen literarischen Kontext eingebettet sind, der auch andere Gattungen enthält, wie z.B. die Evangelien oder die Vita Apollonii von Philostrat. – Die Textgliederungssignale sind deutlich wahrnehmbar: Der Beginn eines neuen Teiltextes wird durch einen Personenwechsel angezeigt; dies wird zumeist durch die Nennung des Namens erreicht, aber auch durch allgemeine Bezeichnungen wie ἀνήρ (W 3.9.13f.17.27.65), παῖς (W 5.26) oder χόρα (W 44) o.ä. Zusätzliche Hervorhebung finden diese Textgliederungssignale bisweilen noch dadurch, dass der Name des Geheilten zusammen mit der Angabe des körperlichen Defekts dem eigentlichen Heilungsbericht, der dann mit einem anaphorischen Demonstrativpronomen beginnt, als syntaktisch unvollständige Überschrift stichwortartig vorangestellt ist (z.B. „Ambrosia aus Athen, einäugig“, W 4; „Arate aus Lakonien, Wassersucht“, W 21; „Gorgias von Herakleia, Eiter“, W 30; s. auch W 5–6.13–16 u.ö.; W 18f.22f.38f.47.63.68 nennen als Überschrift nur den Namen des Kranken) oder dass diese den Inhalt des jeweils folgenden Berichts in einem Satz zusammenfasst (z.B. „Echedoros bekam Pandaros’ Mal zu dem, das er hatte“, W 7; „Ein Mann wurde am Zeh geheilt von einer Schlange“, W 17; s. auch W 26.45). Verwendung finden auch optische Signale: Zwischen den einzelnen Berichten befinden sich unterschiedlich große Zwischenräume, und manche Berichte beginnen darüber hinaus mit einer neuen Zeile, wobei der Rest der vorangegangenen Zeile frei bleibt (W 9–18.21–23.29.33.37.44–45). Die Zahl der Ausnahmen ist gering, und alle lassen sich gut erklären: W 2 nennt in der Teiltext-Überschrift nur das Leiden (τριέτης [φο]ρά / „Dreijährige Schwangerschaft“) und integriert den Namen der Geheilten in den Bericht. Veranlasst ist diese Abweichung dadurch, dass der voranstehende Heilungsbericht (W 1)31 ebenfalls die Beendigung einer überlangen Schwangerschaft zum Gegenstand hat; die Überschrift von W 2 verdankt sich dementsprechend der Absicht, die sachliche Zusammengehörigkeit beider Berichte zum Ausdruck zu bringen. – W 10 (κώθων / „Ein Becher“) berichtet von einem zerbrochenen Becher, den ein nach Epidauros gekommener und namentlich nicht identifizierter Geschirrträger auf einmal wieder heil aus seinem Rucksack zieht und der von seinem Besitzer daraufhin dem Asklepios geweiht wird. Hier geht es also um die Ätiologie eines im Heiligtum ausgestellten Weihegeschenks, und die Nennung eines Namens ist entbehrlich, weil dessen Zeugnisfunktion durch das vorhandene Exponat erfüllt wird.

31

Vgl. u. S. 107ff.

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Auf Grund ihrer Hervorhebung mit Abgrenzungsfunktion stellen diese Signaltexte die Kohärenz des Makrotextes her: Sie sind auf einer Textebene zwischen der Katalogüberschrift und dem jeweils dazugehörenden ἴαμα anzusiedeln und machen auf diese Weise jeden einzelnen Heilungsbericht für sich unmittelbar zur Gesamtüberschrift der Sammlung. Die parataktische Anordnung der Einzelepisoden wird transzendiert, indem jeder Heilungsbericht zu Beginn jeweils an die Katalogüberschrift als der sinngebenden Vorausdeutung zurückgebunden wird. Hergestellt wird damit eine thematische Geschlossenheit, und insofern sind diese Signaltexte auf einer anderen formgeschichtlichen Ebene das für die Katalogform typische Äquivalent zu jener erzählerischen Rahmung, mit deren Hilfe etwa die Verfasser der Evangelien die sog „kleineren Einheiten“ zu einer kohärenten Makroerzählung zusammenfügen. Ein sachliches Ordnungsprinzip lässt sich mit wenigen Ausnahmen nicht feststellen: In W 1–2 werden überlange Schwangerschaften beendet, in W 3–4 Skeptiker überwunden. W 7 gehört nicht nur thematisch mit W 6 zusammen, sondern setzt dieses ἴαμα sogar voraus. W 67–70, d.h. alle auf den Fragmenten der vierten Stele erhaltenen Inschriften scheinen den finanziellen ‚Heildank‘ zu thematisieren. Ansonsten gilt, was Rudolf Herzog schreibt: Die ἰάματα von Epidauros bilden „eine echtgriechische Ποικίλη ἱστορία“.32 b) Die Form der Teiltexte Pausanias hat in seiner Graeciae descriptio, die in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. entstanden ist, die Form der ἰάματα, die er auf den Stelen im epidaurischen Asklepieion vorfand (zu seiner Zeit waren es noch sechs), anhand ihrer strukturellen Merkmale beschrieben (2,27,3): ταύταις (sc. ταῖς στήλαις) ἐγγεγραμμένα καὶ ἀνδρῶν καὶ γυναικῶν ἐστιν ὀνόματα ἀκεσθέντων ὑπὸ Ἀσκληπιοῦ, προσέτι δὲ καὶ νόσημα ὅ τι ἕκαστος ἐνόσησε, καὶ ὅπως ἰάθη.

Auf ihnen (den Stelen) sind verzeichnet: (a) die Namen der Männer und Frauen, die von Asklepios geheilt wurden, dazu (b) die Krankheit, an der jeder litt, und (c) wie er geheilt wurde.

Sofern es sich tatsächlich um Heilungen handelt (die Ausnahmen wurden bereits angesprochen), bekommt man damit fast alle Texte von Epidauros formgeschichtlich in den Griff. Darüber hinaus kann Pausanias’ Formbestimmung aber noch differenziert werden: Nach der Vorstellung der Person und der Benennung der Krankheit folgt (c) Schilderung des Ergehens der

32

HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 58.

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Person und (d) die Feststellung des Heilerfolgs (in der Regel mit Hilfe des Begriffs ὑγιής und Stammverwandten).33 Diese Form ist äußerst stabil und zieht sich durch die gesamte Sammlung hindurch. Sie bildet insofern eine „virtuelle Gattungsstruktur“34, die in den Einzeltexten individuell realisiert wird.35 Die größte Variationsbreite findet sich naturgemäß in Element (c), der Schilderung des Heilungsvorgangs. Hierbei zeigt sich, dass dieses Strukturelement der Gattung ἰάματα Raum gibt für die Inkorporation einer Teilgattung, die ich „Inkubationsbericht“ nennen möchte: Ob nun die Heilung im Inkubationstraum selbst erfolgte (so meistens) oder der Inkubant in seinem Traum lediglich die rettende Weisung empfing (z.B. 2a.b; 6–8; 34–35) – die jeweilige Form des Teiltextes ist in hohem Maße konstant: Er besteht aus einer Exposition – (α) ἐγκαθεύδειν/ἐγκοιμᾶσθαι, (β) ὄψιν/ἐνύπνιον εἶδε, (γ) ἐδόκει/ἔδοξε – und (δ) der Beschreibung des Trauminhalts. Ich nenne sie „Teilgattung“, weil sie nicht autonom existieren kann: Sie ist nur denkbar als Einbettung in eine übergreifende Gattung. In unserem Fall müssen die Identifizierung der Person und die Benennung der Krankheit vorausgehen und die Mitteilung des Heilerfolgs folgen; sonst hinge diese Teilgattung in der Luft. c) Die Intention der Form Auszugehen ist zunächst von der Elementarsequenz36 der einzelnen Heilungsberichte, d.h. von ihrem „Plot“. Es wird dann sofort deutlich, dass die Hauptfigur jedes einzelnen Berichts der/die Heilungssuchende ist: Diese(r) wird zu Beginn jeweils namentlich und mit seiner/ihrer Krankheit vorgestellt, er/sie kommt zum Heiligtum, erfährt Heilung und wird gesund. Er/Sie ist auf dieser Ebene das Subjekt der die Elementarsequenz konstituierenden Prädikate. Die erzählerische Hauptperson der Heilungsberichte ist also nicht Asklepios, sondern der/die Geheilte. – Das kann durch weitere Beobachtungen präzisiert werden: Wenn im Inkubationsbericht von einem Handeln des Heilgottes am Kranken erzählt wird, letzterer also zum Objekt wird, so tritt Asklepios nur in W 12.15.19 erzählerisch uneingebettet als real Handelnder auf; in allen anderen Fällen wird lediglich erzählt, dass der Inkubant von einer Behandlung geträumt hat. Durch die Exposition des Inkubationsberichts, vor allem durch die Elemente (b) und (c)37, ist die Hauptfi33

Vgl. auch A. GEORGE, Miracles dans le monde hellénistique, in: Les miracles de Jésus selon le Nouveau Testament, hg. v. X. Léon-Dufour, Paris 1977, 95–108, hier 98. 34 THEISSEN, Wundergeschichten (s. Anm. 3), 28. 35 Zu den stilistischen Variationen in der epidaurischen Sammlung vgl. R. NEHRBASS, Sprache und Stil der Iamata von Epidauros (Ph.S 27/4), Leipzig 1935, 52ff. 36 Begriff nach C. BREMOND, Logique du récit, Paris 1973, 131. 37 Zur Verwendung von δοκεῖν als charakteristischem Merkmal in Visionsberichten vgl. K. BERGER, Visionsberichte. Formgeschichtliche Bemerkungen über pagane hellenistische

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gur also auch in diesem Teil der ἰάματα als Subjekt präsent, und zwar als fiktiver Erzähler seines Traums.38 In diesen Texten wird die Heilung vermittelnde Epiphanie des Gottes aus der Erzählperspektive des Inkubanten dargestellt und dadurch gleichzeitig verborgen. Asklepios begegnet dem Leser nicht in dessen eigener Wirklichkeit, sondern lediglich in der geträumten, mithin also in einer fiktiven Wirklichkeit. Dementsprechend ist er hier auch kein Akteur auf der durch den realen Erzähler konstituierten Textebene des jeweiligen Heilungsberichts. – Aufschlussreich ist auch, dass in nicht wenigen Heilungsberichten der Heilgott überhaupt nicht auftritt; hier genügt die Mitteilung des Aufenthalts im Abaton bzw. auch nur im Heiligtum, um die erfolgte Heilung plausibel erzählen zu können. Ein heilendes Eingreifen des Gottes wird zweifellos vorausgesetzt, erzählerisch im Sinne einer „Sprungraffung“39 aber ausgespart (vgl. W 140.5.10.11.16). Ein anderer Typ von Heilungsberichten erzählt von Heilungen, die durch ein Tier vorgenommen werden: Mit Ausnahme von W 39 erfolgen sie alle außerhalb des Heilschlafs, d.h. im Wachzustand. In W 17.33.39.44.45 ist eine Schlange für die Heilung verantwortlich, was an einem Asklepios-Heiligtum ja nicht weiter verwunderlich ist, in W 20.26 ein zum Heiligtum gehörender Hund und in W 43 eine Gans. Nimmt man alles zusammen, wird deutlich: Orientiert ist die Form der einzelnen Heilungsberichte von Epidauros in erster Linie an der Person des Geheilten; um sein Erleben und sein Geschick geht es in der erzählerischen Elementarsequenz. Der Heilgott ist demgegenüber nur ganz selten Akteur in der realen Erzählung und begegnet in der Regel lediglich in der fiktiven Erzählung des Inkubanten, wenn nicht überhaupt auf ihn verzichtet wird. – Wenn man nun aber auch die Reihenbildung der Texte unter der Überschrift „Heilungen des Apollon und des Asklepios“ als dem maßgeblichen Kommentar in die Überlegungen einbezieht, wird eine plausible Bestimmung der Intention der Form möglich: Sie besteht darin, die Heilkraft der Kultstätte als ἱερὸν ἐπιφανέστατον dokumentarisch zu beglaubigen; es geht also in erster Linie um den Ort und erst danach um den an diesem Ort verehrten Heilgott.41 Erkennbar wird dies auch in einer weiteren Gruppe von Texten: Wir rufen uns zunächst in Erinnerung, dass die Schilderung des Heilungsvorgangs Texte und ihre frühchristlichen Analogien, in: ders. / F. Vouga / M. Wolter / D. Zeller, Studien und Texte zur Formgeschichte (TANZ 7), Tübingen/Basel 1992, 178–225. 38 Ausgeführt wird dies in Epidauros W 17: „Als er aufwachte und gesund war, sagte er, er habe ein Gesicht gesehen, es habe ihm geträumt, dass ein Jüngling von stattlicher Gestalt eine Arznei auf den Zeh aufgestrichen habe“. 39 E. LÄMMERT, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 61975, 83. 40 S. dazu u. S. 107ff. 41 Vgl. auch die explizite Abgrenzung vom trozenischen Asklepios-Heiligtum in Epidauros W 23.48 sowie GEORGE, Miracles (s. Anm. 33), 101.

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zu den konstitutiven Formelementen der Heilungsberichte gehört. Gemeinsam ist allen diesbezüglichen Formelementen der ἰάματα das Interesse an einer detaillierten Darstellung des Vorgangs, der zur Heilung führt. – Nun gibt es aber einige Texte, in denen die Form der ἰάματα an dieser Stelle charakteristisch variiert ist: W 11: Ἀισχίνας ἐγκεκοιμισμένων ἤδη τῶν ἱκετᾶν ἐπὶ δένδρεόν τι ἀμβὰς ὑπερέκυπτε εἰς ἄβατον. καταπετὼν οὖν ἀπὸ δένδρεος περὶ σκόλοπάς τινας τοὺς ὀπτίλλους ἀμφέπαισε. κακῶς δὲ διακείμενος καὶ τυφλὸς γεγενημένος καθικετεύσας τὸν θεὸν ἐνεκάθευδε καὶ ὑγιὴς ἐγένετο.

Aischines stieg, als die Bittfleher schon im Heilraum schliefen, auf einen Baum und schaute in den Heilraum. Da fiel er von dem Baum in Spitzpfähle und zerschlug sich die Augen; da er so übel dran und blind geworden war, flehte er den Gott um Verzeihung an, schlief im Heilraum und wurde gesund.

W 22: ῞Ερμων Θ[άσιος. τοῦτο]ν τυφλὸν ἐόντα ἰάσατο. μετὰ δὲ τοῦτο τὰ ἴατρα οὐκ ἀπάγοντ[α ὁ θεός νιν] ἐπόησε τυφλὸν αὖθις. ἀφικόμενον δ’ αὐτὸν καὶ πάλιν ἐγκαθε[ύδοντα ὑγι]ῆ κατέστασε.

Hermon von Thasos. Diesen, der blind war, heilte er. Da er hierauf den Heildank nicht abführte, machte ihn der Gott wieder blind. Als er dann ankam und wieder im Heilsraum schlief, machte er ihn gesund.

Beide Berichte nennen zunächst wie die anderen das erste Element der Exposition des Inkubationsberichts (ἐνεκάθευδε/ἐγκαθεύδοντα). Sie signalisieren dadurch, dass sich der Inkubant im Heilraum schlafen gelegt hat. Danach fahren sie aber nicht mit dem Inkubationsbericht fort, sondern springen direkt zum abschließenden Formelement der ἰάματα, der Feststellung der Heilung (W 11: ὑγιὴς ἐγένετο; W 22: ὑγιῆ κατέστασε). Wir haben hier also wieder die Erzähltechnik der Raffung vor uns. Hinzunehmen könnte man noch W 36.55, wo die Form noch stärker gerafft wird, doch ist der Text hier nur sehr lückenhaft erhalten. Schaut man die beiden Heilungsberichte im ganzen an, wird der Grund für die Variation der Form deutlich. Hier wie dort (und auch in W 36.55) ist die Form sozusagen als Ausgleich für die Reduktion an einer anderen Stelle ausgebaut worden: Die formspezifische Benennung der Krankheit wurde jeweils erweitert durch eine Schilderung ihrer Ursache. Man kann nun aber auch den Grund für diese Kompensation angeben, denn in beiden Fällen wird die Krankheit auf Verstöße gegen die Ordnung des Heiligtums zurückgeführt: In W 11 verletzt ein Neugieriger die heilige Sphäre des Abaton, und in W 22 verweigert ein zuvor Geheilter die obligatorische Zahlung des „Heildanks“ (τὰ ἴατρα) an das Heiligtum. Analoges gilt auch für W 36 (Skepsis gegenüber den Heilungen) und W 55 (Verweigerung des Heildanks). Insofern nun aber der erzähltechnische Einsatz von Raffung und Ausgestaltung in erster Linie der Leserlenkung dient, tragen die Verfasser der Sammlung auf diese Weise die Komponente der Warnung vor Verstößen gegen das Heiligtum in die

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Heilungsberichte ein. Jeder einzelne dieser Heilungsberichte erhält damit eine doppelte Pointe. – Hervorzuheben ist darüber hinaus, dass diese besondere Akzentuierung der besprochenen Heilungsberichte nicht als redaktionelle Erweiterung einer Textvorlage zu identifizieren ist, sondern als eine interessegeleitete Variation und sprachliche Realisierung einer vorgegebenen erzählerischen Elementarsequenz. Unter dieser Perspektive lassen sich die unterschiedlichen Beobachtungen zu einem Gesamtbild zusammenfügen: – – Die Spannung zwischen der Nennung von Apollon neben und vor Asklepios in der Überschrift auf der einen Seite und in den Heilungsberichten, in denen er nicht vorkommt42, auf der anderen Seite existiert genau dann nicht, wenn man in Rechnung stellt, dass es um den Ort und nicht um den Heilgott geht: Die Erwähnung Apollons ist dann darauf zurückzuführen, dass das Heiligtum von Epidauros ursprünglich dem Apollon Maleatas geweiht war, dessen Kult dann aber durch Asklepios absorbiert wurde. Aus Gründen der „konservative(n) Pietät“ wird Apollon hier und anderswo aber immer noch an erster Stelle vor und neben Asklepios genannt.43 – – Die hervorgehobene namentliche Identifikation der Geheilten zu Beginn jedes Teiltextes soll zum einen die Tatsächlichkeit der am Heiligtum geschehenen Wunder beglaubigen. Ihnen kommt so die Funktion von Zeugen zu, die πίστις hervorrufen sollen. Dem entspricht, dass etliche Inschriften mit der Überwindung von Skepsis und Unglauben zu tun haben (W 3.4.9). Sein Widerlager findet dieses Element in literarischen Texten, in denen Zweifel an der Faktizität der Heilungen zum Ausdruck kommt (vgl. z.B. Lukian, Philops. passim). Zum anderen bewirkt sie eine Individualisierung, die sich auf den Leser überträgt und zusammen mit der Vielfalt der geheilten Krankheiten Zutrauen in die Heilkraft des Ortes hervorruft (die Heilungsberichte wurden „vereinigt zu Nutz und Frommen der Waller im Heiligtum“44). Die besondere Heraushebung der Anfänge der Einzelberichte soll den Leser leiten und ihm helfen, einen Heilungsbericht zu finden, der möglicherweise auf seine eigene Krankheit passt. Ihm wird dadurch eine Identifikationsmöglichkeit eröffnet. – – In denselben Zusammenhang gehört darum auch die Reihenbildung: Die Intention der Katalogform besteht darin, den Eindruck von Fülle und Vollständigkeit zu vermitteln; sie dokumentiert, dass es überall in Grie42

S.o. S. 86f. HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 46. 44 J. ZINGERLE, Heilinschrift von Lebena, MDAI.A 21 (1896) 67–92, hier 78; vgl. auch HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 59: „Zweck und Tendenz der Sammlung ist nicht in erster Linie Propaganda und Reklame nach außen, sondern sie soll zunächst auf die wirken, denen sie zum Lesen vorgesetzt ist, d.h. auf die Pilger, die sich zur Heilung drängen“. 43

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chenland Menschen mit allen denkbaren Gebrechen gibt, die in Epidauros Heilung erfahren haben. 2. Lebena Asklepiostempel. – Gebäudemauer.45 Inscriptiones Creticae, ed. M. Guarducci, Rom, I/17 1935, Nr. 8–9; EDELSTEIN/EDELSTEIN, Asclepius (s.o. S. 87), Nr. 426 (mit englischer Übersetzung); z.T. auch bei HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 52–54 (mit deutscher Übersetzung). – 3. Jh. v. Chr. (?) Überschrift: ἐπὶ τᾶς Ἀρχήιας κο[ρμιόντων τῶν σὺν —] νακορίοντος ’Ισχωνίδα [τῷ — τῶν ἰαμάτων] ἀνεγράφη τῷ θιῷ ὁ κατά[λογος —]αιτε ἐς τᾶν σανίδων — Δήμανδρον Καλάβιος Γορτύνιον ἰσ[χια]λγικὸν γενόμενον προσέταξε ἀπο[μο]λὲν ἐς Λεβήναν ὅτι θεραπεύσειν· αἶ[ψα] δ’εὐθόντα ἔταμε καθ’ χὐγιὴς ἐ[γέ]νετο. Φαλάρει Εὐθυχίωνος Λεβη[να]ίωι οὐ γινομένω τέκνω ἰόντος ἐν π[εντήκ]οντα ἤδη έτεθι προσέταξε τὰν γυ[ναῖ]κα ἐφευδησίουσαν ἀποστῆλαι, καὶ [ἐπ]ευθαν ἐς τὸ ἄδυτον ἐπέθηκε τὰν σικ[ύαν ἐ]πὶ τὰν γαστέρα κἠκέλετο ἀπέρπεν [ἐν τά]χει κἠκύσατο. Κύννιον Σοάρχω Γορ[τύνι]ον τ[ῷ] κοίλῳ οι ἐσχέζοντος κατὰ τὰν ε[– –

Dem Demandros, Sohn des Kalabis, aus Gortyn, der an Ischias litt, gebot er, nach Lebena zu gehen, da er ihn heilen werde. Sobald er dort angekommen war, schnitt er ihn im Schlaf, und er wurde gesund. Dem Phalaris, Sohn des Euthychion, aus Lebena, der kein Kind bekam, als er schon in den Dreißigern war, gebot er, seine Frau zum Heilschlaf zu schicken, und als sie in den Heilraum kam, setzte er ihr den Schröpfkopf auf den Bauch und befahl ihr, schnell wegzugehen, und sie wurde schwanger. Den Kynnios, Sohn des Soarchus, aus Gortyn, der in seinem Unterleib ... hatte...46

Die Überschrift bezeichnet die Sammlung als κατάλογος von ἰάματα, der auf der Basis von σανίδες („Holzbrettern“) zusammengestellt worden sei. Gegenüber der Mitteilung von Pausanias 2,26,9, wonach der Asklepioskult in Lebena eine Filiale des Heiligtums im kyrenaikischen Balagrai gewesen sei, hat Josef Zingerle es wahrscheinlich machen können, dass sich eine eigenständige Asklepiosverehrung in Lebena im 5./4. Jh. v. Chr. unter direktem Einfluss von Epidauros herausgebildet hat.47 Wir dürfen also annehmen, dass die Sammlung von Lebena nicht ohne Orientierung an derjenigen von Epidauros zustandegekommen ist. Dem entspricht auch eine deutliche Übereinstimmung mit der Form der epidaurischen Heilungsbeichte, die trotz des geringen Umfangs der lebenischen Sammlung unübersehbar ist: 45 Vgl. HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 52: „Die Aufzeichnungen standen auf den Mauerquadern eines zerstörten Gebäudes (Tempel oder Heilraum?) in Kolumnen, die über die Fugen hinweggehen. Da nur einzelne Quader gefunden wurden, so sind die Texte ganz lückenhaft“. 46 Übersetzung nach HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 52. 47 Darauf deutet vor allem das Fragment einer Inschrift aus dem lebenischen AsklepiosHeiligtum hin (ὁ Ἀ[σκλα]πιὸς ἐξ Ἐπιδαύρο ἐς Λεβῆν[α ...]; Sammlung der griechischen Dialekt-Inschriften, hg. v. H. Collitz / F. Bechtel, Göttingen III/2 1905, 5086,6f); vgl. ZINGERLE, Heilinschrift (s. Anm. 44), 78ff.

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Wie in Epidauros haben wir auch in Lebena eine uneingebettete Reihenbildung der Einzelberichte, die durch ein Spatium jeweils voneinander auch optisch abgegrenzt werden. Hier wie dort finden wir die betonte Voranstellung des Namens des Geheilten (a) mit darauf folgender Benennung der Krankheit (b), worauf dann ebenfalls das Ergehen des Kranken geschildert (c) und der Heilerfolg festgestellt wird (d). Nicht zu übersehen sind aber auch die Differenzen: Der Heilungsuchende ist in allen Fällen nicht Handlungssubjekt, sondern -objekt; sein Name erscheint zu Beginn eines jeden Heilungsberichts dementsprechend auch stets in einem Objektskasus. Anders als in Epidauros tritt der Heilgott als aktiv Handelnder in der realen Erzählung auf, wobei die Differenz vor allem darin wahrnehmbar wird, dass die Schilderung der Heilung nicht als fiktive Erzählung in einen Inkubationsbericht eingebettet wird, sondern auf der Textebene der realen Erzählung angesiedelt ist. Hinzu kommt noch, dass die Heilungsberichte der lebenischen Sammlung jeweils eine Vorgeschichte zur eigentlichen Heilung erzählen, die nicht im Heiligtum lokalisiert ist: Der Heilgott fordert den Kranken auf (προσέταξε), sich an seine Kultstätte in Lebena zu wenden. Das Ineinander von Gemeinsamkeiten und Differenzen erlaubt eine formgeschichtliche Gesamtbewertung: Es ist offensichtlich, dass die Heilungsberichte von Lebena dieselbe Form realisieren, wie sie von Pausanias beschrieben wurde.48 Gleichwohl haben wir in beiden Sammlungen nicht lediglich unterschiedliche sprachliche Realisierungen dieser Form vor uns, sondern eigenständige Varianten der Form des Heilungsberichts. Das heißt: Die zugrundeliegende Gattungsstruktur (die „Form an sich“; die erzählerische Elementarsequenz) hat grundsätzlich virtuellen Charakter und gehört in den Bereich der sprachlichen Kompetenz49; zu Text werden kann sie nur in mehr oder weniger individuellen Varianten, die zwischen der Elementarsequenz und der sprachlichen Realisierung eines jeden Einzeltextes anzusiedeln sind. Anders gesagt: die Elementarsequenz ist der formgeschichtliche Genotyp, ihre Variante der Phänotyp. Als virtuelle Form ist die Elementarsequenz eines Heilungsberichts konstituiert durch das Zusammenwirken von semantischen und strukturellen Elementen. Die Semantik ist auf körperliche Befindlichkeit bezogen und an eine festgelegte Abfolge gebunden: Beginn mit der Vorstellung einer Person, deren Befindlichkeit mit Hilfe von Paradigmen aus dem semantischen Feld von Krankheit beschrieben wird; am Schluss Paradigmen aus dem semantischen Feld von Gesundheit, die mit der zuvor verwendeten Krankheitssemantik korres48

S.o. S. 88. Vgl. auch G. SELLIN, „Gattung“ und „Sitz im Leben“ auf dem Hintergrund der Problematik von Mündlichkeit und Schriftlichkeit synoptischer Erzählungen, EvTh 50 (1990) 311–331, hier 317. 49

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pondieren und es auf diese Weise möglich machen, die zu Beginn als krank eingeführte Person als geheilt zu erkennen. Dazwischen steht die Schilderung eines Vorgangs, der die Differenz zwischen der Anfangs- und der Schlussbefindlichkeit der Person bewirkt. Die Realisierung der Elementarsequenz korreliert dabei aufs engste mit der Intention des Textproduzenten. Wenn wir auf dieser Basis nach der Intention der Formvariante der lebenischen Sammlung fragen, so kann man sagen, dass hier im Vergleich zu Epidauros die Rolle des Heilgottes auf Kosten derjenigen des Geheilten erzählerisch aufgewertet wird. 3. Rom („Maffeische Inschriften“) Marmortafel, unmittelbar über der ersten Zeile abgebrochen („ut non pauca deesse videantur“; IG XIV,966). Am rechten Rand sind Fragmente einer zweiten Kolumne erhalten. SIG3 1173; IG XIV, 966; DELLING, Wundertexte (s. Anm. 28), Nr. 27; EDELSTEIN/EDELSTEIN, Asclepius (s.o. S. 87), Nr. 438 (mit englischer Übersetzung). – 2./3. Jh. n. Chr. (I) Αὐταῖς ταῖς ἡμέραις Γαΐῳ τινὶ τυφλῷ ἐχρημάτισεν ἐλθεῖν ἐπ[ὶ τὸ] ἱερὸν βῆμα καὶ προσκυνῆσαι, εἶ[τ]α ἀπὸ τοῦ δεξιοῦ ἐλθεῖν ἐπὶ τὸ ἀριστερὸν καὶ θεῖναι τοὺς πέντε δακτύλους ἐπάνω τοῦ βήματος καὶ ἆραι τὴν χεῖρα καὶ ἐπιθεῖναι ἐπὶ τοὺς ἰδίους ὀφθαλμούς. καὶ ὀρθὸν ἀνέβλεψε τοῦ δήμου παρεστῶτος καὶ συνχαιρομένου, ὅτι ζῶσαι ἀρεταὶ ἐγένοντο ἐπὶ τοῦ Σεβαστοῦ ἡμῶν Ἀντωνείνου. (II) Λουκίῳ πλευρειτικῷ καὶ ἀφηλπισμένῳ ὑπὸ παντὸς ἀνθρώπου ἐχρημάτισεν ὁ θεὸς ἐλθεῖν καὶ ἐκ τοῦ τριβώμου ἆραι τέφραν καὶ μετ’ οἴνου ἀναφυρᾶσαι καὶ ἐπιθεῖναι ἐπὶ τὸ πλευρόν· καὶ ἐσώθη καὶ δημοσίᾳ ηὐχαρίστησεν τῷ θεῷ καὶ ὁ δῆμος συνεχάρη αὐτῷ. (III) αἷμα ἀναφέροντι ’Ιουλιανῷ, ἀφηλπισμένῳ ὑπὸ παντὸς ἀνθρώπου ἐχρημάτισεν ὁ θεὸς ἐλθεῖν καὶ ἐκ τοῦ τριβώμου ἆραι κόκκους στροβίλου καὶ φαγεῖν μετὰ μέλιτος ἐπὶ τρεῖς ἡμέρας καὶ ἐσώθη καὶ ἐλθὼν δημοσίᾳ ηὐχαρίστησεν ἔμπροσθεν τοῦ δήμου. (IV) Οὐαλερίῳ Ἄπρῳ στρατιώτῃ τυφλῷ ἐχρησμάτισεν ὁ θεὸς ἐλθεῖν καὶ λαβεῖν αἷμα ἐξ ἀλεκτρυῶνος λευκοῦ μετὰ μέλιτος καὶ κολλύριο[ν] συντρῖψαι καὶ ἐπὶ τρεῖς ἡμέραις ἐπιχρεῖσαι ἐπὶ τοὺς ὀφθαλμούς. καὶ ἀνέβλεψεν καὶ ἐλήλυθεν καὶ ηὐχαρίστησεν δημοσίᾳ τῷ θεῷ.

In diesen Tagen tat er Gaius, einem Blinden, kund, zum heiligen Sockel zu kommen und sich niederzuwerfen, dann von rechts nach links zu gehen und die fünf Finger auf den Sockel zu legen und die Hand zu erheben und (sie) auf seine Augen zu legen. Und er konnte wieder richtig sehen, und die Menge stand dabei und freute sich mit, weil lebendige Wundertaten unter unserem Augustus Antoninus geschehen sind. Dem Lucius, der an Brustfellentzündung litt und von jedermann aufgegeben war, tat der Gott kund, zu kommen und vom dreieckigen Altar Asche zu nehmen und mit Wein zu mischen und auf seine Seite zu legen. Und er wurde geheilt und dankte dem Gott öffentlich, und die Menge freute sich mit ihm. Dem Blut spuckenden Julianus, der von jedermann aufgegeben war, tat der Gott kund, zu kommen und vom dreieckigen Altar Piniensamen zu nehmen und drei Tage lang mit Honig zu essen. Und er wurde geheilt und kam und dankte öffentlich vor der Menge. Dem Valerius Aper, einem blinden Soldaten, tat der Gott kund, zu kommen und Blut von einem weißen Hahn mit Honig nehmen und eine Salbe anzurühren und drei Tage lang auf die Augen zu streichen. Und er konnte wieder sehen und kam und dankte dem Gott öffentlich.

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Das römische Asklepiosheiligtum wurde 292/291 v. Chr. als Filiale von Epidauros auf einer Tiberinsel gegründet.50 Ihm sind die ungewöhnlich gut erhaltenen sog. „Maffeischen Inschriften“ zuzuordnen. Diese lassen dieselbe Erzählsequenz erkennen wie diejenigen aus Epidauros und Lebena, denn alle für die Form der dortigen ἰάματα spezifischen Elemente finden sich auch hier: – Reihenbildung mit Gliederung durch namentliche Nennung des Geheilten und Bestimmung seiner Krankheit zu Beginn51; – optische Hervorhebung dadurch, dass jeder Bericht mit einer neuen Zeile anfängt; – Beschreibung des Heilungsvorgangs und Feststellung der Heilung.

Wie in Lebena ist der Gott grammatisches Subjekt, während der Geheilte nur in einem Objektskasus Erwähnung findet (durchweg im Dativ). Im zweiten und dritten Heilungsbericht wird zusätzlich zur Vorstellung des Kranken die Aussichtslosigkeit der Heilung hervorgehoben (ἀφηλπισμένος ὑπὸ παντὸς ἀνθρώπου)52 – ein in antiken Wundererzählungen häufig begegnendes Motiv53. Gleichzeitig lassen aber die Differenzen erkennen, dass es sich auch bei den ἰάματα der Maffeischen Inschriften ebenfalls um eine selbständige Formvariante dieser Gattung handelt: Am auffälligsten ist sicher das Hinzutreten eines fünften Strukturelements, nämlich einer Mitteilung über die Reaktion auf die Heilung: Es wird abschließend festgehalten, dass der Geheilte dem Gott öffentlich seinen Dank ausgesprochen (II–IV) und die offenbar als anwesend gedachte Volksmenge sich mit ihm über seine Heilung gefreut hat (I–II). Der erste Bericht formuliert darüber hinaus eine Akklamation durch die Volksmenge. Es ist zu beobachten, dass diese Mitteilung von Heilungsbericht zu Heilungsbericht immer kürzer wird. Vor allem im Vergleich mit den Heilungsberichten von Epidauros, aber auch gegenüber denen von Lebena fällt die unterschiedliche Form der namentlichen Identifikation auf: Es fehlt bei der Vorstellung des Geheilten zunächst die für seine Identifikation unabdingbare und den Berichten von Epidauros allererst ihren dokumentarischen Charakter verleihende Angabe des Herkunftsortes; darüber hinaus lässt der erste Bericht der maffeischen Inschriften ein deutliches Desinteresse an der Person des Kranken erkennen, wenn er ihn als Γάϊός τις τυφλός kennzeichnet. Dem entspricht, dass

50 Vgl. W. A. JAYNE, The Healing Gods of Ancient Civilizations, New Haven 1925 = 1979, 464ff. 51 Zum Beginn der ersten Inschrift mit einer Zeitbestimmung s. gleich im folgenden. 52 Dieser Hinweis fehlt im ersten und im vierten Bericht, bei denen es sich jeweils um eine Blindenheilung handelt, „weil“ – so vermutet WEINREICH nicht ganz unplausibel – „bei Blinden sich das von selbst versteht“ (Heilungswunder [s. Anm. 2], 116). 53 Vgl. WEINREICH, ebd. 195ff; THEISSEN, Wundergeschichten (s. Anm. 3), 61f.

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im dritten Bericht nicht der Name, sondern die Krankheit an erster Stelle genannt wird. Bemerkenswert ist die Gestaltung des dritten Teils unserer Form, der Beschreibung des Heilungsvorgangs, wo der Unterschied zu den epidaurischen Heilungsberichten deutlich zu Tage tritt: Wie in Lebena wird der Inkubationsbericht seines fiktiven Charakters entkleidet und als Beschreibung von Asklepios’ Handeln auf die Ebene der realen Erzählung gehoben. Er wird mit der stereotypen Formulierung ἐχρημάτισεν (ὁ θεὸς) ἐλθεῖν54 eingeleitet, und in Form einer mantischen Heilanweisung wird berichtet, welches Heilmittel und welchen Heilritus der Gott dem Kranken mitgeteilt hat. Hieran schließt sich unmittelbar die Feststellung der Genesung an. Damit liegt eine „Sprungraffung“ vor, die anders als in der epidaurischen Sammlung bei vergleichbaren Heilungsberichten (vgl. W 6.7.15.35.37.53.57) die Ausführung der Anweisung erzählerisch ausspart55. Dass und wie der Kranke die Anweisung ausgeführt hat, ist natürlich implizit vorausgesetzt – nämlich genau so, wie der Heilgott es ihm vorgeschrieben hat. Das heißt: Vom Handeln des Kranken wird erzählt, indem vom Reden des Heilgottes erzählt wird. In den entsprechenden Heilungsberichten von Epidauros war das genau umgekehrt. Die wichtigste Differenz aber betrifft die Form des Makrotextes: Wenn der erste Heilungsbericht anders als die bisher untersuchten Texte mit den Worten αὐταῖς ταῖς ἡμέραις beginnt, so ist damit eindeutig eine Einbettung in einen übergreifenden Kontext signalisiert. Der durch eine solche Zeitbestimmung eingeleitete folgende Heilungsbericht erzählt nach dem Prinzip der „eklektischen“ Raffung, d.h. „nach dem Grundsatz des ‚pars pro toto‘“56 ein für diese Zeit charakteristisches Geschehen. Die von den anderen Sammlungen abweichende Akzentuierung findet vor allem darin ihren Ausdruck, dass im ersten Heilungsbericht zum Namen des Kranken ein indefinites Pronomen hinzutritt (τις)57, während die zeitliche Zuordnung mit einem demonstrativ gebrauchten αὐτός hervorgehoben wird58. Obwohl 54 Hierbei handelt es sich nicht erst um die Einbestellung des Kranken ins AsklepiosHeiligtum (so WEINREICH, Heilungswunder [s. Anm. 2], 112), sondern um die im Inkubationstraum empfangene Heilungsanweisung. 55 Vgl. LÄMMERT, Bauformen (s. Anm. 39), 83f. 56 Vgl. hierzu erneut LÄMMERT, ebd. 84; die Technik der eklektischen Raffung versteht er als Kombination der sukzessiven („Grundformel ...: ‚Dann ... und dann ...‘“; ebd. 83) mit der iterativ-durativen Raffung („Grundformeln ...: ‚Immer wieder in dieser Zeit ...‘ oder ‚Die ganze Zeit hindurch ...‘“; ebd. 84). Als Beispiele für die „Grundformeln“ der eklektischen Raffung nennt LÄMMERT: „‚So geschah es zum Beispiel‘ ... oder ‚In dieser Zeit geschah es einmal‘“ (ebd.). 57 Vgl. demgegenüber z.B. Epidauros W 1.4.6. 58 Dieses Pronomen nimmt hier die Bedeutung von οὗτος oder ἐκεῖνος an und lässt sich mit ‚der vorhererwähnte‘ wiedergeben (F. BLASS / A. DEBRUNNER, Grammatik des neu-

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der voraufgehende Text, auf den sich die einleitende Zeitbestimmung bezieht, nicht erhalten ist, lässt sich sehr genau angeben, welcher Zeitraum mit Hilfe des Heilungsberichts charakterisiert werden soll: die Regierungszeit des Caesars Antoninus59. Diese eindeutige Zuweisung ist möglich, weil auch am Ende des ersten Heilungsberichts eine zeitliche Einordnung vorgenommen wird (mit der Formulierung ἐπὶ τοῦ Σεβαστοῦ ἡμῶν Ἀντωνείνου) und diese mit der Zeitangabe zu Beginn eine Inklusion bildet. Obgleich nur der erste Heilungsbericht eine explizite zeitliche Einordnung erfährt, finden wir in ihr den hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der gesamten Sammlung. Die abschließende Zeitbestimmung ist Bestandteil der Akklamation zur geschehenen Blindenheilung durch die anwesende Volksmenge. Auf Grund der Korrespondenz der Zeitangaben dürfen wir in ihr gleichzeitig den Kommentar des Autors der Inschriften sehen (vgl. auch das auf den Autor und virtuell auch auf den Leser hin transparente ἡμῶν). Hierbei ist nun aber von entscheidender Bedeutung, dass nicht nur die eine Heilung Grund und Gegenstand der Akklamation ist, sondern eine Vielzahl. Diese Spannung zwischen der einen Heilung und dem Plural in der Akklamation ist dahingehend zu interpretieren, dass hier ein singulärer Vorgang typisiert und gleichsam vom Einzelfall zum Regelfall ausgeweitet wird. Dass dies zu Recht geschieht, zeigen die nachfolgenden Heilungsberichte, die durch die dem ersten beigegebene Akklamation schon vorab kommentiert sind. Und wenn dieser Kommentar die Heilungen als ἀρεταί bezeichnet, liefert er uns auch den Namen für die Gattung, der die Sammlung zuzuordnen ist: Es handelt sich um eine klassische Aretalogie, deren Intention ursprünglich darin bestand, Erweise göttlicher Macht aufzuzählen.60 Mit Hilfe der den ersten Bericht einrahmenden Zeitangaben werden die ἀρεταί des Asklepios zur religiösen Legitimation der Herrschaft des Antoninus: Es ist seine Regierungszeit, die sich dadurch ausgezeichnet hat, dass in ihr Asklepios eine solch heilvolle Wirksamkeit entfaltet. Für die Form der römischen Heilungsberichte charakteristisch ist die Erweiterung der ἰάματα-Form durch einen Akklamations- (I–II) und durch einen Dankbericht (II–IV). Während man die ausgeführte Akklamation des ersten Berichts noch als unmittelbare Reaktion der beim Heilungsvorgang anwesenden Volksmenge verstehen konnte, wird die angedeutete Akklamation im zweiten Bericht als Reaktion auf den öffentlichen Dank des Geheilten vor der versammelten Kultgemeinde dargestellt. Dass auch beim dritten und vierten Bericht an den Dank des Geheilten vor der versammelten Kulttestamentlichen Griechisch, bearb. v. F. REHKOPF, Göttingen 141975, § 2883, wo auch diese Stelle genannt wird). 59 Eine zweifelsfreie Identifikation dieses Kaisers ist nicht möglich; wahrscheinlich ist aber doch Antoninus Pius (138–161) gemeint. 60 Vgl. dazu BERGER, Gattungen (s. Anm. 22), 1220ff.

