Theologie und Empirie: Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Theologie und Sozialwissenschaften in den USA und Deutschland [3. Aufl. Reprint 2020] 9783112312940, 9783112301678

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Theologie und Empirie: Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Theologie und Sozialwissenschaften in den USA und Deutschland [3. Aufl. Reprint 2020]
 9783112312940, 9783112301678

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Teil A. Gruppendynamik Und Interpersonale Theologie
Einführung
Kapitel I: Die Gruppendynamik als interdisziplinäre Theorie
Kapitel II: Die Theorie von der Kirche und der christlichen Erziehung bei den interpersonalen Theologen
Kapitel III: Praktische Modelle der Gemeindearbeit und Theorie vom Pfarramt
Kapitel IV: Konsequenzen für Gemeinde und Pfarramt in der deutschen Situation
Teil B. Empirische Theologie in der Perspektive des geschichtlich-sozialen Feldes
Einführung
Kapitel V: Das galileische Erkenntnisproblem am Beispiel der Feldtheorie von Kurt Lewin
Kapitel VI: Zur Diskussion um die Logik der Sozialwissenschaften
Kapitel VII: Ansatz und Ort einer empirischen Theologie in der deutschen Situation
Kapitel VIII: Gegenwärtige Probleme empirischer Theologie im Horizont des galileischen Wissenschaftsverständnisses
Anmerkungen
Exkurse
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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HOLLWEG • THEOLOGIE U N D EMPIRIE

ARND HOLLWEG

THEOLOGIE UND EMPIRIE Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Theologie und Sozialwissenschaften in den USA und Deutschland

m EVANGELISCHES VERLAGSWERK

STUTTGART

ISBN

3 7715 O l l i 3

3. A u f l a g e (1974) E r s c h i e n e n 1971 im E v a n g e l i s c h e n V e r l a g s w e r k G m b H . , S t u t t g a r t ©

Alle R e d i t e , einschließlich d e m d e r Ü b e r s e t z u n g , v o r b e h a l t e n Druck: J . F. Steinkopf K G ,

Stuttgart

Bindearbeiten: Ernst Riethmüller & Co., Stuttgart

MEINER F R A U U N D U N S E R E N FAMILIEN

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

u Teil A

Gruppendynamik und Interpersonale Theologie

15

(Eine Studie zum Gespräch zwischen Theologie und empirischen Wissenschaften vom Menschen in den USA) Einführung

17

a) Die Gruppendynamik als Bewegung und Wissenschaft

17

b) Der historische und soziologische Hintergrund von Gruppendynamik und interpersonaler Theologie

22

Kapitel I: Die Gruppendynamik als interdisziplinäre Theorie

27

a) Der Ansatz der Gruppendynamik auf dem Hintergrund der älteren Soziologie und Sozialpsychologie

27

b) Die feldtheoretische Analyse von personaler und sozialer Situation

37

c) Beobachtung und Experiment

47

d) Der pädagogische Ansatz in der Wechselwirkung von personaler und sozialer Situation

54

e) Pädagogische Aspekte des Gruppenprozesses

61

f) Empirische Forschung und philosophische Anthropologie

69

Kapitel II : Die Theorie von der Kirche und der christlichen Erziehung bei den interpersonalen Theologen

72

a) Der Ansatz in der Ekklesiologie

72

b) Empirische Anthropologie und theologische Reflexion

83

c) Das Verhältnis von Anthropologie und Ekklesiologie

91

d) Der pädagogische Ansatz im Verhältnis von Ekklesiologie und Anthropologie

99

e) Pädagogische Aspekte des Gemeindeprozesses

108

f) Zustimmung und Kritik gegenüber der Gruppendynamik

117

7

Kapitel III: Praktische Modelle der Gemeindearbeit und Theorie vom Pfarramt 123 a) Orientierung an Personen und Aufgaben im sozialen Feld

123

b) Das Leben mit der Bibel

127

c) Verwaltung als Funktion der Gemeinde

133

d) Die Kommunikation des Evangeliums in der Gemeinde

142

e) Dienst in der Gesellschaft

149

f) Die Leitung des Gemeindeprozesses

155

Resümee und kritische Würdigung: Gruppe und Gemeinde - das Verhältnis von Sozialwissenschaft und Theologie bei den interpersonalen Theologen 169 Kapitel IV: Konsequenzen für Gemeinde und Pfarramt in der deutschen Situation 173 a) Der Wille zur Mündigkeit als Herausforderung unter dem Evangelium

173

b) Strukturfragen des Gemeindelebens

182

Teil B Empirische Theologie in der Perspektive des geschichtlich-sozialen Feldes 195 Einführung Die Notwendigkeit der erkenntnistheoretischen Diskussion

197

Kapitel V : Das galileische Erkenntnisproblem am Beispiel der Feldtheorie von Kurt Lewin 203 a) Frontstellung und Aufgabe

203

b) Vieldimensionalität menschlicher Wirklichkeit

205

c) Funktion und Gebrauch der Theorie

209

d) Die Situation als Untersuchungseinheit

216

e) Historische und empirische Methode

219

f) Der erkennende Mensch in der Wirklichkeit

223

g) Gesetzmäßigkeiten in der menschlichen Wirklichkeit

226

8

Kapitel VI : Zur Diskussion um die Logik der Sozialwissenschaften

232

a) Zum Verhältnis von Geschichts- und Sozialwissenschaften

232

b) Gesellschaftsphilosophie und sozialwissenschaftliche Theorie

241

c) Erkennen und Werten

254

d) Die strukturell-funktionale Theorie und ihre Gegner

267

e) Abschied von aristotelischer Logik und Metaphysik

280

Resümee : Theorie und Empirie

297

Kapitel VII : Ansatz und Ort einer empirischen Theologie in der deutschen Situation 302 a) Theologie zwischen Philosophie und empirischer Wissenschaft . 302 b) Empiriebezug und Theorienbildung in der Kirchensoziologie .. 3 1 1 c) Normative und empirische Orientierung in der Sozialethik

321

d) Aufgaben und Intentionen empirischer Theologie

331

Kapitel VIII : Gegenwärtige Probleme empirischer Theologie im Horizont des galileischen Wissenschaftsverständnisses 342 a) Die personale und geschichtlich-soziale Vermitteltheit des christlichen Glaubens 342 b) Theologie im Lichte empirischer und philosophischer Ideologiekritik 354 c) Das Verhältnis von Wirklichkeit und Struktur in der Ekklesiologie 366 d) Der Bezug auf die Situation in Theologie und empirischer Sozialwissenschaft 380 Resümee: Theologische Theorie und Empirie

392

Anmerkungen

404

Exkurse

529

Exkurs 1 : Soziologische Erhebungen über Pfarramt und Gemeinde in den USA 531 Exkurs 2 : Gruppendynamik und Pragmatismus

534

Exkurs 3 : Zum Verhältnis von Gemeinde und Demokratie bei den interpersonalen Theologen 537 Exkurs 4: ZurpädagogischenTheoriederinterpersonalenTheologen 540 9

Exkurs 5: Tabellarische Übersicht zur Differenzierung von aristotelischem, positivistischem und galileischem Wissenschaftsverständnis 545 Exkurs 6: Das Problem des Aristotelismus in der protestantischen Tradition Literaturverzeichnis

549 553

Personenregister

577

Sachregister

580

10

VORWORT

Neben der klassischen Gefahr, auf den Hörnern eines Dilemmas aufgespießt zu werden, sollten wir heute noch eine weitere erkennen, nämlich die der Spaltung durch eine falsche Dichotomie. George C. Homans Kirche und Theologie in Deutschland haben bisher von den in unserem Jahrhundert neu entstehenden empirischen Wissenschaften v o m Menschen zu wenig Notiz genommen. Ihr Aufkommen läßt sich als eine Antwort auf die Frage des 19. Jahrhunderts nach dem Verhältnis von Denken und Wirklichkeit verstehen. Die sich daraus ergebenden Problemstellungen verlangen zu ihrer Lösung ein neues Wissenschaftsverständnis. Heute gründen sich Naturwissenschaften und empirische Wissenschaften v o m Menschen bereits auf einem gemeinsamen wissenschaftstheoretischen Fundament, das durch das galileische Erkenntnisproblem in seiner Abkehr vom aristotelischen Wissenschaftsverständnis bestimmt ist. Wenn Carl Friedrich von Weizsäcker sagt, „daß der Kirche . . . vielleicht keine einzelne Handlung mehr geschadet hat als der Prozeß gegen Galilei" (Tragweite der Wissenschaft, S. 1 1 2 ) , dann wird diese heute angesichts der empirischen Wissenschaften, welche die geschichtlich-soziale Lebenswelt erforschen, mit demselben Problem konfrontiert. Sie ist noch stärker als damals in ihren eigenen Voraussetzungen betroffen. Die Ursache für die Schwierigkeiten eines Gesprächs zwischen Theologie und empirischen Wissenschaften liegt vor allem darin, daß deren Aussagen und Ergebnisse selten in den Zusammenhängen ihres neuen Wissenschaftsverständnisses gesehen werden. Deshalb ist es nötig, sich mit den Grundlagenproblemen auseinanderzusetzen. An dem Modell der Gruppendynamik als einer neueren sozialwissenschaftlichen Theorie sollen die Voraussetzungen und Bezüge eines Gesprächs zwischen Theologie und empirischen Wissenschaften exemplarisch untersucht werden. Die Gruppendynamik öffnet einen Zugang zum Erkennen der Wirkzusammenhänge und der Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses. Aus dem Dialog mit ihr ist in den U S A die „Interpersonale Theologie" erwachsen, deren ekklesiologische Theorie dar-

11

gestellt wird. In den U S A unterscheidet man bereits zwischen den „klassischen" und „dialogischen" Disziplinen in der Theologie, welche sich aus dem Gespräch mit den neuzeitlichen Wissenschaften gebildet haben. Im zweiten Teil des Buches stehen hauptsächlich zwei Problemkreise der Grundlagenforschung zur Diskussion: 1. die Frage nach den empirischen Wissenschaften, ihren geschichtlichen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, ihrem Wissenschaftsund Wirklichkeitsverständnis, ihrer Problem- und Aufgabenstellung, der Art und Bedeutung ihrer Erkenntnisse, ihrer Theorienbildung, ihren Methoden und ihrem Verhältnis zu den anderen Wissenschaften und zur Philosophie; 2. die Frage nach einem theologischen Zugang zu den Problemen empirischer Wissenschaft auf der Grundlage einer „empirischen Theologie". Gemeinde und Theologie müssen vom Evangelium her den rechten Bezug zu den so wichtigen Problem- und Aufgabenstellungen der empirischen Wissenschaften vom Menschen finden, nicht nur ihre Ergebnisse als Bausteine theologischer Systembildung verwenden. Der theologische Ansatz dieser Arbeit hegt in dem Bemühen, die von den empirischen Wissenschaften erhellten geschichtlich-sozialen und personalen Prozesse im Lichte der von der Bibel bezeugten Geschichte Gottes mit den Menschen zu verstehen. Vielleicht ist ein wesentlicher Impuls zu diesem Buch ein kleines Hörsaal-Erlebnis kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Professor D. Hans-Emil Weber sagte damals in seiner unvergeßlichen Vorlesung über christliche Sozialethik: „Das Ernstnehmen der Wirklichkeit Gottes hat etwas zu tun mit dem Ernstnehmen der Wirklichkeit des Menschen und umgekehrt." Eine andere wichtige Anregung lag in der Teilnahme an ,.gruppendynamischen Seminaren" in der University of Southern California in Los Angeles unter Leitung von Professor Paul Irwin. Hier wurde in dem Ernstnehmen des Menschen in der Gruppe ein Zusammenhang zwischen dem christlichen Glauben und den empirischen Wissenschaften sichtbar. Die empirischen Wissenschaften können als Werkzeuge begriffen werden, die sich die neuzeitliche Gesellschaft geschaffen hat, um ein Zusammenleben der Menschen in Freiheit und Verantwortung unter den Bedingungen der technisch-industriellen Welt zu ermöglichen. Die in Deutschland verbreitete Empiriefeindlichkeit, zu der sich oft Gesellschaft und Kirche, Philosophie und Theologie wechselseitig ermuntern, hat dazu beigetragen, daß der Zusammenhang zwischen Wissenschaftsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte weitgehend verdeckt blieb und

12

die empirische Forschung bis heute auf große Widerstände stößt. Hier zeigt sich die Auswirkung eines gestörten Verhältnisses von Denken und Wirklichkeit, das meines Erachtens den geistesgeschichtlichen Hintergrund zu den sozialen Krisen unserer Zeit bildet. Das Buch möchte dazu beitragen, daß wir als Christen vom Evangelium her unser Verhältnis zur Empirie neu bedenken. Die Systematik dieser Arbeit liegt in der Systematik ihrer Problemstellung, nicht in einem geschlossenen Interpretationsrahmen. Daß es sich dabei nur um einen Gesprächsbeitrag handeln kann, ist selbstverständlich, auch wenn es darin um entschiedene Stellungnahmen geht. Die oft sehr komplizierten und abstrakten Sachverhalte der Theorienbildung in den Sozialwissenschaften sind so einfach als möglich dargestellt in der Hoffnung, daß ein interessierter Leser auch ohne große Spezialkenntnisse in die behandelten Fragen eingeführt werden und nach der Lektüre das oben zitierte Wort von Homans verstehen kann. Es geht mir vor allem um eine wechselseitige Information zwischen den verschiedenen Wissenschaften, aber auch zwischen den USA und Deutschland. Ebenso soll die Art der Wechselbeziehung zwischen Theorie und Praxis, die für die empirischen Wissenschaften grundlegend ist, sichtbar gemacht werden. Für die Leser, welche sich über Einzelheiten informieren wollen, ist der Anmerkungsteil gedacht. Das Buch ist aus einer Dissertation erwachsen, welche die jetzigen Kapitel I-IVa umfaßt. Für die wohlwollende Förderung danke ich vor allem Herrn Professor D. Dr. Joachim Konrad und den Professoren D. Walter Kreck, Dr. Ernst Lichtenstein und Dr. Jürgen Moltmann. Mit besonderem Dank gedenke ich der Professoren D. Gerhard Gloege D. D. und D. Friedrich Siegmund-Schultze. Wichtige Unterstützung erfuhr ich über mehrere Jahre hindurch von den amerikanischen Professoren Dr. Paul B. Irwin, Dr. Paul E. Johnson, Dr. Robert C. Leslie und Dr. Herbert Stotts. Der Abschluß meiner Arbeit wurde durch einen Forschungsauftrag des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums ermöglicht, der mir durch die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Bonn vermittelt wurde. Hilfreiches Entgegenkommen fand ich im Evangelischen Verlagswerk bei den Herren Friedrich Vorwerk, Dr. Paul Collmer und Willy Collmer. Lektor Pfarrer Walter Schmidt betreute mit viel Interesse und Mühe diese Veröffentlichung. Druckkostenzuschüsse erhielt ich von Bischof D. Hermann Kunst D. D. und Präses Professor D. Dr. Joachim Beckmann. Bei der Beschaffung der Literatur war mir Frau Bibliotheksoberinspektorin Sigrid Lemke behilflich. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Eine Arbeit ist nie eine indi13

viduelle Angelegenheit. Ich denke in Dankbarkeit aller, deren Namen ich jetzt hier nicht nennen kann, für das, was aus ihrem Leben, Denken und Arbeiten in dieses Buch eingeflossen ist. Meine Frau Astrid, geb. Blomerius, war mir in der gemeinsamen Arbeit an den Fragestellungen dieses Buches stets Weggefährtin und treue Helferin. Ein Dank gilt auch unseren Familien für ihre mannigfache Unterstützung. Bad Honnef, im April 1970

Arnd Hollweg

VORWORT zur zweiten Auflage Nach kaum einem halben Jahr wird eine zweite Auflage nötig. Das läßt auf ein wachsendes Interesse an den Problemstellungen der Empirie und den sie vermittelnden Wissenschaften in Deutschland schließen. Infolge der Kürze der Zeit sind Veränderungen des Textes nicht angebracht. Es wurden nur die üblichen Korrekturen vorgenommen. Ich danke allen, die über die Aufnahme des Buches mit mir in Kontakt getreten sind. Bad Honnef, im Juni 1971

Arnd Hollweg

VORWORT zur dritten Auflage Die dritte Auflage des Buches steht im Zeichen wachsender Verbreitung gruppendynamischer Praxis und Methodologie in der Bundesrepublik. Ich wünsche mir, daß dieses Buch in der gegenwärtigen Phase einer mehr pragmatischen Rezeption gruppendynamischer Einsichten die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragestellung wach hält, die uns mit der Gruppendynamik als sozialwissenschaftlicher Theorie aufgegeben ist. Nur im Zusammenhang mit ihr läßt sich auch der theologische Bezug in angemessener Weise finden. 14

Mein herzlicher Dank gilt den vielen Rezensenten aus den verschiedenen Disziplinen für alle aufgewandte Mühe. Im Spiegel der mannigfaltigen Erwartungen, die von den jeweiligen Standorten an das Buch herangetragen wurden, habe ich mich selbst in meinem theologischen und wissenschaftlichen Bemühen besser verstehen gelernt und habe durch die kritischen Nachfragen viele Anregungen zum Weiterdenken empfangen. In vereinzelten Rezensionen, in denen man Sozialphilosophie und Sozialwissenschaft verwechselte, nach „fundamentaltheologischen" Systemen suchte oder die menschliche Wirklichkeit in ihrer Totalität auf einen globalen philosophischen oder theologischen Begriff gebracht haben wollte, wurde allerdings deutlich, daß man die Fragestellung des Buches nicht zu Gesicht bekommen hatte. Dabei fiel es einigen nicht einmal auf, daß mein Ansatz weder dem Empirismus noch dem Neopositivismus zuzurechnen ist, so sehr auch deren Verdienste um die Wissenschaft von mir gewürdigt wurden (vgl. u. a. S. 2 0 3 f f . ; 2 4 6 f . ; 291 f f . ; 5 4 5 f f . ) . Daß auch dieses Buch an dem Bruch teilhat, der durch unsere Zeit geht, war mir stets bewußt. Wir stehen — wenn auch schon seit mehr als hundert Jahren — in den Anfängen weitreichender neuer Entwicklungen. Die Diskrepanz zwischen den gegenwärtigen Möglichkeiten und dem, was als Aufgabe vor uns steht, darf uns jedoch nicht hindern, uns in Bewegung zu setzen. Das Gespräch zwischen Theologie und empirischen Wissenschaften hat noch kaum begonnen. Hinsichtlich der Weiterführung einiger Fragestellungen des Buches und seiner Diskussion durch die Rezensenten verweise ich auf meine neueren Veröffentlichungen. Um die Kosten für die Leser so niedrig als möglich zu halten, muß ich mich auch dieses Mal wieder mit wenigen Korrekturen begnügen. Stuttgart, im Dezember 1973

Arnd

Hollweg

TEIL A

GRUPPENDYNAMIK U N D INTERPERSONALE THEOLOGIE (Eine Studie zum Gespräch zwischen Theologie und empirischen Wissenschaften vom Menschen in den USA)

EINFÜHRUNG

a) Die Gruppendynamik als Bewegung und Wissenschaft Eine Analyse der Gruppendynamik hat es zunächst mit verschiedenen Schwierigkeiten zu tun, die im Blick auf die Lösung unserer Fragestellung vorher zu bedenken sind. 1. Es besteht bereits eine unübersehbare Literatur über die Gruppendynamik auf säkularem Gebiet, wobei wiederum das, was jeweils unter Gruppendynamik verstanden wird, sehr differenziert ist. W i r haben es zum Teil mit einer ganzen Reihe unverbundener Einzelforschungen zu tun, welche unter dem Namen „Gruppendynamik" getrieben werden. Trotz dieser Fülle der bereits vorhandenen Literatur ist die Gruppendynamik noch eine sehr junge Wissenschaft, die sich unter diesem Namen erst seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts als solche eingeführt hat 1 . 2. Die eigentlich theologischen Veröffentlichungen, welche den Einfluß der Gruppendynamik deutlich zeigen und in ihrem Ansatz von ihr bestimmt sind, datieren seit dem Jahre 1956 2 . Unsere Arbeit bezieht in starkem Maße Dissertationen und hektographiertes Material von Instituten ein. Daneben gibt es auf kirchlichem Gebiet eine Fülle populären Schrifttums, welches die im Zusammenhang mit der gruppendynamischen Forschung entstandene Methodologie der Gruppenarbeit für die Praxis fruchtbar zu machen versucht 3 . 3. Die wissenschaftliche Forschung, welche unter dem Namen „Gruppendynamik" getrieben wird, taucht auch unter anderen Bezeichnungen auf, beispielsweise „Interpersonal Psychology" (interpersonale Psychologie) 4 , „Psychology of Interaction" (Psychologie der Wechselwirkungen) 5 , „Psychology of Participation" (Psychologie der Partizipation) 6 . Der Forschungsgegenstand ist bei verschiedener Akzentsetzung unter allen diesen Bezeichnungen derselbe: der Mensch im Prozeß seiner Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen mit -dem geschichtlichsozialen Feld. 4. Ein weiteres terminologisches Problem entsteht dadurch, daß der B e griff „Gruppendynamik" für verschiedene Sachverhalte gebraucht wird.

17

a) Gewöhnlich bezeichnet man mit „Gruppendynamik" eine sozialpsychologische Theorie, wie sie etwa den Forschungen des „Institute of Group Dynamics in Chicago" und des „Research Center for Group Dynamics" an der Universität Michigan zugrunde liegt. Als solche meint sie eine psychologische Analyse der im sozialen Prozeß wirksamen Kräfte 7 . Je nach der Beurteilung ihrer Tragweite kann auch der Begriff „Gruppendynamik" synonym gebraucht werden mit dem Begriff „Sozialpsychologie". b) Gleichzeitig gibt es auch eine pädagogische Theorie der Gruppendynamik 8 , die wir als „Erziehung in der Gruppe, durch die Gruppe, für die Gruppe" umschreiben können. Den größten Einfluß hat die Gruppendynamik in den protestantischen Gemeinden dadurch gehabt, daß sie zur Entfaltung einer Theologie der Erziehung und Leitung Anregungen und Grundkategorien gab. c) In der populären Literatur ist die Gruppendynamik eingegangen als eine Art Methodologie, wie sie aus der Analyse des sozialen Prozesses abgeleitet wurde. 5. Verschiedene Autoren sprechen von der Gruppendynamik als einer geschichtlichen Bewegung, hinter der die Sehnsucht nach einer wahrhaft menschlichen Gemeinschaft stehe9. Als eine solche Bewegung lernen wir sie vor allem in dem Bericht von Chase kennen, der an der ersten Konferenz, die das „Laboratory in Group Dynamics" in Bethel/Maine veranstaltete, teilnahm 10 . Diese erste Bethelkonferenz war von 150 Teilnehmern aus allen Berufen besucht, welche in direkter Arbeit am Menschen standen. "Wedel, der als einziger protestantischer Pfarrer daran teilnahm, berichtet, daß viele Teilnehmer von der Konferenz meinten: „Dies ist die größte religiöse Erfahrung meines Lebens!" 1 1 . Chase weist darauf hin, daß für manche Teilnehmer Lewin der heilige Schutzpatron der gruppendynamischen Bewegung gewesen sei (Roads, S. 69). Obwohl man teilweise einen wirklich religiösen Enthusiasmus gespürt habe, so hätte dieser doch nicht im Sinne der Konferenz gelegen. Immerhin kann Chase so weit gehen, sie mit einer geschichtlichen Bewegung wie dem Humanismus zu vergleichen, wenn er auch davor warnen zu müssen glaubt, daß sie in einen Kult ausarte (Roads, S. 95 und 97) 12 . Wedel und Lippitt verstehen die Gruppendynamik hauptsächlich als eine Bewegung pädagogischen Charakters 13 . Dem würde entsprechen, daß sie, wie oben erwähnt, im Raum der protestantischen Kirchen ihren Einfluß hauptsächlich über die „Religious Education" gefunden hat. 6. Obwohl die Gruppendynamik noch eine so junge Wissenschaft ist, findet sich doch eine Fülle von Belegen, die ihren Einfluß bereits als außerordentlich hoch einschätzen. Grimes spricht von einer Ära der 18

Gruppendynamik (S. 156). Sprott stellt die Gruppendynamik als ein Symptom unserer Zeit hin. Ihr Thema sei für die Gegenwart charakteristischer als das Thema irgendeiner anderen Wissenschaft 14 . Joh. J. O'Connor vermerkt bereits 1951, daß 385 Institute mit 749 Zweigniederlassungen in den verschiedensten Städten zu dem Zwecke gegründet worden seien, die Gruppendynamik auf dem Gebiet der „intercultural and intergroup education" fruchtbar zu machen 15 . Wedel meint schon 1954, daß die Bewegung der Gruppendynamik unter dem Patronat der „National Education Association" die gesamte amerikanische Erziehung auf allen ihren Ebenen durchdrungen habe (Wedel, S. 1). Brocher stellt 1967 fest, daß die Gruppendynamik in den U S A und fast allen westeuropäischen Ländern - mit Ausnahme der Bundesrepublik - zur Grundlage der Erwachsenenbildung' geworden sei 16 . Reid kann 1969 sagen, daß während der letzten Jahre eine explosionsartige Entstehung und Verbreitung kleiner Gruppen stattgefunden habe. Ebenso explosionsartig habe sich das Interesse an der auf sie bezogenen Wissenschaft in allen Bereichen von Gesellschaft und Kirche der U S A entwickelt 17 . Einige Autoren sprechen bereits davon, daß der gesamte Charakter des kirchlichen Lebens dadurch in Veränderung begriffen sei 18 . Unsere Arbeit sieht sich also zunächst ganz allgemein vor das „Phänomen" der Gruppendynamik in seinen verschiedenen, auf den ersten Blick widersprüchlichen und anscheinend auseinanderfallenden Erscheinungsformen gestellt. Wir meinen, daß sich die Frage nach dem Einfluß der Gruppendynamik auf die amerikanische Theologie und Gemeinde nicht beantworten läßt, ohne das Gesamtphänomen „Gruppendynamik" zu berücksichtigen und zu durchdenken 19 . Aber bisher besteht unseres Wissens in Amerika noch keine Arbeit, welche versucht, das Gesamtphänomen Gruppendynamik zu klären und interpretierend darzustellen. Darin bestätigt sich auch die Vermutung, daß hinter der Gruppendynamik als Wissenschaft eine Bewegung steht, die nicht wie eine „Schule" einen erarbeiteten theoretischen Ansatz anwendet, sondern einen Ansatz selbstverständlich vollzieht, ohne über diesen Zusammenhang theoretisch zu reflektieren. Wenn es sich bei der Gruppendynamik um eine Bewegung handelt, läßt es sich auch erklären, warum sie bisher in ihrer wissenschaftlichen Arbeit ein typisch amerikanisches Phänomen ist. Der Grund liegt darin, daß sie im Zusammenhang mit einer Bewegung entstanden ist und daraus ihre Impulse bezieht. Wenn man die Gruppendynamik als Bewegung voraussetzt, lassen sich auch am leichtesten die oben angeführten Widersprüche verstehen, etwa die Bedeutung, welche ihr beigemessen wird, obwohl

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ihre wissenschaftliche Theorie noch j u n g ist. Auch der große Enthusiasmus, der in der wissenschaftlichen Arbeit der Gruppendynamik beobachtet wurde, u n d die D u r c h d r i n g u n g der amerikanischen Erziehung in allen ihren Bereichen durch gruppendynamische Aspekte, ihre W i r k samkeit u n d Bedeutung in der sozialen Praxis, die Fülle v o n populärer Literatur u n d die anderen Zeugnisse v o m Einfluß der Gruppendynamik i m amerikanischen Leben sind leichter zu erklären, w e n n sie i m Z u sammenhang mit einer B e w e g u n g stehen. Es w i r d dann auch verständlich, daß der Ansatz der wissenschaftlichen Gruppendynamik, ihre G r u n d kategorien u n d ihre Terminologie weithin auch dort A n w e n d u n g finden, w o eine Kenntnis der theoretisch-wissenschaftlichen Arbeit der G r u p p e n dynamik u n d der Bezug auf sie nur gering sind 2 0 . Das Ziel der Gruppendynamik als B e w e g u n g sehen wir in der Verwirklichung der rechten F o r m einer Personengemeinschaft, die sowohl d e m einzelnen das Gefühl der Zugehörigkeit u n d die besten Bedingungen zur Entfaltung seiner Person gewährt als auch der Gemeinschaft als ganzer die besten Möglichkeiten der Entfaltung u n d Wirksamkeit bietet. Die anthropologischen Voraussetzungen der gruppendynamischen Bewegung, auch als „Gruppenphilosophie" bezeichnet 2 1 , lassen sich charakterisieren als wechselseitige Bedingtheit u n d Verantwortung v o n Person und Gruppe, w o b e i gewöhnlich ein starker Akzent darauf liegt, daß der Mensch der G r u p p e bedarf, u m Person werden zu können. Die Gruppendynamik als Wissenschaft darf, w e n n sie auch i m Z u s a m m e n h a n g mit der B e w e g u n g steht, nicht mit der „Gruppenphilosophie" verwechselt werden, insofern sie eine empirische Wissenschaft ist. Es h a n delt sich u m eine interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Theorie. Sie analysiert unter den verschiedenen Aspekten der Wissenschaften v o m Menschen (beispielsweise Individual- u n d Sozialpsychologie, Soziologie, Kulturanthropologie, Pädagogik) die i m Gruppenprozeß wirksamen Kräfte in ihren Wechselbeziehungen u n d Wechselwirkungen zwischen Individuen u n d Gruppen und Gruppen untereinander 2 2 . Das Studium der G r u p p e ist Ausgangspunkt zur Erforschung des sozialen Prozesses als ganzen. In Ablehnung v o n Positivismus, Mechanismus, Individualismus u n d Kollektivismus sieht sie den Menschen als eine Ganzheit innerhalb seines gesamten Feldes, das ist innerhalb seines ganzen geschichtlichsozialen Lebensraumes. D i e gruppendynamische Wissenschaft ist nicht zu verwechseln mit einer Methodologie der Gruppenarbeit, o b w o h l sie als angewandte Wissenschaft die Richtlinien einer solchen Methodologie entfaltet. So nennt 20

denn auch Cartwright als eines der wichtigsten Ziele der Gruppendynamik: „die Kluft zwischen sozialwissenschaftlicher Theorie und der Praxis sozialen Handelns zu überbrücken" (Research, S. 6)23. Die Anwendung der Gruppendynamik wird weithin durch die Gesichtspunkte der gruppendynamischen Bewegung bestimmt. Theoretisch und praktisch ist die Gruppendynamik heute in fast allen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft vertreten: in der Schule, in Universitätsseminaren, in der Erwachsenenbildung, in der Jugend- und Sozialarbeit, in der gesellschaftspolitischen Arbeit, in Verwaltung, Wirtschaft und Militär usw. Sie dient vor allem den Funktionen der Diagnostik, der Führung und der Erziehung im sozialen Prozeß 24 . Die Gruppendynamik darf nicht verwechselt werden mit der Gruppentherapie, welche sich unter psychotherapeutischen und medizinischen Aspekten mit dem Gruppenprozeß befaßt. Sie hat auf kirchlichem Gebiet vor allem im Bereich der Seelsorge Anwendung gefunden 25 . Da sich die Gruppendynamik, wie bereits erwähnt, in einer unübersehbaren Fülle von Einzeluntersuchungen entfaltet hat, legen wir unserer Arbeit die Interpretation des theoretischen Ansatzes des Begründers der Gruppendynamik, Kurt Lewin, zugrunde. Hier liegt noch spannungsreich ineinander, was in der weiteren Entwicklung der Gruppendynamik auseinanderläuft. Die Theologie, welche den Ansatz der Gruppendynamik als wissenschaftlicher Theorie kritisch aufnimmt und entfaltet, bezeichnen wir auf Anregung von Professor Paul E. Johnson als „interpersonale Theologie" 26 . Ross Snyder spricht von dem „concept of religious interpersonal relations", Randolph C. Miller von der „Theology of Relationships" 2 '. Insofern die „interpersonale Theologie" quer durch alle Konfessionen und theologischen Fronten (beispielsweise Fundamentalismus, Neuorthodoxie und Liberalismus) geht, kann man sie auch als theologischen Ausdruck einer Bewegung verstehen, welche im kirchlichen Raum parallel zur Gruppendynamik im säkularen Raum verläuft 28 . Die interpersonale Theologie entfaltet eine Theologie des Gemeindeprozesses, den sie in Entsprechung zum Gruppenprozeß als dynamisches Feld interpersonaler Beziehungen und Wechselwirkungen versteht, aber sie betont, daß die interpersonalen Beziehungen in der Gemeinde im Gegensatz zu allen anderen menschlichen Gruppen durch die Gottesbeziehung bestimmt sind. Sie geht aus von der wechselseitigen Abhängigkeit der Glieder der Gemeinde, vor allem hinsichtlich ihrer Antwort auf 21

die Offenbarung Gottes und des existentiellen Vollzugs des Glaubens. Von diesem Ansatz her entfaltet sie eine Theorie der Erziehung und der Leitung. Darüber hinaus findet die Gruppendynamik Eingang in die verschiedensten Lebensbereiche und Funktionen der Gemeinde : Erwachsenenkatechumenat, Jugendarbeit, Verwaltung, Evangelisation, Gesellschaftsdiakonie usw. Bisher ist der Einfluß der Gruppendynamik auf die protestantische Theologie und Gemeinde noch nicht in einer zusammenhängenden Darstellung systematisch untersucht worden 29 . Auf katholischer Seite liegt ein Versuch in dieser Richtung bereits vor 30 . Wir möchten diese Lücke füllen und in der Durchführung unserer Arbeit aufzudecken versuchen, wie tief die sozialwissenschaftliche Theorie Lewins und die Gruppendynamik auf die interpersonale Theologie eingewirkt haben, vor allem in der Entfaltung ihrer Ekklesiologie, ihrer Anthropologie und ihres Verständnisses von christlicher Erziehung und der gesamten pfarramtlichen Tätigkeit. Aus unseren bisherigen Darlegungen wird ersieh dich, daß wir zur Bestimmung des Verhältnisses von Gruppendynamik und interpersonaler Theologie nicht den Weg einer systematisierenden Darstellung bereits vorhandener Literatur der Gruppendynamik und der interpersonalen Theologie wählen und nicht die Fülle der gruppendynamischen Forschungsergebnisse entfalten können. Wir stehen vielmehr vor der Aufgabe einer Interpretation des Ansatzes, des Ortes und der Fragestellung beider Wissenschaften in ihrem Verhältnis zueinander. Dabei werden wir oft mehr darauf angewiesen sein, selbstverständlich Impliziertes herauszuarbeiten, als explizit Dargestelltes in ein System zu bringen. Dieses ergibt sich schon aus dem Charakter der interpersonalen Theologie als einer „dialogischen Disziplin" (s. o. S. 12).

b) Der historische und soziologische Hintergrund von Gruppendynamik und interpersonaler Theologie Gruppendynamik und interpersonale Theologie können als Bewegung und Wissenschaft nur im Zusammenhang des geschichtlich-sozialen Prozesses verstanden werden, in dem sie wurzeln und auf den sie sich beziehen. Sprott z. B. sieht die Entstehung der Gruppendynamik vor allem in der Situation des Menschen in einer technisierten Umwelt begründet, die ihn vor die Frage nach den personalen Beziehungen stellt (S. 184). Allport weist darauf hin, daß die Sozialpsychologie entstanden sei als 22

Antwort auf bestimmte Notstände der amerikanischen Gesellschaft als Begleiterscheinungen und Folgen der beiden Weltkriege. Die soziale Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft hätte zu einer größeren Beachtung sozialpsychologischer Fragen geführt. Zwar seien andere Länder mit ähnlichen Problemen konfrontiert worden, aber in den U S A habe sich der „Boden westlichen Denkens" für den Aufschwung der Sozialpsychologie am fruchtbarsten erwiesen 31 . Dieser Feststellung von Allport entspricht es, daß viele gruppendynamische Forscher die Fragestellung der Gruppendynamik vom Bezugsrahmen der amerikanischen Demokratie her verstehen: „ D e r Ansatz bei der Gruppe ist zutiefst verbunden mit unseren Auffassungen von Demokratie als Gruppenprozeß 3 2 ."*

So scheinen zwei Faktoren die Entstehung und Ausbreitung der Gruppendynamik zu erklären: die allgemeine Situation des Menschen der Gegenwart und die besondere amerikanische Tradition demokratischer Gesellschaftsordnung, die ihrerseits wiederum im Zusammenhang mit der Geschichte der amerikanischen Gemeinden gesehen werden muß. Fragestellung und Zielsetzung der gruppendynamischen Bewegung weisen unseres Erachtens über den Zusammenhang mit der amerikanischen Gesellschaft zurück auf die Tradition des „linken Flügels" des amerikanischen Protestantismus in seiner Verbindung von Täufertum und calvinistischem Bundesgedanken 33 . Kennzeichnend für die Gemeinschaften des linken Flügels (Baptisten, Methodisten, Quäker, Presbyterianer, Mennoniten, Schwenckfeldianer, Moravianer usw.) waren die Ablehnung des Staatskirchentums und das Verständnis der Kirche als „freiwilliger Gemeinschaft im Heiligen Geist" auf der Grundlage des von Gott gestifteten Bundes mit seinem Volk 3 4 . Ihre Fragestellung kann man so formulieren: Wie läßt sich christliche Gemeinde als Glaubensgemeinschaft verwirklichen, in welcher der Christ in Freiheit seines Gewissens und dadurch ermöglichter personaler Verantwortung Gott und seinem Nächsten dienen kann? Das Motiv ihres Kampfes gegen staatliche und kirchliche Institutionen war nicht ein schrankenloser Individualismus, sondern das Streben nach Freiheit im Sinne der Ermöglichung des Dienstes für Gott und der rechten Gestaltung der Gemeinde 38 . Indem die Gemeinden des linken Flügels Gemeinschaft in Freiheit zu verwirklichen suchten, wurden sie „Modelle freier Institutionen" (Nichols, a.a.O., S. 56). Nach der Darstellung von Sweet hat diese Konzeption des linken Flügels den gesamten amerikanischen Protestantismus geprägt und darüber hinaus auch tief in die Gesellschaft eingewirkt (a.a.O., S. 43 ff.).

23

Das Ergebnis der von ihm beeinflußten Entwicklung war die Trennung von Kirche und Staat36. Durch diese Trennung wurde die amerikanische Christenheit freigesetzt, nach ihren eigenen Gesetzen den Weg ihrer Gemeinschaft und Ordnung zu suchen, ohne den bestehenden Staat als Institution legitimieren und stützen zu müssen. Ihre Ordnung konnte nun von unten her wachsen und die Funktion einer echten Integration der Gemeinschaft gewinnen. Gleichzeitig verlor sie auch die Unterstützung des Staates und war dadurch ganz auf die verantwortliche Beteiligung ihrer Glieder angewiesen. Nachdem der Raum für Gewissensfreiheit und damit der Weg zu einer echten Form der Gemeinschaft freigekämpft war, begann man nach Wegen zu einer Einheit in Freiheit zu suchen. Die Frage nach der rechten Gestalt christlicher Gemeinde wurde in ihrer säkularisierten Form auch ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung von Fragestellung und Zielsetzung der amerikanischen Demokratie, deren eigentliches Kennzeichen Nichols als Verständnis der Freiheit im Sinne personaler Verantwortung beschreibt37. Während es in der Fragestellung des linken Flügels um die Verwirklichung einer Gemeinschaft geht, in welcher der Mensch in Freiheit und Verantwortung vor Gott stehen kann, geht es in der demokratischen Gesellschaft um die Verwirklichung einer Gemeinschaft, in welcher der einzelne in personaler Integrität und der Verantwortung für das Gemeinwohl zugleich enthalten sein kann (vgl. den Exkurs 3, S. 537fF.). Im Bezugsrahmen der stets spannungsvollen Frage nach der rechten Weise der Wechselbeziehung zwischen individueller Freiheit und verantwortlicher Kooperation in der Gesellschaft müssen auch Fragestellung und Zielsetzung der Gruppendynamik als Bewegung und die Impulse der Gruppendynamik als Wissenschaft verstanden werden. Baxter und Cassidy nennen als eine der Prämissen der Gruppendynamik: „In einer Demokratie ist jeder individuelle Mensch wertvoll. E r muß so behandelt werden, daß er sich in bestmöglicher W e i s e entwickeln kann, sowohl im Blick auf sein eigenes Leben, als auch i m Blick auf den Dienst, den er der Gesellschaft leisten kann. In einer Demokratie geht das Individuum nicht in der Gruppe verloren, noch w i r d es der Gruppe geopfert. D i e Individualität eines jeden w i r d durch kooperative Tätigkeit gesteigert" (S. X I I ) . *

Es ist wohl kein Zufall, daß die meisten interpersonalen Theologen aus den Gemeinden des „linken Flügels" kommen: Sherrill und Cully sind beispielsweise Presbyterianer; Grimes, Johnson, Clemmons, Douty, Douglass Methodisten; Reid ist Kongregationalist; das Southern Baptist Theological Seminary, an dem Paul Miller lehrt - er selber ist Mennonit - ist bekannt wegen seines besonderen wissenschaft-

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liehen Schwergewichtes in der Gruppendynamik 38 . Das bedeutet aber nicht, daß die interpersonale Theologie auf diese Tradition beschränkt ist, wie etwa Randolph C. Miller (Episcopal Church) als einer ihrer Exponenten zeigt. U m die Bedeutung der Gruppendynamik für die amerikanische Gemeinde verstehen zu können, müssen wir neben dem geschichtlichen Durchblick einen kurzen Hinweis auf die Situation der amerikanischen Gemeinden geben, in deren Zusammenhang die interpersonale Theologie steht. Wir beziehen uns dabei auf zwei wichtige kirchensoziologische Untersuchungen, wie sie auf breiter Grundlage durchgeführt und von Richard Niebuhr und Samuel W . Blizzard ausgewertet wurden (vgl. den Exkurs i , S. 531). Sie zeigen auf, daß die Situation der amerikanischen Gemeinde durch Konflikte zwischen den Perspektiven des Individuums und der Gemeinschaft sowie durch den Wandel des Leitbildes vom Pfarramt bestimmt ist. Da wir die Frage des Verhältnisses von personalem und sozialem Aspekt im Zusammenhang der Ekklesiologie behandeln werden (s. u. S. 74ff.), genügen hier kurze Verweise auf die Ergebnisse der Erhebungen zum Thema Kirche und Pfarramt. Sie gehen aus von dem Widerspruch zwischen den traditionellen theologischen Normen für das Pfarramt und den tatsächlichen Funktionen, die der Pfarrer in der gegenwärtigen Gemeinde zu vollziehen hat. Auf diesem Hintergrund stellen sie die Frage nach Art und Ort einer neuen Integration pfarramtlicher Tätigkeit auf sachgemäßer theologischer und empirischer Grundlage. Beide Untersuchungen haben ergeben, daß in den Vorstellungen über die zentrale Aufgabe des Pfarramtes trotz des noch herrschenden Rollenkonfliktes ein Integrationsprozeß zu erkennen ist, der sich auf ein Leitbild zubewegt, das sein Vorbild im „Bischof" der frühchristlichen Gemeinde findet (vgl. 1. Tim.). Die Neuschöpfung dieses Leitbildes in moderner Gestalt nennt Niebuhr die Konzeption des Gemeindeleiters („the conception of the minister as pastoral director", a.a.O., S. 80). Dieses Leitbild ist nach Niebuhr keine theologische Konstruktion. Trotz seiner biblischen Wurzeln und seiner weit zurückreichenden kirchlichen Tradition sei es durch das Ringen der Pfarrerschaft mit den besonderen Bedürfnissen der gegenwärtigen Gemeinde erwachsen (a.a.O., S. 57) wie die früheren Leitbilder vom Priester, Prediger usw. auch 39 . Niebuhr beschreibt die Leitungsfunktion als die zentrale Aufgabe, die Gemeinde zur Mündigkeit zu erziehen und zuzurüsten für ihren Dienst in Kirche und Welt (S. 82ff".). Das Ziel besteht darin, daß die Gemeindeglieder selbst Träger des Zeugnisses in der Welt werden. Im Blick auf dieses Verhältnis von Pfarrer und Gemeinde kann Niebuhr sagen, die Gemeinde

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werde zum Pfarrer und der Pfarrer zu ihrem Diener, der sie in ihrem Dienst anleitet (S. 83). In diesem Zusammenhang eines neuen theologischen Verständnisses der Gemeindeleitung muß auch die Aufnahme der Gruppendynamik innerhalb der Gemeinde gesehen werden. U m die bedeutsame Funktion zu kennzeichnen, welche sie in der amerikanischen Gemeinde und Theologie einnimmt, bietet sich folgender Vergleich an: wie die historischkritische Wissenschaft dem „Prediger" Hilfsmittel ist zur Auslegung und Verkündigung des Wortes, so ist die Gruppendynamik dem „pastoral director" Hilfsmittel zur Leitung der Gemeinde. Sie nimmt demnach in der gegenwärtigen amerikanischen Gemeinde ungefähr den Platz ein, den die historische Wissenschaft innerhalb einer Gemeindestruktur hat, die durch das Verständnis des Pfarramtes als Predigtamt bestimmt ist.

26

Kapitel I

DIE

GRUPPENDYNAMIK

ALS I N T E R D I S Z I P L I N Ä R E

THEORIE

a) Der Ansatz der Gruppendynamik auf dem Hintergrund der älteren Soziologie und Sozialpsychologie Cartwright definiert das Ziel der wissenschaftlichen Gruppendynamik als „ . . . Kenntnis der Beschaffenheit von Gruppen, der Gesetze ihrer Entwicklung und ihrer Wechselbeziehungen mit Individuen, anderen Gruppen und größeren Institutionen... Akzent auf theoretisch relevanter empirischer Forschung, Interesse an Dynamik und Interdependenz von Phänomenen, breite Relevanz für alle Sozialwissenschaften und mögliche Anwendbarkeit... 1 "*

Die darin implizierte Fragestellung läßt sich am besten verdeutlichen, wenn man sie mit früheren Ansätzen und Problemstellungen in Psychologie und Sozialwissenschaften vergleicht und ihren Ausgangspunkt in der Frontstellung gegen diese Ansätze sieht. i . Der charakteristische Ansatzpunkt der älteren Sozialpsychologie wird schon im ersten Entwurf einer Sozialpsychologie bei Auguste Comte erkennbar. Comte meinte, daß der moderne Mensch eine neue Wissenschaft entwickeln müsse, um eine höhere Moral zu erreichen. Die wissenschaftliche Basis zu dieser Moral sind für ihn die Biologie, die Soziologie und die Kulturanthropologie; denn die humane Moral setzt eine Abstimmung der biologischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse des Menschen voraus2. Allport weist darauf hin, daß alle neuen Konzeptionen in den Sozialwissenschaften wie Social Relations, Human Development, Behavioral Sciences u. a. auf einer Integration biologischer, soziologischer und psychologischer Aspekte beruhen und sich aus dem entfaltet haben, was Comte mit dem Begriff „la morale" meinte3. Comte sah in der positiven Moral die wahrhaft letzte Wissenschaft, in der sich alle anderen Wissenschaften vollenden. Diese Wissenschaft wird nötig, weil der Mensch weder nur ein biologisches Wesen ist noch nur ein Produkt der Gesellschaft. Er ist auch gleichzeitig Grund der Gesellschaft, indem er infolge seiner besonderen individuellen Natur bestimmte Einflüsse der Gesellschaft auswählen und andere ablehnen kann. Die Besonderheit seiner Natur kann von der Biologie und Soziologie her nicht erfaßt werden, weil er seinem Wesen nach mehr ist, als was unter sozio27

logischen und biologischen Aspekten sichtbar wird. Dieses „Mehr" soll der Gegenstand der „morale positive" sein (vgl. Allport, a.a.O., S. 7f.). Die Fragestellung dieser neuen Wissenschaft lautet daher für Comte: wie kann der Mensch gleichzeitig Grund und Produkt der Gesellschaft sein? Dieses Problem ist, wie Allport zeigt, für die Entwicklung der Sozialpsychologie richtungweisend geworden und hat in immer stärkerem Maße zu einem Auseinanderfallen von Gesellschaft und isoliertem Individuum geführt. Die ursprüngliche Fragestellung der Sozialpsychologie zielte damit letztlich auf den Schutz der Freiheit des Individuums vor dem Überdruck der Gesellschaft (Allport, a.a.O., S. 3). Die Gruppendynamik als Vertreterin einer neueren Sozialpsychologie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie die Alternative von Individuum und Gesellschaft überwunden hat. Sie sieht das Individuum in einem Geflecht von sozialen Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen, nicht in der Isolation, und umgekehrt versteht sie die Gesellschaft als ein Gefüge sozialer Wechselwirkungen von Individuen und Gruppen, nicht als anonyme Masse oder als Gefüge von Institutionen. Hofstätter ist der Meinung, daß die Fragestellung der Gruppendynamik damit auf die Lücke hinzielt, die sich zwischen der unüberschaubaren, anonymen Gesellschaft und dem vereinsamten Individuum auftat4. Das heißt jedoch nicht, daß man die Fragestellung der Gruppendynamik innerhalb der Alternative von „Gesellschaft und Gemeinschaft" begreifen könnte, in deren Bezugsrahmen vielfach das Problem der Gruppe erörtert wurde. Dieser Dichotomie liegt die Unterscheidung zugrunde zwischen Gebilden bloß formaler Organisation und solchen, die durch „natürliche Einheit der Gruppe" konstituiert werden 5 . Dementsprechend wurde die „Gruppe" im Sinne einer Substanz oder einer Kollektivperson verstanden; eine der Hauptfragen war, ob sie eine „Gruppenseele" oder einen „Gruppengeist" habe, ob sie eine substantielle Ganzheit über dem Individuum oder außerhalb von ihm sei usw. 6 Lewin sagt über die älteren Ansätze der Erforschung von Gruppen: „Die Definition des Begriffs .Gruppe' hat eine etwas chaotische Geschichte. Der Ausdruck ist mit philosophischen und metaphysischen Überlegungen verflochten" (Feld, S. 182).

Das aber bedeutet, daß für die Gruppendynamik gegenüber einer Reihe älterer sozialwissenschaftlicher Fragestellungen mit ihren letztlich sozialund geschichtsphilosophischen Dichotomien 7 der Durchbruch zur geschichtlich-sozialen Empirie kennzeichnend ist. Das Individuum gibt es in der Empirie nicht isoliert, sondern nur in der Wechselwirkung mit anderen. Ebensowenig gibt es empirisch eine Kollektivperson oder über28

persönliche mystische Substanz, an der die Individuen teilhaben. Leopold von Wiese ist der Meinung, daß eine Vermischung von Sozialwissenschaft und Metaphysik nur vermieden werden kann, wenn die Soziologie die Gesellschaft als Geschehen von Wechselbeziehungen zwischen Menschen versteht und sich auf die Darlegung der „tatsächlichen Vorgänge und Ergebnisse der Verbindung und Trennung unter den Menschen" beschränkt8. Die Fragestellung der Gruppendynamik zielt auf die empirisch feststellbaren Beziehungen von Menschen und Gruppen. Hier liegt auch die Bedeutung dessen, daß die Gruppendynamik die experimentelle Psychologie in die Sozialwissenschaften einbringt und innerhalb ihrer spezifischen Fragestellung eine Aufhebung der Trennung von Soziologie und Psychologie herbeiführt9. So leistet die Gruppendynamik einen Beitrag zur Wende von der Sozialphilosophie zur empirischen Sozialwissenschaft mit Hilfe der experimentellen Psychologie. 2. Die Gruppendynamik gehört in den Bereich der Verhaltensforschung. Hier steht sie - in Ubereinstimmung mit der Gestaltpsychologie - in Ablehnung der sogenannten behavioristischen Psychologie. Diese sieht das Verhalten des Individuums zu seiner Umgebung nach dem ReizReaktions-Schema als isolierte Reaktion auf einen isolierten Reiz. Ihr zugrunde liegt eine atomistisch-mechanistische Auffassung von menschlicher Wirklichkeit. Demgegenüber betont die Gestaltpsychologie, daß der Mensch auf eine gegebene Konstellation äußerer Einflüsse jeweils mit ganzheitlichen Prozessen reagiert 10 . Diese Ganzheit oder „Gestalt" ist nicht identisch mit der Summe der einzelnen Teile, sie ist aber auch nicht „mehr" als die Summe der Teile, sondern: „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile" (Lewin, Feld, S. 183). Dieses läßt sich in gleicher Weise an Beispielen aus der Musik, der Physik und den Sozialwissenschaften verdeutlichen. Eine Melodie kann nicht als Summe einzelner Töne verstanden werden 1 1 . Eine symmetrische Brücke kann aus asymmetrischen Molekülen gebaut sein. Ihre Stabilität ist nicht identisch mit der Stabilität ihrer Moleküle. Eine Gruppe, die sich aus sehr starken Persönlichkeiten zusammensetzt, ist nicht unbedingt stärker, sondern zumeist schwächer als eine Gruppe, die sich vielschichtiger zusammensetzt. „Das sind einfache, nicht bestreitbare Tatsachen" (Lewin, a.a.O., S. 197). Das Ganze hat andere Eigenschaften als die Teile, besitzt aber ihnen gegenüber keinen höheren Grad an Wirklichkeit. Es wird als „dynamisches Ganzes" oder „dynamische Qualität" bezeichnet, 29

insofern es konstituiert w i r d durch die Wechselwirkung seiner Teile. Das besagt, daß die Änderung eines Teiles gleichzeitig die Änderung des Ganzen bedeutet. D e r B e g r i f f „dynamisch" bezieht sich bei Lewin - w i e auch bei anderen Gestaltpsychologen - in Entsprechung zu seinem G e brauch in der Physik auf Veränderungen als Ergebnis der Wechselwirkung v o n Kräften 1 2 . Ein besonderes Kennzeichen der gruppendynamischen Theorie kann darin gesehen werden, daß Lewin die psychologische Gestalttheorie auf das Studium v o n Gruppen übertrug 1 3 . Dementsprechend ist es eine w i c h tige Annahme der Gruppendynamik, daß Individuum und soziales Feld einen ganzheitlichen Zusammenhang bilden: „Das Individuum und seine Umgebung bilden eine totale Interaktionseinheit - keines kann ohne das andere betrachtet werden" (Baxter and Cassidy, S. XII).* U m die Bedeutung dieses Ansatzes zu verstehen, m u ß man nach der in i h m z u m Ausdruck kommenden Wissenschaftstheorie fragen. 3. Die Gruppendynamik entfaltet sich - jedenfalls i m Sinne Lewins - im Rahmen eines „galileischen" Wissenschafts Verständnisses i m Gegensatz z u m „aristotelischen". M i t diesem Problem werden w i r uns noch in einem späteren Zusammenhang beschäftigen. Es handelt sich hier nur darum, anzudeuten, was das galileische Wissenschaftsverständnis für die Analyse des Gruppenprozesses impliziert und w i e die Kategorien und Methoden v o n daher geprägt sind. Der

Unterschied

beider

Wissenschaftsverständnisse

aktualisiert

sich

gerade in dem verschiedenen Verständnis v o n ' „ D y n a m i k " . In der teleologischen Sicht der aristotelischen Physik leitet sich die D y n a m i k des Geschehens v o m „ W e s e n " des Gegenstandes selbst ab, der seiner V o l l endung zustrebt, sofern er nicht durch andere Gegenstände gestört wird 1 4 . Dieses Wesen des Gegenstandes ist identisch mit seiner Z u g e hörigkeit zu einer „Klasse" als dem Inbegriff dessen, was eine Gruppe v o n Gegenständen an gemeinsamen Merkmalen besitzt 15 . Insofern die auf dem W e g e der Abstraktion gewonnenen gemeinsamen Merkmale das „Wesentliche" sind und dieses dem jeweiligen Gegenstand selbst als Tendenz zur B e w e g u n g innewohnt, bezeichnet die Klasse gleichzeitig Ursache und Ziel des Geschehens: schwere Körper streben nach unten, und zwar u m so stärker, je schwerer sie sind, da ihnen an sich die Tendenz nach unten innewohnt; leichte Körper streben nach oben, da dem Leichten an sich die Tendenz nach oben innewohnt (vgl. Lewin, a.a.O., S. 453). D i e D y n a m i k des Geschehens ist demnach durch den Begriff der Klasse eines Gegenstandes v o l l k o m m e n definiert. Anders gesagt: die das V e r 30

halten bestimmenden Kräfte werden unabhängig v o n der U m g e b u n g als d e m jeweiligen Gegenstand selbst i m m e r u n d überall zugehörig gedacht 1 6 . D i e W e n d e , die Galilei herbeiführte, liegt in einer neuen Auffassung der D y n a m i k : E r verstand die physikalischen Vorgänge nicht m e h r aus der „Eigendynamik" der Gegenstände heraus, w i e sie in den klassifizierenden Wesensbegriffen der aristotelischen Logik definiert wurden, sondern in ihrem Bezug z u m gesamten konkreten Feld, in welchem die B e w e g u n g der Gegenstände erfolgte. Die D y n a m i k des Geschehens w u r d e nicht m e h r auf einen isolierten Gegenstand zurückgeführt, sondern auf die Beziehung des Gegenstandes zu seiner U m g e b u n g , wie sie in den eigentümlichen Kräftezusammenhängen einer konkreten Situation jeweils charakterisiert w a r (Lewin, a.a.Oi, S. 4J4f.). Dieses w i r d z. B. in den Untersuchungen z u m Fallgesetz deutlich. N i c h t der schwere Körper an sich w u r d e untersucht, sondern der Vorgang des „freien Falles" oder der „ B e w e g u n g auf der schiefen Ebene", w o b e i die B e w e g u n g des Körpers in Abhängigkeit v o n ganz spezifischen Situationsfaktoren, wie d e m Fehlen des Luftwiderstandes oder d e m Vorhandensein eines bestimmten Neigungswinkels der Ebene, gesehen w u r d e . D e r konkrete Gegenstand in seiner B e w e g u n g w u r d e i m W i r k z u s a m m e n h a n g einer Vielheit v o n Faktoren untersucht, die jeweils in ihren wechselseitigen Bezügen und in ihrem Bezug z u m Gesamtfeld zu analysieren waren. Die Fragestellung richtete sich daher nicht m e h r auf „Ähnlichkeit" oder „Unähnlichkeit" v o n Erscheinungsbildern u n d die dadurch zu charakterisierenden Klassen v o n Gegenständen, sondern auf die wechselseitigen Zusammenhänge in der Wirklichkeit. Für die spezielle Fragestellung der G r u p p e n - „ D y n a m i k " bedeutet der Bezug z u m galileischen Wissenschaftsverständnis, daß sie eine Vielheit v o n W i r k f a k t o r e n i m geschichtlich-sozialen Prozeß voraussetzt u n d diese jeweils in ihren wechselseitigen Bezügen u n d in ihrem Bezug z u m Gesamtfeld analysiert. V o n daher ist es zu verstehen, daß Lewin die G r u p p e durch die dynamische Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit) der Gruppenangehörigen definiert sieht: „Das Wesentliche einer Gruppe ist nicht die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit ihrer Mitglieder, sondern deren wechselseitige Abhängigkeit. Eine Gruppe läßt sich als .dynamische Ganzheit' charakterisieren; das bedeutet, daß eine Veränderung im Zustand eines Teils den Zustand jedes anderen Teils verändert. Der Grad der gegenseitigen Abhängigkeit unter den Mitgliederteilen einer Gruppe variiert durchaus von einer losen .Masse' bis zu einer kompakten Einheit17." 31

Diese Definition der Gruppe ist keine normative Festsetzung dessen, was Gruppen sein sollen. Sie ist ein „Instrument", das Einsichten in bestimmte Vorgänge im sozialen Prozeß und ihre begriffliche Darstellung ermöglichen soll. Gegenüber den sozialphilosophischen Theorien betont Lewin, daß eine solche Definition der Auffassung von der Gruppe jede Mystik nimmt und das Problem auf eine empirisch prüfbare Grundlage stellt. Zwar sei in den älteren Anschauungen von der Einheit der Gruppe eine Wahrheit enthalten - nämlich die, daß eine Gruppe nicht mit der Summe ihrer Mitglieder identisch ist - nur müsse man die Einheit nicht als überpersönliche Substanz, sondern als dynamische Ganzheit im Sinne wechselseitiger Abhängigkeit verstehen (Lösung, S. 1 1 4 t . ; Feld, S. i82ff.). Die Definition als „dynamische Ganzheit" impliziert, daß die Eigenschaften einer sozialen Gruppe, etwa ihre Organisation, ihre Festigkeit und ihre Ziele, von der Organisation, der Festigkeit und den Zielen der einzelnen Mitglieder verschieden sind (Lösung, S. 115). Gegenüber dem positivistischen Behaviorismus akzentuiert die Definition die Komplexität und Wechselseitigkeit der Wirkfaktoren, die den Gruppenprozeß ausmachen (s. u. S. 205ff). Gegenüber einer „aristotelischen" Betrachtungsweise sozialer Wirklichkeit hebt Lewin hervor, daß nicht die gemeinsamen Merkmale oder Eigenschaften die entscheidenden Faktoren sind. Mit den Kategorien der „Ähnlichkeit" oder „Unähnlichkeit" (beispielsweise des Geschlechtes, der Rasse, der ökonomischen Situation, des Zieles usw.) könne man zwar „Typen" oder „Klassen" definieren, nicht aber soziale Gruppen (Feld, S. 183). Er verdeutlicht dieses vor allem am Beispiel der Familie: Mann, Frau und Säugling innerhalb einer Familie zeigen weit größere Unähnlichkeit als jeder Angehörige dieser Gruppe mit den entsprechenden anderen Individuen (Säuglingen, Männern, Frauen) außerhalb der Gruppe. Aber die Familie läßt sich als soziale Gruppe im Sinne wechselseitiger Abhängigkeit begreifen (Feld, S. 184; Lösung, S. 256). Hartley and Hartley weisen darauf hin, daß es sich in der Fragestellung der Gruppendynamik um „Gruppen im psychologischen Sinne" im Gegensatz zu soziologischen Gruppierungen handle, die nach kulturellen, ethnischen, ökonomischen u. a. Gesichtspunkten eingeteilt sind. Sie bezeichnen letztere als „soziale Kategorien" (Grundlagen, S. 265). Diese Differenzierung von sozialer Gruppe und sozialer Kategorie oder Klasse schließt natürlich nicht aus, daß sich innerhalb der auf Ähnlichkeit begründeten Klassen soziale Gruppen bilden, die sich auf Interdependenz gründen, beispielsweise innerhalb der ökonomischen Klassen internationale Verbände, Arbeitsteams usw. Entscheidend ist, daß die bloße

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Feststellung von Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten keine Erklärung geben kann für die tatsächlich bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse im Gruppenprozeß. Sie können diese vielmehr gerade verdecken 18 . Wie von der sozialen Klasse unterscheidet sich die soziale Gruppe auch von bloßen Ansammlungen von Menschen („aggregates"), die keinen Kontakt zueinander haben 19 . Die wechselseitige Abhängigkeit der Gruppenglieder wird in der Gruppendynamik im allgemeinen mit dem Begriff „interaction" beschrieben, der am besten mit „Wechselwirkung" zu übersetzen ist. Viele Forscher verwenden diesen Begriff zur Definition der sozialen Gruppe: „ W e n n wir das W o r t Gruppe verwenden, meinen wir damit zwei oder mehr Personen, die in Wechselwirkung miteinander stehen" („interacting with each other", Hartley, S. 372). „Eine Gruppe ist . . . definiert durch die Interaktion ihrer Teilnehmer" (Homans, Theorie, S . 102).

Homans weist darauf hin, daß der Begriff „Interaktion" zur Definition der Gruppe besser geeignet sei als der Begriff „Kommunikation", da letzterer sich primär auf die verbale Ebene bezieht, während der Begriff „Interaktion" sowohl die verbale als auch die nicht-verbale Ebene der wechselseitigen Beeinflussung umfaßt (a.a.O., S. 61). Insofern bei diesen Definitionen die Gegenseitigkeitsrelation entscheidend ist, gehört für viele Forscher das „face-to-face"-Verhältnis zu den wesentlichen Kennzeichen der Gruppe: jedes Glied der Gruppe soll mit jedem anderen in Wechselwirkung stehen können. Zumindest wird die sog. Kleingruppe durch dieses „face-to-face"-Verhältnis bestimmt. Die begrenzte Zahl der Gruppenglieder ist für sie konstitutiv, da nur unter dieser Bedingung allseitige Wechselwirkung zwischen ihren Gliedern möglich ist20. Häufig wird die Wechselwirkung kooperativ im Sinne der Erreichung eines gemeinsamen Zieles verstanden: „ D e r Begriff Gruppe wird nur angewandt, wenn Wechselwirkung zwischen ihren Gliedern vorhanden ist in der Verfolgung eines gemeinsamen Zieles21."*

Andere Forscher, wie z. B. Lewin selbst, sehen in der Gemeinsamkeit des Zieles nur eine Spielart sozialer Wechselwirkung. Die „Art der wechselseitigen Abhängigkeit" (das ist „das, was die Gruppe- zusammenhält") kann ganz verschiedener Natur sein, ebenso wie der Zusammenhalt der Gruppe (Kohäsion) einen ganz verschiedenen Grad haben kann 22 . Die Art der wechselseitigen Abhängigkeit kann zusammenhängen mit Liebe, wirtschaftlichen Verhältnissen, Schicksalsgemeinschaft, Erfüllung ge33

meinsamer Aufgaben oder irgendwelchen anderen Faktoren. Sicher können diese Faktoren in bestimmten Situationen besonders hervortreten, aber sie sind deshalb noch keine allgemeine Kategorie zur Beschreibung von Gruppen. Gemeinsamkeit des Zieles ist somit nur ein Sonderfall wechselseitiger Abhängigkeit - sonst würde man die Gruppe durch „Ähnlichkeit" kennzeichnen (vgl. Lewin, Feld, S. 184). Der Begriff,,Interaktion" wird in der Forschung verschieden gefüllt. Für die einen, beispielsweise Moreno, Hartley, Bales, bezeichnet er das umfassende Phänomen der wechselseitigen Beziehungen und Einflußnahmen, die den Gruppenprozeß ausmachen23. Andere brauchen den Begriff im engeren Sinne zur Kennzeichnung der wechselseitigen Abhängigkeit in den Handlungsvollzügen, so etwa Homans und Mills 24 . Wir schließen uns dem weiteren Gebrauch von „Interaktion" an als der Bezeichnung des umfassenden Netzwerkes wechselseitiger Beziehungen und Einflußnahmen, die den Gruppenprozeß konstituieren. Es handelt sich hier jedoch lediglich um eine Frage der Terminologie. Auch Homans und Mills sind nicht der Meinung, daß das gesamte Gruppenleben nur aus Handlungsvollzügen besteht25. Wohl lassen sich nach Homans wechselseitige Einflußnahmen in den Handlungsvollzügen besonders gut beobachten und sind daher zur Definition der Gruppe am besten geeignet. Alle Forscher stimmen darin überein, daß der Gruppenprozeß ein höchst komplexes Phänomen ist: er vollzieht sich als wechselseitige Beeinflussung von Gefühlen, Gesinnungen, Einstellungen, Motivationen, Wahrnehmungen, Denkprozessen, Wertsystemen, Handlungsstrukturen usw. Einerseits wird durch dieses Geflecht von Wechselwirkungen das Verhalten des Individuums beeinflußt, andererseits wird das Verhalten der Gruppe als ganzer dadurch geprägt. Einerseits ist die Gruppe durch die jeweilige Art und Konstellation der Wechselwirkungen ihrer Glieder strukturiert und von ihrer Umwelt abgehoben. Andererseits steht sie selbst in Wechselwirkung mit der Umwelt, und keine der in ihr wirksamen Faktoren kann ohne den Einfluß der Umwelt verstanden werden. Angesichts der Komplexität dieses Phänomens erhebt sich die Frage, wie die verschiedenen Aspekte des Prozesses begrifflich-methodisch zu differenzieren sind. Die Forschung ist hier noch ganz im Fluß und entfaltet sich in verschiedenen Theorien. Homans unterscheidet drei „Elemente" des Gruppenverhaltens: Aktivität, Interaktion (wechselseitige Anregung und Beeinflussung von Aktivitäten) und Gefühl. Diese Elemente des sozialen Verhaltens konstituieren in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit die Gruppe als „soziales System" 26 . Insofern dieses System sowohl die Beziehungen zur Umwelt als auch die 34

Beziehungen der Gruppenglieder untereinander umfaßt, läßt es sich in ein „äußeres" und ein „inneres" System differenzieren. Das „äußere System" ist das Gruppenverhalten in seiner Wechselwirkung mit der Umwelt, soweit es die Bedingung erfüllt, daß die Gruppe in ihrer U m welt überlebt 27 . Das „innere System" ist das Gruppenverhalten als Ausdruck der von den Gruppenangehörigen füreinander entwickelten G e fühle. In beiden Systemen sind die Verhaltenselemente Aktivität, Interaktion, Gefühl voneinander abhängig, jedoch haben sie nicht ganz dieselbe Form. Das Verhaltenselement Gefühl etwa bezieht sich i m äußeren System auf die Motive zur Annahme einer Arbeitsstelle, im inneren System auf die Gefühle, die in dieser Stellung selbst entwickelt werden, beispielsweise Neigung oder Abneigung gegenüber Personen. Aktivitäten i m äußeren System sind Handlungen, die durch die Arbeit gefordert werden, im inneren System dienen sie dazu, die Haltungen auszudrücken, welche Personen zueinander einnehmen (vgl. S. I24f.). Beide Systeme sind wechselseitig voneinander abhängig (S. i59f.). So kann beispielsweise die Interaktion im äußeren System freundliche Gefühle zwischen Personen erzeugen, die sich dann wieder günstig oder ungünstig auf die praktische Arbeit der Gruppe auswirken (S. 126). Die Systeme können auch ineinander übergehen bzw. miteinander verschmelzen, indem etwa bestimmte Arbeiten gleichzeitig das Uberleben in der U m w e l t ermöglichen und als Ausdruck der sozialen Gefühle vollzogen werden (S. 266). Eine andere Einteilung findet sich beispielsweise bei Mills. Er unterscheidet fünf „Bereiche oder Ebenen" des Gruppenprozesses: Verhalten (an anderen orientiertes T u n ; Interaktion), Emotionen (Verhaltensantriebe, Gefühle, Affekte), Normen (Vorstellungen darüber, wie man handeln und fühlen soll), Ziele (Vorstellungen darüber, was die Gruppe als ganze tun soll), Werte (Vorstellungen darüber, was Gruppen sein und werden sollen). Diese fünf Ebenen sind jeweils einzeln und in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu analysieren 28 . Eine wichtige und weit verbreitete Differenzierung bezieht sich unter tiefenpsychologischer Perspektive auf die Unterscheidung zwischen bewußter und unbewußter Ebene des Gruppenprozesses („Hidden Agenda") 2 9 . Hier ist es für die Analyse wichtig, daß die Ableitungen aus dem Bereich des Unbewußten nicht aus den Zusammenhängen der konkreten gegenwärtigen Situation herausgelöst werden (s. u. Kap. V d ) . Für Lewin stellt sich die Dynamik in der Gruppe als eine komplexe Konstellation von Kräften innerhalb eines umfassenderen Bereichs dar, die jeweils konkret zu bestimmen sind 30 . V o n daher kommt er notwendig zur Auffassung von Gruppendynamik als einer interdisziplinären Wissen35

schaft. Die Aufgabe der Analyse ist es, die den Prozeß bedingenden dynamischen Faktoren zu entdecken und die jeweilige Art ihrer Wechselwirkung festzustellen. Dieses wird im „Feld" zur Darstellung gebracht. Es erscheint uns bedeutsam, daß die Gruppendynamik sich auf die Wechselwirkungen von Personen und Gruppeti im umfassenden Sinne bezieht, nicht nur auf den spezielleren Aspekt von Handlungsstrukturen. Darum unterscheiden wir zwischen „personalen bzw. interpersonalen" Beziehungen einerseits und „funktionalen" Abhängigkeiten in den Handlungsabläufen andererseits. Diese Differenzierung ist nicht im Sinne eines philosophischen Personalismus zu verstehen, sondern trägt der empirischen Feststellung Rechnung, daß der einzelne und die Gruppe nicht aufgehen in funktionalen Handlungssystemen31. Eine andere Unterscheidung ist gemeint, wenn von personbezogenen („person-centered") oder aufgabenbezogenen („task-centered") Gruppen gesprochen wird (s. u. S. 123 f.). Hier handelt es sich um die Zielsetzung einer Gruppe, ob es in ihr primär um die Kommunikation zwischen Personen und ihr Wachstum geht oder um die Erfüllung bestimmter Aufgaben 32 . Jedoch zeigt die Gruppendynamik, daß beide Aspekte trotz unterschiedlicher Akzentuierungen in den Zielsetzungen jeder Gruppe enthalten sind und im Gruppenprozeß stets in Wechselwirkung vorgefunden werden 33 . Der Ansatz der Gruppendynamik liegt in der Gruppe als einer geschichtlich-sozialen Einheit, wie sie aus der komplexen Wechselwirkung ihrer Glieder in einer konkreten Situation entsteht. Ein funktionales System läßt sich nicht ablösen vom Wollen, Wahrnehmen, Urteilen der in Wechselwirkung miteinander stehenden Gruppenglieder. Es geht darum nicht einfach um die Analyse von allgemeinen Handlungsstrukturen, sondern um die Analyse der zwischen Personen und Gruppen stattfindenden Wechselwirkungen, wie sie auch in Handlungszusammenhängen Gestalt gewinnen. Die geschichtlich-soziale Empirie wird nicht ohne den in ihr wirkenden Menschen gedacht. Aus diesem Grunde muß die Gruppendynamik notwendig Psychologie und Soziologie verbinden. Von daher ist es verständlich, daß die Fragestellung der Gruppendynamik nicht nur als neuer Zweig der Sozialpsychologie, sondern als neue Sichtweise verstanden wird, die alle Gegenstände dieser Wissenschaft umgreift 34 . Der Ausgangspunkt bei der kleinen Gruppe bedeutet zunächst, daß die konkrete, überschaubare Gruppe von Menschen zum Ansatz wissenschaftlichen Nachdenkens wird, während früher nur das Individuum und als sein Antipode die unüberschaubare Massengesellschaft für die Forschung eine Realität waren. Aber die Gruppendynamik

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beschränkt sich nicht auf Aussagen über die kleine Gruppe. Diese ist nur das Modell, an welchem der soziale Prozeß als „Gruppe von Gruppen" im umfassenderen und allgemeineren Sinne studiert wird. Das entspricht dem ursprünglichen Verständnis der Gruppe bei Lewin (vgl. S. 31 f.), das die ganze Skala der Abstufungen sozialer Dichte impliziert und Einsichten in bestimmte Vorgänge im sozialen Prozeß ermöglichen soll. Die Ausweitung der Erforschung kleiner Gruppen zum Studium des sozialen Prozesses ist eine Konsequenz daraus, daß die Gruppe nicht innerhalb der Dichotomie von „Gemeinschaft und Gesellschaft" verstanden wird. Wie René König zeigt, nimmt die Gruppe eine vermittelnde Stellung zwischen Mikro- und Makrosoziologie ein, indem sie einerseits der Mikroanalyse offensteht, andererseits als Struktur angesehen werden kann (in: König, Soziologie, S. 103). Eine ausreichende Beantwortung der Frage, inwieweit sich die Ergebnisse der Erforschung von „Teilstrukturen" auf die gesamtgesellschaftlichen „Großstrukturen" übertragen lassen, bedarf allerdings eines noch größeren Hintergrundes einzelner Untersuchungen, als er bisher vorhegt 3 5 . Wie bereits der theoretische Ansatz der Gruppendynamik zeigt, kann sie auch solche „Großstrukturen" nicht unabhängig von miteinander in Wechselwirkung stehenden Personen und Gruppen sehen. In diesem Sinne bezeichnet Thelen die Gruppe als Ort der Begegnung zwischen Individuum und Gesellschaft: „ D i e kleine Gruppe, die an der Lösung eines Problems arbeitet, ist der Ort der Begegnung von individueller Persönlichkeit und Gesellschaft. In der Gruppe wird die Persönlichkeit verändert und sozialisiert, wie umgekehrt durch die Arbeit von Gruppen die Gesellschaft gewandelt und ihrer Zeit angepaßt wird. Diese zwei Prozesse verlaufen nicht getrennt; sie sind nur zwei Aspekte desselben Phänomens. Überdies bedingen sie sich wechselseitig: ohne mit anderen geteilte soziale Ziele gäbe es keine Basis für das Geben und Nehmen, durch welches das Individuum seine Fähigkeiten entwickelt, und ohne die Verschiedenheiten von individuellen Persönlichkeiten gäbe es keine Basis für die Schaffung neuer und besserer Lösungen für die Probleme des Lebens" (Dyn., S. V ) . *

b) Die feldtheoretische Analyse von personaler und sozialer Situation Z u r theoretischen Analyse des Gruppenprozesses bediente Lewin sich der mathematisch-physikalischen Feldtheorie, wobei er das Feld im Anschluß an Einstein versteht als „Gesamtheit gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig voneinander abhängig begriffen werden" 37

(Feld, S. 273). Sein Ansatz lag ursprünglich bei einer individualpsychologischen Feldtheorie, die er später auch auf das soziale Feld anwandte. Die Analyse des Verhaltens des Individuums setzt ein mit dem „psychologischen Lebensraum" 36 . Unter diesem psychologischen Lebensraum versteht Lewin die Gesamtheit aller Fakten, welche das Verhalten eines Individuums in einem gegebenen Augenblick bestimmen (Grundzüge, S. 34). An Stelle des Begriffes „psychologischer Lebensraum" kann er auch die Begriffe „psychologisches Feld", „psychologische Umwelt" oder „Gesamtsituation" gebrauchen. Zum psychologischen Lebensraum einer Person gehören die physikalische Umwelt (Raum, Möbel, Haus, Stadt, Land usw.), die soziale Umgebung (beispielsweise soziale Atmosphäre, Beziehungen zu anderen Personen, ihre Charaktere und Positionen, der eigene Platz in der Gesellschaft, Beruf), Sehnsüchte, Wünsche und Befürchtungen des Menschen, Gedanken, Ideale, Tagträume usw. (Grundzüge, S. 40), Vergangenheit und Zukunft, soweit sie für die gegenwärtige Situation relevant sind (a.a.O., S. 56ff.), „kurz alles, was vom Standpunkt des Psychologen für diese Person existiert" (S. 40). Angesichts dieser Fülle von Fakten erhebt sich die Frage, was das Kriterium für „psychologische Existenz" ist. Man könnte das „Bewußtsein" im weitesten Sinne als Kriterium betrachten und dementsprechend die physikalische und soziale Umwelt soweit zum psychologischen Lebensraum rechnen, wie das Individuum sich ihrer bewußt ist 37 . Jedoch ist dieses Kriterium unzureichend, weil der Mensch unter vielen Einflüssen steht, die er nicht direkt wahrnehmen, erleben und in sein Bewußtsein aufnehmen kann. Lewin sieht als das letzte entscheidende Kriterium für den psychologischen Lebensraum den „Wirkungszusammenhang" an (Grundzüge, S. 85). Er unterscheidet zwischen der Erscheinungsweise der Wirklichkeit und der sie bedingenden untergründigen Wirklichkeit, die er als dynamischen Prozeß versteht38. Die phänomenale physische und soziale Umwelt ist demnach nicht einfach mit der objektiven Welt gleichzusetzen. Auch können die psychologischen Erklärungen nicht ohne weiteres von ihr abgeleitet werden. Darum fragt Lewin nicht nur nach den phänomenalen, das ist direkt beobachtbaren Eigenschaften der Fakten und Geschehnisse, sondern vor allem nach ihren konditional-genetischen Eigenschaften oder „dynamischen Fakten". Damit meint er die Kräfte, welche die Erscheinungen bedingen. Diese lassen sich nur indirekt bestimmen. Lewin möchte die menschliche Wirklichkeit in ihren Wirkzusammenhängen verstehen. Wirklichkeit ist für ihn Wirksamkeit: „Vom Standpunkt der Dynamik aus wird man die Gesamtsituation als Inbegriff dessen darzustellen haben, was jeweils für das betreffende Indi-

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viduum wirksam ist. Für die Aufgabe der begrifflichen Ableitung des Geschehens kann man Wirksamkeit als das Kriterium für psychologische Existenz verwenden: .Wirklich ist, was w i r k t ' " (Grundzüge, S. 41).

Er fügt allerdings hinzu, daß diese Definition im Gegensatz zum Neopositivismus keine Erklärungstheorie menschlicher Wirklichkeit geben wolle, sondern nur ein Werkzeug sei, das bestimmte Einsichten und praktische Entscheidungen ermöglichen soll (Grundzüge, S. 41, A. 1). Im Rahmen dieser Voraussetzung jedoch ist der dynamische Wirklichkeitsbegriff grundlegend für seine Psychologie. Lewin weist nachdrücklich darauf hin, daß einem solchen Wirklichkeitsbegriff Objektivität und Allgemeinheit nicht abgesprochen werden dürften, da die menschliche Wirklichkeit nicht von einem physikalischen Wirkhchkeitsbegriff abgeleitet werden könne: „ D i e Verwechslung von .objektiv' mit .physikalisch' sowie von .logischer Allgemeingültigkeit' mit .Gleichheit für alle' hat in der Psychologie zu schwerwiegenden begrifflichen und methodologischen Fehlern geführt" (Grundzüge, S. 46).

Dementsprechend unterscheidet sich die psychologische Feldtheorie von der physikalischen dadurch, daß sie das Feld, durch welches ein Individuum bestimmt ist, nicht in „objektiven, physikalischen" Begriffen beschreibt, sondern in der Art und Weise, wie es für das Individuum zu einer gegebenen Zeit existiert (Feld, S. 103 f.). Lewin steht hier in Ablehnung einer „physikalistischen Psychologie", welche die psychologischen Erscheinungen auf physikalische Ursachen zurückführt (s. u. S. 208). Wenn „Wirksamkeit" das Kriterium für „psychologische Existenz" ist, sind die verschiedenen Fakten nur soweit Bestandteil eines psychologischen Lebensraumes, wie sie sich für das jeweilige Individuum zu einer gegebenen Zeit als wirksam erweisen. U m deutlich zu machen, daß er die Fakten nicht „an sich", sondern in ihrer Wirkung auf den Menschen meint, kennzeichnet Lewin sie durch ein vorgesetztes „quasi": „quasisozial", „quasi-physikalisch", „quasi-begrifflich" (Grundzüge, S. 45 ff). So kann ein Individuum sich wohl faktisch in einer konkreten Gruppe befinden und an ihrem Leben teilnehmen und doch in demselben Augenblick in seinem Verhalten mehr durch seine Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe bestimmt sein, nach deren Normen es sich bewußt oder unbewußt verhält 39 . Auch hat die Zugehörigkeit zu derselben Gruppe oft verschiedene Wirkungen auf ihre Glieder. Darum muß man nach Meinung von Lewin im Blick auf die Gliedschaft in einer Gruppe mehr die Einstellung des Gruppengliedes und die Weise, wie ihn die Gruppe 39

beeinflußt, beachten, als objektive soziologische Kriterien für die Gruppenzugehörigkeit aufstellen. Solche Fakten sind nur wirklich, soweit sie das Verhalten der Person beeinflussen („quasi-soziale" oder sozialpsychologische Fakten). So wird auch die „objektiv-physikalisch" gleiche Umwelt von den verschiedenen Menschen, den Kindern und Erwachsenen, den Frauen und Männern, den Armen und Reichen oft sehr verschieden gesehen. Dieses Bild bestimmt dann weitgehend das Verhalten des Menschen („quasi-physikalische Fakten"). Oder der Mensch wird auch in seinem Verhalten von den Problemen, Methoden und Begrifflichkeiten seines Berufes beeinflußt („quasi-begriffliche Fakten"). Im psychologischen Feld bilden die verschiedenen Arten von Quasifakten eine Ganzheit (S. 48). So werden Fakten für den Menschen erst „wirklich", wenn sie in den Wirkzusammenhang seines Lebensraumes eingehen. Die Umwelteinflüsse dringen zwar nicht alle in sein Bewußtsein, aber wie der Mensch durch seine Umgebung beeinflußt wird, hängt auch von ihm selbst, seinem Charakter, seinem jeweiligen Entwicklungsstand, seiner Intelligenz, seiner Vorstellungsweise usw. ab (vgl. Feld, S. 272f.). Zum Lebensraum gehört auch die Weise, wie das Individuum Wirklichkeit wahrnimmt und über seine Situation denkt (Erkenntnisstruktur). Die Weise der Wahrnehmung und die Erkenntnisstruktur motivieren sein Handeln und stehen ihrerseits in Zusammenhang mit den Gefühlen, Bedürfnissen, Werten, Hoffnungen des Individuums 40 . So umschließt der Lebensraum beides: die psychologische Umwelt, wie sie für die Person existiert, und die Person selbst als ein sich verhaltendes Wesen (vgl. Feld, S. 99). Daß das Verhalten des Individuums eine Funktion von Stimuli der Umwelt sei, ist gerade die Meinung des von Lewin bekämpften physikalistischen Behaviorismus. Ebensowenig kann Verhalten als eine Funktion von einzelnen Eigenschaften des Trägers verstanden werden, da es empirisch immer in weitere interdependente Zusammenhänge eingebettet ist 41 . Der Begriff „Verhalten" meint einen komplexen Sachverhalt. Mit ihm kennzeichnet Lewin psychologische Vorgänge im weitesten Sinne (vgl. Grundzüge, S. 36). Es entspricht dem galileischen Wissenschaf tsverständnis, daß „Verhalten" ein „Beziehungsbegriff" ist, der die Art eines Geschehens zum Ausdruck bringen soll. Erklärung des menschlichen Verhaltens kann daher nicht Untersuchung des Zustandes isolierter Objekte bedeuten, sondern Analyse von Prozessen, die sich zwischen Person und Umwelt abspielen und durch Veränderungen charakterisiert sind: „Die Dynamik des Geschehens ist allemal zurückzuführen auf die Beziehung des konkreten Individuums zur konkreten Umwelt" (Der Übergang, S. 465). 40

Dementsprechend bezeichnet Lewin als den „Hauptgedanken des feldtheoretischen Ansatzes", daß das Verhalten des Individuums eine Funktion des wechselseitigen Verhältnisses von Person und Umwelt ist. So ist auch der psychologische Lebensraum nicht die Summe äußerer Umwelteinflüsse, sondern bereits das jeweilige Ergebnis der Wechselwirkung von Person und Umgebung. Dieses bringt Lewins Formel zum Ausdruck: V = F (P, U) = F (L) Das heißt: Verhalten = Funktion der Person und der Umwelt = Funktion des Lebensraumes (Feld, S. 177, 272). Lewin betont, daß in dieser Gleichung die Person und ihre Umwelt als wechselseitig abhängige Variable (Veränderliche) betrachtet werden müssen. U m das Verhalten eines Menschen zu verstehen oder vorherzusagen, müßten Person und Umwelt als „eine Konstellation interdependenter Faktoren" begriffen werden. Insofern die Gesamtheit dieser Faktoren der Lebensraum, das psychologische Feld oder die Situation ist, muß man sagen, daß der Lebensraum bzw. das Feld oder die Situation beides umschließt: die Person und ihre Umwelt. Die Aufgabe, Verhalten zu erklären, würde dann identisch 1. mit dem Finden einer wissenschaftlichen Darstellung des Lebensraumes, 2. mit der Bestimmung der Funktion, die das Verhalten mit dem Lebensraum verbindet. Infolge der Wechselwirkung zwischen Person und Umgebung vollzieht sich Verhalten als ständige Veränderung. Lewin sieht die Dynamik des Lebensraumes vor allem als einen Motivationsprozeß, der durch Spannungen verursachende Bedürfnisse, durch Setzen von Zielen, durch zielgerichtete Aktionen und durch Lösung von Spannungen in seiner Richtung bestimmt wird. Die Stellung des Menschen im Lebensraum ist zwar nicht ausschließlich, aber in besonderer Weise - gekennzeichnet durch seine Orientierung auf nahe und ferne Ziele hin 42 . Eine Änderung im psychologischen Lebensraum bedeutet, daß jetzt gewisse Geschehnisse möglich (bzw. unmöglich) sind, die vorher unmöglich (bzw. möglich) waren. U m das Verhalten der Person aus dem Lebensraum begrifflich ableiten zu können, muß man diesen als „Totalität möglicher Geschehnisse" (Lösung, S. 25), bzw. „Inbegriff möglichen Verhaltens" (Grundzüge, S. 36) charakterisieren und eine Methode entwickeln, die es gestattet, eindeutig bestimmte Geschehnisse als möglich, andere als unmöglich vorauszusagen (ebd.). Das dazu nötige theoretische Werkzeug erarbeitete Lewin mit Hilfe der Topologie. Diese ist ein Zweig der Geometrie. Sie beschäftigt sich mit qualitativen Lagebeziehungen, ohne Maßbegriffe zu berücksichtigen. 4i

Ihre Grundkategorien sind das Verhältnis von Teil und Ganzem, die Grenzen der Teile und die Verbindung zwischen den Teilen; ihre Begriffe u. a. Region (Teil eines Raumes) und Pfad (Kriterium für die Verbundenheit oder NichtVerbundenheit von Teilen oder Punkten) 43 . Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß Lewin nur die topologische Begrifflichkeit übernommen habe, sie aber in ganz anderem Zusammenhang gebrauche, so daß zwischen der mathematischen und der psychologischen Topologie nur eine geringe Beziehung bestehe (vgl. Deutsch, a.a.O., S. 195). Lewin nennt als entscheidendes Kriterium für die Anwendung mathematischer Begrifflichkeit in Psychologie und Sozialwissenschaften, ob sich den mathematischen Beziehungen eindeutig psychologische Vorgänge zuordnen lassen44. Dasselbe gilt im Blick auf Vorgänge im sozialen Feld. Den Erweis der Richtigkeit sieht er in der Fruchtbarkeit der auf Grund solcher Zuordnung gemachten Voraussagen (Grundzüge, S. 7of.). Lewin hält die Topologie vor allem deshalb für angemessen, weil der Begriff des Lebensraumes als solcher eine Lagebeziehung ausdrückt: eine Person in einer Umgebung 45 . Die topologische Begrifflichkeit ermöglicht es ihm, die „Struktur" des Lebensraumes, das ist das Ortsverhältnis seiner Teile, darzustellen. Von dorther lassen sich Feststellungen über mögliche und unmögliche Ereignisse treffen, vor allem hinsichtlich des Handlungszieles der Person (vgl. Feld, S. 173, 281). So ist etwa die Topologie geeignet, alternative Wege des Handelns aufzuzeigen, wie sie für das Planen und Entscheiden wichtig sein können. Der Lebensraum gliedert sich in bestimmte Regionen (Bereiche), deren Anzahl und Differenzierung mit Zahl und Art der tatsächlich in einer psychologischen Situation vorhandenen Teile übereinstimmen. Die Regionen können beispielsweise Bereiche von Handlungen sein, innerhalb deren sich die Person gerade befindet oder die sie zu erreichen wünscht. Ausgezeichnete Regionen sind die Bedürfnisse der Person und ihr Ziel. Die Stellung des Individuums ist in topologischer Sicht gekennzeichnet durch die Regionen, die ihm zugänglich bzw. nicht zugänglich sind. So läßt sich etwa der unterschiedliche „Raum freier Bewegung" eines Erwachsenen und eines Kindes topologisch zur Darstellung bringen als Verhältnis von zugänglichen und unzugänglichen Handlungsregionen46. Zwischen den Regionen stehen mehr oder weniger feste Barrieren (Grenzen), die durch bestimmte Entschlüsse, Denkakte, Handlungen, Ereignisse u. a. überwunden werden müssen. Wenn sich eine Person unter Uberwindung einer Barriere von einer Region in eine andere bewegt, findet eine Lokomotion (Ortsveränderung) statt. Gemäß den verschiedenen Arten von Fakten und Ereignissen im Lebensraum unterscheidet

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Lewin quasi-physikalische, quasi-soziale und quasi-begriffliche Lokomotionen. Eine quasi-soziale Lokomotion wäre z. B. ein Wechsel der Gruppenzugehörigkeit in seiner Wirkung auf die Person. Die Richtung der Lokomotion ist durch den Pfad gekennzeichnet, das ist die Strecke, die das Individuum bei seinem Ortswechsel durchmessen muß47. Wenn z. B. ein Mensch durch das Versprechen einer Belohnung zur Ausführung einer unangenehmen Tätigkeit bewogen werden soll, liegt die Region der unangenehmen Aufgabe vor der Region der Belohnung und muß in Richtung auf die Belohnung durchschritten werden, falls kein „Umweg" möglich ist. Die Grenze der Topologie liegt nach Lewin darin, daß sie die Probleme der Kraft nicht darstellen kann. Eine Ortsveränderung vollzieht sich jedoch immer auf Grund einer gerichteten Kraft im Feld (Grundzüge, S. 8if. ; Feld, S. 124, 288ff.). Lewin hat daher auch die Vektormathematik aufgenommen, um die Kräfte, welche den Standort der Person verändern, nach Richtung, Größe und Angriffspunkt beschreiben zu können. Diese sind - dem galileischen Ansatz entsprechend - nur als Wechselwirkung verschiedener Faktoren zu verstehen (vgl. Grundzüge, S. 54). Sie entsprechen der Beziehung von mindestens zwei Regionen im Lebensraum. So können sie etwa abhängen von der Person (insbesondere ihren Bedürfnissen) und der Art der Zielregion. Ist die Zielregion für die Person anziehend, so besteht ein positiver Aufforderungscharakter (Valenz), ist sie abstoßend, ein negativer. Wirken zwei entgegengerichtete Kräfte auf die Person oder ist eine unüberwindliche Barriere vorhanden, entsteht ein Konflikt- oder Spannungsfeld (vgl. Lewin, Feld, S. 288ff.; Mey,

S. 52S.).

In der Belohnungssituation wirken beispielsweise zwei Kräfte gegeneinander: Die eine wirkt in Richtung der Belohnung (positive Valenz), die andere weg von der unangenehmen Aufgabe (negative Valenz), die topologisch vor der Belohnung liegt. Der Mensch kann sich dem Konflikt zu entziehen suchen, indem er einen Umweg einschlägt. Die Belohnung ist nur dann wirkungsvoll, wenn mögliche Umwege durch eine unüberwindliche Barriere, z. B. sozialen Druck, versperrt werden. Falls es jedoch gelingen würde, der unangenehmen Aufgabe selbst ein Interesse abzugewinnen, bekäme das Feld als ganzes eine positive Ausrichtung. Der Spannungszustand wäre dann ausgeglichen48. So sieht Lewin das psychologische Feld, den Lebensraum oder die Situation als ein Spannungsfeld, wie es sich in den Wechselwirkungen zwischen Person und Umwelt konstituiert. Das Individuum ist gleichzeitig ein Feld, in das Wirkungen eingehen, und ein Feld, von dem Wirkungen ausgehen (Motive, Entschlüsse usw.). 43

„Die menschliche Persönlichkeit... wird als Zentrum eines Kraftfeldes aufgefaßt, in dem die Spannungen sich nach ihren Bedürfnissen und den Mitteln zu ihrer Befriedigung, sowie den örtlichen Verhältnissen (Abstand und Richtung der Ziele, Barrieren) vor ihnen bestimmen" (Katz, a.a.O., S. 98). Die Regionen im Lebensraum selbst haben dynamische Eigenschaften als Ort von Kräften. Die Konstellation, die Art und die Größe der Kräfte sind Bedingungen des Verhaltens49. Lewin hat die individualpsychologische Feldtheorie auch auf das Studium des sozialen Prozesses übertragen. Dieser Schritt erfolgte mit innerer Notwendigkeit, insofern das individuelle Kräftefeld immer beeinflußt wird von anderen Kräftefeldern und sich mit ihnen überschneidet60. Aus der Wechselwirkung verschiedener individueller Felder erwächst ein Gesamtfeld: die soziale Gruppe, und aus der Wechselwirkung verschiedener Gruppen erwächst das noch weitere Gesamtfeld der Gesellschaft. Die Gruppe als soziales Feld ansehen, bedeutet, daß jedes Ereignis im Gruppenprozeß als das „Ergebnis einer Gesamtheit von gleichzeitig bestehenden sozialen Gegebenheiten wie Gruppen, Teilgruppen, Mitglieder, Barrieren, Kommunikationswege usw. betrachtet werden muß" (Feld, S. 235). Dazu gehört auch die Weise, wie die Gruppe ihre eigene Situation sieht (S. 233). Wie im individuellen Feld, sind auch im sozialen Feld die Lagebeziehungen der Teile und die Verteilung der Kräfte im Feld von entscheidender Wichtigkeit, um das Gruppenverhalten zu erklären. So lassen sich mit der topologischen und vektoriellen Begrifflichkeit auch die Struktur des Lebensraumes einer Gruppe und die in ihr vorhandenen Kräftekonstellationen darstellen. Die Übertragung der individualpsychologischen Feldtheorie auf die Erforschung des Gruppenprozesses bedeutet nicht, daß die Gruppe eine Art „Uber-Ich" ist. Es geht vielmehr darum, daß die in der Individualpsychologie gewonnenen Kategorien Wechselwirkungen beschreiben können, wie sie im „empirischen Raum" des sozialen Feldes tatsächlich vorhanden sind (vgl. Feld, S. i87f.). Eben weil diese Kategorien bestimmte Typen von Interdependenz meinen, können sie auch andersartige Zusammenhänge darstellen. Andererseits handelt es sich nicht um qualitativ verschiedene Prozesse - wie etwa in der Physik gegenüber der Psychologie - , sondern um die eine Wirklichkeit des Menschen, wenn auch jeweils andere Aspekte und Probleme zur Diskussion stehen. Lewin kann das soziale Feld entweder unter dem Gesichtspunkt der Person oder der Gruppe analysieren. Das eine Mal geht es darum, die Wirkungen der Personen in ihrer Bedeutung für den Gruppenprozeß, das 44

andere Mal darum, die Auswirkung des Gruppenprozesses auf die Person zu untersuchen51. Diese doppelte Perspektivität impliziert, daß das soziale Verhalten des Individuums nicht einseitig durch die Gruppe determiniert ist, sondern daß es als Ergebnis der Wechselwirkung von Individuum und Gruppe verstanden werden muß. Lewin betrachtet sowohl die Einzelperson als auch die Gruppe als Ganzheiten (Lewin, Feld, S. 33off.), die nicht ineinander integrierbar sind. Im Blick auf das Verhältnis von Individual- und Sozialpsychologie bedeutet das, daß diese nicht ineinander überführbar sein können. Die Person ist mehr als ihre soziale Dimension und nicht aus ihr abzuleiten. Der Begriff „Ganzheit" in seiner Anwendung auf die Person oder die Gruppe ist bei Lewin strukturell und dynamisch gemeint, nicht ontologisch. „Ganzheit" bedeutet nicht Substanzialität oder Wesenheit im philosophischen Sinne. Die Frage nach dem Trägersubstrat wird nicht gestellt. Wie die Individualpsychologie nicht auf einer philosophischen Wesensdefinition des Menschen gründen kann, so die Sozialpsychologie nicht auf einer metaphysischen Lehre von einer „Kollektivseele". Die „Ganzheit" der Gruppe ist das Ergebnis des Gesamtfeldes der Beziehungen der Gruppenglieder zueinander; die „Ganzheit" der Person meint die Ganzheitlichkeit ihres Verhaltens zu allen in ihrer Umwelt wirksamen Faktoren 52 . Diese doppelte Perspektivität des Verhältnisses von Person und sozialer Umwelt, die im feldtheoretischen Prinzip der Interdependenz ihren Ausdruck findet, gilt es auch dann zu beachten, wenn Lewin in scheinbar einseitiger Weise von der Bedeutung der Gruppe für das Individuum spricht. So kann er sich etwa dahingehend äußern, daß Gruppe und Wirklichkeit für das Individuum weitgehend zusammenfallen (Lösung, S. 95ff.). Der Lebensraum des Individuums wird durch die Gruppenzugehörigkeit entscheidend bestimmt: er ist immer auch ein „sozialer Raum" (Lösung, S. 113). Fakten und Werte können für das Individuum nur „Wirklichkeit" werden, indem sie in die zwischenmenschlichen Beziehungen und ihre Handlungszusammenhänge eingehen und darin vermittelt werden. Zwar ist das Individuum auf die Gruppe angewiesen (vgl. Lösung, S. 113), aber andererseits hat die Gruppe selbst keine Wirklichkeit „an und für sich", abgesehen von den zu ihr gehörigen Individuen. Sie wird gerade erst konstituiert durch die Wechselbeziehungen ihrer Glieder (vgl. Lösung, S. 128ff.). Wohl ist sie nicht identisch mit der „Summe" ihrer Glieder, aber sie ist von der Art ihrer Wechselwirkungen abhängig und kann nur im Zusammenhang mit ihnen verstanden werden, „ . . . weil die gesellschaftliche Situation, ebenso wie die psychologische Situation, ein dynamisches Ganzes ist. Das bedeutet, daß eine Veränderung 45

einer ihrer Teile eine Veränderung der anderen Teile mit sich bringt" (Lösung, S. 42).

Damit ist gleichzeitig impliziert, daß auch die Gesellschaft als ganze keine „Wirklichkeit" hat, abgesehen von der Wechselwirkung der an ihr partizipierenden Individuen und Gruppen (s. u. S. jöff.). Ihre jeweilige kulturelle Gestalt erwächst aus der Konstellation miteinander in Wechselwirkung stehender Kräftefelder. So entsteht in solcher Wechselwirkung zwischen Individuen und Gruppen und zwischen Gruppen untereinander die personale und die geschichtlich-soziale Lebenswelt des Menschen. In der Gruppe formt sich die Gestalt des Individuums und der Gesellschaft. Lewin fragt letztlich nach den geschichtlich wirksamen Kräften und findet sie in der Spannung von Person und Umwelt, individueller und sozialer Situation. Diese Zusammenhänge werden vielleicht am besten verdeutlicht durch ein Bild, das in Lewins Schriften häufig wiederkehrt: Er vergleicht das Verhältnis von Determiniertheit und Selbststeuerung des sozialen Prozesses mit dem Verhältnis von Fluß und Flußbett (vgl. z. B. Lösung, S. 78). Wie ein Flußbett den Verlauf und die Richtung eines Flusses bestimmt, so bestimmt die Gruppe das Verhalten des Individuums. Andererseits aber muß man auch sagen, daß der Fluß durch Änderung seiner Richtung sich immer wieder neu sein Flußbett sucht und damit seinen Verlauf bestimmt. In diesem Sinne könnte man unter Richtung die Intention verstehen, von der ein Individuum oder eine Gruppe in ihrem Verhalten bestimmt wird. Dieses Bild zeigt, daß man Lewins Verständnis der menschlichen Wirklichkeit weder im deterministischen noch im liberalistischen Sinne verstehen kann. Allport spricht in der Interpretation dieses Bildes davon, daß bei Lewin die Beziehung des Menschen zum sozialen Prozeß „unumgänglich, dynamisch, aber auch nicht zu fassen" sei. Darum seien alle diejenigen im Irrtum, die das Verhältnis von Individuum und Gruppe im Sinne eines einseitigen Gruppeneinflusses oder eines kulturellen Determinismus in den Griff zu bekommen versuchen (Lösung, S. 10). Der Mensch wird in seinem Verhalten durch die Beziehung zum sozialen Feld bestimmt, aber in dieser Beziehung ist er selbst enthalten als Person mit seiner Wahrnehmung und Motivation. Der geschichtlich-soziale wie auch der personale Prozeß ist in ständigem Wandel, in ständiger Veränderung der Kräftekonstellation begriffen. Darin schreitet er von Situation zu neuer Situation, von Gestalt zu neuer Gestalt fort. Zwar gibt es auch immer konstante Faktoren über längere Zeit hinweg: soziale Gewohnheiten, kulturelle Muster, Verhaltensstile, Arbeitsweisen, übliche Wege des Handelns, Vorgänge einer Selbstregulierung, die das Leben einer Gruppe auf einem bestimmten Niveau 46

halten (Feld, S. 234!.; Lösung, S. 78f.). Aber es ist damit kein Stillstand des geschichtlich-sozialen und personalen Prozesses gegeben. Das Gleichgewicht ist „quasi-stationär"; Veränderungslosigkeit ist nur ein Grenzfall, insofern sich die Kräfte eine Zeitlang die Waage halten können (vgl. M e y , S. 33 f.). Konflikt und Gleichgewicht sind als verschiedene Konstellationen sich überschneidender Kraftfelder zu beschreiben (Feld, S. 83). Konstanzen können jeweils auch als „Unterschiede in der Größe und Art der Veränderung" gesehen werden (a.a.O., S. 234). Lewin wendet sich gegen ein statisch-mechanistisches Modell menschlicher Wirklichkeit, das diese Zusammenhänge nicht zu fassen vermag. Veränderung und Konstanz, Dynamik und Statik sind nicht einander ausschließende Gegensätze, sondern Aspekte eines vielschichtigen Geschehens.

c) Beobachtung und Experiment Die Gruppendynamik überprüft ihre theoretischen Annahmen durch ständige systematische Beobachtung und experimentelle Verfahrensweisen. Sie hat dazu eine Fülle von Beobachtungstechniken entwickelt 53 . Diese dienen teilweise gleichzeitig in der Praxis als diagnostische Instrumente, die Leitern und Gliedern von Gruppen eine Analyse der faktischen Vorgänge im Gruppenprozeß ermöglichen sollen. Im Zusammenhang unserer Arbeit müssen wir uns mit einigen kurzen Hinweisen begnügen. Allgemein unterscheidet man zwischen teilnehmender und nichtteilnehmender Beobachtung. Unter der ersteren versteht man, daß der Beobachter aktiv am Leben der von ihm untersuchten Gruppe teilnimmt und sich den anderen Gruppengliedern nicht als wissenschaftlicher B e obachter zu erkennen gibt 54 . Unter nicht-teilnehmender Beobachtung versteht man, daß der Beobachter lediglich die Erscheinungen des Gruppenprozesses registriert, ohne sich selbst aktiv zu beteiligen. Hier handelt es sich um die im eigentlichen Sinne „systematische" oder „standardisierte" Beobachtung 55 . Z u ihrer Durchführung hat man verschiedene Systeme von Beobachtungskategorien entwickelt, die „vorschreiben, nach welchen Gesichtspunkten bestimmte Verhaltensabläufe gesichtet ... und registriert werden sollen" (Mangold, a.a.O., S. 55). Diese Standardisierung soll gewährleisten, daß für verschiedene soziale Situationen vergleichbare Beobachtungsdaten gewonnen werden (S. 57). V o n besonderer Wichtigkeit ist die Frage, wie sachgemäße Auswahlkriterien für die Beobachtung zu gewinnen sind. Das Problem besteht dabei darin, daß die für eine Beobachtung relevanten Aspekte von Gruppe 47

zu Gruppe variieren, aber es gibt doch mögliche Hinweise und Richtlinien. Die „Interaktionsanalyse" als ein Beobachtungsverfahren unterscheidet zwischen „content analysis" (Inhaltsanalyse) und „process analysis" (Prozeßanalyse). Erstere fragt danach, was in der Gruppe gesprochen wird56, letztere fragt danach, wie die Gruppe ihre Kommunikation vollzieht, beispielsweise wer wieviel und mit wem spricht usw. Beide Analysen müssen in ihren wechselseitigen Beziehungen interpretiert werden. Das „National Training Laboratory" nennt folgende Gesichtspunkte und Fragen für die Beobachtung von Gruppen 57 : 1. Die Struktur der Kommunikation:

Sie kann unter folgenden Fragen betrachtet werden: Wer spricht? Wie lange? Wie oft? Wen sehen die Gruppenglieder an, wenn sie sprechen (einen möglichen Gesinnungsgenossen, die ganze Gruppe, niemanden) ? Wer spricht nach wem, oder wer unterbricht wen? Welcher Stil der Kommunikation wird gebraucht (Behauptungen, Fragen, Tonfall, Gesten usw.)? Die Art der Beobachtungen, die im Blick auf diese Fragen angestellt werden, ermöglichen eine Analyse von Vorgängen im Gruppenprozeß wie: Wer führt wen? Oder: Wer beeinflußt wen? 2. Verfahren der Beschlußfassung:

In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, wie Entscheidungen getroffen werden und ob die Art und Weise des Entscheidungsprozesses dem Ziel entspricht, das sich die Gruppe setzt. Dabei ist der „KonsensusTest" von besonderer Bedeutung: ob eine Opposition vorhanden ist, wie stark sie ist, ob die Ubereinstimmung zur Ausführung der Entscheidung hinreichend ist usw. 3. Der Bezugspunkt des Verhaltens der Gruppenglieder:

Es ist zu fragen, ob die Gruppenglieder mit dem, was sie sagen, zur Erfüllung des gemeinsamen Zieles beitragen, die interpersonalen Beziehungen beeinflussen oder einem persönlichen Problem entsprechen wollen58. In dem Maße als die persönlichen Bedürfnisse der Glieder mit dem Gruppenziel integriert werden, nimmt selbstorientiertes Verhalten zugunsten eines an der Aufgabe und den interpersonalen Beziehungen orientierten Verhaltens ab. Hier können folgende Kriterien relevant sein: Initiative im Vorschlagen von Zielen, Suche nach Informationen und Meinungen, Mitteilung von Informationen und Meinungen, Klärung von Alternativen, Integration von Meinungen und Zielsetzungen, die 48

zur Diskussion gestellt werden, Konsensus-Test. Kriterien für ein gutes Gruppcnklima können sein: Harmonisierung (Versöhnung von Spannungen), Offenhalten der Kommunikationswege, gegenseitige Ermutigung, Bereitschaft zum Kompromiß, Überprüfung von Kriterien und Normen. Es ist von besonderer Wichtigkeit, zu beobachten, ob die Gruppe den funktionalen und den interpersonalen Aspekt im Gleichgewicht zu halten vermag. 4. Die „Hidden

Agenda":

In jeder Gruppe ist ein emotionaler Untergrund, auch als „hidden agenda" bezeichnet, vorhanden, welcher die Arbeit der Gruppe beeinträchtigen, wenn nicht gar zerstören kann. Es ist die Frage, ob die Ursachen dieser unterschwelligen Faktoren erkannt und ihre Energien in Richtung des Gruppenzieles gelenkt werden können. Solche Ursachen können sein: das Problem der Identität (Wer bin ich in dieser Gruppe, welche Art Verhalten ist hier akzeptabel?), das Problem der Ziele und Bedürfnisse (z. B . : Können meine Ziele mit denen der Gruppe übereinstimmen?), das Problem von Macht, Kontrolle, Einfluß, das Problem der Intimität (Wie nahe können wir einander kommen? usw.). Das bekannteste Kategoriensystem findet sich bei Bales (in: Beobachtung, S. i54f.), der 12 Kategorien auf vier Bereiche bezieht: A. Sozialemotionaler Bereich: positive Reaktionen (Solidarität, entspannte Atmosphäre, Zustimmung), B . Aufgabenbereich I: Versuche der Beantwortung (Vorschläge, Meinungsäußerung, Orientierung), C. Aufgabenbereich II: Fragen (Frage nach Orientierung, Frage nach Meinungen, Frage nach Vorschlägen), D. Sozialemotionaler Bereich: negative Reaktionen (Ablehnung, Spannung, Antagonismus). Diese Bereiche ordnet er wiederum in ein weiteres Bezugssystem ein: Probleme der Orientierung, der Bewertung, der Kontrolle, der Entscheidung, der Spannungsbewältigung, der Integration. Als besonders wichtig bezeichnet Bales die Festlegung der Beobachtungseinheit, die er beschreibt als „kleinste erkennbare Einheit des Verhaltens, die der Definition von irgendeiner der Kategorien genügt", oder als „die kleinste Einheit des Verhaltens, die ihrem Sinn nach so vollständig ist, daß sie vom Beobachter gedeutet werden kann oder im Gesprächspartner eine Reaktion hervorruft" (a.a.O., S. 158). Bales ist der Meinung, daß die Ergebnisse bisheriger Beobachtungen den Schluß zulassen, daß der Interaktionsprozeß empirisch feststellbare Merkmale besitzt, die auf eine gegenseitige Abhängigkeit bestimmter Variablen hin gemessen werden können (S. 167). 49

Theorien über wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse von Variablen werden in der Gruppendynamik durch Experimente überprüft. Unter einem Experiment versteht man eine Untersuchung, welche die entscheidenden Variablen eines Prozesses verändert und die Wirkungen dieser Veränderungen kontrolliert und mißt. Man unterscheidet zwischen „Feldexperiment" und „Laboratoriumsexperiment". Bei einem Feldexperiment werden die entscheidenden Faktoren eines Gruppenprozesses in ihrer natürlichen sozialen Situation verändert und kontrolliert (soweit möglich). Das Laboratoriumsexperiment ist dadurch gekennzeichnet, daß eine soziale Situation hergestellt wird, indem man bestimmte Faktoren isoliert und sie im Rahmen anderer kontrollierter Faktoren systematisch ändert. Insofern bei solchen Experimenten Vorgänge unter „reinen", d. h. planmäßig vereinfachten Bedingungen untersucht werden, spricht man auch von einem „reinen" Experiment oder von der Konstruktion eines reinen Falles. Seine Bedeutung besteht darin, daß auf Grund der Vereinfachung von Bedingungskomplexen das Zusammenwirken ganz bestimmter Bedingungen einsichtig gemacht werden kann69. Das bekannteste gruppendynamische Laboratoriumsexperiment untersucht die drei Führungsstile: autokratisch, demokratisch undLaisser-faiie in ihrer Auswirkung auf das Verhalten der Gruppenglieder. Die Versuche waren so angeordnet, daß der Führungsstil von Jugendgruppen als experimentelle Variable planmäßig verändert wurde 60 . Aus zwei Schulklassen wurden auf Grund freiwilliger Meldung vier Gruppen von je fünf zehn- bis elfjährigen Schülern gebildet, die im Blick auf Alter, Intelligenz, soziale Kontaktfähigkeit und persönliche Charaktereigenschaften weitgehend gleichartig waren, damit die Ergebnisse von den Unterschieden solcher Faktoren möglichst unbeeinflußt blieben. Die Leiter der Gruppen waren Erwachsene. Jede Gruppe wurde in einem Zeitraum von jeweils sechs Wochen nach mindestens zwei verschiedenen Führungsstilen geführt. Alle Gruppen erlebten auf diese Weise den autokratischen und den demokratischen Führungsstil, zwei auch den Laisser-faire-Stil. Jeder Leiter führte mindestens einmal autokratisch und einmal demokratisch, zwei von ihnen auch einmal nach dem Laisserfaire-Stil, damit auch bei ihnen persönliche Eigenschaften möglichst ausgeschaltet wurden. Die Gruppen beschäftigten sich mit Bastelarbeiten (vgl. Walz, S. 3 9 ff.). Die Unterschiede der Führungsstile wurden in folgender Weise definiert: Autokratisch: I . Jede Entscheidung über Maßnahmen geht vom Leiter aus.

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2. Die Techniken und der Ablauf der Tätigkeiten werden vom Leiter immer nur für einen Arbeitsgang diktiert, so daß spätere Schritte weitgehend ungewiß bleiben. Er behält die Kontrolle über Zweck und Mittel. 3. Der Leiter weist im allgemeinen jedem seine Arbeit zu und bestimmt die Arbeitskameraden jedes Gruppengliedes. 4. Der Leiter lobt und kritisiert die Arbeit der Gruppenglieder, ohne objektive Gründe anzugeben. Lob und Kritik beziehen sich jeweils auf die Person. Er selbst hält sich von aktiver Beteiligung in der Gruppe fem. Demokratisch:

1. Alle Maßnahmen sind Sache einer Gruppenentscheidung, die durch den Leiter im Sinne „anleitender Vorschläge" angeregt und ermutigt wird. 2. Die Zielsetzung des gesamten Arbeitsverlaufes wird in der ersten Besprechungsphase gefunden. Die Hauptschritte werden geplant. W o technische Informationen nötig sind, stellt der Leiter mehrere Alternativen zur Wahl. 3. Die Mitglieder dürfen ihre Arbeitskameraden selbst wählen. Die Verteilung der Aufgaben wird mit Hilfe von Anregungen seitens des Leiters der Gruppe selbst überlassen. 4. Der Leiter erteilt Lob und Kritik im Sinne sachlicher Bewertung. Er versucht, ein gleichberechtigtes Gruppenglied zu sein, ohne selbst zuviel in die Arbeit einzugreifen. Laisser-faire:

1. Es herrscht völlige Freiheit für Entscheidungen, ohne daß sich der Leiter in irgendeiner Weise beteiligt. 2. Der Leiter nimmt keinen Anteil an der Arbeitsbesprechung; er stellt nur Arbeitsmaterial zur Verfügung und erklärt, daß er auf Anfrage zur Auskunft bereit ist. 3. Der Leiter beteiligt sich überhaupt nicht an der Verteilung der Aufgaben. 4. Der Leiter äußert sich kaum über das Tun der Gruppenglieder, wenn er nicht gefragt wird (vgl. zu den drei Führungsstilen Walz, S. 42; Lewin, Lösung, S. i i 7 f . ; White, a.a.O., S. 458fF.). Das Ziel der Untersuchung war in erster Linie Feststellung der Wirkung der verschiedenen Führungsstile bzw. der von ihnen erzeugten „Atmosphäre" auf das Gruppenleben und das Verhalten der einzelnen in den 5i

verschiedenen Gruppen. Es wurde ein genaues quantitatives System der Beobachtung entwickelt, wobei die Beobachter die Anzahl der Vorfälle und Handlungen nach Zeiteinheiten notieren mußten. Im Blick auf den Leiter wurden u. a. folgende Bewertungskategorien aufgestellt: Anzahl der Befehle, Anordnungen, welche die Arbeit des Kindes unterbrechen, Wissen vermittelnde Bemerkungen, konstruktive Kritik, die zur Selbsttätigkeit anregt usw. (Walz, S. 45). Die Bewertungskategorien für die Gruppe waren vor allem an der „Moral der Gruppe" orientiert, die durch folgende Merkmale charakterisiert war: 1. Spontaneität des Zusammenhaltes der Gruppenglieder, 2. sachliche Zusammenarbeit, 3. Gebrauch des Pronomens „ w i r " statt „ich", 4. Uberwiegen der freundlichen Kontakte gegenüber den feindlichen, 5. Maß des Gängeln- und Dirigierenmüssens seitens des Leiters, 6. Notwendigkeit der Anwesenheit des Leiters (vgl. Walz, S. 47). Die Ergebnisse im Blick auf den Führungsstil waren u. a., daß beim autokratischen Stil Befehle, Anordnungen und nichtkonstruktive Kritik über 60 Prozent des gesamten Verhaltens ausmachten gegenüber etwa 5 Prozent des Verhaltens beim demokratischen und Laisser-faire-Stil. In den demokratisch geführten Gruppen wurde 234 Minuten lang diskutiert gegenüber nur drei Minuten bei den autokratisch geführten. Beim demokratischen Stil machten konstruktive Vorschläge 24 Prozent des gesamten Führerverhaltens aus, beim Laisser-faire-Stil 14 Prozent, beim autokratischen nur 6 Prozent. Das Ergebnis im Blick auf das Verhalten der Gruppen war, daß sie jeweils in dem Zeitraum, in dem sie demokratisch geführt wurden, die höchste Moral hatten (Walz, S. 47). Beim autokratischen Führungsstil reagierten die Kinder entweder aggressiv oder apathisch und unterwürfig. Ein auffallendes Ansteigen der Aggression war beim Ubergang vom autokratischen zumLaisser-faire-Stilzu beobachten („Wehe, wenn sie losgelassen!", Walz, S. 49). Dasselbe zeigte sich bei plötzlicher Abwesenheit des Leiters. Bei autokratischem Stil stellte man ungefähr dreißigmal soviel feindselige Herrschsucht fest als beim demokratischen Stil, mehr Ermahnungen zur Aufmerksamkeit, sehr viel mehr feindselige Kritik, während in der demokratischen Gruppe sachliche Zusammenarbeit, gegenseitiges Lob, nachgiebiges Verhalten und freundliche Bemerkungen viel häufiger vorkamen. Dies äußerte sich besonders im Verhältnis von „Wir-Gefühl" und „Ich-Gefühl": In der demokratischen Gruppe kamen wir-bezogene Feststellungen doppelt so oft vor wie in der autokratisch geführten, während in letzterer weit mehr Feststellungen ich-bezogen waren (Lewin, Lösung, S. 121). Die Laisser-faire-Gruppen und die autokratisch-apathischen hatten

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dreimal so viele Äußerungen von Unzufriedenheit wie die demokratischen, die autokratisch-aggressiven Gruppen zehnmal so viele. Im BÜck auf die Produktivität der Gruppe ergab sich, daß die autokratisch-apathische Gruppe das quantitativ höchste Arbeitsprodukt aufwies, daß aber die Arbeiten der demokratischen Gruppe mehr Phantasie und individuelle Sorgfalt zeigten und zu einem Besitzerstolz der Gruppe führten, während die autokratischen Gruppen teilweise ihre Produkte zerstörten. Bei ihnen herrschten die stärkste egozentrische Wettbewerbsatmosphäre, Rivalitätskonflikte und Abhängigkeit vom Leiter, während in den demokratischen Gruppen gegenseitige Hilfe und selbständiges Verhalten überwogen (Walz, S. 55). In der Laisser-faire-Gruppe wurde eine äußerst geringe Arbeitsintensität beobachtet. Lewin und seine Mitarbeiter nennen für diese Ergebnisse u. a. folgende Gründe: 1. In der autokratischen Gruppe wurde das Bedürfnis nach Selbständigkeit und wechselseitigen Gruppenbeziehungen enttäuscht und unterdrückt. Übereinstimmung in den Zielen zwischen Gruppe und Leiter waren zu gering (Walz, S. 51 f.). Oder - in feldtheoretischer BegrifFlichkeit: der Leiter errichtet gegenüber der beabsichtigten Lokomotion der Gruppe auf ein eigenes Ziel hin Barrieren und übt einen Druck in Richtung eines fremden Zieles aus (vgl. Lösung, S. 120). Für die Gruppe steht nur eine Region des Handelns offen: die vom Leiter bestimmte. Dieses erzeugte ein hohes Maß an feindlicher Spannung, was dazu führte, daß jedes Kind zum potentiellen Feind des anderen wurde. Die Kraftfelder der Kinder schwächten sich gegenseitig, statt sich durch Kooperation gegenseitig zu stärken (Lösung, S. 123). 2. In der Laisser-faire-Gruppe führt die durchgehende Plan- und Ziellosigkeit entweder zur Enttäuschung oder zu grobem Unfug (Frustration und Aggression). Dem Bedürfnis nach Gruppenorientierung und einer gemeinsam geplanten Aufgabe wird nicht entsprochen (Walz, S. 52t). 3. Die hohe Gruppenmoral in der demokratischen Gruppe war darin begründet, daß das spontane Zusammenwirken an einem durch die Entscheidung der Gruppe selbst bestimmten Ziel im Mittelpunkt des Gruppenprozesses stand. Die einzelnen Kraftfelder wurden zu einem Ganzen integriert, in dem jeder beteiligt war. Wichtig war auch die Frage der Zeitperspektive: Der demokratischen Gruppe stand ein langfristiges Ziel vor Augen, so daß die einzelnen Glieder bei der Sache bleiben und ihren Fortschritt selbst beobachten konnten (Walz, S. 53 f.). Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchungen ist der empirische Nachweis, daß der Führungsstil und das Verhalten einer Gruppe in wechsel53

seitiger Abhängigkeit stehen61. Dasselbe gilt hinsichtlich der Beziehung zwischen Gruppenatmosphäre und Verhalten: Beispielsweise ist durch diese Experimente bewiesen worden, daß die Realität einer sozialen Atmosphäre sich vor allem dann zeigt, wenn sie sich ändert. Lewin hebt darüber hinaus die Tatsache hervor, daß die verschiedenen Gruppen auf die jeweiligen Führungsstile in gleicher Weise reagierten. Er sieht darin einen Beweis dafür, daß der Unterschied des Verhaltens in autokratischen, demokratischen und Laisser-faire-Situationen nicht einfach das Ergebnis individueller Unterschiede sei, sondern daß die soziale Atmosphäre von nicht zu überschätzender Bedeutung für die Entwicklung eines Kindes sei und daß sein Verhalten entscheidend von der sozialen Gruppe, der es angehört, beeinflußt wird (Lösung, S. 123 fF.).

d) Der pädagogische Ansatz in der von personaler und sozialer

Wechselwirkung Situation

Correll weist in seinem Buch „Pädagogische Verhaltenspsychologie" darauf hin, daß jede Verhaltensforschung notwendig zu pädagogischen Konsequenzen führe. Denn die Erziehung besteht aus einem Prozeß fortschreitender Verhaltensänderung, deren empirische Bedingungen die Verhaltenspsychologie erforscht (S. 31). Dieses ist in besonderer Weise bei der Gruppendynamik der Fall, die auf der Grundlage experimenteller Forschung und theoretischer Annahmen ein umfassendes pädagogisches Programm entwickelt hat. Lewin selbst betont, daß man das Problem der Erziehung innerhalb des Gesamtfeldes einer gesellschaftlichen Konstellation zu sehen habe: „Man hat die Erziehungssituation mit all ihren gesellschaftlichen und kulturellen Seiten als ein einziges konkretes dynamisches Ganzes zu betrachten. Man wird die dynamischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen und Eigenschaften der Situation zu begreifen haben, in der und als Teil von der das Kind lebt" (Lösung, S. 41 f.).

Es ist zunächst wichtig, hervorzuheben, daß Lewin eine Pädagogik auf empirischer Grundlage erstrebt, d. h. er will die Konsequenzen aufzeigen, die sich aus den empirischen Einsichten in das Verhalten von Menschen und Gruppen für die Erziehung ergeben. Er entwickelt deshalb keine pädagogische Theorie auf philosophisch-normativer Grundlage, sondern er will deutlich machen, was die Einsicht in den wechselseitigen Zusammenhang von Person, sozialem Feld und kulturellen Werten für Ziel und Maßnahmen der Erziehung bedeuten kann. Dieser Ansatz bei 54

der Empirie unterscheidet seine Theorie auch von der pragmatischen Pädagogik John Deweys, mit dem ihn sonst manche Gemeinsamkeiten verbinden. Dewey versteht Erziehung als Verwirklichung einer bestimmten Philosophie (vgl. den Exkurs 2, S. 534). Außerdem ist der geschichtliche Ort der pädagogischen Überlegungen Lewins zu beachten. Sowohl seine Wende von der Individual- zur Sozialpsychologie als auch seine pädagogischen Reflexionen sind nicht zu verstehen ohne die Erfahrungen des Menschen Lewin mit dem aufkommenden Nationalsozialismus und die Beobachtung der Unterschiede zwischen der amerikanischen und deutschen Kultur 62 . Er stand unter dem Eindruck, wie der totalitäre Staat durch die Schaffung einer bestimmten sozialen Atmosphäre und durch direkte Einflußnahme auf das Gruppenleben den Menschen in den Griff zu bekommen versuchte. So sieht er beispielsweise als einen der entscheidenden Unterschiede der gesellschaftlichen und erzieherischen Situation in den U S A und Deutschland die verschiedene Größe des „Raumes freier Bewegung" an (Lösung, S. 33). Die Erfahrung dieser Unterschiede hat ihn zu der Konsequenz geführt, daß eher die Gesellschaft die Erziehung als die Erziehung die Gesellschaft beeinflußt: „ E s scheint, als sei es für die Gesellschaft leichter, die Erziehung zu ändern, als für die Erziehung, die Gesellschaft zu ändern" (a.a.O., S. 24).

Das Problem der Erziehung steht für ihn in unlösbarem Zusammenhang mit der Frage kulturellen und gesellschaftlichen Wandels, Der feldtheoretische Aspekt besagt in diesem Zusammenhang, daß isolierte Maßnahmen sinnlos sind: Eine Änderung des Erziehungssystems ist nur möglich bei gleichzeitiger Änderung des gesellschaftlichen Gesamtfeldes. Dasselbe gilt hinsichtlich der wechselseitigen Bezogenheit kultureller Werte und sozialen Verhaltens. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß Lewin seine pädagogischen Überlegungen vor allem im Rahmen der „ U m erziehung" des deutschen Volkes zur Demokratie entwickelt hat 83 . Als Aufgabe der Erziehung ergab sich in dieser Perspektive die Veränderung der gesamten Kultur einer Gesellschaft und der Menschen in ihr über die Gruppe. Dieser konkrete Ort der Fragestellung wird zu berücksichtigen sein. Andererseits jedoch ergeben sich allgemeinere Konsequenzen für den Zusammenhang zwischen sozialem Feld und Pädagogik. Lewin gibt folgende Definition der Erziehung: „ D i e Erziehung an sich ist ein sozialer Vorgang, der bald kleine Gruppen wie die Mutter und ihr Kind, bald größere Gruppen wie eine Schulklasse oder die Gemeinschaft eines Sommerlagers erfaßt. Die Erziehung zielt darauf ab,

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in den Kindern oder den sonstigen Personen, mit denen sie es zu tun hat, gewisse Verhaltensweisen, gewisse Arten der Einstellung zu entwickeln." D i e A r t des Verhaltens u n d der Einstellung, die sie z u e n t w i c k e l n sucht, u n d die M i t t e l , derer sie sich bedient, h ä n g e n nicht v o n einer abstrakten Philosophie, sondern v o n der Eigenart der G r u p p e ab, in der sie sich v o l l zieht : „ D i e Erziehung ist von dem tatsächlichen Zustand und Charakter der sozialen Gruppe abhängig, in der sie vonstatten geht" (Lösung, S. 22). G a n z allgemein k ö n n t e m a n die A u f g a b e der E r z i e h u n g , w i e L e w i n sie sieht, d a h i n g e h e n d f o r m u l i e r e n , daß sie d e m M e n s c h e n zur rechten W e i s e der W e c h s e l w i r k u n g m i t d e m geschichtlich-sozialen Feld v e r helfen soll. Es g e h t u m das P r o b l e m , w i e M e n s c h e n u n d G r u p p e n f ü r die Gesellschaft u n d ihre K u l t u r e r z o g e n w e r d e n k ö n n e n , an der sie v e r a n t w o r t l i c h partizipieren sollen („Sozialisation" u n d „ E n k u l t u r a t i o n " ) . D e m k o n k r e t e n O r t seiner Fragestellung entsprechend setzt er ein bei der B e z i e h u n g z w i s c h e n individueller u n d geschichtlich-sozialer Situation: D i e E r z i e h u n g soll den M e n s c h e n z u den W e r t e n u n d N o r m e n der Gesellschaft f ü h r e n u n d einen n e u e n K o n t a k t z u r „ W i r k l i c h k e i t o b j e k t i v e r T a t s a c h e n " e r m ö g l i c h e n (Lösung, S. 92). Dieses k a n n nur geschehen d u r c h eine W a n d l u n g des Verhaltens des M e n s c h e n , die i n einer W a h r n e h m u n g neuer Z u s a m m e n h ä n g e b e g r ü n d e t ist (vgl. a . a . O . , S. 99). Es ist j e d o c h g e n a u z u untersuchen, w a s m i t dieser A u f g a b e n b e s t i m m u n g g e m e i n t ist. L e w i n f ü g t hinzu, die D e f i n i t i o n des Erziehungszieles k ö n n t e sich m i t der genannten B e s c h r e i b u n g b e g n ü g e n , „ w e n n die Gesellschaft als Ganzes stets der W i r k l i c h k e i t entspräche" (S. 92). Dieses P r o b l e m gilt es zunächst z u klären. L e w i n versteht unter „ N o r m e n " u n d „ W e r t e n " der Gesellschaft die „ K u l t u r " i n ihrer Totalität (S. 92 u n d 95), die er auch als „ U b e r - I c h " oder als „ W e r t s y s t e m " bezeichnen k a n n . E r betont dabei, daß „ N o r m e n " u n d „ W e r t e " nicht „ b l o ß anerkannte Ideale u n d P r i n z i p i e n " m e i n e n , sondern dynamische F a k t o r e n i m

geschichtlich-

sozialen P r o z e ß ihrer V e r w i r k l i c h u n g (a.a.O., S. 22, 92). D a ß L e w i n darauf verzichtet, b e s t i m m t e „ N o r m e n " u n d „ W e r t e " z u definieren, ist dadurch bedingt, daß ihr „ w i r k l i c h e r " N o r m - u n d W e r t c h a r a k t e r d a v o n abhängt, o b sie wirksam w e r d e n 6 4 . S o liegt letztlich das K r i t e r i u m f ü r ihren „ N o r m " - u n d „ W e r t " - C h a r a k t e r i m k o n k r e t geschichtlichen V o l l z u g . Seine eigentliche A l t e r n a t i v e liegt nicht z w i s c h e n W e r t e n u n d U n w e r t e n , sondern z w i s c h e n „ w i r k l i c h e n " u n d „ u n w i r k l i c h e n " W e r t e n . Andererseits g e h ö r t z u m W e r t c h a r a k t e r hinzu, daß das I n d i v i d u u m die W e r t e w i r k l i c h w ü n s c h t u n d w i l l , d a ß sie als etwas „ a u s freien S t ü c k e n G e w ä h l t e s e m p f u n d e n " w e r d e n (Lösung, S. 106). S o k a n n L e w i n v o m

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Gesichtspunkt des Individuums her Werte als „Vorliebe für Gruppen und Gruppenmaßstäbe" bezeichnen. Allgemein kann man sagen: Lewin versteht unter „Wert", was man für wert hält und verwirklicht. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß das „Wertsystem" oder die „Kultur" kein zeitloses Normensystem ist, sondern das Ergebnis dessen, was die Menschen eines bestimmten Kulturkreises für wert halten und als Wert verwirklichen. Lewin weist darauf hin, daß eine Kultur nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen ist: „ E i n e Kultur ist kein Gemälde; sie ist ein lebendiger V o r g a n g , aus zahllosen sozialen Wechselwirkungen zusammengesetzt" (Lösung, S. 78).

Wenn aber die „Kultur" das Ergebnis der Wechselwirkung von Menschen und Gruppen ist, kann Erziehung nicht „Eingliederung" in oder „Anpassung" an ein von außen auferlegtes objektives System meinen, sondern vielmehr Anleitung zur Wechselwirkung65. Ebenso bedeutet „Übernahme" eines Wertesystems nicht, daß ein normatives System auferlegt wird, sondern Partizipation an den aufbauenden Kräften im sozialen Prozeß, innerhalb dessen Werte gesucht und verwirklicht werden (vgl. Lösung, S. 103 ff.). Hier liegt auch das Kriterium für die Beurteilung der „Wirklichkeit" einer Kultur oder Gesellschaft. Wir wiesen darauf hin, daß Lewin keine objektive Wertehierarchie als Kriterium für den geschichtlich-sozialen Prozeß und die in ihm geltenden Normen aufstellt, sondern daß sein Kriterium im geschichtlichen Vollzug selber Hegt. Seine schroffe und frühe Gegnerschaft zum Hitler-Reich - er floh bereits 1933 nach Amerika - zeigt, daß er sich sehr wachsam und genau Rechenschaft über den geschichtlich-sozialen Prozeß in Deutschland gab. Wir meinen, daß man sein Kriterium auch hier in seiner dynamisch-ganzheitlichen Sicht menschlicher Wirklichkeit und in der Ablehnung einer positivistisch-mechanistischen Denkweise sehen kann. Der totalitäre Staat unterbindet die dynamische Wechselwirkung von Personen und Gruppen im sozialen Feld und setzt an deren Stelle eine mechanistisch-funktionale Zuordnung, die allein von der Staatsmaschinerie in Gang gebracht und aufrechterhalten wird. Indem er ein Wertesystem vorschreibt und mit Gewalt aufzwingt, übergeht er völlig, was die Menschen in seinem Herrschaftsbereich für wert halten. Er setzt sich selbst an die Stelle der Gesellschaft, durch deren Prozeß erst die Werte der Gesellschaft entstehen und verwirklicht werden. Lewin weist darauf hin, daß sich eine solche Denk- und Verhaltensweise durchaus mit allen möglichen Wertsystemen verbinden, sogar ein demokratisches Gewand anziehen und doch versteckt immer dieselbe bleiben kann66. Wenn aber die „Wirklichkeit" der Gesellschaft das Ergebnis der Wechselwirkung der an 57

ihr partizipierenden Personen und Gruppen ist, dann erzeugt ein Staat, der diese Wechselwirkung unterbindet, eine „ScheinwirkJichkeit". Die von ihm beherrschte Gesellschaft entspricht nicht mehr der Wirklichkeit; denn er setzt ein „Gemälde" an Stelle des lebendigen Prozesses sozialer Wechselwirkungen. So ist Lewins pädagogischer Ansatz nicht auf die Verwirklichung eines bestimmten weltanschaulichen Zieles ausgerichtet, sondern auf die Wechselwirkung von personaler und geschichtlich-sozialer Situation67. Daher wird das Ziel der Erziehung nicht inhaltlich von einem sich absolut verstehenden Wertesystem abgeleitet, sondern von der konkreten Gesellschaft, in welcher der Mensch lebt, und von dem, was die Menschen eines Kulturkreises für wert halten. Man könnte hier einwenden, daß die Zielsetzung der Erziehung bei Lewin letztlich doch an einem demokratischen Wertsystem orientiert sei. Zwar wollte Lewin die empirischen Bedingungen des demokratischen Gesellschaftsprozesses erforschen und Werkzeuge für seine Verwirklichung entwickeln (s. u. S. 70). Was ihn aber von einer „Weltanschauungspädagogik" unterscheidet, ist die Tatsache, daß er nicht einen Weltanschauungsrahmen für die Pädagogik erstellt, sondern die Wechselwirkung von personaler und sozialer Situation in allen Kulturen als faktische Voraussetzung und faktisches Ziel einer empirisch begründeten Pädagogik ansieht. Auch wenn seine pädagogischen Gedankengänge weitgehend demokratischen Idealen entsprechen, darf man darüber nicht vergessen, daß sie auf der empirisch feststellbaren Interdependenz von Individuum und sozialem Feld beruhen (s. o. S. 37 ff.) und die Folgerungen aus dieser Interdependenz ziehen. Wenn aber das Erziehungsziel durch das bestimmt ist, was die jeweilige Gesellschaft für erstrebenswert hält, dann ergibt sich das Problem: Wie ist es möglich, daß die Individuen und Gruppen eines bestimmten kulturell-sozialen Feldes dasselbe für erstrebenswert halten und verwirklichen, was allgemein als erstrebenswert gilt? Da Personen, Gruppen, soziale Situationen, soziales Feld, Kultur, Wertsysteme und alles, was die menschliche Wirklichkeit ausmacht, in ständigem Wandel begriffen sind, erhebt sich zugleich die Frage, wie es möglich ist, daß dieser Wandel in allen Bereichen auf dasselbe Ziel zusteuert (vgl. Lewin, in: Benne, S. 29). Die Pädagogik ist für Lewin eine Theorie von der Wandlung des Menschen in einer bestimmten Gesellschaft mit bestimmter Kultur, die selbst in ständiger Wandlung begriffen sind. Die Problematik des Erziehungsvorganges ist besonders darin gegeben, daß nicht unbedingt die Bereitwilligkeit von einzelnen oder von Gruppen zu einer Wandlung im Sinne der allgemeinen Kultur vorausgesetzt werden kann, sondern in den mei-

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sten Fällen erst geweckt werden muß. Es besteht dann eine feindliche Haltung gegenüber dem Erziehungsziel, die sich aggressiv oder defensiv äußert. Lewin beschreibt sie als die „Diskrepanz zwischen dem Uber-Ich (der Art, in der ich fühlen sollte) und dem Ich (der Art, in der ich wirklich fühle)" (Lösung, S. 102). Lewin lehnt ab, daß diese Diskrepanz mit gewaltsamen Mitteln beseitigt werden sollte, da dann nur ein Wandel des Menschen im äußerlichen Sinne möglich wäre. Er würde sich nur im „Bereich des Wortschatzes", nicht aber in dem „des Verhaltens" ändern (a.a.O., S. 102). Erziehung aber meint Wandlung des ganzen Menschen, nicht nur in einigen peripheren Schichten seiner Person. Eine Wandlung seines Verhaltens ist darum abhängig von der Änderung seiner Erkenntnisstruktur (Lösung, S. 96 fF.). Den Begriff Erkenntnisstruktur umschreibt Lewin auch als „die Art und Weise, in der es (gemeint ist das Individuum) die physischen und sozialen Welten sieht einschließlich all seiner Tatsachen, Vorstellungen, Ansichten und Erwartungen" (a.a.O., S. 96). Darum ist die Erkenntnisstruktur letztlich identisch mit der Weise der Wahrnehmung. Sie erstreckt sich sowohl auf „Tatsachen", als auch auf „Werte": „ W i r können in jeder Situation nur in Übereinstimmung mit dem von uns wahrgenommenen Feld handeln; und unsere Wahrnehmung erstreckt sich auf zwei verschiedene Seiten dieses Feldes. Die eine hat es mit Tatsachen, die andere mit Werten zu tun" (S. 99).

So erweist sich als der eigentliche Angelpunkt der Wandlung des Menschen die Wandlung seiner Wahrnehmung. Die Erziehung hat es daher hauptsächlich mit dem Problem einer möglichen Wandlung der Wahrnehmung zu tun. Dementsprechend ergibt sich als „Grundaufgabe der Umerziehung ... die soziale Wahrnehmung des Individuums zu verändern. N u r durch diesen Wandel der sozialen W a h r nehmung läßt sich ein Wandel der sozialen Aktion des Individuums erreichen" (S. 99).

Der erste Schritt zu einer Wandlung des Menschen besteht daher in der Wahrnehmung neuer Tatsachen und Werte: „ D a das Handeln von der Wahrnehmung bestimmt wird, setzt ein Wandel des Verhaltens voraus, daß neue Tatsachen und Werte wahrgenommen werden" (S. 103).

Darum bedeutet jede Wandlung eine einander entsprechende Veränderung der Erkenntnisstruktur, des Verhaltens und des Handelns. Sie betrifft damit auch Bedürfnisse und Gefühle des Menschen, die sich in seiner Erkenntnisstruktur auswirken (vgl. Feld, S. 124L, 321). 59

W e n n Lewin sagt: „ W i r können in jeder Situation nur in Übereinstimmung mit dem von uns wahrgenommenen Feld handeln", meint er damit gleichzeitig, daß wir nur gemäß unserem Gewissen handeln können. So kann er sagen: seinem Gewissen folgen ist das gleiche wie den „erkannten wirklichen Anforderungen der Lage f o l g e n " (Lösung, S. io6). Umgekehrt kann er feststellen, daß die Diskrepanz zwischen dem, was die Gesellschaft v o m Individuum fordert, und dem, was das Individuum als richtig empfindet, „ein schlechtes Gewissen" verursacht (S. 102). Das Handeln des Menschen gegen seine eigentliche Einsicht wirkt sich schädlich auf sein Verhalten aus. Erziehung kann nur wirksam sein, und der Mensch kann sich nur wirklich wandeln, wenn die neuen Werte und Tatsachen, die er im Verhalten und Handeln verwirklichen soll, seinem „eigenen Über-Ich" entsprechen, das heißt, ihm wirklich selbst als Werte und darum erstrebenswert erscheinen (Lösung, S. 106). Es geht Lewin darum, daß die „ W e r t e " des einzelnen wirklich seine eigenen sind, daß sie wirklich (!) von ihm selbst wahrgenommen und anerkannt sind. N u r wenn sie für ihn „Wirklichkeit" sind, können sie sein Verhalten und Handeln bestimmen. Alle Erwartungen an eine Änderung menschlichen Verhaltens dürfen nur von der Einsicht des betroffenen Menschen selbst ausgehen. Sie dürfen niemals gegen seine Einsicht einfach durchgesetzt werden (Lösung, S. 103 ff.). Da das Kennzeichen aller echten und wirklichen Wandlung darin besteht, daß das „ I c h " des M e n schen ihr Träger ist, wird sie nur möglich, wenn sie sich in voller Freiheit vollziehen kann (a.a.O., S. i05f.). D a r u m soll der einzelne nicht nur das Gefühl der Freiheit haben, sondern er muß auch wirklich frei sein. Lewin argumentiert mit solchen, die meinen, daß eine „Veränderung dem einzelnen von außen aufzuzwingen", eine „offenkundige Notwendigkeit" sei. Solche Leute finden es oft ehrlicher und wahrhaftiger, wenn man sich offen zur „Methode der Gewaltanwendung" bekennt und sie dort anwendet, w o sie um der Erreichung eines Zieles willen gerechtfertigt erscheint. Sie empfinden die Forderung freier Entscheidung für das Individuum als eine „Täuschung und einen Nebelschleier", der bewußt über einen Vorgang gelegt wird, der im Grunde doch nichts als heimliche Manipulation ist. Man bringe den Leuten nur das Gefühl bei, daß alles von ihnen her geschehe, in Wirklichkeit aber würden sie doch auf verborgene Weise gesteuert (Lösung, S. 105). Lewin beteuert solchen Einwendungen gegenüber, daß die Forderung der Freiwilligkeit von ihm im letzten Sinne ernst gemeint sei, weil ohne sie überhaupt keine wirkliche Wandlung des Menschen möglich sei und alle Erziehung auf halbem W e g e stecken bleibe. Eine Wandlung müsse von „den betreffenden Menschen selber vollzogen" werden und könne

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ihnen darum nicht aufgezwungen werden. W e m es um eine wirkliche Wandlung des Menschen zu tun sei, dem müsse es auch mit letztem Ernst um seine Freiheit zu tun sein, da beide unlöslich miteinander verbunden sind. Er betont, „daß soziales Erkenntnisvermögen und Freiheit der Wahl voneinander abhängig sind . . . N u r falls und wenn das neue Werte-System freiwillig übernommen wird, nur falls es dem eigenen Über-Ich entspricht, ergeben sich jene Veränderungen der sozialen Erkenntnis, die ... eine Voraussetzung für eine Veränderung des Verhaltens und daher für eine dauerhafte Wirkung der Umerziehung sind" (S. 106).

Eine weitere Bedingung für den Wandel der Wahrnehmung oder der Erkenntnisstruktur ist der ganzheitliche Charakter dieses Wandels. Über die Annahme oder Ablehnung einzelner Werte entscheidet letztlich die Stellung des Menschen gegenüber einem Werte-System bzw. einer Kultur im ganzen. Isolierte Erkenntnisse oder Annahme vereinzelter Werte üben höchstens einen zeitweiligen Einfluß aus. Sie können aber niemals einen grundsätzlichen und anhaltenden Wandel im Menschen herbeiführen. Darum entscheidet sich der wirkliche Wandel seiner Erkenntnisstruktur nicht an einzelnen Teilen, sondern an seiner „Haltung gegenüber dem neuen Wertesystem in seiner Ganzheit" (a.a.O., S. 107). Logische Argumentation und Fortschreiten des Denkens von Punkt zu Punkt müssen scheitern, wenn eine „feindselige Haltung" gegenüber dem Ganzen vorhanden ist. Auch die Vermittlung von Kenntnissen und „ E r fahrung aus erster Hand" vermögen Wahrnehmung und Verhalten des Individuums selten zu ändern (S. 98). Z w a r wird sich die Wandlung des Menschen immer nur schrittweise vollziehen können, aber diese Schritte sind „Schritte eines gradweisen Wandels", in welchem jeweils der ganze Mensch in seinem inneren Verhalten zu einem Kulturganzen gemeint ist (S. 107).

e) Pädagogische Aspekte des Gruppenprozesses Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich die Frage: W i e und w o kann sich überhaupt die Weise der Wahrnehmung des Menschen ganzheitlich und gleichzeitig freiwillig ändern? Lewin beantwortet die Frage damit, daß die Zugehörigkeit des Menschen zu einer „Wir-Gruppe" der W e g dazu sei: „eins der maßgebenden Mittel,... um bei einer Umerziehung Einwilligung herbeizuführen, ist die Bildung einer ,Wir-Gruppe', d. h. einer Gruppe, zu dei sich die Mitglieder als zugehörig empfinden" (Lösung, S. 108).

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Indem das Individuum in das dynamische Feld der Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen des Gruppenprozesses eintritt, wird es in allen Schichten seiner Person, sowohl im Bereich seiner Erkenntnisstruktur als auch seines Handelns durch die im Gruppenprozeß wirksamen Kräfte geprägt und verändert (Lösung, S. i i 2 f f . ) . Lewin verweist auf die „erdrückende Bedeutung der sozialen Faktoren" für das Verhalten des Menschen und für die Entwicklung des Kindes, das buchstäblich ohne Annahme durch eine Gruppe sterben würde, für die Bedürfnisse, die das Verhalten motivieren (Feld, S. 321), für die Ziele, die sich der Mensch setzt, für seinen Erfolg, Mißerfolg, sein Anspruchsniveau, seine Intelligenz, für den persönlichen Lebensstil und den „Raum freier Bewegung", für die Richtigkeit und Produktivität des Planens usw. (Lösung, S. 113 und 125). Die in einem „sozialen Klima vorherrschende Ideologie und Lebensart" und die besondere „Atmosphäre" einer Gruppe bestimmen den Menschen bis in alle seine Lebensbereiche hinein68. Das Ergebnis der Analysen des Gruppenprozesses in seinen Auswirkungen auf den Menschen hegt darin, daß „Erziehung in fast allen ihren Seiten von der sozialen Struktur der Gruppe abhängig ist" (Lösung, S. 24). Der Mensch wird am entscheidendsten geformt durch den sozialen Prozeß, an welchem er teilhat. Darum entscheidet sich die Möglichkeit oder Unmöglichkeit seines Wandels und ein Erkennen und Verwirklichen neuer Werte und Tatsachen an seiner Haltung gegenüber konkreten Gruppen: „ D e r Betreffende willigt in das neue System der Werte und Ansichten ein, indem er in die Zugehörigkeit zu einer Gruppe einwilligt" (Lösung, S. 108).

Er findet am ehesten zur richtigen Erkenntnis, zum richtigen Verhalten und Handeln, wenn er die neuen Werte und Tatsachen selbst in der Partizipation an einem Gruppenprozeß entdecken kann (S. I 0 9 f . ) . Eine weitere Bedeutung, die der Gruppenprozeß für die Erziehung hat, ist darin gegeben, daß gleichzeitig auch das Handeln des Menschen angesprochen wird: die neuen Werte und Tatsachen können durch Übernahme bestimmter Aufgaben (Rollen, Funktionen) in der Gruppe zur Grundlage des Handelns gemacht werden. Der durch den Gruppenprozeß bewirkte Wandel der Wahrnehmung kann gleichzeitig von seiner Einübung in Verhalten und Handeln im Gruppenprozeß begleitet sein. So weist nicht nur die ganzheitliche Struktur menschlichen Wahrnehmens und Denkens auf eine Erziehung in der Gruppe durch die Gruppe, sondern auch die Ganzheitlichkeit der menschlichen Person und die wechselseitige Bezogenheit aller ihrer Funktionen. Darum kann Lewin aus solchen Überlegungen heraus folgern: 62

„Soll ein ausreichend tiefer und dauerhafter Wandel vollzogen werden, so muß der Mensch in seiner Eigenschaft als Mitglied von Gruppen angesprochen werden."

Er fährt dann fort, um die besondere Wirksamkeit der Erziehung des einzelnen durch die Gruppe noch hervorzuheben: „Gerade als Mitglied einer Gruppe ist der einzelne am ehesten nachgiebig. Gleichzeitig kann eine solche Gruppenbehandlung besser große Massen vergleichsweise tief beeinflussen als die individuelle Behandlung . . . " (Lösung, S. 89).

So spricht auch eine äußere Notwendigkeit im Zeitalter der Masse für die Wirksamkeit der Erziehung durch die Gruppe, wenn es das Ziel der Erziehung mit beinhaltet, möglichst viele Menschen wirksam zu erreichen. Dieses ist durch eine Reihe von Experimenten bestätigt worden (vgl. Feld, S. 261 ff.). Lewin untersucht in vielen seiner Arbeiten, wie ein solcher Gruppenprozeß aussehen muß, in welchem ein wirklicher Wandel des Menschen möglich ist und in welchem er Werte und Tatsachen als Wirklichkeit erfahren und sich zu eigen machen kann69. Die erste und nächstliegende Aufgabe besteht darin, den Menschen zu einer Änderung seiner feindseligen Haltung zu führen: „Eine Veränderung der Überzeugung in irgendeinem einzelnen Punkt läßt sich so lange immer nur ganz vorübergehend herbeiführen, wie der Mensch nicht seine feindselige Haltung gegenüber dem neuen Wertesystem in seiner Ganzheit soweit aufgegeben hat, daß er seine feindselige Haltung wenigstens durch Aufgeschlossenheit ersetzt" (S. 107).

Ein Teil der Arbeiten der Gruppendynamik ist seit dieser Feststellung Lewins dem Thema gewidmet: Wie kann man eine feindliche Haltung gegenüber dem Erziehungsziel in eine freundliche umwandeln70? Unter diesem Gesichtspunkt ist es zunächst die wichtigste Aufgabe der Gruppe, die Einwilligung des Individuums zu gewinnen, sich als ein Glied der Gruppe zu fühlen. Die zweite Aufgabe besteht darin, das Individuum am Gruppenprozeß zu beteiligen. Die Untersuchungen der Gruppendynamik beschäftigen sich daher auf Grund der Anregungen, die von Lewin ausgingen, im Blick auf die Erziehung besonders mit den Fragen: 1. Wie wird der Mensch zum Glied einer Gruppe? Damit verbunden ist gleichzeitig die Frage: Wie entstehen Gruppen? 2. Wie kann der Mensch wirksam, d.h. ganzheitlich in das dynamische Feld der Gruppe einbezogen und am Gruppenprozeß beteiligt werden 71 ? Wir werden auf diese Themen noch im Zusammenhang ihrer Aufnahme durch die interpersonalen Theologen zurückkommen. Darum nennen wir hier nur einige Hauptgesichtspunkte. 63

Zu l: Lewin selbst betont, daß eine wesentliche Bedingung für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe darin liegt, daß der einzelne einen ausreichenden „Raum freier Bewegung" in der Gruppe hat. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bedeutet nicht, daß der einzelne mit allen Zielen und Verfahrensweisen der Gruppe übereinstimmen muß. Er muß darum die Möglichkeit haben, seine persönlichen Ziele zu verfolgen (Lösung, S. 131). Das Verhältnis von Individuum und Gruppe kann als „Ergebnis einer Uberschneidungssituation" angesehen werden: Die eine Situation entspricht den Bedürfnissen und Zielen der Person selbst; die andere den Zielen und Werten, die für die Person als Glied der Gruppe bestehen. Die Zugehörigkeit des Individuums zur Gruppe hängt davon ab, daß ein zu großer Konflikt zwischen diesen beiden Kräftekonstellationen vermieden wird (Feld, S. 303). Wo der Raum freier Bewegung eingeengt wird, entsteht, wie die Experimente über die Führungsstile gezeigt haben, ein hoher Spannungszustand, der sich in Aggression oder Apathie entlädt und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer WirGruppe gerade nicht aufkommen läßt. Lewin hat die Konkretisierung der Freiheit vor allem in der „Schaffung einer Atmosphäre der Freiheit und Spontaneität" gesehen (Lösung, I04f.), die es dem Menschen gestattet, sein Denken und Fühlen offen zu äußern und eigene Intentionen zu verwirklichen. Diese „Atmosphäre der Freiheit" entspricht einer demokratischen Gruppenatmosphäre, deren mögliche situative Kennzeichen jeweils zu ermitteln sind (s. o. S. 5off). Die Gruppendynamik hat in vielen Untersuchungen aufgedeckt, welche Faktoren im Gruppenprozeß die Schaffung einer solchen Atmosphäre durchkreuzen und wie diese Hindernisse zu überwinden sind. So wurde gefragt: Was bedeutet für die Praxis „freiwillige Teilnahme, Formlosigkeit der Zusammenkünfte, Freiheit der Meinungsäußerung, ... Vermeidung von Zwang" (Lösung, S. 105) ? Was muß geschehen, damit sich das Individuum, so wie es ist, von der Gruppe angenommen und nicht angegriffen fühlt (vgl. Wittenberg, S. 95ff.) ? Wie wirken sich die einzelnen Faktoren, die Rollen und Funktionen der Gruppenglieder auf ihre Beziehungen untereinander aus72? Die verschiedenen Stadien der Entwicklung des Gruppenprozesses und des Wandels der Gruppenglieder wurden untersucht (s. u. S. 125f.). Auch wurden Wege gesucht, um die gefühlsmäßige Beteiligung der Gruppenglieder zu gewinnen („personal involvement") und das Verständnis für die Gefühle der anderen zu vertiefen. So entstanden Methoden wie Rollenspiel („role playing"), Soziodrama („sociodrama") u. a. 73 Zu 2: Im Blick auf die Möglichkeiten, den Menschen im Gruppenprozeß zu verwurzeln, wurde vor allem das Problem untersucht, wie man den 64

einzelnen am Denken und Planen der Gruppe beteiligen könne. Unter diesem Gesichtspunkt hat man hauptsächlich den Vorgang des Denkens und der Entscheidung von Gruppen durchleuchtet („process of group thinking and decision") 74 . V o m Hintergrund des bereits entwickelten Verständnisses des Gruppenprozesses bei Lewin ist hier wieder im Auge zu behalten, daß nicht ein „Denken" und „Entscheiden" einer Gruppe in Absehung vom Individuum gemeint ist, sondern der Prozeß des Denkens und Entscheidens von Personen in Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen miteinander. Dieser Prozeß vollzieht sich durch Gespräche und Diskussionen, welche die Klärung der gemeinsamen Situation und der Aufgaben, die sich in ihr stellen, zum Ziel haben. Die gemeinsame Aufgabe, der die Gruppe dienen will, gewinnt ihre Gestalt aus den Beiträgen aller Glieder 75 . Eine wirkliche Ubereinstimmung des Willens (Konsensus) ist erst dann erreicht, wenn gerade die Verschiedenartigkeit der Beiträge für das gemeinsame Ziel fruchtbar gemacht wird. Kriterien wurden aufgestellt, um den Fortschritt der Gruppe auf das angestrebte Ziel hin zu messen. Die Reaktionen der Gruppenglieder, ihr „feedback", wurden unter systematischen Gesichtspunkten ausgewertet 76 . Während Lewin seine pädagogischen Konsequenzen notwendigerweise an konkretem Ort in bezug auf ganz bestimmte Probleme durchdachte, hat die Gruppendynamik die Themen der Gruppenentscheidung und Zielsetzung in weitem Rahmen entfaltet und zur Grundlage der Erwachsenenbildung gemacht. Der Akzent liegt dabei darauf, daß sich in den verschiedenen Gruppenprozessen in der Gesellschaft, in ihren Diskussionen und Zielsetzungen allgemeine kulturelle Normen entwickeln, so daß auf diese Weise ein großer Kreis von Menschen an der Gestaltung des kulturell-sozialen Prozesses und seiner personalen Implikationen beteiligt werden kann: „Der Lernprozeß konnte im wesentlichen konzentriert werden auf die Entwicklung kultureller Normen in der Gruppe, auf den Prozeß sozialer Organisation, auf die Dynamik des Gruppenverhaltens, auf interpersonale Beziehungen, auf individuelle Wahrnehmungs- und Motivationssysteme oder auf Wertsysteme von Individuen und Gruppen."* Der entscheidende Gesichtspunkt besteht darin, daß die Ziele durch die Gruppenglieder selbst gefunden werden können, „not fed in from outside" 7 7 . In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung des Gruppenprozesses für das Lernen eingehend erforscht. Es stellte sich dabei heraus, daß Lernen nicht nur in der Vermittlung und Rezeption von Inhalten bestehen kann, sondern gleichzeitig immer auch aktive Partizipation an einem Gruppenprozeß meint, innerhalb dessen die Inhalte vermittelt werden. Übermittlung und Aneignung von Inhalten und inter65

personale Beziehungen stehen in Wechselwirkung78. In den letzten Jahren rückten immer mehr die Probleme einer intensiven Selbst- und Fremdwahrnehmung im Gruppenprozeß in den Vordergrund. Sie sollen in verstärktem Maße Anleitungen und Hilfen zu einem personalen Wachstumsprozeß in der Gruppe geben und den Blick schärfen für die Auswirkungen des Verhaltens („sensitivity training")79. Alle diese Untersuchungen hatten zur Folge, daß Erziehung im Sinne der Menschenführung verstanden würde. Der Erzieher wurde immer mehr in der Funktion eines Gruppenleiters gesehen und von dorther in seiner Tätigkeit gewertet80. Seine Aufgabe hegt darin, den Gruppenprozeß jeweils in Richtung einer solchen Struktur der Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zu lenken, die für das Erziehungsziel am meisten dienlich ist. Durch das Medium des Gruppenprozesses kann er die einzelnen Personen am tiefsten und am wirksamsten in Richtung des Erziehungszieles beeinflussen. Da die Abhängigkeit des Erziehungserfolges von den Bedingungen des Gruppenprozesses erkannt wurde, ergab sich auch für die Erziehung ein Ineinandef von pädagogischen und organisatorischen Maßnahmen. Diese Entwicklung entspricht dem Ansatz Lewins selbst. Seine Betonung, daß sich die Wahrnehmung jedes „Feldes" auf zwei Dimensionen, auf Werte und Tatsachen, erstrecke (Lösung, S. 99) und daß er Werte, Fakten und Menschen in der Einheit ihrer Situation zur Darstellung bringen möchte, weist auf die unlösliche Verbindung zwischen pädagogischen und organisatorischen Maßnahmen hin 81 . So kann er in seinem Aufsatz: „QuasiStationary Social Equilibria and the Problem of Permanent Change" 82 schreiben, daß aller soziale Wandel immer eine besondere Kombination von pädagogischen und organisatorischen Maßnahmen erfordere. Im Bereich der Schulpädagogik ist gerade dieser Ansatz Lewins besonders fruchtbar geworden, wie etwa der von Benne und Muntyan herausgegebene Sammelband: „Human Relations in Curriculum Change" zeigt. Er geht von der auf Anregung Lewins erkannten und als neu empfundenen Voraussetzung aus, daß jede Änderung des Lehrplanes auch eine Änderung der Struktur der interpersonalen Beziehungen in der Schule bedeutet und daß deswegen der Zusammenhang zwischen Lehrplan und sozialem System studiert werden müsse83. Wenn sich aber Erziehung im sozialen Feld und in Wechselwirkung mit ihm abspielt, dann bedeutet das gleichzeitig, daß die im sozialen Feld wirksamen Kräfte von größtem Einfluß auf die Erziehung sind. Da jedoch im sozialen Feld die Frage der Macht und der damit verbundenen Posi66

tionen eine große Rolle spielt, ergibt sich notwendig auch die Frage nach der wechselseitigen Beeinflussung zwischen Machtkonstellationen und Wertesystem. In der Entscheidung des Individuums für eine Gruppe erfolgt nach Lewin eine Wertentscheidung, da in der Struktur der Gruppe bestimmte Werte wirksam sind und Gestalt gewinnen. Sie äußern sich für das Individuum in seiner „Einwilligung in eine besondere Gruppe, eine bestimmte Rolle, eine ganz bestimmte Autorität als neue Anhaltspunkte" (Lösung, S. 110).

Sie „umfassen sowohl seine Vorliebe für Gruppen und Gruppenmaßstäbe wie seine Abneigungen gegen sie, seine Gefühle im Hinblick auf Rangunterschiede und seine Reaktionen auf Anlässe zu Zustimmung und Ablehnungen" (a.a.O., S. 96).

Andererseits aber ändert sich durch einen Wandel der Struktur des sozialen Feldes auch gleichzeitig das Wertesystem (a.a.O., S. 68). Darum ist es möglich, daß auch Ausübung von Macht zur Veränderung des Wertesystems führt. Daraus ergibt sich, daß Menschen in Machtstellung, etwa die Führer von Gruppen, Einfluß auf den Wandel des Wertesystems gewinnen können. Unter gewissen Umständen können sie sogar die eigentlichen Schlüsselpositionen einnehmen, die über eine Änderung des Wertesystems und der Struktur entscheiden: „Rang und Macht des Führers oder des führenden Teils einer Gruppe lassen sie den Schlüssel zur Ideologie und Organisation des Lebens der betreffenden Gruppe werden" (S. 88).

Lewin stellt die notwendige innere Beziehung zwischen „Veränderung der Kultur" und „Veränderungen der Machtkonstellation in der Gruppe" heraus. In einem Zustand der Anarchie und Gesetzlosigkeit kommt es darum hauptsächlich auf einflußreiche Führer an, die ein Wertesystem vertreten, das den Menschen ganzheitlich-personal sieht, nicht zum Objekt macht und ihm einen freien Raum für seine Entwicklung zur Person in eigener Verantwortung gewährt. Auf dieser Grundlage müßten sie die Bedingungen für die Ermöglichung eines dementsprechenden Gruppenprozesses schaffen (S. 82ff".). Darum ist es besonders wichtig, solche Führer auszubilden - Lewin kann sogar sagen: „eine Führerhierarchie auszubilden" - , die selbst durch einen Gruppenprozeß mit freiheitlicher Atmosphäre hindurchgegangen sind, die mit Macht ausgestattet werden und in der Lage sein müssen, sie verantwortlich auszuüben (S. 83 t.). Wegen des wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses von Wertesystem und Rollenvollzug im sozialen Feld kann der Führer genötigt sein, durch Ausübung von Macht den zur Durchsetzung des Wertesystems 67

nötigen Rollenwechsel zu erzwingen. So gibt es für Lewin in bestimmten Situationen auch die Möglichkeit, daß man ein Individuum einfach in einen anderen Gruppenprozeß verpflanzt, um sein Wertesystem dadurch zu ändern (S. 68). Man muß dabei beachten, daß die Erfahrung der Ohnmacht der Weimarer Demokratie und ihr Umschlagen in den Totalitarismus den Hintergrund dieser Ausführungen bildet. Lewin grenzt sein Prinzip der Freiwilligkeit gegenüber einem Prinzip des „Laisser-faire" ab, das notwendig zum Chaos führe: „Bisweilen müssen die Menschen ziemlich gewaltsam zu der Erkenntnis gebracht werden, was demokratische Verantwortung gegenüber der Gruppe als Gesamtheit bedeutet" (S. 83).

Im nächsten Satz verurteilt Lewin aber schon wieder autokratische Methoden. So finden wir einen offenkundigen Widerspruch in den Aussagen Lewins. In ihnen spiegelt sich das unvermeidliche Dilemma der menschlichen Existenz wider: der in der Wechselwirkung zwischen geschichtlich-sozialer und personaler Situation sich vollziehende Antagonismus. Lewin war sich dieses Widerspruches bewußt. Er weist verschiedentlich darauf hin und beschreibt ihn unter den verschiedensten Aspekten, in denen er Ausdruck findet (vgl. S. 83 f., 104). Was er vor Augen hat, verlangt in Wirklichkeit „eine Änderung des Herzens" (S. 106); diese Veränderung jedoch läßt sich nicht erzwingen, wohl aber muß man unter Umständen eine Macht in der Weise ausüben, daß die äußeren Bedingungen für die „Änderung des Herzens" gegeben sind. Daß Lewin sich auch dieser tieferen Dimensionen seiner eigentlichen Intention bewußt war, geht unter anderem aus der Häufigkeit hervor, mit welcher er das Wort „Bekehrung" verwendet (S. 83 ff., 107 u. a.). Im Grunde kann ja ganzheitliche Wandlung des Menschen in ihrem tieferen Verständnis auch nicht anders als durch „Bekehrung" ausgedrückt werden. So ergibt sich ein Widerspruch zwischen der Notwendigkeit der Freiheit um eines echten, tiefgreifenden Wandels des Menschen willen und der Notwendigkeit einer Machtausübung des Führers, falls die Gruppe nicht in der Lage ist, selbst die Bedingungen eines Gruppenprozesses zu schaffen, in welchem sich der Mensch ganzheitlich-personal entfalten kann. Lewin löst diesen Widerspruch nicht auf, sondern läßt ihn in seiner realistischen Denkweise einfach stehen, weil er in der Wirklichkeit menschlicher Existenz begründet ist. Es ist ein Zug seines empirischen Denkens, daß er um der Freiheit willen auch sehr konkret nach der 68

Grenze der Freiheit fragt, die in der Verantwortung für das Ganze gegeben ist. W i e sehr Lewin den konkreten Menschen vor Augen hat, wird beispielsweise deutlich in seiner Charakterisierung der Veränderung einer autokratischen Kultur in eine demokratische: eine Veränderung zur Demokratie würde eine „stärkere Betonung der menschlichen Werte gegenüber den übermenschlichen Werten wie Staat, Politik, Wissenschaft beinhalten", welche sich gerade um ihrer „Obermenschlichkeit" willen zerstörend auf den Menschen auswirken (Lösung, S. 66).

f ) Empirische Forschung und philosophische Anthropologie Die zuletzt angestellten Überlegungen münden in die Frage nach dem Verhältnis von empirischer.Forschung und philosophischer Anthropologie ein, mit der wir uns noch ausführlicher auseinandersetzen werden. Darum möchten wir in diesem Zusammenhang nur einige kurze Hinweise geben. Ohne Zweifel ging es Lewin um den Aufbau einer Sozialwissenschaft, welche die wechselseitigen Auswirkungen von Person und U m w e l t empirisch erforscht. Gegenüber den spekulativen Sozialphilosophien war es gerade seine Intention, die Erforschung des Gruppenprozesses auf „eine empirische Grundlage" zu stellen (s. o. S. 32). Auch was er über die B e deutung der Gruppe für das Individuum, über das Problem der Freiheit usw. sagt, ist empirisch gemeint und beruht auf den Ergebnissen zahlreicher experimenteller Untersuchungen. W i e andere Gestaltpsychologen v o r und neben ihm hat er zur Falsifizierung des positivistisch-mechanistischen Menschenbildes und seiner Auswirkungen auf die Psychologie beigetragen, indem er die Annahmen der behavioristischen Psychologie durch den empirischen Nachweis ganzheitlicher Zusammenhänge in der menschlichen Wirklichkeit als falsch aufdeckte. Allport sieht hinter dem Gegensatz von Behaviorismus und Gestaltpsychologie zwei verschiedene philosophische Grundauffassungen v o m Wesen des Menschen. Er ist der Meinung, daß alle modernen psychologischen Theorien an der einen oder anderen dieser Anthropologien orientiert seien: am Empirismus von Locke, wie er besonders im modernen Positivismus Gestalt gewinnt, oder an der Lehre v o m „aktiven Intellekt", w i e sie vor allem von Leibniz repräsentiert wird 8 4 . Diese beiden Traditionen verkörpern „polare Auffassungen im Blick auf das Wesen des Menschen, vor allem hinsichtlich seines Geistes": seine „ v o r wiegende Passivität" oder „Reaktivität" bei John Locke und sein „aktives Wesen" bei Leibniz (a.a.O., S. 17). 69

Nach Locke ist der Geist des Individuums bei Geburt eine Tabula rasa, gewissermaßen ein „passives Rezeptakulum", das lediglich durch Eindrücke von außen geformt wird. Dieser Auffassung vom Menschen entsprechen nach Allport der Assoziationismus, der Environtalismus, der Behaviorismus und alle anderen Psychologien, die am Reiz orientiert sind (S. 18). In der Tradition von Leibniz hingegen wird der Mensch nicht als Ort, sondern als Quelle von Handlungen angesehen. Diese Aktivität des Menschen ist immer zielgerichtet (S. 21). Die Lehre vom „aktiven Intellekt" wurde vor allem Grundlage der Gestaltpsychologie. Nach Allport setzt die gesamte BegrifFlichkeit der Gestaltpsychologie die Existenz eines solchen aktiven Intellektes voraus (so z. B . „dynamische Selbstbestimmung", „Zugehörigkeit", „Einsicht", „Gestaltdrang" usw.). Alle diese Begriffe lenkten die Aufmerksamkeit auf die „dem Intellekt innewohnende Aktivität, welche Sinnesdaten gestaltet, ordnet und interpretiert" (S. 27) und welche von einer bestimmten Intention geleitet wird. Diese gestaltende Aktivität des Menschen kann nur als Äußerungsform eines „persönlichen Selbst" gedacht werden (vgl. S. 23). Man muß jedoch sagen, daß der feldtheoretische Ansatz Lewins in diese Alternative vom aktiven und passiven Intellekt nicht eingeordnet werden kann, insofern seine Grundannahme die wechselseitige Abhängigkeit von Person und Umwelt ist: Es ist wahr, daß die Umwelt das Verhalten der Person prägt, aber es ist ebenso wahr, daß die Person die Umwelt prägt. Gerade mit ihrer Betonung der Interdependenz gegenüber jedem einseitigen Determinismus zeigt sich die empirische Intention der Feldtheorie. Aber es ist zu fragen, ob er diesen empirischen Ansatz auch in der praktischen Anwendung der gruppendynamischen Forschung durchgehalten hat. Wie aus seinen pädagogischen Reflexionen hervorgeht, hat er seine Forschungen ganz bewußt in den Dienst der demokratischen Gesellschaft gestellt. Er betont immer wieder, daß man Demokratie nur „lernen" könne, während die Autokratie von außen auferlegt wird. So kann er sagen, Demokratie setze voraus, daß der Mensch selber tätig wird, anstatt sich durch ihm auferlegte Kräfte bewegen zu lassen (Feld, S. 118). Die Entwicklung gruppendynamischer Verfahrensweisen hat er als Ermöglichung des Vollzuges eines demokratischen Lebensstiles verstanden. Er wußte allerdings, daß die Ergebnisse der Sozialwissenschaften auch zum Zweck der Zerstörung und Manipulation des Menschen gebraucht werden, daß sich sowohl demokratische als auch totalitäre Mächte ihrer bedienen können. Darum hat er noch in seinem letzten Aufsatz betont, daß personale Verantwortung und der Geist der Kooperation unbedingte Voraussetzungen einer rechten Anwendung gruppendynamischer Techniken sind85.

70

Das Problematische sehen wir jedoch darin, daß er die Ergebnisse seiner Forschung im Rahmen der gruppendynamischen Bewegung und ihrer Anthropologie anwendet, die wir als „Gruppenphilosophie" bezeichneten (s. o. S. 20). W i r haben bereits darauf hingewiesen, daß in der gruppendynamischen Bewegung eine Tendenz besteht, die Bedeutung der Gruppe für das Individuum in einer Weise zu betonen, die zu einer Verselbständigung der sozialen Perspektive führen könnte. Auch bei Lewin selbst finden sich Äußerungen in dieser Richtung. So kann er zum Beispiel sagen, das Individuum müsse mehr Vertrauen in das Urteil der Gruppe setzen als in das eigene: „ . . . die Wahrscheinlichkeit, daß sein Urteil richtig ist, erhöht sich, wenn das Individuum größeres Vertrauen auf die Erfahrung der Gruppe setzt, ob nun diese Erfahrung der Gruppe zu seiner eigenen paßt oder nicht" (Lösung, S. 94).

Man muß zwar hier wiederum sagen, daß der eigene Lebensweg Lewins beweist, daß das Urteil von einzelnen richtiger sein kann als das Urteil von Gruppen, und man muß sich vor Augen halten, daß er mit solchen Aussagen die Intention verfolgt, durch Schaffung einer demokratischen Gruppenatmosphäre und eines demokratischen Führungsstiles zur „ U m erziehung" des deutschen Volkes zur Demokratie beizutragen. Aber trotzdem scheint uns hier die Gefahr gegeben, daß an Stelle der Wechselwirkung des Menschen mit dem sozialen Prozeß eine Umschlossenheit durch ihn treten könnte. Der Akzent auf dem Enthaltensein des Menschen in der Gruppe überwiegt, der personale Aspekt im Gegenüber des Menschen zum sozialen Feld ist zu wenig betont. Jedoch möchten wir hinzufügen, daß sich unsere Kritik weder auf die Voraussetzungen der empirischen Forschung Lewins bezieht, noch auf die Tatsache als solche, daß er sie in den Dienst der Gesellschaft stellt, sondern auf den anthropologischen Bezugsrahmen, innerhalb dessen er sie als angewandte Wissenschaft entfaltet. Hier scheint die Gefahr eines U m schlagens des Faktischen ins Normative, der empirischen SozialWissenschaft in eine soziologistische Anthropologie zu bestehen. A n demselben Punkt setzt, wie wir noch sehen werden, die Kritik der interpersonalen Theologen an der Gruppendynamik ein. Sie versuchen, diesen Gefahren entgegenzuwirken, indem sie die gruppendynamische Erforschung der Wechselwirkungen im sozialen Feld mit Bubers Philosophie der Ich-Du-Beziehung verbinden. Damit betonen sie die personale Vermitteltheit des Denkens und die Bedeutung des personalen Aspektes der menschlichen Wirklichkeit im Gegensatz zu einer zu einseitigen Akzentuierung der sozialen Perspektive.

7i

Kapitel II

DIE T H E O R I E V O N DER UND DER CHRISTLICHEN BEI DEN INTERPERSONALEN a) Der Ansatz in der

KIRCHE ERZIEHUNG THEOLOGEN

Ekklesiologie

Die interpersonalen Theologen betrachten es als ihre Intention, die B e züge der gruppendynamischen Fragestellung zum Wesen und zum Auftrag der christlichen Gemeinde deutlich zu machen. Sie betonen, daß die Fragestellung der Gruppendynamik nicht von außen an die Gemeinde herangetragen wird, sondern im Wesen der Gemeinde selbst begründet ist. So kann beispielsweise Ross Snyder auf die Frage, warum die Kirche ein solches Interesse an der Gruppendynamik zeige, antworten: „Der Geist unserer Religion und das eigentliche Wesen der Kirche veranlassen uns, die Erkenntnisse der Gruppendynamik aufzunehmen 1 ."*

Die Umwelt provoziert gewissermaßen eine neue Auseinandersetzung mit den der Gemeinde eigenen Grundlagen: „Das Wesen des Evangeliums selbst, das auf Entscheidung in Freiheit zielt, erfordert die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht 2 ."*

R. C . Miller bezeichnet die für die Gruppendynamik zentralen Ziele der wechselseitigen Annahme und der Überwindung von Kommunikationshindernissen als eine säkulare Parallele zum christlichen Verständnis der Erlösung: „Die Bildung einer Gruppe, in welcher die Individuen gelernt haben, einander zu verstehen und anzunehmen und mehr Verständnis für andere zu bekommen, liegt im Zentrum des christlichen Glaubens 3 ."*

U m die Bedeutung der Gruppendynamik für die Gemeinde herauszustellen, verweisen die interpersonalen Theologen häufig auf das Bild der Gemeinde im Neuen Testament. Abgesehen von wenigen Ausnahmen beabsichtigen sie mit solchen Hinweisen keine biblizistische Ableitung und Legitimierung gruppendynamischer Kategorien und Methoden, sondern sie wollen deutlich machen, daß es sich hier um wirkliche Fragen der Gemeinde handelt, die ihr von Anbeginn her aufgegeben sind: Schon in seinem Ursprung hat es der christliche Glaube mit Phänomenen zu tun, auf die sich auch die gruppendynamische Forschung bezieht. Johnson betont, daß es niemals eine Kirche gegeben habe ohne die Erfahrung des 72

Gruppenlebens („group experience") 4 . Die Kirche nahm ihren Ursprung mit der Gruppe der 12 Jünger, die von Jesus gesammelt und zu einer lebendigen Gemeinschaft verbunden wurden 5 . Im Verhältnis Jesu zur Gruppe seiner Jünger wird deutlich, daß es Jesus sowohl um das Heil des Individuums als auch der Gemeinschaft ging 6 . Wie die Jünger Jesu, so bildet auch die Urgemeinde eine kleine Gruppe von Menschen, die ihr Leben miteinander teilen und in gemeinsamer Verantwortung füreinander stehen7. Die Glieder der Gemeinde wurden durch eine Erfahrung verbunden, die sie als isolierte Individuen nicht haben konnten (Clemmons, S. 30). Doch wurde bei aller Betonung der Gemeinschaft das Individuum nicht absorbiert; denn der eigentliche Akzent liegt auf der helfenden und heilenden Kraft des Gruppenlebens für den einzelnen Christen8. Die neutestamentliche Gemeinde ist geradezu das Urbild der „personal" oder „face-to-face group": alle Definitionen im N T beschreiben sie als eine Gruppe von Menschen, die in personaler Verbundenheit miteinander leben9. Die interpersonalen Theologen verweisen dabei besonders auf Bibelstellen wie Matth. 18, 20; Apg. 2, 42 und 1. Kor. 12, 27, die in ihrer Betonung der interpersonalen Beziehungen den Schluß zulassen: „ D i e Kirche ist in ihrem Zentrum ein Gruppenprozeß" (Ross, a.a.O., S. i o ) 1 0 . *

Alle Erneuerungsbewegungen in der Christenheit haben mit der Erweckung kleiner Gruppen begonnen, in denen die Kirche zu der Art gemeinsamen Lebens zurückkehrte, das den Anfang ihrer Geschichte kennzeichnete 11 . U m eine Erneuerung geht es auch der gegenwärtigen amerikanischen Gemeinde und Theologie bei der Aufnahme von Fragestellung und Methoden der Gruppendynamik. Nach Casteel ist die Intention der Aufnahme der Gruppendynamik „die Erneuerung des Lebens der Kirche" durch das Medium der personalen Gruppe (a.a.O., S. 18). Dieses Ziel wird näher präzisiert in einem Satz von Ross Snyder, den man als programmatisch bezeichnen kann: „Es ist die lebendige Kirche des Neuen Testamentes, der wir nachstreben, wenn wir in unserer Zeit an der Gruppendynamik Interesse bekommen. W i r versuchen, die Christenheit von der individualistischen Vorstellung des Christseins zu befreien und die Kirche davor zu bewahren, eine bürokratische Institution zu werden" (Snyder, II, S. 1 ) . *

Die Aufnahme der Gruppendynamik richtet sich demnach gegen eine doppelte Front: gegen ein individualistisches Privatchristentum einerseits und gegen eine Institutionalisierung der Kirche andererseits, die keinen 73

Raum mehr bietet für ein lebendiges Gemeindeleben. Demgegenüber geht es um die Rückkehr zu dem, was die Kirche in Wahrheit ist: eine „face-to-face-community", die sich im Namen Christi zusammenfindet (Casteel, a.a.O., S. 20). Wie bereits an dieser Zielsetzung deutlich erkennbar ist, intendieren die interpersonalen Theologen nicht nur eine neue Methodologie kirchlicher Arbeit, sondern zunächst eine Neubesinnung über den KirchenbegrifF 12 . So warnt etwa Grimes vor einem Pragmatismus und Aktivismus, der nur an den praktischen Erfolgen interessiert sei und aus der Kirche eine Institution für moralischen und gesellschaftlichen Fortschritt machen wolle (S. 15). Die Kirche müsse sich wieder auf ihr Wesen als Kirche, als Leib Christi und Gemeinschaft des Heiligen Geistes besinnen. Darum sei die theologische Reflexion gerade für die verantwortliche praktische Arbeit der Kirche das Gebot der Stunde (S. 14). Diese Bemühung um den Kirchenbegriff ist bei allen interpersonalen Theologen zu erkennen, auch dort, w o ihr ausgesprochenes Interesse der praktischen Bedeutung der Gruppendynamik für die Gemeindearbeit gilt 1 3 . Die ekklesiologische Fragestellung der interpersonalen Theologen ist dadurch gekennzeichnet, daß sie das neutestamentliche Verständnis der Kirche unter dem Aspekt der wechselseitigen Bezogenheit von Individuum und Gruppe interpretieren, wie er durch die Gruppendynamik zur Diskussion gestellt ist. Ihre Frage nach der Kirche steht in einem doppelten Bezug: zur biblischen Theologie einerseits und zur Problemstellung der Gruppendynamik andererseits. Sie fragen nach dem rechten Verhältnis von Gruppe und Individuum, Gemeinde und Christ im Blick auf die Wirklichkeit, die sich durch Gottes Handeln dem Glauben erschließt14. Unter diesem Gesichtspunkt versuchen sie, die Zusammenhänge und die Bedeutung der biblischen Begriffe für die Kirche neu zu entfalten und für die Gegenwart zu konkretisieren. So kann Grimes über ein Verständnis der Kirche, das die Wechselwirkung von Individuum und Gruppe in seinen Ansatz aufnimmt, sagen: „Diese Sicht scheint sowohl mit der neutestamentlichen Konzeption der Kirche als auch mit unserem gegenwärtigen Verständnis der Beziehung von Individuum und Gruppe übereinzustimmen" (S. 35).*

Es geht im Rahmen dieses Abschnittes zunächst darum, welche biblischtheologischen Themen unter diesem Aspekt aufgenommen werden und welche Grundfragen sich daraus ergeben. Nach der Darstellung von Niebuhr lassen sich in der amerikanischen Diskussion um den KirchenbegrifF hauptsächlich zwei Richtungen er74

kennen: Die einen interpretieren das Wesen der Kirche individualistisch und sehen ihre Aufgabe allein in der Rettung der Seelen, die anderen verstehen die Kirche als Verwirklichung einer erlösenden Gemeinschaft 15 . Die Intention der interpersonalen Theologen läßt sich dadurch charakterisieren, daß sie sich um eine Verbindung beider Sichtweisen bemühen. Dabei können sie, dem jeweiligen Zusammenhang entsprechend, den Akzent einmal auf das Individuum, das andere Mal auf die Gemeinschaft setzen, aber sie betonen, daß die Kirche nur in der Polarität beider Aspekte recht verstanden werden kann. Die Kirche hat eine „doppelte Perspektive" oder „doppelte Natur" (Grimes, S. 33). Sie ist sozial und personal, sie meint gleichzeitig das Ganze und den einzelnen 18 . Beide Sichtweisen korrespondieren miteinander, und jede von ihnen ist durch das Neue Testament legitimiert (Grimes, S. 34). Die interpersonalen Theologen berufen sich auf Aussagen, in denen die Gleichzeitigkeit und die Wechselbeziehung beider Aspekte deutlich werden, z. B . : 1 . Kor. 12, 27: „ N u n seid ihr der Leib Christi und, als Individuen betrachtet, Glieder."

Snyder sieht diese Stelle aus dem 1 . Korintherbrief als „festes Bild der Kirche" und als stellvertretend für viele andere Worte des N T (II, S. i ) 1 7 . Dementsprechend enthalten die Definitionen der Kirche, wie sie von den interpersonalen Theologen gegeben werden, eine Verhältnisbestimmung dieser beiden Perspektiven. So beschreibt etwa Johnson die Kirche als „Gruppe von Gruppen, durch welche das wachsende christliche Leben ihrer Glieder unterstützt und erhalten w i r d " (Psychology, S. 59).*

Andererseits kann er aber auch sagen: „ D i e Bedeutung der Gemeinschaft („fellowship") ist das Ergebnis dessen, was die Glieder einander in allen ihren Beziehungen sind" (a.a.O., S. 65).*

Ross Snyder bezeichnet die Kirche des N T als „wechselseitig abhängige Glieder des Leibes Christi und zugleich individuelle Glieder" ( W h y the Church, S. i ) 1 8 . *

Die Relevanz der Gruppendynamik für das Verständnis der Kirche ergibt sich daraus, daß sie die Wechselbeziehung von personalem und sozialem Aspekt in der konkreten menschlichen Wirklichkeit erforscht: „Hier ist ein Gesichtspunkt, der sowohl das Individuum als auch die Gruppe betrifft: der W e r t des Individuums wird als Selbstzweck anerkannt und der soziale Prozeß als das Mittel gepriesen, wodurch das Individuum wahrhaft Person w i r d 1 " . " *

Von dieser Fragestellung her bemühen sich die interpersonalen Theologen hauptsächlich um das Verständnis der Begriffe „Leib Jesu Christi" und 75

„allgemeines Priestertum", wobei der erstere Begriff die biblische Betonung der Gemeinde, der letztere die biblische Betonung des einzelnen Christen zum Ausdruck bringt. Der biblische Begriff des Leibes Christi meint, daß die Kirche das Werk Gottes ist 20 . Es sind nicht die Menschen, es ist Christus, der zunächst den Leib konstituiert. In dieselbe Richtung weist auch das biblische Bild vom Weinstock und den Reben: Joh. 15, 1-8. Der Weinstock ist eher da als die Reben. Die Person Jesu Christi steht daher am Anfang der neutestamentlichen Gemeinde. In ihm geht das Leben Gottes in diese Welt ein. Die Kirche als sein Leib ist die Fortsetzung seines Lebens in dieser Welt durch die gegenwärtige Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Insofern ist die Inkarnation das zentrale Ereignis der Geschichte der Kirche 21 . Das besondere Interesse am Ursprung der Kirche unter den interpersonalen Theologen ist nicht nur darin begründet, daß sie von daher eine Antwort auf die Frage nach der Herkunft der Kirche erwarten, sondern noch mehr darin, daß sie Aufschlüsse über die Art des Wirkens Gottes suchen. Die Inkarnation weist darauf hin, daß die eigentliche Weise der Wirksamkeit Gottes in dieser Welt durch eine Person und ihre erlösende Liebe geschieht, die sich der Not des Menschen annimmt. Die Kirche ist, was sie ist, nur indem sie sich als Werkzeug dieses Wirkens Gottes gebrauchen läßt 22 . Wenn aber Gottes Handeln in der Inkarnation Christi der Ursprung der Kirche ist, dann kann die Kirche nicht eine Summe isolierter Individuen sein, die jeweils auf Grund isolierter religiöser Erlebnisse zusammentreten, um sich durch Vertrag („social contract") zu einer Kirche zusammenschließen zu wollen 23 . Vielmehr setzt der Glaube des einzelnen immer schon voraus, daß eine durch Gottes Handeln geschaffene Gemeinde da ist, innerhalb deren er mit der Wirklichkeit des Glaubens konfrontiert wird 24 . Die Ablehnung eines individualistischen Verständnisses der Kirche ergibt sich nicht nur aus dem neutestamentlichen Gedanken des Leibes Christi, sondern zugleich auch aus der empirischen Erkenntnis menschlicher Wirklichkeit: „Das menschliche Leben selbst, das eindeutig ein sozialer Prozeß ist, läßt keine Anschauung über Kirche oder Gesellschaft zu, welche soziale Gruppen für bloße Ansammlungen isolierter Teile hält. V o r allem machen unsere neuen Einsichten in die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe solchen Individualismus unhaltbar" (Grimes, S. 25).