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gemeinde gedacht ist, signalisiert nicht nur das Adverb δημοσίᾳ, sondern auch die zeitliche und räumliche Distanz schaffende Mitteilung seines Kommens (ἐλθών/ἐλήλυθεν). Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass Dank und Akklamation einen Vorgang beschreiben, der sich nicht unmittelbar an die Heilung anschloss, sondern in raum-zeitlichem Abstand von ihr seinen Ort hatte.61 Die Akklamation erfolgt damit nicht als unmittelbare Reaktion auf das Heilungsgeschehen, sondern ergeht auf Grund des Heilungsberichts in der öffentlichen Danksagung.62 Erzählerisch macht darum jeder Teiltext zwischen der Feststellung der Heilung und dem Dank- bzw. Akklamationsbericht einen Sprung in der erzählten Zeit und nimmt auch einen Schauplatzwechsel vor. Für die formgeschichtliche Beurteilung der Texte bedeutet dies, dass wir das letztgenannte Formelement nicht als Bestandteil des Heilungsberichts anzusehen haben, denn der findet seinen formgemäßen Abschluss nach wie vor in der Feststellung der Heilung; es gehört vielmehr zu dem oben beschriebenen Rahmen, in den die einzelnen ἰάματα eingebettet sind. – Aufs Ganze gesehen ist aber deutlich: Anders als in Epidauros und – soweit erkennbar – anders auch als in Lebena weisen die römischen Heilungsberichte über sich hinaus. Sie dienen nicht lediglich dazu, eine Wirklichkeit (das Geschehen von Heilungen) abzubilden, sondern ihnen kommt darüber hinaus die Funktion zu, eine andere Wirklichkeit (die Regierung des Caesars Antoninus) als Heilszeit zu qualifizieren. Auf Grund ihres eklektischen Erzählcharakters werden sie damit zu Beispielerzählungen. 4. Literarische Belege für die Form der ἰάματα (mit Zusammenfassung) Dass den Heilungsberichten der drei Sammlungen eine gemeinsame und erstaunlich stabile Form zugrundeliegt, dürfte mit hinreichender Deutlichkeit sichtbar geworden sein. Sie bleibt auch in literarischer Einkleidung noch erhalten, wie die Gründungslegende des Asklepieions von Pergamon bei Pausanias unschwer erkennen lässt (2,26,9): Ἀρχίας ὁ Ἀρισταίχμου τὸ συμβὰν σπάσμα θηρεύοντί οἱ περὶ τὸν Πίνδασον ἰαθεὶς ἐν τῷ ’Eπιδαυρίῷ τὸν θεὸν ἐπηγάγετο ἐς Πέργαμον.

Archias, Sohn des Aristaichmos, von einem Krampf befallen bei der Jagd um den Pindasos (und) geheilt in Epidauros, führte den Gott in Pergamon ein.

Von den formspezifischen Elementen der epidaurischen Heilungsberichte finden sich hier: Voranstellung des Namens im Nominativ (a), Benennung 61

Vgl. auch THEISSEN, Wundergeschichten (s. Anm. 3), 158 mit Hinweis auf P.Oxy XI, 1382, wo die Aufforderung zur Akklamation nicht Bestandteil des voraufgehenden Rettungsberichts ist, sondern an die einbettende Quellenangabe („verzeichnet ist diese ἀρετή in der Merkur-Bibliothek“) angeschlossen wird und damit auf einer ganz anderen Textebene steht. Es handelt sich um eine Aufforderung des Schreibers an die Leser. 62 S. auch THEISSEN, ebd. 159 sowie u. S. 113f.

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der Krankheit (b) und Feststellung der Heilung (d). Es fehlt die Schilderung des Heilungsvorgangs (c), und bezeichnend ist darüber hinaus eine weitere Akzentverschiebung: Die Feststellung der Gesundung (d) ist nicht Bestandteil der Erzählung, sondern dient als partizipiale Bestimmung parallel zur Angabe der Krankheit der Identifikation des Handlungsträgers; sie wird also in Element (b) integriert. Erzählt wird nicht die Heilung, sondern die Gründung des Asklepios-Kultes in Pergamon. Die für den Heilungsbericht charakteristische Form wird hier also auf ihre Rudimente zurückgeführt, um sie in eine andere Form integrieren und deren Intention dienstbar machen zu können. Es handelt sich freilich durchweg um Texte, die ausschließlich an Asklepios-Heiligtümern inschriftlich fixiert wurden, und da liegt die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine spezifisch asklepische Sprachtradition handelt. Die Frage ist also, ob es außerhalb der besprochenen Inschriften, vor allen Dingen aber außerhalb der Asklepiostradition Texte mit der Form gibt, wie sie für die untersuchten Heilungsberichte charakteristisch ist. Inschriftliches Material ist mir nicht bekannt geworden. Nun weist aber Otto Weinreich auf einige Heilungsberichte hin, die in Aelians Tiergeschichten wiedergegeben sind63. Die Heilungen werden Sarapis zugeschrieben, und in der Form der Berichte kann man tatsächlich – das stellt auch Weinreich fest – unübersehbare Übereinstimmungen mit der Form der asklepischen ἰάματα erkennen: Aelian, Nat. Anim. 11,35: Χρύσερμον δὲ ἐπὶ Νέρωνος αἷμα ἀνεμοῦντα καὶ τηκόμενον ἤδη, αἷμα ταύρου πιόντα ἰάσατο ὁ αὐτὸς οὗτος θεός. ... ἀτὰρ οὖν καὶ Βάσιλιν τὸν Κρῆτα ἐς νόσον φθίσεως ἐμπεσόντα ἐξάντη τοῦ τοσούτου κακοῦ ὅδε ὁ θεὸς εἰργάσατο ὀνείων κρεῶν γευσάμενον.

Den Chrysermos, zur Zeit Neros, der Blut spuckte und schon dahingesiecht war und Ochsenblut trank, heilte derselbe Gott. ... Auch den Kreter Balilis, der von Schwindsucht befallen war, entriss der Gott aus diesem großen Übel, indem er ihn Eselsfleisch essen ließ.

Wie in den asklepischen ἰάματα finden wir auch hier die betonte Voranstellung des Namens des Kranken (wie in Lebena und Rom im Objektskasus), die darauf folgende Beschreibung seiner Krankheit, die Angabe des Heilmittels und die Mitteilung des Faktums der Heilung. Dass im zweiten Text die Angabe des Heilmittels anders als in den asklepischen ἰάματα am Schluss steht und damit hervorgehoben wird, hat seinen Grund in dem zwischen den beiden Berichten formulierten Darstellungsziel Aelians: „Ich erzähle diese Dinge, weil die Tiere den Göttern so lieb sind, dass sie von diesen gerettet werden und nach ihrem Willen auch andere retten.“ Sie sind Beispielerzählungen für die πρόνοια der Götter gegenüber den Tieren (vgl. Nat. Anim. 11,31). Weinreich hält es zu Recht für „nicht zweifelhaft, dass 63

WEINREICH, Heilungswunder (s. Anm. 2), 122f.

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wir hier in die Literatur umgesetzte ἰάματα aus Serapistempeln vor Augen haben“64. Als Quelle dürfen wir mit Weinreich65 die oben erwähnten „heiligen Bücher“ vermuten, die in den Tempelbibliotheken aufbewahrt wurden und die ἀρεταί bzw. ἐπιφάνειαι des Sarapis verzeichneten.66 Damit haben wir uns nun aber schon in den Bereich der diachronen Fragestellung begeben, denn die Quellenfrage stellt sich analog natürlich auch für die zu Beginn dieses Abschnitts besprochenen Sammlungen.

III. Diachronische Analyse der Sammlungen 1. Rudolf Herzog hat die ἰάματα der von ihm in erster Linie untersuchten epidaurischen Sammlung zum überwiegenden Teil auf sog. πίνακες zurückgeführt. Gemeint seien damit hölzerne Votivtafeln, auf denen die Geheilten die Geschichte ihrer Heilung festgehalten und sie dann aus Dankbarkeit gegenüber dem Gott im Asklepieion aufgestellt hätten.67 Daneben rechnet er mit der Übernahme von „novellistischen Wundergeschichten“, die von den „Scharen der Pilger“ stammten, „die sich die Wartezeit mit ihnen vertrieben und sich durch ihre Erzählung gegenseitig die Hoffnung stärkten“.68 Martin Dibelius war ihm hierin bis in die Formulierung hinein gefolgt. Während wir für letzteres höchstens indirekte Zeugnisse haben69, findet die quellenkritische Rückführung der Sammlungen auf hölzerne Votivtafeln ihre unmittelbare Bestätigung in der Einleitung zum lebenischen Katalog, wo ausdrücklich mitgeteilt wird, dass er ἐς τ[ῶ]ν σανίδων zusammengestellt wurde.70 Eine Bestätigung für diese Annahme finden wir bei Strabo, der von den Asklepios-Heiligtümern in Epidauros, Kos und Trikka schreibt, dass er sie voll gefunden habe von Kranken und von ἀνακειμένων πινάκων, ἐν οἷς ἀναγεγραμμέναι τυγχάνουσιν αἱ θεραπεῖαι (Geogr. 8,6,15). 2. Nun ist der Beschreibstoff dieser Tafeln aber vergänglich, und darum ist kein einziges Exemplar dieser Texte erhalten, so dass die Zusammenstellung der auf ihnen befindlichen Heilungsgeschichten auf Stelen und Mauern sich zunächst dem Interesse verdanken dürfte, die Inhalte der Tafeln dauerhaft zu konservieren.71 – Erhalten sind aber vergleichbare Texte: kleinere Stelen 64

WEINREICH, ebd. 123. WEINREICH, ebd. 66 S.o. bei Anm. 25 u. 26. 67 HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 55f. 68 HERZOG, ebd. 57. 69 Vgl. z.B. die Anm. 25 zitierte Mitteilung bei Aelius Aristides, Or. 45,30. 70 Vgl. dazu A. WILHELM, Beiträge zur griechischen Inschriftenkunde, Wien 1909, 240ff. 71 Vgl. die entsprechende Begründung in der Einleitung zur lindischen Tempelchronik (s.o. Anm. 27). Ebenso wird auch in SIG3 694,35 von einer Übertragung von Inschriften auf 65

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und Marmortafeln, die von offenbar begüterten Geheilten an den Kultstätten der Heilgötter aufgestellt wurden und die Schilderung ihrer jeweiligen Heilung enthalten. Wir dürfen in ihnen steinerne Äquivalente zu den πίνακες sehen und darum durchaus für unsere Frage nach den Quellen der Sammlungen auswerten. Dies gilt vor allem auch darum, weil zu einem Bericht der epidaurischen Sammlung auch die „Vorlage“, d.h. die dazugehörige Einzelinschrift des Geheilten erhalten ist (Nr. [1]). – Da die Inschriften sehr verstreut publiziert sind, werden sie hier zusammengestellt und übersetzt: Epidauros: (1) IG IV2/1, Nr. 125. – 3. Jh. v. Chr. ‘Ερμόδικ[ος Λαμψακ]ηνός σῆς ἀρετῆς [παράδειγμ’], Ἀσκληπιέ, τόνδε ἀνέ[θηκα π]έτρον ἀειράμενος, πᾶσι[ν ὁρᾶν] φανερόν, ὄψιν σῆς τέχνης· πρὶν γὰρ σὰς εἰς χέρας ἐλθεῖν σῶν τε τέκνων κεῖμαι νούσου ὕπο στυγερᾶς ἔνπυος ὢν στῆθος χειρῶν τε ἀκρατής· σὺ δέ, Παιάν, πεῖσάς με ἄρασθαι τόνδε, ἄνοσον διάγειν.

Hermodikos von Lampsakos Als Beleg für deine wunderbare Tat, Asklepios, habe ich diesen Felsen aufgestellt, den ich hochgehoben habe, für aller Augen deutlich sichtbar, eine Manifestation deiner Kunstfertigkeit. Denn bevor ich in deine und deiner Kinder Hände kam, war ich von einer grässlichen Krankheit befallen, ein Geschwür in der Brust und die Hände gelähmt. Du aber, Päan, hast mich veranlasst, diesen (Felsen) hier hochzuheben, um gesund weiterzuleben.

(2) IG IV2/1, Nr. 126 = SIG3 1170. – ca. 160 n. Chr. ’Επὶ ἱερέως Πο. Αἰλ. Ἀντιόχου Μ. ’Ιούλιος Ἀπελλᾶς ’Ιδριεὺς Μυλασεὺς μετεπέμφθην ὑπὸ τοῦ θεοῦ, πολλάκις εἰς νόσους ἐνπίπτων καὶ ἀπεψίαις χρώμενος. κατὰ δὴ τὸν πλοῦν ἐν Αἰγείνῃ ἐκέλευσέν με μὴ πολλὰ ὀργίζεσθαι. ἐπεὶ δὲ ἐγενόμην ἐν τῷ ἱερῷ, ἐκέλευσέν ἐπὶ δύο ἡμέρας συνκαλύψασθαι τὴν κεφαλήν, ἐν αἷς ὄμβροι ἐγένοντο, τυρὸν καὶ ἄρτον προλαβεῖν, σέλεινα μετὰ θρίδακος, αὐτὸν δι’ αὑτοῦ λοῦσθαι, δρόμῳ γυμνάζεσθαι, κιτρίου προλαμβάνειν τὰ ἄκρα, εἰς ὕδωρ ἀποβρέξαι, πρὸς ταῖς ἀκοαῖς ἐν βαλανείῳ προστρίβεσθαι τῷ τοίχωι, περιπάτῳ χρῆσθαι ὑπερῴῳ, αἰώραις, ἁφῇ πηλώσασθαι, ἀνυπόδητον περιπατεῖν, πρὶν ἐνβῆναι ἐν τῶι βαλανείῳ εἰς τὸ θερμὸν ὕδωρ, οἶνον περιχέασθαι, μόνον λούσασθαι καὶ Ἀττικὴν δοῦναι τῶι βαλανεῖ, κοινῇ θῦσαι Ἀσκληπιῷ Ἠπιόνῃ

Unter dem Priester P. Ael. Antiochus Ich, M. Julius Apellas, Idrieer aus Mylasa, wurde von dem Gott hergerufen, da ich oft in Krankheiten fiel und an Verdauungsstörungen litt. Auf der Herfahrt also in Aegina befahl er mir, mich nicht viel zu ärgern. Als ich im Heiligtum angekommen war, befahl er mir, zwei Tage lang das Haupt zu verhüllen, an denen Regengüsse kamen; Käse und Brot zu mir zu nehmen; Sellerie mit Lattich; allein ohne Hilfe zu baden; Laufsport zu treiben; Zitronenschalen zu mir zu nehmen, in Wasser eingeweicht; bei den Akoai im Bad mich an der Wand zu reiben; Spaziergänge auf der Hochbahn zu machen; zu schaukeln; mich mit Staub zu beschmieren; barfuß herumzulaufen, im Bad vor dem Einsteigen in das warme Wasser mich mit Wein zu über-

Marmorstelen gesprochen, ὅταν οἱ πίνακες συντελεσθῶσιν („wenn die Holztafeln verwittert sind“).

4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen ’Ελευσεινίαις, γάλα μετὰ μέλιτος προλαβεῖν· μιᾷ δὲ ἡμέρᾳ πιόντός μου γάλα μόνον, εἶπεν· μέλι ἔμβαλλε εἰς τὸ γάλα, ἵνα δύνηται διακόπτειν. ἐπεὶ δὲ ἐδεήθην τοῦ θεοῦ θᾶττόν με ἀπολῦσαι, ᾤμην (ν)άπυϊ καὶ ἁλσὶν κεχρειμένος ὅλος ἐξιέναι κατὰ τὰς ἀκοὰς ἐκ τοῦ ἀβάτου, παιδάριον δὲ ἡγεῖσθαι θυμιατήριον ἔχον ἀτμίζον καὶ τὸν ἱερέα λέγειν· τεθεράπευσαι, χρὴ δὲ ἀποδιδόναι τὰ ἴατρα.

καὶ ἐποίησα, ἃ εἶδον, καὶ (κε)χρείμενος μὲν τοῖς ἁλσὶ καὶ τῶι νάπυϊ ὑγρῶι ἤλγησα, λούμενος δὲ οὐκ ἤλγησα. ταῦτα ἐν ἐννέα ἡμέραις ἀφ’ οὗ ἦλθον. ἥψατο δέ μου καὶ τῆς δεξιᾶς χιρὸς καὶ τοῦ μαστοῦ, τῇ δὲ ἑξῆς ἡμέρᾳ ἐπιθύοντός μου φλὸξ ἀναδραμοῦσα ἐπέφλευσε τὴν χεῖρα, ὡς καὶ φλυκταίνας ἐξανθῆσαι· μετ’ ὀλίγον δὲ ὑγιὴς ἡ χεὶρ ἐγένετο. ἐπιμείναντί μοι ἄνηθον μετ’ ἐλαίου χρήσασθαι πρὸς τὴν κεφαλαλγίαν εἶπεν· οὐ μὴν ἤλγουν τὴν κεφαλήν. συνέβη οὖν φιλολογήσαντί μοι συμπληρωθῆναι· χρησάμενος τῷ ἐλαίῳ ἀπηλάγην τῆς κεφαλαλγίας. ἀναγαργαρίζεσθαι ψυχρῷ πρὸς τὴν σταφυλὴν – καὶ γὰρ περὶ τούτου παρεκάλεσα τὸν θεὸν – τὸ αὐτὸ καὶ πρὸς παρίσθμια. ἐκέλευσεν δὲ καὶ ἀναγράψαι ταῦτα. χάριν εἰδὼς καὶ ὑγιὴς γενόμενος ἀπηλλάγην.

(3) IG IV2/1, Nr. 127. – 224 n. Chr. Τιβ. Κλ. Σευῆρος Σινωπεὺς Ἀπόλλωνι Μαλεάτᾳ καὶ Σωτῆρι Ἀσκληπιῷ κατ’ ὄναρ, ὃν ὁ θεὸς εἰάσατο ἐν τῷ ἐνκοιμητηρίῳ, χοιράδας ἔχοντα ἐπ[ὶ] τοῦ τραχή[λου] καὶ καρκίνον [τ]ο[ῦ ὠ]τός, ἐπιστὰς ἐ[ν]αργῶς, οἷος ἐστ[ίν ...

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gießen; allein zu baden und dem Bademeister eine attische Drachme zu geben, gemeinsam Asklepios, der Epione und den eleusinischen Göttinnen zu opfern, Milch mit Honig zu mir zu nehmen. Als ich eines Tages nur Milch getrunken hatte, sagte er: „Gib Honig in die Milch, damit es durchschlagen kann.“ Als ich den Gott bat, mich schneller zu erlösen, träumte ich, ich hätte mich ganz mit Senf und Salz beschmiert und gehe in der Gegend der Akoai aus dem Heilraum heraus, da führte mich ein Knabe mit einem duftenden Weihrauchgefäß und der Priester sagte: „Du bist geheilt, und es ist nötig, den Heildank zu zahlen.“ Da tat ich, was ich geträumt hatte, und als ich mich mit dem Salz und dem feuchten Senf eingeschmiert hatte, bekam ich Schmerzen, als ich aber badete, tat es nicht mehr weh. Das geschah in neun Tagen seit meiner Ankunft. Er berührte mich auch an der rechten Hand und an der Brustwarze. Als ich am folgenden Tag Weihrauch opferte, schoss eine Flamme auf und sengte meine Hand an, so dass auch Blasen aufgingen. Aber nach kurzer Zeit wurde die Hand gesund. Da ich noch länger blieb, sagte er mir, ich solle Dill mit Öl gegen mein Kopfweh gebrauchen. Ich hatte aber gar kein Kopfweh. Nun passierte es mir, dass ich vom Studieren Kongestionen bekam. Ich benutzte das Öl und wurde das Kopfweh los. Mit kaltem Wasser gurgeln gegen das geschwollene Zäpfchen – denn auch darum hatte ich mich an den Gott gewandt –; dasselbe gegen geschwollene Mandeln. Er befahl mir auch, das aufzuschreiben. Mit dankbarem Herzen und gesund geworden verabschiedete ich mich. Tib. Cl. Severus aus Sinope für Apollon Maleatas und den Retter Asklepios auf einen Traum hin, den der Gott im Schlafraum heilte, als er geschwollene Halsdrüsen hatte und eine Krebsgeschwulst am Ohr, indem er leibhaftig (vor ihn) hintrat, wie er ist ...

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(4) IG IV2/1, Nr. 440.72 Cutius has auris Gallus tibi voverat olim, Der Gallier Cutius gelobt’ einst diese Ohren Phoebigena, et posuit sanus ab auriculis. dir, Phoebusspross, und weiht sie jetzt, geheilt an ihnen. (5) Anthologia Graeca 6,330:73 Θνητῶν μὲν τέχναις ἀπορούμενος, εἰς δὲ τὸ θεῖον ἐλπίδα πᾶσαν ἔχων, προλιπὼν εὔπαιδας Ἀθήνας, ἰάθην ἐλθών, Ἀσκληπιέ, πρὸς τὸ σὸν ἄλσος, ἕλκος ἔχων κεφαλῆς ἐνιαύσιον, ἐν τρισὶ μησίν.

Verzweifelt an den Künsten der Sterblichen, voll Vertrauen aber in die Gottheit, verließ ich das mit Kindern gesegnete Athen und wurde geheilt, Asklepios, als ich in deinen heiligen Hain kam mit einer eiternden Wunde, die ich ein volles Jahr lang hatte, in drei Monaten.

Lebena: (6) Inscriptiones Creticae I/17, Nr. 17; SIG3 1171. – 1. Jh. v. Chr. Ἀσκληπιῶ[ι] Πόπλιος Γράνιος [‘Ροῦφος] κατ’ ἐπιταγήν ἐκ διετίας βήσσοντά με ἀδ[ιαλεί]πτως, ὥστε σάρκας ἐνπύου[ς καὶ] ᾑμαγμένας δι’ ὅλης ἡμέρας ἀ[πο]βάλλειν, ὁ θεὸς ἐπεδέξατο θερ[α]πεῦσαι. ἔδωκεν εὔζωμον νήστη τρώγειν, εἶτα πεπερᾶτον ’Ιταλικὸν πείνειν, πάλιν ἄμυλον διὰ θερμοῦ ὕδατος, εἶτα κονίαν ἀπὸ τῆς ἱερᾶς σποδοῦ καὶ τοῦ ἱεροῦ ὕδατος, εἶτα ᾠὸν καὶ ῥητείνην, πάλιν πίσσαν ὑγράν, εἶτα εἴρην μετὰ μέλιτος, εἶτα μῆλον Κυδώ[νιον κ]αὶ πεπ[λ]ίδα συνεψή[σαντα τὸ μὲν χύμα πεί]νειν τὸ δὲ μῆλον [τρώγειν, εἶτα τρώγει]ν σῦκα μετὰ σπο[δοῦ ἱερᾶς τῆς ἐκ τοῦ] βωμοῦ ὅπου θύ[ουσι τῷ θεῷ].

Für Asklepios. Poplius Granius Rufus auf Befehl Nachdem ich zwei Jahre lang ununterbrochen so gehustet hatte, dass ich den ganzen Tag eitrige und blutige Partikel auswarf, unternahm es der Gott (mich) zu heilen. Er gab (mir) Rauke, um (sie) nüchtern zu essen, dann gepfefferten italienischen Wein zum Trinken, dann wieder Stärkemehl mit heißem Wasser, dann Opferasche und heiliges Wasser, dann ein Ei und Pinienharz, dann wieder feuchtes Pech, dann Iris mit Honig, dann eine Quitte aus Kydonia mit Portulak zusammengerührt – den Saft zum Trinken, die Quitte zum Essen –, dann eine Feige, zu essen mit heiliger Asche vom Altar, wo man dem Gott opfert. .

(7) Inscriptiones Creticae I/17, Nr. 18. – 1. Jh. v. Chr. Ἀσκληπιῶι Πόπλιος Γράνιος Ῥοῦφο[ς κα]τ’ ἐπιτα[γήν τ[οῦ δεξ]ιοῦ ὤμου χ[.....]κους κα[ὶ...]ντος καὶ σύμ[παντο]ς ἀπὸ σ[.....]ο . ου ἀφορήτου[ς

Für Asklepios. Poplius Granius Rufus auf Befehl Als die rechte Schulter ... und ... und alles ... unerträgliche Schmerzen bereiteten, befahl

72 Hierzu HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 43: „Tabula ansata von Marmor, oben zwei Ohren in Relief, darunter die Inschrift. Reste von Vergoldung, das Relief ist so metallscharf geschnitten, dass wohl Gold als Material vorgetäuscht werden sollte“. Von HERZOG stammt auch die Übersetzung. 73 Dieser Text ist nicht inschriftlich erhalten. R. HERZOG hält ihn für „ein vom Stein in die Sammlung gekommenes Epigramm“ (Wunderheilungen [s. Anm. 6], 39) und ordnet es Epidauros zu (ebd. 40).

4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen δόντος] ἀ[λ]γηδόνας ὁ [θε]ὸς ἐκέλευσέν με π[ροσ]καρτερεῖν κ[αὶ ἔδ]ωκεν θεραπείαν· ἄλευρον κρ[ίθινο]ν μετὰ παλαιοῦ οἴ[νου] καταπλάσα[ντα κα]ὶ στρόβειλον λε[οτρι]βήσαντα μ[ετ’ ἐλαίο]υ ἐπιθεῖναι, ὁμ[οῦ δὲ] σῦκον καὶ σ[τέαρ τρά?]γειον, εἶτα θήν[ιον], πέπερι, κηρό[πισσον?] καὶ ἔλαιον ...

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mir der Gott, standhaft zu sein, und gab (mir) als Behandlung: als Verband Gerstenmehl mit altem Wein und einen in Olivenöl zerriebenen Pinienzapfen aufzulegen, gleichzeitig aber eine Feige und Ziegenbock(?)fett, dann Milch mit Pfeffer, Wachspech(?) und Olivenöl ...

(8) Inscriptiones Creticae I/17, Nr. 19 = SIG3 1172. – 2./1. Jh. v. Chr.74 … εὐ[χ]αριστεῖ Ἀσκληπιὸ[ν Σωτῆρα λαβοῦσα] ἐπὶ τοῦ μεικροῦ δακτύλο[υ ἕλκωσίν τινα ἀ]γρίαν καὶ θεραπευθεῖσ[α, τοῦ θεοῦ ἐπιτά]ξαντος ἐπιθεῖναι ὀστ[ρέου τὸ ὄστρακον] κατακαύσασαν καὶ λεο[τριβήσασαν μετὰ] ῥοδίνου καὶ μολόχῃ μ[ετ’ ἐλαίου χρίσασ]θαι· καὶ οὕτως ἐθεράπ[ευσεν. ἰδοῦσαν] δέ με πλείονας ἀρετὰ[ς τοῦ θεοῦ καθ’ ὕπν]ον [ἀν]αγράφειν ὁ θεὸ[ς ἐκέλευσε τὰς ὄψ]εις.

... dankt dem Retter Asklepios; sie hatte an ihrem kleinen Finger ein bösartiges Geschwür und wurde geheilt, als der Gott (ihr) befahl, die verbrannte und mit Rosensalbe zerriebene Schale einer Auster aufzulegen und (sc. den Finger) mit Malve mit Olivenöl zu bestreichen. Und so heilte er. Nachdem ich aber noch mehr Wundertaten des Gottes gesehen hatte, befahl der Gott im Schlaf, die Visionen aufzuschreiben. ...

(9) Inscriptiones Creticae I/17, Nr. 24. – 3. Jh. n. Chr. Δοιούς σοι Διόδωρος ἐθήκατο, Σῶτερ, Ὀνεί- Zwei [sc. Tafeln oder Stelen] hat Diodorus ρους ἀντὶ διπλῶν ὄσσων φωτὸς ἐπαυρά- dir aufgestellt, Retter, Gott der Träume, für μενος. die beiden Augen, denn er ist in den Genuss des Lichtes gekommen. Theben (Deir el-Bahari): (10) A. Bataille, Les inscriptions grecques du temple de Hatshepsout á Deir el-Bahari, Kairo 1951, Nr. 48–49. – Ptolemäische Zeit.75 Ἀνδρόμαχος Μακεδὼν ἀφίκετο πρὸς Ἀμενώθην χρηστὸν θεὸν μισθοῦ ἐργαζόμενος καὶ ἐμαλακίσθη καὶ ὁ θεὸς αὐτῶι ἐβοήθησε αὐθημερί. ἔρρωσο. Ἀνδρόμαχος

Andromachos der Makedonier kam zu Amenothes, dem gütigen Gott. Er ist Lohnarbeiter und wurde krank, und der Gott half ihm am selben Tag. Gehab dich wohl! Andromachos

Eine formgeschichtliche Analyse dieser Inschriften lässt sofort erkennen, dass sie ihre strukturelle Gemeinsamkeit sowohl untereinander als auch im 74

ZINGERLE, Heilinschrift (s. Anm. 44), 76f hat gezeigt, dass auch diese Inschrift einer Sammlung entstammt: Auf die Anweisung des Gottes, seine ἀρεταί aufzuzeichnen, folgt – das lässt die Fortsetzung trotz ihres fragmentarischen Charakters deutlich erkennen – die Beschreibung eines neuen Krankheitsfalles und seiner Heilung. – Auf Grund ihres individuellen Charakters (die Geheilte tritt als Autorin der Inschrift auf und dankt dem Gott) behandle ich sie an dieser Stelle. 75 Die Inschrift ist dem ägyptischen Gott Imhotep (Imuthes) gewidmet, der später mit Asklepios identifiziert wurde (vgl. JAYNE, Gods [s. Anm. 50], 62ff).

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Verhältnis zu den Heilungsberichten der Sammlungen in der pointierten Voranstellung des Namens des Geheilten und Stifters der Inschrift finden. Wir haben hier ohne Zweifel ein formspezifisches Element mit diachroner, d.h. überlieferungsgeschichtlicher Konstanz vor uns, auch wenn sich seine Funktion beim Übergang vom Einzeltext zur Sammlung verschoben hat: Diente es hier der urkundlichen Dokumentation, so will es dort gleichsam vom Heilgott selbst gelesen werden: Der Geheilte bedankt sich durch die Tafel für seine Heilung und stellt durch die Nennung des Namens sicher, dass der Gott erfährt, von wem die Stele bzw. Tafel stammt. Im Hinblick auf die übrigen, für die ἰάματα der inschriftlichen Sammlungen spezifischen Formelemente vermitteln die Einzelinschriften aber ein ambivalentes Bild: Auf der einen Seite lässt sich die oben für die Heilungsberichte der Sammlungen herausgearbeitete erzählerische Elementarsequenz (Name, Krankheit, Heilungsvorgang, Ergebnis) auch hier nachweisen76. Auf der anderen Seite ist deren sprachliche Realisierung jedoch überaus unterschiedlich. Das zeigt sich zunächst bei einem synchronen Vergleich: Die Länge der Inschriften weicht sehr voneinander ab, ebenso die sprachlich-formale Gestaltung: In Nr. (3), (4), (8), (9) und (10) spricht der Geheilte von sich in der 3. Person, in Nr. (1), (2), (5), (6) und (7) verwendet er die 1. Person – Eine analoge Differenz ist für die Rede vom Heilgott zu beobachten: In Nr. (1), (4), (5) und (9) wird Asklepios unmittelbar angeredet (2. Person), während die Stifter von Nr. (2), (3), (6), (7), (8) und (10) über ihn sprechen (3. Person). – Synchron betrachtet sind die Berichte der Sammlungen formgeschichtlich und im Hinblick auf die sprachliche Realisierung der Form sehr viel geschlossener als die Einzeltexte. Die Heilungsberichte der Sammlungen gleichen sich mehr als diejenigen der Einzelinschriften, woraus man das Prinzip „Je reiher desto gleicher“ als ein erstes Ergebnis ableiten kann: Stehen mehrere Texte einer Gattung, d.h. mit identischer virtueller Gattungsstruktur als Teiltexte innerhalb eines Makrotextes, tendieren sie zur Gleichheit, und zwar sowohl in Bezug auf die Variation als auch in Bezug auf die sprachliche Realisierung der Form. Die Richtung dieser Tendenz wird durch die Intention der Großgattung bestimmt, so dass – methodisch gewendet – die formgeschichtliche Analyse zu einem integralen Bestandteil der Redaktionskritik wird. Wir stehen hier vor dem Phänomen einer wirklichen Formgeschichte. Für sie gilt, dass die Intention einer Form immer nur in deren Variation und sprachlicher Realisierung wahrgenommen werden kann und dass sie, sofern die Form einer Großgattung inkorporiert ist, damit auch wesentlich durch das Interesse dieser Großgattung bestimmt wird, 76 In IG IV2/1, 127 (s.o. S. 103) wird die Heilung vor der Nennung der Krankheit mitgeteilt; die Dankinschrift des Redners Aeschines in Anthol. Graeca 6,330 (S. 104) nennt die Krankheit am Schluss.

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und d.h., dass sie grundsätzlich wandelbar ist. Am Beispiel der unterschiedlichen Intention der Namensnennung zu Beginn der Heilungsberichte haben wir dies deutlich gesehen. 3. Vergleicht man die Einzelinschriften mit den Sammlungen unter diachronem Aspekt, lässt sich als Ergebnis formulieren: Die Neufassung eines individuellen Heilungsberichts innerhalb der Sammlungen ist keine Reproduktion, sondern interessegeleitete Neuschöpfung.77 Das heißt dann aber auch, dass es an keiner Stelle eine methodisch kontrollierbare Möglichkeit gibt, von einem gegebenen Heilungsbericht der Sammlung aus die Formvariante oder gar den Wortlaut der Elementarsequenz dieses Berichts vor seiner schriftlichen Fixierung zu erschließen. Im Wege einer überlieferungskritischen Rückfrage ermittelbar ist allenfalls die erzählerische Elementarsequenz. Dafür lassen sich drei Beispiele anführen: a) Epidauros W 1 [Κλ]εὼ πένθ’ ἔτη ἐκύησε. αὕτα πέντ’ ἐνιαυτοὺς ἤδη κυοῦσα ποὶ τὸν [θε]ὸν ἱκέτις ἀφίκετο καὶ ἐνεκάθευδε ἐν τῶι ἀβάτωι. ὡς δὲ τάχισ[τα] ἐξῆλθε ἐξ αὐτοῦ καὶ ἐκ τοῦ ἱαροῦ ἐγένετο, κόρον ἔτεκε, ὃς εὐ[θ]ὺς γενόμενος αὐτὸς ἀπὸ τᾶς κράνας ἐλοῦτο καὶ ἅμα τᾶι ματρὶ [π]εριῆρπε. τυχοῦσα δὲ τούτων ἐπὶ τὸ ἄνθεμα ἐπεγράψατο· οὐ μέγε[θο]ς πίνακος θαυμαστέον, ἀλλὰ τὸ θεῖον, πένθ’ ἔτη ὡς ἐκύησε ἐγ γαστρὶ Κλεὼ βάρος, ἔστε ἐγκατεκοιμάθη καί μιν ἔθηκε ὑγιῆ.

Kleo war fünf Jahre schwanger. Als diese schon fünf Jahre schwanger war, kam sie bei dem Gott als Bittfleherin an und schlief im Heilraum; sobald sie aus ihm herauskam und außerhalb des Heiligtums war, gebar sie einen Knaben, der sofort nach seiner Geburt sich selbst an dem Brunnen wusch und mit der Mutter herumlief. Als sie das erlangt hatte, ließ sie auf ihr Weihgeschenk den Vers schreiben: „Wunderbar ist nicht die Größe der Tafel, sondern des Gottes / Fügung: Fünf Jahre war Kleo im Leibe mit einer Last wie schwanger, / Bis sie im Heilraum schlief, und er gesund sie gemacht“.

Die Verfasser der epidaurischen Sammlung tun uns den Gefallen, dass sie im allerersten Heilungsbericht ihre Quelle im Wortlaut zitieren: den πίναξ einer Kleo, die in Epidauros Heilung fand. Selbst wenn wir vom konkreten Krankheitsbefund absehen78 und nur nach dessen Deutung fragen, tritt die Differenz zwischen Vorlage und Redaktion deutlich zutage: Die Votivtafel sprach von der Heilung einer fünf Jahre dauernden Krankheit, die mit einer Schwangerschaft verglichen wird (πένθ’ ἔτη ὡς ἐκύησε ἐγ γαστρὶ ... βάρος ... ἔθηκε ὑγιῆ). Die Sammlung greift das Stichwort ἐκύησε als Leitwort auf und macht aus der mit einer Schwangerschaft vergleichbaren (ὡς) Krankheit eine tatsächliche fünfjährige Schwangerschaft, die mit der Geburt eines fünf Jahre alten Knaben endet, und steigert damit das θαυμάστεον. Im Blick auf 77 78

S. auch SELLIN, „Gattung“ (s. Anm. 49), 318. Vgl. dazu HERZOG, Wunderheilungen (s. Anm. 6), 71f.

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das oben zur Intention der epidaurischen Sammlung Gesagte halte ich für notierenswert, dass die auf dem πίναξ hervorgehobene aktive Rolle des Gottes bei der Heilung (ἔθηκε ὑγιῆ) von den Redaktoren der Sammlung nicht übernommen wird: Erzählerisch wird Asklepios durch die Redaktion aus dem Heilungsbericht verdrängt und die Heilung auf das Schlafen im Abaton zurückgeführt. Hier schlägt eindeutig das schon oben festgestellte Interesse der epidaurischen Sammlung am Kultort durch, insofern die kultische Institution sogar auf Kosten des Heilgottes in den Vordergrund gestellt wird. Auf der Textebene der Sammlung erhält das Zitat der Votivinschrift die Funktion einer Akklamation.79 b) Epidauros W 15 par. IG IV2/1, Nr. 125 Von der Heilung des Hermodikos von Lampsakos wissen wir aus zwei Quellen, denn neben der Weihinschrift des Geheilten selbst (s.o. Nr. [1]) berichtet auch die epidaurische Sammlung von ihr: ‘Ερμόδικος Λαμψακηνὸς ἀκρατὴς τοῦ σώματος. τοῦτον ἐγκαθεύδοντα ἰάσατο καὶ ἐκελήσατο ἐξελθόντα λίθον ἐνεγκεῖν εἰς τὸ ἱαρὸν ὁπόσσον δύναιτο μέγιστον. ὁ δὲ τὸμ πρὸ τοῦ ἀβάτου κείμενον ἤνικε.

Hermodikos von Lampsakos, am Körper gelähmt. Diesen heilte er, als er im Heilraum schlief, und befahl ihm, wenn er herauskommt, einen Stein in das Heiligtum zu tragen, den größten, den er könne. Da brachte er den, der (jetzt) vor dem Heiligtum liegt.

Zweifellos fungierte die Weihinschrift als Quelle für den Heilungsbericht der Sammlung. Vergleichen wir zunächst die Begrifflichkeit, so zeigt sich, dass mit Ausnahme des Namens nur das Wort ἀκρατής von der Weihinschrift in den Heilungsbericht der Sammlung übernommen wurde. Darüber hinaus lässt die erzählerische Darstellung des Heilungsvorgangs in beiden Texten unübersehbar dieselbe Elementarsequenz hervortreten, macht aber auch deutlich, dass wir es mit zwei verschiedenen Formvarianten mit jeweils spezifischer Intention zu tun haben: Die Weihinschrift beschreibt die Heilung aus der Perspektive des Geheilten als biographische Wende („bevor ich ... kam, war ich krank ..., um gesund weiterzuleben“), die durch das Eingreifen des Heilgottes bewirkt wurde („du aber“). Demgegenüber akzentuiert der Sammlungsbericht die Beziehung des Heilungsvorgangs zur Institution: Das Schlafen im Abaton (in der Weihinschrift erzählerisch ausgespart) wird in Analogie zu den anderen Berichten ausdrücklich erwähnt, der Stein soll nicht nur aufgehoben, sondern ins Heiligtum getragen werden, und der Schlusssatz macht den gesamten Bericht schließlich zu einer Ätiologie. Dieses Ende dürfte auch verantwortlich dafür sein, dass anders als sonst in der Sammlung die Feststellung der Heilung vorgezogen

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Vgl. dazu u. S. 113.

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und der Inkubationsbericht auf die Erzählebene des Heilungsberichts gehoben wird. c) Epidauros W 23 par. Aelian, Nat. Anim. 9,33 Von einem in der epidaurischen Sammlung enthaltenen Heilungsbericht gibt es eine literarische Parallele bei Aelian, der angibt, sie bei Hippys von Rhegion80 gefunden zu haben: Die inschriftliche Fassung lautet (Epidauros W 23): Ἀριστα[γόρα Τροζ]ανία. αὕτα ἕλμιθα ἔχουσα ἐν τᾶι κοιλίαι ἐνεκάθευδε ἐν Τροζ[ᾶνι ἐν τῶι] τοῦ Ἀσκλαπιοῦ τεμένει καὶ ἐνύπνιον εἶδε· ἐδόκει οὑ τοὺς υἱ[οὺς τοῦ θ]εοῦ, οὐκ ἐπιδαμοῦντος αὐτοῦ, ἀλλ’ ἐν Ἐπιδαύρωι ἐόντος, τὰγ κεφα[λὰν ἀπο]ταμεῖν, οὐ δυναμένους δ’ ἐπιθέμεν πάλιν πέμψαι τινὰ πο[ὶ] τὸν Ἀσκλ[απιόν, ὅ]πως μόληι. μεταξὺ δὲ ἁμέρα ἐπικαταλαμβάνει καὶ ὁ ἱαρρεὺς ὁρῆι [σάφα τ]ὰν κεφαλὰν ἀφαιρημέναν ἀπὸ τοῦ σώματος. τᾶς ἐφερπούσας δὲ νυκτ[ὸς Ἀρ]ισταγόρα ὄψιν εἶδε· ἐδόκει οἱ ὁ θεὸς ἵκων ἐξ Ἐπιδαύρου ἐπιθεὶς τ[ὰν κε]φαλὰν ἐπὶ [τὸ]ν τράχαλον, μετὰ ταῦτα ἀνσχίσσας τὰγ κοιλ[ία]ν τὰν αὐτ[ᾶς ἐξ]ελεῖν τὰν ἕ[λμ]ιθα καὶ συρράψαι πάλιν, καὶ ἐκ τούτου ὑγ[ιὴ]ς ἐγένετ[ο.