Durch Christus stehen alle Glieder seines Leibes in wechselseitiger Bezogenheit, von welcher sich niemand isolieren kann 25 . Die Wechselbeziehungen innerhalb der Gemeinde erstrecken sich nicht nur auf die einzelnen Christen untereinander, sondern auch auf das Verhältnis des 76

Individuums zu der Gruppe als ganzer (Snyder, in: Rel.Ed., S. 324). So bildet die Kirche überall dort, w o sie wirksam ist, Strukturen gegenseitiger Wechselbeziehungen aus, die in irgendwelchen organisatorischen Formen Gestalt annehmen, selbst wenn der Ansatz ursprünglich individualistisch war und jegliche Organisation ablehnte (Grimes, S. 24f.). Aber die interpersonalen Theologen machen gleichzeitig geltend, daß die „soziale Perspektive" nur die eine Seite des neutestamentlichen Verständnisses von Kirche darstellt. Eine Verselbständigung dieser Perspektive führt zu einem hierarchisch-institutionellen und kollektivistischen Mißverständnis des Leibes Christi und macht die Kirche an Stelle Gottes zum Herrn über Glauben und Leben 26 . Einheit und Ganzheit des Leibes Christi liegen nicht in einer Institution, sondern allein in Christus und dem von ihm geschenkten Glauben 27 . Indem wir Christus im Glauben antworten, existieren wir bereits durch ihn in der Einheit mit allen Gliedern seines Leibes (Grimes, S. 29 und 66ff.; Cully, S. 39). Leib Christi ist überall in der Welt, wo Christus Menschen als seine Werkzeuge gebraucht. Der Heilige Geist schafft in der Kirche Kontinuität, Integration und innere Ganzheit, die tiefer sind als alle Verschiedenheit (Cully, S. 36). Keine kirchliche Institution und keine christliche Gruppe kann ihn für sich allein beanspruchen (Grimes, S. 22Í.). Die wahre Kirche existiert in den verschiedenen Institutionen, die „Kirche" genannt werden, ohne mit einer von ihnen identisch zu sein (R. C. Miller, Biblical Theology, S. 117). Wie die Gemeindeglieder durch ein Geflecht von Wechselwirkungen in ihrer Gemeinde miteinander verbunden sind, so auch alle Gruppen und Konfessionen als Manifestation der Mannigfaltigkeit des Leibes Christi. Die Zwischen-Beziehungen der Gemeinden und Denominationen bzw. Konfessionen in der Ökumene gewinnen dabei eine Bedeutung, wie sie den Intergruppenbeziehungen in der Gruppendynamik entspricht28. Wie die interpersonalen Theologen gegenüber einem individualistischen Laisser-faire-Protestantismus die Realität der Kirche als,.sozialen Prozeß" interpretieren, betonen sie auf der anderen Seite gegenüber jeder institutionellen und autoritären Auffassung die personale Verantwortung und Beteiligung des Individuums: „Christliche Gruppendynamik darf nicht das Gefühl für individuelle Verantwortlichkeit und persönlichen Glauben schwächen" (P. Miller, S. 1 4 1 ) . *

Gegenüber dem Begriff des Leibes Christi als dem einen Pol neutestamentlichen Denkens meinen die biblischen Vorstellungen vom „Bundesvolk", von der „Ekklesia" und vom „Allgemeinen Priestertum" die Unvertretbarkeit des einzelnen Menschen im Glauben und Glaubensgehorsam. Jeder Mensch ist von Gott persönlich aufgefordert, in den 77

Bund einzutreten, auf welchem die Kirche gegründet ist. Von jedem muß die Erlösung durch Christus im Glauben persönlich angenommen werden. Jeder wird persönlich von Gott gerufen (Grimes, S. 31 und 39; Cully, S. 38). „Ekldesia" ist die Versammlung der von Gott Herausgerufenen. Der Ruf Gottes stellt in eine besondere Verantwortung, wie sie in dem Begriff des allgemeinen Priestertums Ausdruck findet (Grimes, S. 37). Darum kommt alles darauf an, daß diejenigen, die vom Ruf Gottes in Christus getroffen sind, ihn auch ernst nehmen. Es geht bei der Verwirklichung des allgemeinen Priestertums nicht darum, wie man die Kirche als Institution mächtiger und größer machen könne, sondern darum, daß jeder Christ seine individuelle Berufung vor Gott erkennt und in allen seinen Lebensbereichen verwirklicht. Die christlichen Laien sind selbst Kirche, indem sie in ihrer täglichen Arbeit als Zeugen Christi leben (Grimes, S. 63 f.). Der Vollzug des allgemeinen Priestertums hängt davon ab, daß die christliche Berufung wieder in ihrer ganzen Weite erkannt wird. Sie umfaßt die Totalität des Lebens eines jeden Christen und die Totalität der ganzen Gemeinde. Es kann kein Lebensbereich aus der christlichen Berufung ausgeklammert werden (Grimes, S. 50 und 65 ff.). Jede institutionelle Verengung wird von hierher zerbrochen. Die ganze Gemeinde und das ganze Leben des einzelnen Christen ist Träger der Berufung, nicht der Pfarrer allein, auch nicht der Christ in einzelnen Lebensbereichen. Daher besteht im Blick auf den der Gemeinde gegebenen Auftrag kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Pfarrer und dem Laien. Sie sind zu demselben Glauben und derselben Hingabe berufen, auch zu ein- und demselben Dienst, nur in verschiedener Weise (Grimes, S. 46; Clemmons, Education, S. 28ff. und 44ff). Grimes wehrt sich dagegen, „antiklerikal" mißverstanden zu werden (S. 41). Allgemeines Priestertum meine nicht, daß dem Pfarrer keine Bedeutung zukäme. Sie begründe sich jedoch hauptsächlich in seiner besonderen Erfahrung und Ausbildung. Wohl aber sieht Grimes, wie auch die übrigen interpersonalen Theologen, die Notwendigkeit einer Verlagerung der Funktionen von Pfarrer und Gemeindegliedern. Man könnte sagen, daß sie gegenüber dem traditionellen Verständnis umgekehrt werden. Während sonst die Gemeinde weithin den Pfarrer als ihren Repräsentanten in der Öffentlichkeit ansieht und über ihn oder durch ihn in der Welt zu wirken versucht, tritt jetzt die Gemeinde selbst an diese Stelle. Sie selbst ist aufgefordert, ihren Auftrag in der Welt zu erkennen und ihren Zeugendienst an dem Ort zu verwirklichen, an den Gott sie gestellt hat. Es ist vor allem Aufgabe des Pfarrers, die Gemeinde zur Erkenntnis ihrer Bestimmung zu führen und sie für diese zuzurüsten:

78

„ W i r müssen die Menschen erziehen, die Kirche in ihrem eigentlichen Wesen zu sein und ihre Jüngerschaft im Alltag der Welt zu verwirklichen 29 ."

So wird das A m t des Pfarrers zur Funktion des alles umgreifenden Amtes und Auftrages der Gemeinde. Die Gemeinde zur Erkenntnis und zum Verständnis ihres Wesens als Gemeinde anzuleiten, impliziert gleichzeitig das seelsorgerliche Bemühen, dem einzelnen zu helfen, seine persönliche Verantwortung v o r Gott zu erkennen und seine individuelle Antwort auf den Ruf Gottes zu geben. Wesen und Auftrag der Kirche können nicht hinreichend verstanden werden, ohne daß man die persönliche Antwort des Glaubens eines jeden einzelnen in die Überlegungen mit einschließt (Grimes, S. 65; Cully, S. 38). Ihrem Wesen nach ist die Kirche beides: ein Ausdruck des W i r kens Gottes in dieser Welt und eine Antwort der Menschen auf den Ruf Gottes (Grimes, S. 47). Die Kirche kann w o h l als Leib Christi den Ruf Gottes an den Menschen herantragen - sie tut dieses z. B . durch die Auslegung der Schrift und die Taufe - , aber die Antwort des Menschen muß seine eigene sein 30 . Diese persönliche Antwort des Menschen ist nicht als ein Akzidenz zu verstehen, das zum Wesen der Kirche hinzukommt, sondern in ihr vollzieht sich Kirche. Das ist letztlich gemeint, wenn die interpersonalen Theologen in diesem Zusammenhang von der doppelten Natur oder Perspektive der Kirche sprechen: „Sie ist eine Körperschaft und doch personal. Sie ist des Menschen Antwort auf den Heiligen Geist in der Gemeinde des Heiligen Geistes 3 1 ."*

Die Kirche besteht aus Menschen, an die der Ruf Gottes ergangen ist und die ihm im persönlichen Glauben und Gehorsam antworten. Ohne daß jedes einzelne Glied der Gemeinde den Ruf hört und auf ihn in seiner ganzen Existenz antwortet, kann sich keine Kirche im Sinne der Bibel verwirklichen (Grimes, S. 65). Ein solches Verständnis von Kirche entspricht auch der Einsicht in die menschliche Wirklichkeit, wie sie die Gruppendynamik vermittelt: D e r soziale Prozeß ist nicht im Sinne einer kollektiven Wesenheit zu verstehen, sondern als Netzwerk von Wechselbeziehungen, in welchem die Individuen mit ihren verschiedenen Intentionen zusammenwirken (Grimes, S. 64f.). In diesem Zusammenhang spricht Ross Snyder davon, daß die Gruppendynamik einen neuen Personalismus im R a u m der Kirche repräsentiere 32 . Er hebt hervor, daß die Gruppendynamik drei Aspekte des Wesens der Kirche wieder neu zum Bewußtsein bringe: i . D i e Christenheit sei im Gegensatz zu vielen anderen Religionen eine Religion der Gemeinde, „ a religion of the congregation", nicht des Tempels.

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2. Die Gemeinde, nicht der Pfarrer, sei das menschliche Zentrum der gegenwärtigen Offenbarung Gottes. Die Gemeinde werde durch die Bundesbeziehung zu Gott konstituiert. Beide, der Laie und der Pfarrer, stehen innerhalb dieser Bundesbeziehung. Der Pfarrer steht somit neben dem Laien. Die Beziehung der Gemeinde zu Gott ist daher direkt und läuft nicht über eine kirchliche Institution. 3. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen ist eine zentrale christliche Wahrheit und wesentliche Bedingung des Christseins. Daher führt ihre Leugnung zu Krankheitserscheinungen im Glaubensleben des einzelnen und der Gemeinde. Allgemeines Priestertum vollzieht sich nur durch das Verständnis und die Verwirklichung der persönlichen Berufung jedes Gemeindegliedes. Umgekehrt gilt, daß der einzelne Christ seine Berufung nur erkennt, indem er teilhat am Leben der Gemeinde 33 . So muß die Kirche in der Spannung des personalen und des sozialen Aspektes gesehen werden. Der eine Aspekt bedingt den anderen und korrigiert ihn gleichzeitig. Das besagt aber nichts anderes, als daß die Gemeinde als Leib Christi und jedes einzelne Glied des Volkes Gottes in Wechselwirkung stehen34. Jedoch spricht Grimes dabei von einer Priorität der Kirche als dem Leib Christi vor dem Individuum (S. 30). Demgegenüber betont P. Miller, daß nicht die Gemeinschaft die Priorität habe, sondern die einzelnen Personen, die an einer gemeinsamen Beziehung zu Christus teilhaben, der sie zur Bildung einer Gemeinschaft versammelt (S. 146). Es ist jedoch zu beachten, was jeweils gemeint ist. Während Grimes zum Ausdruck bringen will, daß die Gemeinde nicht die Summe isolierter Individuen ist, will P. Miller sagen, daß die Gemeinde nicht als Kollektivperson verstanden werden kann. Nimmt man beide Aussagen zusammen, wie es dem Ansatz der interpersonalen Theologen entspricht, so ist genau die Frontstellung der Gruppendynamik getroffen: gegen atomistischen Individualismus einerseits und gegen ein kollektivistisches Verständnis menschlicher Gesellschaft andererseits. Theologisch wollen beide dasselbe zum Ausdruck bringen: daß die Gemeinde ihren Ursprung im Handeln Gottes in Christus hat, der den einzelnen durch die Gemeinde zum Glauben ruft und die einzelnen, die auf den Ruf antworten, als seine Gemeinde versammelt36. Durch das Handeln Gottes in Christus werden Individuum und Gruppe innerhalb der Gemeinde in die rechte Beziehung gesetzt, in der sowohl die Freiheit des Individuums als auch die Verbundenheit der Gemeinde gewahrt sind36. So ergibt sich für die interpersonalen Theologen die Verhältnisbestimmung von Gruppe und Individuum aus dem Wesen der Kirche und ihrem Auftrag, an dem alle Glieder in direkter Verantwortung vor Gott 80

partizipieren müssen. Einerseits ist die Kirche als Leib Christi die von Gott gewirkte Gemeinschaft, innerhalb deren die einzelnen Glieder den Anruf Gottes hören, und andererseits erwächst sie aus der jeweiligen Wechselwirkung ihrer Glieder und ihrem Dienst in der Welt. Die Fragen der Gruppendynamik werden aus dem Bezugsrahmen der Gesellschaft in den Bezugsrahmen der Gemeinde übertragen und von daher neu gestellt und interpretiert37. Aber wenn auch die Fragestellung der interpersonalen Theologen auf Wesen und Auftrag der Gemeinde gerichtet ist, sehen sie doch andererseits die Gemeinde in wechselseitiger Beziehung zu der Gesellschaft, in der sie lebt 38 . Diese Beziehung wird für die interpersonalen Theologen darin konkret, daß nach ihrer Meinung die Fragestellung der Gruppendynamik in gleicher Weise die demokratische Gesellschaft und die christliche Gemeinde betrifft: „ D e r christliche Erzieher sieht die Gruppendynamik zugleich auf d e m o kratische W e r t e und auf die ecclesia und koinonia der Urkirche b e z o g e n " (Prof. Irwin in seinem Brief v o m 3. Januar 1 9 6 1 ) . *

Darum können die interpersonalen Theologen die Zielsetzung und Bedeutung der Gruppendynamik im Bück auf Gemeinde und Gesellschaft auch in paralleler Form beschreiben: „ D i e Kernfrage der Demokratie ist, ob w i r Zivilisation durch Konsensus oder durch Z w a n g haben wollen. Für die Kirche stellt sich die Frage, ob w i r die lebendige Wirklichkeit oder das Gerippe bloß institutioneller Formen und oberflächlich beteiligter Menschen haben w o l l e n " (Snyder II, S. 3 ) . *

Die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinde stellt sich unter dem Aspekt der Gruppendynamik als Frage nach dem Verhältnis von christlicher und demokratischer Gruppe. Für alle interpersonalen Theologen gilt, daß sie die zwischenmenschlichen Beziehungen im Kräftefeld der christlichen und der demokratischen Gruppe in Analogie sehen. Diese Analogie besteht hinsichtlich der Struktur der interpersonalen Beziehungen und hinsichtlich des Zieles, auf das der Gruppenprozeß zusteuert: Sowohl in der christlichen als auch in der demokratischen Gruppe sind die interpersonalen Beziehungen und Wechselwirkungen durch Freiheit und verantwortliche Teilnahme aller Glieder gekennzeichnet. Das Ziel der demokratischen Gruppe ist die Erziehung des freien, verantwortlichen Bürgers, das Ziel der christlichen Gruppe die Erziehung des mündigen Christen 39 . Man kann die Analogie auch in der Weise definieren, daß es sowohl in der demokratischen als auch in der christlichen Gruppe um die Verwirklichung einer Gemeinschaft in Frei81

heit und personaler Verantwortung geht. Daher wird die christliche Gruppe ihrem Wesen nach immer die Tendenz haben, in demokratischen Strukturen ihren Ausdruck zu finden. Was von der einzelnen Gruppe gilt, das gilt auch von der Gemeinde als ganzer 40 . W e n n aber die interpersonalen Theologen Strukturparallelen zwischen der christlichen und demokratischen Gruppe aufweisen, so heißt das nicht, daß sie die christliche und die demokratische Gruppe miteinander identifizieren. Diejenigen unter ihnen, die über diese Zusammenhänge reflektieren, sehen die Analogie zwischen christlicher und demokratischer Gruppe, Gemeinde und Gesellschaft darin begründet, daß die Demokratie amerikanischer Prägung ihre Wurzeln in der christlichen Tradition hat 4 1 . Aber die Aspekte, unter denen sie die Herleitung demokratischer Prinzipien aus dem christlichen Erbe betrachten, und die Konsequenzen, die sie aus dieser Ableitung ziehen im Blick auf das Verhältnis von christlichem Glauben und Kultur, Gemeinde und demokratischer Gesellschaft, spalten die interpersonalen Theologen in zwei Richtungen, die w i r in unserer ganzen Darstellung wiederfinden werden. Die eine Richtung identifiziert den christlichen Glauben mit einer demokratischen Lebensphilosophie und versteht dementsprechend die christliche Gemeinde als integrierenden Bestandteil der demokratischen Gesellschaft. Die andere Richtung, zu der weitaus die Mehrzahl der interpersonalen Theologen gehört, betont die Unterschiedenheit von demokratischer Lebensweise ( „ w a y of life") und christlichem Glauben und sieht daher das Verhältnis der christlichen Gemeinde zur demokratischen Gesellschaft in der Spannung von Entsprechung und Unterschiedenheit 42 . Während es in der christlichen Tradition u m Freiheit und Verantwortung des Menschen vor Gott geht, erstrebt die demokratische Gesellschaft das Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und kooperativer Existenz 43 . Wenn auch die interpersonalen Theologen die demokratische Ordnung als die bestmögliche Gestalt interpersonaler Beziehungen und Wechselwirkungen bejahen und in ihr eine Analogie zur Gemeinde sehen, so weisen sie doch eine Absolutsetzung demokratischer Normen und eine Identifizierung von Gesellschaft und Gemeinde zurück und betonen den einzigartigen Charakter der Gemeinde Jesu Christi gegenüber allen anderen menschlichen Gruppen. Bis auf wenige Ausnahmen ist der umfassende Bezugsrahmen ihres Denkens nicht die demokratische Gesellschaftsordnung, sondern die Gemeinde und ihr Auftrag. Wenn sie als Theologen auf seiten der Gruppendynamik Front beziehen gegen autoritäre Gemeinschaftsformen, so stehen diese nach ihrer Ansicht der SelbstVerwirklichung der christlichen Gemeinde entgegen, w i e sie im Gehorsam gegen Gott Gestalt gewinnen soll (vgl. dazu den Exkurs 3, S. 538f.) 4 4 . 82

So kann man im Blick auf das Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinde bei den interpersonalen Theologen sagen, was Niebuhr in bezug auf die Mehrzahl der amerikanischen Theologen überhaupt feststellt: „ D i e Gemeinschaft, in der sie arbeiten, ist die Kirche; die Ziele, die sie verfolgen, sind die Ziele der Kirche" (S. 9).*

Das Problem des Verhältnisses der Gemeinde zur Umwelt besteht nach Niebuhr nicht darin, ob die Gemeinde die Struktur der Umwelt widerspiegeln darf oder nicht, sondern ob sie innerhalb dieser Strukturen im Glauben vor Gott steht oder nicht 45 . Dieser Hinweis von Niebuhr kann Ansatz und Intention der interpersonalen Theologen verdeutlichen. Sie fragen nicht nach einem zeitlosen Wesen der Kirche, sondern ihre Fragestellung ist gekennzeichnet durch einen geschichtlichen Standort, der bestimmte gesellschaftliche und wissenschaftliche Perspektiven impliziert. Wie die persönliche Antwort des einzelnen Gemeindegliedes zum „Wesen der Kirche" hinzugehört, so gehören auch die jeweiligen besonderen Fragestellungen der Zeit und Umgebung konstitutiv zu einer „Theorie von der Kirche" (vgl. Grimes, S. 13ÎF.). So erwächst aus der Konfrontation der neutestamentlichen Vorstellungen von der Gemeinde und der Fragestellung der Gruppendynamik eine geschichtlich-konkrete Ekklesiologie, die sich als Antwort des Glaubens auf das Wirken Gottes in einer bestimmten Situation versteht.

b) Empirische Anthropologie und theologische Reflexion Es ist in einer Darstellung des Ansatzes der interpersonalen Theologen nötig, die Ekklesiologie vor der Anthropologie abzuhandeln, weil ihre anthropologischen Kategorien sonst im Sinne eines philosophischen Vorverständnisses mißverstanden werden könnten. Für die interpersonalen Theologen ist charakteristisch, daß sie bewußt die Gemeindewirklichkeit als Standort ihrer Reflexion wählen und fast alle, abgesehen von wenigen liberalen Vertretern, betonen, daß sie vom Innern der christlichen Gemeinde und des christlichen Glaubens her denken und verstanden werden müßten: „ D i e neue Theorie christlicher Erziehung muß zu ihrem Thema von innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition

kommen, nicht von außerhalb.

Genauer gesagt, sie muß ihre Inspiration aus dem besonderen Charakter der christlichen Gemeinde und des christlichen Glaubens erhalten, anstatt aus irgendeiner Form der säkularen Gesellschaft oder säkularen Erziehung4'."*

83

Auch dort, wo sie sich der Begrifflichkeit der Wissenschaften vom Menschen bedienen, ist ihr Denken ekklesiologisch orientiert. Deutlich grenzen sie sich von einem säkularisierten Verständnis des christlichen Glaubens ab und betonen seinen Anspruch auf alles umfassende Totalität 47 . So ist ihr jeweiliges Verständnis von Kirche als implizite oder explizite Prämisse ihrer Reflexion von entscheidender Bedeutung. Die Entfaltung der Grundzüge ihres Kirchenbegriffes im vorigen Kapitel sollte diese Voraussetzung ihres Denkens aufzeigen und somit eine Interpretation vom Standort, das ist eine Interpretation von innen her, ermöglichen. Die Intention ihrer Anthropologie könnte man so beschreiben, daß sie Versuch einer Hermeneutik der Ekklesiologie ist. Die Aufnahme der Gruppendynamik erfolgt auf der Grundlage der Ekklesiologie hauptsächlich in vier Richtungen : Die erste Gruppe versucht, die Bedeutung des theoretischen Ansatzes der Gruppendynamik theologisch zu fassen und zu interpretieren. Ihr besonderes AnHegen dabei ist die Entfaltung der Ekklesiologie in einer Weise, daß die „Welt" verstehen kann, daß es um ihre eigene Wirklichkeit geht. Typisch für diese Gruppe sind Sherrill und R. C. Miller. Die zweite Gruppe benutzt die von dem theoretischen Ansatz der Gruppendynamik her gewonnenen Kategorien im theologischen Denken, hauptsächlich in der Entfaltung des Kirchenbegriffes, ohne über den Ansatz selbst zu reflektieren. Sie bringen darum auch meist keine ausgeführte Anthropologie. Typisch für diese Richtung sind Grimes und Clemmons. Der dritten Gruppe geht es um den Einbau einer gruppendynamischen Methodologie in eine vorgegebene Theologie fundamentalistischer Art oder in einen vorgegebenen kirchlichen Rahmen. Ihr durchgehender Bezug ist zwar die Gemeindewirklichkeit, charakteristisch für sie ist aber die Unverbundenheit, in welcher theologische und sozialwissenschaftliche Begriffe gebraucht werden. Typisch für sie sind Paul Miller und Douglass. Die vierte Gruppe bemüht sich um die Aufdeckung einer „religiösen Dimension" des profanen Lebens. Sie legt dabei die gruppendynamische Philosophie zugrunde. Typisch für sie sind Chave und Elliott 48 . Es lassen sich selbstverständlich die interpersonalen Theologen nicht alle ohne Schwierigkeit nur einer der Gruppen zuordnen, da die Grenzen oft fließend sind, aber die Herausstellung der Hauptrichtungen ihrer Reflexion zeigt, daß sie einerseits an der ganzen Breite der theologischen Diskussion teilhaben, andererseits aber nicht in die Alternative zwischen fundamentalistischer und liberaler Theologie einzuordnen sind49. Während sie dem Liberalismus gegenüber die Einzigartigkeit des christlichen 84

Glaubens betonen, werfen sie der Orthodoxie vor, daß sie zu statisch und nicht dynamisch genug, zu intellektualistisch und zu wenig existentiellpragmatisch, zu mechanistisch und zu wenig ganzheitlich denke. Demgegenüber betonen sie die Priorität des Geschehens gegenüber dem Wort, des Glaubens gegenüber der Lehre, und doch fordern sie gerade wegen des rechten Glaubensvollzuges eine Intensivierung theologischer Reflexion50. Die meisten interpersonalen Theologen gehören den beiden ersten Gruppen an, von denen man vielleicht sagen kann, daß sie eine Bewegung darstellen, die von einem neuen Verständnis der Ekklesiologie her einen Beitrag zur Uberwindung der Alternative zwischen theologischem Fundamentalismus und Liberalismus, wie auch der denominationellen Schranken, zu geben versucht. Die dritte Gruppe, welcher hauptsächlich die Fundamentalisten und die ausgesprochenen Pragmatiker zuzurechnen sind, ist wesentlich größer als die vierte Gruppe, die nur wenige liberale Vertreter enthält. Mit Ausnahme der vierten Gruppe geht es den interpersonalen Theologen in ihrer Anthropologie nicht um eine religiöse Rechtfertigung des demokratischen Menschen- und Gesellschaftsbildes, sondern um Ekklesiologie in den Kategorien der Umwelt. Ihr Denken kreist um zwei Pole: um das Geheimnis der christlichen Gemeinde einerseits und den konkreten geschichtlichen Menschen andererseits. Wenn sie danach fragen, wie der Mensch heute vor Gott steht, so haben sie gleichzeitig den konkreten Menschen in der Gemeinde und in der Welt vor Augen, verbunden durch ihre gemeinsame Situation. Diese Gleichzeitigkeit findet in der Anthropologie Sherrills den besten Ausdruck. Er ist auch derjenige unter den interpersonalen Theologen, welcher den anthropologischen Fragen den breitesten Raum widmet. Sein anthropologischer Ansatz muß uns hier vor allem interessieren, da er den Versuch einer theologischen Interpretation der Situation des Menschen unternimmt, wie sie in den empirischen Wissenschaften zur Darstellung kommt. Seine Problemstellung und seine Begrifflichkeit sind besonders von der Gruppendynamik („psychology of interaction") und in diesem Zusammenhang von der Frage nach der personalen Wirklichkeit („seif psychology") bestimmt. Sherrill entfaltet seine Anthropologie als Frage nach dem heutigen Menschen vom Evangelium her (Einleitung, S. IXf. und S. i ff.). Dabei wendet er sich gleichzeitig an den Christen und Nicht-Christen-, indem er sich auf Phänomene bezieht, auf die beide stoßen. Er versucht aufzuzeigen, wo für den heutigen Menschen die Auswirkungen seines Bruches mit Gott sichtbar werden und in welcher Richtung für ihn die Erlösung gedacht werden könnte. So analysiert er phänomenologisch die neuralgi»5

sehen Punkte des menschlichen Lebens heute, und zwar in der Weise, daß sie für den Christen vom Evangelium her transparent werden. Was gemeint ist, ist im eigentlichen Sinne nur vom Evangelium her zu fassen. Der Mensch, der die Aussagen nicht vom christlichen Glauben her, also von innerhalb, zu Gesicht bekommt, weiß wohl, was gemeint ist, er weiß aber nicht, was sich in dem Gemeinten eigentlich für ihn entscheidet, weil sich dieses erst vom Glauben her für ihn erschließen kann. Man kann den Eindruck gewinnen, daß Sherrill über weite Strecken psychologisch argumentiert. Er spricht in derselben Weise wie seine U m welt und gebraucht dieselben Begriffe. Doch merkt man bei näherem Zuhören, daß er vom Evangelium redet, nicht erst in den Randbemerkungen seiner Anthropologie, in denen er theologische Begriffe aufnimmt, die als Orientierungshilfe für den Fachtheologen gedacht sind 51 . Die Sprache ist gleichzeitig Verhüllung und Offenbarung - ob sie sich nun dogmatischer oder anderer Begrifflichkeit bedient. Ein Wechsel in der Begrifflichkeit meint keinen Wechsel in der Sache. Die Art der Rede läßt sich vielleicht am besten von der Redeform der Gleichnisse im Neuen Testament her begreifen, von der es heißt: Sie sehen und sehen nicht; sie hören und hören nicht (Matth. 13, 13 f f ) . In ihnen wird der Mensch mit seiner eigenen Wirklichkeit konfrontiert, aber so, daß in dieser gleichzeitig von der Wirklichkeit Gottes die Rede ist. Sherrill ist von dem Bemühen geleitet, die in der Offenbarung in die Welt getretene Wirklichkeit Gottes dem Menschen in seiner gegenwärtigen Wirklichkeit aufzuzeigen und verständlich zu machen. Er bezeichnet als seine Grundüberzeugung den wechselseitigen Zusammenhang von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, der sowohl für das Verstehen entscheidend ist als auch für den Vollzug: Je mehr der Mensch seine eigene Wirklichkeit erkennt, um so mehr kann er hineinholen in seine Beziehung zu Gott, wie umgekehrt erst die Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes dem Menschen die Fülle seiner eigenen Wirklichkeit schenkt52. Die menschliche Wirklichkeit erscheint als eine transzendierende, als eine zu Gott hin geöffnete, oder besser noch, als eine von Gott her geöffnete (S. 9ff.). Daß Sherrill unter dem Begriff „Transzendieren" nicht einfach die Wirklichkeit Gottes in der Verlängerung menschlicher Wirklichkeit versteht, geht aus seiner gesamten theologischen Konzeption hervor, aber auch aus seiner Interpretation der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (S. ioff. und 23). Er sieht einen Aspekt derselben darin gegeben, daß der Mensch gleichzeitig Geistwesen und physisches Wesen ist. Der Geist oder das „Selbst" des Menschen (s. u. S. 91 f.) ist in der Natur und der Natur unterworfen und doch nicht von der Natur. Von hierher kann der Mensch verstehen, daß Gott wohl inmitten der mensch86

liehen Wirklichkeit ist, ohne doch mit ihr identisch zu sein, daß er unaussprechlich weit außerhalb ihrer steht, aber doch nicht durch absolute Andersheit von ihr getrennt ist: „ . . . das menschliche Selbst . . . muß einem anderen Selbst begegnen, das innerhalb und doch jenseits des menschlichen Selbst ist. Indem der Mensch in dieser Begegnung Gottes gewiß wird (affirming), wird er nicht nur eines anderen gewiß. Er wird auch zugleich des tiefsten Geheimnisses gewiß, das er selbst ist. Er wird seines Lebens gewiß, aber es ist sein ewiges Leben, dessen er gewiß wird" (S. 58).* S o offenbart sich Gott dem Menschen in seiner Wirklichkeit als ein solcher, der nicht von dieser Wirklichkeit ist. Offenbarung meint nicht Information über Gott, sondern ein Geschehen, in wclchem der wirkliche Gott dem wirklichen Menschen entgegentritt. Dieses Geschehen kennzeichnet Sherrill wie die meisten interpersonalen Theologen mit den Begriffen Konfrontation („confrontation"), Begegnung („encounter"), Zusammentreffen („meeting"), Kommunikation („communication"): „Offenbarung findet statt in der Begegnung zwischen Gott als Person und dem Menschen als einer Person. Offenbarung meint nicht Information über Gott, sondern das Geschehen, das sich in der Begegnung zwischen Gott als Selbst und dem Menschen als einem Selbst vollzieht 5 3 ."* D e r eigentliche Kern des Offenbarungsgeschehens ist eine personale Kommunikation, in welcher sich Gott als Person dem Menschen in seiner erlösenden Liebe öffnet und der Mensch diese Selbsthingabe Gottes im Glauben wahrnimmt und ihr antwortet 5 4 . Als Bewegung von Gott her zum Menschen hin schließt das Offenbarungsgeschehen die W a h r nehmung des Menschen ein. D e r B e g r i f f „ W a h r n e h m u n g " wird von Sherrill nicht im Sinne griechischer Wesensschau, aber auch nicht als einfaches „ S e h e n " oder „ H ö r e n " interpretiert, sondern in Entsprechung zur Gestaltpsychologie als ein ganzheitliches Erkennen des Menschen in den geschichtlichen Bezügen seines Gesamtfeldes, auf die das Licht der Offenbarung fällt 5 5 . Die Selbsthingabe Gottes in der Begegnung mit dem Menschen bezieht sich immer auf die konkrete existentielle Situation, in welcher der Mensch sich gegenwärtig vorfindet. Sherrill interpretiert die existentielle Situation des Menschen durch den B e g r i f f der „ N o t " (need) und kann dementsprechend sagen: „Die Relevanz der Offenbarung liegt in der Tatsache, daß sie die Not des Menschen trifft . . . Es ist nicht eine Offenbarung in einem Vakuum. Es ist eine Enthüllung von Gott her, welche der Not im konkreten Selbst des Menschen entspricht" (S. 105).*

87

In der Konfrontation mit Gott im Geschehen der Offenbarung erkennt der Mensch die Tiefe seiner N o t ünd findet gleichzeitig Heilung 5 6 . Sherrill unterscheidet deshalb zwischen der fundamentalen Existenznot des Menschen („predicament"), die in seiner Selbstentfremdung und Existenzangst begründet ist, und den einzelnen konkreten Problemen und Nöten („problems" und „needs"), die jeweils Symptome und besondere Ausdrucksformen der fundamentalen N o t des Menschen sind (S. io6ff.). Die Offenbarung bezieht sich auf diese Grundsituation des Menschen in der Angst und schenkt ihm die Gewißheit, daß Gottes Liebe diese Angst überwinden kann. D e r Angst in der Mitte der menschlichen Existenz zugrunde liegt die Bedrohung des Menschen durch dämonische, zerstörende Kräfte (S. H 2 f f ) . Die einzelnen T h e m e n der Offenbarung, wie sie die Bibel bezeugt, entsprechen jeweils besonderen Formen der B e drohung des Menschen und der damit verbundenen Angst 5 7 .

Der

Mensch findet nur Befreiung aus dieser Situation, wenn er mit dem in der biblischen Offenbarung sich bezeugenden Gott in ein Gespräch eintritt. Sherrill nennt die Bibel ein „lebendiges D o k u m e n t " , weil sie die Entsprechung

zwischen

göttlicher

Offenbarung

und

immerwährender

menschlicher N o t bezeugt und somit Fragen und Antworten enthält, welche für jede Generation neu über T o d und Leben entscheiden. Ihr Ziel ist, den Menschen in die Begegnung mit Gott hineinzuführen und somit ein wechselseitiges personales Verhältnis zwischen Gott

und

Mensch zu begründen, welches am besten mit den Begriffen „ R u f " und „ A n t w o r t " zu charakterisieren ist (S. 105). Sherrill bezeichnet die Entsprechung zwischen göttlicher Selbstoffenbarung und menschlicher Situation als Prinzip der Korrespondenz

(„prin-

cipie of correspondence") 5 8 . Er betont, daß sein B e g r i f f der Korrespondenz i m Gegensatz zur Theologie von Paul Tillich und dessen „Methode der Korrelation" einen radikalen Personalismus des wechselseitigen V e r hältnisses zwischen Gott und Mensch meine, den er für ein notwendiges Wesensmerkmal des christlichen Glaubens hält 5 9 . In diesem wechselseitigen Verhältnis kann sowohl Gott

als auch der Mensch beides

sein: Rufender und Antwortender. D e r Ruf kann von Gott zum M e n schen hin geschehen oder v o m Menschen zu Gott hin, ebenso die Antwort: „Dieses Prinzip weist auf eine personale Wechselwirkung hin, welche höchst einfach umschrieben wird durch Begriffe wie ,Ruf' und .Antwort'. Der Ruf ergeht entweder von Gott zum Menschen oder vom Menschen zu Gott. So ist es auch mit der Antwort; sie ergeht entweder von Gott zum Menschen oder vom Menschen zu Gott" (S. 105).* 88

Es ist darum letztlich gleichgültig, ob der Mensch von der Bibel ausgeht und ins Leben hineinfragt oder umgekehrt von seinen unmittelbaren Problemen und Nöten her die Bibel befragt 60 . Das Entscheidende ist die persönliche Begegnung mit Gott selbst, in welcher der Mensch seine Not neu verstehen lernt und Hilfe erfährt (S. n 6 f . ) . Trotz der etwas verallgemeinernden, abstrahierenden Form, in welcher Sherrill die Themen der Bibel und ihre Beziehung zu den Nöten des Menschen abhandelt61, ist doch unverkennbar, daß er in seinen anthropologischen Reflexionen unablässig den Menschen von heute in seiner konkreten Not vor Augen hat, daß sie gleichzeitig Phänomenologie der Situation des heutigen Menschen sind und ihre Interpretation vom Evangelium her 62 . U m ihn recht zu verstehen, müssen wir den Bezugsrahmen seines Denkens mitsehen, den er in der Einleitung in den drei Fragen seines Buches zum Ausdruck bringt: 1. Worin hegt die Not des heutigen Menschen? 2. Welche Bedeutung hat der christliche Glaube für diese Not ? 3. Wie muß eine christliche Erziehung aussehen, die dem Menschen in dieser Not helfen will (S. X)? Insofern die Selbstoffenbarung Gottes dem Menschen die Tiefe seiner Not als Existenznot bewußt macht, ist das Nachdenken über die Art dieser Not Aufgabe der Theologie. Sie kann diese Aufgabe aber nur erfüllen in Zusammenarbeit mit den empirischen Wissenschaften, welche die jeweilige konkrete Not des Menschen analysieren. Ohne diesen Bezug zur konkreten Analyse der Situation des Menschen kann die Theologie die Relevanz der Offenbarung für die gegenwärtige Not des Menschen nicht aufzeigen 63 . Es ist demnach nicht die Intention Sherrills, eine Lehre vom Menschen „an sich" zu entwickeln. Seine allgemeinen Reflexionen sind stets als Durchgang zu begreifen zur Anrede des Menschen von heute. Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens kann nur zur Sprache gebracht werden in Gestalt der eigenen Wirklichkeit 64 . Indem die empirische Anthropologie phänomenologisch die Situation des Menschen zu analysieren versucht, in welcher er sich heute vorfindet, sagt sie auch gleichzeitig etwas aus über den Menschen in ihr. Beides liegt ineinander und ist doch nicht miteinander identisch (Sherrill, S. 25 und 35ff.). Die Theologie ist für Sherrill nicht nur Verallgemeinerung von ursprünglichen Erfahrungen, enthält nicht nur viele Voraussetzungen, die nicht einfach von der Bibel abzuleiten sind, sondern ist auch in ihren Verallgemeinerungen ständigem Wandel unterworfen. Sie enthält Vorschläge im Blick darauf, wie wir das Ereignis der Offenbarung und seine Bezeugung in der Bibel sehen können 65 . Ihre Bedeutung liegt darin, daß 89

sie den Bezugsrahmen unseres Denkens aufzeigt, innerhalb dessen wir die Offenbarung heute verstehen und auf sie antworten können. Sie öffnet und verschließt Wege zum Fragen nach der Offenbarung, zum Hören und Antworten. Darum hat sie determinierende Wirkung in der christlichen Gemeinde (S. 68). Es geht in ihr demnach um die Weise, in welcher sich der gegenwärtige Mensch vor Gott gestellt sieht und versteht 66 . So will auch die Anthropologie von Sherrill nicht allgemeine Wahrheiten über den Menschen bringen, sondern eine Durchleuchtung seiner gegenwärtigen Wirklichkeit vom Evangelium her. Auch was er über Sünde, Erlösung, Gemeinde usw. sagt, ist auf diesen konkreten Rahmen des Menschseins heute bezogen. Seine Anthropologie, wie auch die Anthropologie der anderen interpersonalen Theologen, ist aus dem Selbstverständnis einer Gemeinde gewonnen, die sich in einer bestimmten geschichtlich-sozialen Situation im Glauben und in der Diakonia für die Welt unterwegs weiß und sich durch den Glauben dazu befreit weiß, an einem konkreten geschichtlichen Ort in der Solidarität mit der Not des Menschen von heute vor Gott zu treten. Darum kann die Anthropologie auch nicht als Ableitung von theologischen Prämissen verstanden werden - sonst wäre sie Ausdruck einer unzulässigen Objektivierung - , sondern sie steht innerhalb der Theologie und bedeutet, daß der Theologe auch unter dem Evangelium nur als heutiger Mensch in der Solidarität mit der Situation des Menschseins in der Gegenwart fragen kann 67 . Somit ist die Frage selbst geschichtlich. Dieser Bezug zum konkreten geschichtlichen Menschen wird etwa deutlich ausgesprochen in der Definition der Theologie bei R. C. Miller. Er beschreibt Theologie als „die Wahrheit-über-Gott-in-Beziehung-zum-Menschen; das heißt, daß wir Gott in der Geschichte, in unserer eigenen Generation und vor allem in unseren täglichen Beziehungen am W e r k entdecken" (Biblical Theology, S. 60).*

Die Anthropologie der interpersonalen Theologen ist nicht als erkenntnistheoretischer Schlüssel zur Offenbarung zu verstehen, sondern möchte wichtige Aspekte der biblischen Offenbarung in ein neues Licht stellen und so interpretieren, daß sich der Mensch in seiner eigenen Wirklichkeit vor Gott gestellt sieht. Dazu nehmen sie das Gespräch mit der Gruppendynamik als einer Wissenschaft auf, welche gegenwärtige menschliche Wirklichkeit unter soziologischen, psychologischen und pädagogischen Aspekten zu erforschen versucht 68 . Der gemeinsame Bezugspunkt empirischer Anthropologie und theologischer Reflexion ist der konkrete Mensch der Gegenwart in seiner personalen und sozialen Situation. 90

c) Das Verhältnis von Anthropologie und Ekklesiologie Die interpersonalen Theologen sehen in der gegenwärtigen Situation die Frage nach der Ganzheit und Integrität der Person als entscheidende anthropologische Fragestellung an69. In Übereinstimmung mit der Gruppendynamik geht es ihnen um den ganzen Menschen in dem ganzen Feld seiner Lebensbezüge. Das impliziert für sie die Bemühung, die theologische Bedeutung des Ganzheitsaspektes im Blick auf Gemeinde, kirchliche Pädagogik und Pfarramt zu entfalten (Sherrill, S. X f.). Die Frage nach der Ganzheit meint die personale Wirklichkeit des Menschen. Sherrill bezeichnet den Menschen in seiner Ganzheit als „human seif as a whole" oder „total seif" (S. IXf.), R. C. Miller spricht von „total personality" (Education, S. Ii). Kennzeichnend für dieses Selbst ist, daß es Leben hat und ein lebendiger Leib ist, daß es sich von innen her determiniert in seinen Reaktionen zu Menschen und Sachen der Umwelt („self-determination") und demnach ein zwischen „ j a " und „nein" wählendes Wesen ist (Sherrill, S. 2fF.), daß es seiner selber als einer Wirklichkeit gewiß ist („self-consciousness"), daß es sich selbst transzendiert („self-transcendence"), indem es sich selbst gegenübertreten und sich betrachten70, sich selbst anklagen und entschuldigen kann, daß es somit seinem Wesen nach geistiger und moralischer Art, „Persönlichkeit" und „Charakter" ist, fähig der schöpferischen Tätigkeit und des Wachstums, daß es eine unfaßbare und einzigartige Einheit ist 71 . Das eigentliche Zentrum des Selbst ist die Identität des Menschen mit sich selber, die Gewißheit seiner selber oder die Integrität des Selbst: sie meint nichts anderes als dieses, daß der Mensch in dem, was er denkt und tut, wirklich er selbst ist und in Übereinstimmung zwischen dem, was er heimlich und öffentlich ist, leben kann (S. 22). Ross Snyder kann darum für den Begriff „Selbst" einfach den Begriff" „Integrität" setzen und will damit sagen, daß der Mensch sich mit dem identifiziert, was er im Innersten intendiert72, und über sein Handeln aus seiner eigenen Wahrnehmung heraus entscheiden kann im Gegensatz zu einer Steuerung von außen73. Dementsprechend interpretiert R. C. Miller die personale Wirklichkeit des Menschen als „wholeness of intent" oder „integration": daß der Mensch sein Verhalten ungeteilt aus der Ganzheit seiner eigentlichen Intention bestimmen kann (Education, S. 11). Theologisch gesprochen meint das Selbst die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die es ihm ermöglicht, Gott zu antworten und diese Antwort aus der Identität mit sich selber zu geben (Sherrill, S. 23 f.). Das Selbst kann nur in einem ständigen Vollzug der angezeigten Fähigkeiten leben. Es ist gleichzeitig ein Seiendes und ein Werdendes (Sherrill, 9i

S. 14). Nur so kann es seine Ganzheit, das ist seine Gesundheit, erhalten. Doch ist seine Entwicklung von allen Seiten bedroht. Der Mensch ist in ständiger Gefahr, eine oder mehrere Fähigkeiten und damit sich selbst zu verlieren (S. 27 ff.). Besonders gefährdet ist er dann, wenn er sich von sich selber und seinem eigenen Zustand ein falsches Bild macht. Die Verwirklichung der Integrität des Selbst ist nur möglich, wenn der Mensch die Freiheit zum Nein hat und sie gegenüber allen Gefahren der Selbst-Entfremdung durch äußere Mächte zum Schutz seiner Integrität vollziehen kann (Sherrill, S. 6). Andererseits aber kann der Mensch die Integrität seines Selbst nicht in der Individualität einer schrankenlosen Freiheit verwirklichen, sondern nur in der Gemeinschaft mit anderen Ganzheiten74. Die Bedeutung der Gemeinschaft („Community") für den Menschen besteht darin, daß sich in seinen Beziehungen zu anderen und durch sie sein Selbst und die Struktur seines Charakters gemäß den in ihm hegenden Möglichkeiten entwickeln und formen. Darum ist der Ort, an dem der Mensch zu einem Selbst oder zu einer Person wird, die Gruppe von Personen, die in Beziehung zueinander stehen (R. C. Miller, a.a.O., S. 66). Zur Begründung dieses „sozialen" Aspektes der menschlichen Wirklichkeit weisen die interpersonalen Theologen hauptsächlich auf die Ergebnisse der psychologischen Forschung, speziell der Gruppendynamik, und auf Martin Bubers Philosophie der Ich-Du-Beziehung hin 75 . Man kann sagen, daß sie die gruppendynamische Theorie vom Ich-Wir-Verhältnis durch die Kategorie der personalen Begegnung von Ich und Du interpretieren: wenn die Beziehungen in einer Gruppe wirklich das Personwerden des Menschen ermöglichen sollen, setzen sie voraus, daß man sich gegenseitig in seinem Personsein respektiert und seine tiefsten personalen Intentionen miteinander teilt76. Umgekehrt stellen die interpersonalen Theologen die Begegnung von Ich und Du in den umfassenden Rahmen sozialer Bezüge hinein, wie er von der Gruppendynamik empirisch erforscht wird. Die Begriffe „Gemeinschaft" oder „Gruppe" werden von ihnen definiert als Feld interpersonaler Beziehungen und Wechselwirkungen (vgl. Sherrill, S. 44ff.). Die Beziehung zu einem anderen meint die Beziehung zwischen zwei „Ganzheiten", die wechselseitigen Einfluß aufeinander haben. Das Feld zwischen ihnen ist ein dynamisches Feld, da sich durch die Beziehungen hindurch ein wechselseitiger Einfluß durch Anziehen, Neutralsein oder Abstoßen vollzieht. Dieser Einfluß aufeinander kann entweder aufbauenden oder zerstörenden Charakter haben. Die Art von wechselseitigen Beziehungen kommt in dem Vollzug der Wechselwirkungen in den Handlungen zum Ausdruck. Je mehr Personen unter92

einander in Wechselwirkung stehen, um so komplizierter wird das „dynamische Feld". Es wird ein verwickeltes Netzwerk vieler sich kreuzender Beziehungen zwischen jeder Person zu jeder Person, zwischen einer Person zu einer anderen über eine dritte, zwischen Person und Gruppe, Gruppe und Person (S. 45). Dabei versteht Sherrill auch die Gruppe als eine Ganzheit oder Gestalt. Diese Ganzheit ist das „Kräftefeld", in welchem die einzelnen Individuen in einem Beziehungsgeflecht untereinander stehen, ohne ineinander aufzugehen: „ . . . eine Gruppe v o n Personen bildet auch eine Gestalt. Sie stellen ein .Kräftefeld' dar, in d e m die Teile, das ist, die individuellen Personen, in einer komplexen Beziehung zueinander stehen" (S. 1 5 5 ) . *

Bei Snyder ist die Gruppe beispielsweise ein Kräftefeld, in welchem die Intentionen und Wahrnehmungen der Individuen geweckt, kommuniziert und zu einer strukturierten Ganzheit verflochten werden 77 . Sherrill unterscheidet zwei dynamische Felder: die Kräfte der Beziehung des Menschen zu sich selbst als einer Ganzheit („the dynamics of intrapsychic forces") und die Kräfte in den Beziehungen des Selbst zu anderen Ganzheiten („dynamics of interpersonal relationships"). Beide dynamische Felder, das interpsychische und das interpersonale, stehen untereinander in Wechselwirkung und können nur zum Zweck der Analyse, nicht aber in Wirklichkeit voneinander getrennt werden. Beide Prozesse sind von der gleichen Wichtigkeit für den Menschen. Aber es hat den Anschein, daß das Kräftefeld der interpersonalen Beziehungen mit seiner Wirkung und Prägung in der frühesten Kindheit des Menschen eher und stärker einsetzt als das interpsychische Kräftefeld. Der Prozeß der Entwicklung und Formung des Selbst ist gekennzeichnet durch seinen Weg durch die verschiedenen Gruppen und die besondere Struktur ihres dynamischen Feldes78. Das Charakteristische beider Prozesse im Kräftefeld des Selbst und im Kräftefeld des Beziehungsnetzes mit anderen ist das „Miteinander-in-Beziehung-Treten" und das „Auseinandertreten" bzw. das „Einander-Abstoßen" der verschiedenen Faktoren des Prozesses. Sie sind die beiden hauptsächlichen dynamischen Elemente in dem Prozeß des Werdens eines Selbst und einer Gemeinschaft als Ganzheiten (S. i 7 f f . ) . Der Prozeß im Menschen und in der Gemeinschaft ist darauf ausgerichtet, beide dynamische Elemente im rechten Gleichgewicht zu halten, weil sich sonst Mensch und Gemeinschaft nicht entfalten können 79 . Für den Menschen bedeutet das, daß er dann nicht richtig Mensch, für die Gemeinschaft, daß sie nicht wahrhaft Personengemeinschaft sein kann (Sherrill, S. 18). Die Freiheit zum Vollzug der eigenen Integrität meint 93

gleichzeitig die Freiheit des anderen zum Vollzug seiner Integrität. In dieser wechselseitigen Abhängigkeit sind dem Menschen und

Mit-

menschen seine Grenzen gesetzt. N u r so ist echte B e g e g n u n g zwischen ihnen in echter Gemeinschaft und gleichzeitig die rechte Beziehung des Menschen zu sich selbst möglich. D e m Menschen droht also v o n zwei Seiten her die Gefahr einer Unterminierung seines „ S e l b s t " : v o n einer unbegrenzten Freiheit her, in welcher der Mcnsch sich selbst und den Mitmenschen völlig verlieren würde, und von einem Z w a n g her, der zur Unterdrückung und Abtötung aller Lebensäußerungen des Selbst führen müßte. D i e Bedrohung des Menschen zeigt sich darin, daß in beiden Fällen ein echtes „ N e i n " des Menschen unmöglich ist (Sherrill, S. 6). D e r Mensch darf weder in der Gemeinschaft aufgehen, noch kann er sich v o n der Gemeinschaft isolieren. E r ist mit beiden Fähigkeiten begabt: Zusammensein und getrenntsein zu können. W e n n eine der beiden Fähigkeiten verkümmert, dann verkümmert auch gleichzeitig sein Selbst, entweder in dem Gefängnis einer unerlösten Gemeinschaft oder in der Isolierung v o m Leben (S. lyfF.). D e r Mensch sucht in den Gruppen Beziehungen, die sein Selbst aufbauen und stärken, aber er w i r d auch immer wieder durch ihre zerstörenden K r ä f t e bedroht (Sherrill, S. 48). Dieselbe Gemeinschaft, derer er zur Entfaltung seines Selbst bedarf, enthält gleichzeitig dämonische Mächte, die sein Selbst zerstören. W e n n die zerstörenden K r ä f t e in der Gemeinschaft überhandnehmen, w i r d sie zu einer tiefen Bedrohung f ü r den Menschen, der auf sie angewiesen ist (S. 1 1 3 f.). Daß der Mensch in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu einem Selbst w i r d , setzt voraus, daß die interpersonalen Beziehungen sicher und heil sind. W e n n der Mensch seinen Mitmenschen nicht vertrauen kann und v o n ihnen nicht so angenommen w i r d , w i e er ist, vollzieht sich an Stelle der Integration eine Desintegration und Spaltung seiner Person (R. C . Miller, Education, S. 55). Das D i l e m m a des Menschen besteht darin, daß er w o h l durch seine menschliche Existenz mit Fähigkeiten ausgestattet ist, ein Selbst zu sein, daß aber gleichzeitig durch dieselbe menschliche Existenz die Entfaltung dieser Fähigkeiten verhindert w i r d (Sherrill, S. 4 1 ) . D i e tiefe Zerspaltenheit seines Selbst ist die geheime Ursache seiner Existenzangst (S. 32fF.; s. o. S. 87f.). Aus diesem D i l e m m a gibt es v o m M e n schen her keinen A u s w e g , weil alle menschlichen Beziehungen durch Angst, Mißtrauen, Enttäuschung, Haß zerbrochen sind, so daß keine menschliche Gruppe aus sich selbst heraus die K r a f t hat, eine personale Integration zu ermöglichen (Sherrill, S. 1 1 3 ; Miller, Biblical, S. 17). D a ß es diese K r a f t dennoch gibt, inmitten der menschlichen Wirklich-

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keit, wenn auch nicht von ihr, ist das Geheimnis der christlichen Gemeinde. Zwar ist die christliche Gemeinde wie jede andere menschliche Gruppe ein Kräftefeld interpersonaler Beziehungen und Wechselwirkungen, aber ihr besonderes Kennzeichen besteht darin, daß sie nicht nur durch mitmenschliche Beziehungen, sondern zugleich durch die Gottesbeziehung bestimmt wird 80 . Die interpersonalen Theologen können darum die Gemeinde als „geistliches Kraftfeld" bezeichnen (vgl. Clemmons, Dynamics, S. 27). Für Sherrill ist die Gemeinde ihrem Wesen nach Offcnbarungsgemeinschaft („revelatory fellowship", S, 78). Im Unterschied zu allen anderen Gruppen ist sie der Ort, w o Gott dem Menschen begegnet. Im Alten Testament steht für diesen Tatbestand der Begriff „Bund", im Neuen Testament der Begriff „koinonia". Die koinonia verwirklicht sich als Beteiligung („sharing"), Teilnahme („participating in"), Kommunikation („the State of being in communication"): die gemeinsame Teilhabe an der Offenbarung Gottes ist für die Gemeinde konstitutiv 81 . Sie hat ihren Ursprung in der Offenbarung als einer personalen Kommunikation zwischen Gott und Mensch, die durch die Wechselbeziehungen in der Gemeinde vermittelt wird. Gott selbst ist durch seinen Geist in dem Prozeß der Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen in der Gemeinde gegenwärtig: „ D i e koinonia ist eine Art Gemeinschaft, welche die gewöhnliche menschliche Gemeinschaft dahin transzendiert, daß Gott in der Gemeinde gegenwärtig ist und an ihr teilhat. Denn es ist das Kennzeichen der koinoma, daß der Geist Gottes in alle Beziehungen der Gemeinde hineinkommt und in ihnen anwesend ist" (S. 50).*

Das Besondere der christlichen Gemeinde kann deshalb so ausgedrückt werden, daß alle Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen an der Gottesbeziehung partizipieren und daß Gott darin an der Gemeinde und die Gemeinde an Gott teilhat: „Jede Beziehung in der christlichen Gemeinde hat teil an Gott und Gott an ihr, sei es die Beziehung von Person zu Person, von einer Person zu allen oder von allen zu einer. Auch die ganze Gemeinde hat in ihrer Ganzheit teil an Gott und Gott an ihr. So ist die koinonia ihrem Wesen nach eine Gemeinschaft, welcher der Geist zutiefst innewohnt" (S. 50).*

Indem Gott sich in der Gemeinde offenbart und in seiner Gnade an ihr teilhat, wird in dem Prozeß der Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen Gottes Leben selbst vermittelt. Dabei wird der natürliche Prozeß der Wechselwirkungen nicht beseitigt, aber in ihm wirkt Gottes 95

richtende, erlösende und neuschaffende Kraft und gestaltet diesen Prozeß um, indem sie die aufbauenden Kräfte stärkt und die Mächte der Zerstörung überwindet (S. 6$, 80ff.). Seine Wirksamkeit hat zum Ziel, die Beziehung des Menschen zu ihm, zu sich selber und zu den anderen Menschen wieder in Ordnung zu bringen. In der Begegnung mit Gott innerhalb der Gemeinde erfährt der Mensch, daß die Ursache des Bruches in seinen Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Menschen darin liegt, daß seine Beziehung zu Gott zerbrochen ist (Miller, Biblical, S. 10). Z u gleich erfährt er, wie Gott durch seine Gnade und Vergebung die zerbrochenen Beziehungen heilt und die Entfremdung überwindet. Die Wiederherstellung der rechten Beziehung zu Gott erschließt dem Menschen die Kraft zur Entfaltung der von der Schöpfung her in ihm liegenden Möglichkeiten (Sherrill, S. 191). Indem Gott ihm in seiner erlösenden Liebe begegnet und er dieser Liebe in der Weise antwortet, daß er sich mit der Antwort wirklich identifiziert, wird der Mensch wieder die Ganzheit, zu der ihn Gott geschaffen hat. N u r durch die Beziehung zu Gott kann der Mensch zu sich selber kommen und eine Ganzheit, das ist eine Person im eigentlichen Sinne, werden. N u r dadurch können auch seine Beziehungen zu anderen Menschen geheilt werden 82 . Andererseits aber kann der Mensch nur in der Beziehung zu anderen Personen in der Gemeinde an der Beziehung zu Gott teilhaben. Die B e gegnung mit Gott und die Begegnung mit dem Mitmenschen stehen in wechselseitigem Zusammenhang 83 . Sherrill bezeichnet deshalb die Gemeinde als „ O r t oder Gemeinschaft der weitergehenden Offenbarung" („continuing encounter" S. 9 2 , 1 4 1 ) . Es liegt im Wesen der Offenbarung als personaler Kommunikation, daß sie sich in den interpersonalen B e ziehungen der Gemeinde weiter vollzieht: „ I m allgemeinen vollzieht sich die Offenbarung an dem Ort ..., w o Gemeinschaft (fellowship) zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Gott schon existiert 84 ."*

Die Gemeindeglieder partizipieren im Gemeindeprozeß wechselseitig an ihrem Gottesverhältnis und beeinflussen einander dadurch in ihrer Antwort auf den Ruf Gottes (Sherrill, S. 89, 160). Wie Gott sich dem Menschen in seiner erlösenden Liebe erschließt, öffnen sich die Menschen in der Gemeinde einander, lassen sich gegenseitig teilnehmen an ihrer B e gegnung mit Gott und vermitteln einander darin die Liebe Gottes (Sherrill, S. 86, 1 7 2 ; R . C . Miller, Biblical, S. 33). Im Bück auf diese B e deutung der Gemeinde als Ort der erlösenden Gegenwart und Wirksamkeit Gottes sprechen viele interpersonale Theologen von der Kirche als einer „erlösenden Gemeinschaft" („redemptive Community" oder

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„redemptive fellowship") 8 5 . Grimes sieht darin den Schlüsselbegriff zur Beschreibung der Kirche, R. C . Miller die Möglichkeit einer Überwindung der denominationeilen Schranken 86 . Die christliche Gemeinde ist aber nicht aus sich selber heraus die erlösende Gemeinschaft, sondern nur der Ort, an welchem der Mensch seinem Erlöser begegnet 87 . Die Gemeinde selbst enthält wie alle anderen menschlichen Gruppen aufbauende und zerstörende Kräfte. Die geistlichen, erlösenden Mächte sind tief verflochten mit dämonischen, zerstörenden Kräften (Sherrill, S. 65 und 57). Auch in der christlichen Gemeinde werden die interpersonalen Beziehungen immer wieder durch die Sünde zerbrochen (Miller, Biblical, S. 9ff.). Aber sie ist der Ort, w o der Mensch mit seinen Ängsten und Nöten vor Gott treten, ihn anrufen und von ihm empfangen kann, gleichzeitig aber auch v o n Gott angesprochen und gefordert wird. Das Geheimnis der christlichen Gemeinde gegenüber allen anderen menschlichen Gruppen besteht darin, daß in ihr kraft der Gegenwart Gottes immer wieder die Möglichkeit der Versöhnung und Heilung vorhanden ist: „Innerhalb der Gemeinschaft, . . . welche der Leib Christi ist, erkennen die Glieder sich selbst als Sünder, die der Erlösung bedürfen, und als Glaubende, die durch Seine erhaltende Gnade gestärkt werden. Dies ist das Geheimnis der Kraft der Kirche, und es liegt in den interpersonalen Beziehungen der Glieder und in ihrer personalen Gemeinschaft mit G o t t " (R. C . Miller, Biblical, S. 12).*

Insofern die Gegenwart und Gnade Gottes der Gemeinde durch den Heiligen Geist vermittelt wird, kann die erlösende Bedeutung der christlichen Gemeinde gegenüber allen anderen menschlichen Gruppen auch so formuliert werden, daß sie eine „Gemeinschaft des Heiligen Geistes" ist 88 . Sherrill und R. C . Miller heben hervor, daß die einzigartige Kraft, die der christlichen Gemeinde geschenkt ist, in den interpersonalen Beziehungen tatsächlich wirksam ist, ohne doch mit ihnen identisch zu werden (vgl. Sherrill, S. 190ff.; Miller, Education, S. jof.). Sie wollen damit die Unverfügbarkeit und Verborgenheit des Wirkens Gottes in der Gemeinde betonen. Die Gefahr einer Auflösung der hiermit gegebenen Spannung läßt sich da erkennen, w o die Frage nach der besonderen Kraft in der Gemeinde im Rahmen einer fundamentalistischen Theologie gestellt wird, wie es bei Paul Miller der Fall ist. Im Unterschied zu Sherrill, R. C . Miller und anderen legt er den Akzent mehr auf die „heiligende" als die „erlösende" Gegenwart Gottes in der Gemeinde: Gottes eigentliches Ziel ist die Vervollkommnung des Menschen. W e n n dieses durch die christliche Gemeinde erreicht wird, haben die Gruppenkräfte ihre

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höchste Ausdrucksmöglichkeit erlangt (S. 151). Das Problem bei P. Miller besteht darin, daß eine wirklich theologische Auseinandersetzung mit der Gruppendynamik fehlt, so daß Theologie und Sozialpsychologie letztlich unverbunden nebeneinanderstehen. Er stellt jeweils die Ergebnisse der Gruppenforschung dar, um dann auf diesem Hintergrund die besonderen Faktoren der christlichen Gruppe gegenüber dem natürlichen Gruppenprozeß hervorzuheben. Auf diese Weise gerät er in das Dilemma, daß er nun auch in der Ekklesiologie phänomenologisch argumentiert89. Demgegenüber muß man sagen, daß die Mehrzahl der interpersonalen Theologen zwar die Realität der Gegenwart Gottes in der Gemeinde betont, aber andererseits darauf hinweist, daß die damit geschenkte Kraft Gegenstand der Hoffnung bleibt (vgl. Sherrill, S. 13 f.). Dieses findet z. B . darin seinen Ausdruck, wie sie die Gleichzeitigkeit und das Ineinander von Sein („being") und Werden („becoming"), Indikativ und Imperativ, sehen: die Gemeinde ist aufgerufen, zu werden, was sie von Gott her schon ist (s. u. S. ijöf.). Der einzigartige Charakter der christlichen Gemeinde wird umschrieben mit Kategorien wie spezifisch christliches Element („specifically Christian element", R. C. Miller, Biblical, S. 128), geistliche Gestalt („spiritual configuration", Ross, S. 96), neue Dimension („additional dimension", Grimes, S. 26), Plus-Element („plus-element", P. Miller, S. 171), zusätzliche Erkenntnis („plus recognition") 90 . Sherrill definiert die Besonderheit der Gemeinde durch den Begriff Selbsttranszendenz („self-transcendence"), der auch in seinen psychologischen Reflexionen eine Rolle spielt (s. o. S. 91). Die Gemeinde ist wie jede andere Gruppe den Gesetzen des sozialen Prozesses unterworfen. Aber in Entsprechung zur Fähigkeit des Menschen, sich selbst gegenüberzutreten und sich von einem anderen Standort aus zu betrachten („to stand above himself and look at himself"), hat die Gemeinde die Freiheit, über dem sozialen Prozeß zu stehen: „ D i e christliche Gemeinde ist kraft ihres eigenen Wesens in der einzigartigen Lage, eine wirkliche Gemeinschaft lebendiger Menschen zu sein und gleichzeitig fähig zu sein, sich selbst gegenüberzutreten und sich im Licht der Offenbarung und der Ewigkeit zu sehen" (S. 52; vgl. auch S. 80).*

Es ist für den theologischen Ansatz der interpersonalen Theologen charakteristisch, daß sie ihre Anthropologie in einem bestimmten Verhältnis zur Ekklesiologie entfalten: die Anthropologie verweist auf das Dilemma der menschlichen Existenz, die Ekklesiologie auf den Weg zur Erlösung. Im Blick auf die konkrete Not des gegenwärtigen Menschen fragen sie in der Solidarität mit der Welt, im Blick auf die Uberwindung dieser Not fragen sie in der Zugehörigkeit zur Gemeinde 91 . 98

d) Der pädagogische Ansatz im Verhältnis von Ekklesiologie und Anthropologie Insofern das Offenbarungsgeschehen konstitutiv ist für den Gemeindeprozeß, sind auch alle Dienste und Funktionen der Gemeinde in ihrem Wesen und der Weise ihres Vollzuges v o m Ereignis der Offenbarung betroffen (vgl. Sherrill, S. 65). Z u den wichtigsten Diensten und Funktionen der Gemeinde gehört nach Meinung der interpersonalen Theologen die Erziehung. Grimes betont, daß die Erziehung von gleicher Bedeutung sei wie die Predigt und die Verwaltung der Sakramente (S. 89). Viele der interpersonalen Theologen vertreten selbst das Fach „Religious Education" bzw. „Christian Education" 92 . Es ist jedoch bei allen eine pädagogische Theorie impliziert, insofern der Gruppenprozeß immer erzieherische Bedeutung hat und Erziehung weithin mit Gruppenführung identifiziert wird 9 3 . Clemmons spricht im Blick auf den Einfluß der Gruppendynamik auf das Erwachsenenkatechumenat in der Gemeinde von einer „neuen Ära christlicher Erwachsenenbildung" (Dynamics, S. 15). Uns interessiert in diesem Zusammenhang vorwiegend die Entfaltung des theologischen Ansatzes für die Erziehung in Aufnahme und Kritik der gruppendynamischen Pädagogik. Osborn stellt in seinem Buch „ D e r Geist des amerikanischen Christentums" L. J. Sherrill und R . C . Miller als Hauptrepräsentanten der neuen Bewegung in der Religious Education in den protestantischen Kirchen Amerikas heraus 94 . Er sieht sie unter dem Zeichen einer Abwendung von den liberalen Grundlagen, welche für die frühere Religious Education charakteristisch waren 95 . Damit bestätigt er unsere These, daß sich die interpersonale Theologie vorwiegend von der Ekklesiologie her zu entfalten versucht, die ihr Kriterium im Offenbarungsverständnis hat. W i r brauchen uns daher in diesem Kapitel über den pädagogischen Ansatz der interpersonalen Theologen nicht auf die liberale Richtung im besonderen zu beziehen, da sie kaum vertreten ist. In Richtung der liberalen Religious Education weisen hauptsächlich Lippitt, De Wire und Chave. Letzterer stellt seine „funktionale, dynamische und naturalistische Sicht" der Erziehung in bewußten Gegensatz zu einer biblisch-theologisch orientierten (S. 15) und ist von daher bemüht, die Religious Education in die säkulare Erziehung zu integrieren als Erziehung zum demokratischen „ w a y of life" 9 6 . Die überwiegende Mehrzahl der interpersonalen Theologen lehnt einen solchen Versuch jedoch ausdrücklich ab. R . C . Miller sagt im Blick auf die pädagogische Theorie: „ W i r beginnen mit der Wahrheit, die uns als Christen zueigen ist. Aber innerhalb dieses Bezugsrahmens können wir alle Beobachtungen, Experi-

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mente und Einsichten von Nicht-Christen anwenden, weil wir annehmen, daß alle Fakten und Beobachtungen mit dem einen Bereich der Wahrheit und Offenbarung übereinstimmen, der von Gott kommt" (Education, S. 8).*

Dieser Ansatz bei der christlichen Offenbarung und Gemeinde bedeutet nach R. C. Miller für die pädagogische Theorie, daß die Theologie der bestimmende Faktor in der Entfaltung einer Lehre von der Erziehung sein muß und nicht, wie in der liberalen Religious Education, nur eine „Fußnote" zu einer säkularen Erziehungstheorie sein kann 97 . In der Frage nach der Bedeutung der christlichen Theologie für eine Lehre von der Erziehung sieht Miller die eigentliche Abkehr von der liberalen Religious Education. Er hält es darum für richtiger, die neue Theorie der Erziehung als „Christian Education" 7,u bezeichnen, da der Begriff „Religious Education" auf jede Religion anwendbar ist und nicht das Spezifische des christlichen Glaubens zum Ausdruck bringt 98 . Dementsprechend betont Sherrill den einzigartigen Charakter der christlichen gegenüber jeder anderen Erziehung und sieht ihn begründet in der Einzigartigkeit der christlichen Gemeinde und des christlichen Glaubens: „ . . . letzten Endes leitet sich der einzigartige Charakter christlicher Erziehung aus dem einzigartigen Charakter christlicher Gemeinde und christlichen Glaubens a b " (S. XI)» 9 .*

Andererseits aber grenzen sich die interpersonalen Theologen auch gegenüber einem orthodoxen Verständnis christlicher Erziehung ab. Im Mittelpunkt des Erziehungsprozesses steht weder eine säkulare Anthropologie noch die Theologie als eine objektive Lehre über Gott, sondern das Geschehen zwischen Gott und Mensch. Sherrill spricht von der BiPolarität der christlichen Erziehung (S. 90), Miller weist darauf hin, daß die christliche Erziehung sowohl „God-centered" als auch „experiencecentered" sei. Den Inhalt des Erziehungsprozesses bilde die „zweiseitige Beziehung zwischen Gott und dem Lernenden" 100 . Die Theologie steht im Hintergrund des Erziehungsprozesses, um zu seinem Verständnis anzuleiten und die Ziele aufzuzeigen, denen der Prozeß dient 101 . Es entspricht dem Ansatz der interpersonalen Theologen im Verhältnis von Ekklesiologie und Anthropologie, daß die Theologie zur Erfüllung dieser Aufgabe des Gesprächs mit den empirischen Wissenschaften bedarf. Denn christliche Erziehung muß bezogen sein auf die gegenwärtige Situation des Menschen und die speziellen Nöte und Fragen der verschiedenen Altersstufen. So fordert R. C. Miller eine pädagogische Theorie, die innerhalb des Bezugsrahmens von Offenbarung und Gemeinde den theologischen, psychologischen, pädagogischen, soziologischen und histo100

rischen Aspekt impliziert und dem geschichtlich-sozialen Prozeß der Gegenwart entspricht 102 . Als Hauptproblem einer Theorie der christlichen Erziehung bezeichnen Sherrill und R . C . Miller die Frage nach dem Verhältnis v o n Offenbarung und Erziehung 1 0 3 . D e r Kern des Offenbarungsgeschehens ist nicht Information über Gott, sondern eine personale Kommunikation, in welcher Gott als Person sich dem Menschen vermittelt und der Mensch auf die Selbsterschließung Gottes antwortet. Daraus ergibt sich, daß auch der Kern der christlichen Erziehung die personale Kommunikation z w i schen Gott und Mensch sein muß 1 0 4 . In diesem Verständnis der O f f e n barung liegt der Schnittpunkt mit der gruppendynamischen Pädagogik; denn „der entscheidende Faktor in der Erziehung sind interpersonale B e ziehungen" (Miller, Education, S. n , 6 2 f f ) . M i t der Kategorie der personalen Kommunikation, begegnet das christliche Verständnis der Offenbarung der Erkenntnis der Pädagogik, daß der Mensch durch B e ziehungen lernt (Miller a.a.O., S. 66; Sherrill, S. 157). D a r u m lassen sich v o n diesem Offenbarungsverständnis her Aufgabe, Ziel und W e g der christlichen Erziehung in Aufnahme und Kritik der säkularen Pädagogik bestimmen. Christliche Erziehung ist der Prozeß, durch welchen der Mensch in die personale Kommunikation mit Gott und seinen Mitmenschen geführt wird und die Relevanz der personalen Begegnung mit Gott für sein ganzes Leben erfährt: „Es ist die Aufgabe christlicher Erziehung, das Individuum in die rechte Beziehung zu Gott und seinen Mitmenschen zu bringen innerhalb der Gemeinschaft der Kirche und innerhalb des Bezugsrahmens der fundamentalen christlichen Wahrheit über das ganze Leben 105 ."* Diesen Ausgangspunkt der pädagogischen Theorie und die darin implizierte Aufgabenbestimmung der christlichen Erziehung teilen die meisten interpersonalen Theologen, w i e auch immer sie ihre Akzente setzen. Für Sherrill und Clemmons ist - in Ubereinstimmung mit dem pädagogischen Ansatz v o n Lewin - der Aspekt der Wandlung des Menschen entscheidend, sowohl v o m Verständnis der Offenbarung, als auch v o n der pädagogischen Theorie her. D e m Offenbarungshandeln Gottes korrespondieren auf Seiten des Menschen, der Gott antwortet, erlösende Wandlungen in der Tiefe seiner Person, die sich in neuen Beziehungen zu Gott, z u m Mitmenschen, zur W e l t und zu sich selber äußern (Sherrill, S. 163 ff.; Clemmons, Dynamics, S. 91 ff). Hier knüpft die Pädagogik an; denn in ihrem weitesten Verständnis hat sie es zu tun mit Wandlungen, die in Personen stattfinden 106 . Z w a r sind die Wandlungen dem direkten Z u 101

griff des Menschen entzogen. Aber sie werden beeinflußt durch den Prozeß der Wechselwirkungen, in denen das Selbst mit anderen Menschen steht. Über diesen Prozeß, welcher der Steuerung und Kontrolle in gewisser Hinsicht zugänglich ist, kann der Erzieher auf das Werden des personalen Selbst Einfluß nehmen. Denn die Wandlungen der Person und der Gruppenprozeß stehen in wechselseitiger Abhängigkeit (Sherrill, S. 7 9 u n d I 5 7 f f . ) .

Das muß auch hinsichtlich der Aufgabe christlicher Erziehung bedacht werden. Für Sherrill meint daher christliche Erziehung den Versuch, durch Partizipation am Prozeß der Wechselwirkungen in der Gemeinde Einfluß auf die Wandlungen im Menschen zu gewinnen: „Christliche Erziehung ist der Versuch, gewöhnlich von Gliedern der christlichen Gemeinde, durch eigene Teilnahme am Gemeindeprozeß Führung zu geben bei den Wandlungen (participate and guide), die in Personen stattfinden in ihren Beziehungen zu Gott, zur Gemeinde, zu anderen Menschen, zur physischen Umwelt und zu sich selbst" (S. 82, vgl. auch S. 160).*

Sherrill umschreibt dasselbe auch mit BegrifFlichkeiten wie: die christliche Erziehung wolle dem Menschen Hilfe geben auf seinem Wege zum Reich Gottes, zur Selbsterkenntnis, zur Entfaltung seiner geschöpflichen Möglichkeiten und zu einem Leben, in welchem er seine Gotteskindschaft in allen Beziehungen und Verantwortlichkeiten verwirklichen könne (S. 83). Bei Clemmons wird der Erziehungsprozeß beschrieben als Wandel „from ego-centeredness to Christ-centeredness" und als Entwicklung neuer Verhaltensweisen von diesem neuen Bezugspunkt her. Grundlegend für die christliche Erziehung ist daher der Akt der Hingabe („commitment"), den Clemmons mit Hilfe der topologischen Psychologie Lewins als Entscheidungsvorgang im personalen Zentrum des Menschen charakterisiert, durch den der Prozeß seiner Personwerdung in der Verbindung mit Christus immer wieder hindurchgehen muß 107 . Das Ziel des Wandels, dem die christliche Erziehung dienen soll, kann darin zusammengefaßt werden, daß der Mensch das wird, wozu er von Gott geschaffen ist (Sherrill, S. 191). Dementsprechend definiert R. C. Miller das Ziel der christlichen Erziehung als personale Integration des Christen: „Das erstrebte Ziel ist zunehmende Integration der ganzen Person, indem sie auf den lebendigen Gott als ihren Mittelpunkt bezogen wird durch die Erfahrungen, welche Familie, Schule und andere religiöse Gruppen vermitteln 1 0 8 ."*

Insofern der Mensch wieder zu einer Ganzheit wird, indem er auf die Selbsterschließung Gottes antwortet, kann Miller auch sagen: 102

„Christiische Erziehung bezieht sich auf die Ganzheit der Person. Diese ist darin begründet, daß der ganze Mensch der göttlichen Person innerhalb einer Gemeinschaft von Personen antwortet109."* Damit zielt der Erziehungsprozeß gleichzeitig auf die Mündigkeit des Christen: Er soll die Bedeutung der Antwort des Glaubens für alle Beziehungen seines Lebens erkennen und seine Entscheidungen aus der Liebe fällen, die sich ihm in der personalen Kommunikation mit Gott erschließt 110 . So ist christliche Erziehung in allem auf die erlösende Wirksamkeit Gottes in der Gemeinde bezogen: daß die zerbrochenen Gottes-, Selbst- und Menschenbeziehungen geheilt werden und der Mensch wieder zu einer Ganzheit, einem Selbst und damit einer Person vor Gott wird111. Weil der Bezugspunkt alles pädagogischen Denkens und Handelns in der Gemeinde die Erlösung des Menschen ist, die tiefste Wandlungen im menschlichen Selbst meint, muß der Theologe in Auseinandersetzung mit den empirischen Wissenschaften stehen, die den Prozeß der Wandlungen des Selbst in seinen Wechselwirkungen mit der Umwelt erforschen (Sherrill, S. 156L). Während aber der Psychologe mehr die sichtbare Gegenwart und die in ihr wirksamen Faktoren vor Augen hat, sieht der Theologe die Wandlung des Menschen im Zusammenhang der ganzen menschlichen Wirklichkeit, wie sie von der Offenbarung Gottes her erschlossen wird. Von daher ergeben sich für das theologische Problem der Wandlung des Menschen vor Gott bestimmte Gesichtspunkte, die Sherrill im Gespräch mit den empirischen Wissenschaften entfaltet (S. 157fr.): 1. Der Theologe fragt nach den Wandlungen, die in der Begegnung des lebendigen Gottes mit dem Menschen als einer personalen Beziehung von „Selbst" zu „Selbst" stattfinden. Diese Wandlungen haben ihr sichtbares Zeichen darin, wie der Mensch in der Ganzheit seiner Existenz auf die Offenbarung Gottes antwortet. 2. In der Konfrontation mit Gott kann der Mensch nur wirklich antworten, wenn er die Freiheit zu einem „ J a " und „ N e i n " der Entscheidung hat. Es muß darum innerhalb des Gemeindeprozesses die Freiheit zum „ N e i n " geben, auch wenn unter bestimmten Umständen ein „Nein" des Menschen diesen für immer von Gott trennen kann. 3. Ein existentieller Wandel ist nicht direkt einsehbar und konstatierbar. Aber dort, w o der Mensch sich in seinem ganzheitlichen Verhalten ändert, kann man annehmen, daß ein Wandel stattgefunden hat oder im Vollzuge ist. 4. Der Wandel, der sich in der Tiefe des Selbst vollzogen hat, läßt sich nur in symbolischer Weise beschreiben: beispielsweise als neues Selbst, 103

neues Sein, neue Kreatur, neues Herz, Wiedergeburt usw. Durch solche Symbole kommuniziert der Mensch mit anderen das Geschehen, das in ihm stattgefunden hat. Aber dieses Geschehen muß differenziert werden von den sprachlichen Symbolen, die für es stehen. 5. Da Gott sich dem Menschen immer neu schenkt und ihn anruft, wird der Mensch zu immer neuen Antworten und immer neuen Wandlungen herausgefordert. Diese Wandlungen können sich als Weiterschreiten in einer Richtung, das ist Wachstum, als Richtungsänderung, das ist Konversion, und in vielfältiger anderer Weise vollziehen. Der ständigen Konfrontation des Menschen mit Gott entspricht die ständige Buße des Menschen als ständiger Wandel seines Denkens und Verhaltens 112 . 6. Insofern die Glieder einer christlichen Gemeinde wechselseitig an ihrer Antwort auf Gottes Offenbarung teilhaben, beeinflussen sie sich auch in den Wandlungen, die in ihnen stattfinden. Wenn sich die Gemeinde dem Wirken des Geistes Gottes öffnet und auf ihn antwortet, dann vollzieht sich in dem Prozeß der Wechselwirkungen die Wandlung des Selbst 113 . Christliche Erziehung ist möglich, weil die Gemeindeglieder einander in ihrem Verhältnis zu Gott beeinflussen. Darum ist die Gemeinde Ort und Medium der christlichen Erziehung: „ D e r Ort christlicher Erziehung ist die christliche Gemeinde als eine koinonia, in welcher Menschen und Gott an einem verschlungenen Gewebe von Beziehungen teilhaben" (S. 82).*

Für alle interpersonalen Theologen gibt es christliche Erziehung nur in Teilhabe am Gemeindeprozeß, in dem die erlösende und neuschaffende Kraft der Gegenwart und Liebe Gottes durch die Wechselbeziehungen der Glieder vermittelt wird 1 1 4 . R. C. Miller kann deshalb sagen, christliche Erziehung sei der Prozeß des Aufwachsens innerhalb des Lebens der christlichen Kirche (Education, S. 370). In diesem Leben der Kirche als einer erlösenden Gemeinschaft vollzieht sich die Vermittlung von Inhalten, vor allem des Inhaltes der Bibel als des Zeugnisses von der ursprünglichen Offenbarung Gottes im alten Bund und in der Geschichte Jesu Christi 1 1 5 . Die Bibel ist jedoch nicht nur Hinweis auf die ursprüngliche Begegnung Gottes mit dem Menschen, die sich in der Gemeinde als „Gemeinschaft der weitergehenden Offenbarung" („Community of the continuing encounter") fortsetzt, sondern sie ist zugleich selbst auch Medium der weitergehenden Offenbarung (Sherrill, S. 94). Bibel und Kirche bezeugen in gleicher Weise, daß die Offenbarung Gottes nicht die Vermittlung von Informationen über ihn meint, sondern eine Geschichte personaler Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Sie vermitteln 104

beide die Offenbarung als ein gegenwärtiges, durch sie selber sich vollziehendes Geschehen 116 . Die Bibel ist nicht selber die Offenbarung, sondern sie bezeugt die ursprüngliche Offenbarung Gottes, durch welche die Kirche ins Leben gerufen wird und durch alle Zeiten hindurch ihre Existenz hat. Darum lebt die Kirche von der Bibel, wie sie andererseits wiederum in Spannung zu ihr steht, weil sie zu eigenem Zeugnis von ihrer Konfrontation mit Gott aufgerufen ist (vgl. Sherrill, S. 93 f.). Der Zusammenhang von Offenbarung, Bibel und Gemeinde bei den interpersonalen Theologen läßt sich in der Weise interpretieren, daß die Bibel Kriterium für alles weitere Offenbarungsgeschehen ist, weil sie die ursprüngliche Offenbarung bezeugt 1 1 7 . Sie kann aber nur innerhalb dieses weiteren Offenbarungsgeschehens verstanden werden; denn Zeugnis von der ursprünglichen Offenbarung ist die Bibel nicht als isoliertes Schriftstück, sondern als das „Buch der Kirche", in welcher die von ihr bezeugte Geschichte der Offenbarung und Erlösung durch die wechselseitigen Beziehungen der Gemeindeglieder weiter vollzogen wird 1 1 8 . Die unlösliche, wenn auch spannungsvolle Einheit von Offenbarung, Bibel und gegenwärtiger Gemeinde ist für die meisten interpersonalen Theologen der eigentliche Ansatzpunkt für die pädagogische Theorie. Sie versuchen auszusagen, was dieser Zusammenhang für das erzieherische Handeln der Gemeinde bedeutet. „ D a s biblische Muster der Beziehungen Gottes zu den Menschen spiegelt sich in den Handlungen des täglichen Lebens wider. Innerhalb eines solchen Bezugsrahmens wird christliche Erziehung relevant. W i r lernen das Evangelium v o n der Erlösung durch Teilhabe an den erlösenden Beziehungen in einer G e m e i n d e 1 1 " . " *

Ein anderer Ansatz findet sich lediglich bei Iris V . Cully, deren Fragestellung in dem Verhältnis von Kerygma und Didache, Verkündigung und Unterweisung, liegt. Die Gemeinde ist für sie nur Rahmen der Erziehung, insofern sie Trägerin des Kerygmas als einer objektiven N o r m ist (vgl. den Exkurs 4, S. 54.2ff). Die Beziehungseinheit von Offenbarung, Bibel und gegenwärtiger Gemeinde bedeutet, daß eine der wichtigsten pädagogischen Aufgaben in der Gemeinde darin besteht, Menschen in die Bibel einzuführen. Andererseits besagt der Zusammenhang für die Auslegung der Bibel in der christlichen Erziehung, daß sie nur innerhalb der Gemeinde ihrem eigentlichen Sinn nach verstanden und kommuniziert werden kann 120 . Die interpersonalen Theologen fordern, daß die Bibel in der christlichen Erziehung nur so gebraucht werden darf, wie es ihrer eigentlichen Intention entspricht 121 . Die ständige Konfrontation des Menschen mit Gott ist nicht 105

nur ihr Thema, sondern auch der zentrale Zweck, zu dem sie geschrieben wurde. Darum hat aller Gebrauch der Bibel in der christlichen Erziehung an dem Kriterium orientiert zu sein, daß sie den Weg bereitet zur Begegnung des lebendigen Gottes mit dem Menschen in der Gegenwart (Sherrill, S. 95; Grimes, S. 103). Aber in der Ausrichtung auf dieses Ziel der Begegnung mit Gott hin haben dann auch alle anderen Beschäftigungsweisen mit der Bibel ihren Platz: die Einführung in die Geschichte des Volkes Israel und der urchristlichen Gemeinde, die ganze christliche Überlieferung, die Suche nach der Bedeutung, welche die Schrift für den gegenwärtigen Menschen hat (Sherrill, S. 95 ff.)- In diesem Zusammenhang geht Sherrill ausführlich auf Fragen der Hermeneutik ein. Er analysiert besonders die Symbole der biblischen Sprache und verweist auf ihre Bedeutung als Mittel der Kommunikation in der Begegnung zwischen Gott und Mensch und in dem Leben der Gemeinde (S. 123 ff".). Er stellt heraus, daß die Bibel unter „ W o r t " nicht nur eine verbale Äußerung versteht, sondern alles, was zwischen Personen zum Mittel der Kommunikation werden kann, so etwa auch Ereignisse, Erfahrungen, Personen u. a. (S. 179). Darum ist der Begriff „Symbol" als Mittel der Kommunikation zwischen Gott und Mensch und Mensch und Mensch gut geeignet, weil er nicht nur die verbale Dimension meint, sondern auch menschliche Beziehungen und Handlungen des alltäglichen Lebens, die auf ein Geschehen hinweisen und an ihm teilhaben. Sie gehören mit zur Sprache Gottes und daher auch zum Zeugnis von seiner Offenbarung, weil sich Gott der menschlichen Beziehungen und Handlungen als Medien seiner Offenbarung bedient (Sherrill, S. 72). So können menschliche Beziehungen und Wechselwirkungen zum Mittel der Kommunikation des biblischen Zeugnisses werden. Sherrill bezeichnet diese Art der Kommunikation als die „nichtverbale Kommunikation" („nonverbal communication", S. 186), R. C. Miller als die „Sprache der Beziehungen" („language of relationships") 122 . Die nichtverbale K o m munikation ist von besonderer Bedeutung für die Kinder, die des Sprechens und Verstehens noch nicht fähig sind. Mit Ausnahme weniger Stellen ist die Bibel nicht an Kinder adressiert, sondern bezieht sich auf Probleme und Fragen des Lebens der Erwachsenen (Sherrill, S. 177; Miller, Biblical, S. 27). Indem aber die Kinder in den Prozeß der Wechselwirkungen innerhalb der Gemeinde hineingenommen werden, wird ihnen der innere Gehalt der Bibel nahegebracht. Darum muß die christliche Erziehung mit den Erwachsenen in der Gemeinde beginnen: „Wenn Wandlungen in den Erwachsenen einer christlichen Gemeinde und in ihren wechselseitigen Beziehungen stattfinden, treten die Kinder in ein 106

sich wandelndes System v o n W e c h s e l w i r k u n g e n ein, noch bevor sie in der Kirche z u s a m m e n k o m m e n " (Sherrill, S. 178).*

V o n dorther gewinnt auch die Familie neue Bedeutung für die christliche Erziehung (Grimes, S. 95 ff.; Miller, Education, S. 93 ff.; v g l . den Exkurs 4, S. 5 4 0 f f ) . D i e „Sprache der B e z i e h u n g e n " oder die „nichtverbale K o m m u n i k a t i o n " bleibt das wichtigste Mittel der K o m m u n i k a t i o n der O f f e n b a r u n g für alle Altersstufen; denn die erlösende Liebe Gottes als die eigentliche Essenz des Offenbarungsgeschehens ist hauptsächlich auf diese A r t der K o m m u n i k a t i o n angewiesen. D i e Botschaft der Bibel v o n der Liebe Gottes kann v o m Menschen nur verstanden werden, w e n n sie i h m auch in der Liebe und A n n a h m e durch die Gemeinde begegnet 1 2 3 . D i e interpersonalen T h e o l o g e n betonen alle, daß die „Sprache der B e z i e h u n g e n " W o r t e n gegenüber primär ist und daher den entscheidenden Faktor der Erziehung darstellt 124 . W e n n die Gemeinde nicht wirklich eine erlösende Gemeinschaft ist, w i r d keines ihrer W o r t e eine erzieherische K r a f t haben (Miller, Biblical, S. 42; Grimes, S. 103). M i t dieser B e t o n u n g der „nichtverbalen K o m m u n i k a t i o n " w o l l e n sie keinen Gegensatz aufrichten z w i schen der „Sprache der B e z i e h u n g e n " und der „Sprache der W o r t e " , aber sie wenden sich gegen ein v o n dem Lebensvollzug der Gemeinde isoliertes „ W o r t g e s c h e h e n " (vgl. Grimes, S. 103). D e r K o m m u n i k a tionsprozeß in der Gemeinde kann nicht nur auf der verbalen Ebene liegen, sondern er umfaßt das ganze Geschehen, das sich in den B e ziehungen zwischen Menschen abspielt: ihre Verhaltensweisen, ihr Leben i m Glauben und in der Liebe, ihre Hoffnungen, ihre Intentionen, ihr Fühlen u s w . 1 2 5 W o r t e haben keine Bedeutung in sich selber. Ihre B e deutung liegt darin, w o f ü r sie stehen und was sie vermitteln 1 2 6 . A b e r als Hinweis auf das, was sich in interpersonalen Beziehungen wirklich v o l l zieht, sind W o r t e ein wichtiges Mittel der K o m m u n i k a t i o n , auch hinsichtlich der K o m m u n i k a t i o n der O f f e n b a r u n g : „ S i e werden Mittel, durch welche w i r unsere Beziehungen symbolisieren, Sinnzusammenhänge tiefer erfassen und zu einem Verständnis der W a h r h e i t k o m m e n können, die uns frei m a c h t " (R. C . Miller, Biblical, S. 43).*

S o ist auch der Inhalt des Erziehungsprozesses das gesamte Leben der Gemeinde in W o r t e n , Beziehungen, Handlungen usw. (Grimes, S. 103). Z w a r ist die Bibel die Quelle aller christlichen Erziehung, aber die G e meinde ist der „Schlüssel" zur Vermittlung der Bibel; denn: „ w e n n es der Ortsgemeinde nicht gelingt, eine erlösende und erhaltende Gemeinschaft zu sein, obgleich sie eine Versammlung v o n Sündern bleibt, w i r d das Geschehen der Erlösung nicht relevant werden für die Beziehungen

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innerhalb der Ortsgemeinde und zu anderen Gruppen" (R. C. Miller, a.a.O.,

S. 211).* Aus diesem Zusammenhang von Bibel und Gemeinde ergibt sich für den W e g der Erziehung die Aufgabe, die Wirklichkeit der Offenbarung, wie sie von der Bibel bezeugt wird, in eine „Sprache der Beziehungen" zu übersetzen, die der jeweiligen Fassungskraft der verschiedenen Altersstufen und der besonderen Situation des Menschen entspricht (Miller, Biblical, S. 27fr). So ist das hermeneutische Problem in den Kommunikationsprozeß der Gemeinde eingebettet (vgl. den Exkurs 4, S. 540). Übersetzung in die Sprache der Beziehungen meint, daß die Beziehungen zwischen Gott und Mensch und Mensch und Mensch, wie sie durch das Erlösungswerk Christi gestiftet sind, übertragen werden in die B e ziehungen des täglichen Lebens der Gemeinde: „ W i r brauchen Methoden, um Bedeutung und Relevanz der Bibel Kindern und Erwachsenen aller Altersstufen zu vermitteln ... Dies erfordert von uns eine solche Umschmelzung der biblischen Theologie, daß die Beziehungen, die sie schildert, in Zusammenhang gebracht werden können mit den Beziehungen, die wir in unserem Alltag kennen" (R. C. Miller, a.a.O., S. 15).*

e) Pädagogische Aspekte des Gemeindeprozesses Weil das Ziel der christlichen Erziehung die personale Begegnung des Menschen mit Gott ist, die durch die interpersonalen Beziehungen in der Gemeinde vermittelt wird, hat der Gemeindeprozeß als ganzer in allen seinen Diensten und Tätigkeiten erzieherische Bedeutung 1 2 7 . Das impliziert, daß der W e g der christlichen Erziehung sich vollzieht als „Prozeß der Wechselwirkung zwischen Personen" (vgl. Sherrill, S. 184). Der wichtigste Faktor der christlichen Erziehung ist „ . . . die gegenwärtige Situation der christlichen Gemeinde in Aktion" 1 2 8 . Von diesem Ansatz her kann es keine geschlossene Methodenlehre für die Erziehung geben. Sherrill sieht seine Aufgabe vielmehr darin, jeweils die Kriterien für die Auswahl und die Anwendungsmöglichkeiten der Methoden aufzuzeigen (S. 184). Die Kriterien sind nicht an „Sachgehalten" entwickelt, sondern vom Prozeß der Erziehung selbst her gewonnen. Auch Auswahl und Gebrauch des Unterrichtsmaterials sind an dem Prozeß zu orientieren, dem es zu dienen hat. Es geht darum im Blick auf Material und Methode um die Beziehung der zu übermittelnden Inhalte zum dynamischen Prozeß der Wandlung des Menschen. Im tiefsten Sinne hat man nur gelernt, was man geworden ist 129 . 108

Es gibt eine unendliche Vielfalt von Material, das in den Gemeindeprozeß, an welchem die christliche Erziehung teilhat, eingehen kann. Darum ist es nicht möglich, einen geschlossenen Lehrplan aufzustellen (Sherrill, S. 176). Christliche Erziehung kann nicht an der Beherrschung des Materiales orientiert sein, weil ihr eigentliches Ziel die Begegnung mit Gott ist (Miller, Education, S. 176). R. C . Miller lehnt es ausdrücklich ab, das Unterrichtsmaterial mit dem „curriculum" zu identifizieren und dieses demnach als einen „Lehrplan" zu verstehen. Er definiert „curricul u m " als „ W e g , der von Schüler und Lehrer zur Erreichung eines gewünschten Zieles durchschritten w i r d " (a.a.O., S. 349). Andererseits aber wird der Schüler auch nicht seiner individuellen Erfahrung und seinem subjektiven Interesse überlassen. Quelle des Erziehungsprozesses ist der Inhalt der Bibel in seiner Bedeutsamkeit für die Situation des Schülers 1 3 0 . Die Anwendung der Bibel und anderer Stoffe in der christlichen Erziehung hat unter dem Gesichtspunkt zu erfolgen, daß sie dem Schüler zur rechten Beziehung zu Gott und zum Verstehen der Probleme seines Lebens vor ihm verhilft 1 3 1 . Die Methode ist das Mittel, welches das Material in der Weise anordnet, daß es wirksam wird für den Existenzvollzug (Miller, Education, S. 166 und 184). R . C . Miller versucht, von der „Sprache der Beziehungen" her den alten Gegensatz zwischen stoffbezogener („content-centered") und lebensbezogener („life-centered") Erziehung dadurch zu überwinden, daß Inhalte und Methoden als Aspekte ein und desselben Prozesses gesehen werden. M a n könnte zugespitzt sagen, daß im Prozeß der interpersonalen Beziehungen Inhalt und Methode fast identisch werden, denn die Beziehungen und Wechselwirkungen sind letztlich sowohl der „ S t o f f " als auch die eigentliche „ M e t h o d e " der Erziehung 1 3 2 . Wenn aber der springende Punkt hinsichtlich Material und Methode im Prozeß der Kommunikation zwischen Personen hegt, dann besteht das erste Kriterium für die pädagogische Methode darin, ob sie eine doppelseitige Kommunikation fördert oder hindert 1 3 3 . Die interpersonalen Theologen unterscheiden zwischen einer einseitigen Kommunikation („oneway-communication"), die durch ihren Zwangscharakter gekennzeichnet ist und nur in einer Richtung verläuft, und einer doppelseitigen K o m munikation („two-way-communication"), die sich in Freiheit vollzieht und in beiden Richtungen zwischen zwei oder mehreren Personen erfolgt. Eins der wichtigsten Merkmale doppelseitiger Kommunikation ist darin gegeben, daß in ihr sowohl Glaube als auch Zweifel ausgedrückt werden können und der Mensch in dem ernstgenommen wird, was er wirklich will und ist, während die einseitige Kommunikation offene oder versteckte Manipulation des einen durch den anderen meint 1 3 4 . Die