Aristagora von Trozen. Diese hatte einen Bandwurm im Bauch und schlief im Heilraum in Trozen im heiligen Bezirk des Asklepios und sah einen Traum: Sie träumte, die Söhne des Gottes, der selbst nicht am Ort, sondern in Epidauros war, hätten ihr den Kopf abgeschnitten. Da sie ihn aber nicht wieder aufsetzen konnten, hätten sie jemand zu Asklepios geschickt, dass er kommen solle. Inzwischen bricht der Tag herein, und der Priester sieht im Wachen den Kopf vom Leib getrennt. In der nächsten Nacht sah Aristagora ein Gesicht: Es träumte ihr, der Gott sei aus Epidauros gekommen und habe ihr den Kopf auf den Hals aufgesetzt, hierauf ihren Bauch aufgeschlitzt, den Bandwurm herausgenommen und ihn wieder zugenäht, und darauf wurde sie gesund.

Aelian, Nat Anim. 9,33: Die guten Wirkungen des Abrotonum, wie es dem Atem die Wege öffnet und als Reinigungsmittel für die Lunge dient, ist jetzt zu erzählen die Zeit nicht. Es ist aber einem schlimmen Geschöpfe feind und tötet den Bandwurm, der, wenn er heranwächst, zu einem schädlichen Tier wird; er entsteht in den Eingeweiden und ist zu den menschlichen Krankheiten zu zählen, und zwar zu den unheilbaren, gegen die mit menschlichen Kräften eine Rettung zu finden unmöglich ist. Hierzu ist das Zeugnis des Hippys hinreichend. Das, was dieser rheginische Schriftsteller sagt, ist Folgendes: γυνὴ εἶχεν ἕλμινθα, καὶ ἰάσασθαι αὐτὴν ἀπεῖπον οἱ τῶν ἰατρῶν δεινοί. οὐκοῦν ἐς Ἐπίδαυρον ἦλθε, καὶ ἐδεῖτο τοῦ θεοῦ ἐξάντης γενέσθαι τοῦ συνοίκου πάθους. οὐ παρῆν ὁ θεός. οἱ μέντοι ζάκοροι κατακλίνουσι τὴν ἄνθρωπον ἔνθα ἰᾶσθαι ὁ θεὸς εἰώθει τοὺς δεομένους. καὶ ἡ μὲν ἄνθρωπος ἡσύχαζε προσταχθεῖσα, οἵ γε μὴν ὑποδρῶντες τῷ θεῷ τὰ ἐς τὴν ἴασιν αὐτῆς ἐποίουν, καὶ τὴν κεφαλὴν 80

Eine Frau hatte einen Bandwurm, und die geschicktesten Ärzte verzweifelten an der Heilung. Sie begab sich also nach Epidauros und bat die Götter, sie von dem bei ihr wohnenden Übel zu befreien. Der Gott war nicht gegenwärtig, seine Diener aber ließen die Frau auf die Stelle niederlegen, wo der Gott die Hilfsbedürftigen zu heilen pflegte. Die Frau legte sich, wie ihr befohlen war, zur

Vgl. W. SPOERRI, Art. Hippys, KP 2 (1975) 1179f.

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μὲν ἀπὸ τῆς δέρης ἀφαιροῦσι, καθίησι δὲ τὴν χεῖρα ὁ ἕτερος, καὶ ἐξαιρεῖ τὴν ἕλμινθα, θηρίου μέγα τι χρῆμα. συναρμόσαι δὲ καὶ ἀποδοῦναι τὴν κεφαλὴν ἐς τὴν ἀρχαίαν ἁρμονίαν οὐκ ἐδύναντο οὐκέτι. ὁ τοίνυν θεὸς ἀφικνεῖται, καὶ τοῖς μὲν ἐχαλέπηνεν ὅτι ἄρα ἐπέθεντο ἔργῳ δυνατωτέρῳ τῆς ἑαυτῶν σοφίας. αὐτὸς δὲ ἀμάχῳ τινὶ καὶ θείᾳ δυνάμει ἀπέδωκε τῷ σκήνει τὴν κεφαλήν, καὶ τὴν ξένην ἀνέστησε.

Ruhe, worauf die Diener des Gottes ihre Kur besorgten. Nachdem sie den Kopf vom Hals abgetrennt hatten, steckte einer die Hand hinein und zog den Wurm, ein großes Tier, heraus. Den Kopf wieder aufsetzen und in die alte Stellung bringen konnte er aber nicht. Da kam der Gott, schalt seine Diener, dass sie ein Werk unternommen hatten, das über ihre Kenntnisse hinausging. Er selbst aber gab mit unwiderstehlicher göttlicher Kraft dem Rumpf den Kopf zurück und stellte die Kranke wieder her.

Nun will ich keineswegs, du König und menschenfreundlichster der Götter, Asklepios, die Kraft des Abrotonum mit deiner Weisheit vergleichen – nie möge ich so vermessen sein! Da ich aber darauf zu reden kam, gedachte ich deiner Wohltätigkeit und staunenswürdigen Heilung. Dass aber auch dieses Kraut dein Geschenk ist, darf man nicht bezweifeln.

Es ist nicht zu übersehen, dass es sich hierbei um ein und dieselbe Erzählung handelt und dass beide Texte damit in einem überlieferungs- und nicht lediglich in einem traditionsgeschichtlichen Verhältnis zueinander stehen, denn die entscheidenden Stationen der Erzählsequenz sind identisch: Eine Frau hat einen Bandwurm und begibt sich zu Asklepios (bei Hippys zum epidaurischen, in der Sammlung zum trozenischen Heiligtum). Darauf folgt in beiden Fällen das Motiv vom Zauberlehrling: Die Priester wollen die Heilung in eigener Regie durchführen und trennen den Kopf vom Rumpf, können ihn aber nicht wieder aufsetzen. Zum Glück greift aber Aklepios ein (in der Sammlung muss er aus Epidauros herüberkommen) und macht die Frau wieder ganz (gesund).

Vergleicht man die sprachliche Realisierung des in beiden Texten identischen Erzählstranges miteinander, zeigt sich, dass es mit Ausnahme der gekennzeichneten Formulierungen so gut wie keinerlei Übereinstimmung gibt. Unabhängig zunächst davon, welche Fassung als die ältere zu gelten hat, macht dieser Sachverhalt sichtbar, dass die überlieferungsgeschichtliche Vorstufe einer gegebenen Erzählung keinesfalls performativ, d.h. als sprachliche Realisierung eines Textes, sondern allenfalls als virtuelle Erzählstruktur beschrieben werden kann. Sie wird in jedem Erzählvorgang, d.h. auf jeder überlieferungsgeschichtlichen Stufe immer wieder ganz neu realisiert. Jeder neue Erzähler ist ein neuer Autor. Was nun die Frage der überlieferungsgeschichtlichen Priorität angeht, sind sich die Altphilologen nicht einig, welcher Fassung sie zuzusprechen sei. Die jeweils zugunsten des einen wie des anderen Berichts angeführten Argumente lassen die Aporetik einer literarkritisch operationalisierten formgeschichtlichen Fragestellung deutlich hervortreten: Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorff hält die epidaurische Fassung für älter und „besser“ (sic!), weil die eigentliche Heilungserzählung durch das Element der Konkurrenz zwischen Trozen und Epidauros angereichert bzw. dadurch allererst ent-

4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen

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standen sei, während sie bei Hippys in abgeschliffener und darum späterer Gestalt begegne.81 – Genau umgekehrt argumentieren O. Weinreich und R. Herzog: Die epidaurische Fassung sei überlieferungsgeschichtlich jünger, weil sie in sich widersprüchlich und „ungeschickt“ sei82 und weil die Konkurrenz zwischen den beiden Heilstätten als ein „neuer Zug in die Geschichte getragen“ worden sei83. Herzog zufolge sei die bei Hippys überlieferte Fassung als „eine sehr bösartige Geschichte über das epidaurische Hieron um(gelaufen)“, und ihre redaktionell veränderte Aufnahme in die epidaurische Sammlung sei mit der Intention erfolgt, „diese abträgliche Fassung nicht etwa totzuschweigen, sondern durch Umbiegung unschädlich zu machen und damit zugleich der Konkurrenz im Asklepieion von Trozen einen Hieb zu versetzen“.84 – Für die Richtigkeit beider Rekonstruktionen lassen sich plausible Gründe anführen. Zugunsten der überlieferungsgeschichtlichen Priorität der epidaurischen Erzählung lässt sich m.E. aber geltend machen, dass Aelian wahrscheinlich gar nicht die Fassung des Hippys von Rhegion, sondern seine eigene wiedergibt85: Der Skopus der Erzählung entspricht zu genau der These, die Aelian zuvor formuliert hat – Bandwurmbefall gehört zu den Krankheiten, die von Menschenhand nicht geheilt werden können (ὑπὸ χειρὸς θνητῆς ἐς ἄκεσιν ἥκειν ἀδυνάτοις) –, um ausschließen zu können, dass die Gestalt der von ihm wiedergegebenen Fassung sich nicht der Einpassung in den übergreifenden Darstellungsrahmen verdankt. Dafür spricht auch, dass die eben zitierte Erzählintention sich auch in der Geschichte selbst, und zwar in unmittelbarer terminologischer Entsprechung wiederfindet: Das ἀδύνατον menschlicher Heilungsmöglichkeit wird aufgenommen in der Charakterisierung des priesterlichen Hei81

U. V. WILAMOWITZ-MÖLLENDORFF, Hippys von Rhegion, Hermes 19 (1884) 443–452, hier 449f: „Die Geschichte auf dem Steine (ist) besser und ursprünglicher als bei Hippys ..., [denn] der Gegensatz der Cultlocale Trozen und Epidauros, der sich so naiv ausspricht und eigentlich die ganze Fabel erzeugt hat, ist bei Hippys ganz verwischt, und dass der Bandwurm statt im Unterleibe in der Brust gesucht wird, so dass die ganze trozenische Heilkunst sich schwer compromittirt, hat Hippys gar nicht verstanden.“ 82 Beide nennen die Verteilung der Heilung auf zwei Nächte – die Frau musste einen Tag lang mit abgeschnittenem Kopf herumgelegen haben (WEINREICH, Heilungswunder [s. Anm. 2], 77f). WEINREICH (ebd. 84) hält dies für „Weiterbildung zum Zweck einer Steigerung“. – Dieses methodische Prinzip hat früher in der formgeschichtlichen Analyse der neutestamentlichen Wundererzählungen Verwendung gefunden; vgl. exemplarisch D.-A. KOCH, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums (BZNW 42), Berlin / New York 1975, 10f: „Die größere, zusammengesetzte Einheit (stellt) gegenüber der einfacheren eine sekundäre Bildung dar.“ 83 WEINREICH, Heilungswunder [s. Anm. 2], 83. – Die Bestätigung dafür findet HERZOG in Epidauros W 48, wo ebenfalls die Überlegenheit des epidaurischen über das trozenische Heiligtum zum Ausdruck gebracht ist (ebd. 78 Anm. 26). 84 HERZOG, ebd. 78. 85 Vgl. auch NEHRBASS, Sprache (s. Anm. 35), 73.

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lungsversuchs als ἔργον δυνατώτερον τῆς ἑαυτῶν σοφίας; Asklepios heilt dann natürlich θείᾳ δυνάμει. Und des Gottes Empörung über die Anmaßung der Priester ist dann im Schlussrahmen aufgenommen, wo Aelian versichert, dass er selbst einen derartigen Übergriff in die Kompetenzen des Heilgottes niemals wagen würde. Es ist also durchaus vorstellbar, dass Aelian eine der epidaurischen Fassung dieser Heilungserzählung nahe kommende Vorlage im Interesse seiner Darstellungsintention gestrafft und neu akzentuiert hat.

IV. Ergebnisse 1. Wenn wir nun abschließend nach konkreten formgeschichtlichen Bezügen zu den neutestamentlichen Heilungserzählungen fragen, ergibt sich: a) Die inschriftlichen Heilungsberichte unterscheiden sich von den neutestamentlichen Heilungserzählungen dadurch, dass sie nicht an der Person des Heilers, sondern an der Heilstätte haften und als Geschichten über den Geheilten erzählt werden. Aus diesem Grunde halte ich es für fraglich, ob man in den inschriftlichen ἰάματα den formgeschichtlichen Ursprung der neutestamentlichen Heilungserzählungen sehen kann, wie K. Berger vorschlägt. Es würde in diesem Fall erforderlich, für die Überlieferung der Exorzismen einen davon zu unterscheidenden Ausgangspunkt zu bestimmen, und das scheint mir nicht gut möglich zu sein. Die formbestimmende Personenkonstellation der inschriftlichen Heilungsberichte ist nicht wie in den Evangelien „Jesus und NN“, sondern „NN und Asklepios“ bzw. „NN und der Heilort“. In den Evangelien „(tritt) zunächst der Wundertäter auf, dann kommen die Hilfesuchenden“86, in den Inschriften ist dies umgekehrt: Zunächst treten die Kranken auf, danach (wenn überhaupt87) Asklepios. Diese Konstellation findet sich im Neuen Testament lediglich in Apg 9,36–42, wo ihr aber eine wesentliche Funktion für das Darstellungsinteresse der lukanischen Redaktion zukommt: Die Erzählung von der Auferwekkung Tabitas beginnt mit deren Krankheitsgeschichte (V. 36f), weil Lukas ihren Tod dazu benutzt, Petrus’ Kommen nach Joppe zu motivieren (vgl. V. 38). Die Variation der Form hat ihren Grund demnach darin, dass Lukas in V. 32–35 und V. 36–42 zwei Traditionen miteinander verbunden hat, die an unterschiedlichen Orten hafteten (Lydda und Joppe), und darum ein

86 87

THEISSEN, Wundergeschichten (s. Anm. 2), 129. S.o. S. 86ff.

4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen

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plausibles Motiv für den Ortswechsel benötigte, um dem historiographischen Ideal der Lückenlosigkeit der Darstellung88 Genüge zu tun. b) Die Funktionalisierung der Heilungsberichte als Beispielerzählungen für den Heilscharakter der Herrschaft des Antoninus in den Maffeischen Inschriften89 entspricht der literarischen Funktion der Exorzismuserzählung von Mk 1,21–28. Die formgeschichtlichen Querverbindungen liegen hierbei auf der redaktionellen Ebene: (α) Hier wie dort wird eine Reihe von Heilungserzählungen dadurch eingeleitet, dass der Erstbericht (und nur er) mit einer ausgeführten Akklamation der Augenzeugen („Chorschluss“) versehen wird (in Maff. Inschr. I als Bericht von einer Akklamation90; in Mk 1,27 als wörtliche Rede); auch die epidaurische Sammlung bringt einen akklamationsähnlichen Text (freilich nicht der Augenzeugen, sondern der Geheilten) nur im Anschluss an den ersten Heilungsbericht91. (β) Diese Akklamation weist zurück auf die vorausgehende übergeordnete Textebene, in die der Heilungsbericht eingebettet ist (in Maffeische Inschriften I ist sie nicht erhalten, kann aber aus der Formulierung ἐπὶ τοῦ Σεβαστοῦ ἡμῶν Ἀντωνείνου über das einleitende αὐταῖς ταῖς ἡμέραις erschlossen werden; in Mk 1,27 auf die Behauptung des vollmächtigen Charakters von Jesu Lehre in V. 22). (γ) Diese Akklamation weist voraus auf die folgenden Erzählungen, wie in beiden Fällen der verallgemeinernde Plural erkennen lässt, und integriert diese damit in die Deutung der Ersterzählung als Beispielerzählung für eine hinter der Heilung stehende Wirklichkeit (bei Mk die Vollmächtigkeit der Lehre Jesu). Wie in den Maffeischen Inschriften dient auch hier die Akklamation dazu, die Einzelerzählung mit der übergeordneten Text- und Darstellungsebene zu verknüpfen.92 c) Analoges lässt sich auch für andere neutestamentliche Akklamationen zeigen: Mk 4,35–41 ist der Erstbericht einer Reihe von Wundergeschichten, die sich im Kreis der Jünger abspielen und von Markus thematisch dem „Jüngerunverständnis“ zugeordnet werden (dazu gehören noch 6,30–44 und 6,45– 52). Auch hier steht die ausgeführte Akklamation beim Erstbericht (4,41),

88

Vgl. Lukian v. Samosata, Hist. Conscr. 55; s. auch J. DUPONT, La question du plan des Actes des Apôtres à la lumière d’un texte de Lucien de Samosate, NT 21 (1979) 220–231, hier 224ff. 89 S.o. S. 98f. 90 S.o. S. 95. 91 S.o. 107. 92 Deutlich wird dies in Mk 1,27 vor allem darin, dass es in der Akklamation um die „neue Lehre“ Jesu geht und deren Prädikation in Spannung zum Inhalt der Exorzismuserzählung steht, die keinerlei lehrhafte Züge enthält. Ähnliche Spannungen zwischen Akklamation und Wundererzählung finden wir auch an anderen Stellen (s.u. bei Anm. 97).

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Jesus

und wie in Maff. Inschr. II93 wird sie dann in 6,51 auf eine implizite Akklamation94 reduziert. Die Frage „Wer ist dieser?“ von 4,41 weist über die Einzelerzählung hinaus auf die mk Gesamtdarstellung, denn sie wird im folgenden immer wieder aufgegriffen (vgl. 6,2f.14–16; 8,27–29). d) Gegenstück sind diejenigen Texte, in denen eine verallgemeinernde Akklamation an den Letztbericht einer Reihe von Wundererzählungen angeschlossen wird. Wie in Mk 1,27 findet auch hier der Plural Verwendung, wodurch die Akklamation über das unmittelbar vorher berichtete Wunder typisierend hinausweist: Mk 7,37 steht am Ende der letzten Wundererzählung, die im Aufriss des MkEv auf heidnischem Gebiet spielt (nach 5,1–20 und 7,24–30), und bildet gemeinsam mit dem Anfangsrahmen (V. 31) eine Inklusion mit der impliziten Akklamation von 5,20; die Kohärenz wird hergestellt durch die übereinstimmende geographische Verortung (Dekapolis) und durch die Zuordnung von impliziter und ausgeführter Akklamation (s.o.). In Mt 9,33b.34 schließt die Akklamation die letzte Erzählung des in 8,1 beginnenden Wunderzyklus ab. Dabei lässt die Formulierung „Noch nie ist in Israel so (etwas) in Erscheinung getreten“ erkennen, dass sich die Akklamation nicht isoliert auf den vorstehenden einen Exorzismus beziehen kann, denn Mt hat schon in 8,28–34 von der Austreibung böser Geister berichtet, und er lässt auch die Pharisäer in V. 34 Jesu Exorzismen verallgemeinernd bewerten. Die Akklamation soll also nicht nur die vorstehende Einzelerzählung abschließen, sondern weist über sie hinaus zurück und deutet den gesamten Zyklus.95 Darüber hinaus weist sie aber auch nach vorne, denn die in ihr zum Ausdruck gebrachte Spaltung der Reaktion Israels auf Jesu Wirken wird in analoger Weise in 12,22–24; 21,14–16a wieder aufgenommen. Aufs Ganze gesehen wird darin erkennbar, dass die ausgeführten Akklamationen nicht eigentlich zur singulären Wundererzählung (vgl. auch die Spannungen in Mk 2,12; Lk 13,17; Mt 8,27)96, sondern zum Makrotext gehören. Sie dienen hier der literarischen Vernetzung der Einzelerzählungen und fungieren als deutende Orientierungshilfen des Autors für den Leser. Letzteres können sie leisten, weil sie diejenigen Interpretamente vermitteln, die das christologische Gesamtverständnis der Einzelerzählungen erschließen.97 Erkennbar wird dies auch in denjenigen Akklamationen, die ein Gotteslob enthalten und damit zum Ausdruck bringen, dass sich in Jesus Gott offenbart (Mk 2,12; Mt 9,8; 15,31; Lk 5,26; 7,16; 9,43; 18,43). 93

S.o. S. 95. Zum Begriff vgl. THEISSEN, Wundergeschichten (s. Anm. 3), 80. 95 Vgl. auch U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus II (EKK 1/2), Zürich/NeukirchenVluyn 1990, 63. 96 Vgl. dazu THEISSEN, Wundergeschichten (s. Anm. 3), 165f. 97 Wenn, wie SELLIN, „Gattung“ (s. Anm. 49), 319 richtig hervorhebt, „der Sinn einer Einzelperikope ihre Funktion im Gesamttext (ist)“, so hat die Akklamation die Funktion, eben gerade diesen Sinn zu verbalisieren. 94

4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen

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e) Dass die neutestamentlichen Heilungserzählungen wie die inschriftlichen Berichte ihren überlieferungsgeschichtlichen Ursprung wenigstens zum Teil einmal in den Selbstberichten der Geheilten gehabt haben, wie Dieter Zeller annimmt98, ist grundsätzlich durchaus denkbar. Nur gibt es keinerlei Kriterien, die es ermöglichten, auch nur eine einzige der vorliegenden Heilungserzählungen als solche, d.h. als Text, überlieferungsgeschichtlich aus dem Heildank herzuleiten. Der Verweis auf die individuellen Danklieder des Psalters99 ist nicht tragfähig, denn für diese gilt durchweg, dass der Rückblick auf die Not und der Rettungsbericht nicht das konkrete Krankheitsbild und das ihr entsprechende Heilungshandeln schildern, sondern Not und Rettung immer nur in verallgemeinernden und theologisch gedeuteten Kategorien beschreiben (vgl. z.B. Ps 30,7–11.12f; 32,3f; 116,3.8; Jes 38,10–15.17). Wenn ein Geheilter in dieser sprachlichen Tradition für seine Heilung öffentlich dankt (auf ein tōdā-Opfer könnten immerhin Mk 1,44; Apg 3,8 hinweisen), so dürfte dies darum eher zu Texten geführt haben, wie wir sie aus den Dankliedern des Einzelnen kennen, und nicht zu Erzählungen, aus denen die neutestamentlichen Heilungsberichte erwachsen sind. Auch die Nennung von Namen der Geheilten in einigen Heilungserzählungen (vgl. Mk 10,46; Apg 9,33.36; 20,9; s. auch Mk 1,30; 5,22f par. Lk 8,40f; Apg 28,8) können kaum als Hinweis auf einen solchen Ursprung der Texte in Anspruch genommen werden.100 Die Namensnennungen markieren in dieser Hinsicht keine überlieferungsgeschichtliche Differenz gegenüber den namenlosen Heilungserzählungen, denn sie lassen sich durchweg vom Redaktionsinteresse des jeweiligen Makrotext-Autors her verständlich machen; anders als in den inschriftlichen Sammlungen ist hier aber nicht eine dokumentarische Intention maßgebend: Wenn Markus den Bartimäus anders als die anderen Geheilten namentlich identifiziert (10,46), so hat dies seinen formgeschichtlichen Grund darin, dass er eine Heilungserzählung mit Formelementen einer Nachfolgeerzählung anreichert. Zu ihnen gehört die Namensnennung, die zusammen mit der Nachfolgenotiz (V. 52) die Heilungserzählung einrahmt. Bestätigt wird dies dadurch, dass Mk immer dann eine namentliche Identifikation vornimmt, wenn er individuelle Nachfolger Jesu kennzeichnet (vgl. 1,16–20; 2,14; 15,40f). Kommt es nicht zur Nachfolge, fehlt auch der Name (vgl. 5,18f; 10,17–22). In den Heilungserzählungen der Apostelgeschichte werden die Geheilten nur dann mit Namen genannt, wenn es sich um Angehörige der christlichen Gemeinden handelt; die anderen bleiben unbekannt. Noch einmal etwas anderes ist es, wenn Angehörige von Prominenten geheilt werden (Mk 1,29–31; 5,22–24. 35–43; Apg 28,7f): Deren namentliche Identifikation hat nichts mit dem 98

ZELLER, Wunder (s. Anm. 18), 212.220f. Vgl. ZELLER, ebd. 211. 100 Vgl. ZELLER, ebd. 86. 99

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Jesus

Überlieferungsvorgang der Heilungserzählung zu tun, sondern verdankt sich der herausgehobenen Stellung dieser Personen. Entsprechend wird in Mk 5,38 auch nur die Funktionsbezeichnung und nicht der Name wiederholt. 2. Insgesamt hat der Vergleich der in den Sammlungen von Epidauros, Lebena und Rom enthaltenen Heilungsberichte sowohl miteinander wie mit den Einzelberichten vor allem ergeben, dass eine Ähnlichkeit von Formvarianten sich in erster Linie der individuellen Darstellungsintention des Makrotextes verdankt, in den die Einzelberichte eingebettet sind. – Eine überlieferungsgeschichtliche Gesetzmäßigkeit existiert dabei nicht: Weder sind „einfache“ (im Sinne der Formgeschichte) Texte in der Regel älter als „zusammengesetzte“ Einheiten, noch gilt das Umgekehrte. Dem entspricht, dass es an keiner Stelle eine auch nur halbwegs methodisch gesicherte Möglichkeit gibt, einen Heilungsbericht, der innerhalb eines Makrotextes steht, mit Hilfe einer literarkritisch operationalisierten Formkritik zu dekomponieren und seine „Vorlage“ zu rekonstruieren. Ermitteln können wir allenfalls (aber auch nicht immer101) den Plot einer überlieferungsgeschichtlichen Vorstufe, nicht aber deren textliche Formvariante (das Gattungsexemplar) und schon gar nicht die individuelle Sprachgestalt. 3. Darüber hinaus hat die Untersuchung erkennen lassen, dass die formgeschichtliche Fragestellung in enger Beziehung zur Redaktionskritik steht und hier eine wesentliche Rolle spielt.102 Gerade die formgeschichtliche Ermittlung der unterschiedlichen Formvarianten, in denen die von Pausanias beschriebene virtuelle Gattung103 realisiert wurde, hat es allererst möglich gemacht, Einsichten über deren redaktionelles Aussageinteresse zu gewinnen. An diesem Punkt ergibt sich darum eine wesentliche Korrektur des Ansatzes der klassischen Formgeschichte104, die sich ausschließlich „mit den Formen der mündlichen Überlieferung (befasst)“ und deren Intention darin besteht, „die Gesetze und Entwicklungen solcher mündlicher Weitergabe bis zur schließlichen schriftlichen Fixierung zu erforschen“, wie es bei Hel-

101

Vgl. das Beispiel von Epidauros W 1 (s.o. S. 107). S. auch SELLIN, „Gattung“ (s. Anm. 49), 320 mit Anm. 32. 103 S.o. S. 88. 104 Vgl. hierzu bereits E. GÜTTGEMANNS, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums (BEvTh 54), München 1971; W. RICHTER, Exegese als Literaturwissenschaft, Göttingen 1971, und K. BERGER, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984; DERS., Einführung in die Formgeschichte (UTB 144), Tübingen 1987; DERS., Art. Form- und Gattungsgeschichte, Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe II, Stuttgart 1990, 430–445. 102

4. Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen

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mut Köster heißt105. Dieser Fragerichtung wird schon allein dadurch ihr Gegenstand entzogen, dass es sich als unmöglich erwiesen hat, einen einzelnen Sammlungsbericht – und dasselbe dürfte auch für die neutestamentlichen Heilungserzählungen gelten – in der Weise zu dekomponieren, dass man eine formgeschichtlich zweifelsfreie identifizierbare Formvariante als überlieferungsgeschichtliche Vorstufe erhält. Die formgeschichtliche Fragestellung ist darum von der überlieferungsgeschichtlichen Rückfrage abzulösen und muss eine methodisch prominente Funktion innerhalb der unter traditionsgeschichtlicher Perspektive operierenden Redaktionskritik erhalten.106 Die diachronische Analyse eines ohne Parallelen und zweifelsfreie Vorlagen gegebenen Erzähltextes hat dementsprechend nach dem Inventar der möglichen Formvarianten und ihrer sprachlichen Realisierungen zu fragen. Es ist dann die Auswahl aus diesem Inventar, die – neben dem Kontext natürlich – über den redaktionellen Aussagesinn einer Erzählung entscheidet, und nicht das willkürliche Konstrukt einer Differenz zwischen Tradition und Redaktion.

105

H. KÖSTER, Art. Formgeschichte/Formenkritik. II. Neues Testament, TRE 11 (1983) 286–299, hier 286. 106 Zur Unterscheidung von Überlieferungsgeschichte und Traditionsgeschichte vgl. bereits H. BARTH / O. H. STECK, Exegese des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 81978, 41f (die Überlieferungsgeschichte fragt nach der Weitergabe eines individuellen Textes) und 78 (der Traditionsgeschichte geht es um die in einem Text enthaltenen überindividuellen „Denkstrukturen, Stoffe, Vorstellungen oder Vorstellungskomplexe sowie deren Abwandlung“).

Paulus

5. Identität und Ethos bei Paulus I. II. III. IV. V. VI.

Die Frage nach der paulinischen Ethik ................................................................................. 121 Identität und Ethos .................................................................................................................. 127 Der funktionale Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos .......................... 136 Der materiale Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos .............................. 140 Der kontextuelle Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos ......................... 153 Rückblick und Ausblick: Die paulinische Ethik als angewandte Ekklesiologie ............... 167

I. Die Frage nach der paulinischen Ethik 1. Schon Aristoteles hatte von der ἠθικὴ θεωρία gesprochen (Analyt. Post. 1,33 [89b9]) und damit die Ethik als „ein Theorieunternehmen“1 gekennzeichnet, das zur Philosophie gehört. Ethische Sätze formen dabei einen Begründungszusammenhang, der aus deskriptiven, narrativen und definitorischen Sätzen („Seinsaussagen“) präskriptive Sätze („Sollensaussagen“) ableitet.2 In der Literatur zur paulinischen Ethik wird dieser Zusammenhang seit Rudolf Bultmann mit Hilfe des Begriffspaars „Indikativ und Imperativ“ umschrieben.3 Die Verwendung des Begriffspaars „Indikativ und Imperativ“ ist in der jüngeren Vergangenheit vielfach als nicht sachgerecht kritisiert worden.4 In Bezug auf Bultmanns inhaltliche 1 E. HERMS, Art. Ethik I, RGG4 2 (1999) 1598–1601, hier 1598; s. auch T. RENDTORFF, Art. Ethik VII, TRE 10 (1982) 481–517; M. HONECKER, Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, 4. 2 Vgl. auch die Beschreibung dieses Zusammenhangs mit Bezug auf die paulinische Ethik bei D. G. HORRELL, Solidarity and Difference. A Contemporary Reading of Paul’s Ethics, London / New York 2005, 97f: „Paul’s letters are to be seen as reflecting, and contributing to, a narrative myth which constructs a particular symbolic universe, giving meaning and order to the lives of those who inhabit it. This myth … is an identity- and community-forming narrative which shapes both the world-view (the ‚is‘) and the ethos (the ‚ought‘) of its adherents.“ 3 Vgl. R. BULTMANN, Das Problem der Ethik bei Paulus (1924), in: ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 36–54, bes. S. 39: „... da doch Paulus den Imperativ gerade auf die Tatsache der Rechtfertigung gründet, den Imperativ aus dem Indikativ ableitet“ (Hervorhebung im Original). 4 Vgl. den Überblick bei R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132

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Paulus

Näherbestimmung des Begründungszusammenhangs mag diese Kritik durchaus berechtigt sein.5 Man darf dabei freilich das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, denn die Kritik an Bultmanns Verwendung dieses Begriffspaars übersieht, dass es sich bei ihm um eine Metapher handelt, die einfach nur umschreiben will, dass verhaltensorientierende Texte immer von bestimmten Sachverhalten ausgehen, die auf der Textebene auch explizit gemacht werden. Sie haben hier die Gestalt von Gewissheiten, denen die Funktion zukommt, die Leser entweder kognitiv (als Begründungen) oder affektiv (als Motivierungen) zu konditionieren. In diesem Sinne spricht nichts gegen eine weitere Benutzung dieses Begriffspaars. Der mit ihm beschriebene literarische Begründungszusammenhang darf zudem auf keinen Fall ontologisch missverstanden werden. Ihn trifft darum auch nicht der Vorwurf, hier liege der sog. „naturalistische Fehlschluss“ vor.6 Die Aufforderung, „(man) sollte ... sich innerhalb der exegetischen Wissenschaft vom Indikativ-Imperativ-Modell als leitendem Begründungsmuster der paulinischen Ethik nun endgültig verabschieden“7, ist darum ganz falsch, denn diese argumentative Struktur wird ja nicht von den Exegeten verwendet, sondern von Paulus selbst. Man kann das allein schon daran erkennen, dass uns Indikativ-Imperativbzw. Sein-Sollen-Zusammenhänge in den paränetischen Passagen der paulinischen Briefe auf Schritt und Tritt begegnen. Vier Beispiele können genügen: Röm 14,3: „Wer isst, der verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, der richte den nicht, der isst (Imperativ; Sollen), denn Gott hat ihn angenommen (Indikativ; Sein).“ Röm 15,2–3: „Jeder von uns soll dem Nächsten gefallen, zum Guten, zur Erbauung (Imperativ; Sollen), denn auch Christus hat nicht sich selbst gefallen, sondern wie geschrieben steht: ‚Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen‘ (Indikativ; Sein).“ Röm 15,7: „Darum nehmt einander an (Imperativ; Sollen), wie auch Christus euch angenommen hat (Indikativ; Sein), zu Gottes Lob.“ Gal 5,25: „Da wir durch den Geist leben (Indikativ; Sein), so lasst uns auch mit dem Geist übereinstimmen (Imperativ; Sollen).“

Für die antike Verortung der Ethik in der Philosophie sei als Beispiel jene berühmte Passage aus dem Essay über die Kindererziehung (De liberis educandis) zitiert, der zwar unter den Werken Plutarchs überliefert ist (Mor. 1a–14c), jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von ihm stammt. Der Autor unterscheidet hier zwischen der Fürsorge für die Seele und der Fürsorge für den Leib (Plutarch, Mor. 7d–f): Für die letztgenannte seien die Medizin und der Sport zuständig, während „für die Schwächen und Leiden der Seele ... allein die Philosophie ein Heilmittel ist. Durch sie und mit ihr kann man erkennen (γνῶναι),

(2007) 259–284, hier 261ff; s. auch U. SCHNELLE, Die Begründung und die Gestaltung der Ethik bei Paulus, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums. FS Otto Merk (MthSt 76), Marburg 2003, 109–131, hier 109ff. 5 S. dazu auch u. S. 123f. 6 ZIMMERMANN, Jenseits (s. Anm. 4), 265 mit Berufung auf G. E. MOORE, Principia Ethica, Stuttgart 1970, 41–52. 7 ZIMMERMANN, Jenseits (s. Anm. 4), 265. – S. auch schon K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: Paulinische Christologie. FS Hans Hübner, Göttingen 2000, 9–31, hier 9ff.

5. Identität und Ethos bei Paulus τί τὸ καλὸν τί τὸ αἰσχρόν, τί τὸ δίκαιον τί τὸ ἄδικον, τί τὸ συλλήβδην αἱρετόν τί τὸ φευκτόν· πῶς θεοῖς πῶς γονεῦσι πῶς πρεσβυτέροις πῶς νόμοις πῶς ἀλλοτρίοις πῶς ἄρχουσι πῶς φίλοις πῶς γυναιξὶ πῶς τέκνοις πῶς οἰκέταις χρηστέον ἐστί· ὅτι δεῖ θεοὺς μὲν σέβεσθαι, γονέας δὲ τιμᾶν, πρεσβυτέρους αἰδεῖσθαι, νόμοις πειθαρχεῖν, ἄρχουσιν ὑπείκειν, φίλους ἀγαπᾶν, πρὸς γυναῖκας σωφρονεῖν, τέκνων στερκτικοὺς εἶναι, δούλους μὴ περιυβρίζειν. τὸ δὲ μέγιστον, μήτ’ ἐν ταῖς εὐπραγίαις περιχαρεῖς μήτ’ ἐν ταῖς συμφοραῖς περιλύπους ὑπάρχειν, μήτ’ ἐν ταῖς ἡδοναῖς ἐκλύτους εἶναι, μήτ’ ἐν ταῖς ὀργαῖς ἐκπαθεῖς καὶ θηριώδεις. ἅπερ ἐγὼ πάντων τῶν ἐκ φιλοσοφίας περιγιγνομένων ἀγαθῶν πρεσβύτατα κρίνω. τὸ μὲν γὰρ εὐγενῶς εὐτυχεῖν ἀνδρός, τὸ δ’ ἀνεπιφθόνως εὐηνίου ἀνθρώπου, τὸ δὲ τοῖς λογισμοῖς περιεῖναι τῶν ἡδονῶν σοφοῦ, τὸ δ’ ὀργῆς κατακρατεῖν ἀνδρὸς οὐ τοῦ τυχόντος ἐστί.

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was gut und was abscheulich, was gerecht und ungerecht, was überhaupt erstrebenswert und zu meiden ist; wie man sich gegenüber Göttern, Eltern, Älteren, Gesetzen, Fremden, Machthabern, Freunden, Frauen, Kindern und Sklaven zu verhalten hat: dass man Götter zu verehren hat, Eltern zu ehren, Ältere zu achten, Gesetzen zu gehorchen, Machthabern sich zu fügen, Freunde zu lieben, die Frauen besonnen zu behandeln, liebevolle (Väter) der Kinder zu sein und Sklaven nicht zu misshandeln. Das Wichtigste aber (ist): weder im Glück sich übermäßig zu freuen noch im Unglück übermäßig zu trauern, weder in den Genüssen zu ausgelassen noch im Zorn unbändig und wild zu sein. Diese halte ich für die herausragendsten von den Gütern, die sich aus der Philosophie ergeben. Denn es ist zwar die Eigenschaft eines Mannes, in vornehmer Weise Freude zu erleben; neidlos zu sein, aber die eines wohlgeleiteten Menschen; mit dem Verstand die Genüsse zu regieren ist die Eigenschaft eines Weisen; den Zorn zu beherrschen, ist nicht jedermann gegeben.“

Die Näherbestimmung dieses Zusammenhangs innerhalb der paulinischen Theologie stellt traditionellerweise eine ganz außerordentliche systematische und exegetische Herausforderung dar, deren Bedeutung weit über das Problem der historischen Rekonstruktion hinausreicht. Das gilt besonders für die vor allem in der protestantischen Exegese verbreiteten Versuche, diesen Zusammenhang von der reformatorischen Theologie her zu interpretieren und auf der Seite der Seinsaussagen die paulinische Rechtfertigungslehre einzusetzen. Hierzu hat bereits Albert Schweitzer kritisch darauf hingewiesen, dass Paulus selbst niemals „den Versuch (macht), sie (sc. seine Ethik; M.W.) aus der Gerechtigkeit aus dem Glauben abzuleiten“8. Es gelte vielmehr: „In der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben verhalten sich die Erlösung und die Ethik zueinander wie zwei Straßen, von denen die eine bis zu einer Schlucht und die andere von dieser Schlucht weiter führt. Es fehlt aber die Brücke, um von der einen auf die andere zu gelangen.“9 8

A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus (1930), Tübingen, 1981, 286. SCHWEITZER, ebd., 287; s. auch 220: „... daß Paulus bei der Vorstellung eines Glaubens anlangt, der die Werke des Gesetzes und damit Werke überhaupt ablehnt. Er schneidet sich also den Weg zur Ethik ab.“ Vgl. auch W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments [NTD.E 4], Göttingen 1982, 156ff; S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987, 81ff.134f.380ff. – Für V. P. FURNISH handelt es sich hierbei um „the crucial problem in interpreting the 9

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Einige Jahre zuvor hatte bereits Rudolf Bultmann die Schlucht – die Rechtfertigung nicht durch Werke, sondern allein aus Glauben auf der einen Seite und die ethische Forderung auf der anderen Seite – dadurch zu überbrücken versucht, dass er von einer „Paradoxie oder Antinomie“10 zwischen dem Indikativ der Seins-Aussagen und dem Imperativ der SollensAussagen sprach und das Überqueren der Brücke als einen Wechsel der Intentionalität ethischen Handelns erklärte: „Das sittliche Handeln des neuen Menschen kann natürlich nicht mehr den Sinn der ‚Werke‘ haben, d.h. es kann ... nicht die Gerechtigkeit realisieren wollen; denn diese ist ja realisiert. Es kann nur den Sinn des Gehorsams haben.“11

Später wird Bultmann dieses Verhältnis dann im Sinne eines „Werde, der du bist!“ erklären12 und dementsprechend formulieren: „Wir sehen jetzt, daß der Indikativ den Imperativ hervorruft. Der Indikativ ist Ausdruck des neuen Selbstverständnisses des Glaubenden, weil die Aussage: ‚Ich bin von der Sünde befreit‘ keine dogmatische Aussage ist, sondern eine existentielle. Es ist das Bekenntnis des Glaubenden, daß seine ganze Existenz neu geworden ist. Da seine Existenz auch den Willen umfaßt, erinnert ihn der Imperativ, daß er von der Sünde befreit ist, sofern sein Wille neu ist im Gehorsam gegen das Gebot Gottes.“13

Pauline ethic“ (Theology and Ethics in Paul, Nashville 1968, 9); vgl. auch die Akkumulation der Anfragen bei ZIMMERMANN, Jenseits (s. Anm. 4), 260f. 10 BULTMANN, Problem (s. Anm. 3), 36: „d.h. [als] sich widersprechende und gleichwohl zusammengehörige Aussagen, die aus einem einheitlichen Sachverhalt herauswachsen“; s. auch ebd. 40.54 sowie K. NIEDERWIMMER, Das Problem der Ethik bei Paulus, ThZ 24 (1968) 81–92, hier 82; SCHULZ, Ethik (s. Anm. 9), 381; W. MARXSEN, „Christliche“ und christliche Ethik im Neuen Testament, Gütersloh 1989, 163; U. LUZ, Eschatologie und Friedenshandeln bei Paulus, in: ders. u.a., Eschatologie und Friedenshandeln (SBS 101), Stuttgart 1981, 153–193, hier 176f. – Demgegenüber hielt E. KÄSEMANN diese „Redeweise“ für „durchaus fragwürdig“; er sieht den „sogenannte(n) Imperativ (als) in den Indikativ integriert“ an, weil „Gabe und Aufgabe darin zusammen(fallen), daß sie den Stand unter der Herrschaft Christi bezeichnen“ (An die Römer [HNT 4a], Tübingen 41980, 166.167). 11 BULTMANN, Problem (s. Anm. 3), 51. 12 R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 61968, 334. – Dieses Wort wird immer wieder auf Pindar zurückgeführt (z.B. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments [s. Anm. 9], 158; J. D. G. DUNN, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids / Cambridge 1998, 630), obwohl es bei ihm nirgends belegt ist. In die Nähe kommt allenfalls Pindar, Pyth. 2,72: γένοι’, οἷος ἐσσι μαθών („werde einer, der erkennt, wie du beschaffen bist“). – Die Formulierung „Werde, der du bist“ findet sich erstmals bei FRIEDRICH NIETZSCHE: z.B. Die fröhliche Wissenschaft (KSA 3), München 1999, Aphorismus 270: „Was sagt dein Gewissen? – Du sollst der werden, der du bist“; ähnlich auch der Untertitel von Nietzsches Ecce Homo: „Wie man wird, was man ist“. 13 R. BULTMANN, Jesus Christus und die Mythologie, in: ders., Glauben und Verstehen IV, Tübingen 21967, 141–189, hier 183.

5. Identität und Ethos bei Paulus

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In jüngeren Darstellungen wird diese Brücke auch gerne „Dialektik“ genannt14, oder es werden Metaphern bemüht, die das von Paulus Gemeinte veranschaulichen sollen. Da heißt die Brücke dann „Bewährung“, und zwar der bereits bestehenden Wirklichkeit des Heils in einem bestimmten Handeln.15 Diese Konstruktion basiert jedoch auf der Vorstellung von so etwas wie einer Rechtfertigung auf Probe oder einer Taufe unter Vorbehalt, was mit der paulinischen Theologie aber nicht besonders viel zu tun hat.16 In den paulinischen Texten findet diese Spannung ihr Widerlager vor allem darin, dass für Paulus der Indikativ der δικαιοσύνη διὰ πίστεως eben darum eine Gerechtigkeit „ohne Werke des Gesetzes“ ist (Röm 3,28; s. auch 3,21; Gal 2,16; 3,11.21; Phil 3,9), weil das Gesetz auf dem Prinzip des Tuns (ποιεῖν) basiert (Röm 10,5f; Gal 3,10–12) und weil das Beispiel Abrahams zeigt, dass Gott schon immer nicht ἐξ ἔργων, sondern διὰ πίστεως gerecht gesprochen hat (Röm 4,2–5). Andererseits fordert Paulus aber auch immer wieder zum ethischen ποιεῖν und ἐργάζεσθαι auf (Röm 12,20; 13,3.10.14; 1.Kor 16,10; 2.Kor 13,7; Gal 6,9.10; Phil 2,14). 2. Bestandteil der Diskussion ist darüber hinaus ebenfalls seit längerem noch ein weiterer Aspekt desselben Problemzusammenhangs: die unterbestimmte materiale Exklusivität der paulinischen Ethik bzw. ihr eigentlich kaum erkennbares materialethisches Specificum. Es gibt nichts spezifisch Christliches in der paulinischen Ethik, vielmehr macht schon ein oberflächlicher Blick in die Texte deutlich, dass die ethische Weisung des Paulus ausgesprochen inklusiv ausgerichtet ist. Verwiesen sei nur auf die Tugend- und Lasterkataloge17, auf die allgemeinen Aufforderungen zum καλὸν ποιεῖν 14

Z.B. von SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments (s. Anm. 9), 161 u.ö.; U. H. J. KÖRTRechtfertigung und Ethik bei Paulus. Bemerkungen zum Ansatz paulinischer Ethik, WuD NF 16 (1981) 93–109, hier 107. 15 Vgl. z.B. J. BECKER, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 31998, 460: „Vollziehe die endzeitliche Christuswirklichkeit, die du durch Evangelium, Taufe und Geist geworden bist, indem du dich als Glied am Leibe Christi bewährst“; E. LOHSE, Theologische Ethik des Neuen Testaments (ThW 5/2), Stuttgart u.a. 1988, 9. 16 Dieselbe Verlegenheit spiegelt sich auch in dem Versuch Dieter Zellers, das Verhältnis von Indikativ und Imperativ in der paulinischen Theologie unter Rückgriff auf die Modalitätentheorie von A. J. Greimas zu erklären: „Während die Prinzipien und Normen dem Dürfen und Sollen zugeordnet sind und die Motive dem Wollen Anreiz geben, hat es der Indikativ mit dem Können zu tun. Der Imperativ verhält sich dazu wie Verwirklichung zu Ermöglichung (nicht: Möglichkeit!)“; D. ZELLER, Wie imperativ ist der Indikativ?, in: Ethik im Neuen Testament, hg. v. K. Kertelge (QD 102), Freiburg u.a. 1984, 190–196, hier 190. Dasselbe gilt auch für die Formulierung, wonach „der Imperativ als wahrnehmbarer Ausdruck des Indikativs (diesen) vollzieht, ohne ihn damit realisieren zu müssen“ (U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart [GTA 24], Göttingen 21986, 106). 17 Vgl. Röm 13,13; 1.Kor 5,10f.; 6,9f.; 2.Kor 12,20; Gal 5,19–21.22f; Eph 4,31; Phil 4,8; Kol 3,5.8.12; 1.Tim 1,9f.; 6,11; Tit 3,3; 1.Petr 2,1; 3,8; 4,3. NER,

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oder zum ἀγαθὸν ἐργάζεσθαι (Gal 6,9–10) oder auch auf Phil 4,8 („... was wahr, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was anerkannt, was auch immer tugendhaft, was auch immer lobenswert ist, ταῦτα λογίζεσθε“). Es sind vor allem Texte wie diese, die immer wieder als Begründung für die Annahme angeführt werden, dass die paulinische Ethik in materialer Hinsicht nichts Neues bringe.18 Für jede ethische Weisung und für jeden ethischen Wert, die wir bei Paulus finden, gibt es eine außerneutestamentliche Parallele. Und was sich nicht aus der paganen Umwelt ableiten lässt, findet sich im Judentum. Da hilft es auch nichts, wenn man darauf verweist, dass es erforderlich ist, „neben aller Integration antiker Ethik auch die dabei sich vollziehende Auswahl und Sichtung des vielfältigen ethischen Gutes nicht zu vergessen. ... Alle Rezeption war also eine selektive und kritische und keine vorbehaltlose“.19 Ein Blick in unsere Texte zeigt nämlich, dass gerade nicht die randständigen Normen und Werte rezipiert wurden, sondern die konsensfähigen: Um „Hader, Neid, Zorn, Zank, üble Nachrede, Verleumdung, Aufgeblasenheit, Unordnung“ (2.Kor 12,20) schlecht und „Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue ...“ (Gal 5,22f) gut zu finden, musste man nicht erst Christ werden. Diese materiale Inklusivität der paulinischen Sollensaussagen ist um so auffälliger, als sie in einer interessanten Spannung zu der nicht zu übersehenden Exklusivität der Seinsaussagen steht, denn Paulus beschreibt die Identität seiner Gemeinden in dualistischer Abgrenzung von der nichtchristlichen Mehrheitsgesellschaft (οἱ ἔξω: 1.Kor 5,12.13; 1.Thess 4,12; οἱ λοιποί: 4,13; 5,6): Die Christen haben ihr πολίτευμα im Himmel (Phil 3,20), sie sind „Tempel Gottes“ (1.Kor 3,16). Als „Heilige“ (ἅγιοι) stehen sie den Nichtchristen als den ἄδικοι gegenüber (1.Kor 6,1), als „Kinder des Lichtes und des Tages“ denen der „Nacht und Finsternis“ (1.Thess 5,5–8). Sie sind „makellose Kinder Gottes inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts“ (Phil 2,15). – In diesen Zusammenhang gehören auch diejenigen ekklesiologischen Prädikate, die aus dem semantischen Feld der Erwählung Israels stammen und den Gemeinden einen Status zuweisen, der dem Status

18

Vgl. z.B. BULTMANN, Problem (s. Anm. 3), 51; G. STRECKER, Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, ZThK 75 (1978) 117–146; K.-W. NIEBUHR, Gesetz und Paränese (WUNT 2/28), Tübingen, 1987; BECKER, Paulus (s. Anm. 15), 461; A. J. MALHERBE, Hellenistic Moralists and the New Testament, ANRW 2/26/2 (1992) 267–333; R. B. HAYS, The Moral Vision of the New Testament, San Francisco, 1996, 41: „Paul’s norms could be derived from Hellenistic philosophy or from what was ‚in the air‘ in Hellenistic popular culture. ... Alternatively, some of his norms could be retained from his pharisaic Jewish heritage ... Many of his standards for sexual morality ... are carried forward directly from Jewish tradition.“ – S. auch die Darstellung von HORRELL, Solidarity (s. Anm. 2), 19ff.153ff. 19 SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments (s. Anm. 9), 191f.

5. Identität und Ethos bei Paulus

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Israels entspricht20: Sie sind „heilig“ (Röm 1,7; 16,2.15; 1.Kor 1,2; 6,1f; 14,33; 16,15; 2.Kor 1,1; 13,12; Phil 1,1; 4,21f; Phlm 5.7) und „Kinder Gottes“ (Phil 2,15 unter Anknüpfung an Dtn 32,5), von Gott „erwählt“ (Röm 8,33; 1.Thess 1,4), „geliebt“ (Röm 1,7; 1.Thess 1,4 u.ö.), „berufen“ (Röm 1,6f; 8,28; 1.Kor 1,2.24; 1.Thess 2,12; 5,24) bzw. „erkannt“ (1.Kor 8,3; Gal 4,9).21

II. Identität und Ethos Der vorstehende Abschnitt hat eine doppelte Spannung sichtbar gemacht, mit der sich die Frage nach der paulinischen Ethik auseinanderzusetzen hat. Sie bestimmt zum einen die Frage nach dem Verhältnis von „Indikativ“ und „Imperativ“ innerhalb der ethischen Begründungszusammenhänge in den paulinischen Briefen, insofern nämlich der „Indikativ“ die Teilhabe am Heil Gottes einzig und allein der πίστις Χριστοῦ zusagt und damit ein ethisches Handeln theologisch zu depotenzieren scheint. Zum anderen besteht sie in der fehlenden Korrelation von exklusiven Identitätsaussagen einerseits und inklusiven ethischen Weisungen andererseits. Im Folgenden möchte ich nun zeigen, dass diese beiden Spannungen nicht nur unmittelbar miteinander zusammenhängen, sondern dass sie gerade durch ihre Bezogenheit aufeinander aufgehoben werden und sich in eine neue Gesamtinterpretation der paulinischen Ethik als eines theologisch kohärenten Begründungszusammenhangs verwandeln lassen. Für dieses Unterfangen möchte ich als analytische Leitkategorie den Begriff des „Ethos“ einführen. Ich verwende ihn im Folgenden nicht als eine quellensprachliche, sondern als eine interpretationssprachliche Kategorie, und zwar mit folgender Bedeutung: 1. Unter einem Ethos verstehe ich einen Kanon von institutionalisierten Handlungen, die innerhalb eines bestimmten sozialen Systems in Geltung stehen. Ihnen wird Verbindlichkeit zugeschrieben, weil allererst durch solche Handlungen eine bestimmte Gruppe als solche erkennbar und erfahrbar wird. – Unterhalb dieser Ebene sind aber noch einige Differenzierungen vorzunehmen: 20 Vgl. die knappe Zusammenstellung bei W. A. MEEKS, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993, 181. – Für das Prädikat ἅγιοι ist gegen J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament (NTD.E 10), Göttingen 1993, festzuhalten, dass es durchaus nicht „nur selten ... auf ganz Israel angewandt (wird)“ (82); vgl. nur die bei D. KELLERMANN, Art. Heiligkeit II, TRE 14 (1985) 697–703, hier 700f genannten Belege sowie in der frühjüdischen Literatur 2.Makk 15,24; 3.Makk 2,6; SapSal 17,2; Jub 2,19; Philo, Praem. 123; PsSal 17,26.32.43. 21 Vgl. auch Kol 3,12, wo mit den ekklesiologischen Prädikaten ἐκλεκτοὶ τοῦ θεοῦ ἅγιοι καὶ ἠγαπημένοι unmittelbar an die Israel-Prädikate von Dtn 7,6f angeknüpft wird, s. noch Dtn 4,37; 10,15; 14,2; Ps 47,5; Jes 41,8f; 44,1fLXX; 1.Makk 1,25; Jub 2,19.

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a) In materialer Hinsicht stehen die Handlungen eines Ethos fest. Sie sind unverwechselbar, eindeutig und wiederholbar, so dass sie nicht durch immer neue ethische Entscheidungen und Begründungen generiert werden müssen. In funktionaler Hinsicht geht es einem Ethos niemals lediglich um die Handlung als solche oder um deren Ziel. Handlungen, die als Ethos in Geltung stehen, weisen vielmehr immer über sich hinaus, denn ihnen kommt die Aufgabe zu, die distinkte Identität einer bestimmten Gruppe unverwechselbar darzustellen und zur Anschauung zu bringen.22 In diesem Sinne kann ein Ethos als Objektivation von Identität gelten, insofern jedes soziale System ein bestimmtes Handeln als Ausdruck der Zugehörigkeit zu ihm sowohl verlangt als auch akzeptiert: „Die Gesellschaft, welche der Mensch als seinen notwendigen Lebenshorizont weiß ..., erwartet von ihren Mitgliedern die Konformität zu diesem Ethos, und von eben diesen Mitgliedern wird diese Konformität unmittelbar als sinnvoll erfahren.“23 Zum anderen bewirkt diese Verweisfunktion, dass diejenigen, die das normative Ethos einer Gruppe praktizieren, eben darin ihre Zugehörigkeit zu ihr wahrnehmen können. Auf Grund seiner Stabilität ist ein Ethos darum hervorragend geeignet, kognitive Identität in soziale Identität zu überführen, denn diese artikuliert sich immer als ethische Identität (das Adjektiv ‚ethisch‘ ist dabei als Ableitung vom Nomen ‚Ethos‘ verstanden). Es ist also keine Gruppe denkbar, die innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft als von ihr zu unterscheidende besondere Gruppe existiert, die ohne ein für sie spezifisches Ethos auskommt, das denen, die ihr angehören, „mit dem Anspruch von Verbindlichkeit gegenübertritt“24. Wolfgang Kluxen hat zudem davon gesprochen, dass durch die Handlungen eines Ethos die „Sozialität“ einer Gemeinschaft „verwirklicht“ wird.25 Einem Ethos kommt darum immer auch eine wichtige Vergewisserungsfunktion zu. Diese Funktion eines Ethos entspricht dem, was Friedrich Schleiermacher in der „Allgemeine(n) Einleitung“ zu seiner Sittenlehre als eine der „zwei Hauptarten“ christlichen Handelns bezeichnet hat: das vom „wirksamen Handeln“ zu unterscheidende „darstellende Handeln“, „durch welches der Mensch ... die innere Bestimmtheit des Selbstbewusstseins äußerlich

22

Vgl. in diesem Sinne auch TH. SCHMELLER, Neutestamentliches Gruppenethos, in: Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament, hg. v. J. Beutler (QD 190), Freiburg u.a. 2001, 120–134, hier 120: „Eigentlich ist jedes Ethos Gruppenethos.“ 23 W. KLUXEN, Die Ethik des Ethos, Freiburg/München 1974, 22. 24 KLUXEN, ebd. 47; vgl. auch M. VOLF, Christliche Identität und Differenz, ZThK 92 (1995) 357–375, hier 359: „Jede soziale Einheit, die nicht mit der ganzen Gesellschaft identisch ist ... muß sich durch große oder kleine Differenzen von der umgebenden Kultur absetzen, um überhaupt als distinkt zu existieren, jede muß ‚boundary maintenance‘ üben.“ 25 KLUXEN, Ethik (s. Anm. 23), 22.

5. Identität und Ethos bei Paulus

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fixiren“ wolle und das nichts anderes sei „als der Ausdruck unseres gemeinsamen christlichen Zustandes“26. b) Jede soziale Entität, die innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft als Gruppe existiert, muss sich einerseits von denen, die ihr nicht angehören, abgrenzen, andererseits aber auch mit ihnen koexistieren. Daraus folgt, dass das Ethos jeder Gruppe aus einer Mischung von exklusiven und inklusiven Handlungen bestehen muss. Hierbei handelt es sich natürlich um eine idealtypische Unterscheidung, die aber nicht nur sinnvoll, sondern auch nötig ist: Durch exklusive Handlungen unterscheidet sich eine Gruppe von ihrer Umwelt, und ihre Mitglieder bestätigen einander durch diese Handlungen die Besonderheit ihrer Identität. Handlungen, die ein exklusives Ethos konstituieren, fungieren darum nach innen als „identity markers“ und nach außen als „boundary markers“.27 Demgegenüber werden inklusive Handlungen auch außerhalb der Gruppe praktiziert; sie dienen dementsprechend der Integration der Gruppe und ihrer Mitglieder in die Mehrheitsgesellschaft.28 Keine Gruppe, die als Gruppe existieren und wahrgenommen werden will, kann darum auf ein zumindest partiell exklusives Ethos verzichten. Insofern jede Gruppe aber auch darauf angewiesen ist, mit und innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu existieren, müssen zu ihrem Handlungsrepertoire zumindest partiell auch Elemente eines inklusiven Ethos gehören. Das ethische Profil einer Gruppe wird darum immer durch das spezifische Mischungsverhältnis zwischen exklusiven und inklusiven Handlungen in ihrem Ethos bestimmt. Dabei besteht zwischen dem Ausmaß ihrer Integration in die Mehrheitsgesellschaft und dem jeweiligen Anteil von inklusiven und von exklusiven Handlungen an ihrem Ethos ein unmittelbarer Zusammenhang: Je größer der Anteil der inklusiven Handlungen an ihrem Ethos ist, desto integrierter ist sie, je größer der Anteil der exklusiven Handlungen ist, desto desintegrierter ist sie. Gut veranschaulichen lässt sich die Korrelation von Ethos und Identität, wie wir sie im vorstehenden Abschnitt beschrieben haben, am Beispiel des hellenistisch-jüdischen Diasporajudentums:29 26 F. SCHLEIERMACHER, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, neu hg. u. eingel. v. W. E. Müller, Teil 1, Waltrop, 1999, 50.51. 27 Vgl. J. D. G. DUNN, Works of the Law and the Curse of the Law (Gal. 3.10–14), in: ders., The New Perspective on Paul, Grand Rapids / Cambridge 2008, 121–140 (bes. 122ff mit Verweis auf M. DOUGLAS, Purity and Danger, London 1966, und H. MOL, Identity and the Sacred, Oxford 1976). 28 KLUXEN, Ethik (s. Anm. 23), 62 unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen einem „geschlossenen“ und einem „offenen“ Ethos. 29 Zum Folgenden vgl. J. J. COLLINS, Between Athens and Jerusalem. Jewish Identity in the Diaspora, New York 1983; G. DELLING, Die Bewältigung der Diasporasituation durch das hellenistische Judentum, Göttingen 1987; M. SIMON, Das Problem der jüdischen Identi-

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Trotz der faktischen Vielfalt jüdischen Lebens in hellenistisch-römischer Zeit30 und obwohl das συνοικεῖν von Juden und Nichtjuden in der Diaspora (vgl. Philo, Flacc. 52; Leg. Gai. 201.371; Josephus, C. Ap. 2,32) jüdischerseits selbstverständlich auch die Teilhabe an einem inklusiven Ethos erforderlich machte31, gibt es doch keinen Zweifel daran, dass unterhalb dieser Ebene auch das Substrat eines exklusiven Gruppenethos existierte, dem unabhängig von seiner materialen Füllung, die durchaus unterschiedlich sein konnte, stets ein und dieselbe Funktion zukam: die spezifisch jüdische Identität zu repräsentieren und sie als solche nach innen und außen wahrnehmbar werden zu lassen.32 Es korrelierte dabei unmittelbar mit dem Selbstverständnis Israels als Gottes Eigentumsvolk, denn in der Besonderheit seines Ethos manifestiert sich seine Erwählung und Aussonderung aus den Völkern, und in ihm verwirklicht Israel als von Gott geliebtes und erwähltes Volk dementsprechend seinen „Erwählungsauftrag“33. Zwischen der religiösen Identität des Judentums und der Exklusivität des jüdischen Ethos besteht mithin eine unübersehbare Symmetrie.34 Paulus beschreibt diese Korrelation in Röm 2,17 (εἰ δὲ σὺ ’Ιουδαῖος ἐπονομάζῃ καὶ ἐπαναπαύῃ νόμῳ καὶ καυχᾶσαι ἐν θεῷ; vgl. auch 2.Kor 6,16f), und das, was wir eben „jüdisches Ethos“ genannt haben, heißt bei ihm ἔργα νόμου (Röm 3,20.28; Gal 2,16; 3,2.5.10).35 Diese fungieren im Hinblick auf das Judentum darum in der Tat als „identity markers“ oder „boundary mar-

tät in der Literatur des jüdischen Hellenismus, Kairos 30/31 (1988/89) 41–52; E. J. CHRISTIANSEN, The Covenant in Judaism and Paul, Leiden 1995. 30 Vgl. dazu und zu dem durchaus flexiblen Verhältnis von Tora und Halacha vor allem K. MÜLLER, Gesetz und Gesetzeserfüllung im Frühjudentum, in: Das Gesetz im Neuen Testament, hg. v. K. Kertelge (QD 108), Freiburg u.a. 1986, 11–27; DERS., Die Angewiesenheit der Tora auf die Halacha, BiKi 48 (1993) 118–127; L. H. FELDMAN, Jew and Gentile in the Ancient World, Princeton 1993, 76f. 31 Vgl. nur die Darstellungen bei COLLINS, Between (s. Anm. 29), 135ff; DELLING, Bewältigung (s. Anm. 29), 57ff; P. TREBILCO, Jewish Communities in Asia Minor, Cambridge 1991, 173ff; K.-W. NIEBUHR, Identität und Interaktion, in: Pluralismus und Identität, hg. v. J. Mehlhausen (VWGTh 8), Gütersloh 1995, 339–359, hier 346ff; FELDMAN, Jew (s. Anm. 30), 3ff; jeweils mit vielen Texten und weiterführender Literatur. 32 Hier werden im übrigen auch die Vorteile eines rein funktionalen Umgangs mit dem Ethos-Begriff erkennbar, weil durch ihn die Vielfalt des antiken Judentums nicht nivelliert wird. Denn sobald man die Frage nach dem jüdischen Ethos auf die materiale Ebene hebt (so z.B. J. D. G. DUNN, The New Perspective on Paul, BJRL 65 [1983] 95–122; mit einer „Additional Note“ wiederabgedruckt in: ders., Jesus, Paul and the Law, London 1990, 183– 214, hier 191ff), verliert er seine Trennschärfe: Wollte man z.B. die Beschneidung als ein für das jüdische Ethos charakteristisches Merkmal nennen, so könnte dies sofort durch den Hinweis auf die Allegoristen in Alexandrien (s. Philo, Migr. Abr. 89ff) oder den Kaufmann Ananias, der einen Übertritt zum Judentum ohne Beschneidung für möglich hält (s. Josephus, Ant. 20,41), relativiert werden. 33 J. MAIER, Torah und Pentateuch, Gesetz und Moral, in: Biblische und judaistische Studien. FS Paolo Sacchi, Frankfurt a.M. u.a. 1990, 1–54, hier 28; s. auch ebd. 7.31; M. LIMBECK, Die Ordnung des Heils, Düsseldorf 1971, 29ff. 34 Vgl. in diesem Sinne auch Dtn 14,1ff; 26,16–19; Jub 22,16; Philo, Jos. 42; Vit. Mos. 1,278.324; Decal. 14; Spec. Leg. 4,159; Virt. 35.119; Josephus, C. Ap. 2,170f.210; E. SCHWARZ, Identität durch Abgrenzung, Frankfurt a.M. 1982; P. J. TOMSON, Paul and the Jewish Law (CRI 3/1), Assen/Minneapolis 1990, 46; FELDMAN, Jew (s. Anm. 30), 45ff. 35 Vgl. auch J. M. G. BARCLAY, Obeying the Truth, Edinburgh 1988, 224.

5. Identität und Ethos bei Paulus

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kers“36, denn es sind nichts anderes als eben die am νόμος orientierten ἔργα, in denen Israel seinem Selbstverständnis nach die Möglichkeit fand, die Teilhabe an der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes zu bewahren (vgl. Lev 11,44f; 19,2–37; 20,22–26; Dtn 7,6–11; Ps 103,17f), und die damit seine Identität als Gottesvolk repräsentieren. Seine Bestätigung findet dieses Verständnis der ἔργα νόμου dann auch in zwei weiteren Texten, denen zufolge es ganz dezidiert die Erfüllung der Tora durch ἔργα ist, in der die Identität Israels zur Darstellung gebracht wird37: Philo, Praem. 82–83: „Solange nun die Gesetzesvorschriften (τὰ τῶν νόμων παραγγέλματα) nur im Munde geführt werden, erfahren sie geringe oder gar keine Schätzung; sobald aber abgeleitete und entsprechende Werke (ἀκόλουθα καὶ ἑπόμενα ἔργα) in allen Lebensbereichen hinzukommen, da steigen sie gleichsam aus tiefem Dunkel ans Licht empor und leuchten in hellem Glanze. Denn welcher ... Mensch wird nicht einräumen, dass allein dieses Volk weise und am verständigsten ist, dem zuteil wurde ... nicht zuzulassen, dass die göttlichen Mahnungen in den Wind gesprochen wurden, da die entsprechenden Handlungen (πράξεις) ausblieben, sondern die Worte durch lobenswerte Werke (ἔργα ἐπαίνετα) zu erfüllen?“ 36 Vgl. vor allem DUNN, New Perspective (s. Anm. 32); DERS., Works of the Law (s. Anm. 27), 215–241, bes. 216–219: „The Social Function of the Law“; R. HEILIGENTHAL, Werke als Zeichen (WUNT 2/9), Tübingen 1983, 127ff: die ἔργα νόμου als „Zeichen der Gruppenzugehörigkeit“ (128; problematisch ist daran jedoch der Zeichen-Begriff). 37 Damit erweist sich die von MICHAEL BACHMANN mehrfach vorgetragene Ansicht, mit dem Ausdruck ἔργα νόμου seien nicht „Gebotserfüllungen, sondern ... die Regelungen des Gesetzes selber“ gemeint (Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus, ThZ 49 [1993] 1– 33, hier 15; s. auch DERS., 4QMMT und Galaterbrief, hrwth yf[m und ἔργα νόμου, ZNW 89 [1998] 91–113) als nicht sachgerecht; vgl. auch H.-W. KUHN, Die Bedeutung der Qumrantexte für das Verständnis des Galaterbriefes, in: New Qumran Texts and Studies, ed. G. J. Brooke, Leiden u.a., 1994, 169–221, S. 212; CH. BURCHARD, Nicht aus Werken des Gesetzes gerecht, sondern aus Glauben an Jesus Christus – seit wann?, in: Geschichte – Tradition – Reflexion III. FS Martin Hengel, Tübingen 1996, 405–415, hier 410f; O. HOFIUS, „Werke des Gesetzes“, in: Paulus und Johannes, hg. v. D. Sänger / U. Mell (WUNT 198), Tübingen 2006, 271–310; J. D. G. DUNN, Noch einmal „Works of the Law“: The Dialogue Continues: in: ders. New Perspective (s. Anm. 32), 413–428, hier 418ff. – Darüber hinaus könnte eine traditionsgeschichtliche Grundlage für das Syntagma ἔργα νόμου trotz syrBar 57,2; 4QMMT C 27 sowie 1QS 5,21; 6,18 (jeweils hrwtb yf[m; in 4Q174 3,7 ist wohl hdwt yf[m zu lesen) möglicherweise auch in griechischen Texten gefunden werden: Philostratus spricht zweimal von νόμου ἔργα (Ep. et Dial. 2,2) und kennzeichnet damit alles, was im Unterschied zu den φύσεως ἔργα von Händen (πᾶν τὸ ὑπὸ χεῖρα) gemacht ist. Demokrit kennt ἔργα ... νόμιμα (Frgm. 174), Aristoteles καλὰ ἔργα, die ὁ νόμος κελεύει (Rhet. 1,9,8), und ἀνδρείου ἔργα, die προστάττει ὁ νόμος (Eth. Nic. 1129b20). Davon abgesehen kann die Formulierung ἔργα νόμου vielleicht auch als Analogiebildung zu ἔργα ἀρετῆς o.ä. verstanden werden (z.B. Xenophon, Cyrop. 1,5,8; Polybius, Hist. 6,11a; Diogenes Laertius 6,70; Plutarch, Brut. 49,7; s. auch Per. 1,4). In hellenistisch-jüdischen Schriften ist der Ausdruck ἔργα νόμου nirgends belegt. Dass Paulus mit dieser Formulierung selbstverständlich immer „Werke der Tora“ meint, ändert daran nichts. Man darf nur nicht das Designat eines Begriffs mit seinem Denotat verwechseln. Die Zahl der griechischen Belege ist jedenfalls nicht geringer als die der hebräischen. Wenn M. HENGEL / A. M. SCHWEMER in dieser Hinsicht den gegenteiligen Eindruck erwecken wollen (Paulus zwischen Damaskus und Antiochien [WUNT 108], Tübingen 1998, 167 Anm. 675), so widerspricht dem allein schon die geringe Zahl der jüdischen Texte, in denen dieser Ausdruck begegnet.

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Josephus, C. Ap. 2,291–292: „Die νόμοι ... werden stets durch die Werke bekräftigt (τοῖς ἔργοις ἀεὶ βεβαιούμενοι), denn ταῦτα (d.h. die ἔργα) ... weisen wir vor als beweiskräftiger als die schriftlichen Zeugnisse (παρέχομεν τῶν γραμμάτων ἐναργέστερα).“

c) Die Aneignung eines Ethos erfolgt im Wege der Sozialisation, d.h. zunächst vor allem durch die primäre, dann aber auch durch die sekundäre Sozialisation38, die sich innerhalb derselben symbolischen Sinnwelt abspielt wie die primäre Sozialisation. Davon zu unterscheiden ist noch einmal der von Peter L. Berger und Thomas Luckmann beschriebene Vorgang der Resozialisation39: Sie geht immer mit einer Bekehrung einher, und sie verläuft genauso wie die primäre Sozialisation, mit dem Unterschied allerdings, dass sie „nicht ex nihilo beginn(t)“, sondern die „Demontage“ einer bereits erfolgten Primärsozialisation mit sich bringt40. Eine Bekehrung führt nicht nur zu einem neuen Wirklichkeitsverständnis41, sondern auch zu einem Wechsel des Ethos. Jede Bekehrung wird erst dann zu einer auch existentiellen Wirklichkeit, wenn sie in die Übernahme eines neuen Ethos mündet, das sich von dem der Zeit vor der Konversion unterscheidet. 2. Mit der Veränderung der analytischen Begriffe, mit deren Hilfe ein Forschungsgegenstand untersucht wird, verändert sich aber auch die Wahrnehmung dieses Gegenstands selbst.42 Im Blick auf das Neue Testament führt die Frage nach institutionalisierten Handlungen und ihrer Funktion als Repräsentation/Veranschaulichung/Objektivation von Identität zu den 38 Die primäre Sozialisation erfolgt in der Kindheit. In ihr lernt das Kind das Ethos der Gemeinschaft, in die es hineinwächst, zu internalisieren und zu habitualisieren (vgl. P. L. BERGER / TH. LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1980, 139ff), während als sekundäre Sozialisation „jeder spätere Vorgang“ gilt, der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist (ebd. 141). Sie ist immer dann erforderlich, wenn es für einen einzelnen zu einem Status- oder Rollenwechsel innerhalb eines sozialen Systems kommt, der die Internalisierung und Habitualisierung spezifischer Ethossegmente verlangt (z.B. wenn eine Person Student, Vater, Mutter, König, Lehrer, Bischof wird). 39 BERGER/LUCKMANN, ebd. 168ff. 40 BERGER/LUCKMANN, ebd. 168. 41 Vgl. BERGER/LUCKMANN, ebd. 169: „Die neue Plausibilitätsstruktur muß die Welt des Menschen werden, die alle anderen Welten und besonders die, welche er vor seiner Konversion ‚bewohnte‘, verdrängt.“ – Es ist aufschlussreich, dass Berger/Luckmann unmittelbar vorher auf das frühe Christentum Bezug genommen haben: „Nur im Rahmen der Religionsgemeinschaft, der ‚Ecclesia‘, bleibt eine (religiöse, M.W.) Konversion wirklich plausibel. ... Eine Konversion als Erlebnis bedeutet nicht allzu viel. Entscheidend ist, daß man dabei bleibt, daß man das Erlebnis ernst nimmt und sich den Sinn für seine Plausiblilität erhält. Hier nun kommt die Gemeinde ins Spiel. Sie liefert die unerläßliche Plausibilitätsstruktur für die neue Wirklichkeit“ (169). 42 Vgl. dazu BERGER/LUCKMANN, ebd., 24f.36ff; H. STENGER / H. GEISSLINGER, Die Transformation sozialer Realität, Kölner Zs. f. Soziologie u. Sozialpsychologie 43 (1991) 247–270.

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folgenden Verschiebungen gegenüber der im Allgemeinen üblichen Frage nach der „Ethik“: a) In den Blick treten damit nicht nur die klassischen ethischen Fragestellungen, sondern alle sozialen Institutionen mit Veranschaulichungs- und Verweisfunktion. Da sie von zentraler Bedeutung für die Objektivation von Identität sind, dürfen sie nicht unter den Tisch fallen. Näherhin handelt es sich z.B. um: Beschneidung, Feiertags- und Kalenderobservanz, Beachtung von Speisegeboten sowie Fragen der rituellen und der kultischen Praxis, der Kleidung und des Aussehens. Dass damit die Diskussion um das sog. „Proprium der christlichen Ethik“43 ein sehr viel schärferes Profil bekommt, liegt auf der Hand. Sie beschränkt sich nicht mehr nur auf die Frage, ob es für die neutestamentlichen Autoren auch in inhaltlicher Hinsicht „eine spezifisch christliche Norm sittlichen Handelns“ gibt44 oder ob der christliche Glaube allgemeingültigen ethischen Standards lediglich „einen neuen Sinn“ verleiht45, sondern sie bezieht auch die Ebene des institutionalisierten Handelns ein, das auf Grund seiner Selbstverständlichkeit nicht mehr über die ihm zugrundeliegenden Normen reflektiert. b) Ethisches Handeln vollzieht sich immer in bestimmten lebensweltlichen Kontexten oder Handlungsfeldern. Das können zum einen alltägliche Kontexte sein wie der Bereich von Haus, Ehe und Familie oder der Bereich der lokalen Öffentlichkeit mit ihren sozialen, rechtlichen und politischen Konventionen. Zum anderen kann es sich dabei aber auch um außeralltägliche Kontexte handeln wie z.B. säkulare und/oder religiöse Feste und Feiern (von Gottesdiensten über Opferfeste bis hin zu Stiftungsfesten und Geburtstagsfeiern oder Vereinskasualien). Diese Unterscheidung ist darum in die Frage nach dem Ethos der frühen christlichen Gemeinden einzubeziehen: Welche Kontexte sind jeweils betroffen? Handelt es sich dabei um alltägliche oder um außeralltägliche Kontexte? c) Für die Analyse der ethischen Weisungen, wie wir sie in den paulinischen Briefen vorfinden, ist darüber hinaus noch eine sprachliche und literarische Näherbestimmung erforderlich. Sie ist aber nicht ganz einfach, weil sie Äquivokationen enthält, die auf unterschiedlichen quellensprachlichen Begriffsverwendungen basieren: 43

Formulierung nach STRECKER, Strukturen (s. Anm. 18), 137. W. SCHRAGE, Die konkreten Einzelgebote der paulinischen Paränese, Gütersloh 1961, 187; s. auch LUZ, Eschatologie (s. Anm. 10), 177. 45 BULTMANN, Problem (s. Anm. 3), 51; s. auch E. DINKLER, Zum Problem der Ethik bei Paulus. Rechtsnahme und Rechtsverzicht (1Kor 6,1-11), in: ders., Signum Crucis, Tübingen 1967, 204–240, hier 237f; H. THIELICKE, Theologische Ethik I, Tübingen 1951, 20: „Das spezifisch Christliche wird ... ausdrücklich und ausschließlich in der Motivation des Handelns zu sehen sein“; H. CONZELMANN, Grundriss der Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1967, 310; STRECKER, Strukturen (s. Anm. 18), 137; SCHULZ, Ethik (s. Anm. 9), 1987, 386ff. bes. 391; MARXSEN, Ethik (s. Anm. 10), 165ff. 44

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In der antiken Rhetorik ist es das Genus deliberativum (griech. γένος συμβουλευτικόν)46, in dem das stattfindet, was wir als ethische Weisung bezeichnen. Für dieses Redegenus ist nach Aristoteles charakteristisch, dass die Hörer oder Leser immer zu einem bestimmten Handeln aufgefordert werden oder dass ihnen von einem bestimmten Handeln abgeraten wird. Es geht damit bei diesem Genus immer um „Hinwendung“ oder um „Abwendung“ (τὸ μὲν προτροπὴ τὸ δὲ ἀποτροπή, Aristoteles, Rhet. 1,3,3). Sein Gegenstand ist immer „das Nützliche und das Verderbliche“ (τὸ συμφέρον καὶ βλαβερόν), denn – so führt Aristoteles zur Begründung aus – ὁ μὲν γὰρ προτρέπων ὡς βέλτιον συμβουλεύει, ὁ δὲ ἀποτρέπων ὡς χεῖρον ἀποτρέπει („denn wer zurät, empfiehlt etwas als besser, wer aber abwendet, wendet von etwas als einem schlechteren ab“, ebd. 1,3,5).47 In Orientierung an diesen beiden Möglichkeiten der ethischen Weisung unterscheide ich im Folgenden zwischen protreptischen (d.h. „empfehlenden“) und apotreptischen (d.h. „abwendenden“) Weisungen oder Mahnungen. – Nicht nur auf Grund der Tatsache, dass Paulus im 1. Korintherbrief zwei Mal als protreptisches ethisches Kriterium den „Nutzen“ für die Gemeinde herausstellt (6,12 und 10,23: „alles ist [mir] erlaubt, aber nicht alles nützt [συμφέρει]“), ist offenkundig, wie er den Gemeinden in seinen Briefen gegenübertritt. Er spielt die Rolle des „deliberativen“ Redners im Sinne des oben zitierten Aristoteles-Textes, der seinen Lesern „das Nützliche“ empfiehlt, und nicht die des philosophischen Lehrers, der im Sinne des eingangs abgedruckten PseudoPlutarch-Textes einen Vortrag über die Heilung der Seele hält. Das Problem besteht nun jedoch darin, dass auf einer anderen Ebene der Begriff „protreptisch“ mit einer ganz anderen Bedeutung noch einmal vorkommt, und zwar in Abgrenzung von „paränetisch“. Auch diese Unterscheidung hat eine quellensprachliche Grundlage, die in Pseudo-Isocrates, Demon. 3–5 greifbar wird: Der Autor unterscheidet hier zwischen προτρεπτικοὶ λόγοι, die für die eigenen Freunde bestimmt seien und zur Redekunst anleiteten (ἐπὶ λόγον παρακαλεῖν), und zwischen einer παραίνεσις, die der Jugend gelte und deren Lebensweise verbessern wolle (τὸν τρόπον ... ἐπανορθεῖν). Deren Aufgabe bestünde darin zu raten (συμβουλεύειν) – und nun unterscheidet auch Pseudo-Isocrates zwischen protreptischer und apotreptischer Paränese –, „welche Dinge die jungen Leute anstreben sollen und von welchen Handlungen sie sich fernhalten sollen und mit welchen 46

Für die Unterscheidung der rhetorischen Genera vgl. klassisch Aristoteles, Rhet. 1,3. Diese Unterscheidung wird z.B. auch in den späteren Brieftypologien aufgenommen; vgl. z.B. Ps.Demetrius, Form. Epist. 11 (7,3f Weichert): Einen paränetischen Brief schreiben wir, „wenn wir, die eigene Meinung vortragend, zu etwas hinführen (προτρέπωμεν) oder von etwas abwenden (ἀποτρέπωμεν)“; Ps.Libanius, Form. Epist. 1 (15,5–8 Weichert): ἡ παραίνεσις δὲ εἰς δύο διαιρεῖται, εἴς τε προτροπὴν καὶ ἀποτροπήν („die Paränese zerfällt in zwei Teile: in Hinführung und Abwendung“). 47

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Menschen sie sich abgeben sollen und wie sie ihr eigenes Leben gestalten sollen“ (ὧν χρὴ τοὺς νεωτέρους ὀρέγεσθαι καὶ τίνων ἔργων ἀπέχεσθαι καὶ ποίοις τισὶν ἀνθρώποις ὁμιλεῖν καὶ πῶς τὸν ἑαυτῶν βίον οἰκονομεῖν).48 – In Orientierung an dieser Differenzierung unterscheide ich im Folgenden zwischen protreptischen und paränetischen Mahnungen: Bei den erstgenannten handelt es sich um Mahnungen mit Schwellenfunktion. Sie fordern entweder dazu auf, eine bestehende Existenzorientierung beizubehalten oder sie allererst zu übernehmen (letzteres z.B. in Bekehrungspredigten).49 Es ist bemerkenswert, dass sich im Neuen Testament fast nur Texte finden, die dazu auffordern, die bestehende Lebensorientierung zu bewahren. Hierin dürfen wir ein Indiz dafür sehen, dass es den Autoren der neutestamentlichen Schriften vor allem um Vergewisserung und Stabilisierung ihrer Leser geht. Als Beispiele können Texte wie Kol 3,1–450 gelten oder die wiederholten Aufforderungen des Hebräerbriefs zum „Festhalten“ (κατέχειν, 3,6.14; 10,23) und „bewahren“ (κρατεῖν, 4,14; 6,18) des christlichen Bekenntnisses, der Zugehörigkeit zur Gemeinde etc. (s. auch 2,3; 3,12f; 12,3.12f.25)51. Aufforderungen zur Abgrenzung von Gegnern oder „Irrlehrern“ gehören ebenso in diesen Zusammenhang (z.B. Mt 7,15; Mk 13,5parr.; Gal 5,1–12; 1.Tim 6,20) wie die Warnung vor den εἴδωλα in 1.Joh 5,21. Derartige Aufforderungen werden ganz zu Unrecht immer wieder als „paränetische“ Weisungen für eine Gestaltung der Lebensführung innerhalb der christlichen Gemeinde angesehen.52 Dasselbe gilt für die johanneischen Aufforderungen zum „Bleiben“ (μένειν, Joh 15,4–7.9; 1.Joh 2,27f; auch 2.Tim 3,14) oder für allgemeine Aufforderungen zum „Wachen“, „NüchternSein“, „Feststehen“ u.ä. (z.B. Mk 13,33.37; Eph 6,10–17; 1.Thess 5,6–8).