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interpersonalen Theologen wenden sich gegen jeden Versuch einer Manipulation, welche die menschliche Person zu einem Ding macht und wie eine Sache handhabt, um die erwünschten Wirkungen zum Besten dieser Person zu erreichen. Dadurch wird die Begegnung zwischen Selbst und Selbst zerstört, wie sie in dem Prozeß der Wechselwirkungen stattfinden soll (Sherrill, S. 85). Das Wesen der koinonia selbst steht gegen einen solchen Mißbrauch, da sie sowohl die Freiheit Gottes als auch des Menschen impliziert 135 . Nur diejenige Methode, welche wechselseitige Kommunikation erleichtert, kann pädagogisch wirksam sein. Das zweite Kriterium, an welchem jede Methode in der christlichen Erziehung gemessen werden muß, ist die Frage, welche Art von Wechselwirkung sie hervorruft: eine geistliche oder eine dämonische 136 . Eine dämonische Auswirkung einer Methode ist daran zu erkennen, daß sie den Menschen als Person zerstört (Sherrill, S. 185). Insofern kann man auch die Verhinderung einer „zweiseitigen Kommunikation" durch Manipulation vom theologischen Standpunkt aus dämonisch nennen, da sie den Menschen zum Objekt macht und somit sein Personsein vor Gott bedroht. Für einen geschickten Erzieher ist es nicht allzu schwierig, eine eindrucksvolle Gruppenleistung hervorzubringen. Gerade darin aber liegt nach Sherrill die Gefahr, daß die sichtbare Erscheinung darüber hinwegtäuscht, was sich in Wirklichkeit vollzieht. So kann die Gruppenleistung dazu führen, die Dämonie im Gruppenprozeß zu übersehen oder sogar völlig zu leugnen (S. 153 f.). Die dämonischen Kräfte treiben ein vielfältiges Zerstörungswerk in der personalen Existenz des Menschen und leiten eine Wandlung in Richtung einer Auflösung ein (s. o. S. 94). Dabei können sie Charakterstrukturen aufbauen und festigen, die den Menschen hindern, in eine tiefere Beziehung zu Gott und den Mitmenschen einzutreten. Das eine Selbst kann das andere innerlich so binden, daß es sich nicht mehr befreien kann. Falsche Gewissensbindungen treiben den Menschen zu Handlungen, welche sich zerstörend auf seine leibliche und geistige Existenz auswirken (Sherrill, S. 172). Eine Wechselwirkung hat geistlichen Charakter, wenn sich solche Wandlungen im menschlichen Selbst vollziehen, daß es in tiefere Beziehung zu Gott und zur Gemeinschaft des Glaubens findet. Geistlich kann eine Wechselwirkung genannt werden, wenn sie dem Menschen dazu hilft, das zu werden, wozu ihn Gott geschaffen hat (Sherrill, S. 172f.). Sherrill kann auch sagen, daß eine geistliche Wechselwirkung im Menschen Selbsthingabe und Glauben weckt. Er interpretiert diesen Vorgang als Wandel der „Motivation" und der „Wahrnehmung". Eine Wechselwirkung geistlicher Art wird sich auf die Motivation des Menschen in der Weise auswirken, daß er von der Selbstliebe befreit wird zu einer

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Liebe, die sich dem anderen, hingibt und ihn in seinem Selbst bejaht. Zugleich erschließt sie ihm in der Begegnung mit dem lebendigen Gott die Wahrnehmung neuer Zusammenhänge, die vorher verschlossen waren (S. 173). Von solchem theologischen Verständnis der menschlichen Wirklichkeit her lehnen Sherrill und R. C. Miller alle Methodengläubigkeit ab. Es gibt für die Gemeinde keine pädagogische Zufluchtsstätte („educational city of refuge", Sherrill, S. 185). Jede Methode kann zum geistlichen oder dämonischen Instrument werden, je nachdem ob sie in aufbauender Weise und Absicht oder in zerstörender Weise und Absicht gebraucht wird. Sherrill hebt dabei die Bedeutung des persönlichen Motivs des Erziehers hervor und seiner rechten Erkenntnis dessen, was sich in Wirklichkeit in dem jeweiligen Prozeß der Wechselwirkungen vollzieht. Wir verstehen ihn wohl nicht falsch, wenn er mit dem geistlichen Motiv beim Gebrauch der Methoden den Glauben meint, der in der Liebe tätig ist (vgl. S. 173). Wenn die Doppelseitigkeit der Kommunikation und der geistliche Charakter der Wechselwirkungen im Gebrauch von Material und Methoden gewahrt bleiben, dann ist die Bedeutung der pädagogischen Methode in der christlichen Erziehung einfach darin zu sehen, daß sie die Begegnung zwischen Selbst und Selbst in doppelseitiger Kommunikation erleichtert und den Weg bereitet für ein Leben in ständiger Begegnung mit Gott (Sherrill, S. 186). Der Erzieher kann sich grundsätzlich jeder Methode bedienen, welche dem Erziehungsziel in der jeweiligen Situation am besten dient (R. C. Miller, The Clue, S. 185). Auf dieser Grundlage leitet Sherrill von der „Psychologie der Wechselwirkung" einige pädagogische Grundsätze ab, die nichts anderes meinen als jeweils einen wichtigen Aspekt der Wechselwirkungen im Lernprozeß. Sie wollen nicht bestimmte Methoden determinieren, sondern beim Finden des geeigneten Weges und bei der Auswahl und Anwendung der Methoden helfen. Sie entsprechen sachlich weithin den methodischen Reflexionen der anderen interpersonalen Theologen, besonders von R. C . Miller, der wie Sherrill an dem hermeneutischen Aspekt der Methoden interessiert ist. 1. Der Grundsatz nichtverbaler Kommunikation (Sherrill, S. 186 f.). In diesem Zusammenhang betonen alle interpersonalen Theologen in Übereinstimmung mit der Gruppendynamik die grundlegende Wichtigkeit und Realität der Atmosphäre („group atmosphere" oder „climate") für die Erziehung. Zur Atmosphäre gehören beispielsweise Verhaltensweisen, Blicke, Tonfall, Gesten, alle unterschwelligen Faktoren, die den Lernprozeß bestimmen („Hidden Agenda"), die ganze Art und Weise, in

wie die Gemeindeglieder sich aufeinander beziehen 137 . Die Atmosphäre erfährt ihre Zuspitzung in „Annahme" und „Zurückweisung". Es ist daher die erste Aufgabe christlicher Erziehung, eine Atmosphäre zu schaffen, in welcher alle Gruppenglieder sich angenommen fühlen, wie sie sind. Ohne solche Annahme gibt es keine personale Beziehung und keine Kommunikation der Botschaft von der Annahme des Menschen durch Gott 1 3 8 . Auch die Atmosphäre und die Weise, in welcher biblisches Material in der christlichen Erziehung gebraucht wird, ist von Bedeutung für die Art der Wechselwirkung in der Gemeinde, da sich daran oft entscheiden kann, was in der Vermittlung des Materials in Wirklichkeit kommuniziert wird (Sherrill, S. i86fF.). 2. Der Grundsatz der Teilnahme („the principle of participation"). Für den Gebrauch der Bibel in der christlichen Erziehung meint das vor allem, daß der Mensch mit den Personen, die in der Bibel ihre Begegnung mit Gott bezeugen, vor Gott hintritt und so innerhalb der Bibel („inside the bible") steht (Sherrill, S. 187; R. C. Miller, Biblical, S. 47). Indem die Gemeinde teilhat an dem Leben derer, die in ihrer Begegnung mit Gott durch immer neue Nöte und Freuden, Niederlagen und Siege hindurchgegangen sind, wird die Bibel ein Wirkfaktor in der Lebenswelt, in welcher sich die Gemeinde selbst vorfindet. 3. Der Grundsatz der Identifikation („the principle of identification"). Indem die Gemeindeglieder an dem Geschehen partizipieren, das die Bibel bezeugt, entdecken sie sich selber in den verschiedenen Personen, in dem, was an ihnen offenbar wird, was an ihnen geschieht, wie sie denken, sich verhalten und handeln, in ihren Nöten, Sünden und dem, was Gott an ihnen tut (Sherrill, S. 188; vgl. R. C. Miller, a.a.O., S. 51). 4. Der Grundsatz der Wahrnehmung im umfassenden Sinne („the principle of perception"). Über die Bibel erfolgt letztlich eine Wandlung der Wahrnehmung des Menschen im Blick auf die Dinge, die sein Leben ausmachen. Sein Leben erhält dadurch, daß er es in einem neuen Licht sieht, eine andere Gestalt: „Biblisches Material ist ein Mittel, um die Wahrnehmung der Bedeutung der Dinge, die das Leben des Menschen darstellen, in ihrer ganzen Gestalt (total configuration) zu wandeln" (Sherrill, S. 189).* Die Relevanz der Wahrnehmungspsychologie für die christliche Erziehung wird auch von Clemmons betont. Die Wahrnehmung neuer Perspektiven, wie sie durch die Begegnung mit der Bibel ermöglicht wird, wandelt das Verhalten des Menschen in den ganzheitlichen Bezügen seiner Existenz. Darum hat christliche Erziehung besonders darauf zu achten, in welcher Weise die Bibel wahrgenommen wird 1 3 9 . 112

5. Der Grundsatz des Kommunizierens durch Symbole („the principle o£ symbolic communication"). Sherrill meint damit, daß sich der Mensch zur Aussage seiner tiefsten Nöte und Ängste einer symbolischen Sprache bedient und daß gerade die Bibel eine Fülle von Symbolen an die Hand gibt, durch welche sie die Existenznot des Menschen und die göttliche Offenbarung zum Ausdruck bringt. Die Symbole wollen Wirklichkeit aussagen, ihre Bedeutung für den Menschen will erforscht und vermittelt werden (S. 189; s. o. S. ioöf.). 6. Das Prinzip der Vielschichtigkeit („the principle of ambivalence"). Die Reaktionen und Antworten des Menschen auf das, womit er konfrontiert wird, sind mehrdeutig und widersprüchlich. Ja und Nein hegen oft ineinander oder miteinander im Widerstreit. Das ist ein Zeichen dafür, daß der Christ stets unterwegs ist. Darum muß ihm auch in der Gemeinde erlaubt sein, frei seinem Zweifel, seiner Verwunderung, seiner Ablehnung, wie seiner Anerkennung, seinem Glauben und seiner Unterwerfung gegenüber Gott Ausdruck zu geben. Die Möglichkeit dazu ist am besten in kleinen Gruppen gegeben. Deshalb seien besonders solche Methoden zu empfehlen, welche die Wechselwirkung zwischen Personen in kleinen Gruppen ermöglichen (Sherrill, S. i89f.). Diese Auffassung ist Allgemeingut der interpersonalen Theologen, wie auch immer sie ihre Akzente setzen 140 . R . C . Miller hebt hervor, daß das Verständnis der Kirche als Personengemeinschaft mit Notwendigkeit zur Anwendung gruppendynamischer Verfahren auf den Erziehungsprozeß führe, da allein in der kleinen Gruppe den Grundbedürfnissen des Menschen entsprochen werden und die Gemeinschaft entstehen kann, in welcher der Glaube zu wachsen vermag (Education, S. 242). Clemmons ist vor allem an der Frage interessiert, wie die Gruppe aussehen muß, in welcher die Voraussetzungen zu einer Wandlung des Menschen gegeben sind (vgl. S. I34f.). Insofern die Wandlung des Menschen in einem Akt der Hingabe („commitment") bzw. der Entscheidung begründet ist (s. o. S. 102), legt Clemmons unter Berufung auf Lewin den Akzent auf den Zusammenhang zwischen individueller Entscheidung und Gruppenprozeß. Im Vorgang des „commitment" empfängt der Mensch wesentliche Hilfe durch Partizipation an den Zielsetzungen und Entscheidungen der G r u p p e 1 4 1 . Die Gruppenglieder können einander helfen, durch klare Zielsetzung des christlichen Lebens, Abwägen von Alternativen und gegenseitige Mitteilung ihrer Erfahrungen die B e dingungen zu schaffen, in welchen jeder den A k t des „commitment to Christ" vollziehen kann (Dyn., S. 1 1 2 und 99; Education, S. 9off.). Weil der entscheidende Faktor dabei ist, daß der einzelne in der Gruppe das Gefühl der Zugehörigkeit und Teilnahme haben kann (vgl. Dyn., 113

S. 320"., 134), versucht Clemmons, besonders diejenigen Methoden für die christliche Erwachsenenerziehung fruchtbar zu machen, welche wachsende Partizipation am Gruppenprozeß ermöglichen: Rollenspiel, Soziodrama, „complacency shock", zielgerichtete Tätigkeit, Gruppendiskussion und „feed back evaluation" 142 . Insofern aber wirkliche Partizipation letztlich auf wechselseitiger Annahme beruht, betont Clemmons die Notwendigkeit, die Wahrnehmung personaler Intentionen, Bedürfnisse, Reaktionsweisen, Fähigkeiten und Grenzen zu intensivieren. In diesem Zusammenhang nimmt er Ansätze des „Sensitivity Training" auf 1 4 3 . R. C . Miller hat die gruppendynamische Theorie auch darin verarbeitet, daß er organisatorische und administrative Tätigkeiten in den Erziehungsprozeß einbezieht und somit das Gesamtfeld vor Augen stellt, in dem Erziehung stattfindet 144 . Er hebt hervor, daß die Kombination einer guten pädagogischen Theorie und wirksamer pädagogischer Mittel abhängig sei von adäquaten administrativen Techniken (Education, S. 8). Da in einem späteren Kapitel die Konzeption der Verwaltung der Gemeinde bei den interpersonalen Theologen noch ausführlich entfaltet wird (s. u. S. 133 fr.), seien in diesem Zusammenhang nur die Hauptpunkte hervorgehoben. Die wichtigste Funktion der Verwaltung besteht nach Miller in der Integration der verschiedenen erzieherischen Tätigkeiten innerhalb der Gemeinde, die auf das zentrale Ziel der christlichen Erziehung ausgerichtet werden müssen (a.a.O., S. 277). Jede Gemeinde sollte ein besonderes Komitee für Erziehungsfragen unter Leitung eines Pfarrers oder Lehrers einrichten. Die Aufgabe dieser Gruppe wäre, die anderen Gruppen in der Gemeinde organisch und funktional mit der ganzen Gemeinde zu verbinden und für die Aufstellung eines verständlichen, anziehenden und einheitlichen pädagogischen Programmes zu sorgen (a.a.O., S. 273 ff.). Dabei muß aber das Prinzip der Einheit mit dem der Mannigfaltigkeit und der Teilung der Verantwortungen verbunden sein. Es ist vor allem darauf zu achten, daß Organisation und Verwaltung nicht Selbstzweck werden, sondern integrierender Bestandteil des Prozesses der christlichen Erziehung bleiben, dem sie zu dienen haben (S. 297 und 270). Wenn auch die Gemeinde die Aufgabe hat, durch gute pädagogische und organisatorische Mittel für eine wirksame Erziehung zu sorgen, so liegt doch die Erreichung des Erziehungszieles nicht in ihrer Macht. Die Grenze aller Erziehungstätigkeit innerhalb der Gemeinde ist darin gegeben, daß die personale Kommunikation mit Gott, die das Ziel der christlichen Erziehung darstellt, eine Gabe Gottes ist, auf die der Mensch 114

in Freiheit eine Antwort geben muß, welche jeglicher Kontrolle entzogen ist. Die Beziehung Gott-Mensch erwächst zwar aus dem E r ziehungsprozeß, sie kann jedoch nicht durch ihn garantiert werden 1 4 5 . Das heißt zugleich, daß es unmöglich ist, das Ergebnis der Erziehung messen und sichtbare Erfolge äußeren Verhaltens erwarten zu wollen. Sherrill weist darauf hin, daß christliche Erziehung im Glauben geschieht, der selbst die verwandelnde Kraft ist. Der christliche Erzieher sei deshalb gefragt, ob er an den Glauben glaube oder an die Werke (S. 182). Der Glaube an den Glauben und der Glaube an die Werke führe zu verschiedenen Formen der Erziehung. Die letztere meine einen Moralismus im Sinne des Spätjudentums und eine Pädagogik, welche auf dem Behaviorismus gründe, der die Existenz eines menschlichen Selbst, also die Kategorie des Personalen, ignoriert (S. 182). Die Aufgabe der christlichen Erziehung kann demnach nur darin bestehen, die Begegnung des Menschen mit Gott vorzubereiten. Sie kann versuchen, Möglichkeiten für die rechte Art personaler Kommunikation zu schaffen und alle Beziehungen im Licht der Offenbarung Gottes in Christus zu verstehen 146 . So betont Miller: „ D e r Erziehungsprozeß muß auf das "Wirken des Heiligen Geistes warten" (Rel. Ed., Mai/Juni 1962, S. 183).*

W i r können sagen, daß sich trotz mancher Unterschiede in der Terminologie und mancher verschiedener Akzentsetzungen bei den interpersonalen Theologen eine Theorie der christlichen Erziehung ergibt, die in den Grundzügen übereinstimmt. Sie versuchen, ihre pädagogische Theorie ganzheitlich, dynamisch und existentiell von der biblischen Offenbarung her in Teilhabe am Gemeindeprozeß und innerhalb der Begegnung des lebendigen Gottes mit dem geschichtlichen Menschen in seiner konkreten N o t zu entfalten. Es lassen sich somit folgende Kennzeichen der pädagogischen Theorie der interpersonalen Theologen feststellen: 1 . Ihr Ansatzpunkt liegt in der spannungsvollen Einheit von Offenbarung, Bibel und gegenwärtiger Gemeinde. 2. Sie entfalten ihre pädagogische Theorie von der christlichen Offenbarung und Gemeinde her in Bezug zu den Problemen des Menschen der Gegenwart. A n dieser Stelle treten sie in die Diskussion mit den empirischen Wissenschaften und der säkularen Pädagogik. 3. Die Aufgabe einer christlichen Erziehung besteht für sie darin, den Menschen in eine Begegnung mit Gott hineinzuführen, die ihm die rechte Beziehung zu Gott, dem Mitmenschen und sich selbst ermöglicht, nicht aber in der Vermittlung objektiver Kenntnisse über Gott, Mensch und Welt. "5

4- Ort und Medium der christlichen Erziehung sind die interpersonalen Beziehungen in der Gemeinde, durch welche die erlösende Gegenwart Gottes vermittelt wird. 5. Die Methoden der Erziehung leiten sich ab aus dem dynamischen Prozeß der Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen Personen. So können wir das Verständnis von christlicher Erziehung bei den interpersonalen Theologen auch mit der Feststellung von R. C. Miller zusammenfassen : „ D i e Erziehung beruht auf dynamischen Faktoren interpersonaler B e ziehungen in der Gemeinde, durch welche der Heilige Geist tätig ist als die Liebe Gottes in A k t i o n 1 4 ' . " *

Diese pädagogische Theorie der interpersonalen Theologen findet etwa in den Seabury Series, dem neuen Erziehungsprogramm der Protestant Episcopal Church, der auch R. C. Miller angehört, ihre Auswirkung. Sie setzen den Akzent vor allem auf die Gemeinschaft des Heiligen Geistes und die durch ihn bestimmten interpersonalen Beziehungen in der Gemeinde in ihrer Bedeutung für die Erziehung 148 . Als die Hauptgesichtspunkte dieses Programmes nennt Miller: 1. die Bezogenheit des Evangeliums auf die Bedürfnisse des Menschen in den verschiedenen Altersstufen, 2. die Anwendung gruppendynamischer Methoden, 3. die Bedeutung der Gemeinde und Familie für die Erziehung (a.a.O., S. 184 und 237Í.). In gleicher Weise hat die Erziehungskommission der Presbyterianischen Kirche der U S A , welcher Sherrill angehörte, in ihrem „Covenant Life Curriculum" von 1961 den pädagogischen Ansatz der interpersonalen Theologen aufgenommen. Nach Little sind seine besonderen Kennzeichen : 1. die Betonung des Zusammenhanges von Theologie und Pädagogik in einer Neuorientierung der christlichen Erziehung, 2. ihre Orientierung am Leben der Kirche in seiner Ganzheit, 3. die Betonung der Erwachsenenbildung, 4. die grundlegende Bedeutung der Familie für die christliche Erziehung. Der Begriff,,Covenant life Curriculum" weist darauf hin, daß christliche Erziehung sich vollzieht im Rahmen der Bundesbeziehung Gottes zu seinem Volk, innerhalb deren er sich offenbart und dem Menschen Erlösung und neues Leben anbietet 149 . 116

f ) Zustimmung und Kritik gegenüber der Gruppendynamik Gemeinsamkeit und Unterschied zwischen christlicher und säkularer Erziehung können in dreifacher Hinsicht beschrieben werden. 1. Im Blick auf das Wesen der erziehenden Gemeinschaft: Die christliche Erziehung teilt mit der säkularen Erziehung die Auffassung, daß sich Erziehung innerhalb eines sozialen Prozesses vollzieht. Der soziale Prozeß ist in diesem Fall aber die christliche Gemeinde. Die Gesellschaft kennt kein Korrektiv außerhalb ihrer selber. Sie muß ihre Ziele und Korrektive aus sich selbst gewinnen, bzw. werden ihr diese durch die staatlichen Organe vorgeschrieben, und ihre Verwirklichung wird gesetzlich geregelt. Die christliche Gemeinde hat ihr Korrektiv außerhalb ihrer selber, da sie unter der Herrschaft Gottes steht. Die Z u gehörigkeit zu ihr und somit-auch die Teilnahme an der christlichen Erziehung sind freiwillig (Sherrill, S. 80; Miller, Education, S. 53; Biblical, S. I27f.). 2. Im Blick auf die Art des Prozesses der Wechselwirkungen: Die christliche Erziehung beginnt und endet wie die säkulare Erziehung mit interpersonalen Beziehungen und Wechselwirkungen. Aber während in der Gesellschaft die Beziehungen und Wechselwirkungen nur zwischen Menschen bestehen, ist in der Gemeinde die erlösende und neuschaffende Kraft des Geistes Gottes in diesem Prozeß wirksam (Sherrill, S. 8of.; R . C . Miller, Education, S. 5 3 f.). 3. Im Blick auf das Erziehungsziel der Gemeinschaft: Die Erziehung in Gesellschaft und Gemeinde hat das Werden des menschlichen Selbst zum Ziel. Aber die Gesellschaft wünscht sich den Menschen in der Weise, daß er der Gliedschaft in ihr würdig ist, die Gemeinde hingegen wünscht sich ihn in der Weise, daß er vor allem der Gliedschaft im Reiche Gottes würdig ist (Sherrill, S. 81 f.). Die Tatsache jedoch, daß alle praktischen Ziele in der Erziehung durch einen Prozeß von Wechselwirkungen erreicht werden, ist in beiden Fällen dieselbe (Sherrill, S. 80; Miller, Education, S. 45). In dem Entwurf der Theorie einer christlichen Erziehung bei den interpersonalen Theologen ist der Einfluß der Gruppendynamik unverkennbar. Ein Vergleich mit Lewins sozialpsychologisch-pädagogischer Theorie läßt nicht nur die Verwendung einer gleichen Terminologie erkennen, sondern auch einen entsprechenden pädagogischen Ansatz und dieselben Grundkategorien des Denkens, wenn sie auch jeweils in dem verschiedenen Bezugsrahmen der Gesellschaft und der christlicheh Gemeinde entfaltet werden. 117

Die wichtigsten Übereinstimmungen in ihrem Ansatz sehen wir in folgenden Punkten: i . I n ihrer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen im Gesamtfeld seiner geschichtlich-sozialen Lebenswelt und ihrem dynamischen Verständnis der menschlichen Wirklichkeit als Prozeß. 2. In ihren Grundüberzeugungen hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und sozialem Feld: z. B . in ihrer Auffassung von der Formung des Selbst durch die Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen in einer Gruppe und von der Beziehung zwischen personalem Wandel und dem Prozeß der Wechselwirkungen. 3. In der Aufgabe der Erziehung als Teilhabe an einem Prozeß von Wechselwirkungen und dessen Leitung; in dem Erziehungsziel, das auf die ganzheitliche Wandlung des Menschen bezogen ist. 4. In der Ableitung ihrer pädagogischen Methoden von der wissenschaftlichen Erforschung des Gruppenprozesses; in ihrer Betonung der Priorität des Prozesses interpersonaler Beziehungen und Wechselwirkungen vor der Vermittlung von Inhalten. Die interpersonalen Theologen heben hervor, daß die in der Gruppendynamik und verwandten psychologisch-pädagogischen Richtungen gewonnenen Einsichten in die menschliche Wirklichkeit der biblischen Auffassung vom Menschen mehr entsprechen als die unter dem Einfluß griechischen Denkens stehenden Anthropologien 150 . Andererseits aber machen sie von ihrem Verständnis der Offenbarung und Gemeinde her auch die Grenzen und Gefahren der Gruppendynamik deutlich und betonen, daß die gruppendynamischen Methoden in der Gemeinde nur kritisch gebraucht werden können 1 5 1 . Ihre Kritik an der Gruppendynamik läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß sie die Möglichkeit verborgener Manipulation des Individuums durch die Gruppe aufdecken und somit auf die Gefahr des Verlustes der Selbstidentität des Menschen im sozialen Prozeß hinweisen. Die dämonischen, den Menschen zerstörenden Kräfte können auch in einem Prozeß wirksam sein, der allen Anforderungen der Gruppendynamik entspricht (s. o. S. 110). So warnt beispielsweise Grimes davor, das Individuum der Gruppe zu opfern. Erziehung innerhalb der Gemeinde meint Erziehung des freien, verantwortlichen Christen, der im letzten nicht vor Menschen, sondern vor Gott steht und ihm allein verantwortlich ist (S. 114). Es muß darum innerhalb der Gemeinde ein Maß der Freiheit geben, das es dem Individuum ermöglicht, auch gegen den Willen der Gruppe in Verantwortung vor Gott seine Entscheidung zu treffen: 118

„Der Wille der Gruppe ist nicht notwendig der Wille Gottes. Das Individuum muß manchmal sogar gegenüber der sogenannten christlichen Gruppe Widerstand leisten" (S. 122).* Dementsprechend hebt Clemmons hervor, daß der für den Wandel der Person grundlegende Vorgang des „commitment" ein A k t freier Entscheidung ist, der nicht durch Gruppendruck erzwungen werden darf. Die Gruppe kann nur die allgemeinen Bedingungen schaffen, innerhalb deren jeder seine eigene Entscheidung verantworten und vollziehen muß (Dynamics, S. 1 1 2 ) . Die eigentlichen Wandlungen in der Tiefe des Selbst sind der Beobachtung und Kontrolle unzugänglich, sie sind letztlich nur in der Kommunikation mit Gott möglich und vollziehen sich im Glauben (vgl. Sherrill, S. 182). Damit relativieren die interpersonalen Theologen die Bedeutung der gruppendynamischen Methoden, obgleich sie andererseits auf ihre W i c h tigkeit hinweisen. Sie stellen die personale Wirklichkeit des Menschen gegenüber den Erfordernissen des sozialen Prozesses stärker in den Mittelpunkt als die Gruppendynamik. Trotz der Realität und Relevanz des sozialen Prozesses auch hinsichtlich der christlichen Erziehung ist die Person des einzelnen f ü r sie letzter Bezugspunkt alles Denkens und Handelns in der Gemeinde 1 5 2 . Z w a r erkennen sie an, daß mit der Gruppendynamik als Wissenschaft die personale Wirklichkeit des Menschen im sozialen Prozeß neu zur Geltung gebracht wird und daß sie gerade darum besondere Bedeutung für die christliche Gemeinde hat, aber gleichzeitig machen sie auf die Möglichkeit ihres Umschlagens in eine soziologistische Anthropologie aufmerksam, die in der Anpassung des Menschen an den sozialen Prozeß ihr Kriterium haben könnte. Demgegenüber betonen sie als letztes Kriterium die Freiheit und personale Verantwortung des Menschen vor G o t t 1 5 3 . Man kann die Kritik der interpersonalen Theologen gegenüber der Gruppendynamik auch in der Weise formulieren, daß sie den Akzent von der Struktur der Beziehungen und Wechselwirkungen auf die Art der Beziehungen verlagern. Die Schaffung bestimmter Strukturen des Prozesses durch Anwendung bestimmter Methoden kann die menschliche Kommunikation erleichtern - und darauf beruht auch ihre Relevanz für die Gemeinde - aber sie kann den Menschen und die Gesellschaft nicht aus ihren Verstrickungen erlösen. Darum ist die „ A r t der Beziehungen" oder die „Qualität des Lebens" („quality of life"), die sich in den Strukturen vollzieht und in ihnen vermittelt wird, wichtiger als die Struktur des Prozesses selbst. D i e Art der Beziehungen in der christlichen Gemeinde wird dadurch bestimmt, daß Gott durch den Heiligen Geist in der Gemeinde gegenwärtig ist und daß die Beziehungen daher zu Trä-

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gern der Gnade Gottes, des Glaubens, der Vergebung, der Liebe werden können 154 . So erfährt das für den Ansatz der interpersonalen Theologen charakteristische Verhältnis von Anthropologie und Ekklesiologie hinsichtlich der christlichen Erziehung seine Zuspitzung in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Struktur und Art der Beziehungen. Sie teilen mit der Gruppendynamik die Auffassung, daß alle Erziehung sich in einem sozialen Prozeß vollzieht, der durch interpersonale Beziehungen und Wechselwirkungen strukturiert ist. Sie betonen aber, daß für die christliche Erziehung nicht die Struktur, sondern die Art der Beziehungen letztlich entscheidend ist: ihre Bestimmtheit durch den Geist Gottes. Auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der pädagogischen Theorie der Gruppendynamik lassen sich Gemeinsamkeit und Unterschied der Fragestellung von Theologie und empirischer Wissenschaft v o m Menschen präzisieren. Nach R. C . Miller kommt in der Kategorie der Beziehungen sowohl eine theologische, als auch eine psychologische, soziologische und pädagogische Erkenntnis zum Ausdruck, so daß hier der Bezugspunkt der Theologie zu den anderen Wissenschaften und zur menschlichen Wirklichkeit in ihrer Einheit liegt 1 5 5 . Auch die theologische Begriffsbildung ist durch ihre Bezogenheit auf Relationen bestimmt: „ D i e meisten theologischen Begriffe entstanden ursprünglich als der V e r such, Beziehungen . . . zwischen Gott und Mensch in der Geschichte zu beschreiben" (Education, S. I i ) . *

Die Theologie hat darin ihre Relevanz, daß sie zusammen mit den anderen Wissenschaften v o m Menschen eine Hilfe zu leisten vermag im Blick auf die Probleme, die mit der Verflochtenheit des Menschen in interpersonale Beziehungen gegeben sind (a.a.O., S. 71). Der Unterschied der Theologie gegenüber den anderen Wissenschaften besteht darin, daß sie nach dem Verhältnis von Gottesbeziehung und Menschenbeziehung und nach dem Vollzug christlicher Existenz in dem allen Menschen gemeinsamen Prozeß der Wechselwirkungen fragt: „ D i e Qualität des Lebens . . . ist das entscheidende Element in einer T h e o logie der Beziehungen. D e r Christ sieht Gott am W e r k in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes" (a.a.O., S. 66).*

Sherrill legt den Akzent darauf, daß die Theologie gemeinsam mit den empirischen Wissenschaften nach den dynamischen Kräften fragt, die im Prozeß des Selbst und im Prozeß der interpersonalen Beziehungen und Wechselwirkungen am W e r k sind. Aber das eigentlich theologische 120

Problem ist die Frage nach dem Verhältnis der dvvafin; fteov zu der von den empirischen Wissenschaften erforschten Dynamik. Damit bezeugen Theologie und Gemeinde gegenüber diesen Wissenschaften und der modernen Welt, deren Exponenten letztere sind, daß die Gefahren der durch den sozialen Prozeß der Gegenwart entbundenen Kräfte nur überwunden werden können, wenn sie durch die göttliche „Dynamik" des Heiligen Geistes ihre Richtung erhalten und damit selbst zu „geistlichen" Kräften werden: „Gott sucht die menschlichen Personen und ihre Wechselwirkung in der christlichen Gemeinde geistlich zu durchdringen auf Grund der Offenbarung seiner selbst. Dies ist die höhere Dynamik, die Dynamik

oder Kraft

des Geistes. Die dynamischen Kräfte des Wandels im Selbst und die dynamischen Kräfte der Wechselwirkung werden geistlich, wenn die Menschen in der Gemeinde offen sind und dieser göttlichen Dynamik antworten, welche aus einem Abgrund von Liebe und Kraft kommt" (S. 1 7 3 ) . *

Auf der Gegenwart dieser Kraft des Heiligen Geistes, in welcher alle Gaben Gottes für den Menschen zusammengefaßt sind, beruht die Wirksamkeit der christlichen gegenüber jeder säkularen Erziehung. Christliche Erziehung ist nur möglich, wenn die Gemeinde diese Art des Lebens empfängt, vollzieht und vermittelt. Man darf daher die Betonung der Bedingtheit der christlichen Erziehung durch die Qualität des Lebens in der Gemeinde nicht im moralistischen Sinne mißverstehen. Die interpersonalen Theologen wollen damit zum Ausdruck bringen, daß die Gemeinde die erlösende Gnade und Liebe, die ihr von Gott geschenkt ist, in ihrem ganzen Lebensvollzug gebrauchen soll. Gott allein ist es, der die Erlösung des Menschen vollbringen kann, aber diese Erlösung ist schon jetzt eine Realität, aus der die Gemeinde leben und die sie in ihren Diensten zur Auswirkung kommen lassen kann 156 . Die göttliche Initiative, die allem menschlichen Tun vorausgeht, steht nicht in Widerspruch zur verantwortlichen Partizipation der Gemeinde an seinem Wirken, sondern fordert sie geradezu heraus 157 . Sherrill bezeichnet die göttliche övvafw; als „power to become" - eine Kraft des Werdens. Das bedeutet im Blick auf den einzelnen die Kraft, ein Selbst zu werden, und im Blick auf die Gemeinde die Kraft, eine wahrhaft personale Gemeinschaft zu werden, wie es Gott allein dem Menschen schenken kann. Die „Kraft des Werdens" meint die Möglichkeit, zu werden, wozu uns Gott geschaffen hat 158 . Sie ist beides: ein Anrecht und eine Ermächtigung - sie bleibt ganz die Kraft Gottes und ist doch schon jetzt in der Gemeinde wirksam (S. 191 f.). Darum hat die Gemeinde, obgleich auch sie bis zum jüngsten Tag von dämonischen Mächten bedroht wird, gegenüber jeder anderen menschlichen Gruppe 121

einzigartige Möglichkeiten in ihrem ganzen Lebensprozeß und in der Erziehung ihrer Glieder: „Die Gemeinschaft, die diesen Prozeß der Erlösung widerspiegelt, hat Z u gang zu Kraftquellen, die weit hinausgehen über die Möglichkeiten einer Gemeinschaft, die innerhalb der horizontalen Dimension menschlicher Beziehungen Erfüllung sucht . . . Die erlösende Gemeinde macht Quellen der Kraft zugänglich, die sonst unzugänglich sind" (R. C . Miller, Biblical, S. 10).*

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Kapitel III

PRAKTISCHE MODELLE DER GEMEINDEARBEIT UND THEORIE VOM PFARRAMT

a) Orientierung an Personen und Aufgaben im sozialen Feld Der Prozeß der Erziehung dient dem Aufbau einer mündigen Gemeinde, in welcher alle Glieder am Lebensvollzug der Gemeinde und den verschiedenen Diensten partizipieren: „ W i r sind für eine Ortsgemeinde, die eine Gruppe von Gruppen ist - eine Kirche, in welcher sich jeder in eine organische Gemeinschaft einbezogen (involved) fühlen kann" (Snyder II, S. i ) . *

Weil alle Tätigkeiten und Gruppen innerhalb der Gemeinde erzieherische Bedeutung haben, sollte sich jedes Glied einer Ortsgemeinde mindestens einer face-to-face Gruppe anschließen, die ihm durch das Medium ihrer interpersonalen Beziehungen die Begegnung mit Gott und dem Mitmenschen und das Wachsen zur Mündigkeit ermöglicht 1 . Aus dieser pädagogischen Funktion der Gruppen innerhalb des Gemeindeprozesses ergibt sich für die interpersonalen Theologen im Blick auf die gruppendynamische Differenzierung zwischen personbezogenen („person-centered") und funkt ionsbezogenen („task-centered) Gruppen (s. o. S. 36), daß die Gruppen in der Gemeinde primär auf Personen und ihr Wachsen bezogen sein müssen und erst sekundär auf die Verrichtung bestimmter Aufgaben 2 . Das wichtigste Kennzeichen der „personcentered group" besteht für sie darin, daß sie „need-centered" ist (vgl. Grimes, S. 1 1 1 ; R. C . Miller, Ed., S. 266). Sie meinen damit, daß die Bildung einer christlichen Gruppe jeweils einem konkreten menschlichen Bedürfnis entsprechen muß. Das heißt jedoch nicht, daß die Gruppe in oberflächlicher Weise alle augenblicklichen Bedürfnisse zu befriedigen hat, sondern daß sie bezogen sein muß auf die letzte existentielle Not des Menschen, die hinter den jeweiligen Bedürfnissen und Nöten steht. Sie muß den Menschen in die Konfrontation mit dieser existentiellen Not hineinführen (vgl. Grimes, S. 115). Das eigentliche Ziel der christlichen Gruppe besteht darin, auf die Grundfragen und Nöte des Menschen zu antworten und ihm darin zur Begegnung mit Gott zu verhelfen 3 . Die Begegnung mit Gott bedeutet aber zugleich, daß der Mensch zur Verantwortung und zum Dienst berufen wird. Christliche Erziehung meint daher immer ein Doppeltes: sie will dem Menschen die rechte 123

Beziehung zu Gott und seinen Mitmenschen ermöglichen und ihm gleichzeitig Hilfe geben, diese neue Beziehung in seinem Leben in Gemeinde und Welt zu verwirklichen (vgl. R. C. Miller, Rel. Ed., Mai/Juni 1961, S. 201 ff.). Darum wird auch eine christliche Gruppe immer diesen doppelten Aspekt in ihrer Zielsetzung enthalten: Hilfe zum personalen Wachstum und Zurüstung zum Dienst (Grimes, S. 125). Beides ist unlösbar aufeinander bezogen. Indem die Gemeindeglieder einander in ihren Grundfragen begegnen und vom Evangelium her eine Antwort suchen, lernen sie gleichzeitig, in gegenseitiger Hilfe die jeweils gestellten Aufgaben zu lösen und gemeinsam Verantwortung zu tragen. Der „funktionale" Aspekt ist also immer mit enthalten. Leslie betont, daß die Unterscheidung eher zum Zweck der Analyse als im Blick auf die Praxis getroffen werden könne. Die meisten kirchlichen Gruppenprozesse spielen sich in einem Bereich ab, w o sich personale und funktionale Interessen überschneiden4. Es ist nur jeweils die Frage, welcher Gesichtspunkt der dominierende ist. Unter den interpersonalen Theologen tendiert Douglass am meisten dahin, dem funktionalen Aspekt das Ubergewicht zu geben5, während auf der anderen Seite Johnson, der die therapeutische Gruppe vor Augen hat, die christliche Gruppe vorwiegend als „person-centered" betrachtet (vgl. z. B . Psych., S. 16). Die Mehrzahl der interpersonalen Theologen sieht die beiden Pole in Wechselwirkung, aber sie ordnen doch den funktionalen dem personalen Aspekt unter (vgl. z. B. Grimes, S. 118). Auch die Vollbringung bestimmter Aufgaben muß dem personalen Wachstum dienen. Sie lehnen es ab, daß Funktionen absolut gesetzt werden. Darum betonen sie auch, daß diejenigen Gruppen aufzulösen sind, die keinem konkreten Bedürfnis mehr entsprechen. Casteel weist darauf hin, daß bei der Bildung von Gruppen niemals ein Gefühl des Verpflichtetseins zur Vollbringung irgendwelcher äußerlicher Funktionen das treibende Motiv sein könne, sondern nur ein wirkliches Interesse und Bedürfnis seitens der Glieder. Daraus kann sich dann die Aufgabe ergeben, der die Gruppe dienen will (in: Casteel, Renewal, S. 193). Ihre Berufung zum Dienst können die Gruppen in der Gemeinde erfüllen, indem sie entweder ihre Glieder zur rechten Ausübung ihrer individuellen Verantwortung anleiten, oder indem sie selbst konkrete Aufgaben übernehmen (vgl. Casteel, a.a.O., S. 207). Die Zurüstung der einzelnen Gemeindeglieder erfolgt in Studiengruppen („study-groups"), die vorwiegend auf Probleme und Nöte bezogen sind. Sie können die verschiedensten Formen haben, so beispielsweise Sonntagsschulklassen, kirchliche Unterrichtsgruppen, Bibelstudiengruppen, Diskussionsgruppen, die sich um irgendeinen Gegenstand sammeln usw. Grimes weist in diesem 124

Zusammenhang besonders auf die Nachbarschaftsgruppen hin, die sich v o r allem in städtischen, weit verstreuten Gemeinden - aus Menschen bestimmter Wohnbezirke bilden zur Besprechung gemeinsamer Probleme. Der Zurüstung dienen ferner Gebetsgruppen („prayer groups"), die verschiedenen Freizeitgruppen, Jugendlager u. a. 6 Die Erfüllung spezieller Aufgaben vollzieht sich etwa durch Gruppen, die sich die Ausführung von administrativen und organisatorischen Funktionen zum Ziel gesetzt haben oder die ihre besondere Verantwortung in Evangelisation und Diakonie sehen. Es ist aber zu beachten, daß, was auch immer das konkrete Ziel einer Gruppe sein mag, ihre Hauptaufgabe darin besteht, Menschen zur Begegnung mit Gott zu führen (Grimes, S. Iii). Darum sind Hauptelemente einer jeden Gruppe Studium der Bibel, Gebet, Austausch von Nöten und Erfahrungen des Glaubens. Das Zentrum des gemeinsamen Lebens der Gruppe ist die Kommunikation mit Gott (Casteel, in: Renewal, S. 199 ff.). Aber trotz dieser Besonderheit der christlichen Gruppe haben auch die Gruppen in der Gemeinde teil an den Gesetzmäßigkeiten des Gruppenprozesses, wie sie die Gruppendynamik erforscht. Als besonders wichtig bezeichnen die interpersonalen Theologen die Kenntnis der verschiedenen Phasen, die der Gruppenprozeß durchlaufen muß, wenn ein größtmögliches Maß an personalem Wachstum und Produktivität in der Vollbringung von Aufgaben gewährleistet werden soll (vgl. Clemmons, Dyn., S. 41). Als ein Beispiel für die Theorien von den Stadien des Gruppenprozesses, w i e sie von den interpersonalen Theologen zugrundegelegt werden, sei hier die Theorie von Hartley and Hartley genannt 7 . Sie unterscheiden folgende Stadien in der Entwicklung einer Gruppe: 1. Exploration. Wenn Menschen zusammenkommen, um eine Gruppe zu bilden, verbindet sie irgendeine gemeinsame Absicht, aber es besteht noch kein „Netzwerk interpersonaler Beziehungen". Die erste Etappe bei der B i l dung einer Gruppe ist das gegenseitige Kennenlernen der Menschen unter dem Gesichtspunkt, ob sie miteinander eine Gruppe bilden und gemeinsame Ziele haben können. 2. Identifikation. Nach dem Stadium gegenseitigen Kennenlernens bildet sich ein Z u sammengehörigkeitsgefühl heraus, welches sich etwa darin äußert, daß man sich frei fühlt, der zu sein, der man ist, und daß jeder Annahme seitens der Gruppe erfährt. 3. Entstehung kollektiver Ziele. Durch den Prozeß des gegenseitigen Austausches entstehen langsam die 125

Umrisse der gemeinsamen Aufgabe, welche die Gruppe übernehmen will. Die verschiedenen Interessen und Einzelziele konvergieren zu einem Gesamtziel. Je mehr dieses zum Kommunikationsmittelpunkt wird, um so mehr wird es auch zum eigenen Ziel jedes Individuums. Oft fällt nach Erfüllung der ursprünglichen Aufgabe die Gruppe wieder auseinander. Aber wenn das Zusammengehörigkeitsgefühl in einer Gruppe sehr stark entwikkelt ist, sucht sie sich nach der Beendigung der einen Aufgabe eine neue. 4. Entwicklung der Gruppennormen. Im Verlaufe des weiteren Gruppenprozesses bilden sich bestimmte Verhaltensformen heraus, die das Wir-Gefühl steigern und die Gruppe von ihrer Umwelt unterscheiden. Die Kommunikationsmöglichkeiten mit Nichtmitgliedern werden immer geringer. 5. Haltung gegenüber Gruppenangehörigen und Gruppenfremden. Aus den Verhaltensweisen innerhalb der Gruppe („in-group-attitudes") bilden sich als Folge des inneren Zusammenhaltes bestimmte Verhaltensweisen gegenüber der Außenwelt („out-group-attitudes"), die oft von einem Gefühl der Exklusivität getragen sind (wir - die anderen). 6. Gruppenatmosphäre. Sie meint die spezifische Eigenart der Beziehungen der Gruppenglieder (s. o. S. 1 1 1 ) . 7. Differenzierung von Status und Rolle. In der Entwicklung der Gruppenstruktur bildet sich eine gewisse Ranghierarchie heraus, und die Rollen der einzelnen Gruppenglieder differenzieren sich. Beispielsweise gewinnen einige Mitglieder größeren Einfluß als andere. Es entwickelt sich eine bestimmte Führungsstruktur. Die verschiedenen Rollen beziehen sich sowohl auf die Gruppenziele als auch auf die interpersonalen Beziehungen. Die Rang- und Rollenstruktur ist jedoch flexibel. In letzter Zeit wird von den interpersonalen Theologen vor allem ein Modell von den Phasen des Gruppenprozesses zugrundegelegt, das der Entwicklungspsychologie entspricht. Man unterscheidet darin im Blick auf das spezielle Verhältnis zwischen der Gruppe und ihrem Leiter folgende drei Phasen: 1.Abhängigkeit (dependence; die Gruppe erwartet vom Leiter, daß er alle Entscheidungen trifft usw.). 2. Rebellion (counterdependence; Feindschaft gegen den Leiter, allgemeiner Kampf um die Führung). 3. Wechselseitige Abhängigkeit aller Gruppenglieder, einschließlich des Leiters (interdependence, vgl. Reid, Groups, S. 61 ff.). Die Entwicklung der Beziehung von Gruppe und Leiter und der sich darin vollziehende personale Wachstumsprozeß wird im Zusammenhang der Theorie vom Pfarramt behandelt (s. u. S. 160ff.). 126

Die interpersonalen Theologen betonen, daß die Gruppen in der Gemeinde ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit und das größtmögliche Maß an Freiheit für die Entwicklung von Verhaltensweisen haben sollten (vgl. Grimes, S. 115). Andererseits warnen sie vor Exklusivität und Selbstzufriedenheit, die sich in einem Gefühl besonderer Erwähltheit äußern könnten: Die wirklich christliche Gruppe wird immer bereit sein zur Kommunikation mit anderen Gruppen und zum Dienst in Gemeinde und Welt 8 . Die Kenntnis der Phasen des Gruppenprozesses soll vor allem dazu beitragen, daß alle Glieder einer Gruppe sich aktiv beteiligen können und die Gesetzmäßigkeiten verstehen lernen, die sich in ihrem gemeinsamen Leben und Tun auswirken (vgl. Clemmons, Dyn., S. 41). Bei der Formation neuer und der Teilung bereits bestehender Gruppen ist besonders zu beachten, daß sie klein genug sind, um ein Maximum an „face-to-face communication" zu ermöglichen. Dies ist nicht nur hinsichtlich der Versammlungen der Gruppen wichtig, sondern auch im Blick auf die gegenseitige Fürbitte der Gruppenglieder und die Sorge füreinander, die den ganzen Lebensvollzug betreffen sollte9. Das Leben der Gruppe darf nicht vom individuellen Alltag der Gruppenglieder isoliert werden (Casteel, a.a.O., S. 205 f.). Die Gruppenaktivität spielt sich zum großen Teil im Rahmen der Ortsgemeinde und der überregionalen kirchlichen Zusammenhänge (Konferenzen, Jugendlager usw.) ab, ist aber nicht auf diesen beschränkt. lj)ie interpersonalen Theologen verweisen auf die Bedeutung der kleiüen Zellen („cellular units") personaler Beziehungsnetze, die in keinerlei institutionellem Zusammenhang mit der Kirche stehen und doch für ihre Lebendigkeit sehr wichtig sind 10 . In den folgenden Abschnitten wollen wir versuchen, Durchblicke zu geben, wie sich der Gemeindeprozeß in seinen verschiedenen Bereichen bei Verwirklichung gruppendynamischer Theorien gestalten kann 1 1 . Eine umfassende Darstellung ist nicht möglich, weil die Diskussion darüber noch in vollem Gange ist. Wir wollen nur einige Modelle aufzeigen, die möglich sind, aber nicht typisch zu sein brauchen. Sie sollen jedoch erkennen lassen, wie sich die Hauptkriterien der Gruppendynamik in der Gemeindepraxis auswirken.

b) Das Lehen mit der Bibel

Eine der wichtigsten Aufgaben der christlichen Gruppe ist nach Meinung der interpersonalen Theologen das Studium der Bibel 1 2 . Der Begriff 127

„Studium" wird von ihnen in einem doppelten Sinn verstanden: Einerseits bedeutet Bibelstudium die Frage nach ihrer Vorstellungswelt, ihrer Lehre, der Geschichte ihrer Entstehung. Andererseits meint Studium der Schrift die Frage nach der Bedeutung ihrer Botschaft für das gegenwärtige Leben. Diese unmittelbare, existentielle Konfrontation mit der Bibel, deren Ziel die Begegnung mit Gott ist, bildet den eigentlichen Inhalt des Bibelstudiums in der Gemeinde 13 . Ross Snyder nennt für dieses Studium der Schrift eine zweifache Intention: Es geht in gleicher Weise darum, daß der einzelne Christ die Bezogenheit der Bibel auf die Probleme seines persönlichen Lebens verstehen lernt und daß im Studium der Schrift Gemeinde entsteht. Indem die Glieder der Ortsgemeinde miteinander darüber sprechen, was die Bibel für sie bedeutet und w o sie im Verständnis der Schrift persönlich stehen, vollzieht sich das gemeinsame Leben der Gemeinde aus dem Evangelium. Es werden Stellungnahmen, Entschlüsse und Erkenntnisse gewonnen, die für ihr Handeln als Gemeinde innerhalb ihrer eigenen Grenzen und der Welt gegenüber richtungweisend sind 14 . Die interpersonalen Theologen setzen an bei der Diskrepanz zwischen der Wichtigkeit des Studiums der Schrift für den einzelnen Christen wie für die Gemeinde als ganzer und der tatsächlichen Situation, die durch eine weitgehende Vernachlässigung des Bibelstudiums gekennzeichnet ist (Snyder X I V , S. i ; Douglass, S. 43). Sie versuchen, mit Hilfe gruppendynamischer Aspekte neue Wege zu finden, wie der einzelne und die Gemeinde wieder zum Bibellesen angeleitet werden können. Snyder entwirft etwa eine Methode des Bibelstudiums, die er als „Depth andEncounter Study of the Bible" bezeichnet (Snyder XIV). Die Grundzüge dieser Methode finden sich mehr oder weniger explizit auch bei den anderen interpersonalen Theologen 15 . Snyder spricht von einem Bibelstudium in der „Begegnung", weil Inhalt des Studiums eine unmittelbare personale Konfrontation in drei Dimensionen ist: 1. die Begegnung mit dem Heiligen Geist, wie er sich uns durch die Worte der Schrift mitteilt, 2. die Begegnung mit uns selbst, wie wir sind und sein sollten, 3. die Begegnung mit den anderen Personen in der Gruppe, die zum Ziel hat, daß jedem Gruppenglied geholfen wird, in der Erkenntnis der Schrift zu wachsen (Snyder X I V , S. 1). Dieses Studium der Schrift in der Begegnung ist „Tiefenstudium" in dreifacher Hinsicht: i . E s hilft der Person des einzelnen Gruppengliedes, die vagen Bewegungen seines Geistes, die im allgemeinen nicht ins Bewußtsein dringen, in Worte zu fassen und sie auf diese Weise auf die Ebene klarer Erkenntnis 128

zu heben. Nur im Gespräch mit einer Gruppe, die ihn annimmt und versteht, wird der Mensch fähig, seine tieferen Erfahrungen wirklich zu besitzen. 2. Im Vollzug des Studiums verwirklichen sich interpersonale Beziehungen, die dem Menschen die Erfahrung der Tiefe der anderen Person ermöglichen. 3. Es ist „Tiefenstudium" in dem Maße, als die Gruppe durch die Oberfläche des Wortlauts und der Vorstellungswelt der Schrift hindurchstößt zu dem Wort Gottes, das in die eigene Situation hineinspricht (Snyder, a.a.O., S. 4L). Die Methodologie dieses „Depth and Encounter Study" gliedert sich in drei Stadien: 1. Die individuelle Arbeit. Der erste Schritt besteht darin, daß jedes Glied der Gruppe von dem betreffenden Abschnitt der Bibel seine eigene Ubersetzung in der Sprache und Vorstellungswelt niederschreibt, in welcher er täglich denkt, fühlt, spricht und seine Entscheidungen fällt. Der Mensch versteht den Text nur dann wirklich, wenn er ihn in eigene Worte fassen kann. Darum darf keines der in dem Bibelabschnitt vorkommenden Worte in der Übersetzung verwandt werden. Danach stellt jeder die Frage nach der Bedeutung dieses Abschnitts für sein persönliches Leben: Was würde geschehen, wenn ich dieses Wort ernst nehmen würde ? Einige dieser Gedanken sollten notiert werden. Übersetzung und Nachdenken werden etwa 15 bis 20 Minuten in Anspruch nehmen. 2. Das Gruppengespräch. In diesem zweiten Stadium geht es darum, daß jeder seine Gedanken innerhalb der Gruppe aussprechen und entwickeln kann. Eine solche Beteiligung aller läßt sich am besten erreichen, wenn die Gruppe zunächst nicht mehr als fünf Personen umfaßt 16 . Die Arbeit der Gruppe vollzieht sich in zwei Schritten. Zuerst gibt das einzelne Gruppenglied seine Übersetzung und Auslegung wieder und erläutert die Erfahrungen, aus denen sie entstanden sind. Es ist von großer Wichtigkeit, daß die Gedanken des Individuums von der Gruppe genau aufgenommen werden. Mindestens zwei Gruppenglieder sollen feststellen, was ihnen mitgeteilt worden ist, damit die Möglichkeit der Ergänzung und Korrigierung gegeben ist. Der zweite Schritt besteht darin, dem einzelnen bei der Entwicklung seiner Gedanken zu helfen, und zwar in der Weise, daß es seine Gedanken bleiben. Die Gruppe muß sich darum jeder Kritik und jedes Urteils enthalten. Sie kann dem einzelnen lediglich helfen, seine Gedanken zu überprüfen, indem sie ihn etwa fragt, wie er seine Ideen in bestimmten Situationen konkretisieren würde. Wenn jedes Gruppenglied auf diese 129

Weise gehört worden ist, kann die Arbeit in eine allgemeine Diskussion ausmünden. Es ist dabei aber zu beachten, daß es um geistliche Entwicklung, nicht um Debatten geht, weil die Gruppenglieder in diesem Fall einander an dem Ort begegnen, w o sie leben. Der Leiter hat vor allem die Aufgabe, durch sein persönliches Verhalten die Weise einer rechten Begegnung zu lehren. Es ist gut, wenn er die Rolle eines Skeptikers und Repräsentanten der Welt annimmt, um billige Antworten zu verhindern. Auf keinen Fall darf er seine eigenen Gedanken als endgültige Lösung anbieten (Snyder X I V , S. 3). 3. Der Theologe als Spezialist. Nachdem sich die Gruppe mehrere Male zum Studium eines bestimmten Teiles der Bibel getroffen hat, sollte ein Theologe eingeladen werden, der in die wichtigsten exegetischen Probleme des Abschnittes einführt und deutlich macht, was die Botschaft des Kapitels für diejenigen bedeutete, an die sie ursprünglich gerichtet war. Snyder und Grimes heben hervor, daß man auch die Erkenntnisse der modernen Bibelkritik den Laien nicht vorenthalten sollte, aber diese Belehrungen und Auseinandersetzungen müßten dem Ziel dienen, daß die biblische Botschaft selbst besser verstanden wird (Snyder X I V , S. 4; Grimes, S. 143). Der Theologe sollte darum nach der wissenschaftlichen Exegese des Textes auch sagen, was dieser Text für ihn persönlich bedeutet, während die Gruppe von den exegetischen Aspekten her zu einer Überprüfung ihrer eigenen Auslegung angeleitet werden sollte. Wenn ein Text für die Gruppe eine besondere Bedeutung erlangt hat, könnte die Auslegung zu einer Meditation gestaltet werden oder ein Gruppenglied könnte über den Text predigen. Was die Auswahl der Texte betrifft, so sollte man sich auf Texte beschränken, die dieser Methode entsprechen: erzählende Abschnitte eignen sich nicht gut für die eigene Übersetzung. Man sollte kleinere Textabschnitte wählen, nie ein ganzes Kapitel. Dabei muß jedoch darauf geachtet werden, daß jeweils die wichtigsten Texte aus einem Buch ausgewählt werden, damit die Gesamtbotschaft zur Geltung kommen kann (Snyder X I V , S. 5f.). Trotz mancher Gefahren hat diese Methode den großen Vorteil, daß sie dem einzelnen eine wirkliche Anleitung zum persönlichen Bibelstudium geben kann und durch Gruppendiskussion Mittel der Selbstkorrektur bietet 17 . Die Bibelarbeit in der Gruppe kann jedoch das persönliche kontinuierliche Bibelstudium des einzelnen nicht ersetzen. Casteel warnt nachdrücklich vor einer Absolutsetzung und Isolierung des Gruppenaspektes im Blick auf das Bibelstudium (in: Casteel, Renewal, S. 200). Das Bibelstudium in der Gruppe allein genügt nicht, sondern muß im ganzen Leben 130

der Gruppenglieder verankert werden (vgl. auchCox, in: Casteel, S. 110). Darum ist es auch eine Funktion der Gruppenarbeit an der Bibel, den einzelnen zum eigenen täglichen Studium derselben zu führen. Einen Vorschlag, wie man mit Hilfe des „group Workshop w a y " 1 8 das regelmäßige Bibellesen wieder in den Familien der Gemeinde verankern könnte, bringt Douglass mit seinem „Program for a Bible-ReadingPeriod", das bereits in der Praxis erprobt wurde (Douglass, S. 43 ff.). Eine kleine Gruppe in der Gemeinde befaßt sich mit dem Problem, wie die Gemeindeglieder einen neuen Zugang zur Bibel gewinnen können, und entwirft nach eingehenden Studien und Diskussionen einen Plan, der zum Ziel hat: Ermutigung zum Bibellesen, Klärung der Grundbegriffe des christlichen Glaubens, Beziehung dieser Grundbegriffe auf das alltägliche Leben. Der Plan sieht einen Zeitraum von acht Wochen für diese Aktion vor. Der Gemeinderat billigt den Vorschlag und beauftragt die Gruppe, das Programm in allen Einzelheiten auszuarbeiten. Es ergibt sich die Notwendigkeit einer Aufteilung des Problems in verschiedene Spezialfragen und damit zugleich der Bildung verschiedener Untergruppen („subgroups") zur Behandlung der einzelnen Probleme. In der sachgemäßen Unterteilung des Hauptproblems und der Zuweisung der Einzelprobleme an Untergruppen sieht Douglass den wichtigsten Faktor des ganzen Planes (vgl. S. 48). Eins dieser „sub-problems" ist die Frage des Zeitraumes. Die mit dieser Frage speziell betraute Gruppe kommt zu dem Ergebnis, daß ein Zeitraum von acht Wochen zu kurz und daß stattdessen das ganze Kirchenjahr von Advent bis Pfingsten der geeignetste zeitliche Rahmen für das Unternehmen sein würde. Ein anderes sub-problem ist die Frage, welche Bibelausgabe als Text benutzt werden soll. Die dafür zuständige Gruppe entscheidet sich für eine moderne Textgestalt in verkürzter Form und handlichem Format. Der oberste Grundsatz ist dieser, daß die Bibel wie ein gewöhnliches Buch aussehen soll. Deshalb wird die Einteilung in Verse aufgegeben. Ein drittes Problem ist die Finanzierung des Projektes. Es soll an jedes Glied in jeder Familie der Gemeinde ein solches Exemplar verteilt werden. Eine besondere Gruppe befaßt sich mit der Frage der Kosten und der Beschaffung der Mittel. Eine andere Gruppe beschäftigt sich mit der Frage der Verteilung der Exemplare. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß die Verteilung durch Hausbesuche geschehen soll zu einem Zeitpunkt, an dem der ganze Familienkreis anwesend ist. Das Hauptproblem wird dann aber dieses, wie die Gemeindeglieder zum Lesen der Exemplare angeregt werden können. Eine besondere Gruppe sucht nach Mitteln, die geeignet sind, das Interesse der Gemeindeglieder 131

an der Bibel zu wecken: beispielsweise Hinweise in Predigten, Gemeindebriefe, Einrichtung v o n Studiengruppen, Hausbesuche, Nachbarschaftstreffen, besondere Prospekte, kleine Broschüren über die Geschichte der Bibel, Bilder, biblische Spiele im Familienkreis, Quiz-Abende usw. (S. 45 f.). Es wird auch der Vorschlag gemacht, daß die Zeitungen studiert werden mit dem Ziel, Punkte zu entdecken, auf welche die Botschaft der Bibel bezogen werden kann, und daß diese Informationen den Gemeindegliedem wöchentlich zugesandt werden (S. 48). So entwickelt sich aus der Tätigkeit der Gruppen ein umfassendes Programm für eine besondere Bibelleseperiode, die eine Wandlung der Gemeinde in ihrer Einstellung zur Bibel herbeiführen soll. Der springende Punkt der Modelle von Snyder und Douglass liegt darin, daß die Gemeinde angeleitet werden soll, sich selbst über mögliche W e g e des Bibelstudiums Rechenschaft zu geben. Es wird kein Programm vorgesetzt, sondern die Gemeinde erarbeitet sich selbst das Programm und die Art der Bibelarbeit. Bezeichnenderweise tritt der Theologe in dem Modell von Snyder ganz zuletzt auf. Er darf mit seiner Fragestellung den Gemeindegliedern nicht den Z u g a n g zur eigenen Frage versperren, sondern wird am Schluß als „Spezialist" hinzugezogen. Es verbinden sich in diesen Modellen seelsorgerliche mit gruppendynamischen Aspekten. N u r wenn die Gemeindeglieder sich selbst den W e g zur Bibel bahnen, werden sie fähig, die Botschaft der Bibel für sich persönlich zu entdecken. D i e Gruppe dient als O r t gegenseitiger Hilfe, um durch Klärung eigener Gedanken und persönlichen Erfahrungsaustausch den U m g a n g mit der Bibel zu lernen. Das ist nur möglich, w e n n das einzelne Gruppenglied seine Fragen so stellen kann, w i e es sie stellen muß und darin Annahme und Hilfe seitens der Gruppe erfährt. Clemmons und Reid heben besonders zwei Aspekte des Gruppenprozesses hervor, welche für die Vermittlung der Bibel relevant sind: 1. Das Bibelstudium in der Gruppe spielt sich nicht nur auf der rationalen Ebene ab, sondern gleichzeitig auf der emotional-personalen und symbolischen Ebene, so daß der ganze Mensch gefordert ist. 2. Das Gruppengepräch ermöglicht die zweiseitige Kommunikation des Evangeliums: „Die Vermittlung des Evangeliums meint mehr als Erteilung von Informationen oder Aufstempelung von Verhaltensweisen. Es ist eine zweiseitige Kommunikation, die Wechselwirkung zwischen Personen bedeutet 1 *."* So lehnt Clemmons ausdrücklich ab, daß den Gemeindegliedern eine fixierte „christliche Ideologie" übergestülpt wird, die dem eigenen ver132

antwortlichen Suchen und Fragen im Wege steht (vgl. S. 21 f.). Das Aufdrängen von Fragen und Antworten führt zu Feindschaft und Aggression innerhalb der Gemeinde. Jeder muß die Möglichkeit haben, die Bedeutung der Bibel für die vielfältigen Situationen seines Lebens im Gespräch mit anderen selbst zu entdecken (S. 27). Hier wird der Gemeinde zugetraut, daß sie unter der Leitung des Heiligen Geistes selbst den Weg in die Wahrheit der Bibel finden kann (vgl. Clemmons, Dyn., S. 21). In diesem Zusammenhang gewinnt dann auch die Theologie eine echte Lebensfunktion als „Dienerin des Glaubens": auf Grund der besonderen Ausbildung die Hilfen theologischen Verstehens zu geben, welcher die Gemeinde zur Lösung der Fragen bedarf, die ihr aus eigenem Umgang mit der Bibel erwachsen sind.

c) Verwaltung als Funktion der Gemeinde Die Erkenntnisse der Gruppendynamik gewinnen auch für die Frage Bedeutung, in welcher Weise das zeitliche Leben der Gemeinde zu organisieren ist (Grimes, S. 152). Im Blick auf die Verwaltung oder Organisation der Kirche ist zu fragen, welche Grundaspekte sich ergeben 1. aus dem KirchenbegrifFder interpersonalen Theologen, 2. aus dem Verständnis des Gruppenprozesses. Die Konsequenzen, die aus der interpersonalen Ekklesiologie für die Organisation abgeleitet werden können, hat besonders Grimes entfaltet (S. 152 fr.). Die Bedeutung des gruppendynamischen Aspektes für die Verwaltung hat Trecker erarbeitet20. Eine Methodologie der Verwaltung im Sinne der Gruppendynamik findet sich implizit oder explizit bei mehreren interpersonalen Theologen, etwa bei Douglass, Gable, Herriott, Schwartz, R. C. Miller. Grimes und Trecker definieren „Verwaltung" als Mittel, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen, und als Weg, um bestimmte Pläne auszuführen 21 . Die kirchliche Verwaltung beschreibt Grimes dementsprechend als ein Mittel, das Leben der Gemeinde in der Weise zu ordnen, daß sie vorbereitet wird, die Gabe des Heiligen Geistes zu empfangen und als ein Zeuge dieses Geistes in der Welt zu wirken (S. 160). In der gegenwärtigen Situation besteht die Hauptaufgabe im Blick auf die Verwaltung nach Grimes nicht darin, neue und bessere Methoden zu entwickeln, sondern ein klareres Verständnis ihrer theologischen Grundlegung zu gewinnen. Daraus kann sich dann auch eine entsprechende Methodologie ergeben (S. 154t.). Die Verwaltung der Kirche läßt sich nicht ableiten aus der institutionellen Struktur der Gesellschaft, noch

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aus den Zielen, welche die Kirche jeweils zu erreichen wünscht 82 . Der Punkt, an dem unser Nachdenken über die Verwaltung anzusetzen hat, kann nach Grimes nur sein: Gottes Handeln in der Inkarnation, das seine Fortsetzung findet in der gegenwärtigen Wirksamkeit Gottes in der Kirche (Grimes, S. i ö i f f . ; vgl. auch oben S. 76). Die Gemeinde kann nur ausgehen von der Wirklichkeit der Kirche selbst, wie sie durch die Begegnung des konkreten Menschen mit Gott geschaffen wird. Z u dieser Wirklichkeit der Kirche gehört von Anbeginn - Grimes beruft sich dabei auf Apg. 6 , 1 ff. - auch die institutionelle Seite hinzu als ein notwendiges Mittel, um das zeitliche Leben der Kirche zu ordnen. Die Notwendigkeit der Ausbildung institutioneller Formen hat jedoch die Kirche in das Dilemma geführt, daß sie sich im Laufe der Zeit zu sehr als Institution und zu wenig als Leib Christi verstanden hat (S. 153). Auch nach R. C. Miller ist die Institution wesentlich für den Fortbestand der christlichen Gemeinde und ist immer ein Teil von dieser gewesen. Aber es besteht ständig die Gefahr, daß die Institution die Kirche als Personengemeinschaft ersetzen will (Biblical, S. 118). Das institutionelle Element hat in der Kirche einen zu großen Raum eingenommen und durch Verselbständigung des Verwaltungsapparates zu einer Funktionalisierung und Bürokratisierung geführt, die dem Wesen und Auftrag der Gemeinde nicht entsprechen (Grimes, S. 154) 23 . Dieses Problem der Institutionalisierung ist nach Grimes nicht dadurch zu lösen, daß man die institutionellen Strukturen abschafft; denn damit würde man nur in das andere Extrem verfallen. Die Kirche ist immer von einer doppelten Gefahr bedroht: von Säkularisierung und Institutionalisierung einerseits, von Spiritualisierung und Theologisierung andererseits (S. 155). Diese Alternative bedeutet, daß die Kirche ständig in der Versuchung steht, entweder ein Teil der Welt zu werden oder jegliche Beziehung zur Welt aufzugeben und dadurch unfähig zu werden, ihre Aufgabe in der Welt zu erfüllen 24 . Die Kirche muß ihren Weg in der Spannung zwischen diesen beiden Gefahrenpolen suchen. Die institutionellen Formen sind ein Mittel, durch welches sie ihre Aufgabe als „erlösende Gemeinschaft" in der Welt verwirklichen kann (S. 154). Grimes bezeichnet die Verwaltung als Funktion der Gemeinde und Äußerungsform des Leibes Christi, als „die Kirche in Aktion" 2 5 . Er versteht die institutionelle Form der Kirche als einen lebendigen Prozeß interpersonaler Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Gemeindegliedem und den verschiedenen Gruppen innerhalb der Gemeinde (vgl. S. 163 ff.). Sie ist für ihn gerade nicht das „Ergebnis generationenlanger Prozesse" (Beck, S. 112), sondern der gegenwärtige Prozeß selbst 134

(S. 161). In diesem Verständnis der kirchlichen Institution als dynamischem Prozeß liegt der Schlüssel zu seiner Auffassung von der Verwaltung der Gemeinde. An diesem Punkt verbinden sich die Konsequenzen aus der Ekklesiologie und die gruppendynamischen Aspekte in der Verwaltung. Dem Ansatz von Grimes entspricht die Darstellung von Trecker, dem es darum geht, ein Verständnis der Verwaltung als Gruppenprozeß zu entwickeln. Auch die administrativen Tätigkeiten werden durch Gruppen von Menschen getragen. Darum ist die Verwaltungstätigkeit nicht zu begreifen als Vollzug eines Gefüges feststehender Funktionen, sondern als ein dynamischer Prozeß gemeinsamer koordinierter Anstrengungen. Trecker bringt seine Position auf die Formel, daß die Verwaltung eher ein Prozeß als ein System von Techniken sei. Diesen Prozeß beschreibt er als einen Arbeitsprozeß von Menschen, die Ziele setzen, Verantwortungen verteilen, Programme durchführen und ihre Verwirklichung immer wieder überprüfen (S. iofF.). Verwaltung ist demnach ein schöpferischer Prozeß des Denkens, Planens und Handelns, der in direkter Beziehung steht zu den Ideen, Motivationen, Gefühlen und Erfahrungen von Menschen und darum primär zu charakterisieren ist als „eine personale und humane Aktivität". Trecker kann sagen, daß die Verwaltung aus Menschen besteht: „ D i e Materialien des Verwaltungsprozesses sind die Ideen, Gefühle und E r fahrungen v o n Menschen; denn die Verwaltungsagentur sind Menschen, und V e r w a l t u n g muß als T e i l dessen angesehen werden, w a s verwaltet w i r d " (S. 1 4 ) . *

Mit dieser Auffassung wendet er sich gegen das herkömmliche Verständnis als Management oder Kontrolle, dem er eine Konzeption der Verwaltung als Erziehungsprozeß gegenüberstellt, dessen Hauptakzent auf der Menschenführung liegt 26 . Der eigentliche Brennpunkt der Verwaltung ist nach Trecker in den Beziehungen und Verhaltensweisen der Menschen gegeben. Die Bedeutung des gruppendynamischen Aspektes für die Verwaltung besteht demnach darin, daß die interpersonalen Beziehungen und Wechselwirkungen als das entscheidende Moment angesehen werden. Nicht die Apparatur hat im Mittelpunkt zu stehen, sondern die Gruppe von Menschen, die sich in gemeinsamer Verantwortung für eine Aufgabe weiß. Wie Trecker die entscheidende Bedeutung der interpersonalen Beziehungen innerhalb der Verwaltung hervorhebt, so betont Grimes, daß sich das Leben der Gemeinde im Verwaltungsprozeß verwirklichen muß

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(S. 166). Nur in diesem Sinne kann er sagen, die Verwaltung sei die Kirche in Aktion. Er akzentuiert damit die Wichtigkeit des Prozesses selbst als Ausdruck des Lebens der Kirche: „Das Leben der Gemeinde in einem solchen Prozeß wird dann für genauso wichtig gehalten werden wie die tatsächliche Ausführung der Ziele des Programmes" (S. 166).*

Es geht in der Verwaltung um den Vollzug der Kirche als Leib Christi in der Verschiedenheit der Funktionen ihrer Glieder (S. 165). Verwaltung bedeutet, daß die Gemeinde die Bedingungen schafft, um ihr eigenes inneres Leben zu entfalten und in der weiteren menschlichen Gemeinschaft zu manifestieren (iöof.). Von diesem Verständnis der Verwaltung als einem Prozeß interpersonaler Beziehungen her wenden sich Grimes und Trecker gegen die Eigengesetzlichkeit der Verwaltungsapparatur. Nach Trecker ist die Verwaltung ein Teil des Gesamtprozesses, dem sie dienen soll (S. 16). Mit Hilfe gruppendynamischer Aspekte wird so versucht, die Isolierung und Herrschaft einer nur an Sachen orientierten Verwaltung zu brechen. Die Verwaltung soll wieder ein integrierender Teil des gesamten umfassenden Gruppenprozesses werden. Diese Funktion kann die Verwaltung nur erfüllen, wenn sie in Harmonie steht mit den grundlegenden Zielen der Gemeinschaft, der sie dienen soll (S. 19). Das bedeutet, auf die Gemeinde übertragen, daß sich auch in der Verwaltung der Gemeinde die Gemeinde zu verwirklichen hat, ja, daß gerade hier ein ganz entscheidender Nerv ihres Zeugnisses an die Welt liegt. Der Prozeß der Verwaltung muß in Einklang stehen mit dem Wesen und Ziel der Gemeinde selbst, nicht nur im Blick auf die ihr übertragenen Aufgaben, sondern auch im Blick darauf, wie sie diese Aufgaben löst. Nach Grimes ist Verwaltung nicht etwas, das getan werden muß, damit das kirchliche Leben seinen routinemäßigen Gang geht. Vielmehr ist Verwaltung ein Prozeß, der die Erreichung bestimmter Ziele ermöglichen soll, die nicht von außen herangetragen werden, sondern im Auftrag der Kirche selbst begründet sind (S. 161). Sie soll wieder eine wirkliche Lebensäußerung der Gemeinde werden und nicht eine ihrem Wesen fremde Herrschaft über die Gemeinde ausüben27. Wenn aber die Verwaltung als dynamischer Prozeß interpersonaler Beziehungen und als integrierender Teil des Gesamtprozesses zu verstehen ist, dann kann es nichts Sakrosanktes geben in bezug auf die Strukturen des institutionellen Lebens der Kirche (Grimes, S. 161). Es gibt keine Sicherung des kirchlichen Tuns als Vollzug eines ein für allemal fest136

gelegten Ordnungsgefüges (vgl. S. 159). Nach Trecker besteht eine der Hauptforderungen, die an die Verwaltung zu stellen sind, darin, daß sie in ihren Verfahrensweisen beweglich sein müsse, um den veränderlichen Bedingungen und Bedürfnissen gerecht werden zu können. Es gibt kein Wachstum ohne Anpassung an den Wandel. Die Veränderungen in den Verfahrensweisen müssen Schritt für Schritt entsprechend den Veränderungen in den Zielen und Bedürfnissen der Gesellschaft erfolgen. Darum muß die Administration auf einem dynamischen Verständnis der Individuen und Gruppen in ihrer Umwelt gegründet sein (S. 20). So müssen auch die Strukturen der kirchlichen Verwaltung ständig überprüft und gewandelt werden. Das einzige Kriterium für Bestand und Veränderung institutioneller Formen ist das Wesen der Kirche, wie es in der jeweiligen Situation konstituiert wird durch das Wirken des lebendigen Christus und die diesem Wirken entsprechende Antwort der Gemeinde (Grimes, S. 161). Aus der Dynamik des Lebens der Gemeinde wird ein Verwaltungsprozeß in Bewegung gesetzt, der niemals zu einem Ende kommt und nirgends endgültige Gestalt gewinnt. Die Gestalt der kirchlichen Institution kann immer nur ein gegenwärtiger Ausschnitt aus einem stets sich wandelnden Lebensprozeß sein. Aus diesen Aspekten ergeben sich Grundlinien einer Methodologie der kirchlichen V e r w a l t u n g als „group Workshop w a y " , wobei aber jede

Gemeinde die ihrer besonderen Situation gemäße Form finden muß (Douglass, S. 88f.; Gable,. S. 539f.). Grimes nennt vier grundsätzliche Fragen, die sich jede Gemeinde vorlegen sollte, wenn sie über die Verwaltung ihrer Angelegenheiten nachdenkt: 1. Was ist das Wesen der Kirche? 2. Wie sehen wir ihre gegenwärtige konkrete Aufgabe in Beziehung zu ihrem Wesen ? 3. Welches Programm könnte helfen, einen Aspekt dieser Aufgabe auszuführen ? 4. Welche Methoden können angewandt werden, um dieses Programm durchzuführen? (S. 154) Der Vollzug der Verwaltung im Sinne des „group Workshop w a y " enthält zwei grundlegende Elemente: 1. das dynamische - die Verwaltung als Prozeß von Wechselwirkungen - 2. das integrative - die einzelnen Wirkungen müssen zu einem Ganzen koordiniert und in den größeren Zusammenhang einbezogen werden (vgl. Trecker, S. 13). Die Verwaltung der Gemeinde richtet sich nach denselben Prinzipien, die für die Organisation der einzelnen Gruppe gelten (vgl. Douglass, S. 19). Schwartz definiert Verwaltung als 137

„die Leitung eines Prozesses, durch welchen die Glieder einer Gruppe ihre gemeinsamen Ziele bestimmen, die Organisation planen und formulieren, mit der sie ihre Aufgabe erfüllen, und zusammen arbeiten, um ihre Ziele zu erreichen" (S. 58).* Dieser Prozeß gliedert sich im einzelnen in folgende Schritte: 1. Planung (Festsetzung der Ziele) 2. Organisation (Festlegung der Mittel und Wege zur Durchführung der Planung) 3. Ausführung 4. Überwachung des Prozesses (ständige Uberprüfung der Pläne am Maßstab ihrer Durchführbarkeit) 5. Koordinierung oder Integration (Kommunikation im Blick auf Planung und Durchführung zwischen den einzelnen Gruppen) 6. Veröffentlichung (Erklärung des Programmes gegenüber der ganzen Gemeinde) 7. Beurteilung (kritische Auswertung der Ergebnisse am Maßstab der Frage nach dem Wesen der Kirche und Feststellung der Konsequenzen für die weitere Verwaltungstätigkeit, vgl. Gable, in: Enc., S. 546ff.; Douglass, S. 20ff., 7 o f f ) . Ein wesentlicher Grundsatz der interpersonalen Theologen ist dieser, daß die ganze Gemeinde am Verwaltungsprozeß zu beteiligen ist, und zwar an allen Schritten des Prozesses: nicht nur an der Durchführung, sondern auch an der Planung 28 . Es darf nicht so sein, daß die Planung oben an der Spitze einer Hierarchie geschieht und dann die Ausführung der unteren Ebene überlassen wird. Die ganze Gemeinde muß in die grundlegenden Entscheidungen einbezogen werden. Diese Forderung ergibt sich sowohl aus dem Ganzheitsaspekt der Gruppendynamik als auch aus der Ekklesiologie der interpersonalen Theologen. Trecker beschreibt die Verwaltungstätigkeit im Sinne der Feldtheorie als einheitliches Ganzes, in welchem jeder Teil in Beziehung zum anderen steht und einer vom anderen wechselseitig abhängig ist (S. 23). Darum sind auch die einzelnen Funktionen nur als ein Ganzes zu verstehen (S. 43). Grimes begründet seine Forderung mit dem Hinweis auf das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, das sich im Verwaltungsprozeß verwirklichen soll (S. 165). Wenn es sich um eine kleine Gemeinde handelt, können alle Gemeindeglieder ohne Schwierigkeit an einem „parish-workshop" beteiligt werden, in dem alle Schritte gemeinsam vollzogen werden (Grimes, S. 163). In größeren Gemeinden muß ein anderer Weg gewählt werden. Hier müßten die einzelnen Gruppen der Gemeinde die verschiedenen Funktionen ausüben und ihre Ergebnisse dann koordinieren. Eine besonders beauftragte Gruppe müßte die Initiative ergreifen, indem sie zuerst die

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Angelegenheit berät und dann alle anderen Gruppen beteiligt (Grimes, S. 64). Nach Douglass läßt sich die Verwaltung der Gemeinde am besten erreichen durch das Mittel einer zielsetzenden Konferenz („goal-setting conference", S. 73 fF.). Darunter versteht er eine Arbeitsgruppe, die sich aus Vertretern aller Gruppen in der Gemeinde zusammensetzt. Diese Einrichtung ermöglicht die Beteiligung der ganzen Gemeinde an den Tätigkeiten des Denkens, Planens und Handelns, welche die Verwaltung konstituieren. Der Arbeitsgruppe sollten auch Experten angehören, die in der Industrie Erfahrungen über das Verwaltungsleben gesammelt haben. Die Arbeitsgruppe schickt jeder Gruppe innerhalb der Gemeinde einen Fragebogen, der folgende Punkte enthält: 1. Was hat unsere Gruppe in diesem Jahr getan? 2. Warum hat sie getan, was sie tat ? 3. Wie haben unsere Arbeiten zum geistlichen Wachstum der Menschen beigetragen? 4. Welche Ziele setzen wir uns für das nächste Jahr? 5. Welche Art Programm ist erforderlich zur Erreichung dieser Ziele? An der Beantwortung dieser Fragen werden alle Gruppenglieder beteiligt. Auf diese Weise haben alle die Möglichkeit, die getane Arbeit zu beurteilen und an der Aufstellung neuer Pläne mitzuwirken. Die Ergebnisse der verschiedenen Gruppen werden dann von einem besonderen Ausschuß der „goal-setting-conference" koordiniert zu einem Bericht, der die Fragen und Antworten auf die ganze Gemeinde bezieht. Auf der Grundlage dieses Berichtes entwirft die Konferenz einen provisorischen Plan für die gesamte Gemeindearbeit in dem jeweils bevorstehenden Jahr. Dieser Plan ist also eine Integration der Pläne aller Gruppen. Er muß den einzelnen Gruppen zur Kritik vorgelegt werden und wird dementsprechend abgeändert. Danach wird er an alle Familien der Gemeinde gesandt, vom Pfarrer in einem Gottesdienst erklärt und in einer allgemeinen Versammlung der Gemeinde zur Diskussion gestellt29. Es ist von besonderer Wichtigkeit, daß das Programm Ziele und Rollen enthält, welche die Gemeinde wirklich interessieren und befriedigen können (Douglass, S. 27 und 38). Wenn der Plan endgültige Gestalt angenommen hat, sollte er in einem Kirchenhandbuch veröffentlicht werden und folgende Punkte enthalten: 1. Zielsetzung 2. Planung der Ausführung 3. Liste der zur Erreichung der Ziele nötigen Rollen 4. Beschreibung des nötigen Materiales 5. organisatorisches Diagramm 6. Beschreibung jeder Funktion 139

7. 8. 9. 10. 11.

einen tabellarisch zusammengestellten Kalender ein Budget Sorge für die Kontrolle des Prozesses eine Uberprüfung des Programmes einen vierteljährlichen Rechenschaftsbericht über den Fortschritt der Arbeit (Douglass, S. 78). Auch an der Ausführung des Planes sollten alle Gruppen der Gemeinde beteiligt werden. Es ist Aufgabe eines besonderen Komitees, festzustellen, welche Verantwortungen an welche schon existierenden Gruppen delegiert werden können, was für neue Gruppen gebildet werden müssen und welche Gruppen aus ihrem Dienst entlassen werden können (Grimes, S. 164t.). Es muß immer wieder gefragt werden, welche Gruppen und Ausschüsse einen wirklichen Platz in der Gemeinde haben und welche keinem wirklichen Ziel dienen (Gable, in: Enc., S. 542L), damit die Verselbständigung einzelner Gruppen und Funktionen vermieden wird 3 0 . Wichtig ist, daß während der Ausführung des Programmes das Programm selbst immer wieder geprüft und geändert wird, wenn es die Situation erfordert. Wenn die Gemeinde dynamisch bleiben soll, kann das Stadium der Planung mit der ersten Beschlußfassung nicht abgeschlossen sein. Das Programm kann nie etwas anderes sein als Richtlinie für die Zukunft (Grimes, S. 165; Gable, in: Enc. S. 548). Gleichzeitig erhebt sich die Forderung, daß man sich nach der Durchführung eines Programmes Rechenschaft darüber gibt, ob es zur Verwirklichung von Wesen und Auftrag der Kirche beigetragen hat (vgl. Douglass, S. 20ff.). Wenn aber die Verwaltung der Kirche von der ganzen Gemeinde getragen wird, dann stellt sich die Frage, welche Aufgabe dem berufsmäßigen Administrator - dem Pfarrer, Lehrer oder Verwaltungsbeamten - im Prozeß zufällt. Wenn es auch so aussieht, als sei für ihn kein Raum vorhanden, so fallen ihm doch wichtige Führungsaufgaben zu. Nach Trecker verlangt gerade die Administration große Führungsqualitäten (S. 19). Das Haupterfordernis der administrativen Führung besteht darin, daß sie helfenden Charakter trägt (Trecker, S. 24). Der „Administrator" hat im wesentlichen folgende Aufgaben: 1. Im allgemeinen wird er der Initiator des Prozesses sein (Grimes, S. 166). Dazu gehört vor allem die Fähigkeit, Menschen miteinander in Beziehung zu setzen, daß sie in gemeinsamem Wollen und gemeinsamer Anstrengung eine Aufgabe anfassen (Trecker, S. 14). Die Gefahr einer Manipulation wird dadurch abzuwehren versucht, daß der Leiter nur den Prozeß anzuregen hat, daß er aber kein Programm von außen überstülpt (Trecker, S. 39f.). Grimes drückt es so aus, daß der Verwalter Initiator des Prozesses, nicht aber des Planes zu sein hat (S. 166). 140

2. Ihm wird zumeist die Aufgabe der Lenkung und Koordinierung des Prozesses zufallen (Grimes, S. 166; Trecker, S. 40). Trecker hebt hervor, daß die wichtigste Aufgabe der administrativen Führung darin besteht, das Bewußtsein der Gruppe ständig zu erweitern, so daß die Integration immer mehr zu einer natürlichen Frucht der Gruppenarbeit wird (S. 19). 3. Außerdem bleibt eine Fülle von Detailarbeit, für die ein Experte benötigt wird: Leitung von Versammlungen, Anlegen von Protokollen, Korrespondenz, Beratung in Einzelfragen usw. 3 1 Man könnte gegen diesen Weg der Verwaltung als Gruppenprozeß den Einwand erheben, daß es ein sehr langsamer Prozeß ist und daß die gewünschten Ziele nicht immer erreicht werden (vgl. Grimes, S. 166). Auf diesen Einwand antworten die Vertreter der Gruppendynamik und interpersonalen Theologie, daß die Erreichung bestimmter Ziele niemals das letzte Kriterium sein kann. Nach Trecker ist die Weise, wie Dinge getan werden, genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger als das, was im einzelnen getan wird (S. 38). Nicht in der erfolgreichen Durchführung eines Verwaltungsprogrammes, sondern im Prozeß und Lebensvollzug selbst liegt das Kriterium, weil es in der Verwaltung nicht um Funktionen, sondern um Menschen mit ihren Motivationen und Tätigkeiten geht 32 . Auch nach Grimes ist der Prozeß genauso wichtig wie die gesuchten Ziele; denn die christliche Gemeinschaft ist nicht so sehr ein Ziel, das gesucht werden, sondern eine Gemeinschaft, die gelebt werden soll. Darum ist das Kriterium für den Verwaltungsprozeß dieses, ob sich darin das Leben der Gemeinde aus dem Evangelium vollzieht 33 . Der Vollzug der kirchlichen Verwaltung als Gruppenprozeß wird immer ein Wagnis sein. Deshalb wird ihn nur verwirklichen können, wer an die Wichtigkeit des Prozesses selbst glaubt (Grimes, S. 166f.). Trotz aller Risiken, die damit verbunden sind, könnte ein solcher Verwaltungsprozeß eine Erneuerung des ganzen Lebens der Gemeinde bedeuten (S. 164). In der Verarbeitung der Gruppendynamik durch die amerikanische Theologie wird ein Weg zur Bewältigung des Problems erkennbar, wie der Mensch auch in einer von Institutionen und Organisationen bestimmten Umwelt seine Menschlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit erhalten kann. Die Aufnahme des Gruppenaspektes in die kirchliche Verwaltung zeigt eine Möglichkeit zur Lösung des Dilemmas zwischen dem Wesen und Auftrag der Kirche einerseits und der Institutionalisierung des gesamten Lebens andererseits. Es wird hier der Versuch unternommen, die Organisation wieder in das Gesamtleben der Gemeinde zu integrieren und ihr eine wirklich geistliche Bedeutung zu geben. Damit zeigt sich 141

zugleich, daß der gruppendynamische Aspekt in der Verwaltung nicht von außen an die Kirche herangetragen wird, sondern der Kirche dabei hilft, ihr eigenes Wesen in der gegenwärtigen Situation besser zu verstehen und zu vollziehen.

d) Die Kommunikation des Evangeliums in der Gemeinde Eine der wichtigsten Aufgaben der kirchlichen Gruppe besteht darin, daß sie Nichtchristen für ihre eigene Gemeinschaft und dadurch zum Glauben an Christus gewinnt (P. Miller, S. 7; Grimes, S. 129). Diese missionarische Perspektive der christlichen Gruppe ergibt sich aus dem Wesen der Kirche selbst mit zwingender Notwendigkeit (P. Miller, S. 7 1 ; Grimes, S. 129). Die Kirche als Leib Christi auf Erden ist ihrem Wesen nach Mission; jede ihrer Gruppen ist von Gott gesetzt als „Vermittler seiner erlösenden Liebe für die Menschen" (P. Miller, S. 70). Der missionarische Charakter der christlichen Gruppe wird vor allem von Paul Miller entfaltet, ist aber bei allen anderen interpersonalen Theologen impliziert 34 . Die Evangelisation durch die Gruppe wird von P. Miller, Grimes u. a. als „Fellowship Evangelism" bezeichnet (Miller, S. 19; Grimes, S. 130). Es handelt sich dabei um eine neue Form der Evangelisation, die neben die herkömmlichen Methoden tritt. Miller hebt hervor, daß er mit seinem neuen Ansatz keine andere Methode außer Kraft setzen wolle (S. 22). Das Gruppengespräch darf die Verkündigung nicht verdrängen (S. 186). Aber er betont die Notwendigkeit des von ihm aufgezeigten Weges einer Evangelisation durch die christliche Gruppe. Unter dieser neuen Weise der Evangelisation versteht Miller die Bemühung einer Gruppe der Ortsgemeinde, Nichtchristen mit dem Leben christlicher Gemeinschaft zu umgeben und sie auf diesem Wege zu einer Begegnung mit dem lebendigen Christus zu führen (S. 19). Auch nach Grimes bedeutet „Fellowship Evangelism", unkirchliche Menschen in die Gemeinschaft einer kirchlichen Gruppe zu bringen, um sie an der Liebe Gottes in der Gemeinde partizipieren zu lassen und ihnen dadurch zum Glauben zu helfen (S. 130). Die Voraussetzung des „Fellowship Evangelism" besteht darin, daß Christus selbst durch den Heiligen Geist im Kräftefeld der christlichen Gruppe gegenwärtig ist und daß der Nichtchrist, indem er in dieses besondere Feld interpersonaler Beziehungen eintritt, von der Kraft der Gegenwart und Liebe Christi angezogen wird, noch bevor sie in Worten mitgeteilt wird 3 5 . Wenn er in Beziehung zu einer solchen Gemeinschaft tritt, in der die Wirksamkeit Christi als eine gegenwärtige vermittelt wird, kann er Christus nicht mehr für „unwirk-

142

lieh" halten (P. Miller, S. 166). So kann die Gruppe dem Menschen helfen, die ersten Schritte in Richtung einer Begegnung mit dem lebendigen Gott inmitten des alltäglichen Lebens zu tun (S. 179). Darüber hinaus hat diese Methode Bedeutung für die Gemeinde selbst, insofern sie einen W e g öffnet, auf dem alle Glieder der Gemeinde missionarisch wirken können. Damit trägt sie zur Verwirklichung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen bei. Miller unterscheidet in der Evangelisation durch das gemeinsame Leben der christlichen Gruppe drei Schritte: 1. Jedes Glied der Gruppe sucht sich einen außenstehenden Menschen und nimmt mit ihm freundschaftlichen Kontakt auf („redemptive friendship"). 2. E r versucht, diesen Menschen für die Gruppe zu gewinnen, der er selbst angehört. 3. Die Gruppe versucht, den Nichtchristen zur persönlichen Begegnung mit Christus zu führen (S. 19). Z u r Erfüllung ihrer missionarischen Aufgabe hat die kirchliche Gruppe die Freiheit, alle legitimen W e g e der Kommunikation zu gebrauchen, die ihr helfen können, ihr Leben und ihren Glauben anderen mitzuteilen (S. 134). Ein solches Hilfsmittel ist die Gruppendynamik bei der Beantwortung der Frage, wie der Kommunikationsprozeß in der christlichen Gruppe aussehen müßte, wenn sie sich für die Außenstehenden öffnen will. Miller hebt vor allem drei Punkte hervor, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind: 1 . die Kräfte der Gruppenformation, 2. den Prozeß der Gruppenentscheidung, 3. die Faktoren der Auflösung von Gruppen. Dabei versucht er, seiner Interpretation des Verhältnisses von Anthropologie und Ekklesiologie entsprechend, das jeweils in einer christlichen Gruppe wirksame „Plus-Element" herauszustellen (s. o. S. 97f.). W e n n eine kirchliche Gruppe versucht, Menschen für Christus zu gewinnen, indem sie sie zuerst für die Gruppe gewinnt, so ist es für sie von fundamentaler Wichtigkeit, die entscheidenden Kräfte der Gruppenformation zu kennen. Sie muß wissen, welche Gründe den_Jvlenschen zum Anschluß an eine Gruppe bewegen. A n diese Motive muß sie appellieren, wenn sie ihn in ihre Mitte einlädt (S. 43). Umgekehrt muß die christliche Gruppe auch die Gründe kennen, die dem Anschluß an eine Gruppe widerstreben, und sie muß versuchen, diese Tendenzen zu überwinden 3 6 . Miller nennt in der Hauptsache folgende Faktoren als die treibenden Kräfte für den Anschluß an eine Gruppe (S. 36ff.): 143