Demgegenüber verstehe ich unter einer paränetischen Mahnung eine Aufforderung, die eine protreptische Grundentscheidung voraussetzt und das 48 Darüber hinaus kennzeichnet „Protreptik“ auch die „in der Sophistik entstandene Form der Werbeschrift für eine bestimmte Kunst oder Wissenschaft“ (O. GIGON, LAW 2459); vgl. auch K. GAISER, Protreptik und Paränese bei Platon (TBAW 40), Stuttgart 1959; K. BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW 2/25/2 (1984) 1031– 1432.1831–1885, hier 1138ff. 49 Unter einer protreptischen Mahnung im oben genannten Sinn verstehe ich dementsprechend „alles, was die grundsätzliche Wahl des ... Weges zum Thema macht“ (K. BERGER, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 217); für diejenigen, die schon dazugehören, besteht sie in der „Aufforderung, festzuhalten an dem, was man hat, und zu bleiben bei dem, was am Anfang grundgelegt wurde“ (219). 50 Vgl. dazu M. WOLTER, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh 1993, 115.164ff; DERS., Kolosser 1,24 – 2,23 (3,4), in: „Le Christ tout en tous“ (Col 3,11). L’épître aux Colossiens, éd. par B. Standaert (SMBen.BE 16), Rom 2003, 29–68, hier 40. 51 Dies gilt auch für alle Versuche, die Aufforderungen zur „Standhaftigkeit in Verfolgung und Leiden“ in der Johannesoffenbarung als „ethisches Motiv“ zu interpretieren (J. KERNER, Die Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra [BZNW 94], Berlin / New York 1998, 39ff; Zitate S. 51.39) oder die Einweisung in die Leidensnachfolge bei Mk als „ethische“ Aufforderungen zu deuten (z.B. W. SCHRAGE, Art. Ethik IV, TRE 10 [1982] 435-462, S. 444; s. auch DERS., Ethik des Neuen Testaments [s. Anm. 9], 132ff). 52 So z.B. von R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II (HThK.S 2), Freiburg u.a. 1988, 245ff.

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konkrete Verhalten im Binnenraum der Existenzorientierung normiert, zu deren Beibehaltung oder Übernahme die protreptischen Weisungen aufgefordert haben. Im Bild gesagt: protreptische Weisungen fordern dazu auf, ein bestimmtes Haus zu betreten, oder sie warnen davor, es zu verlassen. Demgegenüber sagen einem die paränetischen Weisungen, was man innerhalb des Hauses tun und was man lassen soll. – Wenn wir von hier aus einen ersten Blick auf die ethischen Weisungen der paulinischen Briefe werfen, ist offenkundig, dass z.B. Röm 6,12–23 als protreptische Mahnrede in dem zuletzt dargelegten Sinn zu verstehen ist, während z.B. Röm 14,1 – 15,7 als paränetische Mahnrede gelten kann, die nach zwei Seiten hin, d.h. protreptisch und apotreptisch ausformuliert wird.

III. Der funktionale Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos Wenn wir von der Frage nach der Korrelation von Ethos und Identität ausgehen, sind wir in der Lage, das Verhältnis von „Indikativ“ (Seinsaussagen) und „Imperativ“ (Sollensaussagen)53 bei Paulus präziser zu beschreiben, als es bisher möglich war. 1. Auszugehen ist davon, dass man das paulinische Christentum als eine Bekehrungsreligion charakterisieren kann, denn die von Paulus gegründeten Gemeinden bestanden durchweg aus Menschen, bei denen die Hinwendung zum Christentum mit einem biographischen Bruch einhergegangen war. Jeder, der zu einer paulinischen Gemeinde gehörte, hatte seine kulturelle Sozialisation innerhalb einer nichtchristlichen Familie erfahren. Das jetzige Sein derjenigen, die zu Jesus Christus gehören, war darum von ihrem vorchristlichen Leben durch einen tiefen Einschnitt getrennt. 2.Kor 5,17 (εἴ τις ἐν Χριστῷ, καινὴ κτίσις. τὰ ἀρχαῖα παρῆλθεν, ἰδοὺ γέγονεν καινά) macht dies unmissverständlich deutlich (vgl. auch noch Röm 6,17–22; 7,5f; 1.Kor 5,7–8; 6,11; Gal 4,8f; 1.Thess 1,9f). In idealtypischer Entsprechung zum Verlauf von Bekehrungsbiographien dürfen wir darum auch mit guten Gründen erwarten, dass die Übernahme des Bekenntnisses zu Jesus Christus und der Anschluss an eine christliche Gemeinde mit einer Resozialisation einherging, die von den Bekehrten verlangte, ihre neugewonnene kognitive Identität nun auch als soziale Identität, und das heißt in Gestalt eines bestimmten Ethos, zur Anschauung zu bringen. Aus dieser Perspektive betrachtet, entspricht das Verhältnis von „Imperativ“ und „Indikativ“ der zu Beginn beschriebenen Korrelation von Ethos und Identität. Der „Impe53

S. dazu o. S. 121ff.

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rativ“ formuliert ein normatives Ethos, dem es nicht etwa darum geht, so etwas wie eine ‚Bewährung‘ des „Indikativs“ einzufordern. Ihm kommt vielmehr die Funktion zu, den Glaubenden und Getauften eine Objektivation ihrer neugewonnenen Identität zu ermöglichen. Anders gesagt: Die unablösbare Bezogenheit des „Imperativs“ auf den „Indikativ“ verdankt sich dem jeder Bestimmung und jedem Anspruch von Identität notwendig inhärenten Interesse, dass diese Identität dargestellt und zur Anschauung gebracht werden muss (und zwar nach außen wie nach innen), wenn anders sie nicht bloßes Postulat bleiben will. 2. Innerhalb der Diskussion um die paulinische Ethik findet sich eine ganz analoge funktionale Interpretation bereits bei Hans Windisch, der sich kritisch mit der oben skizzierten Position Rudolf Bultmanns auseinandersetzt und schreibt: „Soweit nun die Rechtfertigungslehre die Voraussetzung des Imperativs ist, ist die Antinomie leicht aufzulösen. Sie besagt: Was in der nicht wahrnehmbaren Sphäre des göttlichen Handelns Realität geworden, gilt es nun auch in der irdischen Sphäre wahrnehmbar zu machen.“54

Dass Windisch mit dieser Sicht der Dinge in der Tat richtig liegt, lässt sich vor allem am Beispiel der ethischen Aussagen in Röm 6,12–23 zeigen: Nach Röm 6,2–8 ist die Taufe als eine Art Tod der vorchristlichen Existenz verstanden, und das Leben, dass die Getauften jetzt führen (Röm 6,4), steht in schroffer Diskontinuität zu ihrer praekonversionalen Biographie. In V. 11 fasst Paulus die Wirkung der Taufe auf die Getauften mit den Worten zusammen: „Betrachtet euch als Tote in Bezug auf die Sünde, als Lebende aber in Bezug auf Gott in Christus Jesus“. Weil man aber keinem Getauften von außen ansehen kann, dass es sich so mit ihm verhält, bedarf dieses neue Sein der ethischen Veranschaulichung, und das macht Paulus dann in den folgenden Versen deutlich: „Stellt nicht weiterhin eure Glieder der Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit zur Verfügung, sondern stellt euch Gott zur Verfügung quasi als Lebende aus den Toten und eure Glieder als Waffen der Gerechtigkeit für Gott“ (V. 13). – Es ist wichtig, dass wir die begrenzte Reichweite dieser und der anderen ethischen Weisungen dieses Kapitels beachten: Ihnen allen fehlt die materiale Konkretion, und sie erreichen an keiner einzigen Stelle die Ebene des konkreten Verhaltens. Paulus beschreibt hier nicht mehr als die funktionale Korrelation von Sein und Sollen bzw. von Identität und Ethos. Dasselbe gibt es auch dort, wo es nicht um das Verhalten des einzelnen geht, sondern wo die ekklesiale Ebene im Blick ist. Gal 5,25 („wenn wir im 54 H. WINDISCH, Das Problem des paulinischen Imperativs, ZNW 23 (1924) 265–281, hier 271.

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Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln“) lässt ebenso die materialethische Konkretion vermissen wie Phil 1,27 („wandelt [πολιθεύεσθε] würdig des Evangeliums Christi“) oder 1.Thess 2,12 mit der Aufforderung zu einer Lebensführung, „die Gottes würdig ist, der euch in sein Reich gerufen hat“ 55. Und nichts anderes als die Forderung, dass die durch die Bekehrung neugewonnene christliche Identität (vgl. 1,18) nicht ohne ein ihr entsprechendes Ethos auskommen kann, ist auch das Anliegen des Jakobusbriefes, wenn er seine Adressaten dazu auffordert, nicht nur „Hörer“ (ἀκροαταί), sondern auch „Täter“ (ποιηταί) des Wortes zu sein (1,22f), oder wenn er die bleibende Angewiesenheit des Glaubens auf die Werke betont (2,14–26). Formgeschichtlich gehören all diese Texte zur Gattung der postkonversionalen Mahnrede, deren Intention darin besteht, die jeweiligen Adressaten dazu aufzufordern, „sich dem vollzogenen Wechsel gemäß zu verhalten“56. Im Hinblick auf die oben S. 128 angesprochene Verweisfunktion eines Ethos kann dabei 1.Joh 3,14 („wir wissen, dass wir aus dem Tod ins Leben hinübergeschritten sind [μεταβεβήκαμεν; resultatives Perfekt!], weil [ὅτι] wir die Brüder lieben“) exemplarisch sichtbar machen, dass dem Imperativ auch eine wichtige soziale Funktion zukommt, insofern er nämlich auf existentielle Vergewisserung von Identität ausgerichtet ist: Er formuliert Kriterien, die die Adressaten in die Lage versetzen, ihre durch die Bekehrung neugewonnene Identität wahrzunehmen und zu erfahren, und er dient damit de facto der sozialen Stabilisierung der Gemeinde. Erkennbar wird diese doppelte Ausrichtung der Abgrenzung – diachronisch gegenüber der Zeit vor der Bekehrung und synchronisch gegenüber der nichtchristlichen Umwelt – z.B. in 1.Petr 4,3–4: „Denn es reicht, dass ihr die Zeit bisher (ὁ παρεληλυθὼς χρόνος) das βούλημα der Heiden vollbracht habt, als ihr in Orgien, Begierden, Weinseligkeiten, Schlemmereien, Saufereien und in frevelhaften Götzenverehrungen gewandelt seid. Sie sind darüber befremdet (ξενίζονται), dass ihr nicht Mitläufer seid in dieselbe Flut der Heillosigkeit, und sie lästern.“ Eph 4,17–19: „Das sage ich nun und bezeuge (es) im Herrn, dass ihr nicht mehr lebt (μηκέτι ὑμᾶς περιπατεῖν) wie die Heiden leben (περιπατεῖν) in der Nichtigkeit ihres Sinnes. Sie sind im Verstand verfinstert, und sie sind des göttlichen Lebens entfremdet (ἀπηλλοτριωμένοι τῆς ζωῆς τοῦ θεοῦ) auf Grund der Unwissenheit, die in ihnen ist, und auf Grund der Verstockung ihres Herzens. Sie sind abgestumpft und haben sich der Ausschweifung ergeben, zum Vollbringen (εἰς ἐργασίαν) jeglicher Unreinheit in Habgier.“

55

Nicht zu übersehen ist die Analogie, die das ethische Begründungsgefälle in 1.Thess 2,12 und Lev 19,2 („ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“) miteinander verbindet (vgl. auch 11,44; 20,26a u.ö.). In 1.Petr 1,16 wird dann auch Lev 19,2 innerhalb einer ganz parallelen argumentativen Struktur (V. 15: κατὰ τὸν καλέσαντα ὑμᾶς ἅγιον καὶ αὐτοὶ ἅγιοι ἐν πάσῃ ἀναστροφῇ γενήθητε) ausdrücklich zitiert. 56 Vgl. dazu BERGER, Formgeschichte (s. Anm. 11) 130–135 (Zitat S. 130).

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Plausibel sind solche Texte für Christen, die auf eine Bekehrung zurückblicken und die sich daraufhin in der sozialen Situation einer von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzten Minderheit wiederfinden. In ihnen lässt sich darüber hinaus ein weiteres Element identifizieren, das für ethosbezogene Bekehrungsdeutungen typisch ist: die Konstruktion von Alterität unter Rückgriff auf sog. persuasive Benennungen, die auf nichts anderes als auf die affektive Mobilisierung vorbewusster Einstellungen ausgerichtet sind. Die vorkonversionale Vergangenheit der Adressaten wird ebenso ethisch abgewertet wie die Menschen außerhalb der eigenen Gruppe, um die eigene Bekehrung zu legitimieren und die aus ihr resultierende soziale Isolation in das eigene Wirklichkeitsverständnis zu integrieren. Die Beschreibung der Korrelation von Indikativ und Imperativ als ‚Dialektik‘ oder gar als ‚Paradoxie‘ bzw. ‚Antinomie‘57 wird ihr darum ebensowenig gerecht wie die von Ernst Käsemann formulierte Gegenthese, derzufolge „der sogenannte Imperativ ... in den Indikativ integriert (ist) ..., weil der Kyrios nur für den ihm Dienenden Kyrios bleibt“58. In beiden Fällen wird die Korrelation zwischen der Verweisfunktion des Imperativs und dem Bekehrungscharakter des Indikativs nicht ausreichend berücksichtigt.59 3. Man kann vielleicht sogar noch ein Stück weitergehen und sagen: Zu einem Problem konnte die inhaltliche Entsprechung von Indikativ und Imperativ nur für eine Theologie werden, der die kontextuelle Einbettung der neutestamentlichen Texte auf Grund ihrer eigenen Vorfindlichkeit innerhalb eines seit Jahrhunderten christlich geprägten kulturellen Kontextes in doppelter Hinsicht fremd geworden ist: Weil sich das Christentum inzwischen zum einen von einer Bekehrungsreligion in eine Traditionsreligion verwandelt hatte, haben die zitierten Autoren auch das paulinische Christentum nicht mehr als eine Bekehrungsreligion wahrgenommen. Der ursprünglich auf die Resozialisation von Bekehrungsbiographien bezogene Zusammenhang von Indikativ und Imperativ wurde dabei so rezipiert, dass er auf die primären oder sekundären Sozialisationen rein christlicher Biographien übertragen wurde und dadurch einen ganz anderen Sinn bekam. – Der zweite Grund hängt damit zusammen: Die frühchristlichen Gemeinden wurden in anachronistischer Weise nicht mehr als Randgruppen wahrgenommen, die sich von ihrer Umwelt abgrenzten, sondern sie wurden be57

S.o. S. 123f. KÄSEMANN, Röm (s. Anm. 29) 167; vgl. auch SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments (s. Anm. 9), 159f. 59 Demgegenüber hat W. POPKES, Paränese und Neues Testament (SBS 168), Stuttgart 1996, 170 diesen Bezug völlig zurecht ausdrücklich festgehalten, wenn er Mission und Bekehrung als Sitz im Leben der neutestamentlichen Paränese bestimmt und von einer „‚P[aränese] der Lebenswende‘, Begleitung der Konversion bzw. Rückgriff darauf“ spricht. 58

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handelt als wären sie – wie das in der Zeit der Interpreten der Fall war – Bestandteil einer übergeordneten christlichen Leitkultur. Dementsprechend wurde die soziale Funktion des „Imperativs“, die bei Paulus hier noch der Darstellung einer überindividuellen Gruppenidentät diente, in den Hintergrund gedrängt. Nicht mehr um die οἰκοδομή der Gemeinde ging es – wie noch in Röm 14,19; 15,2; 1.Kor 8,1; 10,23; 14,3.4.5.12.26; 2.Kor 10,8; 12,19; 13,10; 1.Thess 5,11 –, sondern um die „Erbauung“ des frommen Individuums.60 Und schließlich hatte diese Veränderung der rezeptionshermeneutischen Rahmenbedingungen auch zur Folge, dass die strukturelle Analogie zwischen den neutestamentlichen und den alttestamentlichen Begründungen des Zusammenhangs von Identität und Ethos61 verdrängt wurde. Damit stehen wir vor der Frage, welche bestimmten Handlungen es denn waren bzw. ob es überhaupt solche bestimmten Handlungen gab, die im frühen Christentum im Allgemeinen sowie in den paulinischen Gemeinden im Besonderen als ethische Veranschaulichung von christlicher Identität fungieren konnten.

IV. Der materiale Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos 1. Ausgangspunkt soll eine Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre sein, die dem Ansatz der sog. „New Perspective on Paul“ folgt.62 Sie versteht die paulinische Rechtfertigungslehre als einen Begründungszusammenhang, der die Konsequenzen der paulinischen Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus unter den Völkern theologisch reflektiert. In Auseinandersetzung mit dem exklusiven Erwählungsanspruch Israels, der 60

Vgl. dazu PH. VIELHAUER, Oikodome. Das Bild vom Bau in der christlichen Literatur vom Neuen Testament bis Clemens Alexandrinus (1939), in: ders., Oikodome. Aufsätze zum Neuen Testament II, hg. v. G. Klein (TB 65), München, 1978, 1–168; G. FRIEDRICH / G. KRAUSE, Art. Erbauung, TRE 10 (1982) 18–28. – Vgl. auch u. S. 167f. 61 Vgl. dazu die in Anm. 55 genannten Texte. 62 Diese Bezeichnung verdankt sich dem Titel des Aufsatzes von DUNN, The New Perspective on Paul (s. Anm. 32). – Einige Jahre vorher warten bereits K. STENDAHL, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, HThR 56 (1963) 199–215; DERS., Paul among Jews and Gentiles, Philadelphia, 1976, und E. P. SANDERS, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977 denselben Weg eingeschlagen. Seither hat sich unter dieser Bezeichnung ein breites Spektrum an Paulusinterpretationen ausdifferenziert (vgl. dazu die Website http://www.thepaulpage.com), von denen viele die paulinische Theologie freilich grob verzeichnen. Auf der anderen Seite ist das Bild, das CH. LANDMESSER, Umstrittener Paulus. Die gegenwärtige Diskussion um die paulinische Theologie, ZThK 105 (2008) 387–410, von der „New Perspective“ entwirft, nicht mehr als eine schlechte Karikatur. Auf einer solchen Basis kann die erforderliche Sachauseinandersetzung mit Sicherheit nicht geführt werden.

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durch die Erfüllung der Tora alltagsweltlich zur Anschauung gebracht wird, ist ihr daran gelegen nachzuweisen, dass es keinen theologischen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden gibt, weil sie vor Gott alle Sünder sind (Röm 3,9f.22f) und weil sie alle nur durch den Glauben an Jesus Christus zum Heil gelangen – und das heißt: ohne Rücksicht darauf, ob sie nach der Tora leben oder nicht. In dieser Hinsicht treffen sich dann auch die rechtfertigungstheologischen Aussagen im Römerbrief (vgl. 1,16; 3,27–30; 10,11–13; s. auch schon Gal 2,15–16) mit den alten ekklesiologischen Traditionen, wie sie z.B. erhalten sind in Gal 3,28 (in Christus „gibt es nicht Juden noch Griechen, nicht Sklave noch Freien, nicht männlich noch weiblich; alle seid ihr einer in Christus Jesus“) oder in 1.Kor 12,13 („wir wurden alle durch einen Geist zu einem Leib getauft, egal ob Juden oder Griechen, ob Sklaven oder Freie; alle sind wir mit einem Geist getränkt worden“). Allen Aussagen ist gemeinsam, dass es der Glaube an und die Taufe auf Jesus Christus sind, denen Paulus die Funktion zuschreibt, innerhalb der Gemeinde Jesu Christi über alle alltagsweltliche Differenzen – und das heißt: über alle ethnischen, sozialen und rechtlichen Unterschiede mit ihren jeweiligen Statuszuweisungen und Ethos-Erwartungen – zu dominieren. Integraler Bestandteil dieses theologischen Konzepts ist darum auch eine radikale theologische Depotenzierung der Tora. Die paulinische Rechtfertigungslehre ist insofern eine ekklesiologische Theorie, deren Impetus in dem Erweis besteht, dass die durch Glaube und Taufe gestiftete Zugehörigkeit zu Jesus Christus eine überindividuelle Identität stiftet, die alle alltagsweltlichen Status- und Ethosdifferenzen hinter sich lässt. Weiterhin fungiert die paulinische Rechtfertigungslehre in diesem Zusammenhang als eine anthropologische Theorie, insofern sie mit aller Schärfe deutlich macht, dass die Sünde eine alle Menschen beherrschende Macht ist und dass auch sie damit den Unterschied zwischen Juden und Heiden aufhebt (vgl. Röm 1,18 – 3,20; 5,12–14; vor allem 3,9.22f). Auf Grund des niemals einholbaren „Vorsprungs der Sünde“63 (vgl. Röm 5,13f.20; 7,14–24; 8,3a.7; 1.Kor 15,56; Gal 3,22) können ἔργα νόμου, durch die Juden sich von Nichtjuden unterscheiden, prinzipiell nicht als ein Ethos fungieren, das die exklusive Identität der von Gott Erwählten objektiviert. 2. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang aber, dass Paulus die Abgrenzungsfunktion des Ethos von der Ebene des Handelns ablöst und auf das πιστεύειν überträgt. Wir können diesen Vorgang bereits in 1.Thess 1,7; 2,10.13 beobachten, wo er die Christen mit Hilfe eines absoluten Partizips als οἱ πιστεύοντες identifiziert, ohne dabei den Gegenstand des πιστεύειν durch ein Attribut näher zu bestimmen (s. auch Röm 3,22; 63 G. KLEIN, Art. Gesetz. III. Neues Testament, TRE 13 (1984) 58–75, hier 67; vgl. dazu auch u. S. 491ff.

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4,11; 1.Kor 1,21; 14,22; Gal 3,22).64 In der außerchristlichen Literatur ist diese Verwendung von οἱ πιστεύοντες als Gruppenbezeichnung völlig unbekannt. Geradezu mit den Händen zu greifen ist diese Transformation vor allem jedoch in der Metapher ὑπακοὴ πίστεως (Röm 1,5). Um eine Metapher handelt es sich hier, weil ὑπακούειν und ὑπακοή ansonsten durchweg die Umsetzung eines Wortes in ein Tun markieren65 und weil genau an dessen Stelle hier die πίστις als qualifizierendes Attribut steht.66 Es ist mithin das „Ethos“ des Glaubens (Gen. epexegeticus), das die Christen nach außen abgrenzt und dadurch die Exklusivität ihrer Identität repräsentiert.67 Das ist möglich, weil eben der Glaube, der bei Paulus natürlich immer πίστις Χριστοῦ ist und durch seine Bezogenheit auf Jesus Christus definiert wird, eine Gemeinsamkeit herstellt, die die Differenz zwischen Juden und Heiden umgreift (vgl. Röm 1,16; Gal 5,6) und die Christen von den nichtchristlichen Juden und Heiden signifikant unterscheidet.68 „Glauben“ können „alle“ – Juden und Heiden gleichermaßen und gänzlich unabhängig davon, dass sie sich in ihrer alltäglichen Lebensweise voneinander unterscheiden. Aus diesem Grunde kann Paulus in Gal 6,10 auch von οἰκεῖοι τῆς πίστεως sprechen69 und dem Glauben eine gemeinschaftsstiftende Kraft zuschreiben. 64

Dieselbe Kennzeichnung der Christen findet sich im Neuen Testament auch in Apg 2,44; Eph 1,19; 1.Petr 2,7; vgl. auch Mk 16,17; Apg 4,32; 2.Thess 1,10; Hebr 4,3 (jeweils Aorist) und Apg 18,27; 19,18 (jeweils Perfekt). 65 Deutlich wird dieser Sachverhalt vor allem dort, wo ὑπακούειν durch ποιεῖν oder φυλάσσειν (sc. der Rechtsforderung Gottes) konkretisiert wird (z.B. Gen 22,16/18; 26,5; Lev 26,14; Dtn 26,14.17; Dan 3,29; TestJud 13,1) oder wo es die Reaktion auf eine Anweisung beschreibt (κελεύειν, προστάσσειν, διατάσσειν; z.B. Josephus, Ant. 11,182; 12,30.269.397; 14,51.322; 20,159; Bell. 1,135.300. 367); s. auch TestIss 5,8 mit der Parallelität von ὑπακούειν und περιπατεῖν. – Vgl. dazu D. B. GARLINGTON, „The Obedience of Faith“ (WUNT 2/38), Tübingen 1991, 12f und passim. 66 Ganz analog gilt nach Röm 10,16f die Verweigerung des πιστεύειν als ein Akt des Ungehorsams. 67 Zu dieser Funktion der πίστις bei Paulus vgl. bereits A. V. DOBBELER, Glaube als Teilhabe (WUNT 2/22), Tübingen 1987, 243ff mit dem Fazit: „πίστις ist für Paulus ein zentrales Kennzeichen der christlichen Gemeinden, das Abgrenzung ... ermöglicht, der Gruppe ihre [zu ergänzen wäre: ‚soziale‘, M. W.] Identität verleiht und so deren wesentlicher Stabilisationsfaktor ist“ (271). 68 Vgl. auch W. STEGEMANN, Antisemitische und rassistische Vorurteile in Titus 1,10– 16, KuI 11 (1996) 46–61, der Paulus „die Besonderheit der christusgläubigen Gruppe(n) ... als Aufhebung der ethnisch-religiösen Unterschiede zwischen Heiden und Juden“ bestimmen sieht und hierin mit Recht eine Vorstufe zu der erstmals im 2. Jh. begegnenden Charakterisierung der Christen als tertium genus hominum erkennt (48). 69 Die durch V. DOBBELER, Glaube (s. Anm. 67), 255ff für die Verbindung von οἰκεῖος und πίστις etc. beigebrachten Belege sind für Gal 6,10 nicht einschlägig, weil es in ihnen immer nur um das interne Vertrauensverhältnis einer bereits vorgegebenen Hausgenossenschaft geht. Demgegenüber richtet sich die πίστις in Gal 6,10 nicht auf die anderen Hausgenossen, sondern der Ausdruck οἰκεῖοι τῆς πίστεως benennt in metaphorischer Weise eine Zusammengehörigkeit, die durch die πίστις als dem gemeinsamen sozialen identity marker

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Ganz ähnlich formuliert Francis Watson in der Neuauflage seines Buches zu diesem Thema: „‚Faith‘ sums up the way of life of a Pauline congregation“.70 Aus diesem Grunde sollten wir auch nicht von einer „Rechtfertigungsbotschaft“ oder „-verkündigung“ sprechen71, denn die theologische Entfaltung und Beschreibung dieser Sinnwelt hat ihren Ort im literarischen Kontext der Besprechung des Evangeliums und nicht im Kontext seiner Verkündigung. Paulus hat schließlich nicht mit Hilfe der Rechtfertigungslehre missioniert. Die paulinische Rechtfertigungslehre erweist sich damit als eine Lehre im eigentlichen Sinn des Wortes – oder noch besser: als eine Theorie –, denn sie fungiert als „kognitive Konstruktion“72 einer Sinnwelt73, in der die auf der Ebene des empirisch Vorfindlichen bestehende Paradoxie aufgehoben ist, dass Heiden und Juden bzw. Heidenchristen und Judenchristen trotz ihres unterschiedlichen Ethos ein und dieselbe Identität haben. Das zweimalige οὐ γάρ ἐστιν διαστολή in Röm 3,22; 10,12 hebt dieses Anliegen deutlich hervor.74 zustande kommt. Entsprechend heißt es bei Josephus, C. Ap. 2,210: „Alle, die mit uns unter denselben Gesetzen (ὑπὸ τοὺς αὐτοὺς ἡμῖν νόμους) leben ... wollen, nimmt er (sc. der Gesetzgeber) freundlich auf, denn er meint, dass nicht τῷ γένει μόνον, ἀλλὰ καὶ τῇ προαιρέσει τοῦ βίου ... εἶναι τὴν οἰκειότητα (dass nicht auf der Abstammung allein, sondern auch auf der Lebensweise die Familienzugehörigkeit basiert).“ Sprachlich vergleichbar sind analoge Genitivverbindungen wie vor allem οἰκεῖοι τοῦ σπέρματος (Jes 58,7; s. auch Josephus, Ant. 19,275), aber auch οἰκεῖοι τοῦ πάθους (Plutarch, Mor. 753b) oder οἰκεῖοι τοῦ ὀνόματος (Albinus, Epit. 6,10). 70 F. WATSON, Paul, Judaism, and the Gentiles. Beyond the New Perspective, Grand Rapids / Cambridge 2007. 71 Vgl. in diesem Sinne und stellvertretend für viele andere F. W. HORN, Paulusforschung, in: Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments, hg. v. dems. (BZNW 75), Berlin / New York 1995, 30–59, hier 50. 72 BERGER/LUCKMANN, Konstruktion (s. Anm. 38), 112. – Vgl. auch D. ZELLER, Zur Pragmatik der paulinischen Rechtfertigungslehre, ThPh 56 (1981) 204–217, hier 209 mit Verweis auf λογίζεσθαι in Röm 3,28. 73 Diese Kategorie berührt sich zwar durchaus mit dem, was E. P. SANDERS „pattern of religion“ nennt (Paul and Palestinian Judaism [s. Anm. 62], London 1977, bes. 12ff), sie ist aber umfassender: Eine symbolische Sinnwelt wird auch von denen bewohnt, die einer bestimmten Religion nicht angehören. Darüber hinaus gibt es natürlich auch nichtreligiöse Sinnwelten, die aber dieselbe Funktion haben wie die religiösen. Erst auf dieser Ebene (und nicht schon als „type of religiousness“ [ebd. 543]) wird die paulinische Rechtfertigungslehre mit der Sinnwelt des frühen Judentums inkompatibel (vgl. ebd. 543ff), und auf ihr wird darum auch die Frage überflüssig, ob nun die Rechtfertigungs- oder die Partizipationsterminologie „das Herz der paulinischen Theologie“ bilde (502): Obwohl beide Aussagezusammenhänge unterschiedliche Aspekte betonen, sind sie doch gemeinsam integraler Bestandteil der Konstruktion einer in sich kohärenten symbolischen Sinnwelt. 74 F. WATSON verkehrt die paulinische Intention darum in ihr Gegenteil, wenn er die Rechtfertigungslehre als Legitimation der Trennung der heidenchristlichen Gemeinden vom Judentum verstehen will (Paul [s. Anm. 70], 345; vgl. auch die Kritik von D. BOYARIN, A Radical Jew, Berkeley u.a. 1994, 50f).

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3. Wenn wir von der inklusiven Ausrichtung dieser soteriologischen und ekklesiologischen Seinsaussagen ausgehen, können wir sofort eine ganz bestimmte Eigenschaft der von Paulus formulierten ethischen Sollensaussagen verstehen: das oben bereits angesprochene Fehlen einer materialen Besonderheit der paränetischen Weisungen, die sich im Wesentlichen weder von den Forderungen der hellenistisch-jüdischen Toraparänese noch von der paganen paränetischen Tradition unterscheiden.75 Es wäre jedoch ein Missverständnis, wenn man dieses Fehlen einer materialethischen Differenz als ein Zeichen ethischer Indifferenz ansehen würde. Es markiert vielmehr eine geradezu programmatische ethische Inklusivität. Erkennbar wird diese Eigenart z.B. in Texten, die die paränetische Mahnung mit dem Verweis auf den Eindruck verknüpfen, den das Verhalten der Christen bei den Außenstehenden hervorrufen soll: εὐσχημόνως (in guter Gestalt) πρὸς τοὺς ἔξω sollen sie ihr Leben führen (1.Thess 4,12; s. auch Röm 13,13; 1.Petr 2,11f); der Bischof soll in der Öffentlichkeit ein gutes Ansehen haben (1.Tim 3,7); ungläubige Ehepartner sollen „durch den Lebenswandel der Frauen ohne Wort“ (διὰ τῆς τῶν γυναικῶν ἀναστροφῆς ἄνευ λόγου) für den Glauben gewonnen werden (1.Petr 3,1f), und das funktioniert natürlich nur, wenn die Frauen die auch bei ihren nichtchristlichen Männern in Geltung stehenden ethischen Normen in vorbildlicher Weise erfüllen.76 Das heißt: Die Gemeinden sollen ihr Profil darin finden und von der Mehrheitsgesellschaft dadurch sich unterscheiden, dass sie es sind, die die allgemein akzeptierten Normen und Werte in idealer und von den Außenstehenden nicht erreichter Weise realisieren.77 Nicht in einem devianten Alltagsethos bringen die christlichen Gemeinden ihre Besonderheit gegenüber der nichtchristlichen Mehrheitsgesellschaft zur Anschauung, sondern durch ethische Aristie. Genau dieses Streben nach Verwirklichung der allgemein akzeptierten Normen und Werte und nicht ethische Extravaganz entsprach dem in der hellenistisch-römischen Umwelt des frühen Christentums in Geltung stehenden Ideal der Lebensführung. Dementsprechend forderte bereits Isocrates, dem wir mit seinen Reden Ad Nicoclem und Nicocles die ältesten Prosa-Paränesen verdanken, von paränetischen Schriften: „In ihnen soll man nicht nach neuartigen Dingen (τὰς καινότητας) streben, denn in ihnen darf man nichts Befremdliches, nichts Zweifelhaftes und nichts Unübliches (οὔτε παράδοξον οὔτ’ ἄπιστον οὔτ’ ἔξω τῶν νομιζομένων) sagen; vielmehr gilt derjenige als am geschicktesten, der von den (Vorschriften), die in den Ansichten anderer verstreut sind, das meiste sammeln und am schönsten über sie sprechen kann“ (Ad Nicocl. 41; vgl. auch ebd. 52). Ganz analog führt er seine Überlegenheit gegenüber den Sophisten darauf zurück, dass jene „zu einer Tugend und Einsicht mahnen, die von den anderen nicht anerkannt wird und unter ihnen selbst umstritten ist“ (παρακαλοῦσιν ἐπὶ τὴν ἀρετὴν καὶ τὴν φρόνησιν τὴν ὑπὸ τῶν ἄλλων μὲν ἀγνοουμένην, ὑπ’ 75

S.o. S. 125f. Vgl. dazu P. LIPPERT, Leben als Zeugnis (SBM 4), Stuttgart 1968, 17ff. 77 Vgl. in diesem Sinne auch HORRELL, Solidarity (s. Anm. 2), 165. 76

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αὐτῶν δὲ τούτων ἀντιλεγομένην), während er zu einer Tugend auffordert, „die von allen anerkannt ist“ (ὑπὸ πάντων ὁμολογουμένην, Antid. 84). Völlig zu Recht spricht Peter Lampe darum von einer Exzellenz „in Konformität“: „Entsprechend wurden in der kaiserzeitlichen Antike die Verhaltensweisen als ‚individuell‘, das soll heißen, als außergewöhnlich und einzigartig bewertet, die in einmaliger Weise einige für alle Menschen nachahmenswerte Tugenden im Alltagsleben verwirklichten ..., während extravagantes ‚Aus-der-Reihe-Tanzen‘ nicht ein Zeichen von Individualität, geschweige denn von Würde sein konnte, sondern eher ein Merkmal der ἰδιωτεία war ...“.78

Es ist darum gerade das Fehlen einer materialen Besonderheit, die die von Albert Schweitzer vermisste Verbindung zwischen der Rechtfertigungslehre und der Ethik herstellt, denn zwischen der inklusiven Ausrichtung der paulinischen Soteriologie und der ebenso inklusiven Ausrichtung seiner Paränese besteht ein unmittelbares sachliches Entsprechungsverhältnis. Gerade in materialer Hinsicht steht der ethische „Imperativ“ bei Paulus also weder in einer „dialektischen“ noch in einer „paradoxen“ Spannung, sondern in einem unmittelbaren Entsprechungsverhältnis zum soteriologischen Indikativ. Das paulinische Christentum als eine sozial und kulturell inhomogene Bekehrungsreligion konnte seine ethische Identität gar nicht anders darstellen als durch ein inklusives Ethos, das für alle ohne Rücksicht auf ihre lebensweltlichen Identitäten zustimmungsfähig war und alle kontextuell induzierten ethischen Idiosynkrasien unbeachtet ließ. Es wäre nun aber ein Missverständnis, wenn man daraus den Schluss ziehen wollte, die paulinische Ethik sei nicht mehr als eine Ethik der Schnittmenge oder eine Ethik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Sie partizipiert natürlich gleichermaßen an der Exklusivität der christlichen Heilsorientierung, und innerhalb dieses Rahmens fällt ihr keine geringere Aufgabe zu, als den Begründungszusammenhang für ein ebenso exklusives Ethos zu liefern. Worin die Exklusivität dieses Ethos in Entsprechung zu dem zuvor zur Soteriologie Gesagten besteht, liegt auf der Hand: Es hat die Aufgabe, zur Anschauung zu bringen, dass die in Glaube und Taufe gründende Zugehörigkeit zu Jesus Christus eine Gemeinschaft stiftet, die alle sozialen, kulturellen, ethnischen und ökonomischen Unterschiede, die in anderen symbolischen Sinnwelten in Geltung stehen, konsequent und kompromisslos hinter sich lässt. Damit verändert sich aber die Perspektive, die die Frage nach der Besonderheit der paulinischen Ethik leitet: Dass ihr spezifisches Profil nicht in den Blick kommt, wenn man im Wege der Subtraktion nach ethischen Normen und Werten sucht, die sich nicht aus der Umwelt seiner Gemeinden ableiten lassen, haben wir bereits gesehen.79 Es ist demgegenüber jedoch ausgesprochen sinnvoll, diese Frage aus der umgekehrten Perspektive zu 78 P. LAMPE, Menschliche Würde in frühchristlicher Perspektive, in: Menschenbild und Menschenwürde, hg. v. E. Herms (VWGTh 17), Gütersloh 2001, 288–304, hier 298. 79 S.o. S. 125f.

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stellen. Dann zeigt sich nämlich recht schnell, dass aus dem gesamten Spektrum des Inventars der von der Umwelt des frühen Christentums angebotenen ethischen Normen und Werte eine Auswahl vorgenommen wird, die nicht nur nicht beliebig und zufällig ist, sondern ihr Profil dadurch gewinnt, dass sie auf die christliche Ekklesia übertragen wird und regeln will, wie die an Jesus Christus Glaubenden und auf ihn Getauften in der Ekklesia miteinander umgehen sollen. Wir sehen dann, dass die paulinische Ethik ihr spezifisches Profil durch den Referenzrahmen erhält, auf den sie bezogen ist, und das ist die Ekklesia. – Es sind zwei Elemente, die in diesem Zusammenhang die paulinische Ethik im Besonderen, aber auch die Ethik anderer neutestamentlicher Schriften im Allgemeinen prägen: 4. An erster Stelle zu nennen ist die Bedeutung, die der Liebe (ἀγάπη) bei Paulus und in den anderen neutestamentlichen Schriften zugeschrieben wird. In paränetischen Kontexten steht sie vor allem in den paulinischen Schriften und im Corpus Johanneum im Vordergrund80, doch findet sie sich in dieser Funktion auch in allen anderen neutestamentlichen Überlieferungsbereichen81. Es stellt sich darum die Frage: Warum ist es gerade die Liebe gewesen, die innerhalb des frühen Christentums eine so ausgeprägte ethische Plausibilität und Dominanz gewinnen konnte? Auf der Suche nach einer Antwort stoßen wir auf eine Mehrzahl von möglichen Faktoren, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, weil sie mit großer Wahrscheinlichkeit alle gemeinsam für die breite Rezeption dieses ethischen Ideals verantwortlich gewesen sind82: a) Die Liebe gilt als eine Tugend, die vorzugsweise in freundschaftlichen und familialen Beziehungen eine große Rolle gespielt hat, d.h. in Kontexten, die auch sonst im Neuen Testament als Modell für die Beziehungen fungieren, durch die Christen miteinander verbunden sind83. 80 Vgl. vor allem Röm 13,8–10; 1.Kor 13; Gal 5,6.13f.22; Phil 2,2; 1.Thess 3,12; 4,9; Eph 4,2.15; 5,2; Kol 3,14; 2.Thess 1,3; 1.Tim 1,5; Joh 13,34f; 15,12f.17; 1.Joh 2,10; 3,10f.14.23; 4,7f.11f.16.21; 5,2; 2.Joh 5. 81 Vgl. nur Lk 6,27–36 par. Mt 5,38–48; Hebr 10,24; 1.Petr 1,22; 2,17; 4,8; 2.Petr 1,7; Apk 2,19. 82 Das semantische Profil der Liebesforderung, das dabei sichtbar wird, macht die Frage, ob sie auf die Verkündigung des historischen Jesus zurückgeht oder nicht, bedeutungslos (pro: z.B. R. FULLER, Das Doppelgebot der Liebe, in: Jesus Christus in Historie und Theologie. FS Hans Conzelmann, Tübingen 1975, 317–329, hier 328f; SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments [s. Anm. 9] 69ff; contra: z.B. CH. BURCHARD, Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde. FS Joachim Jeremias, Göttingen 1970, 39–62, hier 61f). Entscheidend für die Rezeption durch die frühen christlichen Gemeinden war einzig und allein die semantische und kontextuelle Plausibilität der Liebesforderung und nicht ihre Herkunft. 83 Zur ekklesiologischen Familienmetaphorik vgl. u.a. D. V. ALLMEN, La famille de Dieu (OBO 41), Fribourg/Göttingen 1981; D. RUSAM, Die Gemeinschaft der Kinder Gottes

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Erkennbar wird dies z.B. schon in dem eingangs zitierten Pseudo-Plutarch-Text (φίλους ἀγαπᾶν). Vgl. weiterhin die Berührung von Röm 13,8 („ihr seid niemandem zu etwas verpflichtet [μηδενὶ μηδὲν ὀφείλετε], außer dass ihr einander liebt“) mit Dio Chrysostomus, Or. 74,12, der sich dort über die feindlichen Brüder Eteokles und Polyneikes wundert: Sie „waren nicht nur dem Gesetz nach Brüder, sondern die Kinder von Sohn und Mutter, also der engsten Verwandten; wenn denn die Herkunft etwas bedeutet, wären diese darum verpflichtet gewesen (ὤφειλον), einander am meisten zu lieben“. In diesem Sinne ist auch die in der neutestamentlichen Briefliteratur häufig begegnende Anrede ἀγαπητός/ἀγαπητοί (Röm 12,19; 16,5.8f.12; 1.Kor 10,14; 2.Kor 7,1; 12,19; Phil 2,12 u.ö.), die sich in der paganen Umwelt des Neuen Testaments nur innerfamiliär findet84, Bestandteil einer ausgeprägten ekklesiologischen Familienmetaphorik.85 In denselben Kontext gehören darum auch die in den Testamenten der 12 Patriarchen und ihrem Umfeld belegten Aufforderungen zur Bruderliebe (TestRub 6,9; TestSim 4,4.7; TestSeb 8,5; TestDan 5,3; TestGad 6,1; TestJos17,2; vgl. auch Jub 36,4)86.