1. das Verlangen nach Selbstverwirklichung durch interpersonale Beziehungen, 2. das Verlangen nach Freiheit und Sicherheit, was beides zusammen nur die Gruppe bieten kann, 3. Flucht vor Einsamkeit und einfaches Verlangen nach menschlicher Gemeinschaft und Anteilnahme, 4. die Möglichkeit besserer Arbeit und besseren Lernens durch Zusammenarbeit mit anderen, 5. Verlangen nach Identifizierung mit einer großen Sache oder nach persönlicher Orientierung. Die christliche Gruppe kann diesen Faktoren entsprechen, indem sie darauf hinweist, 1.daß es wahre Selbstverwirklichung nur in der Beziehung zu Gott gibt, 2. daß Freiheit und Sicherheit nur bei Gott zu finden sind, 3. daß die Einsamkeit des Menschen nur überwunden werden kann, wenn er in der Gemeinde Christi die Gegenwart Gottes erfährt, 4. daß es den Menschen aufgegeben ist, in wechselseitiger Partizipation die unendliche Wahrheit Gottes zu erforschen, 5. daß eine persönliche Orientierung an der Gestalt und Lehre Jesu möglich ist (S. 44 f.). Die christliche Gruppe allein hat die Möglichkeit, die natürlichen Bedürfnisse vollständig zu befriedigen, die den Menschen zum Anschluß an eine Gruppe bewegen. „Fellowship Evangelism" setzt voraus, daß sich jeder Mensch in seiner Not und Einsamkeit nach der Wirklichkeit sehnt, welche die christliche Gruppe vermitteln kann (S. 175). Als Gründe, die den Menschen hindern, sich einer Gruppe anzuschließen, nennt P. Miller (S. 45 fr.): 1. das Gefühl der Isolation durch Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten, 2. Wurzellosigkeit, die dem Menschen kontinuierliche Beziehungen zu einer Gemeinschaft unmöglich macht, 3. sozialen Ehrgeiz und Verachtung der Masse, 4. schlechte Erfahrungen mit Gruppen, 5. Verlangen nach Meditation und Kontemplation in der Einsamkeit. Die christliche Gruppe kann auf Grund ihres „Plus-Elementes" diese Hindernisse überwinden, indem sie 1. die Kommunikationsschranken durch Liebe zu beseitigen trachtet, 2. angesichts der Wurzellosigkeit des Menschen ein geistliches Heim schafft, in welchem der Mensch das Gefühl hat, daß er gebraucht wird und Verantwortung trägt, 144

3. dem sozialen Ehrgeiz den „status of a better k i n d " gegenüberstellt: die Ehre, ein Sohn und Erbe Gottes zu sein, 4. Verletzungen durch frühere Gruppen dadurch heilt, daß sie das Vertrauen des Menschen gewinnt und ihn spüren läßt, daß die christliche Gruppe sich von anderen fundamental unterscheidet, 5. dem, der Kontemplation sucht, beim stillen Gebet und der Meditation vor Gott hilft. Dieses gehört zu dem Wichtigsten, w o f ü r in einer christlichen Gruppe gesorgt werden sollte (S. 51 f.) 3 7 . Es könnte jedoch für die christliche Gruppe ein Hindernis besonderer Art entstehen: Wenn der Nichtchrist merkt, daß die Gruppe beabsichtigt, ihn durch das Medium ihres Lebens zum Glauben an Christus zu führen, könnte er es von vornherein ablehnen, sich dieser Gruppe anzuschließen. Nach Miller sollte die christliche Gruppe damit vorsichtig sein, ihr Ziel nachdrücklich und öffentlich zu betonen, solange der Prozeß der Einführung eines Nichtchristen in die Gruppe im Gange ist (S. 71). Andererseits aber braucht der Nichtchrist durch die Erkenntnis, daß die Gruppe ihren kostbarsten Besitz mit ihm teilen will, nicht abgestoßen zu werden. Es kommt alles darauf an, daß die Gruppe Z w a n g s - und Druckmaßnahmen vermeidet und ihn in Liebe annimmt, w i e er ist. Dann wird er von selbst fragen, worin das Geheimnis dieser Gemeinschaft liegt. Wenn aber die Gruppe den Menschen nicht wirklich respektiert, sondern nur seine Seele retten will, wird er solche Tendenzen zurückweisen (S. 187). Neben der Gruppenformation ist die Art und Weise, wie eine Gruppe strittige Fragen entscheidet, von größter Tragweite, wenn sie „Fellowship Evangelism" betreiben will; denn nach dem Zeugnis des N T selbst kann die Demonstration der Einheit einer christlichen Gruppe die U m w e l t zum Glauben an Christus führen (S. 107). Der Nichtchrist weiß, welchen Grad an Einheit andere Gruppen erlangen können; er weiß auch, welche Zwistigkeiten unter der Oberfläche der Einheit verborgen sein können. Darum wird er ein sehr scharfer Beobachter im Blick auf die Meinungsbildung und Entscheidung in der christlichen Gruppe sein. Im Blick auf die empirischen Faktoren der Gruppenentscheidung sind folgende Punkte von Wichtigkeit (S. 91 ff.): 1. Der Prozeß der Entscheidung wird dadurch beeinflußt, daß die meisten Gruppenglieder sich hinter einer Maske verstecken und doch gleichzeitig aus ihren uneingestandenen inneren Bedürfnissen handeln (z. B . Unsicherheit, Gefühl der Unzulänglichkeit). 2. In der Krisenzeit der Entscheidung können Emotionen entstehen, welche eine nüchterne, sachliche Überlegung unmöglich machen. Aktivität muß mit klarem Denken verbunden sein. 145

3. Von großem Einfluß ist die Gruppenmeinung (group opinion). Wenn sich der Entscheidungsprozeß auf einen Konsensus zubewegt, wird Druck ausgeübt auf jeden, der anderer Meinung ist. 4. Dadurch entsteht dann leicht die Tendenz zur Imitation im Sinne der magischen Entschuldigung („magical exculpation"): „ E r tat es zuerst." Der Leiter muß darauf hinwirken, daß der einzelne seine Entscheidung auf Grund freier persönlicher Einsicht und Uberzeugung treffen kann. 5. Wenn im Punkt der Entscheidung verschiedene Meinungen gegeneinander stehen, so sind Zwang oder Kompromiß keine Lösungen. Der einzig legitime Weg ist das Vorgehen nach dem demokratischen Prinzip des Majoritätsbeschlusses bei Respektierung der Minorität. Das ideale Ziel des „problem solving process": der vollständige Konsensus, läßt sich nur in seltenen Fällen erreichen. Die christliche Gruppe sollte bemüht sein, sich die unterschwelligen Faktoren des Entscheidungsprozesses, die in der Gruppendynamik auch als „hidden agenda" bezeichnet werden (Maske, verborgene Bedürfnisse, Emotionen, magical exculpation), ehrlich vor Gott einzugestehen und sie dadurch ihrer Gefährlichkeit zu berauben. Das Wichtigste ist, daß die Gruppenglieder einander in Demut annehmen und in Freiheit respektieren, auch wenn sie verschiedener Meinung sind. Sie können trotz mancher Differenzen doch auf Konsensus hoffen, wenn sie sich alle der Leitung des einen Heiligen Geistes unterstellen38. Die christliche Gruppe kann die Krisis des „problem solving process" durchstehen in dem Wissen, daß Gott gerade darin sein schöpferisches Werk tut (S. 108). Die Frage der Einheit der Christen ist von Bedeutung auch im Blick auf den Gegenprozeß zur Gruppenformation: die Auflösung der Gruppe. Es ist die Frage, ob die kirchliche Gruppe die Tendenzen zur Auflösung überwindet und ein solches Bild der Einheit zeigt, daß der Nichtchrist hierin ein Zeugnis des Glaubens sehen kann. Miller nennt vor allem folgende Faktoren, die den Prozeß der Gruppenauflösung verursachen (S. 1 1 0 ff.): 1. Spannungen werden von außen in die Gruppe hineingetragen oder brechen in ihrer Mitte auf. Ihr Kennzeichen ist, daß an die Stelle der Kooperation Konkurrenz tritt, die den Menschen unfähig zur Kommunikation macht. 2. Von großer Gefahr für die Gruppe ist ein autokratischer Führungsstil, der entweder zu offener Feindschaft und Aggression oder zu Apathie der Gruppenglieder führt. 3. Aber auch der Mangel an Disziplin und Tradition (Laisser-faire-Stil) 146

kann zur Auflösung fuhren, insofern er Chaos und Gruppendesintegration zur Folge hat. Dasselbe gilt für einen Mangel an Organisation. Die gut organisierte Gruppe hat mehr Freiheit, Zusammenhalt und Interdependenz, weil hier die Verantwortungen klar designiert sind. 4. Auch häufige Enttäuschung („frustration") kann Grund der Auflösung sein. Eine Gruppe muß das Gefühl des Gelingens haben, wenn sie zusammenhalten soll. Darum ist es nicht gut, wenn sie sich mit zuviel unlösbaren Problemen beschäftigt. 5. Z u seltene Wechselwirkung verursacht ein Auseinanderfallen der Gruppe. Es ist ein gewisses Maß an kontinuierlicher Tätigkeit und Teilnahme nötig, wenn Gruppen zusammenhalten und ihre Normen und Ziele lebendig bleiben sollen. 6. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist auch die Gruppengröße. Wenn eine Gruppe plötzlich so groß wird, daß sich die interpersonalen Beziehungen lockern, droht ihr Auflösung. 7. Einer der Hauptfaktoren ist der Mangel an Liebe und an Ehrfurcht vor der Person des anderen. Viele Faktoren sind nur ein Ausdruck dieses einen Faktors. Die Antwort auf die Probleme der Gruppenauflösung kann gefunden werden im Wesen der Kirche selbst, wie sie immer wieder neu geschaffen wird durch den Geist Gottes. 1. Spannungen und Konkurrenz werden in der christlichen Gruppe durch die erlösende Macht Gottes und die Gegenwart des lebendigen Christus überwunden, der sich alle Glieder in ihrer ganzen Existenz unterwerfen (S. i3of.). 2. Ein autoritärer Führungsstil ist in der christlichen Gruppe nicht möglich, wenn sie der Herrschaft Christi gehorcht. Der christliche Gruppenführer ist Diener der Gruppe (S. 64). 3. Der Mangel an Organisation, Disziplin und Tradition wird dadurch überwunden, daß der Heilige Geist selbst Ordnung schafft und die Gruppe ständig mit der Heiligkeit Christi konfrontiert (S. 132L). 4. Unlösbare Probleme können die Gruppe nicht zur Auflösung bringen, wenn sie im Licht der Offenbarung steht (S. 133). 5. Das Problem zu seltener Zusammenkunft kann es für eine kirchliche Gruppe nicht geben; denn um das Werk ihres Herrn in der Welt zu tun, wird sie sich oft treffen (S. 133f.)6. Da nur die „face-to-face" oder „primary group" wirksam Evangelisation treiben kann, ist eine immer neue Teilung und Anpassung erforderlich (S. 134). Das Wichtigste aber ist, daß die Gemeinde die Liebe Christi praktiziert. In der Praktizierung dieser Liebe liegt das wahre Geheimnis der Methode

147

des „Fcllowship Evangelism" (S. 1 7 1 ) . W e n n eine Gruppe diese wesentliche evangelistische Kraft nicht hat, kann ihr keine Technik des Gruppenlebens aufhelfen (S. 153). Die Gruppendynamik kann die Gemeinde nur anleiten, die natürlichen Kräfte des Gruppenprozesses zu erkennen, damit sie in Entsprechung zu diesen Faktoren ihre einzigartige Kraft um so wirksamer werden lassen kann. A m Schluß seines Buches gibt Miller praktische Hinweise, wie eine christliche Gruppe zum „Fellowship Evangelism" erzogen werden kann. E r bezieht sich dabei vor allem auf die gruppendynamische Methode der Selbstbeurteilung. 1 . J e d e kirchliche Gruppe sollte angeleitet werden, ihre eigene evangelistische Leistung zu studieren (S. 180). Diese Frage nach der Gruppenproduktivität beinhaltet u. a., wieviele Menschen in einem bestimmten Zeitraum für die Gemeinde geworben wurden und wer auf welche Weise daran beteiligt war. Durch dieses Studium wird die Gruppe fähig, zu erkennen, worauf sie in ihrem gemeinsamen Leben besonders achten muß. 2. Jeder Gruppe sollte geholfen werden, ihre evangelistischen Möglichkeiten zu analysieren. Das bedeutet vor allem die Frage, ob die Liebe Christi und die Gegenwart des Geistes in der Gruppe wirklich so machtvoll am Werk sind, daß sie Menschen anziehen kann (S. 181). 3. Die Gruppe muß angeleitet werden, eine Liste über ihre Verantwortungen zusammenzustellen. Sie sollte verantwortlich sein für jeden Nichtchristen in ihrer Umgebung (S. 184t.). Paul Millers Entfaltung einer neuen Methodologie der Evangelisation ist von dem Grundgedanken beherrscht, daß allein die Gemeinde die A n t wort auf die Probleme menschlichen Gruppenlebens hat und daß sie sich dieses Faktums bedienen sollte, wenn sie Evangelisation treiben will (vgl. S. 17). Die Problematik seines Entwurfes ist in seinem fundamentalistischen Ansatz begründet, der ihn dazu führt, die Auswirkungen des christlichen Glaubens und die Kraft der Gemeinde „messen" und beurteilen zu wollen, die doch in der irdischen Existenz der Kirche in der Zweideutigkeit und Verborgenheit bleiben, auch wenn die Gemeinde und der einzelne schon jetzt aus dieser Realität der Gegenwart Gottes leben können. Es gibt darum kein eindeutiges „ M e r k e n " und „Fühlen" der Gegenwart Christi in der Gemeinde (vgl. Miller, S. 173), obwohl die Gemeinde aufgerufen ist, diese Gegenwart in ihrem ganzen Lebensprozeß zu bezeugen. Die Spannung zwischen dem „ S c h o n " und „Noch-nicht" der Erlösung darf nicht aufgehoben werden (s. o. S. 97f.). Aber andererseits weist Miller 148

mit Recht darauf hin, daß durch das Wirken des Geistes Gottes in der Gemeinde eine neue Wirklichkeit geschaffen wird, die sich auch dem Menschen außerhalb ihrer Grenzen vermitteln möchte. Er will in diesem Zusammenhang deutlich machen, daß die Methoden der Kommunikation nur unter der Leitung des Geistes Gottes die rechte Anwendung finden.

e) Dienst in der Gesellschaft Als Leib Christi auf Erden ist die Gemeinde zum Dienst an der ganzen menschlichen Gesellschaft außerhalb ihrer eigenen Grenzen berufen (Grimes, S. 133). Die Kirche hat gegenüber der Gesellschaft nicht nur den Auftrag der Evangelisation,-sondern sie hat zugleich die Aufgabe, sich mit den sozialen und politischen Problemen zu beschäftigen und sich für menschliches Wohlergehen und personales Wachstum einzusetzen 39 . Dieser Auftrag ergibt sich aus der Botschaft Christi, die das Leben in seiner Ganzheit meint (Grimes, S. 1 3 3 ; R . C . Miller, Education, S. 56). Grimes kann sagen, die Gemeinde sei eine „inclusive society". Er meint damit, daß die Gemeinde als Sauerteig, der die ganze Welt durchdringen soll, in die Probleme verflochten ist, welche die gesamte Gesellschaft betreffen. Sie kann nur dann als Sauerteig wirken, wenn sie sich nicht als „exclusive society" von diesen Fragen distanziert, sondern in der Solidarität mit der Welt an einer Lösung arbeitet (S. 133). Es ist dabei aber zu beachten, daß es auch in diesem Dienst der Gemeinde an der Gesellschaft u m das christliche Zeugnis des Glaubens und der Tat gegenüber der Gesellschaft geht. Grimes weist im Gegensatz zur „SocialGospel-Bewegung" der zwanziger Jahre darauf hin, daß das Handeln der Kirche auf der Ebene der Gesellschaft nicht aus humanitären oder moralistischen Motiven zu begründen ist. Die Gemeinde handelt nicht aus dem Gefühl allgemeiner Menschenliebe, sondern ihre eigentliche Motivation ist die Antwort auf die erlösende Liebe Gottes, welche die Liebe zum Leben und zum Mitmenschen ermöglicht. Auch die Gesellschaftsdiakonie hat teil an der zentralen Begründung des christlichen Handelns: der Christ liebt, weil Gott ihn zuerst geliebt hat; er handelt, weil Gott in Christus gehandelt hat. Die soziale Arbeit der Kirche kann nur als ein Zeugnis von dieser Liebe Gottes verstanden werden (S,-i2öf.). Eine andere Meinung als Grimes vertritt H. S. Elliott, dessen Fragestellung in bezug auf die Gesellschaftsdiakonie der Kirche lautet: „Ist Religion eine Unterstützung für eine demokratische Gesellschaft?" (Rel. E d . , 1 9 5 0 , S. 2 8 4

fr.). 149

Während für Grimes das Kriterium die Antwort des Glaubens auf die Liebe Gottes ist, liegt für Elliott das Kriterium in den Normen einer bestimmten Gesellschaftsordnung und in den Forderungen, die sich von daher für die Gemeinde ergeben (vgl. den Exkurs S. 537ÍF.). Sie hat sich nach den für die Demokratie grundlegenden Prinzipien der Humanität und des allgemeinen Wohlergehens auszurichten. Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, in ihrer eigenen Mitte demokratische Einrichtungen zu schaffen und außerhalb ihrer Grenzen die Entwicklung auf eine vollkommene Demokratie hin zu fördern. Die Mehrzahl der interpersonalen Theologen teilt die Auffassung von Grimes (s. o. S. 83 f.). Mit wenigen Ausnahmen ist nach ihrer Meinung das Handeln der Kirche innerhalb der Gesellschaft allein durch den Auftrag Gottes legitimiert. Zwar setzen sie sich für die Verwirklichung demokratischer Prinzipien ein und betonen, daß die demokratische Gesellschaftsordnung aus der christlichen Tradition stammt (s. o. S. 81 ff.), aber sie gewinnen die Begründung für ihr Tun nicht von der demokratischen Ordnung und ihrem Ursprung her. Motivation und Kriterium des sozialen Handelns der Kirche ist für sie die Antwort auf die Offenbarung Gottes in Christus40. Diese Antwort impliziert auch die Aufgabe, zur Schaffung einer guten Atmosphäre in der Gesellschaft beizutragen und erstrebenswerte Ziele aufzuzeigen 41 . Im Blick auf den Vollzug der Gesellschaftsdiakonie der Kirche müssen nach Meinung der interpersonalen Theologen neue Ausdrucksformen gesucht werden. Oft beschränkt sich der soziale Dienst der Kirche auf das Einsammeln von Kollekten bei besonderen Gelegenheiten, auf die Einrichtung von Heimen und Hilfeleistungen durch besondere Organisationen. So wichtig solche Aktionen auch sind zur Linderung akuter Notstände, so sind sie doch kein angemessener Ausdruck der Liebe, welche ein Kennzeichen der christlichen Gemeinde ist. Die Problematik der gegenwärtigen sozialen Arbeit besteht darin, daß sie vielfach ohne persönliche Beteiligung („personal involvement") ausgeführt wird. Es geht im sozialen Handeln um die Hingabe des eigenen Selbst im Dienst. Diese Hingabe des Selbst in persönlicher Beteiligung ist der eigentliche Ausdruck der christlichen Berufung in der sozialen Arbeit und damit zugleich das Kriterium allen Handelns (vgl. Grimes, S. 132f.). Der Grundsatz persönlicher Beteiligung („personal involvement") ist auch einer der wichtigsten Aspekte der Gruppendynamik im Blick auf die soziale Arbeit. Nach Trecker ist die ganze soziale Arbeit in einem grundlegenden Wandel von der Behörde zur gesellschaftlichen Orientierung begriffen (a.a.O., S. 106). Er meint damit, daß Träger der sozialen 150

Arbeit nicht mehr anonyme Wohlfahrtsagenturen sein können, sondern die Gruppen von Menschen, die in gemeinsamer Arbeit um die Lösung der sozialen Probleme bemüht sind. Dieser Aspekt impliziert, daß die soziale Arbeit auch nicht mehr die Sache von einzelnen Experten oder charismatischen Führern ist, sondern die Angelegenheit jedes Gliedes der Gesellschaft42. Alle sollten an der Lenkung des sozialen Prozesses beteiligt werden, und zwar nicht nur auf der Ebene der Ausführung, sondern auch auf der Ebene der Planung und Zielsetzung (Baker, a.a.O., S. 85). Das Dilemma der heutigen Welt besteht darin, daß die politischen und sozialen Entscheidungen der persönlichen Verantwortung des einzelnen so ferngerückt sind, daß die meisten ein Gefühl der Ohnmacht und Mutlosigkeit ergriffen hat (Douty, S. 164). Wenn aber die Demokratie fortbestehen soll, ist es von fundamentaler Wichtigkeit, daß sich jeder als ein verantwortliches Mitglied der Gesellschaft fühlen kann. In der gegenwärtigen Situation gibt es dazu keinen anderen Weg als den, daß die Menschen eine befriedigende soziale Aufgabe in der Gruppenaktivität finden (Douty, S. 165). Auf diese Weise kann sich die Möglichkeit ergeben, daß nicht nur die Gesellschaft die Individuen beeinflußt, sondern daß umgekehrt auch die Individuen die Gesellschaft beeinflussen und einen Wandel in der Gesellschaft herbeiführen. Es handelt sich hier um die praktische Entfaltung der gruppendynamischen Theorie, daß die kleine Gruppe als Ort der gegenseitigen Vermittlung von Individuum und Gesellschaft anzusehen ist 43 . Angesichts dieser Bedeutung der Gruppe für Individuum und Gesellschaft ist es die besondere Aufgabe der Kirche, innerhalb der Gemeinde Möglichkeiten zu schaffen, daß Menschen in kleinen Gruppen unter verantwortlicher Mitwirkung und persönlicher Beteiligung aller Gruppenglieder Ziele sozialer Arbeit setzen und in der Gesellschaft zu verwirklichen suchen (vgl. Douty, S. 166; Clemmons, Dynamics, S. n o f . ) . Diese Aufgabe vollzieht sich am besten durch die Bildung kleiner Studiengruppen („problem-centered groups"), welche nach der Bedeutung des Evangeliums für die verschiedenen Gebiete der Gesellschaft fragen, entsprechende Ziele setzen und Aktionen planen. Ihre Arbeit soll sowohl den einzelnen Christen zur Verwirklichung seines Glaubens im alltäglichen Leben anleiten, als auch besondere soziale Aktionen ermöglichen, die durch Gruppen der Gemeinde getragen werden 44 . Die Hauptaufgabe dieser Studiengruppen liegt nach Douglass darin, die akuten sozialen Probleme gründlich zu studieren, um das Programm entwickeln zu können, das eine wirksame Hilfe der Gemeinde gewährleistet (S. 51). Darum sollten sich die Gruppen jeweils einem konkreten Notfall zuwenden: beispielsweise dem Problem der arbeitenden Mütter,

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der Unverheirateten und Geschiedenen, der Alkoholiker, der Wiedereingliederung von Delinquenten in die Gesellschaft, der Rassenintegration usw. Es geht jeweils darum, zu entdecken, w o die besonderen Bedürfnisse dieser Menschen liegen und wie die Gemeinde ihnen entsprechen könnte. Deshalb ist es wichtig, daß auch solche, die von den Nöten selbst betroffen sind, der Gruppe angehören. Nur auf diesem Wege ist ein wirkliches Vertrautwerden mit den Problemen möglich, und gleichzeitig zeigt sich hier ein erster Schritt zur Hilfeleistung (S. 51). Zum Kennenlernen der Probleme werden außerdem gruppendynamische Techniken, wie etwa „role playing" empfohlen 45 . Auch nach Grimes besteht der erste Schritt der sozialen Arbeit der Gemeinde darin, daß sie die Fakten zur Kenntnis bringt, die in einer Situation enthalten sind (S. 133f.). Er sieht es als eine vordringliche Aufgabe der Gruppen in der Gemeinde an, Informationen über zur Debatte stehende Probleme zu sammeln und diese Informationen innerhalb der Gesellschaft zu verbreiten. So kann sie dazu beitragen, daß wichtige politische und soziale Entscheidungen nicht in Unkenntnis und Verblendung vollzogen werden. Douglass weist darauf hin, daß zu einer gründlichen Durchleuchtung der verschiedenen Situationen eine Unterteilung („subdivision") des jeweiligen Problems nötig ist (S. 40). Er meint damit, daß untergeordnete „problem-centered groups" geschaffen werden müssen, die sich mit den verschiedenen Spezialfragen befassen, welche sich aus einem Hauptproblem ergeben. Auf eine solche umfassende Erforschung der sozialen Probleme muß die Gemeinde besonderen Wert legen. Wenn sie der Gesellschaft wirklich dienen will, ist es von fundamentaler Wichtigkeit, daß ihr Aktionsprogramm der Wirklichkeit entspricht. Das bedeutet gleichzeitig, daß sie sich auch über ihre eigenen Möglichkeiten Rechenschaft geben muß (vgl. Douglass, S. 23 ff.). Mit dieser Forderung des Wirklichkeitsbezuges nehmen die interpersonalen Theologen einen Hauptaspekt der Gruppendynamik auf, wonach die Gruppe in allen Stufen ihres Prozesses den Kontakt mit der Realität aufrechtzuerhalten und zu überprüfen hat (vgl. Thelen, a.a.O., S. 133). Die Wirksamkeit sozialer Gruppenarbeit hängt davon ab, daß die Gruppe in jeder Phase die Vorgänge in der Gruppe selbst und das Geschehen in der Gesellschaft wahrnimmt und beide Prozesse miteinander in Beziehung setzt. Als Beispiel für die Modelle sozialer Gruppenarbeit, auf welche sich die interpersonalen Theologen beziehen, nennen wir folgendes Diagramm über die einzelnen Phasen des Planungsprozesses46. 152

1. In der ersten Phase geht es darum, die Ideen und Gefühle der Gruppenglieder über notwendige Aktionen zu erkennen und die Ideen und Gefühle der Gesellschaft kennenzulernen. Innerhalb der Gruppe wird gefragt, was nach Meinung jedes Gruppengliedes getan werden sollte und könnte. Außerhalb der Gruppe werden andere soziale Aktionen studiert und die Gruppenideen werden mit anderen diskutiert. Aus der Erkenntnis der wichtigsten Probleme der Gesellschaft ergeben sich die möglichen Ziele des Handelns. 2. Der nächste Schritt besteht in der Abschätzung der Möglichkeiten der Gruppe und in der Abschätzung der Bereitschaft der Gesellschaft. Hier geht es darum, die Gruppe als Werkzeug sozialen Handelns zu begreifen, ihre Grenzen an Zeit, Mitteln und Einfluß festzustellen, sich ehrlich über die Motive Rechenschaft zu geben, die zu einer bestimmten Unternehmung leiten. Die Emotionen dürfen beispielsweise nicht als „hidden motives" vernünftige Planung durchkreuzen. Im Blick auf die Gesellschaft geht es um Beurteilung möglicher Unterstützung und Opposition. Daraus ergibt sich die Entscheidung für eine bestimmte Aufgabe, die von großer Wichtigkeit ist für die Gesellschaft und die realisierbar ist im Blick auf die eigenen Hilfsquellen der Gruppe, sowie die Unterstützung, die sie von außen bekommen kann. 3. Übersetzung der Idee in einen Plan zur Ausführung. Dazu gehören: die Sammlung und Auswertung von Informationen, die Feststellung möglicher Schritte, die nötig sind zur Erreichung des Handlungszieles, die Wahl des ersten Schrittes entsprechend der Bereitschaft und Fähigkeit von Gruppe und Gesellschaft und die Analyse der Kommunikationsstruktur der Gesellschaft (Verzeichnis der Kanäle zur Information der Leute, Möglichkeiten der Veröffentlichung des Projektes). Daraus ergibt sich die Planung des ersten Schrittes der Handlung. Dieser erfordert, daß sich die Gruppe zu seiner Durchführung fähig fühlt, daß er in Kontakt bringt zu anderen Personen und Gruppen, die einbezogen werden müssen, daß er die besten Möglichkeiten der Publizierung verspricht, daß er verantwortlichen Gebrauch von der Opposition macht. 4. Vorbereitung auf den ersten Schritt. Diese Phase schließt ein: Klärung der Ziele des ersten Schrittes, Verteilung der Verantwortungen, Wiederholung und neue Planung des ersten Schrittes, Beurteilung im Rahmen des Gesamtplanes. Im Blick auf die Gesellschaft: Feststellung von Punkten, w o die Hilfe anderer nötig ist, Bitte um Unterstützung, Vorbereitung der Veröffentlichungen, Aufnahme von Außenseitern als echten Partnern. Daraus ergibt sich: a) der erste Schritt, der darin besteht, andere Leute beim Nachdenken über das Problem und als Partner des Projektes zu beteiligen, die Hilfs153

quellen der Gesellschaft auf das Problem einzustellen, das Denken der Gruppe über das Problem in bezug auf die Gesellschaft zu testen, Gegebenheiten zu schaffen für die Planung weiterer Schritte. b)Neue Definition des Handlungszieles, die sich ergibt aus neuen Informationen über die Gruppe selbst und über die Gesellschaft. Wie auch immer der erste Schritt aussehen mag, er sollte dazu bestimmt sein, die höchstmögliche Beteiligung zu gewinnen und zugleich zu testen, wie die Gruppe über die Möglichkeiten der Gesellschaft in bezug auf das Problem denkt und wie man diese am besten zur Ausarbeitung einer Lösung verwenden kann. Thelen nennt als wichtigen Grundsatz für alle Phasen des Prozesses, daß wohl die Änderung von Bedingungen und Strukturen erstrebt wird, nicht aber Individuen und Gruppen dabei Schaden leiden dürfen: „Während des ganzen Prozesses bestimmt die Gruppe ihren Gegner als objektiv definierte Bedingungen, die der Änderung bedürfen, nicht als Individuen und Gruppen, die beseitigt werden sollen" (S. 366).*

Douglass und Grimes betonen, daß der erste Schritt, den die Gemeinde zu tun hat, jeweils der Dienst der Ortsgemeinde gegenüber der „Bürgergemeinde" sein wird, in der sie lebt (Grimes, S. 135). Jedoch sollte sich die soziale Arbeit der Kirche nicht nur auf die unmittelbaren Probleme ihrer Umgebung beschränken, sondern sich auf alle Gebiete des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens ausdehnen. Die Gemeinde kann bei der Lösung dieser Fragen auch mit anderen Gruppen zusammenarbeiten, vorausgesetzt, daß deren Prinzipien nicht ihren eigenen grundsätzlich widersprechen (Grimes, S. 133 ff.; Douty, S. 32). Der wichtigste Aspekt in der Gesellschaftsdiakonie der Kirche, ob sie sich nun im engen oder weiten Rahmen vollzieht, ist in jedem Fall dieser, daß Gesellschaftsdiakonie weder eine Anpassung der Gemeinde an die Normen der Gesellschaft bedeuten kann, noch die Erzeugung von Machtpositionen der Institution Kirche. Es geht um das Glaubenszeugnis der Laien, die nach der Bezogenheit des Evangeliums auf alle Gebiete des sozialen Prozesses fragen und ihre Verantwortung als individuelle Christen und als Glieder der christlichen Gemeinde zu erfüllen suchen (Grimes, S. 135). Die Aufgabe des Pfarrers liegt darin, die Gemeindeglieder für ihren Dienst zuzurüsten. Er selbst ist zwar kein Spezialist für Fragen der Wirtschaft und Politik, aber es besteht doch die Möglichkeit, daß er den Gemeindegliedern dabei hilft, die Bedeutung ihres Glaubens für Alltag und Beruf zu erkennen und in der Welt als Christen zu leben (Grimes, S. 1 3 5 ; Douty, S. 166; West, S. 28off.). Letzteres ist der wichtigste Dienst, den die Gemeinde der Gesellschaft erweisen kann. 154

f ) Die Leitung des Gemeindeprozesses Wenn wir die Frage nach einer Theorie des Pfarramtes erst am Ende unserer Interpretation stellen, so folgen w i r damit dem Ansatz der Gruppendynamik und interpersonalen Theologie. Eine nähere Bestimmung der Leitungsfunlction ergibt sich für sie erst aus dem Ursprung, dem Vollzug und der Richtung des Prozesses selbst. W i r mußten uns also zunächst mit dem Gemeindeprozeß, seinem Verständnis und seiner Verwirklichung beschäftigen, um von diesem Hintergrund her die Frage beantworten zu können, welche Funktionen dem Pfarrer in diesem Prozeß zufallen. Insofern die interpersonale Theologie von ihrem Ansatz her eine ekklesiologisch orientierte Theologie ist, impliziert sie auch eine Theologie der Gemeindeleitung. Diese meint nur einen besonderen, wenn auch außerordentlich wichtigen Aspekt des Gemeindeprozesses selbst. Sie wird in Analogie zu der gruppendynamischen Konzeption einer v o m Gruppenprozeß selbst ausgehenden und auf ihn bezogenen Leitung verstanden, meist bezeichnet mit dem Begriff„group-centered leadership" im Gegensatz zu einer „leader-centered leadership" 47 . Die interpersonalen Theologen entfalten diese Konzeption in ihrem von der Offenbarung und Ekklesiologie her gegebenen Bezugsrahmen. U m die Beziehung zwischen Gemeindeleitung und Gemeindeprozeß verdeutlichen zu können, wollen wir zunächst auf dem Hintergrund unserer bisherigen Ausführungen noch einmal zusammenfassend die Kennzeichen des Gemeindeprozesses bei den interpersonalen Theologen herausstellen: 1. Er entspringt der Offenbarung Gottes, die sich in der Bibel und in dem Leben der Gemeinde selbst bezeugt. 2. Die Offenbarung als die Selbsterschließung Gottes gegenüber dem Menschen geschieht als personale Begegnung, die sich innerhalb der Gemeinde in einer ständigen personalen Kommunikation zwischen Gott und Mensch vollzieht. 3. Diese Kommunikation ist wechselseitig. Das meint: Für den Gemeindevollzug ist nicht nur Gott als Rufender und Antwortender, sondern auch der Mensch als Rufender und Antwortender konstitutiv. 4. Die Gemeindeglieder partizipieren im Gemeindeprozeß wechselseitig an ihrem Gottesverhältnis und beeinflussen einander dadurch in ihrer Antwort auf den Ruf Gottes. 5. Der Gemeindeprozeß unterscheidet sich v o m natürlichen Gruppenprozeß dadurch, daß alle menschlichen Beziehungen in ihm an der Gottesbeziehung partizipieren. Oder anders ausgedrückt: Er ist ein 155

pneumatisches Kräftefeld, in welchem G o t t durch seinen Heiligen Geist gegenwärtig ist und Erlösung wirkt. 6. E r vollzieht sich aber geschichtlich und innerhalb der Strukturen dieser W e l t und erscheint daher in der Gestalt eines geschichtlich-sozialen Prozesses, obwohl die Kräfte, die seine Gestalt hervorbringen, nicht geschichtlich-sozialer Herkunft sind. 7. I m Gemeindeprozeß und durch ihn wirkt und vermittelt Gott die E r lösung f ü r die W e l t . V o n dorther empfängt der Prozeß seine Richtung. E r kann sich daher nur als diakonia an der W e l t vollziehen. 8. Das Pfarramt partizipiert an diesem Gemeindeprozeß, ist aber selbst für ihn nicht konstitutiv. S o empfängt der Gemeindeprozeß seinen Ursprung in einem personalen OfFenbarungsgeschehen, seine Richtung durch seine Funktion für die Welt.

Sein Ziel aber liegt jenseits der geschichtlich-sozialen

Welt

(Sherrill, S. 1 9 1 ) . D i e Kommunikation mit G o t t ist ein durchgehender Z u g durch das ganze Leben der Gemeinde. In ihr fallen Ursprung, W e g und Ziel der Gemeinde zusammen. Kommunikation ist gemeint mit der Offenbarung Gottes als Ursprung der Gemeinde, mit dem Vollzug ihres Ursprungs oder dem Leben aus der Offenbarung als W e g der Gemeinde und mit der Einbeziehung der ganzen W e l t in ihren Ursprung als Ziel der Gemeinde. D a r u m sind auch die B e g r i f f e , mit denen die Offenbarung, die Gemeinde und ihre Dienste beschrieben werden, bezogen auf dieses Geschehen der K o m m u n i k a t i o n zwischen G o t t und Menschen 4 8 . D i e Aussagen über dieses Geschehen sind jedoch immer geschichtlich und relativ. E i n D o g m a über die K o m m u n i k a t i o n mit G o t t kann nur zu gegenseitiger E x - K o m m u n i k a t i o n in der Kirche führen (Sherrill, S. I59f.). D i e K o m m u n i k a t i o n Gottes mit dem Menschen und die dadurch wiederhergestellte personale Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch und den Menschen untereinander ist Inbegriff des durch den Glauben geschenkten Heiles selber und w i r d erst am jüngsten T a g , jenseits des Endes der g e schichtlich-sozialen W e l t , seine Vollendung erfahren. Insofern sich aber in der christlichen Gemeinde „ k o i n o n i a " verwirklicht, geschieht durch sie schon jetzt Einführung des Menschen in die K o m m u n i k a t i o n mit G o t t (Sherrill, S. 1 9 1 ) . Sie bedeutet Einladung an die W e l t , an ihrer K o m m u n i k a t i o n mit G o t t zu partizipieren 4 9 . Im Vollzug ihres Gemeindeseins hat die Gemeinde gleichzeitig ihr W e sen, erneuert sich immer wieder ihr Ursprung, verwirklicht sie die ihr v o n G o t t gegebene B e r u f u n g und Bestimmung, ist sie eine ständig „ w e r d e n d e " , „wachsende", sich „ w a n d e l n d e " , in Richtung ihres Zieles gehende. S o kann Clemmons sagen: „Indem wir Christen werden, sind wir Christen" (Dynamics, S. 123). 156

Die Aufgabe der Gemeinde besteht demnach darin, das zu vollziehen, was sie durch Gott ist, und in diesem Vollzug das zu werden, was sie ist. Die Gleichzeitigkeit und das unlösliche Ineinander von „ b e i n g " und „ b e c o m i n g " im Wachstum des einzelnen Christen und der Gemeinde sind Ausdruck für die Spannung von Indikativ und Imperativ, „schon" und „noch nicht" des Heiles, wie sie für den irdischen W e g der Gemeinde kennzeichnend ist. Das Vollziehen des ihr von Gott gegebenen Seins ist der Imperativ Gottes an die Gemeinde, ihr Werden und Wachsen sein eigenes W e r k 5 0 . Darum kann man nicht von einem Tun der Kirche im isolierten Sinn sprechen, etwa so, als ob sie die Laien für ihre Arbeit zu interessieren und zu gebrauchen hätte. Dahinter steht eine falsche Sicht dessen, was G e meinde in Wirklichkeit ist (vgl. Grimes, S. 64). Das Tun kann nur Funktion des Gemeindeprozesses selbst sein. Sherrill lehnt es darum ab, zwischen Prozeß und Tun einen wirklichen Unterschied zu machen, wie es z. B . unter dem Einfluß des Pragmatismus geschehen ist. Man dürfe die Wirkung des Geistes nicht mit einem bestimmten Tun verwechseln 5 1 . Das verleite zu gefährlichen Täuschungen. Die Gemeinde könne ein eindrucksvolles Bild im Bereiche ihres Handelns bieten und doch könnten gerade darin dämonische Elemente wirksam sein (S. 153 ff.). Die eigentliche Entscheidung falle darin, ob das, was sich im Tun vollzieht, aus dem pneumatischen Geschehen in der Gemeinde kommt. Die Gemeinde verwirklicht sich nicht, indem sie Aufgaben und Programme erfüllt, sondern indem sie ihr von Gott gegebenes Leben annimmt, vollzieht und weitergibt 5 2 . Damit wächst sie in allen Richtungen in sich selber und nach außen in die Welt hinein: im Glauben, in der Liebe, in immer tieferem Verständnis des Rufes Gottes, in der E r kenntnis seines Willens, im mündigen Dienen in der Welt. Ihre verschiedenen Dienste können ihre Funktionen nur erfüllen als Lebensäußerungen der Gemeinde, in welchen das Tun dem Wesen des Gemeindeseins selbst entspricht und aus ihm hervorgeht. Darum ist die wichtigste Aufgabe der Kirche, daß sie lehrt, wie man Kirche sein kann (Grimes, S. 106). Insofern die Dienste Lebensäußerungen der Gemeinde darstellen, sind sie der gesamten Gemeinde übertragen. Alle Funktionen, welche die Gemeinde zu ihrem Leben und zur Erfüllung ihrer Aufgaben nötig hat: Gottesdienst (einschließlich Predigt), Erziehung, Seelsorge, Evangelisation, Gesellschaftsdiakonie, Verwaltung sind Funktionen der ganzen Gemeinde, an denen alle Glieder partizipieren. Dieses ergibt sich theologisch aus dem Verständnis der Gemeinde als allgemeinem Priestertum, das sich nur durch die persönliche Antwort jedes Gemeindegliedes ver157

wirklichen kann (s. o. S. 78 ff.), und es entspricht empirisch dem Ganzheitsaspekt des Gruppenprozesses53. Sherrills Buch „The Gift of Power" versteht sich etwa als Entfaltung der These: „Die christliche Gemeinde in ihrer Ganzheit soll der Ort eines erlösenden Dienstes am menschlichen Selbst als einer Ganzheit sein" (S. X ) . *

Das bedeutet, daß die Abgrenzungen zwischen den einzelnen Diensten fließend werden. Jeder von ihnen enthält pädagogische, seelsorgerliche, administrative, missionarische, kerygmatische, gesellschaftsdiakonische Aspekte, und in ihnen allen vollzieht sich Gottesdienst als die Antwort der Gemeinde auf den Ruf Gottes (Grimes, S. 7 1 ; Sherrill, S. XII). So repräsentiert jeder Dienst „irgendeine Funktion der Gemeinde als ganzer im Blick auf ihre eigenen Glieder, auf die weitere Bürgergemeinde, in der sie steht, und auf andere Gemeinschaften, die weit entfernt von ihrem Ortsverband leben" (Sherrill, S.

61).*

Weil aber die Dienste Aufgaben der ganzen Gemeinde sind, kann der Pfarrer nach Meinung der interpersonalen Theologen keine besondere Funktion haben, die ihn der Gemeinde gegenüberstellt. Die Frage nach der Einheit des pfarramtlichen Dienstes, wie sie die soziologischen Erhebungen als eines der Hauptprobleme des amerikanischen Protestantismus herausstellen (s. o. S. 25f.), kann deshalb nicht dadurch beantwortet werden, daß irgendeine Funktion in der Gemeinde ausgegrenzt und allein dem Pfarrer übertragen wird 5 4 . Es muß vielmehr gefragt werden, in welcher Weise der Pfarrer in allen Diensten der Gemeinde notwendig ist und an ihnen partizipiert. Diese Partizipation ergibt sich aus dem Bedürfnis des Gemeindeprozesses nach einer ihm angemessenen Integration. Die Beziehungen in der Gemeinde erfordern eine ständige kommunikative, anregende und anleitende, die Dienste der Gemeinde eine ständig integrierende und koordinierende Tätigkeit. In diesem Sinne ist die zentrale Funktion des Pfarramtes der Dienst der Leitung, wie sie von der Konzeption der Gruppendynamik her verstanden wird. W o die interpersonalen Theologen über die Entstehung des Pfarramtes reflektieren, sehen sie dieses nicht in der Stiftung eines besonderen Amtes begründet, sondern in der für jeden Gruppenprozeß notwendigen, aus ihm hervorwachsenden Funktion der Leitung 55 . Die konfessionelltheologischen Traditionen, von denen sie herkommen, haben nur wenig Einfluß auf ihre Vorstellung vom Vollzug des Pfarramtes 58 . Sie sehen die Aufgabe des Pfarrers als Leiters der Gemeinde in Analogie zu der Aufgabe eines Gruppenleiters. Seine Funktion der Leitung ist ein integrieren158

der Bestandteil des Gemeindeprozesses, w i e umgekehrt durch seinen Dienst der Gemeindeprozeß seine Integration vollzieht (Johnson, S. 60; Sherrill, S. 62; Grimes, S. 138fr.). Die Notwendigkeit einer Leitung ist für die interpersonalen Theologen durch den Vollzug des Gemeindeprozesses selbst gegeben 5 7 . P. Miller weist darauf hin, daß Führung dort entsteht, w o die Wechselwirkungen in der Gruppe zusammenlaufen. So werden die Führer in einem bestimmten Stadium des Gruppenprozesses als Kristallisationspunkte notwendig 5 8 . Sherrill stellt heraus, daß zwar die Gruppe einer Führung aus vielerlei Gründen oft sehr kritisch gegenübersteht, daß sie aber die Gefahr der Desintegration sofort spürt, wenn eine Führung fehlt. Führung ist in einer Gruppe notwendig, weil in ihr Beziehungen existieren, welche nach Koordinierung verlangen (S. 62). Johnson kann den Leiter als Produkt der Gruppe bezeichnen, w i e er auch umgekehrt von der Gruppe sagen kann, daß sie in gewissem Sinne W e r k des Leiters sei (a.a.O., S. 60). Dabei wird aber in keiner Weise die leitende Funktion im Gemeindeprozeß auf den Pfarrer beschränkt, sondern die Leitung vollzieht sich ebenfalls in allen Funktionen und Tätigkeiten der Gemeindeglieder, welche in irgendeiner Weise fördernd und integrierend auf den Gruppenprozeß einwirken (Grimes, S. 138fr.). Im allgemeinen überwiegt bei den interpersonalen Theologen die Tendenz, Leitung als eine Funktion des Gruppenprozesses zu definieren und nicht als die Tätigkeit einer bestimmten Person. Johnson beispielsweise kann „ L e i t u n g " folgendermaßen beschreiben: „Leitung ist eine wechselseitige Beziehung von Personen" (Psych., S. 60).* In entsprechender Weise kann Clemmons sagen: „Gruppenbezogene Leitung ist primär eine Angelegenheit interpersonaler Beziehungen" (Dynamics, S. 120).* Dieses läßt sich in folgender Weise präzisieren: „Leitung ist ein Prozeß gegenseitiger Anregung und Wechselwirkung zwischen mündig werdenden Erwachsenen, welcher die Erreichung der von ihnen gewählten Ziele fördert" (a.a.O., S. 118).* Reid definiert Leitung als „eine Serie von Funktionen": „Leitung besteht in der Ausübung von Funktionen, die eine bestimmte Gruppe zu einer gegebenen Zeit benötigt 69 ."* So kann man sagen, daß sich in dem jeweiligen Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte im Gruppenprozeß seine Leitung vollzieht. In der gruppendynamischen Forschung wird daher der Vorschlag gemacht, besser von der „Führungsstruktur" einer Gruppe zu sprechen, als von 159

dem „Führer" der Gruppe 60 . Führung solle weniger in der Terminologie einer Person als in der Terminologie von Strukturen definiert werden. Ross und Hendry stellen hauptsächlich drei verschiedene Konzeptionen heraus: 1.Führung geschieht durch eine „zentrale Person", durch welche der Gruppenprozeß seine Integration finden kann 61 . Die Bezeichnung „leader" für diese zentrale Person wird abgelehnt, weil gerade nicht eine starke Persönlichkeit gemeint ist, sondern ein Glied der Gruppe, durch welches diese ihre Integration vollzieht. Letztere kann in verschiedener Weise erfolgen, je nach der besonderen Situation der Gruppe und des ihr entsprechenden integrativen Bedürfnisses (S. 20). 2. Führung geschieht durch die ganze Gruppe, insofern alle Gruppenfunktionen Leitungsfunktionen sind (S. 22 ff.). Leitung wäre daher als Funktion einer Gruppenstruktur zu beschreiben. 3. Führung ist der Ausdruck einer bestimmten Gesamtsituation, in welcher sich eine Gruppe zu einer gegebenen Zeit befindet. Bei wechselnden Situationen ändern sich auch die Erfordernisse, die für die Führung bestimmend sind (S. 26ff.). Ross und Hendry vertreten die Ansicht, daß jede dieser drei Theorien eine Wahrheit in sich enthalte und daß man Führung als ein komplexes Problem zu sehen habe, in welchem sehr verschiedene Faktoren miteinander in Wechselwirkung stehen (S. 17). Auch die konvergierenden Ansichten, ob die Leitung durch eine bestimmte Person oder durch alle Gruppenglieder in ihren verschiedenen Funktionen vollzogen wird, schließen nach Ansicht von Ross und Hendry einander nicht aus62. Jede Theorie einer Leitung müsse in Rechnung stellen, daß Gruppenleitung bedingt sei durch bestimmte Verhaltensweisen und Bedürfnisse der Gruppenglieder, durch die Gruppenstruktur und die Gruppensituation (S. 36). Alle drei Konzeptionen stimmen darin überein, daß „Führung" nicht auszugehen hat von den jeweiligen Bedürfnissen einer Führerpersönlichkeit, die zum Vollzuge ihrer Rolle eine Gruppe braucht und sich schafft. Bei den interpersonalen Theologen schlägt sich diese Problematik der Gruppenforschung nieder. Sie teilen aber auch gleichzeitig die Grundauffassung der Gruppendynamik, daß alle Führung von den Bedürfnissen der Gruppe auszugehen hat. Auf der einen Seite verstehen sie die zentrale Tätigkeit des Pfarrers als katalysatorische und integrierende Funktion im Gemeindeprozeß, auf der anderen Seite betonen sie, daß es die Aufgabe des Pfarrers ist, sich selbst in seiner Funktion der Leitung überflüssig zu machen. So kann Anderson den Pfarrer als „a catalytic agent" bezeichnen 63 . Auch P. F. Douglass fordert, daß der Gemeindeleiter ein „catalyst160

type leader" sei und lehnt unter Berufung auf die gruppendynamische Forschung den Führungstyp des „boss" und „overseer" ab (S. 128). Beide heben jedoch gleichzeitig hervor, daß es Ziel des Leiters sein müsse, wieder zum einfachen Gruppenglied zu werden 64 . Indem der Leiter andere lehrt, die Funktionen der Gruppe verantwortlich zu vollziehen, werden sie selbst an der Leitung beteiligt 65 . Darum sprechen Anderson, Clemmons und Reid in ihren neuesten Veröffentlichungen von einer „funktionalen" oder „geteilten Leitung" („functional" oder „shared leadership") 66 . Je mehr die Gemeindeglieder lernen, sich selbst in der rechten Weise auf Gott und ihre Mitmenschen zu beziehen, desto mehr wird die Leitung zur Funktion der ganzen Gemeinde, so daß sie sich schließlich als Prozeß gegenseitiger Anregung und Wechselwirkung zwischen den Gruppengliedern vollzieht (Clemmons, S. 1 1 8 und 120). Die integrierende, katalysatorische Funktion des Pfarrers, die ihn in gewissem Sinn zu einer zentralen Person im Gruppenprozeß machen könnte, und seine Aufgabe, sich selbst in der Funktion als Leiter überflüssig zu machen, stellen ihn in eine Spannung hinein. Sie bedeuten aber keinen grundsätzlichen Widerspruch, wenn man die integrierende Funktion der Leitung als konkreten, den Bedürfnissen der Gruppe entspringenden Ausgangspunkt und die Übertragung der Leitungsfunktionen an die Gruppenglieder als Ziel der pfarramtlichen Tätigkeit versteht. So kann man auch mit Reid sagen, daß es die Funktion des Leiters ist, die Gruppenglieder aus der Abhängigkeit von ihm zu befreien 67 . Die Führungstheorien der Gruppendynamik und der interpersonalen Theologie stellen vor allem eine doppelte Aufgabe des Leiters heraus: 1. Er hat der Gruppe dabei zu helfen, ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Zielsetzungen zu klären. 2. E r hat ihr dabei zu helfen, das von ihr selbst gesetzte Ziel zu erreichen. Als ein Beispiel für diese Auffassung von den Aufgaben eines Leiters könnte die Definition der Führung dienen, die wir bei Cartwright und Zander finden: „Führung wird verstanden als Vollzug solcher Handlungen, welche der Gruppe helfen, die von ihr bevorzugten Ergebnisse zu erreichen"* (S. 304; spezifiziert als Hilfe bei Zielsetzung, Verwirklichimg, Interaktion u.a.).

Diese Hauptfunktionen der Leitung kehren in recht vielfältigen Variationen bei allen gruppendynamischen Forschern und interpersonalen Theologen wieder 6 8 . Clemmons betont, daß diese Auffassung von der Leitung den Vorstellungen der Gruppenglieder selbst entspricht: „Sie erwarten nicht, daß man ihnen sagt, was sie denken oder tun sollen. Sie

161

möchten an einem Prozeß teilnehmen, in dem sie ihre Bedürfnisse entdecken, ihre Ziele bestimmen und ihre eigene Lebensweise herausfinden können" (Dyn., S. 59).*

So weisen die interpersonalen Theologen darauf hin, daß auch in der christlichen Gemeinde der Leiter nicht seine Anschauungen und seinen Willen der Gruppe aufnötigen dürfe, sondern daß er die Gruppe zum rechten Verständnis ihrer selbst und zur rechten Verwirklichung ihrer Ziele anzuleiten habe. Der Pfarrer hat die Autorität der Gruppe anzuerkennen und ihre Entscheidungen anzunehmen. Er darf der Gruppe keine Disziplin von außen auferlegen, sondern muß sie anleiten, diese aus sich selbst heraus zu entwickeln, indem jeder erkennen und anerkennen lernt, was die anderen bzw. die Gruppe braucht, und danach sein Verhalten einrichtet68. Das Wichtigste ist zunächst, daß der Leiter und die Gruppe gemeinsam nach den wirklichen Bedürfnissen der Gruppenglieder zu suchen beginnen. An diesem Punkt erhebt sich für die Gruppendynamik und die interpersonale Theologie die Frage, wie die wirklichen Bedürfnisse einer Gruppe festzustellen seien. Die beiden extremen Standpunkte in der Diskussion sind einerseits, daß der Leiter auf Grund seiner Erfahrung und Ausbildung die wirklichen Bedürfnisse einer Gruppe besser wahrnehmen könne als die Gruppenglieder selbst (vgl. Trecker, S. 40). Andererseits wird argumentiert, daß der Leiter nicht von sich glauben dürfe, die wirklichen Bedürfnisse der Gruppenglieder zu kennen (Anderson, a.a.O., S. 21). In jedem Fall aber setzt das Erkennen der wirklichen in einer Gruppe vorhandenen Bedürfnisse voraus, daß die Gruppenglieder ihre Meinungen, Gefühle und Intentionen äußern, in einem Prozeß freimütigen Austausches miteinander erörtern und durchdenken und sie dadurch miteinander in Beziehung setzen. Es ist die Annahme der Gruppendynamik, daß sich in diesem „process of group thinking" die Meinungen, Wünsche und Intentionen zu integrieren beginnen, so daß schließlich eine Übereinstimmung darin erzielt werden kann, an welcher Aufgabe in welcher Weise die Gruppenglieder miteinander arbeiten wollen. Dem Leiter fällt dabei die Funktion zu, die für diesen Prozeß notwendigen Bedingungen zu schaffen. Er hat dafür zu sorgen, daß die Gruppenglieder miteinander in Kommunikation treten können. Er muß die Wege der Kommunikation offen halten, damit alle ihren höchstmöglichen Beitrag zur schöpferischen Tätigkeit der Gruppe geben und gleichzeitig darin die höchstmögliche Befriedigung finden und persönlich wachsen können. Der Leiter einer Gruppe wird damit gleichzeitig zum Erzieher. Dabei ist vor allem die Beurteilung dessen, was im Gruppenprozeß auf der Ebene der nichtverbalen Kommunikation geschieht, und die Schaffung 162

der rechten Atmosphäre für den Vollzug der Kommunikation entscheidend70. Die interpersonalen Theologen geben gewöhnlich jeweils eine Beschreibung oder eine tabellenhafte Übersicht über die Hauptfunktionen, die dem Leiter im Gruppenprozeß zufallen 71 . Anderson beispielsweise zählt in seiner Zusammenfassung der Leitungsfunktionen des Pfarrers folgende auf: 1. Der Pfarrer muß versuchen, alle Äußerungen von Gedanken und Gefühlen zu verstehen, um die Kommunikation der Gruppenglieder zu erleichtern. 2. Er muß alle Standpunkte und Meinungen der Gruppenglieder akzeptieren, damit sie frei in der Gruppe geäußert und diskutiert werden können. 3. Er muß die Gefühle, Gedanken, Meinungen und Standorte der Gruppenglieder zu klären versuchen. 4. Er muß recht zuhören können. 5. Er muß die Beiträge der einzelnen integrieren. 6. Er muß der Gruppe erlauben, alle Entscheidungen zu treffen. 7. Er muß solange warten können, bis die Gruppe ihre Verantwortung übernimmt. 8. Er muß der Gruppe ermöglichen, sich ständig über alles Rechenschaft zu geben, was im Gruppenprozeß geschieht. 9. Er muß die Leitung, soweit als möglich, den Gruppengliedern selbst überlassen und einfaches Gruppenglied werden wollen. 10. Sobald die Gruppe ihre eigene Verantwortlichkeit erkannt und zu vollziehen gelernt hat, kann er sich frei fühlen, sein Wissen als Experte zur Verfügung zu stellen, ohne dadurch die Selbständigkeit der Gruppe zu gefährden (a.a.O., S. 21 f.). Die Weise, in welcher das Pfarramt nach der Vorstellung der interpersonalen Theologen am Gemeindeprozeß und seinen Diensten partizipiert, ist ihrer Struktur nach dadurch bestimmt, daß die Gemeindeglieder lernen sollen, ihr eigenes Wollen zu klären, sich in der rechten Weise aufeinander zu beziehen, gemeinsam nach einem Ziel und den Wegen seiner Verwirklichung zu suchen und die Leitung der Gemeinde in verantwortlichem Zusammenwirken aller vorhandenen Kräfte selber zu übernehmen, um dadurch persönlich zu wachsen und zu mündigem Christsein zu reifen (Clemmons, Dyn., S. n8fF.). Die Tätigkeit des Pfarrers als Gemeindeleiters meint darum eine helfend-entbindende, zum Mündigwerden anleitende, die Gemeindeglieder zu wechselseitigem Austausch und gemeinsamem Tun zusammenführende Funktion (Anderson, 163

a.a.O., S. 20f.). E r soll nicht „ f ü r " die Gemeindeglieder arbeiten, sondern „ m i t " ihnen: „Diese Weise, mit Menschen zu arbeiten statt für sie, läßt Leben und Kraft der Kirche mehr von der Gemeinde abhängen als v o m Pfarrer 7 2 ."* D i e Ü b e r n a h m e der Leitungsfunktion durch die G e m e i n d e setzt voraus, daß der Pfarrer den Gemeindegliedern ermöglicht, die zur A u s ü b u n g ihrer Dienste nötige Ausbildung zu erhalten. D i e interpersonalen T h e o logen sind darum bemüht, ein umfassendes E r z i e h u n g s p r o g r a m m f ü r die Ausbildung der Gemeindeglieder in den zur Gemeindeleitung nötigen Funktionen auf der G r u n d l a g e der gruppendynamischen Forschung zu erarbeiten 7 3 . Es k o m m t ihnen v o r allem darauf an, die Vielheit der G a b e n und B e r u f u n g e n und die Mannigfaltigkeit der Leitungsfunktionen in einer G e m e i n d e zu erkennen und miteinander in die rechte Entsprechung zu bringen. W e i l keine G r u p p e der anderen gleicht, sind auch die A n f o r d e r u n g e n an eine L e i t u n g in jeder G r u p p e anders, und nicht jeder kann in jeder G r u p p e eine leitende Funktion ausüben (Reid, a.a.O., S. 8ifF.). Es gibt keine universellen Eigenschaften eines Führers, w e d e r angeborene noch erworbene, die einen z u m Führer schlechthin machen (Johnson, S. 60). Paul Miller stellt m i t Recht heraus, daß die neuen Theorien der Führung ein normales Gruppenglied f ü r die Führungsaufgabe tauglicher halten als einen

sich

durch

sogenannte

Führungseigenschaften

empfehlenden

Leiter. Jedes Gemeindeglied, das a m Gemeindeprozeß teilnimmt, ist potentiell zur Leitungsfunktion befähigt. D a die G r u p p e selbst die A r b e i t zu tun und die Entscheidung zu treffen habe, ist es fast jedem möglich, die L e i t u n g einer G r u p p e auszuüben, an deren Leben und W i r k e n er teiln i m m t . Experimentelle Untersuchungen der G r u p p e n d y n a m i k haben ergeben, daß sich durch die A u s ü b u n g der Leitungsfunktion, zu der ein Gruppenglied beauftragt w i r d , die Fähigkeit zur Leitung in beachtlicher W e i s e steigert (P. Miller, S. 59f.). D e r Pfarrer m u ß sich jedoch davor hüten, daß er nur noch Leiter v o n Leitern w i r d und dadurch in Isolierung v o n der G e m e i n d e als ganzer gerät (Johnson, S. 59ff.). D i e wichtigste Voraussetzung seines Dienstes ist, daß er ständig in B e z i e h u n g zu seinen Gemeindegliedern bleibt, da sich L e i t u n g nur als Funktion einer personalen K o m m u n i k a t i o n vollziehen kann (Johnson, S. 60). W o die personale Beziehung fehlt, besteht i m m e r die G e f a h r , daß der Pfarrer seine G e m e i n d e auf ein Z i e l hin manipuliert, das er selbst f ü r sie gesetzt hat, und sie zur V e r w i r k l i c h u n g des v o n i h m selbst ausgearbeiteten P r o g r a m m e s b e w e g e n w i l l . Äußerlich m a g er dabei sehr erfolgreich sein und die G e m e i n d e m a g ein sehr imponierendes B i l d 164

bieten, in der Verborgenheit jedoch bleibt sie unbeteiligt, da sie merkt, daß es nicht um ihre eigene Sache, sondern um die des Pfarrers geht. Sie fühlt, daß hinter aller dieser Aktivität doch eine Verachtung der menschlichen Person steht. Ein solcher Pfarrer ist mit seiner Gemeinde letztlich nur durch äußere und funktionale Beziehungen verbunden. Johnson nennt ihn einen „extemal leader", da er die Gemeinde zu Zielen hinführen will, die nicht aus ihr selber kommen. Er ist darum auch für ihn identisch mit einem automatischen Führer, der auf Grund von überlegener Macht und besonderem Wissen Herrschaft und Kontrolle über seine Gruppe sucht und sie in seinem Sinne zu manipulieren trachtet74. Demgegenüber stellt Johnson seine Konzeption der „internal leadership" als den Führungsstil, welcher dem Pfarramt angemessen sei. Konstitutiv für seine Vorstellung von der internen Führung ist, daß sie immer von der Gemeinde selbst ausgeht und ihren Bedürfnissen dienen möchte. „Intern" ist die Führung deswegen, weil der Pfarrer dann im Innern der Gemeinde steht, als Gemeindeglied in besonderer Funktion handelt und seinen Auftrag daher ganz von der Gemeinde ableitet (S. Ö2ff). In demselben Augenblick, in welchem er aus eigener Vollmacht über Ziel und Wege der Gemeinde zu bestimmen versucht, um sie für seine eigenen Zwecke einzuspannen, fällt er in den externen Führungsstil, welcher ihn in Wirklichkeit aus dem inneren Lebenszusammenhang der Gemeinde herausreißt und in Distanz zu ihr stellt (S. 60). Der Pfarrer steht durch sein Amt immer wieder in Gefahr, wenn er auch selbst nicht will, in den Stil der externen Leitung zu verfallen, da ihn die Traditionen und Erwartungen der Gemeinden oft in diese Richtung zwingen. Durch seine Ordination scheint er aus der Gemeinde herausgestellt zu sein. Man erwartet von ihm eine andere Sicht des Lebens, die aus seiner besonderen Berufung kommt und schließlich darin Ausdruck findet, daß er anders denkt, spricht, arbeitet und spielt. Der „internal leader" dagegen sucht die Menschen dort auf, w o sie sind, möchte ein Glied ihrer Gemeinschaft sein, als ein solches handeln und ihr nicht gegenüberstehen. Er wird nicht glauben, daß er selbst den Willen Gottes für die Gemeinde besser versteht als diese und wird zusammen mit der Gemeinde in freimütigem, offenem Gespräch die Erkenntnis des Willens Gottes suchen. Indem er selbst „wir"-bezogen denkt, lernen die Gemeindeglieder, sich ihm gegenüber und untereinander in derselben Weise zu verhalten Qohnson, S. 6 2 f f ) . Die personale Kommunikation, die auf Grund der personalen Gestalt des Offenbarungsgeschehens zu den wichtigsten Kennzeichen und Kriterien der Gemeinde gehört (s. o. S. 87ff.), kann nur dort entstehen, w o die Menschen einander zu verstehen und anzunehmen versuchen. Denn nur so können sie einander 165

Vertrauen schenken und sich gegenseitig öffnen und zu erkennen geben (S. 324). Das aber läßt sich durch keine Methode oder Technik erreichen. Diese Ansicht w i r d auch v o n den anderen interpersonalen Theologen geteilt. Sie übernehmen die gruppendynamischen Methoden und T e c h niken, weil sie f ü r den rechten Vollzug der Leitungsfunktionen in der Gemeinde hilfreich sind 7 5 . D a sich das gemeinsame Suchen nach dem Gruppenziel und den W e g e n seiner Verwirklichung hauptsächlich i m Gespräch vollzieht 7 6 , gewinnt eine Methodologie der Diskussionsleitung eine wichtige Funktion. V o r allem bietet die Gruppendynamik als angewandte Wissenschaft dem Pfarrer Hilfen zur Analyse der Gruppenatmosphäre, des Geschehens in der Kommunikation, der wechselseitigen Bedingtheiten des Verhaltens der Gruppenglieder, des Fortschreitens des Gruppenprozesses auf sein Z i e l zu, des Grades der Integration und W e r k zeuge zu einer intensiveren W a h r n e h m u n g personaler und interpersonaler Prozesse (Sensitivity Training) 7 7 . Wichtiger jedoch als alle Methodologie ist die Weise, in welcher die Gruppenglieder aufeinander einwirken (vgl. Reid, a.a.O., S. 87). Das gilt in besonderem Maße f ü r das Verhältnis zwischen dem Leiter und den Gliedern der Gruppe. Nicht die A n w e n d u n g bestimmter Techniken und die B e f o l g u n g gruppendynamischer Spielregeln entscheidet darüber, was sich in der Gruppe vollzieht, sondern die A r t der Beziehung, die der Leiter zu den Gruppengliedern unterhält. Wichtiger als seine Eigenschaften ist seine innere „Einstellung", wichtiger als sein Führungsgeschick und seine Führungstechniken ist seine Person selber. S o kann Anderson sagen: „ . . . in allen unseren Gruppenbeziehungen ist etwas weit Wichtigeres zu beachten als die geschickte Anwendung dieser Techniken. Dieses .Etwas' ist die Haltung, die der Pfarrer (Leiter) jedem Glied der Gruppe gegenüber hat" (S. 20); und: „Eine gute Gruppendynamik ist nicht eine Anzahl von Techniken, sondern eine Lebensweise" (S. 21).* N u r w e n n der Pfarrer die rechte innere Einstellung zu den Menschen fmdet, kann er die Atmosphäre schaffen, welche zum gegenseitigen A n nehmen und Verstehen nötig ist (Johnson, S. 63). Sherrill weist auf den Zusammenhang hin zwischen der Beziehung des Leiters zu sich selber und seinen Beziehungen zu den Gliedern der Gruppe. Seine eigene Person und seine innere Situation liegen daher weitgehendst seiner Arbeit zugrunde und bedingen ihre Ergebnisse 7 8 . Genauso haben die Charakterstrukturen und die Situation der Gruppenglieder auf den Gruppenprozeß Einfluß. In ähnlicher W e i s e stellt Johnson eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Beziehungen des Leiters zu den Gruppengliedern und den Gruppengliedem untereinander fest (ebd.). 166

Auch in der angewandten Gruppendynamik selbst finden wir Hinweise darauf, daß die Einstellung und die Überzeugungen der Menschen für die Wechselbeziehungen in einer Gruppe und für die Gruppenführung wichtiger seien als Techniken 79 . Gordon ist der Ansicht, daß die bisherigen Ausbildungsprogramme für Gruppenleiter daran gekrankt hätten, daß sie zu stark an Techniken und Methoden orientiert gewesen seien, zu wenig aber die Bedeutung des Glaubens und der Einstellung zum Mitmenschen gesehen hätten. Leiter und Gruppenglieder können nur in einer Weise handeln und sich verhalten, wie es ihren inneren Einstellungen und Grundüberzeugungen entspricht. So setze die Anwendung der gruppendynamischen Methodologie auch bestimmte Einstellungen und Überzeugungen des Leiters voraus: z. B. muß er Vertrauen in die Fähigkeit der Gruppenglieder haben, die rechten Entscheidungen zu finden; er muß auch Vertrauen haben, daß die Entscheidungen der Gruppe, die auf diesem W e g e zustande kommen, für sie besser sind als die Entscheidungen, die er selber für sie treffen könnte (Gordon, S. 18). Johnson hebt hervor, daß der interne Führungsstil schwieriger ist und v o m Pfarrer mehr fordert als der externe. Er muß bereit sein, Wagnisse einzugehen und wird viele Enttäuschungen erleben, wenn er die Entscheidungen anderer respektiert und auf die Verwirklichung eigener Vorstellungen und Wünsche verzichtet (a.a.O., S. 62). Ohne Vertrauen, Verläßlichkeit, Wahrhaftigkeit, Vergebungsbereitschaft und andere Voraussetzungen ist eine wirkliche personale Kommunikation nicht möglich. Darum kann Johnson die Ethik als den „Eckstein" der Kommunikation bezeichnen (S. 32$; vgl. Reid, a.a.O., S. 87). Aber wenn Johnson hier auch den ethischen Bezugsrahmen der Kommunikation und der Führung besonders betont, so darf dieses nicht dazu Anlaß geben, den allgemeinen theologischen Bezugsrahmen der interpersonalen Theologen zu übersehen. Die theologische Bedeutung der Theorie von der „group-centered leadership" liegt darin, daß alle menschliche Führung in der Gemeinde notwendig an der Leitung der Gemeinde durch den Heiligen Geist partizipiert. Darum kann es Leitung in der Gemeinde nicht als Herrschaft über sie geben, weil sonst Gott selbst die Herrschaftsrolle streitig gemacht würde. Die Funktion der Leitung muß davon bestimmt sein, daß sie Träger der Wirksamkeit des Geistes Gottes sein kann: „ D e r Leiter, der seine Gruppe beherrscht, übernimmt selbst die Rolle G o t t e s . . . Seine Rolle m u ß eine transparente sein. W e n n er mit den Menschen zu arbeiten versucht statt für sie, wenn er mit ihnen seine eigenen Einsichten und Kenntnisse teilt, statt ihnen diese Ideen aufzuzwingen, kann er ein

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menschliches Werkzeug werden, durch welches der Geist Gottes wirken kann 8 0 ."

Damit stellt sich für die Gemeinde nicht nur das Problem der Beziehung von gruppendynamischen Methoden und personaler Kommunikation, sondern gleichzeitig auch die Frage nach dem Verhältnis der Anwendung von Gruppentechniken und der Wirksamkeit des Geistes Gottes. So warnen etwa Grimes und Clemmons vor dem Mißverständnis, daß christliche Gemeinde durch die Anwendung von gruppendynamischen Verfahrensweisen „gemacht" werden könnte 81 . Christliche Gemeinde ist und bleibt in allen Stadien die Gabe Gottes. Aber insofern das Wirken Gottes und die verantwortliche Partizipation der Gemeinde an seinem Wirken einander nicht ausschließen (s. o. S I2if.), hat die Gemeinde die Aufgabe, sich aller Möglichkeiten zu bedienen, die ihr beim Empfang der Gabe Gottes und bei ihrer Konkretisierung in den Diensten helfen können. Eine dieser Möglichkeiten ist die Gruppendynamik 82 . Insofern auch die Gemeinde ein Gruppenprozeß ist, gibt die Gruppendynamik als Wissenschaft ihr das Handwerkszeug, um die Vorgänge im Gemeindeprozeß besser zu erkennen und zu verstehen. Die Gruppendynamik als Methodologie zeigt ihr Möglichkeiten der Gestaltung, welche den empirischen Bedingungen des Prozesses angemessen sind: „ D i e Kirche ist primär eine Gruppenerfahrung, und diejenigen, die aktiv am Leben der Kirche teilnehmen, sind in der einen oder anderen Weise Leiter und Glieder von Gruppen. Das Studium des Gruppenprozesses und seiner Gesetzmäßigkeiten ist wesentlich für jeden, der seine Teilnahme am Gemeindeleben wirksam machen möchte" (Douty, S. 29).*

Als „Gemeinschaft des Heiligen Geistes" muß sich die Gemeinde fragen, ob diese durch die Gruppendynamik vermittelten Erkenntnisse, die von ihr empfohlenen Techniken und deren Gebrauch der Art des Lebens entsprechen, das Gott durch seinen Geist in der Gemeinde wirken will, denn: „ D e r einzigartige Charakter kirchlicher Gruppenprozesse liegt nicht so sehr in der Besonderheit ihrer Methoden, sondern in den dynamischen Kräften ihres einzigartigen Lebens" (P. Miller, S. 153).*

Es geht daher in der Anwendung von Gruppentechniken darum, daß sie ein Hilfsmittel werden, durch welches der Heilige Geist Gemeinde schaffen kann 83 . Der rechte Gebrauch der Gruppentechniken gehört mit zu der Antwort, welche die Gemeinde auf den Ruf Gottes gibt: „Christliche koinonia kann nicht gemacht (manufactured) werden durch Anwendung irgendwelcher Techniken. Sie ist Gabe G o t t e s . . . Seine Gaben bringen die Notwendigkeit unserer Antwort mit sich. Unsere Annahme dieser Verantwortung vergewissert uns der Gabe der K r a f t 8 4 . " * 168

Resümee und kritische Würdigung Gruppe und Gemeinde - das Verhältnis von Sozialwissenschaft und Theologie hei den interpersonalen Theologen In dem Gespräch der interpersonalen Theologen mit der Gruppendynamik werden folgende Beziehungen zwischen Theologie und empirischer Sozialwissenschaft deutlich: 1. Die interpersonale Theologie lernt von der Gruppendynamik die wissenschaftliche Analyse des sozialen Prozesses (z. B . ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen im sozialen Feld) und übernimmt ihre Kategorien (Feld, Prozeß, Gestalt, Wechselbeziehung, Funktion, Ganzheit, Wirkzusammenhang usw.) und ihre Methoden (empirische Diagnostik, Erziehung, Leitung usw.). Sie bedient sich dieser Ergebnisse zu einem tieferen Verständnis des Gemeindeprozesses in seiner empirischen Realität. 2. Sie stellt aber diese Ergebnisse in den Bezugsrahmen der christlichen Offenbarung und der Gemeindewirklichkeit. Von dorther kommt sie im Vollzuge der Aufnahme der Gruppendynamik gleichzeitig zu ihrer Kritik: Betonung der „Qualität" menschlicher Beziehungen gegenüber den Strukturen; Abwehr einer soziologistischen Anthropologie, welche die Personalität des Menschen in Frage stellt; Aufdeckung der Dämonie im sozialen Prozeß, Warnung vor einer Überbewertung des Technischen usw. 3. Sie bezeugt im Vollzug des Gespräches in den Kategorien dieser Wissenschaften, daß der Mensch erst durch die Begegnung mit Gott seine eigentliche personale Wirklichkeit erfährt; daß erst die erlösende Gegenwart Gottes in den menschlichen Wechselbeziehungen w i r k liche Gemeinschaft ermöglicht und bezieht somit die Botschaft der Bibel auf die in diesen Wissenschaften zur Sprache kommenden Probleme. In der Aufnahme der Ergebnisse der Gruppendynamik geht es um eine Ekklesiologie in den Kategorien der Umwelt, nicht um den „Anknüpfungspunkt". 4. Im Vollzug des Gespräches wird sichtbar, daß sie an derselben empirischen Wirklichkeit teilhat w i e die Gruppendynamik. Sie steht in derselben geschichtlich-sozialen Situation und bezeugt in ihr die W i r k lichkeit, welche durch den Glauben an das Evangelium vermittelt wird. Die Möglichkeit des Gespräches ist dadurch gegeben, daß sie sich auf dieselbe menschliche Wirklichkeit beziehen kann, welche die empirischen Wissenschaften gemeinsam erforschen. Indem die empirischen Wissenschaften untereinander ein Gespräch über die eine menschliche Wirklichkeit führen, bietet sich auch der Theologie die Möglichkeit der Teilnahme an diesem Gespräch. 169

Kritische Fragen ergeben sich in folgenden Richtungen: 1. Trotz der Betonung individueller Verantwortung ist doch bei einigen Vertretern die Gefahr eines Umschlossenseins des Christen durch die Gemeinde und damit einer Reduktion des personalen auf den sozialen Aspekt hin erkennbar („Gruppenphilosophie"). 2. Der Gedanke einer „Meßbarkeit" der Auswirkungen christlichen Glaubens und die Tendenz zur Vermischung von Glaube und Empirie, wie sie besonders bei fundamentalistischen Voraussetzungen vorliegt, überspringt die Spannung zwischen „Sein" und „Werden", wie sie für die irdische Existenz der Kirche kennzeichnend ist. 3. Beide Gefahren sind zumeist bei einem fundamentalistischen oder einem pragmatischen Rahmen gegeben. Indem jedoch die interpersonalen Theologen untereinander ein Gespräch führen, vollzieht sich darin gleichzeitig Kritik an diesen Tendenzen. Bei allen interpersonalen Theologen aber ist der Bezug zum geschichtlich-sozialen Feld nicht genügend entfaltet. Dieses Problem vor allem muß uns im folgenden beschäftigen. Der Ansatz der interpersonalen Theologen wird besonders deutlich, wenn man ihn mit den Impulsen der Social-Gospel-Bewegung vergleicht. Während sich die amerikanische Gemeinde in der Social-GospelBewegung vor allem der christlichen Verantwortung für die sozialen Verhältnisse in der Gesellschaft zugewandt hatte, wendet sie sich in der interpersonalen Theologie den Nöten des Menschen in der Gesellschaft zu. Einen Fortschritt sehen wir darin, daß die interpersonale Theologie den ganzen Menschen im ganzen sozialen Feld in den Gesichtskreis rückt. Sie ist dabei nicht so sehr von gesellschaftsreformerischen und politischen Motiven bestimmt, wie von seelsorgerlich-pädagogisch-diakonischen. Sie wird vor allem in der Gemeindearbeit selbst, in Erziehung, Leitung, Seelsorge wirksam. Darin trägt sie der Wechselwirkung zwischen sozialem Feld und Gemeinde in allen ihren Problemstellungen voll Rechnung. Aber sie sieht diese Wechselwirkung fast ausschließlich unter der gemeindlichen Perspektive. Eine gewisse Verengung des Zugangs zum geschichtlich-sozialen Feld ist erkennbar, insofern die Fragen und Nöte der Gesellschaft mehr im Zusammenhang des Gemeindelebens behandelt werden. Das entspricht zwar der biblischen Sicht, daß die Gemeinde vor allem durch den Vollzug selbst die größte Hilfe zur Lösung der sozialen und strukturellen Probleme leistet. Es ist aber zu fragen, ob nicht gerade die derzeitige Situation in den U S A zeigt, daß darüber hinaus eine direktere Bezugnahme zu den Fragen der Gesellschaft nötig wird. Die Wechselwirkung zwischen Gemeinde und Gesellschaft muß auch in der Perspektive des sozialen Feldes

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entfaltet werden. Auch die Welt und die Situation des Menschen in ihr müssen zum Thema der Theologie gemacht werden. Es stellt sich eine Fülle von Fragen, wie in dieser Perspektive christlicher Glaube geschichtlich-soziale Gestalt gewinnt. Daß diese Fragen von den interpersonalen Theologen nicht in zureichendem Maße aufgenommen werden konnten, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß sie das theoretische Fundament der empirischen Wissenschaften nicht genügend zur Kenntnis nehmen. So vollzieht sich die Aufnahme ihrer Forschungsergebnisse mehr pragmatisch. Die zur Zeit in den U S A viel beachtete Diskussion zwischen R. A. Lambourne und S. Hiltner zeigt den gegenwärtigen Hintergrund auf, von welchem her wir Ort und Bedeutung der interpersonalen Theologie noch einmal würdigen wollen 85 . Die Diskussion ist zwar vorwiegend von den Perspektiven einer Theologie der Seelsorge und der Sozialethik bestimmt und nimmt nur wenig Bezug auf ekklesiologisch-pädagogische Fragestellungen und auf die Gemeindearbeit selbst. Aber sie wirft ein Licht auf die innere Gesprächssituation der Wissenschaften. Lambourne stellt im Blick auf die Situation der praktisch-theologischen und kirchlichen Arbeit fest, daß drei Richtungen unverbunden nebeneinander existieren. Die erste Richtung orientiert sich fast ausschließlich an der Psychologie. Sie ist vor allem im akademischen und klinischen Bereich beheimatet. In ihr geht es um Probleme der personalen Entwicklung des Menschen unter Vernachlässigung der Frage sozialer Gerechtigkeit. Genannt wird in diesem Zusammenhang auch das „Sensitivity Training", das aus der Gruppendynamik hervorgegangen ist (Lambourne, a.a.O., S. 313). Die zweite Gruppe kommt von der Soziologie her. Sie kümmert sich um den Notstand der Gesellschaft, vernachlässigt aber die Probleme des Personalen. Der Ort ihrer Wirksamkeit ist die Großstadt. Die dritte Gruppe versucht, theologische, philosophische und ethische Fragen aufzunehmen, die von den beiden anderen Gruppen aufgeworfen werden. Aber sie erreicht die Praxis nicht. Lambourne und Hiltner stimmen darin überein, daß die bei weitem stärkste Richtung die psychologische ist, die bei weitem schwächste die theologische. Dazu kommt noch im Blick auf die letztere, daß sie sich wiederum in eine mehr naturwissenschaftlich und eine mehr ethischsozialwissenschaftlich orientierte Richtung aufteilt (Lambourne, a.a.O., S. 323). Die zweite Gruppe ist in den Augen von Lambourne noch in den ersten Anfängen, aber Hiltner meint, daß sie in der Gegenwart stark anwachse und auch immer mehr Gebrauch von der Psychologie mache. Nach Lambourne ist die fehlende Fundierung des Theorie-Praxis-Be171

zuges der ersten Gruppe eine der Ursachen dafür, daß sich die zweite Gruppe immer mehr in einem politischen Aktivismus verselbständige. Die erste Gruppe bezieht sich auf eine therapeutische Situation, die künstlich geschlossen ist. Die an ihr beteiligten Menschen sind zwar völlig offen zueinander, aber doch von der Außenwelt abgeschirmt86. Die zweite Gruppe bezieht sich auf die offene und komplexe Situation des Menschen in der Stadt (a.a.O., S. 315 f.). Lambourne und Hiltner sind der Meinung, daß es höchste Zeit sei, diese verschiedenen, voneinander abgespalteten und isolierten Strömungen miteinander zu verbinden. Sie verlangen vor allem eine intensivere theologische Arbeit. Lambourne möchte dabei die Ich-Du-Philosophie von M. Buber und die Prozeßphilosophie von Whitehead aufnehmen. Er fordert einen Ansatz beim „ganzen Menschen in der ganzen Gesellschaft" (a.a.O., S. 326). Dieser sei bisher in der Institutionalisierung der Wissenschaften nicht genügend berücksichtigt worden. Die Feldtheorie Lewins und die Theologie der interpersonalen Theologen kommen trotz der genannten Verkürzung bereits von diesem Ansatz her. Ebenso bemühen sich die letzteren um eine theologische Durchdringung der von der Psychologie und den Sozialwissenschaften aufgeworfenen Fragen. Dabei kommen sie zur Entfaltung einer ekklesiologischen Theorie, in deren Zusammenhängen die Probleme des Gemeindelebens und der Gemeindearbeit systematischer als bisher behandelt werden können. Ihr Ort ist die Gemeinde in allen ihren Bezügen. Ihre Einsichten und Kategorien sind so in die amerikanische Gemeindewirklichkeit eingegangen, daß sie heute weithin mit zur allgemeinen Grundlage pastoraler Theologie und kirchlicher Arbeit in den U S A zählen87. In ihr sind Psychologie, Sozialwissenschaft und Theologie bereits gegenseitig vermittelt, ohne daß das theoretische Fundament einer interdisziplinären Wissenschaft systematisch erarbeitet ist. Das Problem des Verhältnisses von Theologie, Psychologie und Sozialwissenschaften wird uns in Teil B noch besonders beschäftigen. Die theoretischen Schwierigkeiten ihrer Zusammenarbeit bestehen darin, daß oft noch altes und neues Wissenschaftsverständnis undifferenziert ineinander liegen.

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Kapitel IV

K O N S E Q U E N Z E N FÜR GEMEINDE U N D PFARRAMT IN DER D E U T S C H E N

SITUATION

a) Der Wille zur Mündigkeit als Herausforderung unter dem Evangelium

Wir haben in der Einführung die Gruppendynamik und interpersonale Theologie in ihren geschichtlichen Bezügen dargestellt, um zu verdeutlichen, daß sie aus den konkreten Bedürfnissen der amerikanischen Gesellschaft und Gemeinde herausgewachsen sind. Sie selbst sind Ausdruck des geschichtlich-sozialen Wandels, wie er sich in der Gegenwart vollzieht. Die Gruppendynamik als Wissenschaft wurde notwendig, als die Regelung des geschichtlich-sozialen Prozesses nicht mehr nur auf der Grundlage von „Anordnung" und „Gehorsam" gewonnen werden konnte, sondern immer wieder neu durch Übereinkunft gefunden werden mußte. An die Stelle der Unterdrückung von Konflikten durch obrigkeitliche Maßnahmen trat die Aufgabe sachgerechter und humaner Lösung von Konflikten. Die Gruppendynamik als pädagogische Theorie untersucht die Bedingungen des Prozesses gemeinsamer Willensbildung und vermittelt Werkzeuge seiner Gestaltung. Damit stehen die Gruppendynamik und die interpersonale Theologie als Gesprächspartner derselben im Zusammenhang des Demokratisierungsprozesses, wie er die gegenwärtige Gesellschaft ihrer Richtung nach kennzeichnet. Durch alle geschichtlichen Krisen der Neuzeit hindurch hat sich der Wille des Menschen zur Mündigkeit durchgehalten. Er ist daher selbst als eine geschichtliche Kraft der Gegenwart anzusprechen. Das bedeutet allerdings noch keine Antwort auf die Frage nach dem Verhalten dieser geschichtlichen Tendenz gegenüber. Der Weg zu einer mündigen Welt hat eine Fülle tief in das Leben der Menschheit eingreifender Implikationen, die sehr verschieden gesehen und beurteilt werden können. Man kann fragen, ob die Voraussetzungen dazu im Menschen, in der politischen, sozialen, industriellen und wirtschaftlichen Situation überhaupt gegeben sind oder geschaffen werden können. Die Bereitwilligkeit, sich auf diesen geschichtlichen Wandel unserer Welt einzulassen, ist nicht überall vorhanden und muß daher in vielerlei Hinsicht erst geweckt werden. Die Gruppendynamik macht in ihrer Analyse des geschichtlich-sozialen 173

Prozesses darauf aufmerksam, daß seine Richtung letztlich durch die Anwesenheit konkreter Menschen und Gruppen, durch die Weise ihrer Wahrnehmung, ihres Urteilens, ihrer Zielvorstellungen, ihres Handelns und durch die Art ihrer Wechselwirkungen mit der Umwelt bestimmt wird. Darin überwindet sie die Alternative von Individualismus und Kollektivismus. Der Individualismus begründet sich zumeist in seiner Sorge um den einzelnen Menschen. Aber ein Schutz der menschlichen Person ist heute nicht mehr durch eine Front des Individualismus gegen den Kollektivismus möglich. Im Gegenteil leistet solcher Individualismus dem weiteren Wachsen des Kollektivismus nur Vorschub. Eine wirksame Hilfe für die Person des Menschen kann nur gegeben werden, wenn sich die Gruppen selbst als Lebenszellen der Gesellschaft ihrer Verantwortung gegenüber dem einzelnen Menschen, seiner Integrität und Freiheit, bewußt werden und ihm ein Wachsen zur Mündigkeit ermöglichen 1 . Die interpersonalen Theologen stellen die Frage nach Mündigkeit im ekklesiologischen Kontext. Es geht darin um die Verantwortung, die der Mensch vor Gott für sich selber, seine Mitmenschen und die Welt trägt. Dieses impliziert für den Gemeindeaufbau die konkrete Entscheidung, daß alle Gemeindearbeit an dem Kriterium zu überprüfen ist, ob sie solche Entwicklung zur Mündigkeit hindert oder fördert. Die Gemeinde wird hier vor allem als Erziehungswirklichkeit gesehen. Indirekt leistet sie damit einen bedeutenden Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft. Sie schenkt ihr mündige Menschen, die in Verantwortung vor Gott in Gemeinschaft mit anderen für das Gemeinwohl zu arbeiten gewohnt sind. Darin liegt der wichtigste Beitrag zur Gesellschaftsdiakonie. Die Gestalt der amerikanischen Gesellschaft und ihre innere Dynamik lassen sich ohne diesen Beitrag der amerikanischen Gemeinde nicht verstehen. Umgekehrt kann letztere in ihrer Arbeit von der bereits in den demokratischen Institutionen der Gesellschaft erfolgenden Erziehung zur Mündigkeit ausgehen. Gruppendynamik und interpersonale Theologie stehen dem Demokratisierungsprozeß in der Gesellschaft jedoch auch in konstruktiver Kritik gegenüber. Die Gruppendynamik wehrt einem bloß formalistischen Verständnis demokratischen Verhaltens, indem sie in ihren Analysen die Lebensbezüge sichtbar macht, in welche die demokratischen Verfahrensweisen eingebettet sind 2 . Die interpersonale Theologie wehrt einem ideologischen Verständnis des Demokratischen, indem sie die Bedeutung der Wirksamkeit der Gottesbeziehung in den mitmenschlichen Beziehungen herausstellt, von der her die Strukturen und Verfahrensweisen relativiert werden. Wie sehr eine solche Kritik aufbauendes Element der Demokratisierung selbst ist, zeigen die gegenwärtigen Konflikte der 174

amerikanischen Gesellschaft, in denen wieder zur Entscheidung steht, o b der Demokratisierungsprozeß eine neue Stufe erreichen kann oder hinter die gegenwärtige zurückfallen wird. Demokratie darf nicht als V e r w i r k lichung abstrakter gesellschaftlicher N o r m e n mißverstanden werden. Sie ist als endloser Prozeß anzusehen, in dem es jeweils u m die für die geschichtliche Situation bestmögliche Verbindung v o n Verantwortung und Freiheit in kritischer Mündigkeit und die dazu notwendigen sozialen Voraussetzungen geht gegenüber den Kräften, welche eine humane Gesellschaft zu zerstören drohen. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis v o n Kirche und D e m o kratisierung i m kontinentalen Europa. Der amerikanische

Kirchen-

historiker James H. Nichols zeigt die Verschiedenheiten der Entwicklung auf, w i e sie durch den Einfluß der christlichen Kirchen mitbestimmt w u r den 3 . Für die anglo-amerikanische Demokratie bedeutete Freiheit zunächst Ermöglichung verantwortlichen Lebens und Tuns v o r Gott. Solche Freiheit aus Verantwortung behauptete sie auch gegenüber dem Staat, den sie damit v o n der Gesellschaft differenzierte. D i e v o n der französischen Revolution herkommende kontinental-europäische D e m o kratie verstand Freiheit und Gleichheit hauptsächlich unter dem Aspekt der Teilhabe an Privilegien, die man vorher entbehren mußte 4 . Sie sah die gesellschaftlichen Institutionen als Schöpfungen des Staates an (Nichols, a.a.O., S. 42ff.). Das bedeutet, daß die Demokratisierung im anglo-amerikanischen Raum sich hauptsächlich aus christlichen W u r z e l n speiste, während sie i m kontinentalen Europa auch gegen die Kirchen als v o m Staat privilegierte Institutionen gerichtet war. Die Kirchen bedienten sich zu ihrer Selbstbehauptung der staatlichen Organe. Die damit verbundenen Machtkämpfe wirkten sich dahingehend aus, daß die D e m o kratisierung im kontinentalen Europa gewalttätig-egalitäre Z ü g e erhielt. Das Ergebnis für die Entwicklung der Gesellschaften i m kontinentaleuropäischen R a u m faßt Nichols mit einem Zitat aus P. T . Forsyth zusammen: „Deutschland hat niemals die Bekämpfung der Täufer durch die Reformatoren überwunden, wie Frankreich nicht die Bartholomäusnacht 6 ."* Hier werden w i r mit Entscheidungen in unserer eigenen kirchlichen und gesellschaftlichen Geschichte konfrontiert. M a n könnte es so ausdrücken: die kontinental-europäische Christenheit ist dem Willen des Menschen zur Mündigkeit und dem Entstehen v o n Gesellschaften, die diesem W i l len entsprechen, weithin negativ begegnet. Im Vergleich mit ihr war sich die anglo-amerikanische Christenheit stärker ihrer Verantwortung für

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den gesellschaftlichen Wandel bewußt und hat den Bezug des Evangeliums zum geschichtlich-sozialen Prozeß theologisch mehr reflektiert und praktisch realisiert. Was heute im Bereich der Ökumene als christliche Verantwortung unter dem Evangelium in Fragen der Gesellschaft bezeugt wird 6 , steht gegen Entwicklungen in unserer eigenen Geschichte und nötigt zu Konsequenzen aus den gewonnenen Einsichten. In der fortschreitenden Isolierung von den geschichtlichen Lebensfragen begegnet die kontinental-europäische Christenheit Versäumnissen, wie sie sich aus einer mangelnden Wahrnehmung ihrer vom Evangelium her aufgegebenen Verantwortung für die geschichtlich-soziale Welt ergaben. Die in der Gegenwart sich vollziehende Auflösung des Schutzbündnisses von Staat und Kirche stellt vor eine ganz neue Situation. Die mündig werdende Gesellschaft und Gemeinde akzeptieren die staatlichen und kirchlichen Institutionen nicht mehr einfach als vorgegebenen Rahmen, sondern fragen kritisch nach ihrer Funktion im Gesellschafts- und Gemeindeprozeß. Mit der Freisetzung der Gemeinde in der heutigen Gesellschaft kommen auch auf die deutschen Gemeinden neue Aufgaben zu, in denen die amerikanischen Gemeinden eine größere Erfahrung haben, da die Lösung dieses Schutzbündnisses bei ihnen eine längere Tradition hat. Ein Aufarbeiten unserer kirchlichen Geschichte wird aber auch aus Erkenntnissen unserer heutigen exegetischen Wissenschaften notwendig, welche die theologischen Wurzeln solch mangelnden Bezuges innerhalb der reformatorischen Kirche beleuchten7. Für den Zusammenhang, in dem die interpersonale Theologie zu einer Anfrage an unsere deutsche Situation werden könnte, erscheinen uns die Ergebnisse neutestamentlicher Forschung besonders wichtig, welche zu Korrekturen an Luthers Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre führten. Eine Übersicht bringt Dantine in seinem Aufsatz „Rechtfertigung und Gottesgerechtigkeit" 8 . Er sieht „etwas völlig Neues" in der gegenwärtigen Diskussion zutage treten, nämlich das Aufbrechen der individualistischen Klammer der Rechtfertigungslehre und ihren Bezug auf das tätige Leben des Menschen in der Gemeinschaft (S. 88). Durch die neuere exegetische Forschung tritt der „universale Horizont des Rechtfertigungsgeschehens" bei Paulus immer stärker in Erscheinung (S. 69). Wenn auch seine Verifizierung im persönlichen Leben notwendig ist, so steht es doch in einem umgreifenden Bezug zur Geschichte der Menschheit, zur ganzen Schöpfung, zum „Bereich des objektiven Geistes" und zur Gesellschaft, die hier nicht nur als Summe von einzelnen Individuen verstanden wird. Die „Gottesgerechtigkeit" wird damit heute in ihrem Bezug zum „Feld der Geschichte" neu entdeckt und immer mehr als die „zentrale Mitte des gelebten Menschenlebens" verstanden (S. 9 4 f r ) . Diese Deutung der

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paulinischen Rechtfertigungslehre, wie sie gegenwärtig eine breite exegetische Grundlage gefunden hat 9 , bestätigt die Kritik, welche Schlatter bereits 1 9 1 7 in seinem Buch „Luthers Deutung des Römerbriefes" an der geschichtlichen Entwicklung der reformatorischen Kirche geübt hat. E r sah ihre Gefährdung in der individualistischen und spiritualistischen Verkürzung der paulinischen Rechtfertigungslehre bei Luther begründet, der im Gegensatz zu Paulus den Bezug des Rechtfertigungsgeschehens auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die gegenwärtigen Zusammenhänge nicht entfaltet hat 1 0 . Diese schon von Schlatter gemachte Beobachtung erhellt auch die Gründe, warum der Dritte Artikel in den reformatorischen Kirchen weitgehend unreflektiert blieb 1 1 . Käsemann stellt fest, daß es bis in die Gegenwart hinein noch nicht gelungen sei, die Konsequenzen der Rechtfertigungslehre für die Ekklesiologie zu ziehen, wie es bei Paulus in seiner Charismenlehre geschieht 12 . Die Ekklesiologie der interpersonalen Theologen könnte jedoch als eine geschichtliche Entfaltung derselben verstanden werden. Nach Käsemann realisiert sich in den Charismen die konkrete Gestalt der Gnadenherrschaft Gottes über den Menschen. Die Charismen meinen die spezifische und damit auch individuelle Anteilhabe des Menschen an der Gnade, welche sich ihm im Evangelium schenkt und in einem spezifischen und individuellen Dienst zur Auswirkung kommt (a.a.O., S. 1 1 1 ) . Daher ist die Ordnung der Gemeinde nicht von „Ämtern, Institutionen und W ü r den" her aufzubauen, sondern von „dem konkret geschehenden Dienst, weil allein im Akt des konkret geschehenden Dienstes der Kyrios seine Herrschaft und Präsenz bekundet" (a.a.O., S. 125). Alles Leben und Arbeiten in der Gemeinde muß sich ständig vor der in den Charismen sich realisierenden Gottesbeziehung verantworten. Die Gemeinde kann nicht willkürlich mit den Charismen umgehen, die ihren Gliedern von Gott geschenkt sind. Diese haben es in den Gaben immer gleichzeitig mit dem Geber zu tun. In dem ihm verliehenen Charisma erfährt der einzelne seine Angewiesenheit auf Gott und zugleich auf die anderen Glieder des Leibes Christi. Die Gnade Gottes vermittelt sich ihm auch indirekt durch die konkreten Dienste anderer an ihm, wie er wiederum im Wirksamwerden seines Charisma den anderen die empfangene Gnade Gottes vermittelt. In solcher Interdependenz entsteht die geschichtliche Gestalt der Gemeinde. Der Gemeindeprozeß erhält seine Richtung weder von vorgegebenen kirchlichen Institutionen her, noch durch seine Funktion im geschichtlich-sozialen Prozeß, sondern durch die Mannigfaltigkeit der Charismen, die in ihm als dynamische Faktoren wirksam sind und gleichzeitig die Gottesherrschaft in der gesamten Wirklichkeit der Welt bezeugen. 177

Der Christ kann das ihm geschenkte Charisma zwar ignorieren, geringschätzen, mißbrauchen, gegen andere Charismen ausspielen, aber er kann es nicht von sich her einfach aufheben. E r hat es im Gehorsam anzunehmen, seinen Aufforderungscharakter zu erkennen, sich zu den anderen Charismen in die rechte Beziehung zu setzen, die damit geschenkte Freiheit gebrauchen zu lernen, die geschichtlich-konkrete Gestalt seiner W i r k samkeit zu finden usw. Es kommt alles auf die „Modalität" des Gebrauchs an (Käsemann, a.a.O., S. 116). V o n solcher Voraussetzung her wird die Charismenlehre bei Paulus zu einer theologischen Verhaltenslehre, die jeweils die konkrete Wechselbeziehung zwischen Gabe und Aufgabe, Gnade und Dienst, Freiheit und Ordnung herausstellt. Der Rückbezug der interpersonalen Ekklesiologie auf die paulinische Charismenlehre ist vielfältig: In ihrer Betonung des Freiwilligkeitscharakters der Gemeinde geht es um die Rechtfertigungslehre in der ekklesiologischen Konsequenz, in ihrem Interesse an der Dynamik des Gemeindeprozesses um die Weise des Wirkens Gottes in der Gemeinde durch die Charismen, in der Frage der konkreten Antwort des Christen und der Gemeinde auf den Ruf Gottes um den geschichtlichen A u f forderungscharakter, in ihrer Entfaltung des Erwachsenenkatechumenates um den Zusammenhang von Charisma und Berufung (vgl. Käsemann, a.a.O., S. 1 1 4 ) , in ihrer Verhältnisbestimmung von Gemeindeprozeß und Verwaltung um die Betonung des charismatischen Charakters aller Dienste in der Gemeinde, in ihrem Gespräch mit den empirischen Wissenschaften um die Abwehr eines spiritualistischen Mißverständnisses der Charismenlehre, in der Beziehung von Kirche und Welt um die Gegenwart Gottes in den Diensten der Christen an allen Orten in der Welt, in der Analyse und Interpretation empirischer Kommunikationsvorgänge in der Gemeinde um die Liebe Gottes, wie sie sich dieser Welt in Jesus vermitteln will (vgl. Käsemann, S. 1 1 5 ) , in der Ko-operation um die Wechselbeziehungen der Charismen, durch welche die Gemeinde sich aufbaut, in dem Ineinander von funktionalem und personalem, technischem und geschichtlichem Aspekt um den Wechselbezug zwischen Gnadengabe und Dienst u s w . 1 3 So könnten die Ekklesiologie der interpersonalen Theologen und die in ihr zur Aussage kommende amerikanische Gemeindewirklichkeit als Experiment dafür angesehen werden, daß und w i e ein Gemeindeaufbau von den Charismen her auch in unserer Zeit möglich sein kann. Alle Schritte auf eine mündige Gemeinde zu implizieren vielseitige theologische Überlegungen, in denen w i r heute weder das weltweite Feld der Kommunikation in der ökumenischen Christenheit noch die eigene 178

theologische und kirchliche Geschichte überspringen können. W i r bedürfen darum sowohl der Rückbesinnung auf den eigenen Ort, an welchem w i r stehen, als auch der Konfrontation mit der Ekklesiologie der interpersonalen Theologen. Ihr ekklesiologischer Ansatz kann in unserer Situation vor allem Anregungen geben, das Verhältnis von A m t und Gemeinde, Theologie und Praxis neu zu bedenken. Käsemann folgert aus der Charismenlehre für das Verständnis von „Verkündigung" bei Paulus: „ E s gibt nicht das Privileg offizieller Verkündigung nur durch j e w e i l s einen einzigen Beauftragten. Für die paulinische Gemeinde ist die Vielfalt der charismatischen Funktionen auch in der Verkündigung konstitutiv, w o b e i alle in verschiedener Weise, untereinander abgestuft und gegeneinander abgegrenzt, das Gotteswort tragen und die Gemeinde erbauen" (a.a.O., S. 1 2 4 ) .

D i e Problematik unseres Verständnisses v o m Predigtamt im Gegenüber zu allen anderen Diensten in der Gemeinde liegt bereits darin, daß es im Neuen Testament ein eigentliches Äquivalent zu unserem gebräuchlichen Amtsbegriff nicht gibt (Käsemann, a.a.O., S. 109). Die Verkündigung als solche ist nicht auf irgendein A m t bezogen, das allen anderen Diensten in der Gemeinde gegenübergestellt wird. Sie ist Auftrag der ganzen G e meinde und vollzieht sich in allen ihren Diensten in einer Fülle verschiedener Strukturen und Gestalten. Noch fragwürdiger erscheint es v o m Hintergrund des Neuen Testaments her, wenn Verkündigung schließlich mit der sonntäglichen Predigt des Pfarrers und darin mit der Ortsbestimmung „Kanzel" identisch wird. Dieses ist eine Verabsolutierung und Verselbständigung eines einzelnen Charisma gegenüber den anderen. Die Wurzeln des Gegenübers von Predigtamt und Gemeinde liegen in der besonderen Situation der Reformationszeit. Das Predigtamt stand damals in einer Frontstellung gegen die sich als sakramentale Heilsanstalt verstehende mittelalterliche Kirche. Darin entsprach seine damalige G e stalt einer tieferen Intention des Evangeliums. Es darf aber nicht übersehen werden, daß das eigentlich Neue bei Luther gegenüber der mittelalterlichen Kirche in seiner Bemühung um das allgemeine Priestertum zum Ausdruck k o m m t 1 4 , wenn auch die geschichtlichen Möglichkeiten seiner Verwirklichung sehr gering waren. Aber die Richtung, in welche hinein er theologisch dachte, wird in dem sichtbar, was ihn von der mittelalterlichen Kirche unterscheidet. U m diese Richtungsangabe geht es uns hier 1 5 . Man übersieht zu leicht, wie schwierig es in einem kirchlichen Neuanfang sein mußte, den festgefügten Rahmen des mittelalterlichen Corpus Christianum zu durchbrechen. Es entspricht dem reformatori-

179

sehen Grundsatz, die theologischen Gehalte der in der Kirche zur Gewohnheit gewordenen BegrifFlichkeiten ständig neu von der Bibel her zu überprüfen. Ebensowenig können w i r die Einsichten der empirischen Wissenschaften in das Geflecht von Wechselwirkungen in der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit für das rechte Verständnis des Gemeindeprozesses übergehen. Die Charismenlehre des Paulus hat gerade darin besondere Bedeutung für die Ekklesiologie, daß sie das Ernstnehmen der Wirklichkeit der Gnade Gottes und das Ernstnehmen der menschlichgeschichtlichen Wirklichkeit in unauflöslicher Verbundenheit sieht. Das Wirken der Gnade Gottes in Jesus Christus will durch die empirische Gemeinde alle Lebensbereiche und geschichtlichen Bezüge durchdringen 1 6 . Für die interpersonalen Theologen impliziert das Pfarramt ein spezifisches Charisma, das für den Aufbau der Gemeinde unerläßlich ist. Es geht dabei zunächst um Fragen, welche die geschichtlich-konkrete Ausrichtung des Pfarramtes und seine Funktionen im Gemeindeprozeß betreffen. Diese liegen vor allem in seiner aus der besonderen geschichtlichen Situation des Gemeindeprozesses erwachsenden kommunikativen und integrativen Aufgabe, der „Leitung", welche kerygmatische, pädagogische, seelsorgerliche Aspekte impliziert und die Mündigkeit der Gemeinde zum Ziel hat. Damit führt die interpersonale Theologie hinaus über die im deutschen Gespräch vielfach auftauchende Alternative zwischen einer Auffassung des Pfarrberufes als theologischem Spezialisten mit beratender Funktion für die Gemeinde und andererseits einem institutionell-autoritären Amtsverständnis, das sich auf eine besondere „ S t i f tung" beruft 1 7 . Der Aufbau der Gemeinde von den Charismen her ist nicht notwendig identisch mit einer „Laienkirche" oder einem Formalprinzip von D e m o kratisierung. W i e es gerade die Gruppendynamik aufzeigt, bedeutet die Anwendung von „demokratischen Verfahrensweisen" noch nicht automatisch eine „demokratische Verhaltensweise". Es ist durchaus denkbar, daß auch eine sogenannte „Laienkirche" autoritäre Z ü g e annehmen kann. Nicht die geschichtlich gewachsene Amtskirche als solche, die sich geschichtlich versteht, muß unbedingt der paulinischen Charismenlehre widersprechen. Erst dort, w o man die theologische Bedeutung der Kategorie der geschichtlichen Situation nicht mehr sieht und die geschichtliche Gestalt der Kirche in ewigen ekklesiologischen Prinzipien begründet, wird der Boden der paulinischen Charismenlehre verlassen (vgl. Käsemann, a.a.O., S. 130). Die in der kontinental-europäischen Christenheit gewachsenen Amtskirchen verschiedener Prägung wären ohne den antikmittelalterlichen Hintergrund nicht denkbar. Der große Wandlungs180

prozeß in der Gegenwart bedeutet aber ein immer stärkeres Schwinden gerade des geschichtlichen Hintergrundes, aus welchem die kontinentaleuropäische Christenheit ihre spezifische Gestalt gewonnen hat. Hans Schmidt sieht in diesem Prozeß eine „Krise des antik-abendländischen Kirchenchristentums und seiner dogmatischen Schemata. Kirche und Theologie haben eine epochale Gestaltungsform ihrer selbst zu überleben"18. Eine Bezugnahme theologischen Denkens auf den geschichtlich-sozialen Wandel ist in vielerlei Weise möglich. Aber alle Bemühungen bleiben fruchtlos, solange sie nicht im unmittelbaren Alltag des Gemeindelebens und der Gemeindearbeit zur Auswirkung kommen. Die interpersonale Theologie zeigt auf, wie solches geschehen kann. Sie bedient sich dabei der Hilfe der empirischen Wissenschaften. Die konkrete Gemeinde selbst ist für sie der Ort der Begegnung von Theologie und empirischen Wissenschaften. Das ist möglich, weil der Gemeindeprozeß teilhat an der gleichen geschichtlich-sozialen Wirklichkeit mit den in ihr wirksamen Sachzusammenhängen, andererseits jedoch vom Evangelium her Richtung, Bewegung und Gestalt durch das gegenwärtige Wirken des Geistes Gottes in ihr empfängt. Die interpersonale Theologie gibt der Gemeinde konkrete Hilfen, daß der Gemeindeprozeß die rechte Weise seiner Verwirklichung unter dem Evangelium finden kann. Im Lichte ihrer interdisziplinären ekklesiologischen Theorie können Gemeindeleiter und Gemeindeglieder ihr eigenes Verhalten in den theologischen und empirischen Bezügen kritisch reflektieren. Damit unterscheidet sie sich in ihrer Intention von den vielerlei Handreichungen, welche sich um die Bewältigung einzelner spezifischer Aufgaben bemühen, wie sie in der praktischen Gemeindearbeit vorkommen. Die Bedeutung solcher Anweisungen in Einzelfragen hängt jeweils davon ab, ob sie in den rechten Zusammenhängen gesehen und behandelt werden. Die Sachbezogenheit der interpersonalen Theologie, wie sie durch ihr Gespräch mit den empirischen Wissenschaften ermöglicht wird, kommt auch darin zum Ausdruck, daß die konfessionelle Bestimmtheit immer nur einen Aspekt darstellt. Es geht primär darum, wie sich im Lichte des Evangeliums die Sachzusammenhänge im Gemeindeprozeß und pfarramtlichen Tun darstellen, nicht um Ableitungen von konfessionellen Wesensbestimmungen in bezug auf die Praxis. Die Bedeutung des Gespräches zwischen interpersonaler Theologie und Gruppendynamik sehen wir vor allem hierin: es macht darauf aufmerksam, daß wir ohne die Bemühung um einen konkreten ekklesiologischen Zugang und ohne theoretische Durchdringung der kirchlichen Praxis mit 181

den Werkzeugen der empirischen Wissenschaften über eine isolierte Behandlung isolierter Phänomene nicht hinauskommen. Es bringt uns den Kontext zu Gesicht, in welchem sich die Fragen des Gemeindeprozesses im Lichte des Evangeliums und der empirischen Forschung heute stellen.

b) Strukturfragen

des

Gemeindelebens

Die Situation der kirchlichen Arbeit könnte man heute dadurch umschreiben, daß wir am Ende einer Einbahnstraße angekommen sind. Viele wollen es nicht glauben. Sie meinen, es ginge noch weiter. Aber auch sie müssen schließlich feststellen, daß Gegenverkehr da ist, auch wenn man sich noch nicht daran gewöhnt hat. Der Pfarrer sieht sich einer Gemeinde gegenüber, die ein Wort mitsprechen und mitentscheiden möchte. Die Gemeinde findet sich in einer Welt vor, die auf ihre Worte und ihr Handeln kritisch reagiert. Sie steht in einem vielschichtigen Spannungsfeld, in welchem sich die verschiedenen Lebensbereiche verselbständigen und ihre eigenen Trends entwickeln. Sie trifft auf ungewohnte Reaktionen und ist sich der eigenen Reaktionen nicht mehr sicher. Früher brauchte man kaum mit Überraschungen zu rechnen. Alles ging einen klaren Instanzenweg von oben nach unten, der von unbefragten Autoritäten gestützt war und die Handlungsverläufe einseitig bestimmte. Heute stellen sich die Verhaltens- und Handlungsmuster als ein Geflecht von wechselseitigen Abhängigkeiten dar 19 . In der universalen Wechselwirkung tut sich eine Bewegung kund, die verwandelnd durch unsere Zeit hindurchgeht. W i r alle werden von diesem Prozeß erfaßt, den wir „Gesellschaft" nennen. Durch ihn treten Personen und Gruppen, Gemeinden und Pastoren, Kirchen und Kirchen, Völker und Kulturen, Christenheit und „Welt" in eine Fülle von Wechselwirkungen, welche frühere Fronten auflösen und damit auch die Anstrengungen in Frage stellen, die bisher auf die Erhaltung der überkommenen Strukturen ausgerichtet waren. Auch die kirchlichen Traditionen werden in diesem Prozeß umgeschmolzen 20 . Metz ist der Meinung, daß heute auch der Dialog zwischen den Kirchen nur durch die Auseinandersetzung mit dem „dritten Partner", den Fragen der gegenwärtigen Welt, fruchtbar sein könne. Er spricht darum von einer „indirekten Ökumene" auf Grund ihrer „Vermittlung über das Weltproblem" 21 . Die Probleme, die sich heute theologisch und kirchlich stellen, kommen fast alle aus den Wechselwirkungen im gegenwärtigen geschichtlich-sozialen Feld. Als solche sind sie Strukturprobleme. Es geht 182

in ihnen um die Klärung der Art von Beziehungen und Zusammenhängen, wie sie sich im Denken, Leben und Arbeiten der Menschen und Gruppen in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation auswirken. Sie bestimmen bereits weitgehend die Praxis des Alltags, aber als Aufgabe des Erkennens und Verantwortens sind sie noch nicht zureichend begriffen worden. U m die Art der Veränderungen zu verstehen, ist ein verschärftes Wahrnehmungsvermögen nötig. Aber in Deutschland sind die empirischen Wissenschaften als Organe solcher Wahrnehmung in ihrer Bedeutung noch kaum erkannt22. Die Schwierigkeit ist groß, den Herausforderungen der gegenwärtigen Situation in angemessener Weise zu begegnen. Wenn aber der Mensch die wechselseitigen Abhängigkeiten im geschichtlich-sozialen Feld nicht verantwortet, kommt es zu antagonistischen und negativen Wechselwirkungen, zu tiefgreifenden Störungen der personal-sozialen Lebenszusammenhänge und zum Auseinanderfallen der Lebensbereiche, die zu ihrer Entfaltung einer gesunden Wechselwirkung bedürfen. An dieser Stelle tut sich die Diskrepanz auf, mit der alle Reformversuche im kirchlichen und gesellschaftlichen Bereich heute zu kämpfen haben 23 . Die technischen und existentiellen, die sachlichen und die personalen Probleme greifen hier ineinander. Besonders schwierig ist die U m stellung in der Kirche, in der sich noch immer die überkommenen autoritären Traditionen und die damit verbundenen Arbeitsformen auswirken. Wenn auch in den Beiträgen zur Kirchenreform weithin Ubereinstimmung herrscht in den Zielen notwendiger Veränderungen, so zeigt doch die kirchliche Praxis die Schwierigkeiten der Verwirklichung, gerade weil bei Strukturreformen die vielseitigen Abhängigkeitsverhältnisse zu beachten sind. Daher wird es verständlich, warum die bisher zerstreuten und isolierten Vorschläge und Maßnahmen zu einer Kirchenreform wenig auszurichten vermochten. Nur dort, w o die ganzheitlichen Wirkzusammenhänge im sozialen Feld und die spezifischen Bedingungen möglicher Reformen mitbedacht werden, kann man auf die Dauer Erfolge erwarten. Es bedeutet selbstverständlich einen tiefgreifenden Unterschied für die Gestaltung des Gemeindeprozesses, ob die Gemeinde nur etwa 300 Mitglieder wie in den U S A oder etwa 3000 Mitglieder wie in Deutschland umfaßt. Wenn schon der Pädagoge feststellt, daß der pädagogische Vollzug bei einer Klassenstärke von mehr als 30 Schülern gefährdet ist, muß gefragt werden, ob sich in solchen Großgemeinden überhaupt noch Gemeindeleben entfalten kann. Wenn auch aus den Erfahrungen kirchlicher Praxis heraus das Problem immer mehr diskutiert wird, ob das Pfarramt nicht auch in Deutschland hauptsächlich die Funktion der 183

Leitung und Koordination der verschiedenen Tätigkeiten und Gruppen der Gemeinde habe 24 , läßt sich in einer Großgemeinde von 3000 Seelen der Aufbau der Gemeinde als „Gruppe von Gruppen" unter Beteiligung aller Gemeindeglieder nicht verwirklichen. Der Pfarrer könnte seinen Pflichten zu Gottesdiensten, Seelsorge und Gemeindeveranstaltungen nicht mehr nachkommen. Es müßte zunächst überhaupt untersucht werden, welcher Art das Kommunikationssystem in unseren vorhandenen Großgemeinden ist. Erst dann läßt sich fragen, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen es sich in der gewünschten Richtung verbessern ließe. Vor allem muß für die Praxis die menschliche und psychologische Seite der Strukturänderungen gesehen werden. Die Gemeinde hat in ihrem Leben und Handeln an der Verantwortung für den konkreten Menschen festzuhalten. Sie muß den personalen und sozialen Aspekt miteinander zu verbinden suchen (s. o. S. 92ff".). Das bedeutet, daß sie auch Verantwortung hat für die heute zu Ende gehenden Prozesse und die damit zusammenhängenden existentiellen Nöte der Menschen, die sich der schützenden Traditionen beraubt sehen. Andererseits sind diejenigen, welche nach neuen Wegen suchen, ständig überfordert (vgl. Jetter, a.a.O., S. 1 1 2 ff.). Sie treten notwendig in Spannung mit den überkommenen Traditionen, so daß sich für viele die Frage stellt, ob überhaupt innerhalb der kirchlichen Institutionen noch Neuansätze möglich sind. Durch den Wandel wird die kirchliche Gemeinschaft von einem Auseinanderbrechen bedroht. Die Situation einer solchen Zeit sozialen Umbruchs ist durch eine Vielzahl von Antagonismen gekennzeichnet, mit denen die Gemeinde fertig werden muß. Da Planung uijd Leitung heute bereits weitgehend identisch geworden sind, bedürfen nach Jetter die notwendigen Strukturveränderungen der wissenschaftlichen Fundierung 25 . Es erscheint als notwendig, die Fülle der Aspekte des in der Gegenwart sich vollziehenden Wandels jeweils im Zusammenhang eines universalen Prozesses und der örtlichen Bedingungsverhältnisse zu diskutieren. Jetter sieht als Hauptaufgabe der Gemeinde heute die Annahme der pluralistischen Situation, das Zeugnis von der Zukunftshoffnung des christlichen Glaubens und eine der neuen Situation angemessene theologische und kirchliche Ausbildung (a.a.O., S. 31 iE). Hans Schmidt betont die Solidarität der Christenheit mit der Welt und den dialogischen Charakter der Gemeinde, die an dem weltweiten Gespräch um die gemeinsame Verantwortung teilzunehmen habe (a.a.O., S. 104 ff.). Allgemein wird die Notwendigkeit der Öffnung der Gemeinde zur Welt hin gefordert, die als „Gemeinde für andere" missionarisches Wirken zu ihrem 184

Strukturprinzip machen müsse 26 . Dabei gewinnt die Kritik eine aufbauende Funktion 2 7 . Nach C o x hat die Kirche die Aufgabe, „Zeichen der heraufkommenden Stadt der Menschen, ein Vorreiter der säkularen Stadt" zu sein 28 . Ihr fällt vor allem das „ W e r k des sozialen Exorzismus" zu, die falschen Mechanismen v o n Projektion und Introjektion, v o n Repression und Illusion, die sozialen Vorurteile, die falschen Leitbilder und Rollenerwartungen, die sozialen und kulturellen Neurosen und Besessenheiten und anderes mehr aufzudecken. In ihren kerygmatischen, diakonischen und Koinonia-Funktionen muß sie versuchen, den Anruf Gottes in den konkreten Aufgaben der W e l t hörbar zu machen. U m alle heterogenen Elemente der Metropolis in sich vereinigen zu können, hat die Gemeinde selbst pluralistische Gestalt anzunehmen (a.a.O., S. iööfF.). N a c h Casalis soll die Kirche der O r t sein, an welchem sich die W e l t ihrer wahren Bestimmung bewußt werden kann. D a r u m bedeutet Kontaktverlust zur W e l t Verrat am W i l l e n Gottes 2 9 . Für von O p p e n erwachsen die Hauptprobleme der Kirche und Theologie heute aus dem rationalen U m g a n g des Menschen mit der W e l t . Das Wissen v o m Menschen ist daher v o n besonderer Wichtigkeit 3 0 . V a n Leeuwen fordert die „ u m fassende Inangriffnahme der gesamten Weltproblematik" in Solidarität der Christen mit den Nichtchristen, die eine Zusammenarbeit der T h e o logie mit den exakten Wissenschaften erforderlich mache 3 1 . Diese Richtungsangaben zielen letztlich auf eine neue Weise der

Teilhabe

an der Welt v o m Evangelium her. Dabei werden die Ebenen des Denkens, Handelns, Verhaltens, der Theorie und Praxis, der M i k r o - und M a k r o strukturen, der Wissenschaft und Gesellschaft, der Theologie und der Wissenschaft und anderes mehr in Beziehung gesetzt 32 . Das Neue wird gerade in der Fülle neuer Beziehungen sichtbar, nicht in einzelnen Inhalten,

spezifischen

Phänomenen,

besonderen

theologischen

meinungen. D i e Wirklichkeit wird mehrdimensional,

Lehr-

vielschichtig,

dynamisch als ständig sich wandelnde erfahren, in welcher der Mensch mit neuen technischen Fähigkeiten und Möglichkeiten in einer neuen Weise der Verantwortung vor G o t t , des Sich-Verhaltens und SichBeziehens enthalten ist. Das gilt auch für den katholischen Bereich, soweit die Impulse des zweiten vatikanischen Konzils wirksam geworden sind. So sagt z. B . der katholische Theologe Callahan: „Meine tiefste Überzeugung ist gegenwärtig die, daß alles zu allem in Beziehung steht und alle Methoden miteinander verbunden werden müssen 33 ." Auf solchem Hintergrund wirkt eine Kirche, die „ v o n der Sorge für das kirchliche Sonderdasein" bestimmt ist, anachronistisch (Jetter, a.a.O., S. 64). Eine Klärung ihres Weltbezuges wird „lebensdringlich" (ebd.). / 185

Falsche Dichotomien drohen zu Fehlsteuerungen ihres Dienstes zu führen (Jetter, a.a.O., S. 64fr.). Die faktisch vorgefundene Gemeinde wirkt vielfach wie ein institutionelles Skelett mit etwas Betrieb, introvertierten religiösen Clubs, Amtshandlungen, Verkündigung und Verwaltung. Auch das Bild „blühender" Gemeinden verdeckt oft nur die innere Leere 34 . Mit der Vorstellung von Kirche verbinden die meisten Zeitgenossen eine große Unwirklichkeit. Sie hat weithin ihre überkommene Funktion nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Leben der Christen verloren 35 . Selbst der Gottesdienst rückt in jüngster Zeit mehr und mehr aus dem Zentrum des Gemeindelebens heraus. Verkündigung, Seelsorge und Erziehung erreichen viele Menschen nicht mehr, Probleme der Leitung werden oft nur als institutionelle und juristische Probleme behandelt. Ansätze zur Kommunikation, Partizipation und Kooperation sind bedroht, weil die strukturellen Voraussetzungen fehlen. Hier wird das Zu-Ende-Gehen einer vergangenen kirchlichen Entwicklung greifbar, während die Gestaltwerdung des Neuen noch keine tragfähige Grundlage gefunden hat. Schon heute ist eine Fülle von verschiedenen Reaktionen auf diesen Wandel im kirchlichen Leben sichtbar. Cox stellt mit Williams für die amerikanische Situation die Frage, ob nicht die Struktur der Ortsgemeinde, in der bisher die traditionelle kirchliche Arbeit geschah, aus dem vorindustriellen Zeitalter stamme (a.a.O., S. 174). Für Jetter bezeichnet die parochiale Mentalität den „verschlossensten Engpaß unserer kirchlichen Gegenwart" (a.a.O., S. 79). Die Parochie darf seiner Meinung nach nicht mehr einen „Kirchenkosmos" im Kleinen darstellen (a.a.O., S. 114). Aber sie behält für ihn noch wichtige Funktionen. Ihr eigentlicher Wirkbereich ist die Wohnwelt, in welcher sie den Menschen „hilfreiches Lebensgeleit in geöffneten Grenzen" zu geben hat (a.a.O., S. 128 f.). C o x weist ihr vor allem Fragen der Familie, des Wohnens und der Erwachsenenbildung zu (a.a.O., S. 176). Die meisten Reformvorschläge laufen auf eine Vielgestaltigkeit der Arbeitsformen innerhalb und außerhalb der Ortsgemeinden hinaus36. Der SchlüsselbegrifF für das komplexe soziale Geschehen ist nach Cox die Differenzierung 37 . Gleichzeitig wächst in Deutschland die Zahl derer, die offen sind für Fragen des christlichen Glaubens, aber keine Verbindung mehr zur Kirche halten, ja oft eine solche entschieden ablehnen. Sie verstehen sich als „latente Kirche" oder als Christen außerhalb der Kirche. Mit der Empfehlung zu einer distanzierten Kirchlichkeit verbindet sich die Forderung eines undogmatischen Christentums 38 . Dieses wendet sich gegen die „Reduktion des Christentums auf Gemeindefrömmigkeit" 186

(Rendtorff, a.a.O., S. 56). Der Weltbezug wird durch eine Abkehr von der Gemeinde als sozialer Realität gewonnen. Diese Theologie einer „verborgenen" Kirche, die wieder an die Aufklärung und an den Individualismus des 19. Jahrhunderts anknüpft, läßt sich als Gegenschlag gegen die Theologie einer „bekennenden" Kirche verstehen39. Letztere bestimmt vor allem dort, wo die dialektische Theologie zu größerem Einfluß gekommen ist, das Bild der Gemeinde. Sie hatte das Christentum, auf welches sich Rendtorff bezieht, weitgehend als unchristlich, ja in einigen Erscheinungsformen als falsche Kirche bekämpft. Die in einer Defensivhaltung während des Dritten Reiches zugespitzten, wenig differenzierten Alternativen und die Ordnungsgestalt, wie sie aus einer einmaligen Notsituation entstanden war, wurden als Modell auf die Nachkriegsentwicklung übertragen. Versuche einer Kirchenreform blieben von Anfang an durch den für die bekennende Kirche typischen Zusammenhang von Bekenntnis und Ordnung bestimmt40. Es kam zwar zur Einrichtung einiger neuer Amter in den Gemeinden und dadurch zu einer etwas stärkeren Betonung des Laienelementes. Aber die Bemühung, das neu gewonnene Bekenntnis zu institutionalisieren und die kirchlichen Ordnungen daraus abzuleiten, führte zu einem theologischen Formalismus und zu verwaltungsmäßigen Regelungen der Leitungs- und Ordnungsfragen, welche die wirkliche Strukturproblematik verdeckten 41 . Die Entwicklung zu mündigem Christsein, innerkirchlichem Pluralismus und einer Demokratisierung konnte sich trotz des synodalen Hintergrundes auf diesem Boden kaum entfalten42. Am heftigsten ist die Reaktion auf die Wandlungen der Gegenwart in den Richtungen, die sich heute unter dem Stichwort „Theologie der Revolution" zu Wort melden. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die ökonomischen und politischen Strukturen in der Gesellschaft und die christliche Verantwortung für dieselben. Es stellt sich die Frage, ob nicht gerade die Versäumnisse der Kirche in der Vergangenheit die Strukturkrise der Gegenwart heraufbeschworen haben und ob sie sich nicht gerade deswegen für eine „strukturelle Revolution" einzusetzen habe 43 . Die ganze damit gegebene theologische und soziale Problematik führt zu einer großen Streubreite sehr unterschiedlicher Stellungnahmen bis hin zu der extremen Position, welche die Funktion der Kirche auf eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft reduziert44. Es herrscht jedoch eine Neigung vor, die dringend notwendige Frage nach dem verantwortlichen Weltbezug der Christenheit auf ökonomische und politische Probleme zu verkürzen und in der Forderung der Verwirklichung von sozialen Normen, Leitbildern, ja auch Ideologien und Utopien die Komplexität der gesellschaftlichen Prozesse zu übersehen45. Ohne die 187

wissenschaftlichen Grundlagen lassen sich die Zusammenhänge des sozialen Prozesses, seine Möglichkeiten, die Art seiner Richtungskonflikte, Knotenpunkte und Mangelerscheinungen, seine drohenden Fehlentwicklungen, seine Schwellen, sein unbemerktes Umschlagen und anderes mehr gar nicht erkennen. V o r allem darf nicht aus dem Blickfeld geraten, daß alle sozialen Probleme auch Probleme der Menschen und menschlicher Verhaltensweisen sind. Wenn wir die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen kirchlichen und gesellschaftlichen Strukturen für die vergangene Geschichte heute zunehmend erkennen, läge die erste Verantwortung der Gemeinde darin, selbst überzeugende Strukturen gemeinschaftlichen Lebens und verantwortlichen Zusammenarbeitens und die dazu notwendigen wissenschaftlichen, theologischen und organisatorischen Grundlagen zu schaffen. Dann könnte der Beitrag der Gemeinde zu den notwendigen Veränderungen in der Gesellschaft nicht nur über kirchliche Institutionen und Verlautbarungen, sondern über die Präsenz der Gemeindeglieder in allen gesellschaftlichen Bereichen wirksam werden. Eine gesunde Umstrukturierung von Prozessen kann nur gelingen, wenn möglichst viele Menschen kritisch und sachlich daran partizipieren. Eine kirchliche Ordnung darf nicht von irgendwelchen abstrakten theologischen Lehrformeln abgeleitet werden. Sie muß nach dem Neuen Testament ihr Kriterium im konkreten Menschen vor Gott in den konkreten Bezügen seiner geschichtlichen Situation finden 46 . Gerade in dieser Hinsicht ist die evangelische Kirche in Deutschland überzeugende Reformen schuldig geblieben. Aber eine Abwendung von der christlichen Gemeinde als sozialer Realität führt nicht weiter. Die Ablehnung bestimmter herrschender Formen von Kirchlichkeit und Frömmigkeit ist verständlich und berechtigt. Sie darf jedoch nicht die Notwendigkeit der Beziehung des Christen zur Gemeinschaft der Christen in Frage stellen. Der Glaube des Evangeliums ist nie ohne Gruppenbildung, ohne Gemeinschaft der Nachfolger gewesen 47 . E r war nie ohne geschichtlichsoziale Dimension. Aus einer „Kirche außerhalb der Kirche" müßten neue Formen gemeindlichen Lebens und Engagements in der Welt erwachsen. So stellt sich uns heute die Frage nach der Gemeinde innerhalb und außerhalb der institutionalisierten Kirche in neuer und grundsätzlicher Weise. In der Beziehung zur Gemeinde geht es um die personal-geschichtlichsoziale Gestalt des Glaubens. Das Gewicht der Strukturfragen liegt darin, daß sie gleichzeitig an der Gottesbeziehung und den menschlichcn B e ziehungen partizipieren. Es geht in ihnen um den Vollzug der in Jesus 188

ermöglichten Gottesgemeinschaft für den Menschen in der heutigen Welt (s. u. S. 369). Diese will in allen Bezügen seiner Lebenswelt Gestalt gewinnen. Dafür hat die Gemeinde Sorge zu tragen. In einer sich verändernden geschichtlichen Situation kann sie ihre Funktion nur erfüllen wenn sich ihre Gestalt ändert. Das bedeutet umgekehrt, daß ein Funktionswandel eintritt, w o der Gestaltwandel trotz der geschichtlichen Veränderung nicht gewollt wird. Gerade darin liegt die Misere des traditionellen konfessionellen Christentums. Indem es an der von den Vätern überkommenen Gestalt festzuhalten versuchte, verlor es in Wirklichkeit den Bezug des Glaubens zur personal-geschichtlich-sozialen Lebenswelt als Ort seines Vollzuges und Gehorsams. Hinter einem über Jahrhunderte hindurch ziemlich gleichbleibenden äußeren Erscheinungsbild des Kirchentums verliefen unbeachtet geschichtliche Prozesse, deren Auswirkungen erst heute voll zutage treten. Das Positive daran ist, daß die dadurch entstehende Unruhe uns neu fragen läßt, auf welchem Weg wir als Gemeinde Jesu in der heutigen Welt unterwegs sein können. Das Negative des notwendigen Scheiterns überlieferter theologischer und kirchlicher Systeme an der Wirklichkeit sind die Kurzschlußreaktionen, welche die Funktion der Gemeinde nicht mehr vom Evangelium her bestimmt sein lassen oder aber die Notwendigkeiten und tatsächlichen Möglichkeiten unserer geschichtlichen Situation überspringen. So weit wir gehen können, müssen wir auch gehen, aber in der Empirie, nicht in der Utopie. Z u leicht wird übersehen, daß es sich heute um langfristige Entwicklungen und Zielsetzungen handelt, zu deren Bewältigung uns infolge der Versäumnisse der Vergangenheit weitgehend die Werkzeuge und menschlichen Voraussetzungen fehlen. U m beides müssen wir uns als Gemeinde kümmern. Das bedeutet gleichzeitig eine größtmögliche Förderung der Wissenschaften, welche die notwendigen Werkzeuge der Veränderungen schaffen können und die bestmögliche Zurüstung des Christen für seine verantwortungsvollen Aufgaben in der gegenwärtigen Welt. Es müßte eigentlich überflüssig sein, noch einmal die unabsehbare Fülle der Gestaltungsmöglichkeiten christlicher Existenz heute zu betonen. Bei aller Unterschiedenheit der Reformatoren waren sie sich einig in ihrem Gemeindeverständnis: Kirche vollzieht sich, w o zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind (Matth. 18, 20). Von dorther ergibt sich, daß auch die Ortsgemeinde kein Monopol für die Gemeindebildung besitzen kann, erst recht nicht im normativen Sinne48. Aber sie selbst birgt ebenso eine unendliche Fülle konkreter Gestaltungsmöglichkeiten, die erst zu entdecken und zu erarbeiten wären. Wenn sie auch nicht das 189

Ganze der Lebensbezüge erfassen kann (vgl. dazu Cox, a.a.O., S. 174), muß sie doch in allem den ganzen Menschen in seinen konkreten Lebensbezügen vor Augen haben. Neben der Ortsgemeinde sind bereits heute verschiedene Gestalten e ner „Gemeinde vor Ort" entstanden: Industriegemeinden, Krankenhausgemeinden, Studentengemeinden, Lehrergemeinden, Tagungsgemeinden, wie in den Evangelischen Akademien oder in Konferenzen für Wissenschaftler, Hausgemeinden verschiedenster Art, Dienstgemeinden für Menschen in Not und andere mehr. Wir verstehen unter „Gemeinde vor Ort", daß sie stets dort zu sein hat, w o Menschen leben und arbeiten, an den Brennpunkten, an welchen es um ihr Geschick geht. Aber unter allen Formen einer „Gemeinde vor Ort" scheint uns nach wie vor die Ortsgemeinde den direktesten Zugang zur unmittelbaren Lebenswelt zu haben. Sie befindet sich im Schnittpunkt der verschiedenen Lebens- und Daseinsbereiche des Menschen und hat es nicht nur mit partiellen Aspekten menschlicher Existenz zu tun. Nach wie vor ist die unmittelbare geschichtlich-soziale Lebenswelt der Ort, an dem der Mensch auch zum ganzen geschichtlich-sozialen Feld Kontakt gewinnt 49 . Hier liegen die Voraussetzungen für alle weiteren sozialen Entfaltungsmöglichkeiten, hier formt sich seine Person, hier fallen die wichtigsten Entscheidungen. Das macht die anderen spezielleren Formen gemeindlichen Dienstes nicht überflüssig. Aber insofern sie der Verankerung in der Lebenswelt des Menschen bedürftig sind, können sie den Kontakt zur Ortsgemeinde nicht entbehren. Wenn die Ortsgemeinden untereinander in verstärkte Kontakte und Zusammenarbeit treten würden, wären differenziertere Formen der Gemeindearbeit möglich, die den Bedürfnissen des Menschen in seiner heutigen Lebenswelt besser entsprechen könnten. Eine solche Kooperation der Ortsgemeinden könnte auch zum Durchdringen der neu entstandenen sozialen Räume führen 50 . Wenn darin auch die übergemeindlichen Dienste einbezogen würden, könnte vermieden werden, daß diese zu bloßen „Abteilungen" und Organen kirchlicher Institutionen und Verwaltungen werden. Ihnen fiele gerade die besondere Funktion zu, über ihre Spezialgebiete für die innerkirchliche Kommunikation zu sorgen. Die Ortsgemeinde hat wie keine andere kirchliche Dienstform die Möglichkeit, Kommunikation und Partizipation der Menschen verschiedenster sozialer und kultureller Herkunft zu fördern. Gerade das braucht der Mensch, der heute meist in einer einseitig geprägten Lebens- und Arbeitswelt steht. Das Kommunikationsproblem existiert nicht nur zwischen Pfarrer und Gemeinde, sondern auch zwischen den Gemeindegliedern selbst. Über die Kommunikation der Gemeindeglieder kann die 190

Fülle der verschiedenen Lebensbereiche der Gesellschaft in die Gemeinde Eingang finden. Ebenso kann dadurch eine lebendige Wechselbeziehung zwischen dem Gottesdienst am Sonntag und am Alltag hergestellt werden. Die Trennung in Wohn- und Arbeitswelt ist nicht so absolut, daß sie voneinander abgeschlossen wären. Gewöhnlich kommt der Mensch erst in der Freizeit dazu, die Probleme der Arbeitswelt zu bedenken und sich mit anderen darüber auszutauschen. Die gemeindliche Arbeit darf die Strukturen der Gesellschaft nicht einfach übernehmen und imitieren, denn sie sind jeweils von den spezifischen Notwendigkeiten der technisch-industriellen Arbeitswelt bestimmt. Sie müßte gerade auch die nötigen Gegengewichte zu schaffen versuchen, deren der Mensch heute bedarf, um Mensch zu bleiben. Die durch die Technik hervorgerufenen menschlichen Probleme lassen sich nicht wieder technisch lösen, sondern bedürfen personal-ganzheitlicher Antwort. Das würde bedeuten, daß man auch in der kirchlichen Arbeitsstruktur die notwendige Spezialisierung bejaht, aber dabei den ganzen Menschen vor Augen behält. Die heute notwendige Differenzierung ist nur möglich bei gleichzeitiger Betonung der ganzheitlichen Aspekte. Es müßte die besondere Aufgabe der Ortsgemeinde sein, den ganzen Menschen in den Lebensbezügen des geschichtlich-sozialen Feldes mit dem Evangelium zu suchen (s. o. S. 158). Das Fehlen der Voraussetzungen dazu darf die Aufgabe als solche und die Möglichkeit ihrer Bewältigung auf weite Sicht nicht übersehen lassen. Das würde nötig machen, daß der Gemeindeprozeß als ganzer in seiner vielfältigen Wechselwirkung mit dem Gesellschaftsprozeß in das Blickfeld der Theologie gerückt wird. Sie kann sich nicht beschränken auf „Sorge um Verkündigung" 5 1 . Aber auch die Verkündigung selbst muß sich der Frage stellen, in welcher Weise das Predigtamt teilhat an dem der ganzen Gemeinde gegebenen Verkündigungsauftrag. Dabei müßte die Möglichkeit ins Auge gefaßt werden, daß es infolge seiner faktischen Monopolisierung des Verkündigungsauftrages der Gemeinde dabei im Wege steht, ihre eigene Aufgabe der Verkündigung im Sinne der paulinischen Charismenlehre wahrzunehmen (s. o. S. 179). Damit stoßen wir auf das Problem, daß sich das Predigtamt in seiner heutigen Gestalt disfunktional verhält gegenüber dem der ganzen Gemeinde gegebenen Auftrag. „Disfunktional" meint, daß man mit dem, was man tut, gerade das verhindert, was man intendiert 52 . Auch vom Verkündigungsauftrag her stellt sich das Problem der Partizipation und Kommunikation in seinen soziologischen, psychologischen und pädagogischen Implikationen 53 . Es ist zu vermuten, daß wir erst hier zum eigentlichen Kern des hermeneutischen Problems vor191

stoßen, wie es sich in der Praxis des Gemeindealltags darstellt. Es läßt sich nicht nur im Bereich einer Philosophie und Theologie der Geschichte und der Sprache lösen. In dem hermeneutischen Problem der Gegenwart kommt nicht zuletzt die Isolierung des Pfarramtes vom Gemeindeprozeß und den geschichtlichen Bezügen zum Ausdruck 64 . Nicht nur hinsichtlich der Verkündigung, auch hinsichtlich aller anderen Dienste und Funktionen, in denen sich Gemeindeleben vollzieht, ist nach der rechten Weise der Partizipation des Pfarramtes am Gemeindeprozeß zu fragen. Dieser ständig sich vollziehende Prozeß von Wechselwirkungen im Feld der Gemeinde stellt den Pfarrer vor eine Fülle von Leitungsproblemen. Sie sind nicht nur unter dem formalen Aspekt des Koordinierens zu fassen, sondern implizieren pädagogische, soziologische, seelsorgerliche, missionarische, organisatorische und andere Aufgaben. Dazu bringt er aber gewöhnlich fast keinerlei Ausbildung mit. Eine Vermittlung isolierter Erkenntnisse und Fertigkeiten genügt hier nicht. Genausowenig wie die Ausbildung zum Predigtamt aus der Vermittlung isolierter philologischer, historischer, exegetischer, dogmatischer und homiletischer Kenntnisse bestehen kann, läßt sich die hier vorliegende Aufgabe der Gemeindeleitung in solcher Weise lösen. Im Feld der empirischen Gemeinde stehen alle Dienste und Funktionen in ständiger Wechselwirkung. In der Verwaltung, in der Seelsorge, in der Gesellschaftsdiakonie, in dem beruflichen Leben der Gemeindeglieder, in der Evangelisation geht es gleichzeitig um Verkündigung; in der Verkündigung, in der Seelsorge, in der Erziehung, in der Evangelisation, in der Gesellschaftsdiakonie geht es gleichzeitig um organisatorische und administrative Probleme; in der Verwaltung, in der Evangelisation, in der Gesellschaftsdiakonie, in der Verkündigung geht es gleichzeitig auch immer um pädagogische Fragen usw. Man muß darum in jedem Bereich gemeindlicher Tätigkeit und gemeindlichen Lebens alle in ihm implizierten Aspekte ins Auge fassen, wie sie sich jeweils aus der Bezogenheit des Einzelfeldes auf das Gesamtfeld ergeben 55 . Die Wechselwirkungen in ihren Auswirkungen und Rückwirkungen sind ständig theologisch und empirischkritisch vom Evangelium her zu reflektieren. Denn durch sie hindurch geschieht die Einwanderung des Evangeliums in die geschichtliche Welt 56 . Die hinreichende Wahrnehmung der im Gemeindeprozeß wirksamen Sachzusammenhänge ist Voraussetzung alles christlichen Handelns in Gemeinde und Gesellschaft. Das würde bedeuten, daß nicht nur der Gemeindeleiter, sondern auch die Gemeindeglieder selbst die Erkenntniswerkzeuge auszubilden hätten, um die Vorgänge in der Gemeinde in ihren Wechselwirkungen zu Gesicht zu bekommen. Nur so kann die 192

Gemeinde angeleitet werden, selbst ihre Ziele zu suchen und zu verwirklichen. Dieses stellt vor die Aufgabe der Mitarbeiterschulung und des Erwachsenenkatechumenates. Wahrscheinlich läßt sich hier in der gegenwärtigen Situation am ehesten ansetzen, um eine Wandlung der Struktur der Gemeinde zum mündigen Christsein hin zu erreichen 67 . Eine systematische Anleitung der Gemeinde zur Kommunikation unter dem Evangelium ist auch eine der Bedingungen dafür, daß die Gemeinde Erziehungswirklichkeit werden kann. Dieses wird heute besonders von der Jugendarbeit her gefordert 58 , aber auch von denen, die im Dienst der christlichen Unterweisung stehen 59 . Die Notwendigkeit solcher Forderung wird in ihrer Dringlichkeit nur dann einsichtig, wenn man sich klarmacht, daß es heute das pädagogische und theologische Kernproblem aller christlichen Unterweisung ist, daß mit der Auflösung der „christlichen Sitte und Lebenswelt", wie sie die Öffentlichkeit des sogenannten „christlichen Abendlandes" bestimmte, auch für die Jugend der Bezug evangelischer Unterweisung verlorengegangen ist. In allen anderen Fächern ist der Bezug für den Jugendlichen in der Wirklichkeit zu finden. Auch die Bemühungen, den Konfirmandenunterricht als eine „Einführung in die Gemeinde" zu verstehen, setzen voraus, daß die christliche Gemeinde für den Jugendlichen die Erziehungswirklichkeit wird, auf welche sich der Unterricht beziehen kann. So stellen sich alle möglichen Schritte auf das Ziel einer mündigen Gemeinde zu als ein Ineinander von organisatorischen und pädagogischen Maßnahmen mit soziologischen, psychologischen und wirtschaftlichen Implikationen dar. Die Theologie bedarf sowohl des intensiven Gespräches mit den empirischen Wissenschaften als auch der ständigen Fühlung mit der konkreten Gemeinde und ihrem Leben. Sie hat die Arbeitsweise der empirischen Wissenschaften kennenzulernen, ihre Prämissen in ihrer theologischen Relevanz zu durchdenken, die „Zusammenhänge", in denen Einsichten in die Vorgänge des geschichtlich-sozialen Feldes möglich werden, das Handwerkszeug, die Kategorien und Begrifflichkciten in ihren Funktionen und anderes mehr zu erarbeiten. Erst auf einer solchen Grundlage könnten interdisziplinäre ekklcsiologische Theorien entstehen, in deren Zusammenhang die sich in der deutschen Situation stellenden Strukturfragen diskutiert werden müßten. Die empirisch sich auf das Leben der Kirche auswirkende Bedeutung der theologischen Entwürfe besteht darin, daß sie einen gewissen Rahmen setzen, von dem her das Verhalten und Antworten der Gemeinde gegenüber dem Wirken Gottes in seinem W o r t bestimmt wird (s. o. S. 89f.). Oft bedingen sie schon vorgängig die Erwartungen, mit denen die Gemeinde dem W o r t Gottes' gegenüber193

tritt, und die Weise, in der es vernommen wird. Darin liegt gleichzeitig ihre große Verantwortung, da sie auch zum Uberhören des Anrufes Gottes in seinem Wort oder auch zu falschem Verhalten und Antworten auf Gottes gegenwärtigen Ruf Anlaß geben können. Änderungen der kirchlichen Praxis sind nur im Zusammenhang theologischer Neuorientierungen möglich, da die Wechselwirkung zwischen theologischer Reflexion und Leben im Glauben unaufhebbar ist.

194

TEIL B

E M P I R I S C H E T H E O L O G I E I N DER PERSPEKTIVE DES G E S C H I C H T L I C H - S O Z I A L E N FELDES

EINFÜHRUNG

Die Notwendigkeit

der erkenntnistheoretischen

Diskussion

Die Frage nach den Konsequenzen des amerikanischen Gespräches zwischen Theologie und Sozialwissenschaften für die deutsche Situation zeigte die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den Grundlagenproblemen empirischer Wissenschaften vom Menschen. Eine solche Auseinandersetzung ist für die Theologie schon deshalb unerläßlich, weil sie in ihrer Reflexion an den jeweiligen geschichtlichen Voraussetzungen und dem mit diesen zusammenhängenden Wissenschaftsverständnis partizipiert. Albert sieht die Problemsituation in Deutschland bis in die Gegenwart hinein dadurch gekennzeichnet, daß der angelsächsische WissenschaftsbegrifFauf mancherlei Widerstand seitens der noch immer vorherrschenden geisteswissenschaftlichen und philosophischen Traditionen trifft 1 . Dem entspricht es, daß die deutsche Theologie bestimmt ist durch ihr Gespräch mit den Geisteswissenschaften, insbesondere mit der Philosophie. Die erkenntnistheoretischen Problemstellungen von Geisteswissenschaften und Philosophie spiegeln sich in Zustimmung und Kritik in der theologischen Diskussion wider 2 . Dagegen ist das Gespräch mit den empirischen Wissenschaften vom Menschen bisher in diesem grundsätzlichen und systematischen Sinne nicht aufgenommen worden. Dieser Mangel hat nicht zuletzt seine Gründe in der Situation, in der sich die empirischen Wissenschaften vom Menschen in Deutschland befinden. Ein interdisziplinäres Gespräch der empirischen Wissenschaften, an welchem auch die Theologie partizipieren könnte, gibt es in Deutschland noch kaum. Bis in die jüngste Zeit hinein ist die wissenschaftsorganisatorische Situation an den deutschen Universitäten durch den überkommenen Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften bestimmt. Innerhalb desselben ist aber für eine empirische Sozialforschung in ihrer Eigenständigkeit gegenüber Natur- und Kulturwissenschaften kein Platz. Nur langsam bahnt sich hier ein Wandel an. Man beginnt, zwischen Natur-, Geistes- und sozialen Handlungswissenschaften zu unterscheiden3. Die Auswirkungen dieser wissenschaftsorganisatorischen Geschichte bis in die Gegenwart hinein lassen sich kaum überschätzen. Die Entwicklung 197

der deutschen Soziologie war dadurch bestimmt, daß sie einerseits der philosophischen, andererseits der volkswirtschaftlichen Fakultät eingegliedert wurde 4 . So wurden die Grundlagenprobleme empirischer Sozialwissenschaften in Deutschland durch sozialphilosophische und politisch-ökonomische Fragestellungen verdeckt. Eine ähnliche E n t wicklung läßt sich in der Psychologie feststellen. Diese wurde einerseits in die Naturwissenschaften, andererseits in die Geisteswissenschaften eingeordnet. Die Folgen dieser Spaltung spiegelten sich in dem Kampf zwischen einer neopositivistisch orientierten Psychologie einerseits und einer geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie andererseits 5 . Die P r o blemstellung der Pädagogik war durch den Gegensatz der an den N a t u r wissenschaften orientierten Pädagogik Herbarts und der an den Geisteswissenschaften orientierten Pädagogik der Dilthey-Schule bestimmt 6 . D i e Aufspaltung der Soziologie und der Psychologie behinderte nicht nur die Entwicklung der Einzeldisziplinen. Sie bewirkte auch, daß sich kein Gespräch zwischen Psychologie und Soziologie in dem Ausmaße anbahnte, wie es in den USA weitgehend zur Aufhebung der Trennung zwischen diesen Wissenschaften führte, insofern sie es mit derselben menschlichen Wirklichkeit zu tun haben. So fehlt noch heute die Disziplin der experimentellen Sozialpsychologie fast vollständig 7 . Psychologie u n d Soziologie blieben in Deutschland in weitgehender Abhängigkeit von Philosophie und Weltanschauung. Die Einzeldisziplinen und die verschiedenen Schulen in ihnen entwarfen ihr eigenes philosophisch begründetes Verständnis von Wirklichkeit und hatten wenig Berührung miteinander, da ihr Bezug zu der gemeinsamen menschlichen Wirklichkeit, in der sie standen, nicht erkenntnistheoretisch erhellt wurde 8 . So steht die Entwicklung der empirischen Wissenschaften im Zeichen einer scharfen Auseinandersetzung mit der Philosophie, die bis heute noch nicht zu ihrem Ende gekommen ist, wie der seit einigen Jahren geführte „Positivismusstreit" zeigt. Diese Auseinandersetzung hat zwar in Deutschland innerhalb der experimentellen Psychologie schon längst begonnen und zu weitreichenden Ergebnissen geführt, in den Sozialwissenschaften jedoch steht sie noch in Anfängen 9 . In den USA ist sie bereits weit fortgeschritten und hat die besondere erkenntnistheoretische Problemstellung empirischer Forschung sichtbar werden lassen. Die ganze Tiefe dieser Problemstellung wird erst sichtbar, wenn man sie mit Max Weber, Lewin, Popper und anderen als den Eintritt der Sozialwissenschaft in die galileische Epoche versteht, der in ähnlicher Weise wie zur Zeit der Scheidung von Naturmetaphysik und Naturwissenschaft mit gesellschaftlichen Erschütterungen verbunden ist. Daher ist es nötig, nicht nur die erkenntnis- und wissenschaftstheoreti198

sehen Voraussetzungen der empirischen Wissenschaften ins Auge zu fassen, sondern auch die geschichtliche Bedingtheit ihrer Fragestellung. Das Entstehen empirischer Sozialwissenschaft setzt das Ende der geschlossenen Gesellschaften voraus, die auf religiöser und kultureller Grundlage ihre statischen Strukturen jeweils metaphysisch begründeten 10 . Ihr geschichtlicher Hintergrund ist die Entwicklung zur pluralistischen Gesellschaft und Weltzivilisation. Empirische Sozialwissenschaft bezieht sich auf ein soziales Feld, in welchem Menschen, Gruppen und Gesellschaften verschiedener Religion, Kultur, Weltanschauung, Tradition, Rasse usw. miteinander in Wechselwirkung stehen. Weil sie gerade die Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen von Verschiedenem im geschichtlich-sozialen Prozeß analysiert, kann sie sich nicht innerhalb einer kulturellen, weltanschaulichen oder philosophischen Klammer entwerfen. Würde man behaupten, daß alles Erkennen menschlicher Wirklichkeit von kulturellen und philosophischen Voraussetzungen umklammert wäre, käme man zu der in sich selbst absurden Konsequenz, daß die empirische Wissenschaft einen bestimmten Menschentypus als Forscher voraussetzt. Dann könnte man eben nicht als Amerikaner, als Deutscher, als Protestant, als Katholik, als Atheist usw. empirische Wissenschaft treiben. Insofern setzt die empirische Sozialwissenschaft voraus, daß Wahrnehmung geschichtlich-sozialer Wirklichkeit, an welcher Menschen und Gruppen verschiedener Kulturen, Religionen, Weltanschauungen partizipieren, möglich und der Wissenschaft zugänglich ist. Das Problem des Verhältnisses von Gesellschaft und empirischer Forschung beschäftigte uns bereits bei der Untersuchung der Beziehungen zwischen der Gruppendynamik als Bewegung und Wissenschaft (s. o. S. i8fF.). W i r haben die Fragestellung der Gruppendynamik im Zusammenhang der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Gruppenkultur aufgezeigt. Es stellte sich die Frage, inwiefern die Gruppendynamik als empirische Sozialwissenschaft ablösbar ist von der Gesellschaft, in der sie entstand. Die Entwicklung der Gruppendynamik als Wissenschaft war in diesem Umfang nur möglich, weil sie bestimmten Bedürfnissen und Intentionen dieser Gesellschaft entsprach. Zu ihren geschichtlichen Voraussetzungen gehört ferner, daß ihr bestimmte wissenschaftliche Werkzeuge verfügbar waren. Auf diesem Hintergrund ist zu fragen, wie sich das Problem der geschichtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen einer empirischen Sozialwissenschaft für die deutsche Situation stellt. Gegenwärtig wird vielfach die Gebundenheit empirischer Sozialwissenschaft an die jeweilige Gesellschaft, in welcher sie getrieben wird, diskutiert 11 . Dabei gerät die empirische Sozialwissenschaft häufig in den Verdacht, ein typisches Pro199

dukt der amerikanischen Gesellschaft zu sein 12 . Die Diskussion zwischen amerikanischer und deutscher Sozialwissenschaft ist dabei durch die politischen Probleme der Nachkriegszeit in besonderer Weise belastet. Sie steht weitgehend unter dem Vorzeichen nationaler Konkurrenz zwischen alter und neuer Welt. Dabei übersieht man oft die objektiven Zusammenhänge, in denen die empirische Sozialwissenschaft in den U S A steht, die Bedeutung ihrer Grundlagen und die Tragweite ihrer Ergebnisse. Jedoch ist das Problem, ob und wie eine empirische Sozialwissenschaft möglich ist, in der deutschen Tradition schon längst durch Max Weber gestellt worden. Aber sein Werk hat wie das vieler anderer deutscher Sozialwissenschaftler bisher im Ausland, vor allem in den U S A , größere Beachtung gefunden als in Deutschland selbst, da seine Fragestellung in der deutschen Situation wieder durch Sozialmetaphysik verdeckt wurde 1 3 . Es geht dabei in unserer Sicht letztlich um die Frage, welche Konsequenzen aus dem im 19. Jahrhundert so vielfach bezeugten Ende einer geschichtlichen Entwicklung zu ziehen sind 14 . Wie wir im folgenden Teil unserer Arbeit aufzuzeigen versuchen, ist das Entstehen der empirischen Wissenschaften vom Menschen als eine Antwort auf die Problematik des 19. Jahrhunderts zu begreifen. In solchen Zusammenhängen stellt sich das Problem einer empirischen Sozialwissenschaft in Deutschland nicht mehr nur im Gegenüber zur amerikanischen Sozialwissenschaft, sondern auch im Gegenüber zur eigenen Vergangenheit und Gegenwart. Letztere ist weitgehend dadurch bestimmt, daß die deutsche Situation in Gesellschaft, Wissenschaft und Kirche nur noch als Bestandteil einer umgreifenden Situation verstanden werden kann, in welcher die verschiedenen Gesellschaften, Kirchen und Kulturen in eine intensive Wechselwirkung eingetreten sind (s. o. S. 182). Je klarer das Bewußtsein von diesen Zusammenhängen wird, um so mehr wird sich die Erkenntnis von der Bedeutung einer empirischen Sozialwissenschaft in Deutschland durchsetzen. Geschichtlich bedingt ist sicherlich ihr Entstehen. Gebunden an die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit bleiben ihre Aufgaben und Problemstellungen, die aus dem Umgang mit der eigenen geschichtlichen Wirklichkeit kommen, in welcher verschiedene geographische, historische, kulturelle, ökonomische, politische und religiöse Faktoren wirksam sind. Aber darin geht es um denselben Erkenntnisvorgang und die ihm jeweils angemessenen Methoden. Im folgenden Teil unserer Arbeit wollen wir daher die Möglichkeit und die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen solcher empirischen Analysen geschichtlich-sozialer Wirklichkeit durchdenken und nach ihrer Bedeutung für die Theologie fragen. Diese Probleme lassen sich nur kon200

kret stellen und in einem begrenzten Ausschnitt diskutieren. W i r werden daher auch den folgenden Ausführungen das erkenntnistheoretische W e r k Kurt Lewins, des Begründers der Gruppendynamik, zugrundelegen. E r ist unseres Wissens einer der wenigen, welche die Frage nach den erkenntnistheoretischen Grundlagen einer empirischen Sozialwissenschaft im gründlichen und umfassenden Sinne gestellt haben. Cartwright nennt ihn in seinem Vorwort zu Lewins „Field Theory in Social Science" einen der wenigen Forscher des 20. Jahrhunderts, durch welche die Richtung der Sozialwissenschaften in dem kritischsten Stadium ihrer Entwicklung fundamental verändert worden sei. Sein Hauptverdienst sei, daß er sich von seinen Anfängen her erkenntnistheoretisch Rechenschaft zu geben versucht habe, welche Anforderungen an eine Wissenschaft v o m Menschen zu stellen seien (in: Field, S. VIIf.). Die Bedeutung seines Werkes für das uns gestellte Problem ergibt sich besonders von daher, daß Lewin selbst deutscher Emigrant ist und seine wissenschaftlichen Grundlagen noch in Deutschland auf dem Gebiet der experimentellen Psychologie erarbeitet hat. E r sieht dieselben im Z u sammenhang der deutschen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Die Anfänge seiner wissenschaftstheoretischen Studien fallen noch in die deutsche Zeit, vgl. besonders: „ D e r Begriff der Genese in Physik, B i o logie und Entwicklungsgeschichte", 1922, und „ D e r Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie", 1 9 3 1 . Als Schüler von Ernst Cassirer, der zeitlebens sein philosophischer Gesprächspartner blieb, versuchte er, in seinem Ansatz empirischer Wissenschaft v o m Menschen die Folgerungen aus der Wissenschaftsgeschichte zu ziehen, um deren Erhellung sich Ernst Cassirer vor allem bemühte 1 5 . Auf diesen Grundlagen hat Lewin dann in seiner amerikanischen Zeit seine Feldtheorie entwickelt, welche den eigenständigen Z u gang empirischer Wissenschaft v o m Menschen gegenüber Natur- und Kulturwissenschaften aufzuzeigen versucht. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie hinausführt über die Alternative zwischen einem physikalistischatomistischen Soziologismus einerseits und sozial- und geschichtsphilosophischer Spekulation andererseits. Nach König ist die Entwicklung in Deutschland weithin dadurch bestimmt, daß neben den sozialphilosophischen Systemen ein teilweise völlig hilfloser Empirismus herrschte, während sich die sozialwissenschaftlichen Theorien in den U S A schon in fortgeschrittenem Stadium befinden (in: König, Soziologie, S. 13f.). Das stellt uns vor allem vor die Frage nach der Differenz zwischen sozialwissenschaftlicher und sozialphilosophischer Theorie in der gegenwärtigen Diskussion. Es ist aber auch zu untersuchen, in welchem Stadium der Klärung sich die Theorien201

bildung in den Sozialwissenschaften befindet und worum es in ihrer Problematik geht. In ihrem Bemühen, eine theoretische Grundlage für eine einheitliche Sozialwissenschaft zu legen, konkurrieren die feldtheoretischen Sozialwissenschaften vor allem mit der strukturell-funktionalen Theorie 16 . Hier geht es besonders, wie die Auseinandersetzung zwischen Parsons und Homans zeigt, um das Verhältnis von Soziologie und Psychologie 17 . Gerade Lewin hat die Beziehung zwischen diesen beiden Disziplinen in einer einheitlichen empirischen Wissenschaft zu klären versucht. Wenn ihm auch die Lösung des Problems nicht gelungen ist, konnte er doch die umfassende erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Arbeit der Psychologie für die Sozialwissenschaften fruchtbar machen 18 . So ist es notwendig, daß wir vor dem Versuch einer Auseinandersetzung von der Theologie her die Problemsituation und ihre Bedingungszusammenhänge in den Sozialwissenschaften wenigstens exemplarisch untersuchen. Es stellt sich uns ganz allgemein die Frage nach der Möglichkeit eines erkennenden Zugangs zu gegenwärtiger Wirklichkeit als Voraussetzung der Sozialwissenschaften. Dabei geht es besonders um das Verhältnis von sozialwissenschaftlicher und sozialphilosophischer Theorie zur Empirie. Davon ist auch die Theologie stark betroffen. Meist entwirft sie sich in Analogie zu den historischen Geisteswissenschaften als Vergangenheitswissenschaft oder in ihren systematischen Fragen und Verfahrensweisen in Analogie zu philosophisch-normativer Systematik. Die Problematik einer Philosophie, die von innerphilosophischen Voraussetzungen her nach der Empirie fragt, stellt sich also auch für die Theologie. Darum sind über eine Grundlagendiskussion die Möglichkeiten und Schwierigkeiten eines Gespräches zwischen Theologie und empirischen Wissenschaften zu untersuchen. Das führt vor allem in Auseinandersetzung mit der geisteswissenschaftlichen und philosophischen Tradition in die Kontroverse von aristotelischem und galileischem Wissenschaftsverständnis.

202

Kapitel V

DAS GALILEISCHE

ERKENNTNISPROBLEM

AM BEISPIEL DER VON KURT

FELDTHEORIE LEWIN

a) Frontstellung und Aufgabe

Lewin unterscheidet drei Epochen in der Geschichte der empirischen Wissenschaften vom Menschen: das Zeitalter der spekulativen Systeme, das er auch als „aristotelisch" bezeichnet, das Übergangsstadium des deskriptiven Positivismus und die „galileische Epoche", an deren Beginn die empirischen Wissenschaften vom Menschen in der Gegenwart stehen, während die Naturwissenschaften schon längst in sie eingetreten sind 1 . Die spekulativ-aristotelische Epoche ist dadurch gekennzeichnet, daß ihr Ziel die Entdeckung des Wesens der Dinge und der letzten Ursache hinter aller Erscheinung ist. Sie entfaltet sich in umfassenden spekulativen Theorien, die auf einem einzigen Begriff oder wenigen dichotomischen Begriffen gründen und von daher die ganze Wirklichkeit umgreifen wollen. Im Gegensatz dazu beschränkt sich der deskriptive Positivismus auf die Sammlung, exakte Beschreibung und Klassifizierung von Fakten. Jede Art von Theorien lehnt er ab. Beide Denkweisen stimmen jedoch darin überein, daß sie isolierte Elemente auf Grund äußerlicher Ähnlichkeit klassifizieren, in Beziehung zueinander setzen und dadurch Wirklichkeit erklären wollen. Ihre Differenz liegt darin, daß sich der Positivismus im Ordnen des Materials erschöpft, während die aristotelische Wissenschaft ihre Klassifikationen auf dem Wege der Abstraktion von individuellen Unterschieden gewinnt: die Klasse ist das einer Reihe von Gegenständen Gemeinsame und bezeichnet daher ihr „Wesen" (s. o. S. 3of.). Man könnte sagen, daß der Positivismus eine verflachte Spielart des Aristotelismus ist: die Klassifizierung bezieht sich nur noch auf die Elemente in Absehung von der Frage nach dem „Wesen". Demgegenüber ist es nach Lewin die Aufgabe einer empirischen Wissenschaft vom Menschen, Gesetzmäßigkeiten in der Wirklichkeit zu entdecken, von denen her sich Folgerungen für mögliche künftige Situationen ziehen lassen, die beim menschlichen Planen und Handeln zu beachten sind. Z u dieser Aufgabe bedient sie sich einer empirisch-konstruktiven Theorienbildung, die auf einer Vielfalt von Begriffen basiert. Theorien sind notwendig, weil sie der Forschung die Richtung weisen 203

und helfen können, daß Zusammenhänge zwischen Fakten entdeckt werden. Eine „Wissenschaft ohne Theorie ist blind" (Grundzüge, S. 26). Während die aristotelische Wissenschaft an der Kategorie der Substanz und ihrer Attribute orientiert ist, orientiert sich die galileische Wissenschaft an den Kategorien des Geschehens, des konkreten individuellen Falles und der Beziehung: die Phänomene, auf welche das Denken bezogen ist, sind nur innerhalb eines Zusammenhanges zugänglich, in welchem alle Elemente in wechselseitiger, sich ständig verändernder A b hängigkeit stehen (vgl. die Tabelle in Exkurs 5, S. 545 fF.). Lewins ganzes wissenschaftliches W e r k in seinen erkenntnistheoretischen, experimentellen und praktischen Aspekten ist von Anbeginn darauf ausgerichtet, die Alternative zwischen Aristotelismus und deskriptivem Positivismus in den empirischen Wissenschaften zu überwinden und aufzuzeigen, was das „galileische Problem" für das Erkennen menschlicher Wirklichkeit bedeutet. Seine Intention wird am besten erkennbar, wenn man sie in dieser doppelten Frontstellung sieht: gegen die spekulativen Systeme in Psychologie und Sozialwissenschaft, welche die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit auf irgendeine einzelne Ursache hinter ihr zurückführen wollen und sie infolge ihres Monokausalismus nur innerhalb eines isolierten Aspektes zu Gesicht bekommen; andererseits gegen eine atomistische Psychologie, die letztlich die psychologische Wissenschaft auf einen Physikalismus gründet, welcher der menschlichen Wirklichkeit mit der Fülle ihrer Dimensionen nicht entspricht (Feld, S. 47fF.; s. o. S- 39f-). Diesen Richtungen gegenüber betont er die Vielschichtigkeit und Vieldimensionalität der menschlichen Wirklichkeit und die Mannigfaltigkeit ihrer Phänomene, mit denen der Sozialwissenschaftler sich auseinandersetzen muß und denen er Rechnung zu tragen hat (ebd.). Der Ort seines Fragens und Nachdenkens ist mitten in der menschlichen Lebenswelt. Es stellt sich ihm das Problem, wie man der Fülle der empirischen Phänomene gerecht werden kann, ohne vor der Frage nach ihren W i r k z u sammenhängen zu kapitulieren oder sie durch spekulative Erklärungstheorien zu beantworten. Es muß eine andere Möglichkeit geben als die Alternative zwischen absoluter Verrechenbarkeit der menschlichen Lebenswelt und völliger Preisgabe des Denkens vor einer irrationalen Wirklichkeit. Die Richtung, in der Lewin die Antwort auf dieses Grundproblcm der Sozialwissenschaft suchte, veranschaulichte er in einem Vergleich der Erkenntnisaufgabe empirischer Sozialwissenschaften mit der Erschließung eines neuen Landes durch den Bau eines Wegnetzes. Dieses muß der natürlichen Topographie des Landes angepaßt sein und so selbst zu einem 204

„Spiegel seiner Struktur und der Position seiner Quellen" werden. Dazu ist es nötig, Erkundungsgänge ins Unbekannte zu unternehmen, Wege zu bahnen, auszubauen, miteinander zu verbinden, Vermutungen und Intuitionen zu überprüfen und auszuwerten, die Erfahrungen in systematischer Erforschung mit allen verfügbaren Hilfsmitteln auszuweiten, immer mehr das ganze Land zu durchdringen, bis schließlich ein ausgebautes Wegnetz alle wichtigen Punkte untereinander verbindet und leicht zugänglich macht. So sieht Lewin die Aufgabe der Wissenschaften vom Menschen zum Beginn ihrer „galileischen Epoche" (Feld, S. 48f.).

b) Vieldimensionalität menschlicher Wirklichkeit Lewin bezeichnet als den entscheidenden Grundsatz der feldtheoretischen Methode, daß soziale Ereignisse vom ganzen sozialen Feld abhängen, nicht von isolierten Fakten: „Soziale Ereignisse hängen v o m ganzen sozialen Feld und nicht v o n einigen ausgewählten Punkten ab. Dies ist die fundamentale Einsicht hinter der feldtheoretischen Methode, die in der Physik erfolgreich w a r . Sie ist in der Psychologie stetig gewachsen und meiner Ansicht nach für die U n t e r suchung sozialer Felder einfach deshalb ebenso fundamental, weil sie g e wisse grundlegende, allgemeine Eigenschaften der Interdependenz ausdrückt" (Feld, S . 229).

Das Erkennen der geschichtlich-sozialen Lebenswelt ist nur möglich, wenn man berücksichtigt, welche Funktion die verschiedenen Phänomene im gesamten Feld haben (Feld, S. I04f.). Dieses definiert Lewin als einen Gesamtzusammenhang, in welchem die verschiedenen Wirkfaktoren in wechselseitiger Abhängigkeit begriffen werden 2 . Der physikalistischen Psychologie wirft er vor, daß sie isolierte Elemente in direkte ursächliche Beziehung zueinander bringe, ohne nach den Wirkzusammenhängen zu fragen, in denen jene erst ihre „Bedeutung" hätten. Demgegenüber fordert er, daß man in der Analyse der Lebenswelt des Menschen möglichst von der Gesamtsituation ausgehen müsse, die dann hinsichtlich ihrer spezifischen Elemente zu untersuchen ist. Nur auf diese Weise lasse sich vermeiden, daß man durch falsche Einschätzung isolierter Elemente die Charakteristiken der Gesamtsituation verkenne. Die physikalistische Verfahrensweise führe zu dem Vorwurf des Praktikers gegenüber dem Sozialwissenschaftler, daß er mit den Lebensstrukturen willkürlich umgehe, indem er Phänomene in vordergündiger Weise miteinander verbinde (a.a.O., S. 229L). Physikalische, ökonomische, biologische, soziologische, psychologische, kulturelle und andere 205

Fakten sind nur innerhalb der Lebenszusammenhänge gegeben, nicht „an und für sich" im Sinne einer Gegenständlichkeit oder Wesenheit. Sie existieren in der menschlichen Wirklichkeit nur im Zusammenwirken mit Faktoren anderer Dimensionalität (Feld, S. i7of.), nur in der Vermitteltheit durch umgreifende Wirkzusammenhänge, in die sie funktionell eingebettet sind. Eine Analyse der menschlichen Wirklichkeit hat diese Zusammenhänge herauszuarbeiten. Dazu muß der Sozialwissenschaftler die „intervenierenden ( = vermittelnden) Variablen" oder dynamischen Fakten erst feststellen, auf welche die beobachteten Symptome eines sozialen Phänomens bezogen werden müssen, um überhaupt verstanden werden zu können (Feld, S. 223f.). Die „phänotypischen", d.h. direkt beobachtbaren sozialen Daten sind bedingt durch dynamische Qualitäten spezieller und allgemeiner Art, die das Feld charakterisieren, z. B . : Ziele, Reize, Bedürfnisse, Motive, Erkenntnisstruktur, Werte, Atmosphäre, freien Bewegungsraum usw. (a.a.O., S. 273 f.; 83) 3 . Der Sozialwissenschaftler darf in seiner Analyse nicht willkürlich von einzelnen Variablen ausgehen und mittels ihrer soziale Vorgänge interpretieren, etwa nur unter dem Gesichtspunkt der Gestalt, der Libido, des Uber-Ich, der Assoziationen usw. Er hat sie erst in der konkreten Situation festzustellen und darum von dem auszugehen, was er wahrnimmt und hört (a.a.O., S. 192 ff.). Es ist seine Aufgabe, die jeweils wirksamen Bezugspunkte möglichst genau zu ermitteln und im Zusammenhang mit ihnen die einzelnen Phänomene zu verstehen4. Das Problem dabei ist, daß die meisten Variablen unanschaulich sind. Lewin betont, daß sie trotzdem vom Menschen wahrgenommen werden können. Schon ein dreijähriges Kind ist fähig, die Bedeutung einfacher sozialer Vorgänge richtig zu erfassen (a.a.O., S. 193). Ohne eine solche Möglichkeit ist überhaupt kein soziales Leben denkbar. Entscheidend sei, daß man die „Wirklichkeit" sozialer Vorgänge anerkenne und nicht nur das für „wissenschaftlich" erforschbar halte, was im Sinne einer „physikalistischen Wirklichkeit" definiert werden könne. W i r wiesen bereits auf Lewins Unterscheidung zwischen Erscheinungsweise und zugrundeliegender Wirklichkeit, phänotypischen und genotypischen ( = dynamischen) Fakten und ihre Bedeutung für die Erklärung menschlichen Verhaltens hin 5 . Die Differenzierung von phänotypischer und genotypischer bzw. konditional-genetischer Fragestellung ist einer der Marksteine des Überganges von der aristotelischen zur galileischen Denkweise. Für erstere ist kennzeichnend, daß sie auf Grund phänotypischer Ähnlichkeit Erscheinungen klassifizierte und unter dichotomische Begriffe subsummierte, wie z. B . „leicht-schwer", „flüssig-fest", „himmlisch-irdisch". Diesen physikalischen Klassifikationen entsprachen 206

in Psychologie und Sozialwissenschaften Dichotomien w i e normalpathologisch, Individuum-Gesellschaft, Gesellschaft-Gemeinschaft usw. 6 Die Folge solchen Denkens war, daß auseinandergerissen wurde, was in der Wirklichkeit zusammengehört, und ineinandergesehen wurde, was in der Wirklichkeit kaum oder gar nicht in Beziehung steht (a.a.O., S. 424t.). Nach „galileischem" Wissenschaftsverständnis dürfen die einzelnen Tatsachen, welche der direkten Beobachtung zugänglich sind, nur als Symptome, als äußere Indikatoren gewertet werden, die im Blick auf die ihnen zugrundeliegende Wirklichkeit befragt werden müssen (Feld, S. 229f.). Die Aussagen beziehen sich nicht auf die Erscheinungsformen, sondern auf die dynamischen Kräfte, welche die Erscheinungen bedingen. So haben die Aussagen in der Physik ihren Bezugspunkt nicht in dem Zeiger eines messenden Instrumentes, sondern in den Bewegungen und Kräften, auf welche der Zeiger hinweist. Diese Differenzierung machte es möglich, daß z. B . die Bahn der Planeten, der freie Fall des Steines, die Schwingbewegungen eines Pendels - Vorgänge, die phänotypisch in verschiedene Klassen einzugliedern sind (z. B . himmlisch-irdisch!) - als verschiedene Erscheinungsformen desselben Gesetzes, das ist derselben Entstehungsbedingungen (genetisch), erklärt werden konnten. Auch in Psychologie und Sozialwissenschaften können Fragestellungen und Gesetze nur in bezug auf die zugrundeliegenden dynamischen Fakten formuliert werden. Die Erscheinungsformen der sozialen Welt sind -fvie die grammatische Struktur eines Satzes, deren Sinn in der Bedeutung besteht, die sie vermitteln soll (Feld, S. 195). Das wirkliche soziale Geschehen ist in den Phänomenen nur indirekt gegeben (a.a.O., S. 228f.). Die gleichen sozialen Vorgänge können sich in verschiedenartigen Phänomenen äußern, genauso können hinter den gleichen Phänomenen verschiedenartige soziale Vorgänge stehen (a.a.O., S. 230). So können z. B . im Zusammenhang autokratischer Führung zwei verschiedene Erscheinungsweisen des Gruppenverhaltens entstehen: Aggression und Apathie (s. o. S. 52f.). Diese Differenz läßt sich nur erklären, wenn man beachtet, daß die Phänomene jeweils in spezifische Zusammenhänge eingebettet sind und durch eine ganz spezifische Konstellation dynamischer Fakten hervorgerufen werden. So könnte die verschiedene Erscheinungsform der Autokratie durch die verschiedene Einstellung der Menschen bedingt sein: Z w a n g führt eher zu Apathie als zu offener Rebellion, wenn die betroffenen Individuen absoluten Gehorsam als W e r t betrachten. Oder es könnte sich u m einen kaum wahrnehmbaren Gradunterschied der Einschränkung und Kontrolle handeln (vgl. dazu Feld, S. 243 und 326) 7 . Entscheidend sind die W i r k - und Bedingungs-

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zusammenhänge, nicht äußerliche Ähnlichkeiten. Derselbe Zustand einer Person kann zu ganz verschiedenen Verhaltensweisen führen, z. B . der Zustand des Argers je nach Situation zu Zornesausbrüchen oder extremer Freundlichkeit (a.a.O., S. 274). Ein Scherz kann in verschiedenen Situationen Verschiedenes bedeuten: „ D e r gute Pfadfinderführer weiß, daß eine scherzhafte Bemerkung oder eine Balgerei während der Zeremonie des Fahnehissens etwas anderes ist als dieselbe Balgerei in einer Lehrstunde oder während der Spielzeit; daß sie verschiedene Bedeutung haben, je nachdem die Gruppe voller Schwung oder völlig ermüdet ist und ob das zwischen engen Freunden vorkommt oder zwischen Personen, die Feinde sind" (a.a.O., S. 196).

In der Praxis des Lebens sei es selbstverständlich, daß das einzelne Geschehnis jeweils in seinem Lebenszusammenhang verstanden wird. Ob das Verständnis richtig oder falsch gewesen sei, darüber entscheidet das Geschehen selber. Diese Differenz zwischen Erscheinungsweise und Wirkzusammenhang weist wieder auf den entscheidenden Ansatz des galileischen Denkens zurück: die Bedeutung der Situation und der Relationen, durch die sie jeweils charakterisiert ist (s. o. S. 31). So fragt auch die galileische Wissenschaft „hinter" die beobachtbaren Fakten zurück, aber nicht im spekulativen Sinne (Feld, S. 48). Hinsichtlich des analytischen Zugangs zur Wirklichkeit besteht Übereinstimmung zwischen den Wissenschaften vom Menschen und den Naturwissenschaften. Dieses darf jedoch nicht darüber hinwegsehen lassen, daß es Lewin um die Begründung von Psychologie und Sozialwissenschaften als eigenständige empirische Disziplinen geht, die erkenntnistheoretisch und methodisch unabhängig von den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften sind8. Dem physikalistischen Positivismus, der letztlich nur physikalische Fakten als wirklich anerkennt und alles psychologische Geschehen auf sie zurückführt, wirft er einen der Naturwissenschaft entlehnten, für das Verständnis der menschlichen Wirklichkeit unbrauchbaren WirklichkeitsbegrifF vor 9 . Die Wirklichkeit, auf welche sich Psychologie und Sozialwissenschaften beziehen, ist die Welt des Menschen, in der die verschiedenen Fakten durch den Menschen verknüpft werden. Maßstab der Objektivität ist die Frage, ob die Situation in der Weise, wie sie jeweils jür den konkreten Menschen oder die konkrete Gruppe existiert, angemessen dargestellt worden ist (a.a.O., S. 104, 273). Gegenüber einer geisteswissenschaftlichen Psychologie betont Lewin, daß „Interpretation" im Sinne einer Wissenschaft vom Menschen an der Wirklichkeit verifizierbar sein und die Theorie am Experiment überprüft werden müsse (a.a.O., S. 1 9 2 f f ) . Gegenüber bei208

den fordert er die Befreiung der empirischen Forschung von spekulativen Begrenzungen und überholten philosophischen Theorien (S. 195). Indem er in dieser Weise nach der menschlichen Wirklichkeit in ihrem geschichtlich-sozialen Charakter fragt, sprengt sein Ansatz gleichzeitig auch den Rahmen einer Psychologie als einer von den anderen Wissenschaften v o m Menschen isolierbaren Disziplin. Schon in dem Aufsatz „Feldtheorie und Experiment" von 1939 (a.a.O., S. i68ff.) weist er darauf hin, daß die Aufgabe der Analyse menschlicher Wirklichkeit nur in universalem Horizont zu lösen sei und darum notwendig interdisziplinären Charakter haben müsse. Religionen, Weltanschauungen, Moral, Lebensstile, Erkenntnisweisen, Kulturen, Sozialstrukturen, Natur, Geschichte, Geographisches, Leibliches, Individuelles usw. sieht er in die menschliche Wirklichkeit hineinwirken. So steht die Sozialwissenschaft vor der schwierigen Aufgabe, Fakten von sehr verschiedenartiger Materialität und Dimensionalität in ihre Forschung einzubeziehen und ihre Wechselwirkung im konkreten geschichtlichen Raum nach ihrem individuellen und sozialen Aspekt hin zu analysieren. Dabei ist es nötig, Probleme verschiedenster Größenordnung zu behandeln wie die von ganzen Völkern oder kleinen Gruppen spielender Kinder. Cartwright weist darauf hin, daß Lewin im Laufe seiner Forschungstätigkeit den Horizont, in welchem die empirische Wissenschaft zu arbeiten habe, immer mehr erweiterte (in: Feld, S. XII). Besonders in den letzten Monaten seines Lebens habe er immer mehr die Bedeutung von Wirkfaktoren für seine Analyse der menschlichen Welt erkannt, die bisher in der Zuständigkeit anderer Disziplinen lagen, so z. B . wirtschaftliche, politische, pädagogische Faktoren. Lewin selbst sagt, daß ein kühner wissenschaftlicher Geist vor der Fülle der aufgezeigten Dimensionen und Probleme erschrecken müsse (Feld, S. iyof.). Die wissenschaftliche Erklärung menschlicher Wirklichkeit war für ihn eine nie abzuschließende Aufgabe, die sowohl in ihrer Vieldimensionalität als in ihrem ständigen geschichtlichen Wandel begründet ist. Die Feldtheorie war ihm ein Werkzeug für die Analyse der sich verändernden geschichtlichsozialen Wirkzusammenhänge.

c) Funktion und Gebrauch der Theorie Im Blick auf die Methode ergibt sich aus der Vieldimensionalität und Wandelbarkeit der Wirklichkeit die Konsequenz, den W e g der Annäherung in Richtung auf ein Ziel zu wählen. Dabei kommt es darauf an, die Verbindung mit der Wirklichkeit nicht zu verlieren, alle brauchbaren 209

Theorien für ihre Erklärung zu verwenden und immer u m den nächstmöglichen Schritt in Richtung dieses Zieles besorgt zu sein. Gerade daß die Feldtheorie kein geschlossenes System bietet, das alles von einem Faktor her kausal deduziert und interpretiert, z. B . von der Libido, der Assoziation, der Gestalt her 1 0 , sieht Lewin als Grund ihres zu seiner Lebenszeit geringen Einflusses an (Feld, S. 48). Doch sieht er keine andere Möglichkeit zur Erforschung der sozialen Wirklichkeit. In seinem letzten Aufsatz betont er noch einmal, daß in dieser keine einfachen Regeln vorherrschen. Die Verschiedenartigkeit der in ihr wirksamen Faktoren, die Unmöglichkeit, sie in direkter Weise, wie sie in der Erscheinung gegeben sind, miteinander zu verbinden, und doch die Forderung, die zwischen ihnen waltenden, das ganze Feld charakterisierenden und strukturierenden Beziehungen zu klären, stellen den Sozialwissenschaftler vor ein schier unlösbares theoretisch-methodisches Problem (vgl. Feld, S. 224fr., i 7 o f f . , 47fr.). Es fehlen vor allem die wissenschaftliche Begrifflichkeit und Sprache. A n der Schaffung solcher Voraussetzungen mitzuarbeiten, sah L e w i n als seine vornehmliche Aufgabe an. Die topologische und vektorielle B e grifFlichkeit seiner Feldtheorie ist ein Versuch in dieser Richtung (s. o. S. 41 ff".). Katz weist darauf hin, daß Lewin diese BegrifFlichkeit bevorzugt habe, „ w e i l diese Sprache eindeutig sowie gleichzeitig objektiv und unspekulativ ist" (Handbuch, S. 98). W e n n Lewin sich auch einer mathematisch-physikalischen BegrifFlichkeit bedient, will er damit die menschliche Wirklichkeit nicht auf mechanistische Ursachen zurückführen, sondern Beziehungen und Zusammenhänge veranschaulichen, w i e sie in der Lebenswelt gegeben sind. E r betont, daß es sich bei der Verwendung mathematischer BegrifFe in der BegrifFsbildung der Einzelwissenschaften in jedem Fall um angewandte Mathematik handelt. Dieses gilt für die Physik nicht weniger als für Psychologie und Sozialwissenschaften (Grundzüge, S. 75 fF). Das bedeutet aber, daß die Eigentümlichkeit der von den einzelnen Wissenschaften zu untersuchenden Sachverhalte darüber entscheidet, welche mathematischen BegrifFe zu verwenden und w i e sie inhaltlich zu bestimmen sind. Werden z. B . in den Wissenschaften v o m Menschen ähnliche BegrifFe w i e in der physikalischen Dynamik verwandt (s. o. S. 43), so meint das nicht, daß die psychologischen B e grifFe inhaltlich auf physikalische zurückgeführt werden. Inhaltlich werden die BegrifFe erst durch ihre Zuordnung zu realen psychologischen oder realen physikalischen Prozessen definiert. Insofern sich diese Zuordnung auf inhaltlich verschiedene Prozesse bezieht, bleiben die Begriffe trotz formaler Gleichheit wissenschaftstheoretisch gesondert (a.a.O., S. 82). V o n grundlegender Bedeutung war für Lewin in diesem Zusammenhang

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Cassirers W e r k über „Substanzbegriff und Funktionsbegriff", das die Probleme der Begriffsbildung in Mathematik und Naturwissenschaften behandelt 1 1 . Cassirer weist nach, w i e in der Geschichte dieser Wissenschaften die v o m aristotelischen Substanzbegriff abgeleitete Begriffsbildung zurückgedrängt wird von einer mathematischen Begrifflichkeit, die an Funktionen und Relationen orientiert ist. Dieser mathematische Funktionsbegriff ist dadurch gekennzeichnet, daß er die einzelnen Elemente nicht in ihrem An-Sich-Sein beschreibt, sondern in ihrer V e r knüpfung und ihren wechselseitigen Beziehungen 1 2 . Cassirer zeigt, daß die Frage nach den Beziehungen, die zunächst nur der Mathematik v o r behalten war, sich auch auf die Naturwissenschaften ausgedehnt und ein neues Verständnis der Wirklichkeit erschlossen hat 1 3 . Diese von Cassirer aufgezeigten Perspektiven wollte Lewin mit der Übernahme mathematischer Begrifflichkeit für die Sozialwissenschaften fruchtbar machen. Es muß gegenüber Mißverständnissen betont werden, daß Lewin die Feldtheorie nicht im Sinne einer spekulativen, sondern einer empirischen Erklärungstheorie versteht 14 . A m besten sei sie zu definieren als Methode der Analyse von Wirkzusammenhängen und ihrer Darstellung in wissenschaftlicher Sprache15. Sie lege den Akzent darauf, daß in jedem Geschehen eine Fülle von Faktoren wirksam ist, die in wechselseitiger Abhängigkeit stehen (vgl. Feld, S. 8yf.). Dementsprechend kann die Theorie nicht mit einem einzelnen Begriff, sondern nur mit verschiedenen Begriffen arbeiten. Diese aber müssen w i e „Konstruktionselemente" aufeinander bezogen sein 16 . Die Hauptaufgabe der Theorienbildung besteht darin, ein interdependentes Begriffssystem zu entwickeln, das Vorgänge in ihren wechselseitigen Bezügen innerhalb konkreter Situationen erklären kann. Diese Grundbegriffe (wie Kraft, Ort, Struktur usw.) haben eine unmittelbare B e ziehung zu den Gesetzen (vgl. Grundzüge, S. 38; 219). Die wichtigsten Erfordernisse an die Theorienbildung sind daher, daß die Begriffe I. mit empirischen Phänomenen durch operationale Definitionen verbunden sind, welche das Verfahren der Beobachtung dieser Phänomene festlegen, 2. klar definierte logische Eigenschaften haben und untereinander in eindeutiger Verknüpfung stehen (Feld, S. 275). E i n Begriff muß-demnach gleichzeitig „Träger formaler Beziehungen" und angemessene „Repräsentation empirischer Daten" sein (a.a.O., S. 68). Der schwierigste Teil der Theorienbildung ist die Zuordnung der formalen Begriffe, welche sich auf die dynamischen Fakten beziehen, zu empirischen Phänomenen. Begriffliche und operationale Definitionen müssen eine „innere Kohärenz" aufweisen (ebd.). Es geht dabei u m die Frage der Wechsel-

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beziehung von Deduktion (theoretische Analyse) und Induktion (Beobachtung empirischer Tatbestände). Ein erster Schritt zur Lösung dieser Aufgabe ist nach Lewin die Bestimmung der logischen Eigenschaften oder Dimensionen der Begriffe, bzw. ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typus 1 7 . Er weist darauf hin, daß man in den Naturwissenschaften schon lange zwischen verschiedenen Dimensionen der Begriffe unterscheidet und sie doch miteinander in Beziehung zu setzen weiß 18 . Im Vergleich mit ihnen sei die Sozialwissenschaft noch in der aristotelischen Periode auf der Ebene einer Wasser-Feuer-Erde-Philosophie befindlich, in welcher man oberflächlich auf Grund der Ähnlichkeit von Erscheinungen klassifizierte, aber das komplexe Geschehen in den Erscheinungen nicht erfassen konnte (Feld, S. 80). In der Physik sei es beispielsweise selbstverständlich, bei der begrifflichen Bestimmung der Eigenschaften eines Phasenraumes zu unterscheiden, ob diese sich jeweils auf Temperatur, Druck, Zeit, räumliche Position oder eine andere Dimension beziehen (Feld, S. 87). U m solche Differenzierung der Dimensionen in den Begriffen der Sozialwissenschaft bemüht sich Lewin vor allem in seinem Aufsatz „Konstrukta in der Feldtheorie", 1944 (S. 74-85). So meint beispielsweise der Begriff „Position" die Ortsbestimmung einer Region im Verhältnis zu einer anderen. Dieser Dimension gehören Begriffe wie Gruppenzugehörigkeit und berufliche Stellung an. Der Begriff „Struktur" gehört derselben Dimensionalität an, das ist demselben Begriffstypus, insofern auch er eine vergleichende Ortsbestimmung meint, jedoch nicht eines einzelnen Punktes, sondern einer Vielzahl von Punkten oder Regionen in ihren wechselseitigen Verhältnissen in einem Feld. Dagegen gehört der Begriff „Bewegung" (locomotion) einer anderen Dimension an, da er die Beziehung von Positionen zu verschiedenen Zeiten charakterisiert (z. B . alle Begriffe, die Ortsveränderungen, vor allem hinsichtlich des Verhaltens, darstellen, s. o. S. 42L). Der Begriff „ K r a f t " als Tendenz zu einer Bewegung ist zu unterscheiden von einer wirklichen Bewegung, obwohl diese wiederum eines der Symptome für die Konstellation mehrerer Kräfte sein kann. Der Begriff „Ziel" gehört einer anderen Dimension zu als der Begriff „Kraft", obwohl zwischen beiden enge Beziehungen bestehen. Ein Ziel meint ein Kräftefeld, in welchem alle Kräfte in die Richtung derselben Region weisen (s. o. S. 43). Es bezieht sich also auf den Typ eines Kräftefeldes im Unterschied zu anderen Arten, die beispielsweise durch Abwendung, Hindernis oder Barriere gekennzeichnet sind. Der Begriff „Konflikt" bezieht sich nicht auf ein einzelnes Kraftfeld, sondern auf das Überschneiden von zumindest zwei Kraftfeldern (s. o. S. 43f.).