Die ἀγάπη weist also eine deutliche Affinität zu Beziehungen innerhalb von Klein- und Kleinstgruppen (auch von Minderheiten) auf und kann darum für die frühchristlichen Gemeinden auch in soziologischer Hinsicht als plausibel gelten.87 Es liegt darum ganz auf dieser Linie, wenn sie in Kol 3,14 als „Band der Vollkommenheit“ bezeichnet wird. b) Von besonderer Bedeutung war darüber hinaus, dass im Rahmen der antiken Freundschaftsethik die Hingabe des eigenen Lebens für andere als Tat der Liebe galt. (BWANT 133), Stuttgart u.a. 1993, 105ff; CH. GERBER, Paulus und seine „Kinder“. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe (BZNW 136), Berlin / New York 2005; zur Freundschaftsmetaphorik: J. HAINZ, Koinonia (BU 16), Regensburg 1982; H.-J. KLAUCK, Gemeinde zwischen Haus und Stadt, Freiburg u.a. 1992, 95ff sowie den Sammelband Greco-Roman Perspectives on Friendship, ed. J. T. Fitzgerald (SBL.RBS 34), Atlanta, GA 1997 mit dem Beitrag von A. C. MITCHELL, „Greet the Friends by Name“: New Testament Evidence for the Greco-Roman Topos on Friendship (S. 225–262). 84 Vgl. O. WISCHMEYER, Das Adjektiv ἀγαπητός in den paulinischen Briefen, NTS 32 (1986) 476–480. 85 Analoges gilt natürlich auch für die „Bruderliebe“ (φιλαδελφία) und die Aufforderung zu ihr (Röm 12,10; 1.Thess 4,9; Hebr 13,1; 1.Petr 1,22; 2.Petr 1,7); vgl. dazu H.-J. KLAUCK, Brotherly Love in Plutarch and in 4 Maccabees, in: Greeks, Romans, and Christians. FS Abraham J. Malherbe, Minneapolis 1990, 144–156. – Außerneutestamentlich ist dieser Begriff nur in Bezug auf das Verhältnis zwischen leiblichen Geschwistern belegt – mit einer aufschlussreichen Ausnahme: In 2.Makk 15,14 wird der im Traum erscheinende φιλάδελφος Jeremia dadurch charakterisiert, dass von ihm gesagt wird, er habe „viel für das Volk und die heilige Stadt gebetet“. 86 Zitiert werden die Texte u. S. 150f. – Vgl. dazu M. KONRADT, Menschen- oder Bruderliebe? Beobachtungen zum Liebesgebot in den Testamenten der Zwölf Patriarchen, ZNW 88 (1997) 296–310. 87 Vgl. dazu auch M. EBERSOHN, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition (MThSt 37), Marburg 1993 zur Intention von Lev 19,18 („... ein nach innen gerichteter Versuch der Stärkung des Zusammenhalts der jüdischen [sic!, M. W.] Gemeinschaft im Exil“; 248) und den Überblick über die frühjüdische Rezeption des Liebesgebots (56ff).

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Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der Alkestis: „Füreinander sterben wollen nur Liebende (καὶ μὴν ὑπεραποθνῄσκειν γε μόνοι ἐθέλουσιν οἱ ἐρῶντες) ... Davon gibt uns schon Alkestis ... hinlänglich Beweis für diese Wahrheit vor allen Griechen, da sie allein für ihren Gatten sterben wollte, der doch noch Vater und Mutter hatte, die sie aber an Freundschaft so weit übertraf auf Grund der Liebe (ὑπερεβάλετο τῇ φιλίᾳ διὰ τὸν ἔρωτα), dass mit ihr verglichen sie ihrem Sohn fremd zu sein schienen“ (Plato, Symp. 179b). Analog heißt es in der Vita Philonidis: „Für den am meisten Geliebten der Angehörigen oder der Freunde ist man am ehesten bereit, den Hals hinzulegen“ (τοῦ μάλιστ’ ἀγαπωμένου τῶν ἀναγκαίων ἢ τῶν φίλων παραβάλοι ἂν ἑτοίμως τὸν τράχηλον, Vita Philonidis 22), und entsprechend formuliert Joh 15,13: μείζονα ταύτης ἀγάπην οὐδεὶς ἔχει, ἵνα τις τὴν ψυχὴν αὐτοῦ θῇ ὑπὲρ τῶν φίλων αὐτοῦ (s. auch 2.Kor 12,15).

Mit der ἀγάπη hatte man insofern nicht nur eine wichtige Kategorie zur Hand, mit deren Hilfe die stellvertretende Lebenshingabe Jesu als Tat der Liebe gedeutet werden konnte (vgl. z.B. Röm 5,8; 2.Kor 5,14; Gal 2,20; s. auch Eph 5,2.25), sondern auch eine auf der Identitätsebene angesiedelte Begründung für die ethische Liebesforderung (vgl. die ausdrückliche Herstellung dieses Zusammenhangs in Joh 13,34; 15,12; Eph 5,2.25). Wenn Paulus in Gal 6,2 vom „Gesetz Christi“ spricht, so macht es dieser Zusammenhang von Lebenshingabe und Liebe darum durchaus wahrscheinlich, dass er dabei an das Liebesgebot denkt.88 c) Eine weitere Rolle spielt darüber hinaus sicher auch, dass schon innerhalb des hellenistischen Judentums die Verwendung der ἀγάπη als universales ethisches Prinzip bekannt ist. Deutlich wird dies vor allem in SapSal 6,17–18 („Streben nach Bildung ist Liebe, Liebe aber ist die Einhaltung ihrer [sc. der Weisheit] Gesetze“ [φροντὶς δὲ παιδείας ἀγάπη, ἀγάπη δὲ τήρησις νόμων αὐτῆς]) und EpArist 229 („Was ist genausoviel wert wie die Schönheit? ... Frömmigkeit! Denn die ist eine vorzügliche Schönheit. Ihre Wirkkraft aber ist die Liebe [τὸ δὲ δυνατὸν αὐτῆς ἐστιν ἀγάπη], denn die ist eine Gabe Gottes, die auch du besitzt – in ihr alle Güter empfangend“). Die Liebe war damit als ein universaler Wert identifizierbar, der für jüdische wie für nichtjüdische Christen gleichermaßen plausibel war, und sie konnte damit als Leitbegriff für ein Verhalten fungieren, in dem sich ihre gemeinsame Identität artikulieren konnte. d) Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich auch das Gebot der Nächstenliebe von Lev 19,18, auf das im Neuen Testament mehrfach ausdrücklich Bezug genommen wird (vgl. Mt 5,43; 19,19; 22,39; Mk 12,31.33; Lk 10,27; Röm 13,9; Gal 5,14; Jak 2,8). An keiner einzigen Stelle wird dabei jedoch die Liebes-

88 Vgl. in diesem Sinne u.a. R. B. HAYS, Christology and Ethics in Galatians, CBQ 49 (1987) 268–290; TH. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus (NTA NF 26), Münster 1995, 203ff. – Denkbar ist aber auch, dass Paulus mit „Gesetz Christi“ nicht auf ein bestimmtes Gebot verweisen will, sondern einfach nur die Rechtsforderung umschreibt, die sich aus der christlichen Identität der Leser ergibt.

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forderung aus dem Liebesgebot der Tora abgeleitet oder durch es begründet.89 Eher ist das Umgekehrte der Fall, denn es ist allererst das Liebesgebot von Lev 19,18, das eine Integration der Tora auch in die christliche Ethik ermöglicht.90 In diesem Zusammenhang lässt mindestens Gal 5,14 („das gesamte Gesetz [ὁ πᾶς νόμος]91 ist in einem Wort erfüllt: in dem [Wort] ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‘“; vgl. aber auch Röm 13,8–10) erkennen, dass das Liebesgebot die Tora adelt und nicht umgekehrt die Tora die Liebesforderung autorisiert. In der rhetorischen Situation des Galaterbriefs will Paulus damit den heidenchristlichen Adressaten deutlich machen, dass sie der von den judenchristlichen Gegnern erhobenen Forderung der Toraobservanz auch ohne Beschneidung – und das heißt: ohne dass sie Juden werden müssen – nachkommen können. e) Vielleicht können wir aber noch einen Schritt weitergehen: Nach Röm 13,9 sind nicht nur die vier genannten sozialen Dekaloggebote, sondern auch alle übrigen Gebote im Gebot der Nächstenliebe zusammengefasst (ἀνακεφαλαιοῦται). Diese Zuordnung hat eine auch terminologisch enge Entsprechung bei Philo v. Alexandrien, der alle Einzelbestimmungen der Tora in „zwei Hauptpunkten“ (δύο τὰ ἀνωτάτω κεφάλαια) zusammengefasst sieht: in Bezug auf das Gottesverhältnis seien dies εὐσέβεια und ὁσιότης, in Bezug auf das Verhältnis zu den Mitmenschen φιλανθρωπία und δικαιοσύνη (Spec. Leg. 2,63; s. auch Virt. 95; Heres 168.172). Philo seinerseits steht hier in der Tradition des „Kanons der zwei Tugenden“, der die komplexe Gesamtheit des menschlichen Verhaltens auf zwei elementare Handlungsfelder reduziert und jedes unter ein ethisches Leitprinzip stellt: das Verhalten der Menschen gegenüber Gott und das Verhalten gegenüber den anderen Menschen.92 Wenn wir danach fragen, wie es mit dieser aretologischen Elementarisierung der Ethik im Neuen Testament steht, bietet es sich an, in der Verknüpfung von 89

Das Urteil von K. FINSTERBUSCH, Die Thora als Lebensweisung für Heidenchristen (StUNT 20), Göttingen 1996, Paulus fordere die Heidenchristen zur Nächstenliebe auf, „weil dies ein Gebot der Thora und nicht weil es ethisch nützlich und geboten ist“ (97), ist darum unzutreffend; vgl. auch D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums (BHTh 69), Tübingen 1986, 296. 90 Aus diesem Grunde wird auch die These von O. WISCHMEYER, Das Gebot der Nächstenliebe bei Paulus, BZ NF 30 (1986) 153–187, wonach Paulus die Liebe „gegen das Gesetz“ stellt (187) und dem Liebesgebot eine „gesetzesüberwindende Funktion“ zukomme (184), dem paulinischen Anliegen nicht gerecht. Zur Bedeutung des Liebesgebots im Blick auf die Tora vgl. auch SÖDING, Liebesgebot (s. Anm. 88), 200ff. 91 Gemeint ist damit die Tora in ihrer Gesamtheit, während Paulus mit der Formulierung ὅλος ὁ νόμος (Gal 5,3) die Tora als Summe ihrer 613 Einzelgebote bezeichnet. Beide Begriffe haben damit ein und dieselbe Extension: die Tora / den Pentateuch. Hinsichtlich ihrer Intension unterscheiden sie sich hingegen voneinander (zur Begrifflichkeit vgl. u. S. 432.471f). 92 Vgl. dazu vor allem A. DIHLE, Der Kanon der zwei Tugenden, Köln/Opladen 1968; K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu (WMANT 40), Neukirchen-Vluyn 1972, 143ff.

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πίστις und ἀγάπη, die vor allem im Corpus Paulinum belegt ist, so etwas wie die interpretatio christiana des traditionellen Kanons der zwei Tugenden zu sehen93: Der Glaube bezieht sich auf das Gottesverhältnis und die Liebe auf das Verhältnis zu den anderen Menschen. f) Freilich ist auch mit der ἀγάπη noch nicht die Handlungsebene erreicht. Sie ist vielmehr auf weitere Konkretionen angewiesen. Paulus liefert sie z.B. in Röm 13,10 („die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses“) oder in der ethischen Prosopopoiie 1.Kor 13,4–7, wo er sie mit den materialen Weisungen der katalogischen Paränese verknüpft94 und sich damit zumindest ein Stück weit auf die Ebene des konkreten ethischen Handelns zubewegt. 5. Das zweite Element ist eher eine sprachliche Eigenart, die jedoch weitreichende ethische und auch ekklesiologische Konsequenzen hat: Sie ist darin erkennbar, dass die einzelnen paränetischen Weisungen in einer Dichte, die außerhalb der frühchristlichen Literatur ohne Parallele ist, mit dem Reziprokpronomen ἀλλήλων (ἀλλήλοις, ἀλλήλους) verbunden werden: „ihr seid niemand zu irgendetwas verpflichtet, εἰ μὴ τὸ ἀλλήλους ἀγαπᾶν“ (Röm 13,8); διώκωμεν καὶ τὰ τῆς οἰκοδομῆς εἰς ἀλλήλους (Röm 14,19); προσλαμβάνετε ἀλλήλους (15,7); δουλεύετε ἀλλήλους (Gal 5,13); ἀλλήλων τὰ βάρη βαστάζετε (6,2); παρακαλεῖτε ἀλλήλους (1.Thess 5,11); τὸ ἀγαθὸν διώκετε εἰς ἀλλήλους (5,15).95 Wenn wir nach dem Gebrauch dieses Pronomens in außerneutestamentlichen paränetischen Texten fragen, wird eine deutliche Zuordnung erkennbar, die derjenigen entspricht, die für den Gebrauch der Liebesforderung charakteristisch war: Ein vergleichbarer Sprachgebrauch findet sich vor allem in familienethischen und in freundschaftsethischen Zusammenhängen. In den familialen Kontexten bildet er ein stabiles semantisches Feld mit der Aufforderung zur Bruderliebe; Belege dafür finden sich vor allem in den Testamenten der 12 Patriarchen:

93 Vgl. die Paarbildungen in 1.Kor 16,13f; Gal 5,6; Eph 1,15; 3,17; Kol 1,4; 1.Thess 3,6; 5,8; 1.Tim 1,14; 2.Tim 1,13; Phlm 5; s. auch Ignatius v. Antiochien, Eph. 1,1; 14,1 (πίστις als Ursprung und ἀπάπη als Ziel des menschlichen Lebens); Magn. 1,2; Smyrn. inscr.; 6,1; Barn 11,8; 2.Clem 15,2. Treten andere Begriffe hinzu, bleibt die besondere Zusammengehörigkeit von Glaube und Liebe dadurch gewahrt, dass sie innerhalb der Aufzählung entweder die Anfangsglieder (1.Thess 1,3; 1.Tim 2,15; Tit 2,2), die Endglieder (Apk 2,19), die Außenglieder (1.Kor 13,13; 2.Kor 8,7; s. auch 1.Tim 1,5) oder die Mittelglieder (1.Tim 6,11; 2.Tim 2,22) bilden (vgl. auch die Korrespondenz in der konzentrischen Reihe 2.Tim 3,10f). 94 Vgl. dazu die oben Anm. 17 genannten Texte. 95 Solche Aufforderungen sind auch außerhalb der paulinischen Briefe verbreitet: vgl. εἰρηνεύετε ἐν ἀλλήλοις (Mk 9,50; s. auch 1.Thess 5,13); μὴ γογγύζητε μετ’ ἀλλήλων (Joh 6,43); ὀφείλετε ἀλλήλων νίπτειν τοὺς πόδας (Joh 13,14); ἀγαπᾶτε ἀλλήλους (Joh 13,34; 15,12.17; s. auch 1.Joh 3,11.23; 4,7.11; 2.Joh 5,3); ἀνεχόμενοι ἀλλήλων (Kol 3,13; s. auch Eph 4,2); γίνεσθε εἰς ἀλλήλους χρηστοί (Eph 4,32); κατανοῶμεν ἀλλήλους (Hebr 10,24); ἀλλήλοις τὴν ταπεινοφροσύνην ἐγκομβώσασθε (1.Petr 5,5); s. auch Röm 12,10.16; 14,13; 15,3; Gal 5,15.26; 1.Thess 4,9; 2.Thess 1,3.

5. Identität und Ethos bei Paulus

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TestSeb 8,4–6: „Als wir nach Ägypten herabkamen, trug Josef uns nichts Böses nach. Auf ihn achtend, meine Kinder, liebt auch ihr einander (ἀγαπᾶτε ἀλλήλους) und berechnet nicht ein jeder das Böse von seinem Bruder. Denn das drängt die Einheit auseinander (χωρίζει ἑνότητα) und zerreißt jede Verwandtschaft und beunruhigt die Seele und zerstört das Antlitz.“ TestDan 5,3: „Liebt ... einander (ἀγαπήσατε ... ἀλλήλους) mit wahrhaftigem Herzen.“ TestGad 6,1: „Und jetzt, meine Kinder, liebt jeder seinen Nächsten und rottet den Hass aus euren Herzen aus. Liebt einander (ἀγαπήσατε ἀλλήλους) in Tat und Wort und Gesinnung der Seele.“ TestJos 17,2f: „Und ihr nun, liebt einander (ἀγαπᾶτε ἀλλήλους) und verbergt in Langmut gegenseitig eure Verfehlungen. Denn Gott hat Gefallen an der Eintracht von Brüdern und an dem Vorsatz eines Herzens, das an Liebe Gefallen hat (εὐδόκιμούσης εἰς ἀγάπην).“ Derselbe Sprachgebrauch findet sich auch in: Jub 36,4 (Abschiedsrede Isaaks): „Und seid, meine Kinder, untereinander (solche), die ihr eure Brüder liebt gleichwie ein Mensch, der seine Seele liebt; und indem ein jeder für seinen Bruder sucht, womit er ihm Gutes tue; und gemeinsam zu handeln auf der Erde! Und sie sollen sich untereinander lieben wie ihre Seelen.“ Dio Chrysostomus, Or. 74,12: Sie „waren nicht nur dem Gesetz nach Brüder, sondern die Kinder von Sohn und Mutter, also der engsten Verwandten, so dass, wenn denn die Herkunft etwas bedeutet hätte, diese verpflichet gewesen wären, einander am meisten zu lieben“ (οὗτοι μάλιστα ἁπάντων ἀλλήλους [μᾶλλον] ὤφειλον ἀγαπᾶν). Xenophon, Memorab. 2,7,1 (über Sokrates): „Auch die Not seiner Freunde zu lindern, war er durchaus bemüht; war sie aus Unverstand erwachsen, dann durch guten Rat, war sie aus wirtschaftlicher Not entstanden, dann mahnte er, einander nach Vermögen zu unterstützen (κατὰ δύναμιν ἀλλήλοις ἐπαρκεῖν)“; vgl. auch noch Philo, Virt. 225.

Als Bestandteil ethischer Weisungen wird dieses Pronomen in der Umwelt des Neuen Testaments also immer nur dort gebraucht, wo es um das wechselseitige Verhalten von statusgleichen Personen geht bzw. wo egalitäre Relationen im Blick sind. Dem entspricht die semantische Auskunft, derzufolge die Bedeutung des Reziprokpronomens ἀλλήλων (ἀλλήλοις, ἀλλήλους) dadurch gekennzeichnet ist, dass es „von mehreren irgendwie gleichgeordneten Personen und innerhalb homogener Gruppen gebraucht (wird)“96. Die Bedeutung des vorstehenden Befundes für die Frage nach dem spezifischen Profil der paulinischen Ethik kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vor allem ein Vergleich mit dem eingangs zitierten Text aus Pseudo-Plutarch, De liberis educandis 7 lässt das Profil der paulinischen Weisungen deutlich hervortreten: Während es dort um das Verhalten im Blick auf eine Vielzahl von lebensweltlichen Relationen geht, die durch Statusund Funktionszuweisungen bestimmt sind (Götter, Eltern, Ältere, Gesetze, Fremde, Vorgesetzte, Freunde, Frauen, Kinder, Sklaven), werden in den neutestamentlichen Texten die alltagsweltlichen Relationen geradezu programmatisch ausgeblendet. Basis der ethischen Weisung sind hier vielmehr 96 H. KRÄMER, Art. ἀλλήλων (-λοις, -ους), EWNT 1 (1980) 151–152, hier 151; dem entspricht auch der Hinweis darauf, dass das Pronomen „nie vom Verhältnis Jesu zu den Jüngern oder des Christus zu den Seinen“ gebraucht wird (ebd. 152).

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ausschließlich die vom gesellschaftlichen Status unabhängigen interpersonalen Relationen innerhalb der Ekklesia. Von Bedeutung ist allein diejenige Identität, die allen gemeinsam ist: die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde. Damit befinden wir uns aber in unmittelbarer Nähe zu denjenigen ekklesiologischen Aussagen, denen zufolge die ἐν Χριστῷ bestehende Sozialität gerade in der Außerkraftsetzung der alltagsweltlichen Statusunterschiede zum Ausdruck kommt (1.Kor 12,13; Gal 3,28; 5,6; 6,15; Kol 3,11)97. Und nichts anderes als diese Aufhebung der gesellschaftlichen Statusdifferenzen in der Ekklesia Jesu Christi ist es dann auch, die der ethischen Weisung ihre charakteristische Orientierung gibt. Spezifisches Kennzeichen der ethischen Weisungen, die mit Hilfe des Pronomens ἀλλήλων etc. gebildet werden, ist darum, dass sie immer für beide Seiten gleichermaßen gelten. Sie sind symmetrisch konzipiert, und zwar in der Weise, dass beide Seiten vor ein und dieselbe ethische Forderung gestellt werden. Spezifisch für die so formulierten ethischen Weisungen ist das Prinzip der egalitären Reziprozität. Die Egalität, die die Angehörigen der Ekklesia kennzeichnet, weil ihr Status allein durch den Glauben an Jesus Christus und durch die Taufe auf ihn bestimmt ist, wird in der Identität der ethischen Forderung abgebildet. An eben diesem Prinzip ist auch die in 1.Kor 10,24 ausgesprochene Aufforderung orientiert, μηδεὶς τὸ ἑαυτοῦ ζητείτω ἀλλὰ τὸ τοῦ ἑτέρου (s. auch Phil 2,4 sowie Röm 15,1f mit ἀρέσκειν). Auch diese Forderung gilt für beide Seiten. Ihr geht in 10,23 eine doppelte Antithese vorauf, die deutlich macht, in welchen Horizont Paulus das eingeforderte Verhalten einstellt: Er zitiert zunächst zweimal unter prinzipieller Zustimmung die korinthische Parole πάντα ἔξεστιν (s. auch 6,12) und schränkt sie durch ἀλλ’ οὐ πάντα συμφέρει bzw. durch ἀλλ’ οὐ πάντα οἰκοδομεῖ ein. Beide Einschränkungen benennen die Bewahrung und Förderung der Integrität der Ekklesia als maßgebliches ethisches Kriterium, und auf nichts anderes bezieht sich darum auch die in V. 24 formulierte egalitär-reziproke Mahnung. Die Ethik der egalitären Reziprozität steht bei Paulus damit im Lichte der Ekklesiologie, denn allein innerhalb der symbolischen Sinnwelt der Ekklesia finden sich die Angehörigen der christlichen Gemeinden in einer Relation zueinander vor, in der die alltagsweltlichen Statuszuweisungen suspendiert sind. Sie ist es, die den soziologischen und den theologischen Aneignungszusammenhang der ethischen Orientierung konstituiert, und dementsprechend findet die Paränese der egalitären Reziprozität ihr individuelles Profil dann auch darin, dass sie die Gemeinsamkeit der christlichen Identität in der gottesdienstlichen Gemeinschaft sozial erfahrbar machen will: Das eingeforderte Handeln unterliegt keiner anderen Maßgabe, als dass es der For97

S.o. S. 141.

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derung genügen muss, die Identität der Gemeinde Jesu Christi, alle alltagsweltlichen Ethos- und Statusdifferenzen überlagert, als solche zur Anschauung zu bringen. Wenn wir von hier aus die ethische Weisung der nachpaulinischen Briefe in den Blick nehmen, können wir interessante Verschiebungen feststellen: Zwar gibt es auch hier noch mit ἀλλήλων (ἀλλήλοις, ἀλλήλους) formulierte, egalitär-reziproke Weisungen98, doch ist nicht zu übersehen, dass nun auf einmal auch andere Kontexte als ethische Handlungsfelder wichtig werden: Fast alle der in dem eingangs zitierten Pseudo-Plutarch-Text genannten Relationen finden sich hier wieder, und das für die innerekklesiale Ethik charakteristische Merkmal der Egalität spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr. Vielmehr werden alltagsweltlich vorgegebene Statusunterschiede ethisch relevant, und dementsprechend können die Adressaten der ethischen Weisungen auch auf denjenigen Status hin angesprochen werden, der ihnen auf Grund ihrer sozialen, biographischen und rechtlichen Vorfindlichkeit zugewiesen ist, und Entsprechendes gilt auch für das ethische Gegenüber. Im Vordergrund steht das hausinterne Beziehungsgefüge, was seinen Ausdruck vor allem in den Haustafeln findet (vgl. Kol 3,18 – 4,1; Eph 5,21 – 6,9; s. auch 1.Petr 2,18 – 3,7).99 Sie thematisieren die Relationen zwischen Frauen und Männern (Kol 3,18; Eph 5,21.33; s. auch Tit 2,4; 1.Petr 3,1) und umgekehrt (Kol 3,19; Eph 5,25; s. auch 1.Petr 3,7), zwischen Kindern und Eltern (Kol 3,20; Eph 6,1), Vätern und Kindern (Kol 3,21; Eph 6,4) sowie zwischen Sklaven und Herren (Kol 3,22; Eph 6,5; s. auch 1.Tim 6,1; Tit 2,9; 1.Petr 2,18) und umgekehrt (Kol 4,1; Eph 6,9). Das Merkmal der Reziprozität ist in ihnen noch präsent, doch ist die Reziprozität nicht mehr egalitär: Für beide Seiten der ethischen Weisung gelten nicht mehr identische, sondern unterschiedliche Forderungen, deren Inhalt sich an den alltagsweltlichen Statusdifferenzen orientiert.

V. Der kontextuelle Aspekt des Zusammenhangs von Identität und Ethos 1. Bis zu diesem Punkt unserer Darstellung haben wir noch nicht die konkrete Handlungsebene erreicht. Dementsprechend offen ist nach wie vor die Frage, welche „institutionalisierten Handlungen“ es denn gewesen sind, die so „unverwechselbar, eindeutig und wiederholbar“ waren, dass sie Ethos98 Vgl. die entsprechenden Texte o. S. 150 Anm. 95; sie fehlen in den Pastoralbriefen, und das ist wahrscheinlich alles andere als ein Zufall. 99 Vgl. dazu K. THRAEDE, Zum historischen Hintergrund der „Haustafeln“ im Neuen Testament, in: Pietas. FS Bernhard Kötting, Münster 1980, 359–368; D. LÜHRMANN, Neutestamentliche Haustafeln und antike Ökonomie, NTS 27 (1981) 83–97; D. L. BALCH, Household Codes, in: Greco-Roman Literature and the New Testament, hg. v. D. E. Aune, Atlanta 1988, 25–50; G. STRECKER, Die neutestamentlichen Haustafeln, in: Neues Testament und Ethik. FS Rudolf Schnackenburg, Freiburg u.a. 1989, 349–375; M. GIELEN, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik, Meisenheim/Frankfurt 1990; WOLTER, Kol / Phlm [s. Anm. 50], 192–208; J. WOYKE, Die neutestamentlichen Haustafeln (SBS 184), Stuttgart 2000; D. G. HORRELL, From ἀδελφοί to οἶκος θεοῦ: Social Transformation in Pauline Christianity, JBL 120 (2001) 293–311.

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funktion übernehmen konnten100 und die paulinischen Gemeinden durch sie ihre christliche Identität als eine soziale Identität zur Anschauung bringen konnten. Wenn wir uns jedoch noch einmal in Erinnerung rufen, was wir oben zur ekklesiologischen Einbettung der paulinischen Soteriologie und Ethik gesagt haben, ist die Beantwortung dieser Frage nicht schwer: Diejenige ethische Institution, der die Aufgabe der sozialen Darstellung der christlichen Identität zufiel, war die gottesdienstliche Versammlung der Gemeinde.101 Das galt nicht nur für die paulinischen Gemeinden, sondern nach der lukanischen Darstellung in Apg 2,42–46 auch schon für die Jerusalemer Urgemeinde. Die ihr angehörenden christlichen Juden lebten in ihrem Alltag selbstverständlich nach wie vor als Juden, und es waren allein die von Lukas in Apg 2,42.44a.46 erwähnten gottesdienstlichen Versammlungen in Privathäusern, die mit einer gemeinsamen, von Lukas als „Brotbrechen“ bezeichneten Mahlzeit verbunden waren, in denen die exklusive Identität der ältesten judenchristlichen Gemeinden ihre soziale Objektivation fand und denen insofern die Funktion eines Ethos zukommen konnte.102 Diese Feiern konnten die exklusive Identität jener Gemeinden in exklusiver Weise repräsentieren, weil nichtchristliche Juden an ihnen nicht teilnahmen. Analoges gilt dann auch für die paulinischen Gemeinden: Sie waren ἐκκλησίαι im eigentlichen Sinne des Wortes. Ihre exklusive christliche Identität wurde zunächst ausschließlich in der außeralltäglichen Institution der gottesdienstlichen Versammlung als eine soziale Wirklichkeit dargestellt und erfahren. Es war allererst der Gottesdienst, in dem die paulinischen Christen zur Anschauung bringen konnten, dass die Zugehörigkeit zu ein und demselben Herrn auch in einer gemeinsamen sozialen Handlung darstellbar war. Oder um es noch einmal zuzuspitzen: Es war die außeralltägliche Feier des Gottesdienstes, die als institutioneller Kontext fungierte, in dem die an Jesus Christus Glaubenden und auf ihn Getauften zur Anschauung bringen und erfahren konnten, dass es „in Christus“ nicht „Juden noch 100

S.o. S. 128. Vgl. in diesem Sinne dann auch SCHLEIERMACHER, Sitte (s. Anm. 26), 51, der hier den christlichen Gottesdienst als „allgemeine(n) Typus“ des den „gemeinsamen christlichen Zustand“ darstellenden Handelns bezeichnet. 102 S. auch L. SCHENKE, Die Urgemeinde, Stuttgart 1990, 88–90.94–99.107–114 (mit weiterer Literatur); ROLOFF, Kirche (s. Anm. 20), 71ff; B. KOLLMANN, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (GTA 43), Göttingen 1990, 71ff. Um eine „Lebensgemeinschaft“ oder „vita communis“ (so P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I, Göttingen 1992, 204) handelte es sich dabei mit Sicherheit nicht, denn diese Versammlungen waren natürlich außeralltägliche Veranstaltungen. – Bei der von Lukas geschilderten „Gütergemeinschaft“ der Urgemeinde (vgl. Apg 2,44b–45; 4,32–35) handelt es sich um die sozialutopische Überhöhung einer idealen Urzeit, die Lukas aus dem Bildungsgut seiner Zeit aufnimmt (vgl. Plato, Crit. 110cd; Jamblichus, Vit. Pyth. 30.167.168). 101

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Griechen gibt, nicht Sklave noch Freier und nicht männlich noch weiblich“ (Gal 3,28; s. auch Röm 12,4f; 1.Kor 10,17; 12,12f.27) oder in dem sie das erfahren konnten, was Paulus in 1.Kor 10,17 schreibt: ἓν σῶμα οἱ πολλοί ἐσμεν. Diese Bedeutung der gottesdienstlichen Versammlung für die Darstellung und Wahrnehmung christlicher Identität dürfte auch verantwortlich dafür geworden sein, dass das Wort ἐκκλησία, das bisher und außerhalb der christlichen Literatur auch weiterhin immer nur eine zeitlich befristete „Versammlung“ bezeichnete (im Neuen Testament z.B. auch Apg 19,39f)103, im frühen Christentum (und nur hier) auf einmal in metonymischer Weise als Gruppenbezeichnung („Gemeinde“) gebraucht werden konnte.104 Die Sozialgestalt von Christentum war also ursprünglich eine außeralltägliche Angelegenheit, denn diejenigen exklusiven Handlungen, die für das christliche Ethos in der oben dargestellten Weise105 spezifisch waren, sind stets außeralltägliche Handlungen gewesen. 2. Dass diese Funktion der gottesdienstlichen Versammlung auch für Paulus von zentraler Bedeutung für die Darstellung der christlichen Identität als Ekklesia gewesen ist, lässt die Heftigkeit erkennen, mit der er in 1.Kor 11,17–34 auf die in der korinthischen Gemeinde praktizierte Art und Weise der Herrenmahlsfeier reagiert. Der Situationsbeschreibung in V. 21 („Jeder nimmt sein eigenes Mahl vorweg, und der eine hungert, während der andere betrunken ist“) und der Aufforderung in V. 33 („Darum, meine Brüder: wenn ihr zum Essen zusammenkommt, wartet aufeinander!“) lässt sich ungefähr das Folgende entnehmen106: Die Gemeinde von Korinth feiert das Herrenmahl nicht als eine ge103 S. auch 1.Kor 11,18: Zur Feier des Herrenmahls kommen die korinthischen Christen „in einer Versammlung“ (ἐν ἐκκλησίᾳ) zusammen; auch in 14,28.33 ist wohl die zeitlich befristete gottesdienstliche Versammlung gemeint. 104 Der Übergang wird vielleicht in 1.Kor 14,23 greifbar, wo Paulus davon spricht, dass ἡ ἐκκλησία ὅλη ἐπὶ τὸ αὐτό zusammenkommt: Die ἐκκλησία konstituiert sich als solche in der Versammlung, hört jedoch nach ihrem Ende nicht auf, ἐκκλησία zu sein. Als Gruppenbezeichnung ist ἐκκλησία auch dort im Blick, wo Paulus davon spricht, dass er sie verfolgt hat (1.Kor 15,9; Gal 1,13; Phil 3,6). Vgl. dazu vor allem K. BERGER, Volksversammlung und Gemeinde Gottes, ZThK 73 (1976) 167–207; ROLOFF, Kirche (s. Anm. 20), 83ff.96ff; W. SCHENK, Die ältesten Selbstverständnisse christlicher Gruppen im ersten Jahrhundert, ANRW 2/26/2 (1995) 1357–1467, hier 1397ff mit einer stichhaltigen Kritik (1399 Anm. 132) an der verbreiteten Annahme, ἐκκλησία τοῦ θεοῦ sei die Übersetzung des „dem apokalyptischen Judentum entstammenden hebräischen Terminus“ la lhq, der „das endzeitliche Aufgebot Gottes“ bezeichnen sollte (ROLOFF, a.a.O. 83; s. auch STUHLMACHER, Biblische Theologie I [s. Anm. 102], 199f). 105 S.o. S. 127ff. 106 Vgl. dazu vor allem B. W. WINTER, The Lord’s Supper at Corinth. An Alternative Reconstruction, RTR 37 (1978) 73–82; H.-J. KLAUCK, Herrenmahl und hellenistischer Kult.

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meinsame Mahlzeit, an der wirklich alle Gemeindemitglieder partizipieren, sondern in Gruppen getrennt und offensichtlich auch zeitlich versetzt: Manche Gemeindemitglieder kommen nicht nur früher und fangen dabei schon mit dem Essen an, bevor auch die anderen eingetroffen sind, sondern sie teilen dabei das von ihnen mitgebrachte Essen auch nicht mit allen anderen, sondern verzehren es für sich und getrennt von den anderen.107 Es besteht ein recht großer Konsens darin, dass diese σχίσματα (V. 18) und αἱρέσεις (V. 19) die sozio-ökonomischen Statusdifferenzen aus dem alltagsweltlichen Kontext der Gemeinde abbilden. „Der eine hungert, während der andere betrunken ist“ – daraus lässt sich schließen, dass reiche und arme Christen bei der Herrenmahlsfeier jeweils unter sich blieben; jeder aß zusammen mit denen, die sozial zu ihm passten. Damit hatten nun aber die alltagsweltlichen Statusdifferenzen Einzug in den Gottesdienst gehalten, und der Sinn der Herrenmahlsfeier war in sein Gegenteil verkehrt worden: Sie brachte nicht die alle Differenzen übergreifende Einheit zur Anschauung, sondern war zum Ausdruck der lebensweltlichen Unterschiede zwischen den Gemeindemitgliedern geworden. Demgegenüber insistiert Paulus darauf, dass die Feier des Herrenmahls nicht eine Angelegenheit des christlichen Individuums ist, sondern eine Feier der Gemeinde. Er verlangt darum, dass die Gemeinde zu einer gemeinsamen Feier des Herrenmahls zurückkehrt („Wartet aufeinander!“; V. 33), und seine ethische Weisung lautet dementsprechend (V. 34): „Wenn einer Hunger hat, soll er zuhause essen“ (s. auch schon V. 22). Nur als eine gemeinsame Feier kann das Herrenmahl zum Realsymbol einer durch Jesus Christus gestifteten Einheit werden, die über alle alltagsweltlich begründeten Differenzen zwischen den Christen dominiert. Worum es Paulus geht, wird darum mit hinreichender Klarheit deutlich: Er fordert nicht etwa die Beseitigung der sozio-ökonomischen Unterschiede zwischen den Christen. Was er verlangt, ist vielmehr nicht mehr und nicht weniger, als dass die Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief (NTA.NF 15), Münster 1982, 287–297; O. HOFIUS, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis, in: ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 21994, 203–240; M. KLINGHARDT, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen/Basel 1996, 286ff; D. G. HORRELL, The Social Ethos of the Corinthian Correspondence, Edinburgh 1996, 102–105; M. KONRADT, Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin / New York 2003, 402–451. 107 Mit dieser Rekonstruktion folge ich den dafür maßgeblichen Interpretationen der Verben προλαμβάνειν (V. 21) und ἐκδέχεσθαι (V. 33) u.a. von C. K. BARRETT, A Commentary on the First Epistle to the Corinthians, London 1971, 276; KLAUCK, Herrenmahl (s. Anm. 106), 328; KONRADT, Gericht (s. Anm. 106), 403ff. Vor allem KONRADT hat gezeigt (ebd. 405ff), dass die u.a. von WINTER, Lord’s Supper (s. Anm. 106) 79; HOFIUS, Herrenmahl (s. Anm. 106), 216ff; KLINGHARDT, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 106), 297ff vorgetragene nicht-temporale Deutung der beiden Verben im Sinne von „einnehmen“ und „annehmen“ unhaltbar ist.

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christliche Ekklesia beim Herrenmahl eine Sozialität praktiziert, in der diese Unterschiede unerkennbar werden. Nur darin kommt zum Ausdruck, dass allein Jesus Christus der „Herr“ der Gemeinde ist, und nur so ist sichergestellt, dass sie das Mahl, durch das sie „den Tod des Herrn verkündigt, bis er kommt“ (V. 26), auch wirklich als „Herrenmahl“ (κυριακὸν δεῖπνον) feiert.108 Die Konstellation, die in 1.Kor 11,17–34 erkennbar wird, lässt im Übrigen dieselbe theologische Substruktur erkennen wie der antiochenische Konflikt, von dem Paulus in Gal 2,11–14 berichtet: Hier wie dort ist die christliche Kommensalität, die als institutionalisierte Handlung (Ethos) die Identität der an Jesus Christus Glaubenden und auf ihn Getauften abbildet, dadurch bedroht, dass die Gemeinde bei der Mahlfeier in Gruppen zerfällt. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass es in Antiochien die Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christen war, die den Dominanzanspruch erhob, während in Korinth die ekklesiale Einheit der christlichen Mahlgemeinschaft durch sozio-ökonomische Differenzen in den Hintergrund gedrängt wurde. 3. Der nächste Schritt ergibt sich fast von selbst: Wenn es die außeralltägliche sowie zeitlich wie räumlich begrenzte Ekklesia ist, in der die exklusive Identität der an Jesus Christus Glaubenden und auf ihn Getauften ethisch zur Darstellung gebracht wurde, stellt sich die Frage, wie es denn mit der Darstellung der christlichen Identität in alltagsweltlichen Kontexten steht. Zwei mögliche Antworten sind denkbar: Die eine besteht darin, dass man sagt: Die christliche Identität kommt einzig und allein in der gemeinsamen gottesdienstlichen Versammlung zum Ausdruck. Der soziale Kontext der alltäglichen Lebenswelt mit ihren unterschiedlichen Handlungsfeldern ist demgegenüber theologisch bedeutungslos und muss darum auch nicht ethisch gestaltet werden. Die andere Möglichkeit ist das genaue Gegenteil: Sie insistiert darauf, dass der Alltag keineswegs von der Frage nach der ethischen Darstellung der christlichen Identität durch ein christliches Ethos ausgenommen ist. Hieraus ergeben sich wiederum zwei Untermöglichkeiten: Man kann nicht nur darüber streiten, welche lebensweltlichen Kontexte für eine solche Inkulturation christlicher Identität in den Alltag überhaupt ethisch relevant sind und welche nicht, sondern auch darüber, welche bestimmten Handlungen es dann im Einzelnen sind, durch die christliche Identität in einem bestimmten Kontext als soziale Identität zur Anschauung gebracht wird. Dass in der Tat eben diese Fragen in den paulinischen Gemeinden diskutiert wurden, geht vor allem aus dem 1. Korintherbrief hervor. Wir können in ihm auch das Spektrum der möglichen Positionen deutlich erkennen: 108

Vgl. auch J. SCHRÖTER, Das Abendmahl (SBS 210), Stuttgart 2006, 33f.