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Lewin fordert, daß die Art eines Begriffes die Dimensionalität des wahrgenommenen sozialen Wirkfaktors zum Ausdruck bringen müsse. Nur das, was demselben Begriffstypus, also derselben Dimensionalität, angehört, kann quantitativ miteinander verglichen werden. Denn die verschiedenartige Dimensionalität beinhaltet gleichzeitig verschiedenartige Maßstäbe und Maßeinheiten (Feld, S. 80). Darum ist die Feststellung der Dimensionalität eines Wirkfaktors jeweils von größter methodologischer Bedeutung für das Verständnis der sozialen Wirklichkeit. Nur unter dieser Voraussetzung ist überhaupt die Formulierung von Gesetzen möglich. Beispielsweise kann man nicht das Phänomen „Frustration" im Sinne eines psychologisch eindeutigen Sachverhaltes mit dem Phänomen „Aggression" als seiner Wirkung gesetzmäßig verknüpfen. Frustration kann ebensogut zu Freundschaft führen. Man müßte vielmehr die verschiedenen Arten und Situationen von Frustration und Aggression genau differenzieren 19 . Erst wenn man verschiedene Arten der Frustration festgestellt und analytisch definiert hat, kann man Gesetze formulieren, z. B . unter welchen Bedingungen Frustration zu Aggression führt. Streng genommen sind die an phänotypischen Daten gewonnenen Ausdrücke wie Frustration, Aggression usw. keine wissenschaftlichen Begriffe. Sie werden es erst, wenn man sie verschiedenen Dimensionen zuordnet, die kennzeichnen, ob es sich dabei um ein Verhalten, eine Struktur, ein Kraftfeld, eine Kraft oder anderes handelt (a.a.O., S. 77ff. und 84). Erst dann sind sie eindeutig definiert und können auf ihre empirische und logische wechselseitige Bezogenheit untersucht werden. Daher muß sich eine Klassifizierung auf die Dimensionalität der Faktoren und Begriffe beziehen, nicht auf die Kategorie der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit im Sinne phänotypischer Beschreibung (a.a.O., S. 79). Diese ist Kennzeichen des Anfangsstadiums einer Wissenschaft, das nun in den Sozialwissenschaften zu überwinden ist. Die beschreibend-klassifizierende Methode kann die soziale Wirklichkeit nicht erfassen, da sie deren Tiefendimension und Wirkzusammenhänge übersieht (a.a.O., S. 171, 22gff.). Die Begriffe einer „galileischen" Wissenschaft verweisen nicht auf phänotypische Ähnlichkeiten, sondern sie stellen dynamische Wechselbeziehungen oder Typen wechselseitiger Abhängigkeit und Bedingtheit dar20. Die Entwicklung einer konditional-genetischen Begrifflichkeit ist darum Voraussetzung für eine analytische Erfassung der vieldimensionalen Zusammenhänge in der Wirklichkeit (a.a.O., S. 182). Das hat auch Bedeutung für den Gebrauch der Statistik in den Sozialwissenschaften (Feld, S. 98ff., I9öff). Quantitatives Messen kann zwar nicht auf Statistiken verzichten, aber die Verschiedenartigkeit der Maßeinheiten in den verschiedenen Dimensionen ist unbedingt zu berück213

sichtigen. Mit Ausnahme von ganz reinen Fällen, in denen eine direkte Verbindung zwischen Theorie und wahrgenommenen Fakten möglich ist, kann quantitativ nur gemessen und verglichen werden, was begrifflich zu derselben Dimensionalität gehört (Feld, S. 8of., 98f.). Wenn soziale Vorgänge miteinander verglichen werden, müssen sie innerhalb der Lebenseinheit verstanden werden, in welcher sie ihre Funktion haben. Direkte Vergleiche führen zu Fehlurteilen. Beispielsweise lassen sich ein demokratischer und ein autoritärer Führer nicht an der Zahl der erteilten Befehle oder an dem Umfang der Macht erkennen, sondern vielmehr an Art und Funktion derselben im sozialen Feld, da sie in den jeweiligen Lebenszusammenhängen ganz Verschiedenes bedeuten (Feld, S. 196f.). Der Präsident der U S A hat mehr Macht als ein deutscher Kaiser jemals hatte. Ein Vergleich müßte hier in Rechnung stellen, ob die Macht mit der Delegierung spezieller Aufgaben oder der gesamten Bestimmung der politischen Linie zu tun hat und ob der Führer dem Volk verantwortlich ist. Allein die mittels phänotypischer und quantitativer Klassifizierung festgestellte Tatsache, daß Befehle erteilt und Machtbefugnisse ausgeübt werden, läßt noch keine Rückschlüsse zu auf die Art einer Führungs- und Gesellschaftsstruktur, sondern allein die Weise, wie Befehle erteilt und Machtbefugnisse ausgeübt werden. Ebenso muß man unterscheiden zwischen der statistischen Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse, beispielsweise von Unfällen, und der Weise, wie sie in die Vorstellungswelt, das Verhalten eines Menschen und in Geschehenszusammenhänge eingehen (Feld, S. ioof.; s. u. S. 218). Dort, w o Erhebungen durch Fragebögen und Interviews gemacht werden, muß man darum wissen, daß die Antworten nicht einfach Fakten wiedergeben, sondern die Reaktion des Individuums widerspiegeln, die teils durch die Art der Fragestellung, teils durch seine Gesamtsituation bedingt ist. So kommt Lewin zu der Forderung, daß eine wirkliche Theorie zur Auswertung solcher statistischen Erhebungen heute dringend nötig sei (Feld, S. 200). Seine Intention ist auch hier wieder, daß die Verschiedenartigkeit der Dimensionalität und der Stellung im Lebenszusammenhang nicht übersprungen, sondern in der rechten Weise differenziert wird. Es geht in der Feldtheorie um das Verstehen von Lebensvorgängen, in welchen eine Vielzahl von Wirkfaktoren verschiedenartiger Dimensionalität miteinander in Beziehung und Wechselwirkung treten (Feld, S. 224f., 170f., i88f. usw.). Klassifizierung von Prozessen und Ereignissen meint etwas anderes als Klassifizierung von Erscheinungen (Feld, S. 195 f., 79 usw.). Eine wissenschaftliche Analyse dieser Wirkfaktoren 214

hängt von der Genauigkeit einer wissenschaftlich geschulten Beobachtung ab, die mittels Experiment zu überprüfen ist. Die Theorie muß immer wieder von der Empirie ausgehen und zur Empirie zurückkehren (Feld, S. 172,192fr.). Die Wahrnehmung immer neuer Wirkfaktoren im sozialen Prozeß kommt bei Lewin aus der ständigen experimentellen Beobachtung der menschlichen Wirklichkeit. Es ist das Kennzeichen der spekulativen Systeme, die Lewin ablehnt, daß sie immer nur einen Wirkfaktor in der menschlichen Wirklichkeit zur Darstellung bringen und von ihm her alles ableiten (Feld, S. 48fr., 53). Sie haben aber ihre Bedeutung darin, daß sie auf solche Wirkfaktoren aufmerksam gemacht haben. Insofern haben sie eine Funktion in der Geschichte der Wissenschaft erfüllt (Feld, S. 274L; vgl. auch S. 52t.). Als empirische Wissenschaft jedoch hat die Sozialwissenschaft heute die Aufgabe, sich den Weg der Theorie von der Wirklichkeit bestimmen zu lassen (Feld, S. 63 ff.). Der Ort der Verifizierung sozialwissenschaftlicher Aussagen ist die Wirklichkeit selber. Das Denken muß sich an der Wirklichkeit orientieren, nicht aber die Wirklichkeit an der Theorie (vgl. auch Grundzüge, S. 26f.). Die Theorie hat nur eine dienende und helfende Funktion. Ihr Wert hängt allein davon ab, ob sie wirkliche Einsichten in den Lebensprozeß vermittelt. Sie ist nicht in sich selbst begründbar (Feld, S. 50, 172). Cartwright weist darauf hin, daß die eigentlichen Kriterien Lewins weniger „richtig"und „falsch" im absoluten Sinne gewesen seien, sondern „produktiv" und „unproduktiv" im Blick auf die Ermöglichung wirklicher Einsichten in das Leben (in: Feld, S. VIII). Der Forscher hat die Freiheit, alle theoretischen Konstrukta zu brauchen, welche zur Erklärung der Wirklichkeit dienlich sind, und jede Theorie anzuwenden, die zur Lösung der gestellten Aufgaben beiträgt (Feld, S. 52f., I7if.). Er muß seine jeweiligen empirischen Daten nicht nur im Lichte aller anderen empirischen Daten prüfen, sondern auch im Lichte aller verfügbaren Theorien. Das bedeutet nichts weniger, als daß es nötig ist, zur Lösung einer einzelnen konkreten Aufgabe das Reich der bisher erforschten menschlichen Wirklichkeit und der bisher aufgestellten Theorien zusammenzuschauen und sie der besonderen Aufgabe entsprechend anzuwenden (Feld, S. 7f., i69fF.). Es ist selbstverständlich, daß dieses nur annäherungsweise geschehen kann. Das rechte Verständnis hängt nicht so sehr davon ab, ob man den einen oder anderen Wirkfaktor übersehen hat, sondern davon, ob man die lebendige Struktur des Wirkzusammenhanges erfaßt hat (Feld, S. I04f., 189, 200). Von hierher ergibt sich die Bedeutung, welche der Gedanke der Situation bei Lewin hat. 215

d) Die Situation als Untersuchungseinheit Gerade in der Auseinandersetzung mit der atomistisch-physikalistischen Psychologie geht es Lewin darum, daß die Psychologie den konkreten Menschen in seiner konkreten Lebenssituation vor Augen haben müsse. Lewin argumentiert hier vor allem von einer humanistischen Sicht her. Eine Wissenschaft, die sich in Zählen, Messen und Klassifizieren erschöpfe, könne dem wirklichen Menschen in seiner Not nicht helfen (Feld, S. 48fF.). So treffen in dem Gedanken der „Situation" für Lewin die praktischen und wissenschaftlichen Intentionen seines Denkens zusammen. Die Feldtheorie hat die „Situation" zur Anschauung zu bringen (Feld, S. I04Í., 273 ff.). Diese ist die konkrete Lebenseinheit der Wirklichkeit, bei welcher die sozialwissenschaftliche Analyse ansetzt. Da sich die Lebenswelt dem Forscher als Situation darstellt, können die Begriffe „Lebenswelt" bzw. Lebensraum und „Situation" auch synonym gebraucht werden (Feld, S. i04ff., 273 ff.). U m die Verbindung von beiden anzudeuten, wählen wir für die Ubersetzung meist den Ausdruck „Lebenssituation". Lewin vergleicht seine Aufgabe mit der eines Novellisten (Feld, S. 272Í.). Wie dieser uns in eine bestimmte Lebenssituation und deren geschichtlich-sozialen Hintergrund mit poetischen Mitteln Einblick gibt, so versucht der Sozialpsychologe den Menschen mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln in seiner Lebenswelt zu verstehen. Dabei ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise erforderlich, um die Situation jeweils in ihrer charakteristischen Struktur erkennen zu können (Feld, S. 104, 272Í.). Die Kardinalfrage dabei ist, in welcher Weise die Ausgrenzung vollzogen und festgestellt werden kann, w o Wirkzusammenhänge bestehen und wo sie nicht bestehen. So beginnt die erkenntniskritische Aufgabe bereits in den Vorüberlegungen zu den Experimenten 21 . Sie wird schon im Bereich der „Wahrnehmung" weitgehend entschieden. Es kommt alles darauf an, daß die soziale Wirklichkeit in objektiver Weise beobachtet wird, da die Ergebnisse der empirischen Wissenschaft von der Genauigkeit und wissenschaftlichen Exaktheit der Wahrnehmung abhängen. Die Funktion des Beobachtens muß bei dem Sozialwissenschaftler in besonderer Weise ausgebildet werden. Er muß vor allem um die mit der sozialen Wahrnehmung verbundenen erkenntnistheoretischen Probleme und Gesetze wissen. Ihre Einbeziehung in die Forschung ist einer der wesentlichen Unterschiede gegenüber der früheren Sozialwissenschaft (Feld, S. 192fr.). Der Wissenschaftler, der sich der erkenntnistheoretischen Probleme sei216

nes methodischen Vorgehens bewußt ist, muß sich Rechenschaft darüber geben, w i e groß die Untersuchungseinheit zu sein hat, innerhalb deren er die ihm gestellte Aufgabe lösen kann. V o n diesem Aspekt her ist das „ F e l d " die Verstehenseinheit, innerhalb deren Vorgänge in ihrer Gestalt, Richtung und Bewegung verständlich werden (a.a.O., S. 198). Es ist zwar in der Wirklichkeit vorgegeben, aber es muß v o m Forscher auch mit Hilfe der wissenschaftlichen Werkzeuge gefunden werden. Hinter ihm stehen bereits die Erkenntnisbemühungen des Forschers, und es ist die Frage, ob das, was im Feld zur Darstellung kommt, der geschichtlichsozialen Wirklichkeit gerecht wird. Die Größe des in Betracht zu ziehenden Feldes hängt von Art und U m fang der Bezüge zwischen allgemeiner und besonderer Situation ab, von Aufgabenstellungen, Handlungsphasen usw. (a.a.O., S. i9off.). Daher muß es zunächst in seiner raumzeitlichen Ausdehnung bestimmt werden. W e n n beispielsweise das Leben in einer Pfadfindergruppe analysiert werden soll, kann sich herausstellen, daß die soziale Geltung, welche mit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe in der U m w e l t verbunden sein kann, auf die Vorgänge in der Gruppe stärkere Einwirkung hat als vielleicht das Verhalten des Leiters. Oder die Moral einer Truppe kann mehr von der Loyalität zur Kompanie abhängen als von der Loyalität zur Armee als ganzer. Je nach der Befindlichkeit des Objektes der empirischen Untersuchung muß Größe und Art des Feldes bestimmt werden (ebd.). Für einen Naturforscher ist das selbstverständlich. U m das Wachstum eines Blattes in einem Zeitraum von zwei Wochen zu erforschen, beobachtet der Biologe auch nicht die Bewegung der Ionen im Blatt oder den B a u m als ganzen. Die Einheiten dürfen für eine Untersuchung weder zu groß noch zu klein gewählt werden. In seiner Auseinandersetzung mit der atomistischen Psychologie wehrt Lewin vor allem ab, daß es ein E r fordernis wissenschaftlicher Analyse sei, die Untersuchungseinheit so klein als möglich zu wählen. Das Zucken eines Augenlides z. B . oder die Bewegung eines Armes sagen gar nichts aus ohne ihre Bedeutung im Zusammenhang einer größeren Einheit. Der Regierungsstil des amerikanischen Präsidenten und des deutschen Kaisers können nicht verglichen werden, ohne ihre Maßnahmen im Zusammenhang der gesamten gesellschaftlichen Situation zu interpretieren (s. o. S. 214). Größere soziale Einheiten sind nach Lewin im gegenwärtigen Stand der Sozialwissenschaften am schwierigsten zu analysieren (Feld, S. 198f.). E i n W e g zum Studium solcher Einheiten kann auch über die Analyse entsprechender kleiner Modelle erfolgen, wenn die Struktureigenschaften des Gesamtgefüges und die sozialen Konstellationen erhalten bleiben. Allerdings haben auch nach Lewin Einheiten verschiedener Größe durch-

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aus spezifische Eigenschaften (Feld, S. 197). Es stellt sich somit das Problem der Übertragung. Aber Lewin selbst hat vielerlei Beispiele für solche Möglichkeiten gegeben (vgl. Feld, S. 198fr.; Lösung, S. 200 ff.) 22 . Er war der Meinung, daß sich auf diese Weise immer umfassendere soziale und strukturelle Probleme lösen lassen, die bisher für die empirische Forschung unzugänglich gewesen seien (Feld, S. 200). Bei der Ausgrenzung der zu untersuchenden Einheit und der Durchführung der Analyse ist darauf zu achten, daß der in der Wirklichkeit vorgefundene Zusammenhang nicht durch falsches methodisches Vorgehen zerstört wird, sondern in seinen spezifischen Bezügen erhalten bleibt. Auch ein Arzt kann beispielsweise nicht das Röntgenbild von einem Knochenbruch in kleine Stücke schneiden und diese je nach ihrer grauen Färbung zusammensetzen. Er würde sich selbst damit die Möglichkeit der Beobachtung und Untersuchung nehmen (a.a.O., S. 198). Weiterhin sind alle Fakten, welche nicht in irgendeiner Weise in der beobachteten Lebenswelt wirksam bzw. nicht in das psychologische Feld eingetreten sind, bei der Analyse auszublenden (Feld, S. 99). Beispielsweise kann eine Unfallstatistik, die ein Autofahrer nicht kennt, auch nicht sein Verhalten und seine Lebenssituation beeinflussen. Es geht in der psychologischen Analyse um die soziologischen und physikalischen Fakten als Bestandteile gegenwärtiger menschlicher Wirklichkeit, nicht um Fakten in ihrem Für-sich-sein (a.a.O., S. 273). Lewin nennt alle diejenigen Fakten „nicht-psychologisch", welche zu einer gegebenen Zeit die Lebenssituation eines Menschen nicht direkt bestimmen' (Feld, S. 99f.). Nicht um der psychologischen Analyse, wohl aber um einer Vorausschau möglicher äußerer Situationen willen kann auch der Psychologe Interesse an Statistiken haben, welche nicht die Lebenssituation selbst betreffen. Beispielsweise können sie in der Vorbereitung eines Menschen auf mögliche Situationen der Zukunft oder in der Vorhersorge für ein Kind eine Rolle spielen (S. 101). Die Lebenssituation steht faktisch ständig unter Einwirkungen von außen, bzw. unter Einwirkung nichtpsychologischer Faktoren, die sich aus der psychologischen Situation selbst nicht ableiten lassen (Grundzüge, S. 88ff.). Lewin spricht im Blick auf diese „objektiven" physikalischen und soziologischen Fakten, die den Lebensraum von außen beeinflussen können, von den Grenzbedingungen oder der Grenzzone des Lebensraumes: jedes individuelle und soziale Leben spielt sich inneihalb bestimmter Grenzen ab, die darüber entscheiden, was möglich ist und was nicht (z. B . Klima, Verkehrsverhältnisse, Gesetze und Organisationen des Landes usw.). Jedoch hängt die Bedeutung der Grenzzone auch vom Individuum selbst ab, von seiner Wahrnehmung, seinen Motiven, seinem 218

Verhalten (vgl. Feld, S. 99fF.). Die Bestimmung dieser Grenzzone gehört jeweils zu einem Hauptelement der feldtheoretischen Analyse. Die Frage nach der Beziehung zwischen psychologischen und nichtpsychologischen Faktoren bezeichnet Lewin als „psychologische Ökologie" (vgl. Feld, S. 98ff., 206). Eine Integration der Sozialwissenschaften setzt nach seiner Meinung eine Klärung dieser Beziehung voraus. Diese jedoch ist Lewin nicht gelungen (vgl. dazu Lohr, in: Feld, S. 3 1 ff.).

e) Historische und empirische Methode Im modifizierten Sinne stellt sich das Problem der Ökologie auch im Verhältnis der Sozialwissenschaften zu den historischen Wissenschaften. Lewin behandelt die historischen Fakten entsprechend den physikalischen und soziologischen Fakten unter dem Aspekt ihrer Wirksamkeit in der jeweilig zu analysierenden Situation. Sie dürfen in der sozialwissenschaftlichen Analyse nicht übergangen werden. Lewin betont, es sei ein völliges Mißverständnis, wenn man infolge der Bedeutung, welche die Gegenwärtigkeit in der Feldtheorie hat, folgern würde, daß diese nicht an geschichtlichen Entwicklungen interessiert sei (Feld, S. 88f.). Im Gegenteil hätten die feldtheoretischen Ansätze durch ihre Auseinandersetzung mit dem physikalistischen Atomismus zu einer außerordentlichen Erweiterung der zeitlichen Dimension in der Psychologie und somit zur Überwindung einer ungeschichtlichen Betrachtungsweise beigetragen (ebd.). Die Feldtheorie analysiere Zeiteinheiten verschiedenster Größe von dem Bruchteil einer Sekunde an bis zu einem Zeitraum von vielen Jahren 23 . Lewin selbst hat beispielsweise in seinem Buch „Lösung sozialer Konflikte" die Feldtheorie zur Analyse geschichtlicher Vorgänge auf der Ebene einer Nation angewandt. Die Grenze für die Größe der zu beobachtenden Zeiteinheit setzt die Wirklichkeit selbst. Es ergibt sich schon aus der Intention einer Wissenschaft, die Vorgänge, Ereignisse und B e wegungen beobachten und analysieren will, daß sie jeweils eine Zeitspanne der Beobachtung wählt, die zur Analyse des jeweiligen Geschehens nach Art und Richtung ausreichend ist (Feld, S. 194 und S. 93 f.). Beispielsweise kann man einen Wettlauf von einer Verfolgung nur unterscheiden, wenn man zwei hintereinander laufende Personen lange genug beobachtet. Es gibt auch Zeiteinheiten, die für die experimentelle B e obachtung zu groß sind und nur auf indirektem Wege analysiert werden können. Die jeweilige Zeitspanne, welche die Beobachtung und das Experiment umfaßt, ist zu unterscheiden von der „Zeitperspektive" des zu analysieren219

den Feldes. Lewin versteht unter ihr die Weise, in welcher Vergangenheit und Zukunft in die gegenwärtige Lebenssituation hineinwirken (Feld, S. n 6 f . ) . Wir können sie darum als „Zeittiefe" der Lebenssituation bezeichnen. Sie ist bei Lewin vor allem vom Menschen her verstanden, insofern sie charakterisiert ist durch die Weise, wie der Mensch seine eigene Vergangenheit sieht und zu ihr Stellung nimmt und was er von seiner Zukunft erwartet; aber auch umgekehrt bestimmen Hoffnungen und Befürchtungen der Vergangenheit sein Verhältnis zur Gegenwart. So hat die Zeitperspektive des Menschen tiefgreifenden Einfluß auf seine gesamte Lebenssituation und seine gegenwärtige Wirklichkeit. Daher hat auch die Feldtheorie ein genuines Interesse an der Geschichte. Jedoch das, was sie von der üblichen „historischen" Betrachtungsweise unterscheidet, ist ihr Ausgang von der gegenwärtigen Wirklichkeit des Menschen (Feld, S. 91, n 6 f . ) . So ist sie weniger im Sinne der Frage nach dem Ursprung daran interessiert, wie die gegenwärtige Lebenssituation zustande gekommen ist, sondern daran, welche Elemente der Vergangenheit in welcher Weise in ihr wirksam sind. Sie fragt nicht historisch nach den Ursachen, sondern im Verständnis empirischer Wissenschaften nach den dynamischen Bedingungen der gegenwärtigen Situation. Z u diesen gehören auch Ereignisse, die aus der Vergangenheit kommen, aber im Feld gegenwärtiger Wirklichkeit als Elemente in neue Zusammenhänge treten (Feld, S. 130L). Die Vermengung historischer und systematischer Fragestellungen ist gerade ein wesentliches Kennzeichen der aristotelischen Denkweise. Ihre Uberwindung impliziert, daß „historische" Ursache (Ursprung) und „systematische" Ursache (dynamische Bedingung) differenziert werden (Grundzüge, S. 51 ff.). Insofern kann Lewin zwischen historischer Wissenschaft und der Sozialpsychologie als einer systematischen Wissenschaft differenzieren und fordern, daß man sie nicht vermischen dürfe. Es ist aber aus anderen Stellen klar ersichtlich, daß er diese Forderung nur gegenüber einer historistischen Methode erhebt, nicht hinsichtlich einer geschichtlichen Betrachtungsweise überhaupt (Feld, S. 88ff., 91 ff., 127fr.). Im Blick auf die Analyse gegenwärtiger Wirklichkeit betont er die Überlegenheit der empirischen Verfahrensweise gegenüber der historischen. Er stellt der historischen Methode, die auf Grund von Erinnerung Schlußfolgerungen für die Gegenwart ziehe, die empirische Methode gegenüber, wclche auf Grund von Experimenten und Analysen die Gegenwart diagnostiziere. Wie die Medizin, technische Wissenschaft, Biologie u. a. bedienen sich die Sozialwissenschaft und die Psychologie zwar auch beider Methoden, bevorzugen aber die letztere soweit als möglich, da sie die Ungewißheitsfaktoren historischer Schlußfolgerungen vermeiden könne 24 . 220

Man kann die sehr verschiedenartigen und verschiedene Akzente setzenden Ausführungen Lewins über das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart dahingehend interpretieren, daß er gegen den Historismus in den empirischen Wissenschaften polemisiert, aber gleichzeitig bemüht ist, die historische Methode an der rechten Stelle in der rechten Weise und Begrenzung bei der Erklärung gegenwärtiger Wirklichkeit in ihrer Bedeutung aufzuzeigen25. Auf sie ganz zu verzichten, ist schon deswegen nicht möglich, weil es die Sozialwissenschaft in ihrer Analyse mit Ereignissen zu tun hat, die immer eine gewisse Zeitspanne und Zeitdimension enthalten (Feld, S. 92). Was er in seiner Polemik gegenüber bestimmten historischen Verfahrensweisen im Auge hat, wird z. B . in seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse deutlich. Er gesteht zu, daß ihre historische Betrachtungsweise auch vom Standpunkt einer topologischen Psychologie aus legitim sei, wenn sie etwa die Art und den Umfang einer Fixierung früherer Entwicklungsstadien zu analysieren versuche. Aber sie gebe sich nicht darüber Rechenschaft, was diese Fixierung im Zusammenhang des Gesamtfeldes der gegenwärtigen Lebenssituation bedeute26. Es geht Lewin also um die Frage, in welcher Weise Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Er ist der Meinung, daß die übliche historische Verfahrensweise hierbei die Kompliziertheit eines solchen Vorganges zu wenig erkenne und es sich zu einfach mache (Feld, S. 88fF., 105f.). Seine Argumente dabei sind dieselben, welche er auch gegenüber Aristotelismus und atomistischem Positivismus geltend macht. Er wendet sich gegen eine historische Verfahrensweise, welche isolierte Elemente in direkte ursächliche Beziehung zueinander bringt, ohne den Wirkungszusammenhang zu analysieren, in dem diese ihre Bedeutung haben. Wie vorher bei der Herausstellung der Bedeutung der intervenierenden Variablen geht es ihm auch hier um die Frage nach den notwendigen Zwischengliedern des Verstehens, welche das Bezugssystem der Aussagen über geschichtlich-soziale Vorgänge ausmachen. Er lehnt das Kausalitätsschema im Sinne einer zeitlich verstandenen Weise der Verursachung ab (Feld, S. 88 fF.). Die Lebenssituation ist weder als Produkt einer historischen Entwicklung, noch als Produkt einer physikalistischen oder sozialen Umwelt zu denken (Feld, S. 104L). Wohl aber sind innerhalb der Lebenssituation historische, physikalische und soziale Fakten wirksam und stehen darin jeweils in einem ganz bestimmten, sich ständig verändernden Zusammenhang (Feld, S. 86fF.,272f.). Für Lewin sind Vergangenheit und Zukunft „Perspektiven" des gegenwärtigen Feldes. Eine direkte Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt es nicht (Feld, S. 105 f.). Die Vorgänge in der mensch221

liehen Wirklichkeit sind nicht von Vergangenheit oder Zukunft, sondern vom gegenwärtigen Feld abhängig (Feld, S. 71). Ihre direkte Ableitung von vergangenen Ereignissen ist in derselben Weise metaphysischer Art wie ihre teleologische Herleitung aus möglichem zukünftigem Geschehen, da diese Ereignisse jetzt nicht mehr bzw. noch nicht existieren (S. 105). Zur Situation gehört jedoch jeweils ein bestimmtes Verhältnis zu einer bestimmten Vergangenheit und Zukunft (Feld, S. 95). Die Zeitperspektive ist mit der Situation in ständiger Wandlung begriffen. Darum beschränkt sich der Sozialwissenschaftler nur auf die Vergangenheit und Zukunft, die zum gegenwärtigen Menschen in seiner gegenwärtigen Situation gehören (Feld, S. 88, 96) 27 . Konstitutiv für den Feldbegriff ist der Gedanke der Wechselwirkung zwischen gleichzeitig existierenden Fakten, die voneinander abhängig sind. Lewin spricht daher vom feldtheoretischen Prinzip der Gleichzeitigkeit (Feld, S. 88), das den „Bann der Dichotomie: entweder Teleologie oder aber Verursachung durch das Vergangene" durchbricht (a.a.O., S. 70). Der Weg zum Verstehen von Vergangenheit und Zukunft führt über den Menschen und seine gegenwärtige Situation. Insofern hat die feldtheoretische Analyse der historischen Analyse vorauszugehen (Feld, S. 190). Im Gegensatz zu Tendenzen innerhalb der Soziologie seiner Zeit betont jedoch Lewin, daß Psychologie und Soziologie auf den spezifisch historischen Charakter und die spezifisch historische Einbettung der Strukturelemente in der feldtheoretischen Analyse zu achten haben (Feld, S. n 6 f . ) . Entscheidend aber bleibt, wie der Mensch sich zu ihnen verhält, mit welchen Befürchtungen, Hoffnungen, Wünschen, Erwartungen sie für ihn verbunden sind und wie er sie daher sieht. Darum spricht Lewin von „psychologischer Vergangenheit" und „psychologischer Zukunft" 2 8 . Sie haben ihre Wirklichkeit in ihrem Bezug zum Menschen, in dessen Sicht, Verhalten und Tun sie wirksam sind. Diese Beziehung zum Menschen macht das Verhältnis der Zeiten zueinander in ihrer Bedeutung für die menschliche Wirklichkeit so kompliziert (Feld, S. 95). Die Zeiten beinhalten jeweils eine Realitäts- und eine Irrealitätsebene, die aber beide infolge ihrer Auswirkung auf die menschliche Lebenssituation im psychologischen Sinne Wirklichkeitscharakter besitzen. So wirken sich auch die falschen Vorstellungen des Menschen über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, die beispielsweise in seinem Wunschdenken, in seinen Tagträumen oder Befürchtungen ihre Wurzeln haben, in seiner geschichtlich-sozialen Welt aus (Feld, S. 95Í.) 29 . Die Differenzierung zwischen einer Realitäts- und Irrealitätsebene geschieht erst im Verlaufe des Umgangs des Menschen mit der geschichtlich222

sozialen Welt, wodurch er zu unterscheiden lernt zwischen Wünschen und Fakten, Hoffnungen und Erwartungen, Tagträumen und Wirklichkeit (Feld, S. 116). Die Zeittiefe des gegenwärtigen Feldes ist von großer Bedeutung für den Menschen, insofern sie nach Art und Umfang sein Verhalten und seine Entwicklung weitgehend beeinflußt. Sie kann sogar wichtiger als die Gegenwart selbst werden 30 . Die Erweiterung der Zeitperspektive ist eine der wichtigsten Aufgaben der Erziehung. Sie bedeutet Fortschritt für die menschliche Entwicklung. Experimente haben einen Zusammenhang zwischen Zeitperspektive und schöpferischer Leistung aufgedeckt 31 . Verkürzung der Zeitperspektive bedeutet meist Rückschritt oder Primitivität des Verhaltens. Während der Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen nimmt die Zeitperspektive ständig an Ausdehnung zu. Sie bedeutet „Erweiterung des Horizontes" und auch Veränderung der Erkenntnisweise. Immer mehr wird die Gegenwart von weit entfernten Ereignissen der Vergangenheit und Zukunft beeinflußt (Feld, S. 117). Lewin stellt in seiner ausführlichen feldtheoretischen Analyse der Veränderungen des Menschen in der Pubertätszeit als wichtiges Moment des Umbruches vom Jüngling zum Manne die plötzlich sich erweiternde Zeitperspektive heraus, die den jungen Mann in eine völlig neue Situation hineinstellt und sich in Unsicherheit und Konflikten äußert (Feld, S. 172ff.). So wendet Lewin sein feldtheoretisches Prinzip der Wechselwirkung auf das Verhältnis der Zeiten untereinander an. Sie haben ihre Wirklichkeit nur in ihrem Bezug zum gegenwärtigen Menschen, wie dieser nur Zugang zu ihnen über die gegenwärtige Situation hat. So verläuft die Geschichte von Situation zu Situation, die jeweils ihre spezifische Zeitperspektive impliziert. Auch als Erkennender steht der Mensch in der Geschichte und kann sich nicht aus ihrem gegenwärtigen Wirkzusammenhang lösen.

f ) Der erkennende Mensch in der Wirklichkeit Wechselwirkung vollzieht sich auch in der Forschung der empirischen Wissenschaften selbst und bedeutet für diese die unlösliche Wechselbeziehung von Wahrnehmung und Geschehen. Sie begründet das erkenntnistheoretische Dilemma zwischen subjektivem und objektivem Aspekt, welchem die Sozialwissenschaften in ihrer Analyse nicht entrinnen können. Lewin spricht von einem zirkulären Prozeß des Denkens, das immer wieder den subjektiven und objektiven Aspekt durchschreiten muß (Feld, S. 233 f.). Das sei nicht als Ausdruck einer Willkürlichkeit der 223

wissenschaftlichen Methode zu verstehen, sondern als Ausdruck der zu erforschenden Wirklichkeit selbst. Das wissenschaftliche Verfahren „spiegelt" hier nur eine Eigentümlichkeit des Forschungsgegenstandes. Bewegung und Richtung des sozialen Geschehens ist von der Wahrnehmung der in ihm handelnden Personen bestimmt, und umgekehrt erfolgt eine ständige Korrektur des Denkens am wirklichen Geschehen (Feld, S. 230ff.; s. o. S. 59ff.). Lewin illustriert das an dem Beispiel von Eheleuten, indem er analysiert, wie eine gegebene Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Augen des Mannes und der Frau verschieden aussieht und wie durch das weitere Geschehen eine Korrektur ihrer Vorstellungen nötig wird. Die Änderung der Wahrnehmung beeinflußt dann wiederum das Geschehen. Dieselbe Wechselwirkung zwischen handelnder Begegnung mit der Wirklichkeit und Wahrnehmung vollzieht sich in der wissenschaftlichen Tätigkeit des Forschers. Die tiefere Wirklichkeit erschließt sich aus dem tätigen Umgang mit ihr, nicht aus der Betrachtung von außen. Hier liegt die Bedeutung des Experimentes in den Wissenschaften vom Menschen: „Das Tabu gegen den Glauben an die Wirklichkeit einer sozialen Gegebenheit ist wahrscheinlich am einfachsten dadurch zu brechen, daß man diese Gegebenheit experimentell handhabt . . . Die .Wirklichkeit' dessen, worauf sich der Begriff bezieht, ist dadurch gegeben, daß ,man etwas damit tut', und nicht dadurch, daß man es .anschaut'. Diese Wirklichkeit ist von gewissen .subjektiven' Elementen der Klassifikation frei" (Feld, S. 228).

Lewin verdeutlicht diesen Zusammenhang am Beispiel der Experimente über Formen von Gruppenführung: solange ein Forscher nur eine bestimmte Form der Führerschaft beschreibt, kann man fragen, ob die Begriffe, derer er sich bedient, einem wirklich vorhandenen Phänomen entsprechen oder nur seine subjektive Meinung widerspiegeln. Wenn er aber mit der Führerschaft experimentiert und ihre Form variiert (s. o. S. 59*?.), geht er von einer operationalen Definition aus, die den Begriff der Form einer Führung mit bestimmten Verfahren verbindet, die diese spezielle Form der Führerschaft hervorrufen und daher eine Prüfung ihres wirklichen Vorhandenseins und ihrer Bedingungen erlauben32. Daß die sich so erschließende Wirklichkeit unabhängig ist von den subjektiven Elementen ihrer Klassifizierung, gelte auch für die Naturwissenschaften. Ihr Fortschritt von Archimedes bis Einstein sei an den entscheidenden Punkten dadurch bestimmt gewesen, daß die Änderung experimenteller Verfahrensweisen die wissenschaftlichen Theorien über die physikalische Welt revolutioniert und damit auch die Ansichten über das modifiziert hätten, was wirklich und nicht-wirklich sei (ebd.). 224

In allen Analysen der Sozialwissenschaften müßten daher stets beide Aspekte, die subjektive und die objektive Seite des „zirkulären Prozesses", beachtet werden (a.a.O., S. 233 f.). Es geht Lewin um Aufdeckung der im Erkenntnisprozeß wirksamen Voraussetzungen. Denken und Leben, Erkenntnistheorie und Praxis, geistige und empirische Wirklichkeit stehen in ständiger, unauflöslicher Wechselwirkung. Nicht der beherrschende Zugriff der Vernunft auf die menschliche Wirklichkeit ist der Antrieb, sondern der Wille zu sehen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen und zu helfen. Dieser Standort Lewins bedeutet Kritik an denjenigen Schulen in Psychologie und Soziologie, welche sich keine erkenntnistheoretische Rechenschaft über ihren Wirklichkeitsbezug geben, aus spekulativen Gründen die konkrete Situation und die lebendigen Zusammenhänge der menschlichen Wirklichkeit überspringen und um der Geschlossenheit eines Systems willen die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ein für alle Mal geklärt zu haben glauben. Sie sehen daher keine Notwendigkeit, ihre Theorien an der Wirklichkeit zu überprüfen. Demgegenüber ist nach Lewin immer wieder die Rückfrage nötig, ob die entscheidenden Wirkfaktoren in einer Situation erfaßt worden sind, ob die Struktur ihrer Wechselbeziehungen richtig gesehen worden ist, ob das zu analysierende Feld im Blick auf die zu verstehenden geschichtlich-sozialen Vorgänge richtig ausgegliedert worden ist, ob die Werkzeuge und Methoden der Analyse der Situation entsprechen usw. Die Weise der wissenschaftlichen Ausblendung und Einblendung von Fakten, Phänomenen, Dimensionen, Bereichen muß angesichts konkreter Problemstellungen und Aufgaben stets neu durchdacht, die eigenen wissenschaftlichen Voraussetzungen müssen kritisch überprüft werden. Letztlich sind diese ständigen erkenntnistheoretischen Bemühungen Lewins und sein unablässiges, kritisches Durchdenken der eigenen wissenschaftlichen Voraussetzungen nichts anderes als Ausdruck der Intention, den Bezug zum konkreten Menschen und seiner Wirklichkeit durchzuhalten. Jede wissenschaftliche Aussage hat sich über den Bedeutungsgehalt der Begriffe einerseits und den empirischen Bezug andererseits Rechenschaft zu geben (s. o. S. 211). Noch in dem Aufsatz „Frontiers in Group Dynamics", den Lewin in den letzten Monaten seines Lebens schrieb (Feld, S. 223 ff.}, beschäftigt er sich mit Problemen der wissenschaftlichen Ausblendung und Einblendung der Wirklichkeit innerhalb der empirischen Forschung. Die Entscheidung darüber, was jeweils als wirklich und nicht-wirklich vom Denken vorausgesetzt werde, greife tief in die Wissenschaftsgeschichte 225

der empirischen. Forschung ein (Feld, S. 224). Falls dieses jedoch eine metaphysische Entscheidung sei, müsse man sagen, daß die Metaphysik tief in die empirische Forschung einwirke. Etwas als nicht-existierend zu erklären, sei gleichbedeutend damit, es als Forschungsobjekt für die Wissenschaften auszuschließen. Andererseits ergäbe sich aus der Zurechnung von Existenz zu einer Sache für den Wissenschaftler die Pflicht, diese Sache zu durchdenken, da er ohne sie nicht zu einer befriedigenden Theorie käme (S. 225). Die Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes werden dann notwendigerweise zu „Fakten" und die Ausdrücke für diese zu „wissenschaftlichen Begriffen". Das Problem der „Existenz" sei deshalb ein besonders deutliches Beispiel für die Weise, in welcher Fakten, Begriffe und Methoden wechselseitig abhängige Aspekte einer empirischen Wissenschaft seien (in: Shilpp, S. 277). W i e man sich in den Naturwissenschaften über den Wirklichkeitscharakter eines Moleküles oder Atomes gestritten habe, so in den Sozialwissenschaften über den eines Individuums oder einer Gruppe (Feld, S. 22öf.). Für eine Strukturanalyse gibt es jedoch keinen Unterschied an Wirklichkeit zwischen einer Person und der Gruppe, in der sie lebt. Beide sind als Einheiten in der Empirie feststellbar an ihren voneinander verschiedenen dynamischen Strukturen und unterscheidbaren Eigenschaftszusammenhängen (ebd.; s. o. S. 45f.). Gewöhnlich seien es in der Naturwissenschaft die kleinsten Teilchen, deren Realität man bezweifle, in den Sozialwissenschaften jedoch bestimmte Ganzheiten. W i e sich in der Mathematik und Physik immer mehr die Erkenntnis durchgesetzt habe, daß die Beziehungen zwischen den Teilen und nicht die einzelnen Teile die eigentliche Konstanz darstellen, so sei eine ähnliche Entwicklung in den Sozialwissenschaften zu beobachten. Die strukturellen Eigenschaften gewännen immer größere Bedeutung (Feld, S. 227). Ihre Analyse setzt voraus, daß der Mensch fähig ist, die soziale Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen zu erkennen.

g) Gesetzmäßigkeiten in der menschlichen Wirklichkeit Lewin geht davon aus, daß menschliches Leben nur auf Grund sozialer Wahrnehmungsgewißheit möglich ist. Da dieselben sozialen Wirkzusammenhänge in verschiedener Weise in Erscheinung treten und umgekehrt hinter denselben wahrgenommenen sozialen Phänomenen verschiedene Wirkzusammenhänge stehen können, ist es nicht möglich, Gesetzmäßigkeiten in der Weise zu finden, daß man auf direktem W e g e irgendwelche Beziehungen zwischen den verschiedenen Phänomenen 226

herzustellen versucht (s. o. S. 207). Durch solche nach aristotelischem Vorbild durchgeführte Klassifizierung, Einordnung und Verbindung der Phänomene würde der in ihnen erscheinende Wirkzusammenhang zerstört werden. Aus demselben Grunde ist es auch nicht möglich, daß die Gesetzmäßigkeiten in der menschlichen Wirklichkeit mittels Statistiken oder im Sinne eines physikalistischen Reiz-Reaktionsschemas gesucht werden. Alle diese Versuche stellen direkte Verbindungen zwischen isolierten Phänomenen her. Ein Gesetz im sozialwissenschaftlichen Sinne ist eine Bestimmung der Beziehungen zwischen verschiedenen Wirkfaktoren, welche eine geschichtlich-soziale Situation strukturieren (vgl. Feld, S. 272f., 275f.). Es handelt sich in ihm um die Feststellung von Strukturidentitäten (Lohr, in: Feld, S. 34). Diese beziehen sich auf die in der Situation wirksame Kräftekonstellation. Ein Gesetz will nicht erklären, wie etwas geworden ist, sondern feststellen, was jeweils wirksam ist, und die Bedingungen aufweisen, die darin zum Ausdruck kommen (a.a.O., S. 131). Lewin definiert die Gesetze als „funktionelle Abhängigkeitsverhältnisse" zwischen den verschiedenen Momenten eines Geschehens. Der Begriff der Funktion meint etwas anderes als Kausalität im Sinne einer irreversiblen Folge von der Ursache und der Wirkung 3 3 . So sieht Winnefeld das feldtheoretische Gesetzesverständnis dadurch gekennzeichnet, daß gleichen Bedingungszusammenhängen gleiche Wirkungszusammenhänge entsprechen34. Auf Grund eines sozialwissenschaftlichen Gesetzes kann der Forscher daher auch gewisse Richtungsvoraussagen machen, die jeweils in der hypothetischen Form einer Wenn-Dann-Beziehung stehen (Lösung, S. 282, 294). Richtung und Struktur eines Geschehens bleiben relativ konstant, solange die Bedingungszusammenhänge dieselben bleiben 35 . Bei Änderung des einen oder anderen Wirkfaktors entsteht ein neuer Wirkzusammenhang, welcher auch eine Richtungsänderung bedeutet. Diese kann ihren Anstoß jeweils von der Umwelt oder der Person erhalten. In jedem Fall ändert sich dadurch die gesamte Struktur der Wechselwirkung, da das Geschehen niemals von der Umwelt oder der Person allein abhängt, sondern mehrseitig determiniert ist (s. o. S. 38ff.). Prinzipiell können daher die Gesetzmäßigkeiten in der Wechselwirkung von der Perspektive der Person und auch von der Perspektive der Umwelt in Blick genommen werden (s. o. S. 44f.). So betreffen sie nach Lewin entweder das Verhältnis zwischen Verhalten und Feld oder das Verhältnis zwischen Wirkfaktoren, die das Feld bestimmen (Feld, S. 275). Sie meinen einen strukturellen Zusammenhang, durch den das Verhältnis zwischen Person und Lebenswelt im Sinne des Enthaltenseins oder des Gegenübers bestimmt ist (Feld, S. 27if.) 3 6 . 227

Es erhebt sich die Frage, inwiefern diese Gesetzmäßigkeiten in der Wechselwirkung zwischen Person und Lebenswelt wissenschaftlich erforscht werden und ob sie jemals über die Einsichten hinauskommen können, welche die-praktische Erfahrung im Umgang mit der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit und der Menschen miteinander vermittelt. Im Verständnis der Sozialpsychologie als Umgangs- oder Begegnungswissen betont Lewin die enge Beziehung zwischen Theorie und Praxis (s. o. S. 224). Die Erfahrungen, die von Praktikern, aber auch von jedem einzelnen Menschen gesammelt worden sind und gesammelt werden, genügen jedoch im gegenwärtigen Stadium der geschichtlichen Entwicklung nicht mehr (Feld, 228ff.). Zwar wissen viele Menschen in ihren verschiedenen Wirk- und Lebensbereichen um gewisse Gesetzmäßigkeiten, aber sie sind oft nicht in der Lage, selbst innerhalb dieser unmittelbaren Lebenswelt die strukturellen Zusammenhänge zu erkennen und bilden darüber einseitige Kategorien aus. Dasselbe gilt für die Intergruppenbeziehungen. Sie gründen zu sehr auf Beobachtungen, die vor Ort gemacht worden sind, nicht aber im Durchblick durch größere Zusammenhänge (Lösung, S. 285). Die Sozialwissenschaft überspringt diese Erfahrungen der Praxis in ihrer Theorie nicht, sondern versucht im Gegenteil jene wissenschaftlichmethodisch zu erhellen und die jeweiligen Wirkzusammenhänge personaler-sozialer Situationen auf dem universalen Horizont der verschiedenen Theorien ins Bewußtsein zu heben. Sie überprüft diese Erfahrungen, ob sie sich im Experiment verifizieren lassen und nicht in Widerspruch zu irgendwelchen anderen wissenschaftlichen Ergebnissen stehen (Feld, S. 103). Sie deckt dieselben strukturellen Zusammenhänge in den verschiedenen Erscheinungsbildern und die verschiedenen strukturellen Zusammenhänge in denselben Erscheinungsbildern auf. Ohne diese Kenntnisse struktureller Gesetzmäßigkeiten im personal-geschichtlich-sozialen Prozeß, welche die Sozialwissenschaften vermitteln, können die uns heute aufgegebenen konkreten Probleme der geschichtlichsozialen Welt nicht mehr zureichend gelöst werden (Feld, S. 229f.; Lohr, in: Feld, S. 42). Lewin betont, daß die von den Sozialwissenschaften ermittelten Gesetze dieselbe wissenschaftliche Zuverlässigkeit besitzen wie die naturwissenschaftlichen Gesetze. Nur handelt es sich um eine andersartige Wirklichkeit und einen anderen Begriff der Objektivität (s. o. S. 3 8 fF.). Wenn die Sozialwissenschaften Gesetzmäßigkeiten in der personalgeschichtlich-sozialen Wirklichkeit analysieren, ist das nicht im Sinne eines philosophisch-anthropologischen Determinismus zu verstehen. Lewin geht auch hier von der experimentellen und systematischen B e 228

obachtung der personal-geschichtlich-sozialen Wirklichkeit aus. In dieser lassen sich die allgemeinen und individuellen Situationen nicht voneinander trennen, sondern stehen in einem engen.Bezug der Wechselwirkung (Feld, S. 275). Die Aufgabe der empirischen Forschung ist daher nicht diejenige, AllgemeinbegrifFe zu entwickeln, die auf den besonderen Fall anwendbar sind, oder auf Grund phänotypischer Ähnlichkeiten zu katalogisieren, sondern die jeweilige Beziehung zwischen der allgemeinen und individuellen Situation zu analysieren (a.a.O., S. 103). Lewin kann je nach dem Gesprächspartner den Akzent auf die eine oder auf die andere Seite legen. So kann er beispielsweise als metaphysisches Vorurteil ablehnen, daß die Persönlichkeit, der Wille oder die Affektivität des Menschen keinen Gesetzen unterworfen seien. Andererseits kann er geltend machen, daß man die menschliche Wirklichkeit nur versteht, wenn man v o m Individuum her denkt und dieses nicht unter irgendwelche herangetragene Kategorien subsummiert (a.a.O., S. 225). Insofern kann Lohr mit Recht betonen, daß der eigentliche Ansatz Lewins beim Einzelfall und individuellen Lebensraum liegt (a.a.O., S. 31). Für die aristotelische Denkweise sind Gesetzlichkeit und Individualität Gegensätze 37 . Dieses hängt damit zusammen, daß für Aristoteles das Wesen eines Gegenstandes durch die Zugehörigkeit zu einer Klasse als dem Inbegriff gemeinsamer Merkmale verschiedener Gegenstände definiert wurde (s. o. S. 203). W e n n aber das Allgemeine das Wesen ist, kann das Einzelne, Einmalige nur zufällig sein. Kriterium der Gesetzmäßigkeit ist demnach die Regelmäßigkeit und Häufigkeit, mit der gleiche Vorgänge in Natur und Geschichte vorkommen. Für den Einzelfall war die Gesetzmäßigkeit jeweils an Hand dieses Kriteriums nachzuweisen 38 . Die Wende zum galileischen Wissenschaftsverständnis bedeutet in diesem Zusammenhang, daß an Stelle des „quasi-statistischen" und historischen Durchschnitts gerade der konkrete Einzelfall als gesetzmäßig angesehen wird. Dieses ist die Konsequenz dessen, daß sich die Fragestellung v o m „ W e s e n " auf Relationen und Funktionen verlagert, deren spezifische wechselseitige Abhängigkeit jeweils eine spezifische Situation strukturiert. Deshalb können Gesetze nur gefunden werden, wenn die Eigenheiten konkreter Situationen erfaßt werden: „Es gilt zur Einsicht zu bringen, daß Allgemeingültigkeit

des Gesetzes

und

Konkretheit des individuellen Falles keine Gegensätze sind, und daß an Stelle der Bezugnahme au f einen historisch möglichst ausgedehnten Bereich häufiger Wiederholung die Bezugnahme auf die Totalität einer konkreten Gesamtsituation treten muß. Das bedeutet methodisch, daß die Wichtigkeit eines Falles und seine Beweiskraft nicht nach der Häufigkeit seines V o r k o m m e n s gewertet werden darf" (Erkenntnis, S. 465 f.) 39 .

229

Individuelle Unterschiede, Altersstufe, Persönlichkeit, besondere Situation usw. einerseits und allgemeine Gesetze andererseits sind eng miteinander verbunden und als verschiedene Aspekte ein- und desselben Problemes zu begreifen (Feld, S. 276). Ein zentrales Anliegen Lewins im Blick auf seine ganze wissenschaftliche Arbeit kommt darin zum Ausdruck, daß er von der Überzeugung ausgeht, es gebe keinen W e g von den Allgemeinbegriffen zurück zu dem individuellen Fall (Feld, S. 102). Er sucht einen wissenschaftlichen W e g , auf welchem das Denken gleichzeitig induktiv und deduktiv verfahren kann, am Individuellen und am Allgemeinen, am Theoretischen und Praktischen, an der Person und am Sozialen, am Realen und am Idealen, an der Methode empirischer Forschung und der Introspektion usw. gleichzeitig festhält. Er bedient sich dabei mathematischer Vorstellungsweisen: „ E i n Gesetz drückt man in einer Gleichung aus, die bestimmte Variable miteinander verbindet. Individuelle Unterschiede sind als bestimmte, v o n einander unterschiedene W e r t e zu begreifen, die diese Variablen in einem konkreten Fall annehmen" (Feld, S. 276).

Lewins Formel für die Bedingungen des Verhaltens: V = F (P, U) = F (L) ist ein Beispiel für ein Gesetz in diesem Sinne (s. o. S. 41). Setzt man in die Variablen dieser Formel die f ü r den Einzelfall charkateristischen Situationsfaktoren ein, so ergibt sich die Anwendung für den konkreten Fall (Grundzüge, S. 31). Im Sinne solcher Gesetze würde es möglich sein, eine unendliche Anzahl von Konstellationen zu bilden, wobei jede einzelne einem individuellen Fall entsprechen würde 4 0 . Das Gesetz steht hier für empirische Beziehungen im geschichtlichsozialen Raum, welche zwischen Person und U m w e l t im Sinne wechselseitiger Bedingtheit wirksam sind. Es sagt etwas aus über den Prozeß geschichtlich-sozialer Verwirklichung, nicht über Wesen und Sein des Menschen. Lewin gibt keine sozialphilosophische Interpretation menschlicher Wirklichkeit. Die Feldtheorie ist für ihn „praktisches Forschungsinstrument" zur Erklärung konkreter Situationen von Personen und Gruppen im geschichtlich-sozialen Prozeß. Dabei gibt er sich Rechenschaft über die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, welche in dieser Verfahrensweise enthalten sind. Die festgestellten Gesetzmäßigkeiten sind im experimentellen U m g a n g mit der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit gewonnen und nur gültig unter den Bedingungen dieses Umgangs, die sowohl im Subjekt als auch im Objekt und deren beiderseitigem Verhältnis liegen (s. o. S. 223 f.). Lewin weist den Vorwurf zurück, als ob die Sozialwissenschaften not230

wendig eine „sozialwissenschaftliche Technokratie" heraufführen würden. Diese Furcht sei in dem Mißverständnis dessen begründet, was im sozialwissenschaftlichen Sinne unter einer Gesetzmäßigkeit zu verstehen sei (Lösung, S. 294). Sie meine eine Wenn-Dann-Beziehung, die hypothetische Bedingungen mit hypothetischen Folgen verknüpft, die jeweils von der Wirklichkeit selbst verifiziert werden müssen. Daher kann ein sozialwissenschaftliches Gesetz dem einzelnen weder die Diagnose der konkreten Situation abnehmen, noch weniger irgendeine Maßnahme im Blick auf sie vorschreiben. Es kann nur eine Hilfe zu beidem sein. Allerdings kann der rechte Gebrauch der Sozialwissenschaften genauso wenig verfügbar gemacht werden wie der rechte Gebrauch der Naturwissenschaften (Lösung, S. 294f.). Die Sozialwissenschaft will gerade nicht die personale Verantwortung vor der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit nehmen, sondern zu ihrem rechten Verstehen und zum rechten Umgang mit ihr anleiten. Der Mensch steht immer in Wechselwirkung mit geschichtlich-sozialen Situationen, die von einer Vielheit von Faktoren „determiniert" werden. Darin sind gleichzeitig die Bedingtheit und Freiheit seiner geschichtlichen Existenz und seine Verantwortung begründet.

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Kapitel VI

Z U R D I S K U S S I O N U M DIE L O G I K DER

SOZIALWISSENSCHAFTEN

a) Zum Verhältnis von Geschichts- und Sozialwissenschafien In dem Bemühen der empirischen Wissenschaften, einen eigenständigen Erkenntniszugang zur geschichtlich-sozialen Wirklichkeit zu finden, geht es vor allem um ihre Begriffs- und Theorienbildung und die damit zusammenhängenden Fragen sozialwissenschaftlicher Logik. Eine Theorie, wie sie Lewin vorlegt, wird heute trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen allgemein in den Wissenschaften gefordert. Alle Probleme der Feldtheorie, wie z. B. Gegenstand und Erkenntnismöglichkeiten der Sozialwissenschaften, ihre Verfahrensweisen, die Basis, Art und Bedingtheiten ihrer Aussagen, ihre Leistungsfähigkeit, die Forderungen an ihre Begriffsund Theorienbildung, ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften und zur Philosophie und anderes mehr stehen noch immer im Zentrum der Diskussion, der wir uns jetzt zuwenden möchten. Indem die Sozialwissenschaften nach der Empirie fragen, treten sie in Auseinandersetzung mit den Wissenschaften und Philosophien, die sich in ihren Aussagen auch auf diese beziehen. Eine der wichtigsten Fragen hinsichtlich des Zugangs zur Analyse der geschichtlich-sozialen Lebenswelt richtet sich auf das Verhältnis der von den empirischen Sozialwissenschaften analysierten Ausschnitte des geschichtlich-sozialen Prozesses zum gesamten Prozeß. Vielfach wird der Einwand erhoben, daß die Sozialwissenschaften die umgreifenden Z u sammenhänge von Geschichte und Gesellschaft nicht berücksichtigen 1 , sich mit der „Beschreibung momentaner Zustände" begnügen 2 , mit ihren Theorien „zum geschichtlichen Traditionszusammenhang gleichsam quer" stehen und somit die Gegenwart verabsolutieren 3 . Dieser Einwand entspricht weithin dem Selbstverständnis der Soziologie, das Schelsky als Ausdruck der allgemeinen Geschichtslosigkeit der modernen Gesellschaft charakterisiert: die von ihrer Tradition emanzipierte Gesellschaft schafft sich in den Natur- und Sozialwissenschaften das technische Instrument ihrer Gestaltung 4 . Aber man wird hier genauer differenzieren müssen. Das Verhältnis der Sozialwissenschaften zur Geschichte und somit auch das Verhältnis von Sozial Wissenschaften und historischen Wissen232

schaften ist bis heute umstritten. Die Skala der Positionen reicht von einer völligen Indifferenz gegenüber der Geschichte bis hin zu einer Auffassung, welche nur eine historisch orientierte Kultursoziologie als Soziologie gelten lassen will 5 . Mit dieser Diskussion verbindet sich zugleich der Methodenstreit zwischen analytischer Erfahrungswissenschaft und historischhermeneutischer Wissenschaft, der es um die Aneignung von tradierten Sinnzusammenhängen geht6. Angesichts der Fülle der Aspekte, welche die Diskussion beherrschen, möchten wir von der Frage ausgehen, ob nicht die Kritiker der empirischen SozialWissenschaften mit ihrer Betonung der „übergreifenden Zusammenhänge" und der „Totalität der Geschichte" ein Geschichtsbild meinen, in welches sie den Menschen der Gegenwart und seine konkrete Lebenswelt mittels deduktiver Ableitungen aus Vergangenheit oder Z u kunft einzuordnen bemüht sind. Damit soll nicht gesagt sein, daß eine Sinndeutung der Geschichte keine Aufgabe philosophischen Denkens sein könne. Aber Geschichtsphilosophien können nicht das Kriterium empirischer Forschung sein. Es geht hier um die Freiheit der SozialWissenschaften gegenüber einer Umklammerung durch geschlossene Geschichtsbilder, wie sie unabdingbare Voraussetzung der Forschung ist7. Ihr Standort ist „innerhalb" der geschichtlichen Wirklichkeit der Gegenwart und kann nur von diesem Zusammenhang her beurteilt werden. Wenn Habermas meint, daß in den Sozialwissenschaften „die Geschichte auf eine Ebene universeller Gleichzeitigkeit projiziert und so ihres eigentlichen Geistes beraubt" wird (a.a.O., S. 20), so muß man dem entgegenhalten, daß beispielsweise das „feldtheoretische Prinzip der Gleichzeitigkeit" die Perspektiven der Vergangenheit und Zukunft als Wirkfaktoren des gegenwärtigen Feldes einschließt und gerade nicht Konsequenz einer indifferenten Haltung gegenüber der Geschichte ist. Der Ansatz bei der „Ganzheit der gegenwärtigen Situation" ist Ausdruck eines Wirklichkeitsverständnisses, das die Geschichte vom Menschen her sieht: wie die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, ist abhängig vom Denken, Verhalten und Handeln des Menschen selbst und der Weise, wie er in der konkreten Situation steht (s. o. S. 222). Die Dimension der Geschichte dient zur Erhellung der gegenwärtigen Situation, umgreift diese aber nicht als interpretativer Rahmen. Die Frage, wie sich das Ganze zu den Teilen verhält, die „Totalität" von Gesellschaft und Geschichte zu den empirisch zugänglichen Situationen, wird uns noch in einem späteren Zusammenhang beschäftigen (s. u. S. 2 j o f . und S. 286). Hier geht es uns zunächst um das Problem des Historismus in den Wissenschaften vom Menschen8. Es ist die Aufgabe 233

der empirischen Sozialwissenschaften, gegenwärtiges Geschehen in seinen konkreten geschichtlich-sozialen Bedingungszusammenhängen zu untersuchen 9 . W e n n man ihren Ansatz insofern mit Recht

„ahistorisch"

nennen kann, so ist er doch nicht „ungeschichtlich". D a b e i ist allerdings vorausgesetzt, daß „geschichtliches" D e n k e n nicht identisch ist mit der Frage nach der kausalen Bedingtheit der G e g e n w a r t durch die V e r g a n g e n heit (s. o. S. 221). Einem solchen Mißverständnis Hegt zumeist die Identifizierung v o n Geschichte mit „ V e r g a n g e n h e i t " zugrunde, w i e sie für das Geschichtsbild des Historismus typisch ist 10 . Das P r o b l e m , u m das es hier geht, ist letztlich nicht mit der Alternative „ungeschichtlich - geschichtlich" zu fassen, sondern stellt sich als Frage nach d e m Verhältnis v o n V e r gangenheit, G e g e n w a r t und Z u k u n f t . Historische Wissenschaft ist primär Vergangenheitswissenschaft 1 1 ,

Sozialwissenschaft

primär

Gegenwarts-

wissenschaft12. Insofern ist ihr Z u g a n g zur Geschichte und ihr Ausgangspunkt ein anderer. D i e historische M e t h o d e setzt bei der Erforschung v e r gangener Geschichte ein, die empirische M e t h o d e bei der Analyse der Gegenwart. U n t e r d e m Aspekt der historischen M e t h o d e w i r d die G e g e n w a r t weithin als Durchgangspunkt einer historischen E n t w i c k l u n g gesehen, die empirische M e t h o d e trifft auf die Geschichte als T i e f e n dimension der gegenwärtigen Situation. Beide jedoch stehen in Bezieh u n g zur jeweiligen Z u k u n f t des Menschen. W i r finden diese Frage nach der Z u k u n f t z. B . bei D i l t h e y als einem der großen Exponenten der historischen B e w e g u n g . A u s der Analyse der vergangenen geschichtlichen Entwicklung sollen nach seiner Auffassung die Kräfte freigelegt werden, welche die Z u k u n f t gestalten 1 3 . In ähnlicher W e i s e hat O r t e g a y Gasset die historische Fragestellung dahingehend beschrieben, daß es d e m Menschen in seiner Beschäftigung m i t der Vergangenheit u m die Z u k u n f t geht 1 4 . So kann er die V e r g a n g e n heit als eine „Funktion der Z u k u n f t " bezeichnen (S. 26). Sie ist f ü r ihn „das einzige Arsenal, das uns die Mittel liefert, unsere Z u k u n f t zu g e stalten" (S. 22f.). D a d u r c h w i r d aber das Verhältnis wechselseitiger B e zogenheit v o n Vergangenheit und Z u k u n f t verschoben zugunsten der Vergangenheit 1 5 . B e i Dilthey ist der V o r r a n g der Vergangenheit durch die V e r b i n d u n g der für das „Verstehen des Lebens" entscheidenden K a t e gorie der „ B e d e u t u n g " m i t der Kategorie der „ E r i n n e r u n g " gegeben. D i e einzelnen M o m e n t e w e r d e n nicht durch Summierung z u m Ganzen des Lebens verbunden, sondern durch ihren

„Bedeutungszusammen-

h a n g " , das ist, der einzelne M o m e n t hat Bedeutung durch seine V e r k n ü p f u n g mit dem Ganzen, in w e l c h e m er W i r k u n g ausübt. D a sich die Bedeutung eines Geschehens aber nur in der Erinnerung enthüllt und da die Erinnerung i m m e r auf vergangenes Geschehen bezogen ist, b e k o m m t 234

die Vergangenheit die Priorität vor Gegenwart und Zukunft und im Blick auf das Verstehen des Lebens sogar eine ausgezeichnete Stellung 16 . Für den Vollzug historischer Forschung bedeutete das, daß sich die Frage nach der Vergangenheit vor die Frage nach der Zukunft stellte und diese im Rahmen einer vergangenen geschichtlichen Entwicklung gesehen wurde. Die Institutionalisierung und die Spezialisierung der historischen Forschung (Mommsen, in: Besson, S. 97) förderten diese Entwicklung, durch welche die Beschäftigung mit der Vergangenheit ein immer stärkeres Eigengewicht erhielt und ihre ursprüngliche Beziehung zur Frage nach der Zukunft immer mehr verlor. Daß die Erforschung der Geschichte zu einer immer einseitigeren Frage nach der Vergangenheit wurde, sehen wir gleichzeitig auch darin begründet, daß die Geschichtswissenschaft in Abhängigkeit von philosophischer Anthropologie stand und im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen des Menschen und der Bedeutung seines historischen Bewußtseins gesehen wurde. Ortega y Gasset gibt der philosophischen Anthropologie des Historismus in zugespitzter, aber folgerichtiger Weise Ausdruck, indem er meint, daß wir den wirklichen Menschen erst erfassen, wenn wir ihn als eine Gleichung aus Vergangenheit und Zukunft betrachten lernen (S. 24). Für Dilthey wurde die aus dem Nachdenken über die Geschichte erwachsene Einsicht, daß nur die Geschichte dem Menschen sagen könne, was er sei, zur Grundlage seines ganzen Werkes 17 . Kennzeichnend für seine Intention ist eine Bemerkung aus dem Jahre 1865, daß die Frage nach dem Wesen des Menschen weder in einer Anthropologie zu finden sei, welche das empirische Dasein des einzelnen zum Gegenstand habe, noch in einer Morallehre, die sich mit der Frage des Sollens beschäftigt, sondern „in der philosophischen Geschichte, welche das Leben der menschlichen Gattung selbst zu ihrem Objekt hat" 1 8 . Diese Bindung an die Fragestellung einer philosophischen Anthropologie verhindert jedoch bei Dilthey die explizite Entfaltung des Bezuges der Analyse geschichtlicher Vergangenheit zur geschichtlichen Gegenwart 19 . Der Bezug des Denkens zur Gegenwart erscheint in eigentümlichem Zwielicht. Einerseits ist die Gegenwart das „einzig Reale in der Zeit" 2 0 , andererseits hat sie keine Ausdehnung (VI, S. 315) und ist als solche nur in der Vermittlung über Vergangenheit und Zukunft erfahrbar 21 . Die Vergangenheit erhält ihre überragende Bedeutung von daher, daß der Mensch keinen anderen Weg zum Verstehen seiner selber hat als durch die Analyse vergangener geschichtlicher Objektivationen, in denen er sich selbst verwirklicht hat. Zwar öffnete Dilthey dem Denken des Menschen einen neuen Zugang zum Verstehen geschichtlichen Lebens in sei-

235

ner Vieldimensionalität und nahm es in Schutz vor dem rationalen Zugriff einer spekulativen philosophischen Vernunft, welche die Geschichte im Begriff auflöste (vgl. Bollnow, S. I4f., 2öf., 91). In seinem Denken vollzog sich eine Öffnung zur Empirie hin im Sinne geschichtlichmenschlicher Wirklichkeit 22 . Aber es blieb in Abhängigkeit von der Frage nach dem Wesen des Menschen und führte nicht zur Frage nach dem Menschen der Gegenwart in seinen geschichtlich-sozialen Bezügen. Dieser Ansatz hatte zur Folge, daß Dilthey den Bezug seiner historischen Forschung zur eigenen Gegenwart nicht kritisch reflektierte und die geschichtlich-soziale Bedingtheit seiner eigenen Fragestellung nicht zu Gesicht bekam (vgl. Mommsen, in: Besson, S. 97f.). So blieb ihm die „Geschichtlichkeit" des von ihm analysierten Phänomens des historischen Bewußtseins in seinem erkenntniskritischen Aspekt verschlossen. Die Diskrepanz zwischen dem „historischen Bewußtsein" und dem „Verstehen geschichtlicher Wirklichkeit" im Historismus hängt weitgehend damit zusammen, daß die Frage nach der Geschichte als einem gegenwärtigen Geschehen in zunehmendem Maße verlorenging 23 . Letztlich lag darin eine Inkonsequenz des historischen Denkens selbst. Indem man alle Anstrengungen darauf richtete, die Vergangenheit aus ihren eigenen Voraussetzungen geschichtlich zu verstehen (Mommsen, ebd.), versäumte man, in derselben Weise nach den eigenen Voraussetzungen der geschichtlichen Gegenwart zu fragen. Das führte zu einem zeitlosen Verstehen vergangener Strukturen und damit verbundenen Verabsolutierungen. Das historische Denken war auch darin nicht konsequent, daß es im Rückblick auf die Vergangenheit die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz in allen ihren kulturellen Äußerungen zur Darstellung zu bringen versuchte, sich jedoch nicht kritisch Rechenschaft gab über die Bedeutung dieser Geschichtlichkeit des eigenen Denkens und Fragens in der historischen Forschung selbst (vgl. Besson, a.a.O., S. 104). Der Verlust des Bezuges zur geschichtlichen Gegenwart wirkte sich erkenntnistheoretisch dahingehend aus, daß man den Ort der historischen Fragestellung in den konkreten geschichtlichen Zusammenhängen der Gegenwart nicht mehr wahrnahm und das eigene wissenschaftliche Verfahren nicht mehr kritisch durchdachte (vgl. Mommsen, in: Besson, S. 97f.). Dieses jedoch trug zu einem falschen Begriff von historischer Objektivität bei. Gegenüber diesen Aporien des Historismus ist die heutige Problemsituation weithin durch die Forderung erkenntnistheoretischer Verwurzelung der Geschichtswissenschaft in der Gegenwart und die Ablehnung ge236

schichtsphilosophischer Umklammerung gekennzeichnet24. An die Stelle des „Museums unverbindlicher Vergangenheiten" tritt die Auswahl des Stoffes nach dem Kriterium des für die Gegenwart Bedeutungsvollen : „Geschichte ist... die sich ihres geschichtlichen Werdens bewußt werdende Gegenwart" (Mommsen, a.a.O., S. 81). Die Vergangenheit als Gegenstand der Geschichtswissenschaften ist nicht als unabhängiges Gegenüber objektivierbar, sondern unterliegt ständiger Verwandlung entsprechend der Veränderung gegenwärtiger Wirklichkeit und des Menschen in ihr mit seinen Interessen, Verhaltensweisen usw. 25 Cassirer z. B . machte in seiner Beschäftigung mit der Wissenschaftsgeschichte und einer vergleichenden Wissenschaftslehre den geschichtlichen Charakter der Wissenschaften selbst und seine erkenntnistheoretischen Konsequenzen zum Gegenstand seiner Untersuchungen26. Er betont in seinem Werk „Der Mensch", in welchem sich der Ertrag seiner Forschungen zuspitzt, die Bedeutung dessen, daß alles historische Wissen die „Grenzen seiner Gegenwartserfahrung" nicht überschreiten kann (S. 226). Historische Erkenntnis beginnt mit dem Studium der „Spuren der Vergangenheit" in der Gegenwart und ist selbst Ergebnis einer Fragestellung, die ihren Ort in der Gegenwart hat und „von ihr diktiert ist" (S. 224ff.). Zwar ist der Wert historischer Erkenntnis für das Verstehen der Gegenwart und der Verantwortlichkeit für die Zukunft nicht zu leugnen. Aber der Mensch hat keinen Einfluß auf seine Zukunft ohne die Kenntnis seiner geschichtlichen Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft erscheinen als Dimensionen der Gegenwart, welche sich mit dem Wechsel ihres Standortes perspektivisch verändern. Verstehen von Geschichte ist verknüpft mit dem Verstehen des konkreten Menschen und seiner Welt (vgl. S. 226fF.). Diese Gegenwartsbezogenheit der historischen Forschung ist nicht das Gegenteil, sondern gerade der Ausdruck ihrer Objektivität, insofern sie das kritische Bewußtsein um den Standort der eigenen Fragestellung impliziert und gleichzeitig die eigentliche Motivation der Frage nach vergangener Geschichte ist (vgl. Mommsen, a.a.O., S. 79ff.). Wenn aber die historische Forschung an das Erkennen der konkreten geschichtlichen Zusammenhänge der Gegenwart gebunden ist, bedeutet das letztlich, daß die Vergangenheitswissenschaft nur im Gespräch mit der Gegenwartswissenschaft den Kriterien historischer Objektivität entsprechen kann 27 . Sie muß sich im Lichte derselben hinsichtlich ihres eige237

nen Vorgehens kritisch reflektieren. Die Erfahrungen des Umgangs mit gegenwärtiger Wirklichkeit können in besonderer Weise in den empirischen Wissenschaften vom Menschen systematisch und erkenntnistheoretisch durchdacht werden, da diese mittels Beobachtung und Experiment dem zu erforschenden Geschehen unmittelbarer begegnen können, während sich die historische Wissenschaft auf die Analyse von Texten bezieht28. Die empirischen Sozialwissenschaften haben es letztlich mit Erkennen von Geschichte in statu nascendi zu tun. Die Bedeutung dieses von den empirischen Sozialwissenschaften gewonnenen Zugangs zur geschichtlichen Wirklichkeit für die Grundlagen der neueren Geschichtswissenschaft ist bereits unverkennbar. Das zeigt sich z. B . in der Zuwendung der Geschichtswissenschaft zu den Phänomenen der Gesellschaft und der Stellung des Menschen in der Komplexität ihrer Zusammenhänge, während für die frühere Forschung die Dimensionen der Staaten- und Ideengeschichte und die historische Individualität konstitutiv waren 29 . Besson kann sogar sagen, daß die Geschichtswissenschaft in ihrer modernsten Gestalt als „Strukturwissenschaft" immer mehr zu einer Dimension allgemeiner sozialwissenschaftlicher Erkenntnis wird (in: Krise, S. 133). Es werden auch in zunehmendem Maße sozialwissenschaftliche Methoden in die historische Forschung selbst übernommen 30 . Umgekehrt muß aber auch die Frage nach der Bedeutung der Geschichtswissenschaften für die Sozialwissenschaften'gestellt werden. Wir müssen bedenken, daß wir den Weg der Geschichtswissenschaften bereits über eine größere Strecke hinweg beurteilen können als den Weg der Sozialwissenschaften. Die Möglichkeiten des Denkens hinsichtlich der Erforschung der unmittelbaren geschichtlich-sozialen Lebenswelt sind in der heutigen Situation noch wenig erkennbar. Wie das Denken den Zugang zur vergangenen Geschichte verstellen und zur Quelle falscher Geschichtsbilder werden kann 31 , so kann es auch gegenwärtige Wirklichkeit durch falsche Gegenwartsbilder verfälschen und dadurch dem Menschen seinen Weg in die Zukunft versperren. An die Stelle eines „historischen Bewußtseins", das von einem zeitenthobenen Standort aus die geschichtlichen Entwicklungen zu übersehen glaubte, ist heute vielfach ein ähnlich geartetes „soziologisches Bewußtsein" mit zeitlosem Selbstverständnis getreten32. Darum bedarf die Sozialwissenschaft des Gespräches mit einer Geschichtswissenschaft, welche bemüht ist, die Diskrepanz zwischen „historischem Bewußtsein" und „Geschichtlichkeit des Denkens" durch die Entdeckung der Rückbezogenheit ihrer Fragestellung auf die geschichtliche Gegenwart zu 238

überwinden. Ein fehlendes Gespräch könnte die Sozialwissenschaft dazu verleiten, gegenwärtiges Geschehen zeitlos zu verstehen, seine geschichtliche Bedingtheit im positivistischen Sinne zu überspringen und so „Bestehendes" zu zeitloser Norm zu erheben. Das Verständnis der eigenen Lebenswelt ist nur möglich in der Auseinandersetzung mit fremden Lebenswelten, wie sie in einer Vergangenheitswissenschaft zur Darstellung kommen. Es ist darum nötig, daß die Sozialwissenschaften und die Geschichtswissenschaften in ein intensives Gespräch miteinander treten, in welchem sie beide voneinander lernen, ohne die Eigenart ihrer jeweiligen Aufgabenstellung dabei aufzugeben. Die Verantwortung der empirischen Sozialwissenschaft läge dabei darin, den Zugang zur geschichtlichen Gegenwart offenzuhalten und der Geschichtswissenschaft die kritische Reflexion auf den Ort und Bezug ihrer Fragestellung zu ermöglichen. Die Verantwortung der Geschichtswissenschaft läge darin, die Dimension der Vergangenheit offenzuhalten und der Sozialwissenschaft die kritische Reflexion auf die Geschichtlichkeit ihrer Fragestellung und der von ihr analysierten Strukturen auf dem Hintergrund vergangener geschichtlicher Situationen zu ermöglichen33. Für beide Seiten ist das Gespräch nötig, da die Erhellung vergangener und gegenwärtiger Geschichte sich gegenseitig bedingen: „Geschichte ohne Soziologie ist blind, Soziologie ohne Geschichte ist leer«."

Die Frage, wie das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Geschichtswissenschaften wissenschaftstheoretisch und methodisch zu bestimmen ist, gehört zu den am meisten umstrittenen Punkten der gegenwärtigen Diskussion. Kraft betont, daß auch die Geschichtswissenschaft eine exakte Wissenschaft ist. Das „Verstehen" im Sinne eines intuitiven Erfassens und schöpferischen Nacherlebens könne nicht spezifischer Erkenntnisweg historischer Forschung sein, sondern hier wie in allen anderen Wissenschaften nur die - allerdings sehr wichtige - Bedeutung heuristischer Ideen haben. Auch die Geschichtswissenschaften müssen logisch schlüssige Hypothesen und Theorien bilden und diese durch empirische Daten überprüfen, wobei es sich bei diesen Daten um Quellenmaterial aus der Vergangenheit handelt35. Popper unterscheidet die theoretischen oder generalisierenden Wissenschaften, zu denen auch die Sozialwissenschaften gehören, von den historischen Wissenschaften36. Während die theoretischen Wissenschaften nach allgemeinen Gesetzen fragen, ist die Geschichtswissenschaft 239

durch ihr „Interesse für tatsächliche, singulare, spezifische Ereignisse" gekennzeichnet37. Diese versucht sie kausal zu erklären, wobei sie die allgemeinen, zumeist selbstverständlichen Gesetze als Grundlage der Kausalerklärung voraussetzt, das ist, sie schließt mit Hilfe allgemeiner soziologischer, psychologischer und naturwissenschaftlicher Sätze im Rahmen einer gewissen „Situationslogik" von einem Ereignis auf dessen mögliche Ursache. Hinsichtlich der Kausalerklärung kann man nach Popper mit gewissen Einschränkungen eine methodische Einheit von theoretischen und historischen Wissenschaften feststellen. Unter kausaler Erklärung eines spezifischen Ereignisses versteht er, daß ein Satz, der dieses Ereignis beschreibt, aus zwei Arten von Prämissen abzuleiten ist: a) aus universalen Gesetzen, b) aus singulären Sätzen oder „Randbedingungen", die sich auf das spezifische Ereignis beziehen. Aus a) kann mit Hilfe von b) die Schlußfolgerung oder Prognose deduziert werden. Die „Randbedingungen" bzw. die durch sie beschriebene Situation meinen die Ursache des Ereignisses, die Prognose, bzw. das durch sie beschriebene Ereignis, bezeichnet man als die Wirkung 38 . Daraus folgt, daß ein Ereignis die Ursache eines anderen Ereignisses nur im Blick auf ein universales Gesetz ist 39 . Während die theoretischen Wissenschaften vor allem an der Entdeckung und Prüfung allgemeiner Gesetze interessiert sind und die Kausalerklärung einzelner Ereignisse vorwiegend zum Zweck der Prüfung von Hypothesen verwenden, interessieren sich die historischen Wissenschaften für diese Erklärungen selbst und damit für die spezifischen „Randbedingungen" der Ereignisse (vgl. Elend, S. 1 1 2 ff.). Besondere „historische Entwicklungsgesetze" gibt es nicht, sondern nur „historische Trends" oder Tendenzen40. Diese bieten wegen ihrer Einzigartigkeit keinen „Gesichtspunkt für die Geschichte". Auch die allgemeinen Gesetze, welche die historische Erklärung verwendet, können wegen ihrer Selbstverständlichkeit keinen Gesichtspunkt liefern. Angesichts der Fülle der Ereignisse und kausalen Verknüpfungen ist ein solcher jedoch dringend nötig. Die Lösung dieser Problematik liegt nach Popper allein darin, daß der Mensch selbst diesen Gesichtspunkt einführt, indem er die Geschichte schreibt, die ihn interessiert, z. B . unter der Fragestellung, in welcher Beziehung unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten zur Vergangenheit stehen (vgl. Gesellschaft II, S. 327 fr.). Solche historischen Interpretationen genügen den Kriterien der Objektivität, insofern man sich seines Gesichtspunktes bewußt ist und - soweit als möglich - mit prüfbaren Hypothesen zu arbeiten versucht. Dieses Verständnis historischer Interpretation ist darin begründet, daß die Menschen die Tatsachen der Geschichte auswählen und ordnen - nicht aber, wie es 240

gewisse Geschichtsphilosophien meinen, die „Geschichte selbst" oder ihre „inhärenten Gesetze" den Menschen, seine Zukunft und seinen Gesichtspunkt bestimmen (a.a.O., S. 332,f.). Dieser Position ist vom Standpunkt hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Denkens scharf widersprochen worden. So hat Habermas den Thesen von Popper seine „dialektische Theorie der Geschichte" gegenübergestellt, wonach alle Einzelerscheinungen von der „Totalität" der Geschichte abhängen und von daher verstanden werden müssen 41 . Die Theorie ermittelt historische Gesetzmäßigkeiten, die Habermas definiert als „fundamentale Abhängigkeitsverhältnisse, von denen . . . eine soziale Lebenswelt als eine Totalität bestimmt ist", bzw. als „Bewegungen, die sich, vermittelt durch das Bewußtsein der handelnden Subjekte, tendenziell durchsetzen" (a.a.O., S. 163 f.). Insofern diese Gesetze den „objektiven Sinn" eines Lebenszusammenhanges aussprechen und somit das „Sinnverständnis" konstitutiv ist, kann das wissenschaftliche Verfahren nur hermeneutisch sein (ebd.). Auch die historischen Wissenschaften haben Sinnzusammenhänge zu entfalten (Ph. R. 1967, S. 39). Jedoch will Habermas über eine nur „subjektiv sinnverstehende Hermeneutik" hinausgehen zu einer „objektiv sinnverstehenden Theorie", welche an den Sinn anknüpft, wie er im „objektiven Geist" einer sozialen Lebenswelt zum Ausdruck kommt. Dazu will er auch die erfahrungswissenschaftlichen Methoden aufnehmen 42 . Die Möglichkeiten einer derart „objektiven Hermeneutik" sind vom erfahrungswissenschaftlichen Standpunkt kritisch in Frage gestellt worden 4 3 . Beispielsweise ist die Frage, wie jene Gesetze zu ermitteln seien, nicht beantwortet worden. Die hier aufbrechenden und noch keineswegs gelösten Probleme weisen auf die Aporien einer sinndeutenden Geschichtsund Gesellschaftsphilosophie hin, welche zugleich die Ergebnisse empirischer Forschung in ihr System integrieren möchte.

b) Gesellschaftsphilosophie und sozialwissenschaftliche Theorie Schelsky hat in seiner „Ortsbestimmung der deutschen Soziologie" von 1959 die Situation der deutschen Sozialforschung durch das Dilemma charakterisiert, in welches sie durch ihre doppelte Bestimmung als „empirische Funktionswissenschaft" und „sozialphilosophische Deutungswissenschaft" geraten sei:,,... in diesem Dilemma gilt es, ihren W e g und ihre Aufgabe zu bestimmen" (S. 18). Ihren Charakter als empirische Funktionswissenschaft habe sie hauptsächlich nach dem Vorbild der amerikanischen Soziologie entwickelt, deren verschiedene Spezialge241

biete durch die „strukturell-funktionale analytische Theorie" zusammengehalten würden (S. 20). Gegenüber der Tendenz, in dieser Bestimmung die einzige Aufgabe der Soziologie zu sehen, geht es Schelsky in Auseinandersetzung mit König um die wissenschaftliche Begründung einer philosophischen Soziologie im Sinne einer „transzendentalen Theorie der Gesellschaft" 44 . Er versteht sie als Fortsetzung und zugleich Kritik der besonderen deutschen Tradition der Soziologie mit ihrem unaufgebbaren Anspruch, „eine sozial-, kultur- und geschichtsphüosophische Deutungsaufgabe wissenschaftlich zu erfüllen" (vgl. S. 18). Schelsky sieht die Funktion der philosophischen Soziologie oder transzendentalen Theorie der Gesellschaft darin, die Bedingungen des soziologischen Denkens und der sozialen Wirklichkeit zu reflektieren (S. 95), bzw. „Sinn und Grenzen des Sozialen und des soziologischen Denkens zu bestimmen" (S. 96) und somit eine „Erkenntnistheorie der Soziologie" zu hefern (S. 108). Die mögliche Erfüllung dieser ihrer Aufgabe umschreibt er u. a. durch folgende Formulierungen: sie hat die soziologischen Grundkategorien „aufzuschließen für die Einsicht der darin hegenden sozialen Entscheidungen, Seinsformen, und damit Wert- und Sinngebungen nicht nur des Sozialen, sondern des menschlichen Lebens überhaupt" (S. 9öf.), „einen Standpunkt und ein Denkprinzip" zu gewinnen, „die außerhalb der als Soziologie definierten Sinnebene liegen", und sich dadurch vom soziologischen Denken zu befreien (S. 98), die „soziologischen Denkprinzipien und Grundbegriffe ... sinnkritisch zu überprüfen", eine „Sinndeutung der Gesellschaft" bzw. eine „Sinngebung des Sozialen" zu geben 45 , eine „systematisch-theoretische Reflexion über das zentrale Sinnthema unserer Epoche . . . , soweit dies das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft betrifft", vorzulegen (S. 104), eine Art „Lebensbilanz der sozialen Erfahrung . . . einer ganzen Generation und Epoche" zu ziehen (S. 84ff.). In diesen Umschreibungen der Aufgabe einer „transzendentalen Theorie der Gesellschaft" geht es dem Schwerpunkt nach um eine Sinn-, Werteund Normproblematik im philosophischen Verständnis. Zwar betont Schelsky im Gegensatz zur „Kultur- und Zeitkritik" zunächst die erkenntniskritische und rein transzendentale Funktion der philosophischen Soziologie (S. 95), aber indem er sie mit der sinnkritischen unmittelbar verbindet (vgl. S. 99f.), wird letztlich die erkenntnistheoretische Aufgabe in einer sozialphilosophischen aufgehoben. Die „Wissenssoziologie", die dem „Drang zu immer größerer Exaktheit der empirischen Faktenerhebung und -analyse" Vorschub leistet (S. 96), wird als Reduktionstheorie angesehen, während es der transzendentalen Theorie um die 242

Durchführung einer „sinnkritischen und d. h. auch wertenden Reflexion des sozialen Gesamttatbestandes" geht (S. 99). Die Problematik der „transzendentalen Theorie" zeigt sich darin, wie die „formale" mit der „materiellen" Aufgabe verknüpft wird: den transzendentalen Standort der Freiheit von der Soziologie kann die Theorie nur gewinnen, „wenn die Freiheit des Menschen von der Gesellschaft zum materiellen Thema der Theorie selbst wird" 4 6 . Schelsky definiert dieses Thema genauer als „die Subjektivität und die Institutionen" (S. 105). Seine transzendentale Theorie hat also das Dilemma des Individuums in den sozialen Zwängen der Gegenwart vor Augen 47 . Es geht ihm dabei um ein neues Verständnis der Antinomie von Individuum und Gesellschaft, wie sie die Sozialphilosophien des 19. Jahrhunderts beherrschte (S. 105 f.). Das „Problem der transzendentalen Theorie" müßte entfaltet werden in Richtung einer Bestimmung dessen, „was sich im Menschen zu seinen sozialen Rollen verhält oder was in ihm den von der Psychologie entdeckten Gesetzlichkeiten . . . gegenübersteht" (S. 107). Schelsky weist darauf hin, daß es sich dabei nicht um die Frage handelt, wie sich die Abstraktionen vom Menschen in der Soziologie zum wirklichen und ganzen Menschen der Erfahrung verhalten48. Er will zwar seinen Ansatz einer „Sinndeutung der Gesellschaft" unterschieden wissen von einer „analytisch-empirischen Systematik" einerseits und einer „synthetischen Ordnungsexplikation" im Sinne politischer Wissenschaft andererseits (S. 100). Gleichzeitig jedoch versteht er sie als „unentbehrlichen . . . Bestandteil der Soziologie" (S. 104). Er hält die „Theorie der Gesellschaft" für das „Ziel der Empirie" (S. 84). Der Sozialwissenschaftler hat die Empirie als den Bereich der Anschauung und Erfahrung zu durchschreiten, um zur Grundlegung der Theorie zu kommen (ebd.). Diese entscheidet letztlich über Sinn, Wert und Bedeutung empirisch-soziologischer Fakten (vgl. S. 96 f.) und gibt das „Denkprinzip" außerhalb der soziologischen Sinnebene an die Hand, mit dem die empirische Soziologie dann arbeiten kann (S. 98). Damit wäre aber die empirische Sozialwissenschaft faktisch wieder in die Abhängigkeit von einer Sozialphilosophie gebracht. Es ist zu fragen, ob hier nicht die Begriffe der sozialwissenschaf thchen Theorie, die nur Werkzeugcharakter haben können, letztlich im Sinne einer philosophisch-anthropologischen Sinn- und Wesensproblematik interpretiert werden, anstatt auf die geschichtlich-soziale Wirklichkeit hin befragt zu werden, die sie bezeichnen sollen. Die eigentlich erkenntnistheoretische Aufgabe, die Prüfung, wie das geschehen könnte, wäre dadurch verdeckt 49 . Somit bestätigt sich die Forderung Königs, daß „sozialwissenschaftliche 243

Theorie" und „Theorie der Gesellschaft" zu unterscheiden sind und daß nur die erstere zur „Wissenschaft von der Gesellschaft" gehört, die letztere jedoch in den Bereich der Sozialphilosophie: „In Wahrheit sind . . . beide Denksysteme sowohl dem Ansatz nach als auch der Funktion nach völlig verschieden 50 ."