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a) Als ein Beispiel dafür, dass zumindest Teile der korinthischen Gemeinde zwischen der Darstellung ihrer christlichen Identität im Gottesdienst und dem Alltag eine deutliche Trennungslinie zogen, wird in der Praxis erkennbar, die Paulus in 1.Kor 6,1–8 thematisiert: Wenn es unter Angehörigen der Gemeinde Auseinandersetzungen um βιωτικά gibt, wie Paulus das nennt (V. 3), d.h. um Angelegenheiten des Alltags, tun sie das, was sie immer getan haben und was man üblicherweise tut: Sie lassen diesen Konflikt von einem Zivilgericht lösen.109 Worum es dabei ging, ist auf der Ebene, auf der Paulus diese Praxis kritisiert, irrelevant. Demgegenüber vertritt Paulus genau die gegenteilige Position: Seine Stellungnahme zu dieser Praxis ist unmissverständlich, und sie lässt sich darüber hinaus als unmittelbare Verlängerung seiner Ausführungen über die Feier des Herrenmahls in 1.Kor 11 interpretieren110. Während er dort dafür eintrat, dass lebensweltliche Differenzen nicht in den Gottesdienst eindringen dürfen, dreht er hier die Perspektive um und verlangt, dass die ethische Darstellung der christlichen Identität als eine alle alltagsweltlichen Unterschiede hinter sich lassende gemeinsame Identität auch in alltagsweltlichen Kontexten erforderlich ist. Greifbar wird diese ekklesiologische Substruktur der ethischen Argumentation in 1.Kor 6 vor allem darin, dass Paulus die Prozessführer nicht weniger als vier Mal „Brüder“ nennt (V. 5.[bis]8). Er benutzt damit eine soziale Metapher, die sie auf ihre gemeinsame und egalitäre Identität hin anspricht, die ihnen ausschließlich innerhalb der symbolischen Sinnwelt der Ekklesia zukommt.111 Paulus konkretisiert seine paränetische Weisung auf zwei Ebenen: Auf der Ebene des juristischen Verfahrens sollen die jeweiligen Prozessgegner die Gemeinsamkeit ihrer Identität dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie ihre Differenzen innerhalb der christlichen Gemeinde lösen. Sie sollen nicht zu einem Richter gehen, der innerhalb der ἐκκλησία (sic!) nichts gilt (V. 4), sondern sie sollen ihre Differenzen vor einer Person aus den eigenen Reihen austragen. – Das ist aber nur die zweitbeste Lösung denn am besten wäre es, wenn beide einen einseitigen Rechtsverzicht praktizieren würden (V. 7): „Warum lasst ihr euch nicht lieber Unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber übervorteilen?“. Diese rhetorische Frage, die eine ethische Weisung impliziert, ist von demselben Prinzip der egalitären Reziprozität geleitet, das wir auch sonst bei Paulus finden.112 Sie bezieht sich auf beide Prozess109 S. auch HORRELL, Ethos (s. Anm. 106), 109ff. Für die prozessualen Abläufe vgl. B. W. WINTER, Civil Litigation in Secular Corinth and the Church. The Forensic Background to 1 Corinthians 6.1–8, NTS 37 (1991) 559–572; M. KASER / K. HACKL, Das römische Zivilprozessrecht (HAW 3/4), München 1996, 107ff. 110 S. dazu o. S. 155ff. 111 Vgl. dazu GERBER, Paulus (s. Anm. 83), 344ff. 112 S.o. S. 152ff.

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parteien; Paulus unterscheidet also nicht zwischen Kläger und Beklagtem. Es ist gerade diese Reziprozität, die die paulinische Forderung juristisch paradox macht. Genau darin tritt jedoch ihr theologisches Profil zutage, denn Paulus macht mit ihr deutlich, dass auch dem christlichen Alltagsleben eine ekklesiologische Qualität zukommt. Das ist so, weil diese Weisung nichts anderes ist als die juristische Version der in 1.Kor 10,24 ausgesprochenen ethischen Weisung: „Niemand suche das Seine, sondern jeder das des Anderen!“. Es sind also beide Prozessgegner, die dazu aufgefordert werden, eine Lösung für ihren lebensweltlichen Dissens als integralen Bestandteil ihrer gemeinsamen christlichen Identität zu suchen, und das heißt: Sie sollen ihren Konflikt gemeinsam lösen, und sie sollen ihn so lösen, dass in der Art und Weise dieser Lösung zum Ausdruck kommt, dass sie auf Grund ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zu Jesus Christus „Brüder“ sind. Wir können die ethische Weisung, die Paulus den Prozessgegnern in V. 7–8 gibt, aber auch mit den Worten von 1.Kor 10,23 beschreiben: Beide sollen den Konflikt um die βιωτικά so lösen, dass dabei die Ekklesia „erbaut“ wird. b) Als zweiter Bereich lässt sich das Verhältnis von Mann und Frau identifizieren. Es geht dabei vor allem um die sexuellen Aspekte dieses Verhältnisses. Diesbezügliche Fragen werden in 1.Kor 5,1–13; 6,12–20 und 7,1–40 behandelt. In diesem Zusammenhang spricht sehr viel dafür, dass die Unterscheidung zwischen der außeralltäglichen gottesdienstlichen Versammlung und der alltäglichen Lebenswelt ebenfalls bei der in 5,1–13 und 6,12–20 besprochenen Sachlage im Hintergrund steht. In 5,1 beschreibt Paulus sie mit den Worten von Lev 18,8: „Einer hat ‚die Frau seines Vaters‘“. Nach dem Maßstab der in Korinth damals gültigen Rechtslage dürfte es sich um die ehemalige Konkubine seines Vaters gehandelt haben.113 Sowohl der junge Mann, dessen Entfernung aus der Gemeinde Paulus verlangt (5,4–13), als auch – das geht aus V. 2 hervor – mindestens der überwiegende Teil der korinthischen Gemeinde haben darin ganz offensichtlich eine reine Privatsache gesehen, die mit der Ekklesia als der Institution, in der die christliche Identität zum Ausdruck kommt, nichts zu tun hat. Das dürfte ihnen vor allem darum auch nicht schwer gefallen sein, weil das Verhalten, das Paulus als πορνεία bezeichnet (V. 1), zu dem von der Mehrheitsgesellschaft akzeptierten Sexualethos durchaus nicht in Widerspruch stand. Es handelte sich also nicht um „einen öffentlichen, bewußten und sozusagen provokativ-ideologischen Akt“, durch den der Betroffene seine neugewonnene christliche Freiheit demonstrieren wollte114, sondern um ein Element des von den Angehörigen 113

S. dazu u. S. 181–196, vor allem S. 184f Anm. 12. So W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther I (EKK 7/1), Zürich und Braunschweig / Neukirchen-Vluyn 1991, 372, der hier stellvertretend für viele andere Vertreter dieser Sicht zitiert sei. 114

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der korinthischen Gemeinde praktizierten inklusiven Ethos, das – wie viele andere Handlungen – durch ihre Hinwendung zum christlichen Glauben nicht tangiert wurde.115 Auf der anderen Seite gibt 1.Kor 7,1–40 zu erkennen, dass es in der korinthischen Gemeinde aber auch eine andere Sicht gab: Aus V. 1 geht hervor, dass Paulus einen Brief erhalten hat, in dem er um Rat zu Fragen des christlichen Sexualethos gebeten wurde. Abgesehen von der Frage, die Paulus in V. 1 anspricht (darf ein christlicher Mann eine Frau „berühren“ [ἅπτεσθαι]116 oder nicht?)117, können wir nicht sagen, welche der Themen, die Paulus dann im Folgenden diskutiert, bereits in dem Brief angesprochen worden waren und welche Paulus von sich aus thematisiert118: ob verheiratete Christen miteinander sexuell verkehren dürfen (V. 1–7), ob unverheiratete oder verwitwete Christen heiraten dürfen (V. 8–9.25–40) und ob man sich von seinem Ehepartner – zumal wenn er „ungläubig“ ist – trennen darf oder soll (V. 10–16). Wir können aus der paulinischen Darstellung jedoch zweierlei erschließen: Zum einen hat es in Korinth auch Christen gegeben, die das alltagsweltliche Sexualethos als relevant für die ethische Darstellung ihrer christlichen Identität erachteten, und zum anderen haben sie dabei sexuelle Enthaltsamkeit als Merkmal eines solchen distinkt christlichen Sexualethos angesehen. Wenn wir diese Meinung mit der in 5,1 angesprochenen Lebensgemeinschaft eines Christen mit der Konkubine seines verstorbenen Vaters vergleichen, wird erkennbar, wie groß das Spektrum der sexualethischen Einstellungen unter den korinthischen Christen tatsächlich war. – Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass diese Fragen erst mehr als drei Jahre nach der Gründung der korinthischen Gemeinde119 auf die Ta115

S. auch G. SELLIN, Hauptprobleme des Ersten Korintherbriefes, ANRW 2/25/4 (1987) 2941–3044, hier 3002; R. KIRCHHOFF, Die Sünde gegen den eigenen Leib (StUNT 18), Göttingen 1994, 100f; H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther. II. Kapitel 5,1 – 11,1 (ÖTK 7/2), Gütersloh/Würzburg 2000, 27. Für den allgemeinen Hintergrund vgl. darüber hinaus die hilfreiche Darstellung von S. J. CHESTER, Conversion at Corinth, London / New York 2003. 116 Für den Gebrauch von ἅπτεσθαι als Euphemismus für sexuellen Verkehr vgl. auch Plato, Leg. 840a; Plutarch, Alexander 21,9; Josephus, Ant. 1,163; Mark Aurel 1,17,13; Gen 20,6; Prov 6,29; Kol 2,21. 117 Bei der Formulierung: „Es ist gut für einen Mann, eine Frau nicht zu berühren“, handelt es sich wohl um ein Zitat, das die Position einer bestimmten Gruppe wiedergibt. Wahrscheinlich war dies dieselbe Gruppe, die aus den „Schwachen“ von 1.Kor 8,9.11; 9,22 bestand (s. auch V. 7.10) und die auch Bedenken hatte, sog. „Götzenopferfleisch“ zu essen; s. dazu u. Abschn. c. 118 Vgl. zu dieser Frage M. MITCHELL, Concerning περὶ δέ in 1 Corinthians, NT 31 (1989) 229–256. 119 Paulus hat die korinthische Gemeinde ungefähr im Jahr 50/51 gegründet (vgl. Apg 18,1–11), und den 1. Korintherbrief von Ephesus aus (1.Kor 16,8) im Frühjahr 54 oder 55 geschrieben. Die Anfrage aus Korinth hätte ihn dann kurz vorher erreicht.

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gesordnung gesetzt wurden. So lange hat es gedauert, bis in Korinth die Frage aufkam, ob es so etwas wie ein spezifisch christliches Sexualethos gibt oder nicht. Es ist überaus aufschlussreich, wie Paulus mit der sexualethischen Sachund Problemlage in Korinth umgeht: In Bezug auf den in Kap. 7 angesprochenen Themenkreis teilt er die Ansicht derjenigen, die die Ehe und das eheliche Sexualethos für eine Privatsache halten. Profilbestimmend für seine Antwort sind dabei vor allem zwei Merkmale: Das erste Merkmal ist der Pluralismus möglicher christlicher Lebensstile: Von den fünf Fragen, die Paulus hier erörtert, beantwortet er nicht weniger als vier nach dem Muster ‚Ich empfehle dies, doch ist es nicht schlimm, wenn ihr etwas anderes macht‘: – Paulus empfiehlt Enthaltsamkeit, doch „jeder Mann soll seine eigene Frau haben und jede Frau ihren eigenen Mann“ (7,2). – Bemerkenswert sind hier vor allem die sich daran anschließenden Empfehlungen zur Gestaltung des ehelichen Sexuallebens in V. 3–4: „Gegenüber der Frau soll der Mann die Pflicht erfüllen, in gleicher Weise aber auch die Frau gegenüber dem Mann. Die Frau verfügt nicht über den eigenen Leib, sondern der Mann; in gleicher Weise verfügt aber auch der Mann nicht über den eigenen Leib, sondern die Frau.“ Sie lassen dasselbe ethische Prinzip der egalitären Reziprozität erkennen, das an anderen Stellen für die paulinischen Weisungen charakteristisch ist, die den Adressaten seiner Briefe sagen, wie sie in der Ekklesia miteinander umgehen sollen.120 Auch hier lässt Paulus also das Ethos der Ekklesia in den Alltag übergreifen. – Paulus empfiehlt, dass die Unverheirateten und die Verwitweten so bleiben, wie sie sind; wenn sie aber nicht enthaltsam leben könnten, sollten sie ruhig heiraten (7,9). – Paulus empfiehlt, dass eine geschiedene Frau nicht wieder heiratet, aber er hält es auch für möglich, dass sie ihren Ex-Mann erneut heiratet (7,11). – Paulus empfiehlt, dass ein junger Mann seine Verlobte besser nicht heiratet, aber es sei nicht schlimm, wenn er es trotzdem tut (7,25–28). Nur zur Scheidung und zur Wiederheirat von Geschiedenen sagt Paulus eindeutig „Nein!“ (7,10). Er bezieht sich hier auf ein Jesuswort, das aller Wahrscheinlichkeit nach in Lk 16,18 par. Mt 5,32 erhalten ist. Damit – und auch das ist wieder aufschlussreich – begründet er sein Verbot nicht durch ein theologisches Argument, sondern einzig und allein durch die Autorität Jesu.121

Das andere Merkmal ist der untheologische Pragmatismus der Begründungen, mit denen Paulus seine Empfehlungen versieht: Zum einen weiß er um die Macht der menschlichen Sexualität, und er integriert sie positiv in seine 120

S.o. S. 152ff. Vgl. dazu A. LINDEMANN, Die Funktion der Herrenworte in der ethischen Argumentation des Paulus im ersten Korintherbrief, in: The Four Gospels 1992. FS Frans Neirynck (BEThL 100), Leuven 1992, 677–688, hier 678ff; M. U. R. ZIMMERMANN, Zitation, Kontradiktion, Applikation? Die Jesuslogien in 1Kor 7,10f. und 9,14, ZNW 87 (1996) 83–100. 121

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Argumentation (7,5.9). Zum anderen begründet er seine Empfehlung, nicht zu heiraten, mit dem Hinweis auf das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt und die mit ihm einhergehende „Not“ (ἀνάγκη, V. 26). Er begründet seine Empfehlung damit, dass sie den Zweck hat, die Verheirateten vor „äußerer Bedrängnis“ (θλῖψις τῇ σαρκί) zu „schonen“ (V. 29). Eine ganz andere Position bezieht Paulus demgegenüber in 1.Kor 5122: Er definiert die hier im Hintergrund stehende Situation als einen Fall von „Unzucht“ (πορνεία123) und erklärt ein solches Verhalten für prinzipiell unvereinbar mit der christlichen Identität. Er stellt die πορνεία auf eine Stufe mit dem „Götzendienst“ (εἰδωλολατρία); vgl. 6,18 (φεύγετε τὴν πορνείαν) mit 10,14 (φεύγετε ἀπὸ τῆς εἰδωλολατρίας), weil sie wie diese die Exklusivität der Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn zerstört (6,12–20). – Paulus nimmt das Problem dabei durch die jüdische Brille wahr, und dementsprechend beschreibt er die Problemlage auch von einem jüdischen Wirklichkeitsverständnis aus: εἰδωλολατρία und πορνεία sind nach jüdischem Verständnis die typischen Laster der Heiden.124 Damit stellt sich natürlich die Frage, aus welchem Grunde Paulus das jüdische Sexualethos auch für Christen verbindlich macht, obwohl er doch in anderen Fällen die Forderung einer Übernahme vergleichbarer Merkmale des exklusiv jüdischen Ethos in das christliche Ethos ausdrücklich und mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen hat – wie etwa die Forderung der Beschneidung im Galaterbrief oder die Speisehalacha beim Konflikt in Antiochien (Gal 2,11–14). Sicherheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit lässt sich an diesem Punkt nicht gewinnen, doch könnte eine Rolle gespielt haben, dass wir uns hier in der Vorgeschichte der sog. noachidischen Gebote befinden, die als „Tora für die Völker“125 den Nichtjuden ein Leben im Angesicht Gottes und in Gemeinschaft mit Israel ermöglichen sollten.126 Die Siebenzahl einer solchen Reihe ist erstmals in der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. belegt.127 Innerhalb dieser Reihe ist die Trias der Verbote von Götzen122

S. dazu ausführlich u. S. 181–196. Zur Bedeutung dieses Begriffs s.u. S. 186ff; er bezeichnet bei Paulus alles, was nach jüdischer Sexualhalacha verboten war (vgl. KIRCHHOFF, Sünde [s. Anm. 115], 18ff). 124 Vgl. z.B. SapSal 14,11f; Philo, Decal. 8; 1.Thess 4,3–5 mit G. P. CARRAS, Jewish Ethics and Gentile Converts. Remarks on 1 Thes 4,3-8, in: The Thessalonian Correspondence, ed. R. F. Collins (BEThL 87), Leuven 1990, 306–315, bes. 311ff. 125 Vgl. dazu den Titel der Arbeit von K. MÜLLER, Tora für die Völker, Berlin 1994. 126 Sie umfassen sieben Gebote (tAwc.m.): die Verpflichtung zur Rechtspflege sowie die Verbote von Götzendienst, Gotteslästerung, Unzucht, Blutvergießen, Raub und einem Glied vom lebenden Tier (gemeint ist damit der Verzehr eines Gliedes, das von einem Tier abgetrennt wurde, das noch nicht vollständig tot war; vgl. MÜLLER, Tora für die Völker [s. Anm. 125], 128ff). Der älteste literarische Beleg für diese Reihe ist der Tosefta-Traktat Avoda Zara 8,4, ein Text, der „um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert n. Chr. anzusetzen ist“ (MÜLLER, ebd. 25). 127 Vgl. MÜLLER, ebd. 32f. 123

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dienst, Unzucht und Blutvergießen nicht nur qualitativ herausgehoben (sie darf ein Jude selbst dann nicht übertreten, wenn er sich in Lebensgefahr befindet und dadurch sein Leben retten könnte; vgl. bSan 74a), sondern sie hat auch eine Vorgeschichte in frühjüdischer Zeit.128 Dass Paulus mit der jüdischen Sexualhalacha so dezidiert anders umgeht als mit der Beschneidungs- und Speisehalacha, könnte seinen Grund darin haben, dass auch in seiner Zeit schon die (natürlich jüdisch definierte) πορνεία neben der εἰδωλολατρία dieselbe Sonderstellung eingenommen hat, die ihr dann auch in den noachidischen Geboten zugeschrieben wurde.129 Die Sonderstellung, die Paulus ihr in 1.Kor 6,18 zuschreibt („jede Sündentat, die ein Mensch begeht, bleibt außerhalb des Leibes [ἐκτὸς τοῦ σώματος]; ὁ δὲ πορνεύων sündigt gegen den eigenen Leib“), wäre dann so etwas wie eine theologische Rationalisierung dieser Sichtweise. Auf jeden Fall ist aber deutlich, dass Paulus damit in material-ethischer Hinsicht nicht etwa ein exklusives christliches Ethos ausdifferenziert, sondern wie auch schon in 1.Thess 4,3–5 Bestandteile des traditionellen jüdischen Ethos übernimmt. Dass darin auch ein Stück theologischer Inkonsequenz steckt, ist nicht zu übersehen, und auf diese Schwachstelle hat dann auch der junge Mann, dessen Verhalten Paulus in 1.Kor 5,1–13 so scharf kritisiert, in seinem Antwortschreiben mit hinreichender Deutlichkeit aufmerksam gemacht.130 c) Ein dritter Kontext alltagsweltlichen Verhaltens wird in 1.Kor 8,1–13 und 10,23 – 11,1 sowie in Röm 14,1 – 15,7 erkennbar. Hier geht es darum, wie die Angehörigen einer christlichen Gemeinde mit unterschiedlichen Essgewohnheiten umgehen. In Korinth ging es um die Frage, ob Christen sog. „Götzenopferfleisch“ (εἰδωλόθυτον [1.Kor 8,1.4.7.10; 10,19] bzw. ἱερόθυτον [10,28]) essen dürfen, also Fleisch, das von Opfertieren stammte und in den freien Verkauf gelangte.131 Es konnte darum sowohl in öffentlichen Restaurants als auch in privaten Haushalten zum Verzehr gelangen. In der Gemeinde gab es eine Gruppe, von der Paulus in 8,1.7.10f sagt, dass ihre Mitglieder über „Erkenntnis“ (γνῶσις) verfügen und dass sie nicht nur keine Bedenken hatten, von diesem Fleisch zu essen, sondern dass sie dies ganz offensichtlich auch demonstrativ praktizierten. – Ihnen stand eine andere Gruppe gegenüber, (die sog. „Schwachen“ 128

Vgl. dazu MÜLLER, ebd. 174ff; M. MILLARD, Die rabbinischen noachidischen Gebote und das biblische Gebot Gottes an Noah, WuD 23 (1995) 71–90, hier 83; s. auch M. BOCKMUEHL, The Noachide Commandments and New Testament Ethics, RB 102 (1995) 72–101. 129 Dass Paulus nicht auch das Blutvergießen eigens thematisiert, wird seinen Grund darin gehabt haben, dass es unter den ersten Christen eher nicht vorgekommen ist. 130 S.u. S. 181–196. 131 Vgl. dazu aus neuerer Zeit J. F. M. SMIT, About the Idol Offerings. Rhetoric, Social Context and Theology of Paul’s Discourse in First Corinthians 8:1 – 11:1 (CBET 27), Leuven 2000; J. FOTOPOULOS, Food Offered to Idols in Roman Corinth (WUNT 2/151), Tübingen 2002.

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[ἀσθενεῖς]; 8,9.11; 9,22; s. auch 8,7.10)132, deren Mitglieder ganz offensichtlich schwere Bedenken gegen den Verzehr dieses Fleisches hatten, weil sie es ganz offenkundig nicht von seiner Beziehung zu den heidnischen Gottheiten ablösen konnten. In 1.Kor 8,7 charakterisiert Paulus sie mit den Worten: „Aber nicht in allen ist Erkenntnis; auf Grund der immer noch bestehenden Gewöhnung an den Götzen essen es manche als Götzenopferfleisch.“ In Rom ist der Dissens noch etwas grundsätzlicher: Ein Teil der dortigen Gemeinde (die auch hier so genannten „Schwachen [im Glauben]“: 14,1.2) aß (nur) „Gemüse“ (d.h. überhaupt kein Fleisch; 14,2), und sie trank vermutlich auch keinen Wein (14,21), während die sog. „Starken“ alles aßen und tranken (14,2.5). In beiden Fällen sind beide Seiten zwar gemeinsam davon überzeugt, dass ihre christliche Identität Konsequenzen für ihr alltagsweltliches Ethos hat, doch ziehen sie daraus gegenteilige Konsequenzen. Mit beiden Konflikten geht Paulus ähnlich um: Hier wie dort teilt er die theologische Position derjenigen, die keinerlei Speisetabus praktizieren, weil Speisekarten seiner Meinung nach grundsätzlich keine theologische Qualität haben können. Er stellt sich in eine Reihe mit den „Starken“ (Röm 15,1) bzw. mit denen, die „Erkenntnis“ haben (1.Kor 8,1) und wissen, „dass es so etwas wie einen Götzen in der Welt nicht gibt und dass es keinen Gott gibt außer dem Einen“ (V. 4). Aus diesem Grunde kann er den Korinthern bestätigen, dass der Substanz des Fleisches, auch wenn es von Opfertieren stammt, keinerlei religiöse Qualität zukommt (8,8; 10,25–27; s. auch Röm 14,14). Paulus stellt also klar, dass „Götzenopferfleisch“ nicht eine ontische Qualität ist, sondern ein Zuschreibungsphänomen. Für ihn und für die anderen mit „Erkenntnis“ Ausgestatteten hat Fleisch, das von Opfertieren stammt, dieselbe Qualität wie anderes Fleisch, denn (mit Ps 24,1 gesagt): „Dem Herrn gehört die Erde und ihre Fülle“ (1.Kor 10,26). Für die ethische Weisung, die Paulus in beiden Fällen gibt, gilt nun aber, dass sie sich nicht auf der materialen Ebene des Konfliktgegenstandes bewegt (hier müsste er das Verhalten der „Starken“ bestätigen und das der „Schwachen“ kritisieren), sondern auf der Ebene des Umgangs mit dem Konflikt. Aufschlussreich ist schon, dass er in 1.Kor 8,1.4.7.10; 10,19 den Begriff εἰδωλόθυτον („Götzenopferfleisch“) verwendet und damit das Problem aus der Perspektive der „Schwachen“ beschreibt.133 Seiner Darstellung 132 Zur Bedeutung dieser Bezeichnung s. u. S. 191 Anm. 44. – Es spricht einiges dafür, dass Paulus mit ihr einen Begriff aufgreift, der bereits in der Auseinandersetzung innerhalb der korinthischen Gemeinde gebraucht wurde. Wahrscheinlich haben ihn bereits diejenigen, die den Anspruch erhoben, über „Erkenntnis“ zu verfügen (8,1), benutzt, um die andere Seite in polemischer Weise herabzusetzen. 133 Die „neutrale“ Bezeichnung ἱερόθυτον begegnet nur in 10,28 als fiktives Zitat im Munde eines Nichtchristen (s. auch Anm. 135).

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zufolge ist es auch gerade die Art und Weise des Umgangs mit alltagsweltlich begründeten Differenzen, in der wie in 1.Kor 6,1–8 die exklusive Identität der Gemeinde Jesu Christi dargestellt wird. In beiden Briefen fordert Paulus die Adressaten dementsprechend dazu auf, die Verhaltensgewissheiten der jeweils anderen Seite ernst zu nehmen: „Wer isst, isst dem Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, isst dem Herrn nicht, und er dankt Gott auch“ (Röm 14,6). In der ethischen Argumentation kommt dies in beiden Briefen darin zum Ausdruck, dass Paulus jeweils noch eine zweite Ebene einzieht, auf der er den ethischen Konflikt nicht mit Bezug auf seinen materialen Gegenstand behandelt („darf man essen oder nicht?“), sondern als ein soziales bzw. ekklesiales Problem. Die Auseinandersetzungen um das Was des Essens wären nämlich genau in dem Augenblick bedeutungslos, wenn sich alle Gemeindemitglieder in dieser Frage einig wären – so oder so. In 1.Kor 8,9–13 kommt diese Verlagerung der ethischen Fragestellung darin zum Ausdruck, dass Paulus zunächst auf die Praxis des Verzehrs von Opferfleisch durch die „Starken“ eingeht, und zwar näherhin auf die Folgen, die ein öffentlich praktiziertes Essen für die „Schwachen“ möglicherweise haben könnte. Es geht also nicht um den Verzehr der Substanz, sondern um den Vorgang des Essens und seiner sozialen Zeichenfunktion. Die sog. „Schwachen“ könnten durch die Praxis der „Starken“ veranlasst werden, gegen ihre eigenen Bedenken Opferfleisch zu essen (V. 9–11a), wodurch sie sich ihrer eigenen Überzeugung nach wieder der Macht der „Götzen“ unterstellen würden. In einem zweiten Schritt wird der „Schwache“ (V. 11a), an dem die „Starken“ durch ihre soziale Praxis möglicherweise schuldig werden, umbenannt (V. 11b–13): Paulus nennt ihn jetzt „Bruder“, d.h. er identifiziert ihn mit Hilfe genau derjenigen ekklesialen Metapher, die die Relation der Christen untereinander beschreibt. Dass er auch in 1.Kor 6,1–8 so vorgegangen ist und die Prozessgegner an ihr Bruder-Verhältnis erinnert hat (V. 5.6.8)134, lässt erkennen, wie eng die Argumentationen in den beiden Texten beieinanderliegen. Dass nicht das Essen als solches, sondern seine soziale Zeichenfunktion das Entscheidende ist, geht auch aus 10,23–31 hervor: Paulus nimmt hier zwei Situationen in den Blick, in denen Christen in Kontakt mit Götzenopferfleisch kommen konnten: auf dem Markt (V. 25) und wenn sie von einem Nichtchristen zum Essen eingeladen wurden. Die Weisung, die Paulus hier den Starken gibt, ist einfach und klar: Sie sollen das Fleisch kaufen und essen, ohne nach seiner Herkunft zu fragen. Erst wenn es jemand aus-

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S.o. S. 158f.

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drücklich als „heiliges Fleisch“ (ἱερόθυτον) bezeichnet (10,28)135 und damit seine Herkunft offen legt, sollen sie es nicht verzehren. Ihr Essen würde in diesem Fall nämlich zu einer öffentlichen Demonstration mit den in V. 10– 11 beschriebenen möglichen Folgen für die Schwachen. Paulus hebt den Konflikt damit auf die Ebene der ekklesialen Identität der christlichen Gemeinde, und eben sie und ihre Integrität sind es, denen er handlungsorientierende Relevanz zuschreibt. Von essentieller Bedeutung in diesem Zusammenhang ist noch, dass die von den „Starken“ in 1.Kor 8,13 abverlangte Rücksichtnahme auf die „Schwachen“ eben gerade nicht bedeutet, dass sie nun auf den Verzehr von Opferfleisch zu verzichten hätten. Ein solcher Schluss würde missachten, dass es im Kontext nicht um das Essen als solches geht, sondern um die Art und Weise und um die Umstände des Essens im Blick auf den Bruder. – Dementsprechend fasst Paulus in 1.Kor 10,31–32 zusammen: Allein maßgebliches Kriterium für den Umgang mit dem ethischen Konflikt soll sein, dass die christliche Gemeinde in der Welt als ἐκκλησία τοῦ θεοῦ erkennbar wird, weil sie allein dadurch von sich behaupten kann, dass sie Gott Ehre macht. Auch in Röm 14,1 – 15,7 geht es nicht um das materiale Problem, sondern darum, wie die Gemeinde mit dem Dissens in ihren Reihen umgeht. Auch hier wendet Paulus sich primär an die sog. „Starken“. Auch hier wechselt er von der Bezeichnung der „Schwache“ (14,1.2) zur ekklesialen „Bruder“-Metapher (14,10.13.15.21). – Und schließlich ist auch 14,16–18 als eine zu 1.Kor 10,31–32 analoge Formulierung des Kriteriums, an dem sich der Umgang mit dem innergemeindlichen Dissens orientieren soll, identifizierbar: Der Umgang mit dem ethischen Konflikt innerhalb einer christlichen Gemeinde soll so erfolgen, dass „ihr Gutes“ (V. 16) bzw. die Präsenz des Reiches Gottes in ihr (V. 17) nach außen sichtbar wird. Doch es gibt auch beim Essen Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Paulus markiert sie in 1.Kor 10,14–22 unter der Überschrift „Götzendienst“ (εἰδωλολατρία, V. 14). Sein Anliegen geht aus V. 19–21 mit hinreichender Deutlichkeit hervor: Entscheidend ist erneut nicht, was gegessen wird, sondern wie und wo gegessen wird.136 Als „Götzendienst“ bezeichnet wird dabei die Teilnahme an nichtchristlichen kultischen Mahlfeiern (zu denen möglicherweise auch Opferhandlungen gehörten), weil sie die Teilnehmer in eine Gemeinschaft (κοινωνία, V. 20) mit den „Dämonen“137 135

Die Wahl dieses Begriffs macht deutlich, dass Paulus hier an einen Nichtchristen denkt und nicht an den „schwachen“ Bruder, denn den hätte er εἰδωλόθυτον („Götzenopferfleisch“) sagen lassen. 136 Zum Folgenden vgl. vor allem KONRADT, Gericht (s. Anm. 106), 386ff. 137 Dass Paulus hier die Dämonen einführt, hat seinen Grund darin, dass er in 8,4–6 ausdrücklich hervorgehoben hat, dass es keine „Götzen“ (εἴδωλα) und keinen Gott außer dem Einen gibt. Das wird in 10,19 auch noch einmal ausdrücklich wiederholt. Was es aber gibt – und was gewissermaßen von den „Götzen“ und „Göttern“, die die Völker verehren,

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stellt. Auch hierbei kann es sich um ein Verhalten gehandelt haben, das die christlichen Teilnehmer an solchen Mahlfeiern, die sicher der Gruppe der ‚Starken‘ zuzurechnen sind, als Bestandteil eines inklusiven Ethos praktiziert haben138, um dort ihre alltagsweltlichen Kontakte zu pflegen. – Wichtig ist nun aber, dass wir auf den Grund achten, der Paulus ein solches Verhalten als „Götzendienst“ bezeichnen lässt: Solche Mahlzeiten stiften eine Gemeinschaft, die in Konkurrenz tritt zu der durch die Teilnahme am Herrenmahl gestifteten Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn (V. 16–17.21), durch die alle Teilnehmer „ein Leib“ werden – ἕν σῶμα οἱ πολλοί ἐσμεν. Theologisches Fundament der Argumentation ist also erneut ein ekklesiologischer Indikativ, aus dem Paulus den ethischen Imperativ ableitet. Die paulinische Ethik ist angewandte Ekklesiologie.

VI. Rückblick und Ausblick: Die paulinische Ethik als angewandte Ekklesiologie Wir können hier an das zuletzt Gesagte anknüpfen: Der paulinischen Ethik geht es weder um die „Bewährung“ des christlichen Individuums139 noch um die Verbesserung der Welt, sondern um die Ekklesia-Gestalt der christlichen Identität. Mit Schleiermacher gesagt: Christliches Handeln soll stets – in der gottesdienstlichen Versammlung, beim Herrenmahl und im Alltag – ein die Ekklesia Jesu Christi „darstellendes Handeln“ sein140. Ihm kommt in erster Linie die Aufgabe zu, dafür zu sorgen, dass die durch Glaube und Taufe vermittelte Zugehörigkeit zu Jesus Christus eine Gemeinschaft stiftet, die – um es mit den Worten von Phil 2,15 zu sagen – „strahlt wie Sterne in der Welt“.141 In diesem Sinne wird in den paränetischen Weisungen der paulinischen Briefe die Struktur eines christlich-ethischen Begründungszusammenhangs erkennbar, der es möglich macht, christliche Identität in wechselnden kulturellen Anwendungszusammenhängen in einer mit sich identisch bleibenden Weise zum Ausdruck zu bringen. Wesentlich für diesen Begründungszusammenhang ist dabei, dass er sich hermeneutisch nicht übrigbleibt, sind die Dämonen, von denen schon Ps 95,5LXX gesagt hatte, das sie nichts weiter als „Dämonen“ sind (πάντες οἱ θεοὶ τῶν ἐθνῶν δαιμόνια). 138 S. dazu o. S. 129ff. 139 S. dazu. o. S. 124f mit Anm. 15. 140 SCHLEIERMACHER, Sitte (s. Anm. 26), 51. 141 Ihre apotreptische Entsprechung findet diese Ausrichtung der Ethik auf das Gedeihen der Gemeinde Jesu Christi in der gerichtsparänetischen Warnung, die Paulus in 1.Kor 3,17 formuliert: Hier wird demjenigen, der die christliche Gemeinde Gottes zerstört (φθείρει), das entsprechende eschatische Ergehen angedroht (φθερεῖ τοῦτον ὁ θεός). Er vergeht sich nämlich gegen die Heiligkeit Gottes, an der die Gemeinde partizipiert, so dass Paulus sie metaphorisch als ναὸς τοῦ θεοῦ bezeichnen kann.

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durch den materialethischen Rückgriff auf bestimmte Handlungen und Handlungsweisen fortschreiben lässt. Dieser Sachverhalt hat seinen Grund darin, dass christliche Gemeinden die Modelle für ihr Ethos immer nur in ihrer jeweiligen kulturellen Umwelt vorfinden und höchstens mit einer nachgelagerten christlichen Begründung ausstatten können.142 Die Rezeption der paulinischen Ethik kann also nicht so erfolgen, dass die christlichen Gemeinden deren konkrete kulturelle Gestalt einfach übernehmen oder auch nur fortschreiben, denn in diesem Fall würden sie sich an der kulturellen Kontextualität der paulinischen Ethik orientieren und nicht an ihrer theologischen Begründungsstruktur. Zum unverzichtbaren Wesen der ethischen Identität christlicher Existenz gehört darum ihre prinzipielle Freiheit von externen ethischen Hegemonieansprüchen. Christliche Gemeinden müssen darum immer wieder neu herausfinden, durch welche Handlungen sie ihre christliche Identität als eine soziale Identität so zur Anschauung bringen, dass in ihr erkennbar wird, dass die Zugehörigkeit zu Jesus Christus eine Sozialität stiftet, die alle kulturellen Unterschiede – und dazu gehören auch die kulturell determinierten Unterschiede in den politischen und ethischen Überzeugungen – übergreift und die Kirche Jesu Christi in der Welt im Sinne von Phil 2,15 „strahlen“ lässt. Darüber hinaus hat ein rezeptionshermeneutischer Umgang mit der paulinischen Ethik zu berücksichtigen, dass sie auf dem Gegenüber von – wenn man so will – „Kirche“ und „Welt“ basiert. Paulus geht es stets darum, ein distinktes christliches Ethos zu etablieren, das die exklusive Identität der christlichen Gemeinden innerhalb und gegenüber der nichtchristlichen Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck bringt. Für das Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre und ihrer Schwester, der paulinischen Ethik, als Konzeptionalisierungen von Identität und Ethos der Kirche Jesu Christi ist zudem als maßgebliche Voraussetzung in Anschlag zu bringen, dass das paulinische Christentum eine Bekehrungsreligion war und dass es aus Gruppen bestand, die innerhalb der Mehrheitsgesellschaft als marginalisierte Minderheiten existierten und sich von ihrer Umwelt scharf abgrenzten. Die theologische Ethik, wie wir sie in den paulinischen Briefen vorfinden, hat zur Grundlage, dass die Grenze zwischen Heil und Unheil zwischen der christlichen Gemeinde und ihrer nichtchristlichen Umwelt verlief. Eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung oder gar so etwas wie eine Ethik des Politischen haben weder Paulus noch die anderen Autoren des Neuen Testaments im Blick gehabt. Sie konnte erst innerhalb eines kulturellen Kontextes entstehen, der in seiner Gesamtheit christlich geprägt war, in der das Christentum keine Bekehrungsreligion mehr war, sondern sich in eine Traditionsreligion mit einer ausgeprägten Ethosgewissheit verwandelt hatte, und in dem die Grenze zwischen Heil und Unheil nicht mehr zwischen 142

S. dazu auch u. S. 195f.

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„Kirche“ und „Welt“ verlief, sondern mitten durch jeden Einzelnen hindurchging. Diesem Wandel des kulturellen Kontextes verdanken wir die reformatorische Neukonzeption der paulinischen Rechtfertigungslehre mit ihrer am christlichen Individuum orientierten Ausrichtung. Trotz der Distanz, die zwischen ihr und Paulus liegt, hat sie darum nicht als Verfälschung, sondern als eine legitime und plausible Fortschreibung der paulinischen Theologie zu gelten.143

143

Der Gegensatz, den die „New Perspective“ in dieser Hinsicht mitunter konstruiert hat (vgl. die o. Anm. 62 Genannten), muss darum unbedingt durch eine differenziertere Verhältnisbestimmung ersetzt werden, die die unterschiedlichen kulturellen Kontexte der beiden Konzepte berücksichtigt; vgl. hierzu die Ansätze in dem Sammelband, Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, hg. v. M. Bachmann (WUNT 182), Tübingen 2005, sowie W. HÄRLE, Paulus und Luther. Ein kritischer Blick auf die „New Perspective“, ZThK 103 (2006) 362– 393.

6. Der Kompromiss bei Paulus I „Allein die Evidenz legitimiert Ethik. Man kann in diesem Sinn von einem usus didacticus, einer Erschließungsaufgabe der Bibel sprechen, aber nicht von einem usus normativus.“ Mit diesen Worten beantwortet Martin Honecker die Frage nach der Autorität des biblischen Zeugnisses für die Entfaltung und Begründung von Aussagen, die sich auf das Handeln von Christen in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontext beziehen.1 Für die Bibelwissenschaft folgt daraus, dass ihre genuine Aufgabe darin besteht, dieses unverzichtbare Potential vor allem natürlich der neutestamentlichen Texte in den unablässig sich wandelnden kulturellen Kontexten, in denen die Christenheit sich vorfindet, ebenso unablässig präsent zu halten. Dieses Erfordernis hat seinen einfachen Grund darin, dass christliches Handeln und dessen theologische Reflexion stets auf die erinnerende Vergegenwärtigung ihrer identitätsstiftenden Ursprünge angewiesen bleiben, wenn anders sie nicht ihren Anspruch, „christlich“ zu sein, aufgeben wollen. Die folgenden Zeilen wollen dieses Erschließungspotential der neutestamentlichen Texte im Hinblick auf einen konkreten ethischen Problemzusammenhang zur Geltung bringen: den Umgang mit interpersonalen Normenkonflikten zwischen Christen. Honecker hat diese Problematik unter der aufschlussreichen Überschrift „Kompromiss und Güterabwägung im Normenkonflikt“ behandelt.2 Wichtig ist in diesem Zusammenhang zunächst sein Hinweis auf unterschiedliche Strukturen von Normenkonflikten, die sich aus einer im Anschluss an Nikolaus Monzel gewonnenen Differenzierung des KompromissBegriffs ergeben3: Gegenstand des Folgenden sind nicht intrapersonale Normenkonflikte, die Ausdruck „unterschiedlicher Interessen in einem Menschen (intra personam)“ sind, sondern interpersonale Normenkonflikte, d.h. Konflikte, die sich „zwischen verschiedenen Menschen“ abspielen und bei denen es sich demzufolge um einen „soziale(n) Vorgang (inter personas)“ handelt.

1 MARTIN HONECKER, Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, Berlin / New York 1990, 248. 2 HONECKER, ebd. 234–243. 3 HONECKER, ebd. 235.

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Es soll also um ethische Differenzen und Konflikte unter Christen gehen sowie um die Art und Weise des Umgangs mit ihnen. – Honecker behandelt dieses Thema unter den Leitworten „Kompromiss und Güterabwägung“. Das ist darum aufschlussreich, weil das eigentliche ethische Problem (d.h. der „Normenkonflikt“) von vornherein in das Licht seiner Lösung gestellt wird und sie es ist, die dadurch zum eigentlichen ethischen Problem wird: Sollen Normenkonflikte primär dadurch gelöst werden, dass Kompromisse eher durch Güterabwägung oder eher durch „rationales Abwägen“ zustandekommen4? Das Proprium evangelischer Ethik gegenüber der katholischen Ethik sieht Martin Honecker darin bestehen, dass nicht das Postulat einer objektiven Wertordnung die Suche nach einem Kompromiss leitet, sondern die Freiheit zum „vernünftigen Abwägen zwischen Verzichtbarem und Unverzichtbarem“5, wobei Güterabwägungen durchaus „wichtig“ blieben6. Den Unterschied führt er vor allem darauf zurück, dass der Kompromiss als solcher „es mit dem situationsbezogenen Urteil zu tun“ habe, während seine Einordnung in eine Güterabwägung dazu neige, auf „eine angeblich objektive Wertordnung“ zurückzugreifen7. Es ist demnach also die Methode des Umgangs mit interpersonalen Normenkonflikten, die im Zusammenhang einer theologischen Ethik zu reflektieren ist.

Dass es unter Christen ethische Differenzen und Konflikte gibt, bedarf keines zusätzlichen Nachweises, denn es ist keine Kirche und es sind keine Christen denkbar, die nicht am gesellschaftlichen und politischen Pluralismus ihres jeweiligen kulturellen Kontextes partizipieren. Es ist darum auch keine christliche Kirche denkbar, in der es keine Normenkonflikte gibt, denn Pluralismus impliziert Widersprüchlichkeit. Aus diesem Grunde können wir mit Honecker feststellen: „Aus der Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit erwachsen Konflikte“.8 Insofern nun aber einerseits die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit, in denen die Normenkonflikte ihren Grund haben, theologisch gesprochen „Folge des Sündenfalls“ ist9, und insofern andererseits diese Konflikte ethische Kompromisse erforderlich machen, lässt sich der Kausalzusammenhang ‚Sündenfall – widersprüchliche Wirklichkeit – Normenkonflikte – Kompromisse‘ auch abkürzen, so dass Martin Honecker den Kompromiss mit Helmut Thielicke als „Tribut an die ‚gefallene Wirklichkeit‘“ bezeichnen kann.10 Der folgende Beitrag möchte den Kompromiss nicht lediglich als Bestandteil der politischen und gesellschaftlichen Existenz der Christen in den Blick nehmen, sondern als einen ethischen Topos traktieren, der auch für das Handeln innerhalb der christlichen Gemeinde von Bedeutung ist.

4

HONECKER, ebd. 242. HONECKER, ebd. 243. 6 HONECKER, ebd. 242. 7 HONECKER, ebd. 8 HONECKER, ebd. 235. 9 HONECKER, ebd. 237. 10 HONECKER, ebd. 239. 5

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II Die paulinischen Briefe lassen deutlich erkennen, dass es auch schon in urchristlicher Zeit ethische Differenzen und Konflikte innerhalb der christlichen Gemeinden gab, die sich auf interpersonale Normenkonflikte zurückführen lassen, die ihre Grundlage wiederum in unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Wirklichkeitsverständnissen haben. Ausgetragen werden diese Konflikte mit unterschiedlicher Intensität, so dass es in manchen Fällen schwer fällt, überhaupt von einem „Konflikt“ und nicht lediglich von „unterschiedlichen Auffassungen“ zu sprechen, was z.B. für die in 1.Kor 11,1–16 diskutierte Frage gelten könnte (s.u.). Es empfiehlt sich jedoch, mit einem möglichst weiten Bedeutungsumfang zu arbeiten, um nicht durch begriffssemantische Vorentscheidungen das Ergebnis bereits vorwegzunehmen. Beginnen möchte ich mit einem kurzen Überblick über diejenigen Texte aus den gewöhnlich für authentisch gehaltenen Paulusbriefen11, hinter denen ein solcher Konflikt sichtbar wird, um dessen Lösung Paulus sich in seinem Brief an die jeweilige Gemeinde bemüht. Für unsere Fragestellung auswerten können wir den 1. Korintherbrief und den Römerbrief: Auch in anderen Briefen gibt es durchaus Hinweise auf Konflikte innerhalb der jeweiligen Gemeinde: Zu nennen wäre etwa das Zerwürfnis zwischen Euodia und Syntyche, auf das Paulus im Philipperbrief Bezug nimmt (Phil 4,2–3). Der Konfliktgegenstand kommt hier jedoch nicht einmal andeutungsweise in den Blick – geschweige denn, dass er als ethischer Normenkonflikt identifizierbar wäre. Paulus wird ihn auch für sachlich unerheblich gehalten haben, denn sonst hätte er sich nicht darauf beschränkt, die beiden Frauen einfach zur Eintracht aufzurufen. – In Bezug auf den Galaterbrief wird unter Verweis auf den Lasterkatalog in Gal 5,19–21 bisweilen vermutet (s. auch 5,15: „Wenn ihr einander beißt und fresst ...“), dass es in den galatischen Gemeinden einen ethischen Konflikt oder – das ist wahrscheinlicher – ein als belastend empfundenes ethisches Orientierungsdefizit gab, das dem an der Tora orientierten Programm der Gegner den Zugang mindestens erleichterte.12 Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, ist davon im vorliegenden Brief nichts mehr zu erkennen.

1. Im 1. Korintherbrief nimmt Paulus zu einer Reihe von Fragen und Problemen der christlichen Lebensführung Stellung, über die er z.T. schriftlich (vgl. 7,1), z.T. aber auch mündlich informiert worden war – letzteres durch die „Leute der Chloë“ (1,11), in denen wir die Überbringer des Briefes aus der Gemeinde sehen dürfen. Einen interpersonalen Normenkonflikt in dem oben skizzierten Sinne lassen die paulinischen Ausführungen in 1.Kor 8,1–13 und in 10,23 – 11,1 erkennen: Es gab in der korinthischen Gemeinde eine Gruppe von Christen, 11

Das sind Röm, 1.Kor, 2.Kor, Gal, Phil, 1.Thess und Phlm. Vgl. dazu mit weiterer Literatur: M. KONRADT, Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin / New York 2003, 490f. 12

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von denen Paulus in 8,1.7.10f sagt, dass sie über „Erkenntnis“ (γνῶσις) verfügen. Sie hatten darum offensichtlich nicht nur keine Bedenken, sog. „Götzenopferfleisch“ zu essen, sondern sie taten dies auch demonstrativ (vgl. 8,4). Hierbei handelt es sich um Fleisch, das von Opfertieren stammte und in den freien Verkauf gelangte sowie bei privaten Einladungen oder auch bei öffentlichen Anlässen verzehrt werden konnte.13 – Ihnen stand eine andere Gruppe gegenüber, deren Mitglieder schwere Bedenken gegen den Verzehr von solchem Fleisch hatten, weil sie es ganz offenkundig nicht von seiner Beziehung zu den heidnischen Gottheiten ablösen konnten: „Auf Grund (ihrer) immer noch (bestehenden) Gewöhnung an den Götzen essen sie es als Götzenopferfleisch“ (8,7), und das heißt: Weil sie auch als Christen den früher von ihnen verehrten Göttern immer noch religiöse Bedeutung beimessen, ist für sie auch das Fleisch, das aus dem heidnischen Opferkult stammt, religiös kontaminiert. Wenn Paulus in diesem Zusammenhang das Gewissen dieser Christen und dann auch sie selbst als „schwach“ bezeichnet (vgl. 8,7.9–11; s. auch 9,22), nimmt er einen Begriff auf, der bereits in der innergemeindlichen Auseinandersetzung benutzt wurde: Es ist anzunehmen, dass die Gruppe der „Erkenntnis-Besitzer“ die Gegenseite mit diesem Etikett polemisch abqualifizieren wollte, denn „Schwäche“ galt in der hellenistischen Umwelt des frühen Christentums als Merkmal vor allem von abergläubischen und ungebildeten Menschen (vgl. dazu die u. S. 191 Anm. 44 genannten Texte). 2. Der Römerbrief ist der einzige paulinische Brief, der an eine Gemeinde gerichtet ist, die Paulus nicht selbst gegründet hat. Hinzu kommt noch, dass Paulus bis dahin noch nie in Rom war und der dortigen Gemeinde darum persönlich unbekannt ist (vgl. 1,9–15; 15,22). Vor diesem Hintergrund hat der Römerbrief die Funktion, den Apostel und seine Theologie vorzustellen. Im Hintergrund steht die Absicht des Verfassers, demnächst selbst nach Rom zu kommen und von den römischen Christen Unterstützung für die Mission in Spanien zu erbitten (vgl. 15,23–25). Eine mit der Situation in Korinth vergleichbare Konstellation haben wir in Röm 14,1 – 15,7: In der römischen Gemeinde gab es offensichtlich Christen – Paulus nennt sie „schwach im Glauben“ (14,1; s. auch 15,1) –, die (nur) „Gemüse“ (d.h. kein Fleisch) aßen (14,2) und möglicherweise auch keinen Wein tranken (vgl. V. 21). Darüber hinaus sagt Paulus von ihnen, dass sie die Tage voneinander unterscheiden (V. 5), was im Allgemeinen als jüdische Kalenderobservanz interpretiert wird. – Ihr steht eine andere 13 Vgl. dazu die Monographien von J. F. M. SMIT, About the Idol Offerings. Rhetoric, Social Context and Theology of Paul’s Discourse in First Corinthians 8:1 – 11:1 (CBET 27), Leuven 2000; J. FOTOPOULOS, Food Offered to Idols in Roman Corinth (WUNT 2/151), Tübingen 2003.

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Gruppe gegenüber, die sog. „Starken“ (vgl. 15,1), die keinerlei Speisetabus und Kalenderobservanz praktizierten (14,2.5). Im Allgemeinen wird angenommen, dass es sich bei den „Schwachen“ um Judenchristen handelte, die sich weiterhin an den Vorschriften der Tora orientierten, während wir in den „Starken“ Heidenchristen zu sehen haben, die sich in der Gestaltung ihres Ethos nicht an die jüdische Halacha gebunden fühlten. – Ganz offensichtlich ist der Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen auch ziemlich heftig ausgetragen worden, denn Paulus spricht davon, dass die sog. „Schwachen“ die sog. „Starken“ „verurteilten“, während sie umgekehrt von den Starken „verachtet“ wurden (14,3–4.10.13).

III In diesem Abschnitt wollen wir danach fragen, welchen Weg Paulus den Gemeinden zur Lösung ihrer ethischen Konflikte weist. In beiden Briefen lässt der paulinische Umgang mit den innergemeindlichen Konflikten deutliche Übereinstimmungen erkennen: Einerseits ist nicht zu verkennen, dass Paulus bestimmte ethische Positionen für richtig oder besser hält. Andererseits kann man aber auch nicht in Abrede stellen, dass Paulus auch die jeweils andere Position für akzeptabel und vertretbar hält. Er lässt zwar deutliche Präferenzen für eine bestimmte ethische Praxis erkennen, bleibt aber immer auch offen für die Alternative: 1. In beiden Briefen teilt Paulus die theologische Position der sog. „Starken“: In 1.Kor 8,1–6 reiht er sich explizit in den Kreis derer ein, die über „Erkenntnis“ verfügen und die wissen, dass es keinen Gott gibt „außer dem einen“ (V. 4f). Aus eben diesem Grund kann er dann auch feststellen, dass der reinen Substanz des Fleisches, auch wenn es von Opfertieren stammt, keinerlei religiöse Qualität zukommt und darum auch nicht das Gottesverhältnis der Christen tangiert (vgl. 8,8; 10,25–27). Dementsprechend schreibt Paulus in 8,7 auch nicht, dass die „Schwachen“ Opferfleisch essen, sondern dass sie es „als Götzenopferfleisch“ (ὡς εἰδωλόθυτον) essen. Er gibt damit zu verstehen, dass „Götzenopferfleisch“-Sein ein Zuschreibungsphänomen ist und nicht eine objektive Qualität; es handelt sich bei ihm um eine Speise, die sich in nichts von anderen Speisen unterscheidet, wie Paulus unter Verweis auf Ps 24,1 deutlich macht (10,26). In Röm 14,1 – 15,7 vertritt Paulus keine andere Position: Auch hier reiht er sich expressis verbis in die Reihe derjenigen ein, die sich von jederlei Speisetabus und Kalenderobservanz frei fühlen: „wir die Starken ...“ (15,1). Auch hier gilt ihm Speise nicht aus sich selbst heraus als unrein; sie wird es

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vielmehr nur für den, der sie für unrein hält (14,14). Und auch hier stellt er fest, dass Essen und Trinken theologisch irrelevant sind: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist“ (14,17). 2. Wer nun aber erwartet, dass Paulus diese theologische Einsicht so umsetzt, dass er das Verhalten der „Starken“ bestätigt und das der „Schwachen“ kritisiert, wird enttäuscht. In 1.Kor 8,4 bestätigt Paulus die Überzeugung der Starken, dass es in der Welt keinen Götzen gibt. Er weiß aber auch, dass es Christen gibt, die diese Gewissheit nicht teilen (V. 7). Daraus folgt nicht nur, dass die „sogenannten Götter“ (V. 5) immer noch „überall dort reale Macht ausüben, wo der Mensch ihnen Macht einräumt“14. Paulus verlangt von den Starken vielmehr auch, dass sie auf die hierin begründeten Bedenken Rücksicht nehmen. Ganz analog kann er in Röm 14,5–6 das Verhalten beider Seiten für legitim erklären, indem er die ihm jeweils zugrundeliegende Überzeugung bestätigt: Jede Seite darf und soll der ihr je eigenen Normenorientierung gewiss sein. Hierbei handelt es sich nicht einfach um eine Konzession nach dem Muster „Jeder soll nach seiner eigenen Façon selig werden“, denn Paulus verwendet hier mit πληροφορεῖσθαι dasselbe Verb, mit dem er in Röm 4,21 Abrahams Reaktion auf Gottes Verheißung beschrieben hatte. Er nimmt also auch hier die theologische Verhaltensgewissheit der Schwachen ernst, weil auch sie ihr Tun auf Gott beziehen (14,6). 3. Damit hängt unmittelbar zusammen, dass Paulus in beiden Briefen noch eine zweite Argumentationsebene einzieht, die das Problem des ethischen Normenkonflikts als ein soziales bzw. als ein ekklesiales Problem behandelt. Auf dieser zweiten Ebene wird der Normenkonflikt in den beiden Gemeinden nicht in Bezug auf das materiale Sachproblem behandelt, sondern auf der Ebene der sozialen Interaktion zwischen Angehörigen der christlichen Gemeinde: Paulus diskutiert nicht den kontroversen Gegenstand, sondern die Art und Weise, wie in einer christlichen Gemeinde mit derartigen Konflikten umgegangen wird. Das Sachproblem als solches tritt dabei in den Hintergrund, und es wäre für Paulus auch nicht existent, wenn sich alle einig wären – so oder so. Das eigentliche ethische Problem, vor das Paulus die Gemeinde gestellt sieht, ist vielmehr die Tatsache, dass es in einer christlichen Gemeinde überhaupt einen ethischen Normenkonflikt gibt. a) Im Konflikt um das Essen von Opferfleisch in der Gemeinde von Korinth wendet Paulus sich vornehmlich an die sog. „Starken“, die keine Beden14 D.-A. KOCH, „Seid unanstößig für Juden und für Griechen und für die Gemeinde Gottes“ (1Kor 10,32), in: Paulus, Apostel Jesu Christi. FS Günter Klein zum 70. Geburtstag, Tübingen 1998, 35–54, hier 41.

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ken gegen den Verzehr von Opferfleisch haben. In 1.Kor 8,9–13 erfolgt die ekklesiale Umdeutung des Konflikts in zwei Schritten: Zunächst reflektiert Paulus auf die Praxis des (an sich unproblematischen) Verzehrs von Opferfleisch durch die „Starken“, und zwar näherhin auf die Folgen, die ein öffentlich praktizierter Verzehr für die „Schwachen“ möglicherweise haben kann. Es geht hier also nicht mehr um den Verzehr einer bestimmten Substanz als solcher, sondern um den Vorgang des Verzehrens und dessen soziale Zeichenfunktion im Blick auf die „Schwachen“: Sie könnten durch Praxis der „Starken“ veranlasst werden, gegen ihre eigenen Bedenken Opferfleisch zu essen (V. 9–11a), wodurch sie sich ihrer eigenen Überzeugung nach wieder der Macht der „Götzen“ unterstellen würden. Der neue Aspekt, unter dem Paulus das Sachproblem („darf man, oder darf man nicht?“) hier in den Blick nimmt, besteht darin, dass er es als soziale Handlung thematisiert und dem Verzehren von Opferfleisch dabei einen potentiellen Stolperstein-Charakter für andere zuschreibt (V. 9). Das Problem am Opferfleischverzehr der „Starken“ sind also die Folgen, die es möglicherweise für andere hat. In einem zweiten Schritt wird der „Schwache“ (V. 11a), an dem die „Starken“ durch ihre soziale Praxis möglicherweise schuldig werden, umbenannt (V. 11b–13): Paulus nennt ihn jetzt „Bruder“, d.h. er identifiziert ihn nicht mehr über seine Position in der Kontroverse, sondern mit Hilfe genau derjenigen ekklesialen Metapher, die die Relation der Christen untereinander beschreibt. Paulus hebt den Normenkonflikt auf die Ebene der Identität der christlichen Gemeinde, und eben sie und ihre Integrität sind es, denen er damit handlungsorientierende Bedeutung zuschreibt. Von essentieller Bedeutung in diesem Zusammenhang ist noch, dass die den „Starken“ in V. 13 abverlangte Rücksichtnahme auf die „Schwachen“ eben gerade nicht bedeutet, dass sie nun auf den Verzehr von Opferfleisch zu verzichten hätten. Ein solcher Schluss würde missachten, dass es im Kontext nicht um den Verzehr als solchen, sondern um die Art und Weise des Verzehrens geht. Auf dieser Linie liegt dann auch, was Paulus in 10,23 – 11,1 in Bezug auf zwei konkrete Situationen schreibt, in denen man mit Opferfleisch in Berührung kommen kann, nämlich beim Einkaufen (V. 25) und bei einer Einladung durch einen nichtchristlichen Gastgeber (V. 26); aus dem „Schwachen“ und dem „Bruder“ ist jetzt „der andere“ geworden (10,24.29): Der Kompromiss, den Paulus hier den „Starken“ anempfiehlt, besteht darin, dass sie nur dann auf den Verzehr von Fleisch verzichten, wenn es in dem einen oder in dem anderen Fall ausdrücklich als Opferfleisch deklariert wird15 und ihr Essen dadurch die in 8,10–11 beschriebenen Folgen zeitigen

15 Paulus schreibt diese Rolle in V. 28 ganz eindeutig dem außenstehenden Nichtchristen und nicht dem „Schwachen“ zu, denn er lässt ihn sagen: „Das ist Opferfleisch“ (oder „heiliges Fleisch“; ἱερόθυτον); einen „Schwachen“ würde er niemals diesen neutralen Begriff

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könnte. Auch hier ist also nicht die Substanz des Fleisches entscheidend, sondern sein durch Menschen geschaffener Zeichencharakter. Dementsprechend fasst Paulus dann in 10,31–32 zusammen: Allein maßgebliches Kriterium für den Umgang mit dem besprochenen Normenkonflikt soll sein, dass die christliche Gemeinde in der Welt als „Gemeinde Gottes“ erkennbar wird. Erst dann und allein dadurch kann sie von sich behaupten, dass sie Gott Ehre macht. b) Auch in Röm 14,1 – 15,7 diskutiert Paulus nicht den Normenkonflikt als solchen, sondern seine Folgen auf der Ebene des sozialen Handelns innerhalb der christlichen Gemeinde. Speisekarten als solche interessieren ihn hier ebensowenig wie Festkalender. Demgegenüber ist ihm ganz eindeutig nicht egal, wie die Gemeinde mit dem Dissens in ihren Reihen umgeht. In dieser Hinsicht scheint es bereits zu offenen Auseinandersetzungen gekommen zu sein: Die Schwachen „verurteilen“ die Starken (14,3–5.10), während diese jene im Gegenzug „verachten“ (14,3.10); in 14,13 spricht Paulus von einem wechselseitigen „Verurteilen“. Ansonsten erinnert viel an die Situation in Korinth: Paulus wendet sich zwar nicht ausschließlich, aber doch primär an die sog. „Starken“ (vgl. nur die beiden Aufforderungen in 14,1 und 15,1). Auch hier wechselt er von der Bezeichnung „der Schwache“ (14,1.2), die sich der Position verdankt, die die so Bezeichneten in der Kontroverse eingenommen haben16, zur ekklesialen „Bruder“-Metapher (14,10.13.15.21). Wiederum fordert er die sog. „Starken“ zur Rücksichtnahme auf (14,15.20–22), und wiederum begründet er diese Forderung mit der Würde des Bruders, die darin besteht, dass Christus für ihn gestorben ist (14,15; s. auch 1.Kor 8,11). Auch hier verwendet Paulus den Begriff „Stolperstein“ (πρόσκομμα, 14,13.20; das Verb προσκόπτειν in V. 21), was von den modernen Bibelübersetzungen in der Regel zu Unrecht mit dem missverständlichen Begriff „Anstoß“ wiedergegeben wird. Diese Übersetzung ist darum missverständlich, weil sie den Eindruck erweckt, dass es hier um den „Anstoß“ geht, den der „schwache Bruder“ am Essen der Starken nimmt. Das wäre ja das „Richten“, von dem schon die Rede war und das Paulus für eine unangemessene Reaktion auf den ethischen Normenkonflikt hält. Aus der paulinischen Argumentation in V. 23 („Wer aber zweifelt und dennoch isst, der ist gerichtet“; s. auch V. 14.20–21) geht vielmehr hervor, dass Paulus hier wie in 1.Kor 8 an die Veranlassung des Schwachen zu einer Tat denkt, die „nicht aus Glauben ist“ (14,23). Dementsprechend sind die Begriffe „betrübt werden“ (λυπεῖσθαι, 14,15), „verderben“ (ἀπολλύειν, ebd.), „das Werk Gottes zerstören“ (κα-

gebrauchen lassen, sondern ihm aus den oben genannten Gründen immer die Bezeichnung „Götzenopferfleisch“ (εἰδωλόθυτον) in den Mund legen. 16 S. dazu o. S. 164 Anm. 132.

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ταλύειν; V. 20) und „gerichtet“ (κατακέκριται, V. 23) semantisch isotope Konkretionen von πρόσκομμα („Stolperstein“; s.o.). In denselben Zusammenhang gehört schließlich auch Röm 14,16–18: „Euer ἀγαθόν soll nicht gelästert werden; denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist; denn wer in diesem dem Messias dient, ist Gott wohlgefällig und im Urteil der Menschen bewährt“.

Wir können diesen Text als eine zu 1.Kor 10,31–32 analoge Formulierung des Kriteriums interpretieren, an dem sich der Umgang mit dem innergemeindlichen Dissens orientieren soll: Eine christliche Gemeinde soll mit ethischen Normenkonflikten in ihrer Mitte so umgehen, dass die Art und Weise dieses Umgangs ihr ἀγαθόν (V. 16) bzw. die Präsenz des Reiches Gottes in ihr (V. 17) nach außen sichtbar werden lässt.

IV Für eine kurze Zusammenfassung können wir von zwei Texten ausgehen, in denen Paulus selbst ethische Leitlinien formuliert. In beiden Fällen sind sie zwar unmittelbar auf die skizzierten Normenkonflikte bezogen, doch lassen sie sich ohne Mühe generalisieren und für die Suche nach Kompromissen in interpersonalen Normenkonflikten in christlichen Gemeinden fruchtbar machen: 1.Kor 10,24: „Niemand soll auf das Seine aus sein, sondern auf das des anderen“ Röm 15,7: „Nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes“

Für unsere Fragestellung entscheidend ist, dass beide Aussagen sich am Prinzip der egalitären Reziprozität orientieren. Im Kontext der jeweiligen Normenkonflikte zwischen „Schwachen“ und „Starken“, auf die sie bezogen sind, gelten beide Weisungen für beide Konfliktparteien, und zwar in gleicher Weise. Es gilt also immer zweierlei: Beide Seiten dürfen von der jeweils anderen Seite fordern, dass ihre ethischen Orientierungen ernstgenommen. Gleichzeitig gilt aber auch das Umgekehrte: Beide Seiten sind gehalten, dieser Forderung auch selber nachzukommen.17 In dieser Paradoxie kommt zum Ausdruck, dass Paulus die interpersonalen Normenkonflikte in den christlichen Gemeinden nicht auf der Ebene des Konfliktgegenstandes, sondern auf der ekklesialen Ebene wahrnimmt und diskutiert: Er interessiert

17 Ganz ähnlich funktionieren auch die rhetorischen Fragen in 1.Kor 6,7: Paulus fordert nicht zum einseitigen, sondern zu einem reziproken Rechtsverzicht auf und leitet die christlichen Prozessgegner damit an, ihre Relation nicht vom Zeichensystem des Kosmos (genauer: der βιωτικά, V. 4) her zu bestimmen, sondern von demjenigen der Gemeinde her.

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sich nur insofern für den materialen Grundkonflikt, als dieser auf der Ebene der sozialen Interaktion sichtbar wird. Dem entspricht dann auch der Weg der Konfliktlösung, den Paulus beschreitet: Er sucht den Kompromiss nicht auf der Ebene des materialen Grundkonflikts, sondern auf der Ebene des Umgangs mit dem Konflikt. Charakteristisch für den paulinischen Kompromissvorschlag ist dabei, dass er zum einen die ethische Differenz bestehen lässt und zum anderen die Identität der christlichen Gemeinde sich darin erweisen lässt, wie sie – und das heißt: wie beide Konfliktparteien – mit dem Konflikt umgehen: nämlich so, dass durch den Weg der Kompromissfindung zum Ausdruck gebracht wird, dass die gemeinsame Identität all derer, die der Gemeinde Jesu Christi angehören, stets über ihre unterschiedlichen ethischen Orientierungen dominiert. Es ist mithin die Integrität der christlichen Gemeinde, an der sich die ethische Güterabwägung – nicht zu vergessen: auf beiden Seiten – auszurichten hat. Paulus bezeichnet dieses Gut mit dem Begriff der οἰκοδομή (Röm 14,19; 15,2; 1.Kor 10,23; 14,4.5.12.26), den er nicht ohne Grund immer dann verwendet, wenn es um die Vielfalt christlicher Lebens- und Gottesdienstpraxis geht. Ethische Normenkonflikte sind dementsprechend nicht nur keine Bedrohung für die Einheit der Gemeinde, sondern eine Gelegenheit, eben das empirisch wahrnehmbar werden zu lassen, was sie zu einer christlichen Gemeinde macht: die Überordnung der gemeinsamen Identität, die durch den heiligen Geist und den Glauben an Jesus Christus hergestellt wird, über alle lebensweltlichen Differenzen – unter Einschluss der ethischen Normenkonflikte.18 Paulus betont immer wieder, dass die christliche Gemeinde sich dadurch auszeichnet, dass in ihr die Differenzen, die in den anderen kulturellen Sinnwelten nach wie vor bestehen, aufgehoben sind (vgl. vor allem Röm 10,12; 1.Kor 12,13; Gal 3,28; 5,6). Das ist nicht weniger als eine „neue Schöpfung“ (Gal 6,15), durch die alle anderen Wirklichkeitsauffassungen außer Kraft gesetzt sind. Die Suche nach einem Kompromiss bei interpersonalen Normenkonflikten innerhalb der christlichen Gemeinde kann nach paulinischem Verständnis darum gerade nicht das Ziel haben, dass die materialethischen Differenzen dadurch beseitigt werden, dass sich die eine Seite gegen die andere durchsetzt. Die christliche Gemeinde findet ihre ethische Identität vielmehr allein darin, dass beide Seiten mit dem existierenden Normenkonflikt so umgehen, dass die Konfliktparteien durch die Art und Weise dieses Umgangs zum Ausdruck bringen, dass sie ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu 18

Es ist eben dies, was D. HORRELL in seiner ausgezeichneten Darstellung der paulinischen Ethik als „corporate solidarity“ und „other-regard“ bezeichnet und als übergeordnete Normen („metanorms“) identifiziert (Solidarity and Difference. A Contemporary Reading of Paul’s Ethics, London / New York 2005, 274). – HORRELL hat auch klar gesehen, dass gerade dieses ethische Konzept ethischen und kulturellen Pluralismus innerhalb der christlichen Gemeinden ermöglicht (vgl. ebd. 274ff).

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Jesus Christus ihren ethischen Differenzen überordnen: Im Umgang mit unterschiedlichen ethischen Orientierungen soll die Einheit der Gemeinde Jesu Christi zur Darstellung gebracht werden. An dieser Art und Weise der ethischen Argumentation wird erkennbar, dass Paulus die Ethik von der christlichen Gemeinde her konzipiert und dass er sie als angewandte Eschatologie betreibt.

7. Der Brief des sogenannten Unzuchtsünders Die folgende Übersetzung basiert auf einem handschriftlichen griechischen Text, der sich in einer Mappe mit der Aufschrift „Nachlass Dr. Werner Felix“ befand, die ich im Frühjahr 2000 auf dem Flohmarkt am hannoverschen Leineufer entdeckt und käuflich erworben habe. In der Mappe fand sich darüber hinaus ein handschriftlicher Vermerk folgenden Wortlauts: „Beyliegendes hat mir mein schottischer Collega und Freund Dr. Fergus T. Gatvay überlassen, bevor er im Jahre 1878 nach Indien abreisen musste. Es soll sich um die Abschrift von einer Handschrift handeln, die er im Jahre 1864 in Ephesus gefunden und vor Ort copirt hat. Die Handschrift soll sich in einem Räumchen befunden haben, das durchaus für ein Archiv gehalten werden könne. Von einer Veröffentlichung der Handschrift hat Dr. Gatvay Abstand genommen, damit nicht die Herzen der Christenmenschen verwirrt würden. Rossau, den 30sten April 1895“

Das Original der Handschrift ist bislang noch nicht wieder aufgetaucht, und leider ist auch die Mappe mit dem genannten Inhalt nach meiner Übersetzung versehentlich ins Altpapier geraten und verloren gegangen. Autor und Adressat des Briefes können ohne Mühe identifiziert werden: Die zahlreichen Bezugnahmen auf den 1. Korintherbrief und vor allem auf dessen 5. Kapitel lassen keinerlei Zweifel daran zu, dass wir es mit einem Brief zu tun haben, den der immer wieder so genannte „Unzuchtsünder“ aus 1.Kor 5 an Paulus geschrieben hat. Der Verfasser des Briefes verteidigt die Beziehung, die er mit der – wie Paulus es in 1.Kor 5,1 formuliert – „Frau seines Vaters“ eingegangen ist, und setzt sich mit deren Bewertung durch Paulus auseinander. Angesichts der Rezeptionsgeschichte von 1.Kor 5 kann zuverlässig ausgeschlossen werden, dass es sich bei dem vorliegenden Text um eine Fälschung aus altkirchlicher Zeit handelt. Der Inhalt des Briefes bestätigt eine Vermutung, die Helmut Merklein in seiner Kommentierung dieser Passage des 1. Korintherbriefes ausgesprochen hat: dass nämlich die von Paulus in 1.Kor 5,1 als πορνεία bezeichnete Beziehung zwischen einem Mann und der „Frau seines Vaters“ nicht als „Folge der Hinwendung zum christlichen Glauben“, sondern als „eine Fortsetzung bisheriger Praxis“ anzusehen sei.1 Von besonderer Bedeutung ist in 1 H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther. II. Kapitel 5,1 – 11,1 (ÖTK 7/2), Gütersloh/Würzburg 2000, 27.

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dieser Hinsicht natürlich die Mitteilung des Briefschreibers, dass die von Paulus kritisierte Beziehung bereits bestand, als er zum christlichen Glauben fand.2

*** Eutychus dem Paulus, dem Apostel Jesu Christi und geliebten Bruder im Herrn, zum Gruß.3 Vor allem wünsche ich, dass Du gesund bist und Dich wohl befindest mitsamt allen geliebten Brüdern im Herrn.4 Den Brief, den Du durch Timotheus an die Versammlung Gottes in Korinth geschickt hast, hat mir Gaius, in dessen Haus sich die gesamte Stadtversammlung zusammenfindet5 und der zugleich mein Onkel ist, zu lesen gegeben, weil in ihm auch von mir die Rede ist. Leider muss ich Dir aber sagen, dass die Zeilen über mich mein Herz mit großer Trauer und unstillbarem Schmerz erfüllt haben. Tag und Nacht habe ich bittere Tränen geweint, und seitdem ich Deinen Brief gelesen habe, kann ich nicht mehr ruhig schlafen. Ich bin entsetzt! Ganz besonders schlimm finde ich, dass Du schreibst, dass Du mich schon verurteilt hast und die Versammlung Gottes in unserer Stadt, wenn sie zusammenkommt, mich aus der Gemeinschaft der Heiligen ausschließen und im Namen Jesu Christi6 dem Satan überge2 S.u. bei Anm. 28. – Auf Grund der Tatsache, dass der Briefschreiber Paulus bisher noch nicht persönlich begegnet ist (s. u. nach Anm. 10), und der Grüße, die er Apollos am Ende des Briefes ausrichten lässt, können wir mit guten Gründen annehmen, dass er durch Apollos, der nach Paulus in Korinth aufgetreten ist (vgl. 1.Kor 3,5f), zum christlichen Glauben bekehrt wurde. 3 Das Präskript entspricht dem griechischen Formular; vgl. im Neuen Testament Apg 15,23; 23,26; Jak 1,1. – S. dazu H. KOSKENNIEMI, Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n. Chr. (AASF.B 102/2), Helsinki 1956, 155ff; H.-J. KLAUCK, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB 2022), Paderborn u.a. 1998, 36f. 4 Formula valetudinis, die in vielen griechischen Briefen belegt ist; vgl. Koskenniemi, Studien (s. Anm. 3), 123ff. 5 Griechisch: ἐν οὗ τῷ οἴκῳ ἡ καθ’ ὅλην τὴν πόλιν ἐκκλησία συνάγεται; vgl. auch Röm 16,23. 6 Eutychus hat den komplizierten Aufbau von 1.Kor 5,3–5 ganz offensichtlich so verstanden, dass er die Formulierung ἐν τῷ ὀνόματι τοῦ κυρίου [ἡμῶν] ’Ιησοῦ (V. 4a) auf den Infinitiv παραδοῦναι (V. 5) bezogen hat (so auch MERKLEIN, 1.Kor II [s. Anm. 1], 35: „das Urteil ... wird ‚im Namen [unseres] Herrn Jesus‘ vollzogen“; vgl. auch die Übersetzung ebd. 27; ebenso F. LANG, Die Briefe an die Korinther [NTD 7], Göttingen 1986, 71; I. GOLDHAHN-MÜLLER, Die Grenze der Gemeinde [GTA 39], Göttingen 1989, 126). Mit Recht wendet MERKLEIN sich auch gegen die mitunter vorgeschlagene Verknüpfung von V. 4a mit τοῦτο κατεργασάμενον (V. 3c), die von der Annahme geleitet ist, dass Eutychus seine Liaison mit Chariklea programmatisch „im Namen Christi“ eingegangen sei, um durch „einen öffentlichen, bewußten und sozusagen provokativ-ideologischen Akt“ seine neugewonnene christliche Freiheit zu demonstrieren (W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther. I. 1 Kor 1,1 – 6,11 [EKK 7/1], Zürich und Braunschweig / Neukirchen-Vluyn 1991, 372; s. auch

7. Der Brief des sogenannten Unzuchtsünders

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ben soll (was für ein Handlanger ist denn das?7). Ich bin vor allem darum so verzweifelt, weil Du mir Unrecht tust, und ich muss auch sagen – obwohl ich das zu dem berufenen Apostel des Herrn, der bei uns in Korinth das Fundament des Heils gepflanzt hat8, eigentlich nicht sagen sollte –, dass ich mich über Deinen Brief außerordentlich geärgert habe. Es ist für mich völlig unverständlich, warum Du auf einmal die Vielfalt der Lebensführung nach dem Evangelium Christi9 in einer ihm nicht entsprechenden Weise einschränken willst. Und überhaupt gibst Du den Sachverhalt, den Du kritisierst, ganz verzerrt wieder. Vielleicht hat dies seinen Grund auch darin, dass wir uns noch nicht persönlich kennen. Ich habe mich darum entschlossen, Dir in einem Brief zu antworten. Ich hoffe und bete zu Gott, dem Vater Jesu Christi, dass der heilige Geist, der in uns wohnt, Deinen Verstand erleuchtet, damit Du erkennst, dass ich aufrichtigen Herzens nach dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus wandele und die Gebote, die Du uns gegeben hast, nicht übertrete. Timotheus, der Dein treuer Mitarbeiter im Herrn ist und auch bei uns ein hohes Ansehen genießt, wird Dir mein Schreiben überbringen, und er J. MURPHY-O’CONNOR, I Corinthians, V,3–5, RB 84 [1977] 239–245; A. YARBRO COLLINS, The Function of ‚Excommunication‘ in Paul, HThR 73 [1980] 251–263, hier 253; A. LINDEMANN, Der Erste Korintherbrief [HNT 9/1], Tübingen 2000, 126 u.a.). Diese Auffassung ist vor allem darum unwahrscheinlich, weil es im Kontext keinerlei Hinweis für einen solchen Begründungszusammenhang gibt. – Über die verschiedenen syntaktischen Zuordnungsmöglichkeiten der präpositionalen Wendungen in V. 4 orientieren H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 1969, 117 und M. PASCUZZI, Ethics, Ecclesiology and Church Discipline. A Rhetorical Analysis of 1 Corinthians 5, Rom 1997, 110 Anm. 65. 7 Griechisch: τίς δὲ ὁ ὑπηρέτης οὗτος;. – Eutychus hat die paulinische Anweisung in V. 5 anscheinend so gelesen, dass er die Anweisung παραδοῦναι τοιοῦτον τῷ σατανᾷ im Sinne des häufig belegten technischen Gebrauchs der Übergabe eines verurteilten Straftäters an die mit dem Vollzug der Strafe beauftragten Gerichtsdiener (ὑπηρέται) verstanden hat; vgl. Diodorus Siculus 16,43,3 (ὁ βασιλεὺς … παρέδωκε τὸν Θετταλίωνα τοῖς ὑπηρέταις καὶ προσέταξεν ἀφελεῖν τὴν κεφαλήν [„der König übergab Thettalion den Gerichtsdienern und ordnete an, ihn zu köpfen“]); 17,30,4; 109,2 (παραδοῦναι τοῖς ὑπηρέταις πρὸς τὴν τιμωρίαν [„den Gerichtsdienern zur Bestrafung übergeben“]); Dio Cassius 66,12,1; Josephus, Bell. 1,655 (Herodes „παρέδωκεν die übrigen Verhafteten den Gerichtsdienern zur Hinrichtung [τοῖς ὑπηρέταις ἀνελεῖν]“); Mt 5,25; s. auch Mt 18,34 (τοῖς βασανισταῖς); Lk 12,58 (τῷ πράκτορι); vgl. dazu C. SPICQ, Theological Lexicon of the New Testament III, Peabody, MA 1994, 19ff.399. Dass Eutychus nicht weiß, wen Paulus mit ὁ σατανᾶς meint, überrascht nicht, denn dieses hebraisierende Fremdwort dürfte ihm gänzlich unbekannt gewesen sein. Es ist auch in der außerjüdischen und außerchristlichen griechischsprachigen Literatur nirgends belegt. 8 Eutychus verschmilzt hier die Metaphorik, mit der Paulus in 3,6 (ἐγὼ ἐφύτευσα) und 3,10 (θεμέλιον ἔθηκα) seine Gemeindegründung beschreibt, zu einer Katachrese. Hierin kommt wahrscheinlich seine außergewöhnliche Erregung bei der Abfassung des Briefes zum Ausdruck. 9 Griechisch: τὴν πολύπλασιν τοῦ κατὰ τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ πολιτεύεσθαι.

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wird Dir hoffentlich auch berichten, wie sehr mich Deine Worte verletzt haben. Was Dir offensichtlich die Leute der Chloë erzählt haben10, als sie Dich in Ephesus aufgesucht haben, um Dir den Brief unserer Ekklesia zu überbringen, ist in der Tat zutreffend: Seit mehr als zwei Jahren lebe ich mit Chariklea zusammen, der ehemaligen Konkubine11 meines verstorbenen Vaters.12 Wie es dazu gekommen ist, spielt hier keine Rolle, und Du gehst ja 10

Vgl. 1.Kor 1,11. Griechisch: παλλακή In der Septuaginta wird παλλακή bzw. παλλακίς für hebr. vg