König sieht die Notwendigkeit dieser Differenzierung und der mit ihr verbundenen Forderung einer klaren Trennung von Sozial Wissenschaft und Sozialphilosophie darin begründet, daß die empirische Forschung und die Philosophie verschiedene Zugänge zur gesellschaftlichen Wirklichkeit haben (vgl. Handbuch, S. 10 und 12). Die empirische Forschung kann sich von der Philosophie anregen lassen und sie als Quelle von Hypothesen benutzen, darf aber nicht in Abhängigkeit von ihr geraten, schon allein aus dem Grunde, weil die Sozialphilosophien immer die Tendenz zeigen, sich an die Stelle der Soziologie selbst zu setzen (ebd.) Diese Tendenz wird deutlich in der Kritik von Adorno und Horkheimer an der empirischen Forschung, die sich darin zusammenfassen läßt, daß letztere die „gesellschaftliche Objektivität" ignoriert und „das gesellschaftlich Ganze" vernachlässigt, das doch eigentlich das Objekt der Soziologie sein sollte 51 . Adorno wirft ihr u. a. vor, daß sie ihren Blick auf den Menschen richte, ohne ihn zuvor in seiner Vergesellschaftung als „Moment der gesellschaftlichen Totalität" zu begreifen (a.a.O., S. 208f.). Gegenüber dem Postulat der Einsicht in das Wesen der modernen Gesellschaft erscheinen die empirischen Beiträge als Tropfen auf den heißen Stein. Darum ist auch nach Adomo der Rekurs auf die Gruppe gleichgültig gegenüber dem auf die industrielle Gesellschaft (S. 207). In der empirischen Forschung herrscht nach seiner Meinung die Methode über die Sache, insofern die „Objektivität der empirischen Sozialforschung eine der Methoden und nicht des Erforschten" sei (S. 208). Lewiii z. B . aber fordert ausdrücklich und geht in seiner ganzen Forschung davon aus, daß die Frage der Methode im Lichte der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit hinsichtlich ihres Erkenntniswertes und ihrer Fruchtbarkeit zu entscheiden sei und nicht umgekehrt. Vielmehr zeigt sich die Problematik einer Gesellschaftsphilosophie gerade darin, daß sie durch ihre Begriffssysteme und monokausalen Deduktionen die Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge und die Vieldimensionalität der geschichtlichsozialen Wirklichkeit verstellt (vgl. König, Soziologie, S. 93). Adorno bestreitet, daß es „empirische Beweise ... für zentrale Strukturgesetze" geben könne (S. 207). Er bleibt aber die Rechenschaft darüber schuldig, woher die Philosophie die Einsicht in die gesellschaftliche Totalität anders gewinnen kann als eben über die Empirie. Wenn er die „un-

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zweifelhafte Irrelevanz so vieler empirischer Studien" und die „Willkür der wissenschaftlichen Veranstaltung" beklagt (S. 209), dann müßte er auch über die Irrelevanz so vieler philosophischer Systeme hinsichtlich des Verstehens von geschichtlich-sozialer Wirklichkeit reflektieren. Statt dessen erscheint die Sozialphilosophie für die empirische Forschung im Gewände der Retterin. Sie transzendiert „deren zerstreute Fakten" und fügt sie in ein sinnvolles Ganzes, indem sie die „disparaten Daten" organisiert (S. 206). Sie deckt die Objektivität auf, an der die Gegenstände der sozialen Analyse teilhaben, die „Mechanismen, denen sie gehorchen und die ihren Begriff ausmachen". Der aber läßt sich bestimmen, indem man in den Fakten selbst der Tendenz innewird, die über sie hinaustreibt. Das ist die „Funktion der Philosophie in der empirischen Sozialforschung" (S. 222). So kommt Adorno schließlich zu dem Ergebnis, daß nur die Sozialphilosophie die „Verfälschung der Fakten zur Ideologie" verhindern könne (ebd.). Damit ist die Umklammerung der empirischen SozialWissenschaft durch die Sozialphilosophie nahezu vollständig. Die Soziologie ist in Philosophie umgewandelt. Der „soziologische Philosoph" greift aus der Fülle der empirischen Befunde heraus, was in das System seiner philosophischen Reflexion paßt. König argumentiert der Philosophie gegenüber, es habe sich herausgestellt, „daß die Geschichts- und Sozialphilosophie keineswegs die reine Axiomatik oder Kategorienlehre war, sondern ebenfalls empirisch fundiert wie die soziologische Theorie, nur auf eine unkontrollierte Weise ... Diese Disziplinen erwiesen sich damit als eigentliche Spekulationen, die, von bestimmten, auf Grund unkontrollierter Erfahrung erhaltenen partikularen Gegebenheiten ausgehend, diese dogmatisch generalisiert hatten und nun umgekehrt beanspruchten, die positiven Wissenschaften zu kritisieren" (in: Soziologie, S. 89). Adorno und Horkheimer haben in ihren Auseinandersetzungen offensichtlich eine Soziologie vor Augen, die sich im positivistischen Sinne als reine Faktenwissenschaft versteht. Es ist aber sehr zu fragen, ob ein solcher „Soziologismus" durch einen philosophischen Eingriff von außen überwunden werden kann, z. B . durch die Sinnfrage. Genauso wie der Psychologismus in der empirischen Psychologie selbst überwunden werden mußte (vgl. Metzger, Psychologie, S. 10f.), so kann ein Soziologismus auch nur innerhalb des Faches selbst überwunden Werden. Gerade das Werk Lewins führt über die Alternative zwischen sozialphilosophischer Spekulation und positivistischer Faktenwissenschaft hinaus (s. o. S. 203 f.). Dieselbe Intention äußert sich in der Forderung von König nach einer Entfaltung der sozialwissenschaftlichen Theorie im Gegen245

satz zum deskriptiven Empirismus einerseits und den philosophischen Theorien der Gesellschaft andererseits (a.a.O., S. 13). Den eigentlichen Unterschied zwischen sozialwissenschaftlicher Theorie und Theorie der Gesellschaft sieht König darin, daß letztere eine „Deutung der Totalität des sozialen Daseins" intendiert: „Hier ist . . . der Totalitätsaspekt das Entscheidende, von dem behauptet wird, daß sich einzig in ihm die höhere Gegenständlichkeit der Soziologie enthülle" (Grundprobleme, S. 24).

Sie verbindet sich zumeist mit Gesellschafts- und Kulturkritik und ist als solche „Ausdruck einer Zeitkonstellation". Ihr Kriterium ist ihr eigener „ B e g r i f f " . König sagt zusammenfassend im Blick auf ihre Funktion: „Diese Funktion ist soziale Kritik, moralische Reflexion, Philosophie der Tat; aber Erkenntnis im strengen Sinne ist sie nicht" (a.a.O., S. 29).

Demgegenüber ist die sozialwissenschaftliche Theorie, wie sie von König, Albert u. a. beschrieben wird, dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht die Totalität, sondern „einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit" erfassen möchte (Albert, Theorie, S. 43). Ihre Funktion ist die Erkenntnis realer Tatbestände in der Wirklichkeit, nicht die Sinndeutung 52 . Diese Theorien haben den Charakter von Hypothesen, die besagen, daß unter bestimmten, allgemein charakterisierten Bedingungen bestimmte, allgemein charakterisierte Konsequenzen zu erwarten sind. Aus allgemeinen Sätzen einerseits und Beschreibungen von Rand- oder Anfangsbedingungen andererseits wird eine Prognose gefolgert, die an Hand der Tatsachen nachzuprüfen ist 53 . Ihre Aussagen müssen sowohl logisch schlüssig als auch empirisch gehaltvoll sein und bestimmte gesetzmäßige Zusammenhänge erklären können 54 . Darum ist ihr Kriterium jeweils die Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit durch die geschichtlich-soziale Wirklichkeit und die Frage, ob sie bessere Einsichten in die zu lösenden Probleme vermittelt als andere Theorien (Albert, Theorie, S. 56ff.; König, a.a.O., S. 33). Sie kann daher nur approximativen Charakter tragen, ist nicht Ziel der Forschung, sondern ihr Instrument; ihre Begrifflichkeit hat operationale Bedeutung (vgl. Albert, a.a.O., S. 17K.). Die Notwendigkeit der Unterscheidung zeigt auch der „Positivismusstreit", in welchem die Auseinandersetzung zwischen Gesellschaftstheorie und sozialwissenschaftlicher Theorie als Kontroverse zwischen dialektischer und analytischer Theorie ein neues Stadium erreicht. An ihm sind vor allem Adorno und Habermas einerseits und Popper und Albert andererseits beteiligt. Er war ein Streit ohne Positivisten. Denn Popper 246

und Albert sind Vertreter eines „kritischen Rationalismus", nicht eines Positivismus, als welche sie von der Seite der dialektischen Philosophen hingestellt wurden 55 . Die Konzeption des kritischen Rationalismus weiß sich einer „Methode der kritischen Überprüfung aller Ideen, Theorien, Verhaltensweisen und Institutionen im Lichte der Logik und der Erfahrung" verpflichtet56 und tritt für eine „unvoreingenommene Suche nach der Wahrheit und nach offenen Problemlösungen" ein, die jederzeit revidierbar sind 57 . Sie ist damit „Ausdruck eines Engagements für die Vernunft". Jedoch unterscheidet sie sich durch ihr methodisches Selbstverständnis von der substanziellen „Vernunft des ontologischen Rationalismus" (Albert, in: Topitsch, S. 1 9 1 ; s. u. S. 353). Popper spricht in diesem Zusammenhang von einer „Methode des Ausprobierens von Lösungsversuchen" (in: Adorno, S. 118), bzw. von einer „Methode der Hypothesen" (Elend, S. 103). Im Tübinger Gespräch zwischen Popper und Adorno von 1961 kamen erkenntnistheoretische Fragen empirischer Forschung kaum zur Sprache. Das hing wohl auch damit zusammen, daß der Empiriebezug von beiden Ansätzen her nur punktuell gegeben war: für Popper als Ort kritischer Nachprüfung (s. u. S. 290), für Adorno als Ort isolierter, widersprüchlicher Manifestationen der Wirklichkeit, die von der dialektischen Theorie zu übergreifen sind. Es kam zu einem Vergleich von analytischen und dialektischen Verfahrensweisen und einem Austausch von diesbezüglichen Ansprüchen, aber nicht zu einer eigentlichen Konfrontation beider Theorien. Man fand sich weitgehend in der Übereinstimmung, daß soziologische Forschung ohne Philosophie kaum wissenschaftsfähig sei58. Doch spitzte sich die Kontroverse in der darauf folgenden literarischen Fehde zwischen Habermas und Albert zu. In dem Angriff, den Habermas gegen den Positivismus führte, welchen er undifferenziert mit dem Selbstverständnis empirischer Wissenschaft gleichsetzte69, wird die gegenwärtige Position der dialektischen Theorie in ihrem Verhältnis zur empirischen Forschung verdeutlicht. Da Habermas die „analytisch-empirischen Verfahrensweisen" von ihrem eigenen Anspruch her immanent kritisieren möchte, wollen wir uns hier seinen Argumenten zuwenden. Dialektische Theorie weist für ihn immer über die von den empirischen Wissenschaften erforschten Zusammenhänge hinaus. Der Philosoph steht außerhalb der Dimension, in welcher sich der empirische Wissenschaftler um Erkenntnis bemüht. Aber von dorther soll er die Auseinandersetzung mit den empirischen Wissenschaften in deren eigenem Bereich führen. Die Absicht solchen Unternehmens ist, den „erfahrungswissenschaftlichen Rationalismus" zur Einsicht zu führen, daß er über 247

seine eigene „Form unvollständiger Rationalisierung" hinauswachsen muß (in: Adorno, S. iö9f.). In der Beschreibung dieser Aufgabe und seiner dialektischen Bewältigung zeigt Habermas sich als Schüler der Methode Hegels. Seinen Ansatz legt er vor allem in seinem Buch „Erkenntnis und Interesse" vor. Es geht ihm um eine Gesamtanalyse der Lebenswelt, in welcher der Wissenschaftler seine Arbeit tut. Habermas fragt nach dem „Sinn von Erkenntnis" in den empirischen Wissenschaften. Durch seine geschichtsphilosophische Interpretation des Lebenszusammenhanges soll sich die in den Wissenschaften wirkende Vernunft selbst begreifen lernen. Gleichzeitig möchte er über die „Selbstreflexion der Wissenschaft" eine Gesellschaftstheorie entfalten, von der sich die für das geschichtlichsoziale Feld gültigen Normen ableiten lassen (a.a.O., S. 9). Seine konkrete Geschichtsphilosophie kann daher an den Wissenschaften vom Handeln nicht vorbei. Es geht um ein aufgeklärtes Verhältnis zu denselben. Mit Adorno sieht Habermas ihre Aufgabe vor allem darin, die Beziehung zwischen den der Wissenschaft immanenten und den realen Problemen der Lebenswelt kritisch zu überprüfen (in: Adomo, S. 168). Er möchte nachweisen, „daß der von Subjekten veranstaltete Forschungsprozeß dem objektiven Zusammenhang, der erkannt werden soll, durch die Akte des Erkennens hindurch selber zugehört" (a.a.O., S. 260)60. Dabei scheint er der Meinung zu sein, daß dieser Sachverhalt innerhalb der empirischen Wissenschaft noch nicht bemerkt worden ist. Jedenfalls nimmt er von der umfangreichen erkenntnistheoretischen Arbeit in der Psychologie keine Notiz. Aus seiner „Selbstreflexion der Wissenschaft" will er eine „Erkenntnistheorie gattungsgeschichtlicher Erfahrungen" ableiten, welche zu einer neuen Stufe der Selbstreflexion im gesamtmenschlichen Bildungsprozeß führt (a.a.O., S. 261 f.) 6 1 . Nur im Vollzug solcher Selbstreflexion kann der Mensch die seine Vernunft leitenden Interessen erkennen (ebd.)62. Diese vermitteln zwischen der Naturgeschichte der Menschheit und der ihrem Bildungsprozeß innewohnenden Logik. Er versteht sie als „Grundorientierungen, die an bestimmten fundamentalen Bedingungen der möglichen Reproduktion und Selbstkonstituierung der Menschengattung, nämlich Arbeit und Interaktion, haften" (a.a.O., S. 242) 63 . Sie laufen jeweils dem Erkenntnisprozeß voraus (S. 259). So ist die Entstehung der empirisch-analytischen und der hermeneutischen Wissenschaften im Rahmen „einer als Bildungsprozeß begriffenen Gattungsgeschichte" zu sehen (a.a.O., S. 243). Hier greift Habermas vor allem auf Hegel zurück. Das vorgängig Gewußte wird in der Reflexion erinnert und darin in seinem Ursprung durchschaut. Im Unterschied zu Hegel findet Haber248

mas jedoch den Ausgangspunkt für die Selbstreflexion in der „sinnlichen Gewißheit", welche das natürliche Bewußtsein in der Alltagswelt erfährt. „Sie ist objektiv in dem Sinne, daß die erinnernde Kraft der Reflexion von dieser Schicht der Erfahrung . . . selbst ausgeht" (a.a.O., S. 16). Die Vernunft, die in ihre sie bedingenden Lebensgründe hinabsteigt, erkennt sich in ihrem Vollzug als „Bewegung der Emanzipation, Vernunft steht gleichzeitig unter dem Interesse der Vernunft" (a.a.O., S. 244). Das „Interesse der Vernunft an Emanzipation" bedient sich der Wissenschaft zu seiner Verwirklichung (a.a.O., S. 259). Dabei wird es selbst abhängig von einem „durch Erkenntnis und Handeln organisierten Leben". Die „Bedingungen der Objektivität möglicher Erkenntnis" fallen zusammen mit den Bedingungen des sich durch die Wissenschaften hindurch vollziehenden instrumentalen und kommunikativen Handelns. Gleichzeitig wird dadurch eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Handeln und Erkennen gestiftet64. Konstitutiv für die Konzeption von Habermas ist die Beziehung zwischen Erkenntnisprozessen, Lebenszusammenhängen und Interessenzusammenhängen (a.a.O., S. 260)65. Die Selbstreflexion, die nach ihren Entstehungsgründen fragt, führt zur Erkenntnis ihrer Herkunft aus den Lebenszusammenhängen, in welchen Interessen wirksam sind. Die Vernunft entdeckt dabei, daß sie einem erkenntnisleitenden Interesse an Mündigkeit folgt. „In der Selbstreflexion gelangt eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen mit dem Interesse an Mündigkeit zur Deckung" (a.a.O., S. 244). Mündigkeit wird damit für Habermas zu einer Art Uridee, durch welche alles Erkennen und Handeln von ihrem Ursprung her gelenkt wird. Sie kann unmittelbar apriorisch eingesehen werden 66 . In ihr verwirklicht sich der Sinn menschlichen Erkennens in seinen Lebenszusammenhängen und damit auch der Sinn aller wissenschaftlichen Tätigkeit. Der Erkenntnisvorgang in den empirischen Wissenschaften kommt in der philosophischen Erkenntnistheorie von Habermas gar nicht zur Sprache. Ihn interessiert nur die mit der Sinnfrage verbundene Herleitungsproblematik, die ihn zu einer geistesgeschichtlichen Analyse führt. Die Zusammenhänge der geschichtlich-sozialen Empirie in ihrer Bedeutung für das Erkennen werden lediglich als Ursprungsort der Selbstreflexion behandelt. Die Bewegung der Reflexion geht vom „empirischen Bewußtsein" aus (a.a.O., S. 16, S. 259). Die vorgängigen Erfahrungen desselben wären aber gerade kritisch im Lichte empirischer Wissenschaft zu überprüfen 67 . Die Bedingtheit der Reflexion durch den gesellschaftlichen Zusammenhang wird vorwiegend als ihre Einlagerung in den Prozeß der Interaktion und Kommunikation von Individuen zum 249

Zweck technischer Verfügung über die Umwelt verstanden (a.a.O., S. 259). Aber was das für das Erkennen selbst bedeutet, wird nicht entfaltet. Die Selbstreflexion gibt keinerlei kritische Maßstäbe an die Hand, von denen her Wirklichkeit und Schein unterschieden werden könnten68. Die geschichtsphilosophische Interpretation der Lebenswelt des Menschen findet in einem ungeklärten Begriff von Totalität die Basis der Argumentation69. Dieser Anspruch, vom Sinnzusammenhang des Ganzen der Wirklichkeit ausgehen zu können (s. o. S. 241), versperrt gerade die erkenntnismäßige Einsicht in die empirischen Zusammenhänge. Es ergeben sich sicherlich interessante Einblicke in die Geistesgeschichte, aber keine Ansatzpunkte für eine Erkenntnistheorie der empirischen Wissenschaften70. Wenn Habermas den hermeneutischen Wissenschaften die eigentlich kommunikativen Aufgaben zuweist, so läßt sich wohl auch nicht übersehen, daß gerade die Gesellschafts- und Sozialphilosophien als Philosophien der Kommunikation nicht nur die empirische Forschung vielfach behinderten, sondern auch zum Dilemma der sozialen Kommunikation in jüngster Vergangenheit wesentlich beitrugen 71 . Der Begriff Mündigkeit sollte nicht nur im Sinne der Emanzipation als Selbstbefreiung aus Abhängigkeit entfaltet werden, sondern auch als verantwortliche Beziehung zum Mitmenschen und zur Gemeinschaft. Inwieweit Interesse an Mündigkeit im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verhalten tatsächlich wirksam ist, läßt sich auf dem Wege einer „transzendental gewendeten und schließlich ihres objektiven Zusammenhanges innewerdenden Selbstreflexion der Erkenntnis" kaum entscheiden (a.a.O., S. 347). Dazu sind die empirischen Wissenschaften unentbehrlich. Was wird dadurch gewonnen, wenn ein geschichtlich und empirisch zu beobachtendes Phänomen, wie das Interesse an Mündigkeit und Emanzipation in der wissenschaftlichen Zivilisation, durch eine transzendental gewendete Selbstreflexion in eine Kategorie a priori umgewandelt wird? Ein sehr komplexer Sachverhalt wird dadurch eher simplifiziert 72 . Wir haben die enge Wechselbeziehung zwischen dem Erkenntnisvorgang in den empirischen Wissenschaften und mündiger Verantwortung des Menschen in der Welt aufzuzeigen versucht (s. o. S. 137f.). Wissenschaftliches Erkennen ist abhängig von kritischem, verantwortungsvollem Umgang mit der Wirklichkeit. Wenn Habermas für seine geschichtsphilosophische Theorie Mündigkeit als erkenntnisleitendes Interesse und a priori einzusehende Kategorie postuliert, müßte gefragt werden, wie der Beitrag einer solchen zum Mündigwerden des Menschen aussieht. Z u mündiger Partnerschaft ge250

hört aufmerksames und kritisches Hören auf den anderen. Wenn wir aber philosophische Prämissen verabsolutieren und mit der Kategorie der Totalität einsetzen, besteht die Gefahr, daß wir den anderen nicht mehr zu Gesicht bekommen und ihn nur noch in unsere Ableitungen einordnen. So z. B . zeichnet Habermas ein einseitiges Bild vom Positivismus, um ihn wirksamer bekämpfen zu können 73 . Auch appellieren holistische Philosophien im allgemeinen mehr an die Unmündigkeit der Menschen als an ihre kritische Verantwortung. Die kritische Diskussion empirischer Sachverhalte, die zur Mündigkeit des Menschen gehört, wird entwertet. Ob nicht ein Zusammenhang zwischen der Kategorie des Totalen in Philosophie und Gesellschaft besteht74 ? Die dialektische Philosophie hat bisher die konträrsten Gesellschaftsformen rechtfertigen können 75 . Im Blick auf die Gesellschaften der Gegenwart ist festzustellen, daß sich wissenschaftliche Arbeit auch in den Dienst der Unterdrückung der Menschen und der Wahrheit stellen läßt. Ein erkenntnisleitendes Interesse der Wissenschaften an Mündigkeit ist kein Schutz dagegen, sondern nur Menschen in den Organisationen der Wissenschaft, die den Willen zur Mündigkeit und kritischen Verantwortung haben. Dazu müssen sie befähigt werden. Darum muß eine Behandlung des Problems Mündigkeit in einer Gesellschaftstheorie auch die komplexen empirischen und pädagogischen Probleme in die Überlegung einbeziehen. Zur Mündigkeit gehört femer, daß der Mensch sich selbst mit der Sinnfrage seines Lebens kritisch auseinandersetzt. Die Wissenschaft kann sie nicht für ihn lösen. Sie kann ihm nur Werkzeuge für die Lösung seiner Probleme bereitstellen. Darum ist zu fragen, ob die philosophische Sinnfrage in die wissenschaftliche Problematik hineingetragen werden sollte. Dadurch wird die Wissenschaft mit ungelösten existentiellen Fragen belastet, die sie nicht beantworten kann. Wenn sie es aber vorgibt, schafft sie falsche Erwartungen und neue Formen unmündiger Abhängigkeit (s. u. S. 257). Habermas ist der Meinung, daß sich das Theorienverständnis der Sozialwissenschaft heute vor allem gegen das Theorienverständnis der großen philosophischen Tradition griechischer Herkunft wendet, die Kosmologie und Ethik miteinander verband 76 . Die kosmische Ordnung galt gleichzeitig als das Modell für die Ordnung der Menschenwelt. Während Habermas nach der notwendigen Zertrümmerung dieser Art von Ontologie in seiner konkreten Geschichtsphilosophie eine neue Verbindung von philosophischer Theorie und Welt des Handelns sucht und von daher auch Normen gesellschaftlichen Handelns neu gewinnen möchte, ergeben sich für Topitsch andere Konsequenzen. Er versucht eine grund251

sätzliche Auseinandersetzung mit diesem Problem in seinem Buch „ V o m Ursprung und Ende der Metaphysik", in dem er die „Strukturen menschlicher Weltauffassung" herausarbeiten möchte. Für ihn ist die Metaphysik eine „intentionale Weltauffassung", die ihren Ursprung in einem „absichtsgeleiteten, zweckgerichteten Wollen und Handeln" hat (a.a.O., S. 19). Die Erfahrung, die sie in solchem Umgang mit der unmittelbaren Lebenswelt gewinnt, macht sie zum Weltprinzip und zum universalen Schlüssel zum Verständnis des Kosmos (a.a.O., S. 6fF.). Von solcher universalen Weltdeutung her leitet sie dann zeitlose Handlungsnormen für die menschliche Gesellschaft ab (S. 281 ff.). Die Schwierigkeiten ihrer geschichtlichen Durchsetzung geben immer neue Motivationen für die metaphysische Problematik, da die Metaphysik versuchen muß, die unvermeidlichen Brüche in der Erfahrung der Geschichte wieder mit der ursprünglichen einheitlichen universalen Weltdeutung zu versöhnen (S. 29öff.). Der Widerspruch zwischen metaphysisch-kontemplativer Weltüberhöhung und der geschichtlichen Welt des Handelns schaffe die endlosen, nie zu lösenden Konflikte, die das metaphysische Denken in Bewegung halten. Demgegenüber stellt Topitsch das „Faktum der Wertirrationalität der Erfahrungswelt" und Lebenswirklichkeit heraus, die das intentionale Weltbild nur verdeckt, indem es dem Wertvollen einfach das Prädikat des Seins zuerkennt (vgl. S. 270, 289, 294). Topitsch meint, daß der „Auflösungsprozeß der intentionalen Weltauffassung" heute unaufhaltbar sei (vgl. S. 312). Man solle die mit diesem Vorgang verbundenen Probleme nicht dramatisieren. Wenn man sie als unabwendbar hinnehmen würde, käme man am schnellsten über die Krise hinweg. „Denn die Bedürfnisse der Regelung des Alltagslebens und die Notwendigkeiten der Politik machen sich auch in solchen Situationen auf die Dauer geltend und die Menschen gewöhnen sich an die .Entzauberung der W e l t ' , bis sie den ganzen Vorgang nicht mehr als solchen empfinden: die A n passung des Gefühlslebens an die Erkenntnis ist vollzogen. Auf diese Weise erledigen sich weltanschauliche Probleme von selbst, nicht indem sie eine Antwort finden, sondern indem sie gegenstandslos werden" (S. 3 1 3 ) .

Topitsch beruft sich in seinen Argumentationen vor allem auf die heutige Wissenschaft, die zwischen Erkennen und Werten, Geschehen und Bedeuten unterscheiden gelernt habe (S. 6), die nicht mehr wie die intentionale Weltauffassung „das Universum verklären noch soziale Normen geben, sondern Regelmäßigkeiten des tatsächlichen Geschehens feststellen" will und von daher auch eine kritische Analyse der metaphysischen Systeme ermöglicht (S. 265). 252

Wir werden uns noch in einem späteren Zusammenhang mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Schlußfolgerungen, die Topitsch aus der Erkenntnistheorie der empirischen Wissenschaften zieht, der Intention dieser Wissenschaften entsprechen (s. u. S. 362t.). Hier möchten wir nur anmerken, daß es uns einseitig erscheint, die metaphysischen Systeme lediglich ihrer Funktion in der Geschichte nach zu beurteilen, nicht aber den Versuch zu machen, ihren geschichtlichen Aussagegehalt zu interpretieren, da ja auch nach der Meinung von Topitsch im metaphysischen Denken geschichtliche Erfahrungen wirksam sind. Die Naturrechtsproblematik, welche bei Topitsch vorherrscht, ist nicht geeignet, das Problem philosophischer Welt- und Geschichtsdeutung insgesamt zu beurteilen. Die Abwehr falscher Ansprüche muß noch nicht eine Nichtigkeitserklärung der Sache selbst bedeuten. Jedenfalls wird die Grundlage nicht deutlich, von welcher her Topitsch dann zu dem Pauschalurteil kommt: „ D i e weltanschaulich-analytische und ideologie-kritische Forschung vermag jedoch jene Wahrheiten und Probleme nicht als solche anzuerkennen, sondern deckt ihre Voraussetzungen, ihre Eigenart und damit ihre Nichtigkeit a u f " (Ursprung, S. 309).

Wir stimmen jedoch an wesentlichen Punkten mit seiner Kritik am metaphysischen Denken überein, z. B . hinsichtlich der unrichtigen Behauptungen über Ursachen und Wirkungen, der Wendung geschichtlicher Erfahrungen zu zeitlosen Universaltheorien, der dadurch sich vollziehenden Entleerung von konkreter Verbindlichkeit im geschichtlichen Sinne, der Verlagerung des Gewißheitsproblemes an einen falschen Ort, der Identifizierung von Erkennen von Wirklichkeit und philosophischmetaphysischer Deutung, der unkritischen Ineinssetzung von Geltung und Sein usw. Die eigentliche Problematik aber sehen wir in der Funktion der philosophischen Metaphysik, durch ihre Ableitungen die gesellschaftliche Struktur zu begründen 77 . Eine Welt- oder Geschichtsdeutung mag zwar als Grundlage einer Lebensphilosophie des einzelnen oder als Basis für eine größere Gemeinschaft weiterhin möglich sein, sie kann aber nicht mehr verbindlich sein für die Gesellschaft als ganze, weil deren geschichtliche Wirklichkeit heute ein weltanschaulicher Pluralismus ist. Das Problem, das sich stellt, ist dann die Frage, welche Konsequenzen wir daraus zu ziehen haben, daß heute eine metaphysische Begründung der Gesellschaftsstruktur nicht mehr möglich ist. Die Meinung von Topitsch, daß sich der Lauf des gesellschaftlichen Lebens aus den Bedürfnissen des Alltags und der Notwendigkeiten der Politik von selbst regeln würde, erscheint als illusionistisch. Heute bedarf es mehr denn je der 253

Kenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und verantwortlicher Planung, wenn geschichtliche Katastrophen vermieden werden sollen. Auf diesem Hintergrund erhebt sich die Frage, welchen Dienst die empirische Forschung hier leisten kann. Ihre Beantwortung erfordert eine Klärung des Verhältnisses von Empirie und Norm, Erkennen und Werten, Theorie und Praxis.

c) Erkennen und Werten Die Notwendigkeit einer Trennung von Wertphilosophie und empirischer Forschung ergibt sich schon aus der innerphilosophischen Problematik einer Wertphilosophie als solcher. Erstens stehen die empirischen Sozialwissenschaften nicht der Wertphilosophie gegenüber, sondern sie treffen auf die Ansprüche verschiedener Wertphilosophien 78 . Zweitens steht nicht nur der Widerstreit der verschiedenen Wertphilosophien selbst zur Diskussion, sondern auch die philosophische Bestreitung der Möglichkeit einer Wissenschaft von Werten überhaupt. So weist z. B . Tillich darauf hin, daß die Wertphilosophie daran gescheitert sei, daß sie den Abgrund des von ihr postulierten Reiches von absoluten Werten und der geschichtlichen Wirklichkeit nicht überbrücken und den subjektivrelativen Charakter der Werturteile nicht überwinden konnte 79 . Wissenschaftlich aufweisbar ist nur ein Pluralismus von Wertsystemen, nicht ihre Begründung in absoluten Normen. Dieser zugrunde liegt immer eine subjektive Wertung. U m sie zu überwinden, müssen Normen mit apriorischem Charakter postuliert werden, welche die Geltung der aufgestellten Wertordnung garantieren (Tillich, a.a.O., S. 172L). Da aber die Existenz solcher nur behauptet werden kann, vermag auch die wissenschaftlich-systematische Entfaltung nicht darüber hinwegzutäuschen, daß die „Objektivität" der Werte in einer Glaubensaussage wurzelt, nicht aber in einer Allgemeinverbindlichkeit im Sinne wissenschaftlicher Aufweisbarkeit. Aber gerade um eine solche geht es im allgemeinen der Wertphilosophie. In ihrer Ableitung von metaphysischen Setzungen erstrebt sie die Sicherung einer verpflichtenden Wertordnung (Topitsch, a.a.O., S. 107). Für die empirische Forschung kann sich das Normen- und Werteproblem nur innerhalb der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit selbst stellen, nicht im metaphysischen Sinne. Damit tritt die Wertfrage in einen anderen Zusammenhang, insofern es nicht um die Geltung von Werten an und für sich geht, sondern um das Problem, was in den jeweiligen geschichtlich-sozialen Situationen als Wert wirksam ist. Da aber die empirische 254

Forschung in diesen Zusammenhängen auf Werte trifft, ist die Frage ihres Zugangs zum Wertproblem und die Frage ihrer Bedeutung für die in der Gesellschaft geltenden Normen in den Sozialwissenschaften nicht verstummt und ist heute wieder aufs neue entbrannt, nicht nur in Europa, sondern auch in den U S A 8 0 . Angesichts des Dilemmas der Wertphilosophien ergab sich dabei das entgegengesetzte Problem, ob auf Grund der empirischen Analyse N o r men des sozialen Handelns abgeleitet werden können. U m diese Frage ging es in der Auseinandersetzung zwischen M a x Weber und Gustav von Schmoller, ohne deren Hintergrund die gegenwärtige Diskussion um das Wertproblem nicht verstanden werden kann. Der sogenannte Werturteilsstreit zeigt die ganze Vielschichtigkeit des Themas 8 1 . Es werden unter dem Wertproblem sehr verschiedenartige Fragen behandelt, die sorgfältig voneinander zu scheiden sind. Schon M a x Weber hat deswegen mit fast unüberwindbaren Mißverständnissen seiner Position zu kämpfen gehabt 82 . Es ging M a x Weber mit seiner Forderung der „Wertfreiheit" um das Problem, ob bzw. inwiefern man aus einer empirischen Analyse Konsequenzen für das praktische Handeln des Politikers ableiten kann. W ä h rend von Schmoller der Ansicht war, daß man auf Grund wachsender Einsicht in die empirischen Gegebenheiten auch immer mehr zu einer Einmütigkeit ihrer Bewertung kommen werde 8 3 , behauptete Weber, daß man „einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als N o r m und andererseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung"

völlig voneinander trennen müsse. Es handelt sich dabei um grundsätzlich „heterogene" Ebenen (W. L., S. 463). Die Notwendigkeit der Unterscheidung im Blick auf die empirische Analyse besteht darin, daß diese nicht in die Abhängigkeit von subjektiven Interessen, politischen Zielsetzungen und weltanschaulichen Gebundenheiten gerät 84 . Weber sieht sich im Kampf mit einer SozialWissenschaft, die selbst zur Weltanschauung wird, indem sie sich nicht mehr kritisch Rechenschaft darüber gibt, was sie aus der empirischen Analyse mit Recht folgern kann und was aus anderen Quellen stammt. Er befürchtet eine Vermischung von Weltanschauung und Wissenschaft oder auch eine sich wissenschaftlich begründende Ideologie. Die „prinzipielle Scheidung von Erfahrungswissen und wertender B e urteilung" ist eine der wesentlichen Bedingungen für die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis (vgl. W . L., S. 160, 213). Die objek-

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tive Gültigkeit ihrer Ergebnisse meint zwar nicht ihre Voraussetzungslosigkeit. Weber beruft sich hier auf Rickerts Differenzierung zwischen „Wertbeziehung" und „Werturteil": die Sozialwissenschaft ist wie alle kulturwissenschaftliche Forschung hinsichtlich ihres „Erkenntnisinteresses" und der Wahl ihres Gegenstandes auf bestimmte Wertideen bezogen, mit denen der Forscher der Wirklichkeit gegenübertritt85. Die Werte sind demnach Auswahlkriterien, welche die Richtung und das Gebiet der Forschung bestimmen (vgl. W . L., S. 182) 88 . Aber trotz dieser unausweichlichen Voraussetzung, unter der die empirische Analyse im Blick auf die Wertbeziehung steht, beruht die Möglichkeit objektiver Erkenntnis darauf, daß die Analyse selbst von Gesichtspunkten ethischer oder kultureller Wertung freigehalten wird 87 . Diese von Max Weber vollzogene Unterscheidung von empirischer Analyse und normativer Stellungnahme, von Sozialwissenschaft und Sozialpolitik ist weitgehend selbstverständlich geworden. Die Forderung, daß man differenzieren müsse zwischen der Frage nach dem, was ist, und der Frage nach dem, was sein soll, und beide Fragen nicht miteinander vermischen dürfe, hat sich als methodisch fruchtbar und richtig erwiesen88. Diese Unterscheidung ist aber nicht nur im Blick auf die empirische Analyse notwendig, sondern auch im Blick auf die Bewertung selbst89. Weber sieht diese als Vollzug einer subjektiven Stellungnahme, welche erforderlich macht, daß man auch nach dem mit ihr verbundenen subjektiven Sinn, nach ihren Motivationen, Zielsetzungen usw. fragt (vgl. W . L., S. 462). Die Ansicht von Schmollers, daß sich infolge der immer mehr wachsenden Einsicht in die sozialen Zusammenhänge auch die Bewertung sozialer Tatbestände immer mehr angleichen würde, impliziert letztlich die Behauptung, daß das richtige Verhalten des Menschen und die Anweisungen für sein Handeln von der empirischen Analyse verbindlich abgeleitet werden könnten. Dann würde der Sozialwissenschaftler zu der Instanz, welche die praktischen Normen für das Verhalten und Handeln des Menschen in der Gesellschaft setzt. Damit aber steht er seiner eigenen Wissenschaft, ihren Möglichkeiten und ihrer Funktion im sozialen Felde unkritisch gegenüber. Weber bestreitet, daß der Sozialwissenschaftler solche praktischen Normen aus seiner wissenschaftlichen Analyse deduzieren könne (W. L., S. 149). Das liefe letztlich auf dasselbe hinaus, als wenn die Wertphilosophie die notwendige Gültigkeit praktischer Normen im sozialen Feld aus metaphysischen Setzungen ableitet. In beiden Fällen überschreitet hier der Wissenschaftler seine eigenen Möglichkeiten; denn das, was er als objektive Gültigkeit auf Grund wissenschaftlicher Analyse behauptet, ist in Wirklichkeit in seiner eigenen subjektiven Stellungnahme begründet. Diese aber ist

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immer von den „letzten Überzeugungen" des Menschen abhängig (W.

L„ S. 469fr., 544fr.).

Die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen empirischer Analyse und Werturteil ist für Weber aber noch aus einem dritten Grunde wichtig. Es geht ihm hier um die Verantwortung der Wissenschaft vor der menschlichen Person selbst. Wenn die Wissenschaft aus ihren Analysen verbindliche Normen deduziert, nimmt sie dem Menschen seine Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsmöglichkeit (vgl. W . L., S. 550L). Weber sieht den modernen Menschen in der technisch-rationalen Welt von Mächten bedroht, welche ihm eine Entscheidung in personaler Verantwortung immer mehr erschweren (vgl. Habermas, in: Stammer, S. 79). Die Wissenschaft würde sich in den Dienst dieser Mächte stellen, wenn sie sich nicht selbstkritisch fragen würde, welche Autorität ihr zukommt und welche nicht. Wenn sie ihre Funktion in der Gesellschaft verkennt, erzieht sie zu einer Wissenschaftsgläubigkeit, mit welcher der Mensch seine geistige Mündigkeit verlieren würde 90 . Die rigorose Maßnahme, welche Weber von solcher Verantwortung her als notwendig ansah, nämlich nur die empirische Analyse in der Universität zuzulassen und alle „Kathederprophetie" in den Bereich außerhalb der Universität zu verweisen, ist in der damaligen Situation vor dem ersten Weltkrieg verständlich, in welcher eine zunehmende Verweltanschaulichung und politische Ideologisierung der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit einer politischen Katastrophe zusteuerte (vgl. v. Wiese, in: Stammer, S. 68 f.). Die eigentliche Intention Webers liegt weder in diesen zeitgebundenen Konsequenzen, noch in den sehr differenzierten philosophisch-anthropologisch motivierten Begründungen seiner Position, sondern in seiner Forderung, daß es in der Wissenschaft nur um empirische Erkenntnis geht, nicht um Fragen philosophisch-normativer Wesensinterpretation91. In diesem Verständnis empirischer Wissenschaft ist das methodologische Postulat impliziert, daß sich die Geschichtsdeutung der Kontrolle durch die Geschichte selbst auszusetzen habe92. Weber sieht die eigentliche Problematik der Sozialwissenschaft von Anbeginn dadurch gekennzeichnet, daß das Verhältnis von Theorie und Geschichte, Begriff und Wirklichkeit nicht geklärt worden ist (W. L., S. 185 fr.). Verhindert wurde eine Klärung durch den naturalistischen Monismus einerseits, den Panlogismus Hegels andererseits, was dazu führte, daß man eine „monistische Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit in Gestalt eines Begriffssystems von metaphysischer Geltung"

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erstrebte (S. 185). Z w a r ist nach Webers Meinung die Bildung von B e griffen und Theorien Voraussetzung aller wissenschaftlichen Erkenntnis, aber sie sind nicht mit der Wirklichkeit identisch, sondern nur heuristisches Mittel, das an der geschichtlichen Wirklichkeit selbst überprüft werden muß 93 . Diese Forderung setzt voraus, daß Weber einen wissenschaftlichen Zugang zur geschichtlich-sozialen Wirklichkeit für möglich hielt, der Geschichte und Gesellschaft in anderer Weise zur Sprache brachte, als es philosophische Deutung vermochte. Dieser Aufgabe sollte die Entwicklung einer allgemeinen analytischen Theorie einer verstehenden Soziologie dienen (vgl. Parsons, in: Stammer, S. 49). Empirische Wissenschaft bedeutete für ihn, die Frage nach wirklichen Gegebenheiten und konkreten Vorgängen in ihrer kausalen Verknüpfung zu stellen. In diesem Zusammenhang fragt er auch nach der B e deutung des Wertproblems. Seine Forderung der Wertfreiheit besagt nicht, daß Wissenschaft und Werte nichts miteinander zu tun hätten, sondern es geht gerade um den rechten Zugang der empirischen Analyse zum Wertproblem (vgl. W . L., S. i49flf., 4 6 1 f r . ; Baumgarten, S. 594 ff). W e n n empirische Wissenschaft die Frage nach der Wirklichkeit i m Gegensatz zum Schein stellt, dann fragt sie auch nach den „wirklichen" Werten i m Unterschied zu jeweiligen Wertvorstellungen oder Scheinwerten 94 , das ist, es geht ihr um die Frage, welche Werte „ w i r k l i c h " in den Motivationen und Handlungen wirksam sind. In der empirischen Analyse werden erst die letzten Voraussetzungen und die Weise erkennbar, in welcher diese im Stellungnehmen des Menschen wirksam sind, da sie die „scheinbaren" Werte mit der Empirie konfrontiert. Eine solche Konfrontation ist deswegen notwendig, weil der Mensch sich selbst und andere über seine eigentlich letzten Motive und über die wirklichen empirischen Sachverhalte täuschen kann 9 5 . Dieses Problem ist innerphilosophisch von den Prämissen einer normativen Ethik her nicht zu lösen, sondern nur durch eine Diskussion in den empirischen Wissenschaften 96 . Was also die empirische Analyse i m Blick auf das Werteproblem leisten kann, ist die Feststellung des Wirklichen, die „Wahrheitserkenntnis", indem sie die Werte zu ermitteln sucht, welche „wirklich" im Verhalten des Menschen wirksam sind 97 . Die Werte werden hier als „Tatsachen gefaßt" und der kritischen Analyse freigegeben (Baumgarten, S. 594). So stellt die empirische Forschung die Frage nach der Wahrheit im geschichtlichen Sinne, wie es die Philosophie nicht vermag, aber sie kann daraus keine Folgerungen für die Geltung der Normen deduzieren. Indem sie die allgemeine Verbindlichkeit der Geltung von praktischen N o r m e n auf Grund einer Wertemetaphysik oder einer empirischen Analyse bestreitet, könnte man sie relativierend 258

nennen. Aber sie kann nur falsche Werte zerstören, echte Werte nicht; denn Weber ist der Meinung, daß solche einer wissenschaftlichen B e gründung nicht bedürfen, weil sie auch wissenschaftlich nicht widerlegbar sind 98 . Eine Wertung hängt jeweils von der Sinngebung des einzelnen ab; darüber aber kann die empirische Erforschung individueller, sozialer und geschichtlicher Bedingtheit nichts ausmachen (W. L., S. 465). Was die empirische Forschung im Blick auf die wertende Stellungnahme leisten kann, ist lediglich die Erforschung der Bedingungen und Mittel, die zum Z w e c k der Verwirklichung der verschiedenen Wertungsstandpunkte nötig sind, und der Folgen, die sich aus der W a h l bestimmter Mittel und der Einnahme bestimmter Wertpositionen ergeben". Die Frage der Verbindlichkeit stellt sich für Weber erst in der konkreten Entscheidungssituation des einzelnen Menschen, in welcher dieser angesichts seiner letzten Überzeugungen zu wählen und zu handeln hat ( W . L., S. 469L). Der Mensch steht in den Augen Webers ständig vor „letzten Entscheidungen" 1 0 0 . Diese Situation darf ihm nicht durch eine normative Ethik auf empirischer oder wertphilosophischer Grundlage verdeckt werden (vgl. u. a. W . L., S. 470). So sind Webers Erörterungen über Wesen und Aufgabenstellung empirischer Forschung gerade in der Diskussion des Werteproblems von innerphilosophischen Auseinandersetzungen begleitet. Es geht ihm zwar um die Klärung der Verschiedenheit von normativem und empirischem Denken, aber er argumentiert immer gleichzeitig auf beiden E b e n e n 1 0 1 : E r kämpft an einer innerphilosophischen Front, w o es ihm darum geht, die individuelle Entscheidungssituation des Menschen in ihren letzten Dimensionen herauszustellen (vgl. W . L., S. 469f.) und an der inneren Front empirischer Wissenschaft gegen eine weltanschaulich gebundene Soziologie. Beide Fronten haben jeweils einen philosophischen und einen empirischen Aspekt: Gegenüber einer Metaphysik der Werte macht er von seinem philosophischen Standpunkt aus geltend, daß sie dem Individuum das wirkliche Wertproblem in seiner konkreten Entscheidungssituation nicht lösen könne, von seinem empirischen Standpunkt aus, daß es einer philosophischen Ethik überhaupt nicht möglich ist, einen Zugang zu den Problemstellungen in der geschichtlich-sozialen Empirie zu finden (vgl. W . L., S. 467^). Gegenüber einer sich philosophisch-weltanschaulich verstehenden Soziologie macht er v o m empirischen Standpunkt her geltend, daß sie der Objektivität empirischer Wissenschaft nicht gerecht werde, v o m philosophischen Standpunkt aus, daß sie den Menschen aus der Verantwortung letzter Stellungnahmen entläßt. Er vollzieht die A b 259

grenzung beider Ebenen, indem er der empirischen Wissenschaft gegenüber die Sinnfrage als letzte Entscheidungsfrage geltend macht, die nur subjektiv zu lösen sei, der Philosophie gegenüber die Wahrheitsfrage, die allein mittels wertfreier empirischer Analyse zu klären ist. Beide Ebenen treffen sich nur in der Entscheidungssituation des einzelnen, in welcher dieser angesichts der Erkenntnis der Wirklichkeit auf Grund seiner letzten Überzeugungen zwischen sich widersprechenden Wertsystemen ständig neu wählen muß (vgl. W . L., S. 469 f.) 1 0 2 . Diese Intention Webers, den Spielraum der personalen Entscheidung in einer von Rationalisierung einerseits und drohender Ideologisierung andererseits bestimmten Welt zu bewahren, steht im Zusammenhang damit, daß er die Aufgabe der Sozialwissenschaft als Erzeugung technisch verwertbaren Wissens hinsichtlich ihrer Funktion in der Gesellschaft mit ziemlicher Einseitigkeit unter der Perspektive der Sozialpolitik sieht. Damit verstellt sich ihm aber das Problem, um welches es einer empirischen Sozialwissenschaft im weiteren Sinne gehen muß. Er bezieht diese fast ausschließlich auf die Erfordernisse politischen Handelns, nicht auf die Probleme des gesellschaftlichen Prozesses in seiner Gesamtheit, an welchem nicht nur der Politiker teilhat, sondern alle Berufe, die es mit dem Menschen in seiner Wechselwirkung mit dem sozialen Feld zu tun haben 103 . In seiner radikalen Trennung von empirischer Analyse und subjektiver Bewertung geht es ihm nicht zuletzt darum, daß der handelnde Politiker als charismatischer Führer seine Unabhängigkeit gegenüber den „Sachverständigen" behaupten kann (vgl. Habermas, a.a.O., S. 79f.). So überträgt er das Modell politischen Handelns auf alle anderen Probleme des sozialen Prozesses. Diese Verengung der Fragestellung ist letztlich darin begründet, daß für Weber nur das isolierte Individuum als Träger sinnvollen Handelns Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Analyse ist 104 . Dieses isolierte Individuum kommt aber in der geschichtlich-sozialen Empirie nicht vor, insofern der einzelne empirisch immer im Zusammenhang des sozialen Feldes gegeben ist 105 . Daran wird deutlich, daß Webers Verhältnisbestimmung von Erfahrungswissen und Werturteil mitbedingt ist durch eine philosophische Anthropologie, die ihrerseits ein Gegenschlag zur hegelschen Deutung des Geschichtsverlaufes vom objektiven Geist her ist 106 . Wenn man aber ausgeht vom empirischen Zusammenhang des sozialen Prozesses, so ergibt sich die Frage, was diese empirische Gegebenheit für das Verständnis der Situation des Individuums und der Situation der Gesellschaft bedeutet. An der Stelle, an welcher Weber mit seiner individualistischen Anthro260

pologie einsetzt, steht bei Lewin der einzelne in den Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen des sozialen Feldes, die nicht nur er durch sein Handeln beeinflußt, sondern die auch durch ihn hindurchwirken und seine individuelle Situation bestimmen. Daraus ergibt sich für Lewin als Ausgangspunkt die Wechselwirkung zwischen personaler und sozialer Situation. Diese kann jeweils unter der Perspektive des einzelnen wie auch unter der Perspektive des sozialen Feldes gesehen werden (s. o. S. 44ff.). Insofern müssen wir bei Lewin von einer anderen Fragestellung sprechen, die bei Weber durch seinen philosophisch-anthropologischen Ansatz verdeckt ist. V o n hier aus stellt sich dann die Frage nach der B e ziehung zwischen der empirischen Analyse und den Normen im sozialen Feld in einer anderenWeise, wenn auch Lewin mit Weber darin übereinstimmt, daß empirische Analyse und Wertphilosophie auseinandergehalten werden müssen. Die Verengung des Ansatzes von Weber auf die Grenzsituation eines politischen Handlungsmodelles bedeutet die Ausblendung einer Fülle von empirischen Phänomenen, welche sich im Zusammenhang des Gesellschaftsprozesses und des Handelns in ihm stellen. Die Ausbildung zu allen Berufen, die sich auf den Menschen in seiner sozialen Situation beziehen, impliziert verbindliche Maßstäbe, wie sie sich auf Grund empirischer Analysen ergeben. Es ist überhaupt keine Tätigkeit in den B e rufen eines Pädagogen, Psychologen, Wirtschaftsführers, Jugendleiters usw. denkbar, wenn es darin nicht auch allgemein verbindliche B e wertungsmaßstäbe geben würde. Probleme der Führung von Menschen und Gruppen, Probleme sozialer Konflikte usw. bedürfen objektiver Bewertung auf Grund wissenschaftlicher Klärung der in ihnen wirksamen Faktoren und Zusammenhänge. Solche Beurteilungen begründen sich nicht nur in „letzten Stellungnahmen", sondern auch in sachlicher Verantwortung, die der wissenschaftlich-kritischen Reflexion bedürftig sind 107 . Es ist darum notwendig zwischen „ B e w e r t u n g " und „subjektiver letzter Stellungnahme" zu differenzieren. In diesem Sinne wird heute allgemein eine Korrektur und Neuformulierung der Position M a x Webers gefordert 1 0 8 . Daß Weber Bewertung nur im Sinne letzter absoluter Stellungnahme verstehen kann, hängt wiederum mit seiner philosophischen Anthropologie zusammen, die das Leben als Kette letzter Entscheidungen sieht (vgl. W . L., S. 469f.). Das schließt nicht Grenzfälle aus, in welchen solche Situationen eines status confessionis im letzten Sinne gegeben sind. Aber diese sind nicht einmal für den politisch Handelnden die Regel, insofern auch er in umgreifenden Sachzusammenhängen steht, die objektiver Analyse zugänglich sind. 261

Erst wenn solche allgemein verbindlichen Maßstäbe sachlicher Natur in ihrer Wirksamkeit gesehen werden, stellt sich das Problem, wie die B e ziehung zwischen ihnen und der empirischen Analyse zu verstehen ist, welcher Art diese Allgemeinverbindlichkeit ist und worin sich angesichts solcher Sachverbindlichkeiten persönliche Verantwortung vollziehen kann. Ergebnisse empirischer Analysen sind als Orientierungshilfen in den verschiedenen Situationen zu verstehen. Lewin betont, daß empirische Wissenschaft nicht die eigenständige1 und schöpferische Erkenntnisarbeit in der beruflichen Tätigkeit ersetzen kann (Lösung, S. 294). Er weist ausdrücklich das Mißverständnis zurück, als ob die Wissenschaft Verhaltensregeln und Rezepte geben könnte; denn nach ihrem Selbstverständnis müssen ihre Erkenntnisse immer wieder im U m g a n g mit der Wirklichkeit überprüft werden und befinden sich daher im ständigen Überholen ihrer Ergebnisse (s. o. S. 23of.). Deshalb ist auch die Mitwirkung des Forschers an Planungsvorgängen nicht so zu verstehen, als ob er Wertmaßstäbe f ü r das Erkennen und Handeln im sozialen Feld aufrichten könnte 1 0 9 . W e n n aber die in einer Gesellschaft geltenden Normen weder von einer philosophischen Metaphysik, noch von einer empirischen Analyse der Sozialwissenschaften abgeleitet, noch von einer politischen Instanz gesetzt werden können, man andererseits aber auch nicht mit Weber die Meinung teilt, daß sie ganz in die subjektive Entscheidungssituation hineingehören, dann wird die Frage u m so dringlicher, wie die Allgemeinverbindlichkeit von Normen in der Gesellschaft verstanden w e r den kann und in welcher Beziehung die empirische Forschung zu ihnen steht. Die Gruppendynamik geht hier von der Voraussetzung aus, daß die allgemein verbindlichen Normen und Werte in der Gesellschaft aus dem geschichtlich-sozialen Prozeß herauswachsen: Die Gruppe selbst muß die in ihr gültigen Normen finden. Es ist aber dabei zu beachten, was das meint und was das nicht meint. Gemeint ist damit nicht, daß es f ü r den einzelnen keine absoluten Normen geben könnte, vor denen er sich verantworten muß. Gemeint ist damit auch nicht eine restlose Relativierung ethischer Werte (s. o. S. 56t.), sondern es besagt im Gegenteil, daß die Normen im sozialen Prozeß von den einzelnen und den Gruppen zu verantworten sind und daß sie sich dieser Verantwortung stellen müssen. Gerade darum geht es Lewin in der Sozialwissenschaft. Für ihn besteht im Gegensatz zu Weber doch eine Verbindung zwischen den empirischen Wissenschaften und den allgemein gültigen Normen im sozialen Feld. Sie sind zwar auch für ihn nicht wissenschaftlich begründbar, w o h l aber 262

müssen sie wissenschaftlich verantwortet werden. D i e Sozial Wissenschaft n i m m t diese Verantwortung wahr, indem sie den Gruppen und der Gesellschaft beim Finden der N o r m e n dadurch hilft, daß sie die dazu notwendigen Erkenntnismittel und W e r k z e u g e bereitzustellen versucht. Sie hat also eine beratende und pädagogische Funktion in der Gesellschaft. S o kann sie mit anderen Disziplinen zusammen die Voraussetzungen für das sinnvolle Durchdenken der ethischen Probleme schaffen. Albert sieht gerade in der „voraussetzungslosen Erforschung" der Zusammenhänge in der sozialen Wirklichkeit den „Beitrag, den eine wertfreie Wissenschaft zu den Wertproblemen leisten kann. Nicht in normativen Aussagen und Systemen, sondern in der sachlichen Erforschung moralisch-politisch bedeutsamer Probleme liegt ihre Bedeutung für das soziale Leben 110 ." In der Beteiligung an Planungsvorgängen ist es die besondere A u f g a b e empirischer Sozialwissenschaft, dafür zu sorgen, daß bei normativen Zielsetzungen die geschichtlich-soziale Wirklichkeit nicht übersprungen w i r d 1 1 1 . Insofern ist gerade die sorgfältige Analyse der Wirkfaktoren eine der Voraussetzungen für das Finden verbindlicher N o r m e n i m sozialen Feld. M i t dieser Auffassung v o n der Beziehung der Sozialwissenschaften z u m Normenproblem führt die Gruppendynamik über den „Zweckrationalism u s " Webers hinaus: D i e Sozial Wissenschaft erforscht nicht nur die Mittel, die z u m Z w e c k e der Erfüllung vorgegebener N o r m e n nötig sind, sondern sie hilft mit, daß die allgemein verbindlichen N o r m e n überhaupt erst gefunden werden. Der Gruppendynamik in ihrem pädagogischen Aspekt geht es gerade darum, daß die Menschen, die Gruppen und die Gesellschaft befähigt werden, mit der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit in der Weise erkennend umzugehen, daß sie ihre eigene Situation und die sozialen V o r g ä n g e in ihr verstehen lernen und selbst in gemeinsamer Verantwortung die jeweils besten Voraussetzungen für ihre sozialen Wechselwirkungen schaffen können (s. o. S. 5 7 f f ) . Z u der Wirklichkeit, die sie dabei zu bedenken haben, gehört der Mensch selber. Seine personale Situation wird aber nur dann i m sozialen Prozeß ernst genommen, w e n n er seine personale Wirklichkeit und damit auch die Maßstäbe, die sein Verhalten bestimmen, mit der Gruppe kommunizieren kann. Das ist nur möglich, wenn die Gruppe ihre Struktur nicht dahingehend mißversteht, daß der einzelne die v o n ihr gesetzten N o r m e n verwirklichen muß. Sie hat ihn in seiner Entscheidung freizugeben und nach Kommunikation i m Sinne einer gemeinsamen Handlungsebene zu suchen (s. o. S. 65). D i e Probleme des Sollens stellen sich i m B e z u g zur personalen Situation 263

anders dar als im Bezug zur sozialen 112 . Ihre Verschiedenheit sehen wir aber nicht als Verschiedenheit „völlig heterogener Ebenen", sondern als jeweils verschiedene Perspektiven der Wechselwirkung zwischen personaler und sozialer Situation. Bei Weber ist trotz seines individualistischen Ansatzes die Beziehung faktisch darin gegeben, daß das Individuum ethisch unter der Verpflichtung steht, seine Verantwortung im sozialen Feld subjektiv wahrzunehmen. Aber Weber hat diesen Bezug nicht erkenntnistheoretisch durchreflektiert. Seine Fragestellung war ethischer und methodologischer, nicht aber erkenntnistheoretischer A r t 1 1 3 . Die Verschiedenheit von empirischer Wissenschaft und philosophischer Sinndeutung stellt er hinsichtlich ihrer Methode heraus. Aber er sprengt doch letztlich auch in seinem Verständnis empirischer Forschung nicht die philosophische Umklammerung. Wissenschaft bedeutet für ihn, festzustellen, was ist. Sein Verständnis von „Wirklichkeit" aber übernimmt er aus der Philosophie von H. Rickert (vgl. Baumgarten, S. 592f.; Weber, W . L., S. 171 ff.). Für diesen besteht die innere und äußere Wirklichkeit des Menschen aus einer Fülle unübersehbarer, untereinander unverbundener Bestandteile und Phänomene, die erst durch den Erkenntnisakt des Menschen miteinander in Beziehung treten. Unabhängig vom erkennenden Subjekt, das die Fülle der individuellen Erscheinungen durch Beziehung auf Werte und Zwecke ordnet und von daher „verstehend erklärt", haben sie keinen in sich selbst begründeten Zusammenhang 114 . Es ist aber höchst problematisch, wenn diese philosophische Prämisse zum Ausgangspunkt empirischer Analyse gemacht wird 1 1 5 . Sie mag in gewisser Hinsicht der Tätigkeit eines Kulturforschers entsprechen, der eine Fülle von historischen Dokumenten einer Epoche zu interpretieren und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen versucht, aber sie entspricht nicht den Erfordernissen empirischer sozialwissenschaftlicher Analyse, der es um die Wahrnehmung der unmittelbaren geschichtlich-sozialen Lebenswelt in ihren Wirkzusammenhängen geht. Die Schwierigkeiten begannen für Weber schon damit, daß er seine Konzeption einer empirischen Sozialwissenschaft als Inhaber eines Lehrstuhls für Nationalökonomie im Rahmen der Kulturwissenschaften hauptsächlich in historischen Arbeiten zu entfalten versuchte. Seinem Wirklichkeitsverständnis entsprechend bezeichnete er als Ziel der Sozialwissenschaften verstehendes Erklären der „Kulturbedeutung konkreter historischer Zusammenhänge" oder als „denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit" unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung (W. L., S. 212). Zwar führte er damit über den historistischen Partikula264

rismus und monokausale geschichtsphilosophische Deutungen hinaus, indem er die Frage nach den größeren geschichtlichen Zusammenhängen stellte und die empirischen Wechselwirkungen verschiedener Faktoren in den geschichtlichen Vorgängen zur Geltung brachte 116 . Aber er konnte die Eigenständigkeit empirischer Sozialwissenschaft gegenüber den Kulturwissenschaften nicht aufzeigen 117 und blieb letztlich doch noch im Bannkreis des Historismus und einer geisteswissenschaftlichen Verstehensproblematik, was zu mancherlei Widersprüchen in der Durchführung seiner eigenen Forderungen an eine empirische Wissenschaft führte 1 1 8 . Auch sein Verständnis des Menschen als Träger sinnhaften Handelns war von kulturphilosophischen Voraussetzungen bestimmt, ohne daß er kritisch bedachte, inwiefern seine empirischen Analysen in ihrem Vollzug davon betroffen wurden. Selbst die idealtypische Methode seiner empirischen Analyse muß wahrscheinlich im Zusammenhang seiner Anthropologie gesehen werden 1 1 9 . Ohne Zweifel hat Weber sie als heuristisches Mittel zur Erforschung empirischer Wirklichkeit verstanden und nicht als philosophisches Deutungssystem, aus dem man die Wirklichkeit deduzieren könnte (vgl. u. a. W . L., S. 205; Baumgarten, a.a.O., S. 595 ff.), aber die erkenntnistheoretischen Implikationen dieser Methode hat er nicht ins Bewußtsein erhoben. Er hat zwar als die „vorwissenschaftliche" Voraussetzung aller Kulturwissenschaft die „Wertbeziehung" ausdrücklich genannt, aber er hat nicht darüber reflektiert, inwiefern die Wertbeziehung nicht nur die Auswahl des Forschungsgegenstandes, sondern den gesamten Verlauf der Untersuchung bestimmt und inwiefern sie auch durch den Ausgang der Untersuchung korrigiert werden kann 120 . Seine Forderung, daß sich die Theorie der Kontrolle durch die Empirie aussetzen müsse, war ein entscheidender Schritt in Richtung empirischer Forschung, aber indem er auf Grund seiner philosophischen Anthropologie die Frage der Verbindlichkeit im Sinne letzter subjektiver Stellungnahme verstand, entzog er sie faktisch der Kritik durch wissenschaftliche Analyse und übersah, daß es möglich sein müßte, angesichts der Erkenntnis von empirischen Wirkzusammenhängen auch seine „letzten Uberzeugungen" zu korrigieren. So war es ihm beispielsweise trotz seines Dezisionismus möglich, einem extremen Nationalismus zu huldigen, die Wirtschaft ganz der Machtpolitik der Nation unterzuordnen und auch anthropologisch die Bestimmtheit des Menschen durch die Nation in einer Weise zu behaupten, wie sie sich angesichts empirischer Analyse nicht halten läßt (vgl. Baumgarten, in: Stammer, S. 230; Habermas, S. 79ff.). Faktisch übte Weber ständig Kritik an philosophischen Posi265

tionen. Letztlich war ja auch seine Studie über den Geist des Kapitalismus und die protestantische Ethik als Falsifizierung der marxistischen Geschichtsphilosophie auf empirischer Grundlage gedacht (vgl. Baumgarten, Weber, S. 574 ff.)- Jedoch zog er daraus nicht grundsätzlich die erkenntnistheoretische Folgerung, daß empirische Analysen philosophische Deutungen der personalen und geschichtlich-sozialen Wirklichkeit falsifizieren können 1 2 1 . Aber wenn ihm auch angesichts der allgemeinen Tendenzen seiner Zeit eine erkenntnistheoretische Grundlegung seines neuen Wissenschaftsverständnisses nicht möglich war, hat Weber doch deutlich gemacht, welcher Art die Fragestellung empirischer Sozialwissenschaft ist und woraus sie ihre Dynamik bezieht: nicht aus der philosophischen Sinnfrage, sondern aus der Frage nach der Wahrheit, die er als Frage nach der Wirklichkeit im empirisch-geschichtlichen Sinne versteht. Es ist diese Frage nach der Wirklichkeit im geschichtlichen Sinne, welche die B e deutung Max Webers für die empirische Wissenschaft, aber auch die Grenze zeigt, auf welche er in seinem Denken gestoßen ist. Er steht an der Wende zwischen Altem und Neuem, nicht nur im Blick auf die politische Geschichte, an der er teilhat, sondern auch im Blick auf die Wissenschaftsgeschichte122. Die Frage des 19. Jahrhunderts nach der Geschichte erfährt in seiner Fragestellung eine Zuspitzung, insofern er sich gegen jede Art der Identifizierung von geschichts- und sozialphilosophischer Sinndeutung mit der geschichtlich-sozialen "Empirie wendet und den philosophischen Systemen die Möglichkeit bestreitet, von ihren eigenen Voraussetzungen her die Fragen zu lösen, die sich dem Menschen von der Empirie her stellen (vgl. u. a. W . L., S. 196ff., 204f.). Die Bewältigung dieser Probleme erforderte eine neue Konzeption von Wissenschaft. Daß Weber eine solche für möglich hielt und damit den Anstoß zur Suche nach neuen Wegen gab, das hält Parsons mit Recht für die eigentliche Bedeutung Max Webers (a.a.O., S. 64). Dieser „Entwurf einer neuen wissenschaftlichen Orientierung", welche zur Erfassung der neuen Situation unentbehrlich sei, wird von Parsons gleichzeitig als ein Kennzeichen des tiefgreifenden geschichtlichen Wandels der Gegenwart selbst verstanden (in: Stammer, S. 64; vgl. Topitsch, ebd., S. 2off.). Im Blick auf die Wissenschaftsgeschichte präzisiert Baumgarten diese Wende, die sich mit Max Weber vollzog, als das Eintreten der Sozialwissenschaften in die galileische Epoche, deren Problemstellung dadurch gekennzeichnet sei, daß sie in Abwendung von einer Substanzmetaphysik nach dem Ablauf möglicher Ereignisfolgen unter wechselnden Bedingungen fragt 1 2 3 . 266

d) Die strukturell-funktionale Theorie und ihre Gegner In direkter Anknüpfung an Max Weber hat Talcott Parsons seine strukturell-funktionale Theorie entfaltet, die den Weg zu einer umfassenden theoretischen Grundlage aller Sozialwissenschaften als „Wissenschaften vom Handeln" aufzuzeigen versucht 124 . Ihr gegenüber stellen sich die Probleme ähnlich wie hinsichtlich der transzendentalen und dialektischen Theorie. Ihre philosophische Basis, die in der Tradition des Positivismus steht, läßt sich jedoch schwerer erkennen, weil Parsons sie als soziologische Theorie im Sinne neuzeitlicher Erkenntnis- und Wissenschaftslehre versteht 125 . Angesichts der umfangreichen Sekundärliteratur zu seiner Theorie genügt eine kurze Skizze, welche die Schwerpunkte verdeutlicht. Als Bezugspunkt wählt Parsons unter den verschiedenen sich anbietenden Möglichkeiten das „soziale Handeln" 126 . Es wird im Sinne von Max Weber als Handeln eines oder mehrerer Individuen verstanden, das auf das Verhalten anderer bezogen ist 127 . Parsons schließt sich Webers Meinung an, daß „soziales Handeln" sinnvoll und motiviert sein muß, um einer Analyse zugänglich sein zu können 128 . Er entfaltet seine Grundkategorie in einem Bezugssystem, das aus drei anderen Hauptkategorien besteht: der Handelnde („actor"), Situation des Handelns („Situation of action"), Orientierung des Handelnden auf diese Situation hin („orientation of the actor to the Situation", Toward, S. 56). Dabei ergibt sich als eigentliches Problem, in welcher Weise sich die Orientierung des Handelnden vollzieht. Parsons entwickelt zur Klärung dieser Frage Klassifikationsschemata, auf Grund deren sich Situationsstrukturen sinnhaften Handelns vergleichen lassen (vgl. Entwicklungen, S. 34). U m aber soziales Handeln erklären zu können, muß auch die Gesellschaft analysiert werden, in welcher das Individuum steht. In ihr als Umwelt („environment") ist die individuelle Situation eingebettet (Theory, S. 196). Der Gesellschaftsanalyse dient die „strukturell-funktionale" Theorie 129 . Ihre Grundkategorie ist das „soziale System" 1 3 0 . Man kann sagen, daß Parsons Gesellschaft als soziales System analysiert. U m einen Ansatzpunkt für die Analyse zu finden, unterscheidet er die „Strukturen" als mehr oder weniger stabile Elemente des Systems, vergleichbar einer anatomischen Struktur, und „Funktionen", welche die veränderlichen Teile bezeichnen 131 . Er bezieht sich dabei auf die biologische „Analyse selbstregulierender Systeme" (a.a.O., S. 35). Zwar ist er sich des Dilemmas bewußt, daß man „konstante" und „variable" Elemente eigentlich nicht in dieser Weise unterscheiden kann. Aber er setzt hier an, um überhaupt das Phänomen „Gesellschaft" greifen zu können 132 . Die „struk267

turellen" Elemente eines sozialen Systems meinen die Gleichförmigkeiten, die sich in allem Wandel erhalten und deswegen für die Analyse als gegeben vorausgesetzt werden können. Diese an sich pragmatische Setzung hat weitreichende Folgen, da sie mit dem biologischen Organismusmodell verbunden wird und gesellschaftspolitische Implikationen enthält. Das „Konstante" erscheint als das, was gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrem Zusammenhalt garantiert und ihre Ordnung erst ermöglicht. Hier setzt vor allem die deutsche Kritik an 1 3 3 . Aus den beiden von Parsons entwickelten Theorien des sozialen Handelns und der strukturell-funktionalen Analyse erwächst das theoretische Grundproblem: Sie müssen miteinander verbunden werden. Das Individuum, nach dessen sozialer Orientierung die Theorie des sozialen Handelns fragt, und die Gesellschaft, für die das „soziale System" steht, müssen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Der Ansatz von Parsons zeigt hier die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft, wie sie für die Sozialphilosophien des 19. Jahrhunderts typisch ist. Die Verknüpfung beider Theorien geschieht in dem für Parsons konstitutiven Begriff der „Rolle" 1 3 4 . Sie meint einen Sektor im Handlungssystem des Individuums, durch welchen es mit dem sozialen System verknüpft ist. Das soziale Handeln erscheint im sozialen System als Funktion, welche die Rolle vollzieht 135 . Es läßt sich nun in seinem durch das soziale Rollensystem bestimmten Vollzug erklären 136 . Auf diese Weise lassen sich auch strukturell-statische mit den dynamischen, variablen Elementen verbinden. Aber noch bleibt die Frage offen, woher das soziale Rollensystem normiert wird und in welcher Beziehung es zu den Motivationen des Handelnden steht. Denn Handeln ist für Parsons immer motiviert. Diese Verbindung leistet das Normen- und Wertesystem. Es bezeichnet die Wertvorstellungen in einer Gesellschaft, die als Normen das Handeln der Menschen und Gruppen durch ihre Institutionen regulieren 137 . Eine Verbindung zwischen Institutionen und Individuum wird möglich durch die Internalisierung der Werte und Normen im Individuum. Parsons meint damit, daß der Wunsch zur Verwirklichung der Werte der so normierenden Gesellschaft zum Bedürfnis des Individuums wird und in seine Motivationsstruktur eingeht 138 . Das Wertesystem als „Kultur" normiert durch die Institutionen alle Beziehungen in der Gesellschaft 139 . So werden die sozialen Handlungen in der strukturell-funktionalen Analyse durch ein personales, soziales und kulturelles System organisiert (Toward, S. 54fr.). Dem personalen und sozialen System entspricht eine empirische Realität, dem kulturellen nur eine symbolische (a.a.O., S. 54). Parsons kann von dem sozialen System auch als einem „lebendigen" sprechen 140 . Seine Eigendynamik ist auf seine Selbsterhaltung bezogen 141 . Umgekehrt kann 268

die Person im sozialen System gewissermaßen aufgehen. Sie ist ersetzbar durch größere Einheiten wie Firmen und Haushalte 142 . In der strukturellfunktionalen Theorie löst sie sich faktisch auf; in der Theorie vom sozialen Handeln erscheint sie nicht in der geschichtlich-sozialen Lebenswelt, sondern ihr gegenüber, nur durch die Frage nach der Orientierung des Handelns und seinen Bedingungen mit ihr verknüpft 143 . Ebenso wird im „sozialen System" von der geschichtlich-sozialen Welt abstrahiert 144 . U m überhaupt einen Anhaltspunkt in der Wirklichkeit zu haben, müssen variable Faktoren in konstante Faktoren umgedacht werden. So entsteht ein Zwang zu ständig neuen Konstruktionen, durch welche die durch begriffliche Definitionen auseinandergerissenen Elemente gedanklich wieder verknüpft werden können. Die geschichtlich-soziale Vermitteltheit von Personen, Gruppen, Institutionen, Normen, Werten, Handeln usw. wird dabei übersprungen. Schon im Ansatz wird die Wechselwirkung zwischen Person und sozialem Feld aufgehoben 145 . Statt dessen stehen sich ein abstraktes Individuum und ein abstraktes System gegenüber. Die meist aus der experimentellen Sozialpsychologie entlehnten Kategorien werden ohne ihren erkenntnistheoretischen Bezugsrahmen übernommen und in einen sozialanthropologischen Rahmen hineingestellt. Man könnte das Dilemma der Theorienbildung bei Parsons so beschreiben, daß er trotz Aufnahme feldtheoretischer Forschungen über die Gruppendynamik doch dem aristotelischen Wissenschaftsverständnis verhaftet blieb und darum in seiner Begriffs- und Theorienbildung den Empiriebezug nicht kritisch reflektierte 146 . Wir wollen es an einigen charakteristischen Punkten veranschaulichen. Das eigentliche Grundproblem der Theorie des sozialen Handelns, die Klassifizierung möglicher Weisen der Orientierung desselben, löst Parsons mit Hilfe von fünf Dichotomien (pattern variables). Sie formulieren die Alternativen der Wahl für die Handlungsorientierung des Individuums. Erst wenn es die verschiedenen Entscheidungen in bezug auf die Dichotomien getroffen hat, ist die Situation strukturiert und gewinnt für ein motiviertes, sinnhaftes Handeln eine Bedeutung 147 . Der Kern der strukturell-funktionalen Theorie besteht aus vier Kategorien (system imperatives oder system problems), die sich auf die Strukturerhaltung, das Erreichen von Zielen, die Anpassung und Integration im sozialen Prozeß beziehen. Indem sie zur Kennzeichnung der im sozialen System ablaufenden Vorgänge verwandt werden, werten sie gleichzeitig das soziale Handeln danach, ob es sich zur Selbsterhaltung des sozialen Systems funktional oder disfunktional verhält 148 . Dieses entspricht dann 269

der für die aristotelische Klassifizierung typischen Dichotomie von „norm a l " und „pathologisch" (d. i. abweichendes Verhalten) 1 4 9 . Das Modell für das „soziale System" ist die „biologische Konzeption der durch Selbstregulierung gewährleisteten Konstanz der inneren U m w e l t eines Organismus" (Entwicklungen, S. 35). V o n dieser Vorstellung her erhält das soziale System eine Eigenwirklichkeit. Es lebt wie der Organismus von seinen Organen von den Funktionen der Menschen in ihm. Sie haben seiner Eigentendenz zur Selbsterhaltung zu dienen, in welcher der soziale Prozeß sein Ziel findet 1 5 0 . Durch die Institutionalisierung und Internalisierung der Normen wird im Individuum dieselbe Teleologie wirksam wie im System. Die Dynamik des sozialen Prozesses und der in ihm befindlichen Individuen wird damit automatisch bestimmten N o r m und Kulturtypen zugeordnet und phänotypisch klassifiziert. Die Einheit der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit wird als Umgriffensein von einem gemeinsamen Werte- und Normensystem verstanden 1 5 1 . Dieses erzeugt gleiche Zielgerichtetheit des Handelns bei den Gliedern der Gesellschaft. D e m Faktum, daß in einer Gesellschaft Gruppen mit ganz verschiedenen Wertvorstellungen existieren und miteinander in Wechselwirkung stehen können, ist hier nicht Rechnung getragen. Diese „teleologische" und biologistische Auffassung sozialer Wirklichkeit entspricht dem aristotelischen Wirklichkeitsverständnis 152 . Einer sozialen Mythenbildung werden damit alle Türen geöffnet. Hiermit beschäftigt sich vor allem die Kritik von Bergmann und Kellermann 1 5 3 . Uns geht es hier nicht u m die Art politischer und gesellschaftlicher Implikationen und sozialphilosophischer Abhängigkeiten, sondern um die Weise der Theorienbildung. Aus der Analogie einer biologischen und sozialwissenschaftlichen Theorienbildung wird bei Parsons eine Analogie von biologischen und sozialen Prozessen. Die theoretischen Abstraktionen werden nicht zur Analyse, sondern zur Beschreibung von empirischen Sachverhalten gebraucht, so daß etwa das Organismusmodell mit konkreten Gesellschaftsstrukturen identisch werden kann. Umgekehrt werden die tatsächlichen Wirkzusammenhänge unter den theoretischen Konstruktionen verdeckt. Die analytische Kategorie des Systemes und das empirisch vorgefundene System fallen ineinander 154 . Darin sehen wir die schwerwiegendste Folge der strukturell-funktionalen Analyse 1 5 5 . Sie zeigt sich in der Begriffsbildung darin, daß nicht mehr kritisch reflektiert wird, auf welche Art von Prozeß die Theorie sich bezieht 156 . Der ständige Wechsel des B e zuges der Begriffe und die dadurch entstehende begriffliche Unklarheit und Verschwommenheit ist der Hauptgegenstand fast aller Kritiker von

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Parsons 157 . Er hat seinen Grund in der aristotelischen Begriffsbildung selbst, die auch nicht zwischen verschiedenartigen Prozessen, beispielsweise biologischen und physikalischen, differenzierte 168 . Für die empirischen Theorien ist es eine der wichtigsten Forderungen, daß die Begriffe ihre inhaltliche Bestimmung von der Art des Prozesses her finden, zu dessen Analyse sie dienen sollen (s. o. S. 210). Die Theorie von Parsons baut sich nicht von operationalen Begriffen her auf 1 5 9 . Da er ihren Bezug zur geschichtlich-sozialen Empirie nicht erkenntniskritisch reflektiert, werden die in der Wirklichkeit liegenden Differenzen übersprungen 160 . Gesetze können dann nur noch durch Klassifizierung phänotypischer Merkmale Zustandekommen. Die Theorie bezieht sich nach Parsons auf Gleichförmigkeiten, Stabilitäten und Ähnlichkeiten, wie sie in der Empirie auffallen, häufig festzustellen sind oder immer wieder auftreten 161 . Dahinter steht die aristotelische Dichotomie von Besonderem und Allgemeinem, die den Zugang zur Analyse des konkreten Einzelfalles verstellt 162 . Die theoretischen Lehrsätze (Propositionen) sind darum Verallgemeinerungen, wie sie aus dem Organismus-Modell und den ihm entsprechenden Kategorien gewonnen werden (Theory, S. 2 i 6 f f ) . So geht etwa die Hierarchie der sozialen Kontrolle von den kulturellen Normen bis in die physische Basis hinein. Der soziale Prozeß muß sich zu den Gesetzen der normativen Ordnung konform verhalten. Die Handlungseinheiten werden auf Grund von Institutionalisierung und Internalisierung in das normative System der Kultur integriert. Änderung der Richtung des sozialen Prozesses geht jeweils auf Störungen zurück in den Beziehungen zwischen einem Handelnden (bzw. einem handelnden System) und seiner Situation (bzw. der Bedeutung von Objekten). Wenn alle Beziehungen im System stabil sind, gibt es keinen Prozeß, der für eine Theorie des Handelns ein Problem stellen könnte (Theory, S. 217). Theoretische Lehrsätze solcher Art werden Bezugsrahmen für die Auswahl, Ordnung und Interpretation sozialer Phänomene. Da Parsons mit normativen Begriffsbestimmungen einsetzt, in deren Mittelpunkt die Begriffe Rolle und Institution stehen, untersucht er in seiner analytischen Theorie eine vorgängig philosophisch bestimmte Wirklichkeit 163 . So kann sich die konditional-genetische Frage gar nicht mehr stellen (s. o. S. 2o6f. und S. 213). Die Beschreibung von Beziehungen wird verwechselt mit einer Erklärung der ihnen zugrundeliegenden Wirkzusammenhänge (vgl. auch Homans, a.a.O., S. 97). Die erkenntnistheoretischen Fragen empirischer Wissenschaft, z. B. die kritische Frage nach der Ausgrenzung der Untersuchungseinheiten164, der Aus- und Einblendung, der Bedeutung von Wahrnehmungsvorgängen, der Ver271

schiedenartigkeit der Dimensionen, der Art der Prozesse, der Weise der Vermitteltheit, nach dem Verhältnis von Ganzem und Teilen usw. werden nicht reflektiert. Homans weist deswegen auf die Notwendigkeit hin, zwischen funktionaler Analyse als Methode in den empirischen Wissenschaften und einer funktionalistischen Theorie zu unterscheiden (a.a.O., S. 97). Parsons ist fast nur an der Verwertung empirischer Forschung als Bausteine für die Bildung seiner Theorie interessiert. Der Hintergrund seines Denkens bleibt die Erkenntnisproblematik der Sozialphilosophie des 19. Jahrhunderts. Ein wichtiges Problem, besonders in der Auseinandersetzung zwischen Homans und Parsons, ist die Frage des Empiriebezuges der Theorie selbst. Parsons betont verschiedentlich, seine theoretischen Schemata seien nicht als empirische Beiträge gemeint (vgl. Theory, S. 218). Aber das Verhältnis von Theorie und Empirie bleibt ungeklärt. Homans meint dagegen, daß in die Theorie bereits eine Erklärung der untersuchten Wirklichkeit eingehe 165 . Darum muß festgestellt werden, inwiefern Theorie selbst schon Erklärung sein kann 166 . Lewin versteht seine Feldtheorie als ein methodisches Werkzeug, Zusammenhänge in der Wirklichkeit aufzuweisen. Seine Formel V = F (P, U) = F (L) gibt bereits die Erklärung, daß die geschichtlich-soziale Dynamik in der Wechselwirkung zwischen Personen bzw. Gruppen und ihrer Umwelt zu suchen ist. Der geschichtlich-soziale Prozeß ist nicht denkbar ohne die Anwesenheit konkreter Menschen in ihm, wie umgekehrt der Mensch nicht ohne seine geschichtlich-soziale Lebenswelt. Alle sozialwissenschaftliche Theorie hat es mit diesem Sachverhalt zu tun. In ihm kommt die Eigenart des geschichtlichsozialen Prozesses zum Ausdruck, welcher der Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Analyse ist. Homans bringt ihn mit der Forderung zum Ausdruck, daß „Persönliches und Soziales nicht getrennt werden" können (in: Zapf, S. 106). Im Sinne von Homans (Elementarformen, S. 9f.) beginnt die Feldtheorie mit einem Satz und nicht mit „Wörtern" oder „Begriffen", die erst nachher mittels eines theoretischen Bezugssystems zusammenzufügen wären. Sie setzt ganzheitlich im Sinne der Gestalttheorie an und bedient sich einer operationalen Begriffsbildung 167 . Darum geht sie von den Z u sammenhängen aus, in welchen die verschiedenen Faktoren als in einem Wirkzusammenhang gegeben sind. Die Auflösung desselben in seine einzelnen Elemente würde die Auflösung der damit gemeinten Wirklichkeit bedeuten. Aus der Anatomie eines Knochengerüstes lassen sich keine Aussagen über das Leben und Verhalten wirklicher Menschen ableiten. Man muß schon von dem Lebenszusammenhang selbst, das ist, von der 272

Art des Prozesses ausgehen, um zu solchen Aussagen zu kommen. Die Erkenntnis der Art der Zusammenhänge ist die Voraussetzung für die Erhellung konkreter Sachverhalte in der Situation. In die Begriffs- und Theorienbildung müssen diejenigen Zusammenhänge eingehen, welche für die gemeinte Wirklichkeit konstitutiv sind. Erst dann werden die Erklärungen in der Praxis ermöglicht. Indem sich solche durch Experimente verifizieren lassen, bestätigt sich gleichzeitig, daß die Zusammenhänge richtig gesehen wurden. Die Analyse selbst muß jeweils von der konkreten Situation ausgehen 168 . So ist die Theorie in den erkenntniskritischen Umgang mit der Wirklichkeit einbezogen und von demselben nicht ablösbar. Darum ist Homans zuzustimmen, wenn er sagt, daß „Denken in Begriffsrahmen und anatomischen Aussagen" noch nicht für eine Theorie im Sinne empirischer Wissenschaft genüge, sondern daß die Beziehungen zwischen den Kategorien konstitutiv sind (a.a.O., S. io) 169 . Nur unter dieser Voraussetzung können Theorien eine Erklärung implizieren, „warum unter gewissen Bedingungen ein bestimmtes Phänomen eintritt" (Sozialwissenschaft, S. 33; auch S. 22). Während die empirische Sozialpsychologie heute die Art der Zusammenhänge, die für ihr Forschungsobjekt konstitutiv sind, immer besser in das Blickfeld bekommt, scheint auf dem Gebiet der Soziologie in dieser Hinsicht noch große Unklarheit zu herrschen. Wenn sie zum Erklären wirklicher Sachverhalte übergeht, wird sie fast immer zur Sozialpsychologie. Homans als Soziologe ist sogar der Meinung, daß alle fundamentalen Lehrsätze in den Sozialwissenschaften psychologischer Natur sind (Sozialwissenschaft, S. 71 f.) 1 7 0 . In der Kontroverse zwischen den beiden Kollegen an der Harvard University Homans und Parsons werden der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund und die springenden Punkte der theoretischen Problematik besonders deutlich. Homans in seinem Bestreben, die Beziehung zum konkreten Menschen und den Zusammenhängen der geschichtlichsozialen Lebenswelt zu halten, orientiert sich an der Psychologie als Grundlagenwissenschaft. Parsons, ganz dem Phänomen Gesellschaft zugewandt, sucht die Verbindung zur allgemeinen sozialphilosophischen Tradition, in die er sozialpsychologische Forschungsergebnisse zu integrieren versucht. Hinter Homans steht die traditionelle Sorge der Psychologie um das Individuum, hinter Parsons die holistische Gesellschaftstheorie, die über den einzelnen Menschen hinweggeht. So versteht Homans den Gegensatz zu Parsons als den Gegensatz zwischen einem „methodologischen Individualismus" und einem „methodologischen Sozialismus" (Sozialwissenschaft, S. 61 ff). Damit stellt er die Ausein273

andersetzung selbst in den Horizont der Wissenschaftsgeschichte. Denn hinter ihr wird der Gegensatz von John Stuart Mill, nach Popper Vertreter eines „methodischen Individualismus", und M a r x als Repräsentant eines „methodischen Kollektivismus" in den Anfängen sozialwissenschaftlicher Theorienbildung sichtbar 1 7 1 . Die Darstellung von Popper zeigt die Überholtheit dieser Fronten, gleichzeitig aber das Nachwirken derselben in der gegenwärtigen Wissenschaftsgeschichte. Die Fragen sind noch nicht gelöst, sondern haben sich nur gewandelt. Das wissenschaftstheoretische Problem tritt dabei in seinen komplexen geschichtlichen Zusammenhängen hervor. W e n n Homans als Soziologe im Ansatz der Theorienbildung auf die Psychologie zurückgeht und Parsons in seinem System von einem spekulativen sozialphilosophischen Interesse geleitet wird, stellt sich die Frage: W o bleibt die Soziologie als eigene Disziplin mit einem eigenen Forschungsgegenstand? Beide suchen die Einheit der Sozialwissenschaften auf einer gemeinsamen theoretischen Grundlage, der eine von der Psychologie, der andere von der Soziologie her. Dabei ist der springende Punkt, in welcher Weise der Mensch in der sozialen Welt enthalten ist und was das für die sozialwissenschaftliche Erklärung bedeutet. Für Homans meint die psychologische Erklärung eine Rückführbarkeit; aller soziologischen Fakten auf psychologische. So sieht er als Kernproblem der Sozialwissenschaft an: „ W i e ergeben sich aus dem Verhalten von Individuen die charakteristischen Merkmale von Gruppen" (Sozialwissenschaft, S. 95) ?

Parsons sieht das Ableitungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum genau umgekehrt. Wenn man in dieser Weise das eine aus dem anderen ableitet, besteht die Gefahr, daß dem jeweils Abgeleiteten ein geringerer Grad an Wirklichkeit und Bedeutungsgehalt zugeschrieben wird. Genetische und ontologische Fragestellung werden nicht genügend differenziert (s. u. S. 288) 172 . Solche Vermischung zeigt sich schon bei M a r x und Mill. Der eine versucht, das menschliche Bewußtsein aus dem gesellschaftlichen Sein, der andere, die gesellschaftlichen Phänomene aus psychologischen Gesetzen der menschlichen Natur zu erklären 1 7 3 . Der gesetzte Anfang gilt dann jeweils als die eigentliche Wirklichkeit (s. u. S. 285). So liegen verschiedenartige Fragestellungen undifferenziert in einem Knäuel ineinander, das sich für die allgemeine Diskussion bis heute noch nicht entwirrt hat. Gleichzeitig sind sie mit einem Autonomie- und Statusstreit der Disziplinen verbunden 1 7 4 . Dieser ist nur zu überwinden durch die Entwicklung beider Disiplinen zu interdisziplinären Wissenschaften, die Gemeinsamkeit und Differenz zu präzisieren vermögen.

274

Trotz seines „methodologischen Individualismus" geht Homans von einer Wechselbeziehung des Individuums mit dem sozialen Feld aus, nicht von einer isoliert gesehenen individuellen Situation (s. o. S. 34f.). Die soziale Welt wird nicht einfach zur Funktion des Menschen, wie bei Parsons das Individuum zur Funktion im System wird 1 7 5 . Nur stellt Homans diese Wechselbeziehung einseitiger als Lewin unter die individuelle Perspektive. Man könnte sogar sagen, daß Homans dadurch in gewisser Hinsicht ein Korrektiv gegenüber der Gefahr Lewins hat, das Individuum vom sozialen Prozeß umschließen zu lassen (s. o. S. 7of.). Andererseits erscheint aber auch die Perspektive des geschichtlichsozialen Feldes bei Homans verkürzt, z. B . in der einseitigen Bestimmtheit durch die Kategorien von Belohnung und Strafe (vgl. Elementarformen). Andere Differenzen können wir in dem gegebenen Zusammenhang nicht mehr entfalten. Wichtig ist die Einsicht, daß geschichtlichsoziale Phänomene auch in einer Soziologie nicht ohne Bezug auf konkrete Menschen und Gruppen erklärt werden können. Während Homans einen von der Psychologie abzugrenzenden soziologischen Forschungsgegenstand nicht hat, befindet sich Parsons auf der Suche danach. Aber seine strukturell-funktionale Analyse zeigt keinen Weg zu einer genaueren Bestimmung desselben. Mit Recht bezeichnet Kellermann die Theorie von Parsons als eine Soziologie der Ordnung und der sozialen Systeme. Nach Rüschemeyer ist die leitende Frage: Wie ist gesellschaftliche Ordnung möglich? (Parsons, S. 18), nach Bergmann: Wie kommt Gesellschaft als Ordnung von sozialen Beziehungen zustande (Theorie, S. 28) ? Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß Parsons durch die Verbindung der strukturell-funktionalen Theorie mit dem Bezugssystem des sozialen Handelns auch Erklärungen sozialen Handelns beabsichtigt. W o man auch die Akzentsetzung seiner Fragestellung sehen möchte, in jedem Fall darf die geschichtlich-soziale-personale Vermitteltheit aller sozialen Systeme und allen sozialen Handelns nicht übersprungen werden. Auch die institutionellen und normativen Faktoren sind in den komplexen geschichtlich-sozialen-personalen Prozeß eingebettet; Institutionen haben nicht aus sich selbst heraus die Kraft, soziale Beziehungen zu regeln. Menschen und Gruppen können sich ihrer unter ganz verschiedenen Interessen und Bedürfnissen, Wertvorstellungen und Zwecksetzungen bedienen 176 . Sie sind nicht einfach Ausdruck umgreifender, integrierender Norm- und Wertsysteme. Genauso können sie Ursache von sozialen Konflikten und Werkzeuge im Machtkampf sein. Vorhandene Institutionen können zu einem leeren Flußbett werden, durch welches der geschichtlich-soziale Prozeß nicht mehr fließt. 275

Auch läßt sich nicht von den ganzheitlichen Wirkzusammenhängen personaler Situationen absehen. Keine Gesellschaft, kein Industriebetrieb kann es sich auf die Dauer leisten, den Menschen in seiner Ganzheit zu ignorieren. Er läßt sich nicht wie ein Organ im Organismus durch ein System funktionalisieren. Darum können auch Individuum und soziales System nicht über die Kategorie der „Rolle" in direkter Weise miteinander verknüpft werden. Die Rolle bezieht sich nicht auf ein tatsächliches Verhalten, sondern auf ein erwartetes. Sie ist ein normativer Begriff 177 . Es ist denkbar, daß man eine betriebliche Organisation als Rollensystem analysiert, um gewisse Funktionszusammenhänge deutlich zu machen, beispielsweise für Stellenbeschreibungen. Aber auch hier kann der Begriff der Rolle nur eine begrenzte Orientierungshilfe für systemimmanente Vorgänge sein, nicht für das Verhältnis von System und Umwelt. Es können etwa Ereignisse auftreten, welche eine plötzliche Umstellung der ganzen Produktion und der damit verbundenen Organisation nötig machen. Richtung und Struktur erhält der Produktionsprozeß nicht von seinem Organisationsschema, sondern aus der Wechselwirkung von Menschen mit dem sozialen Feld. Dasselbe gilt für den Gesellschaftsprozeß. Ein einzelner Mensch oder eine kleine Gruppe können unter Umständen die Richtung des Gesellschaftsprozesses mehr bestimmen als Institutionen. So erscheint uns auch durch den Systembegriff, wie ihn Parsons versteht, Fragestellung und Forschungsgegenstand einer Soziologie der Ordnung im empirischen Sinne nicht angemessen bestimmt zu sein. Auf Grund der bisherigen Überlegungen möchten wir aufzuzeigen versuchen, welche Konsequenzen sich für eine Aufgaben- und Verhältnisbestimmung von Sozialpsychologie und Soziologie ergeben könnten. Die Klärung der geschichtlich-sozialen und personalen Prozesse fiele unseres Erachtens der Sozialpsychologie zu. Sie würde Kenntnisse von den gesellschaftlichen Vorgängen ermöglichen als Grundlage für die Leitung und Regulierung derselben. Die Soziologie wäre die Wissenschaft von Einrichtungen im Dienste sozialer Handlungen. Sie hätte es mit der ganzen Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit der Mittel der äußeren Gestaltwerdung und Verwirklichung des geschichtlich-sozialen Prozesses in seinen verschiedenen Bereichen zu tun. Dabei geht es nicht nur um die genaue Analyse vorhandener Organisationen und Systeme, sondern auch um die Erfindung neuer Einrichtungen auf wissenschaftlicher Grundlage, deren der geschichtlich-soziale Prozeß für seinen Verlauf in die Zukunft hinein bedarf. Das Studium von Einrichtungen und Werkzeugen sozialen Handelns 276

kann nur in ständigem Bezug zum geschichtlich-sozialen Prozeß durchgeführt werden, in dem diese ihre Funktion haben. Sie stehen in Industrie, Politik, Kirche, Schule usw. in sehr verschiedenartigen Zusammenhängen. Die Probleme stellen sich in einer Kirchensoziologie anders als in einer Wirtschaftssoziologie. Hier ist alles bezogen auf die Vermittlung des Evangeliums, auf seelsorgerliche und erziehende Tätigkeit, auf Gemeindebildung u. a. Davon müssen Auswahl und Art der Mittel bestimmt sein. In der Wirtschaftssoziologie haben die Einrichtungen dem Produktionsprozeß zu dienen. So hat es die Soziologie in ihrer Bezogenheit auf den geschichtlich-sozialen Prozeß genauso wie die Sozialpsychologie mit Problemen der Dimensionalität und geschichtlichsozialen Vermitteltheit zu tun. Das macht das ständige Gespräch mit ihr und den anderen Wissenschaften nötig. Sie kann sich nur als interdisziplinäre Wissenschaft entfalten. Eine Soziologie solcher Art zeigt beispielsweise Popper unter der etwas seltsamen Bezeichnung „Stückwerk-Technologie" (Elend, S. 47 ff.). Diese weiß, daß die Endziele der Prozesse jeweils außerhalb ihres wissenschaftlichen Bereichs liegen. Im Unterschied zu den holistischen Theorien der Gesellschaft kennt sie ihre vielfachen Begrenzungen. Eine völlige Verplanung geschichtlich-sozialer Wirklichkeit ist nicht möglich. Institutionen sind nicht nur Ergebnis bewußter Planung, sondern wachsen auch selbst aus sozialen Prozessen heraus (Popper, a.a.O., S. 52f.). Dennoch kann die Soziologie Behauptungen aufstellen, die in mancher Hinsicht der Formulierung von Naturgesetzen entsprechen: z. B . „dies oder jenes kann nicht geschehen" (S. 49). „Man kann die und die Resultate nicht gewinnen." „Man kann die und die Ziele nicht ohne die und die Nebenwirkungen erreichen." Popper führt eine Reihe Beipiele solcher Gesetze an, wie etwa: „Man kann keine politische Reform durchführen, ohne dadurch Rückwirkungen zu verursachen, die vom Standpunkt der angestrebten Zwecke unerwünscht sind" (S. 50). Dabei müßte es nicht nur um die konstruktive äußere Gestaltung sozialer Wirklichkeit gehen, sondern gewissermaßen auch um die Inneneinrichtung, um ihre Angepaßtheit an die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der Menschen, deren individuelle Lebensgestaltung von den sozialen Einrichtungen abhängig ist. Eine solche Aufgabe würde genauso wie die des Psychologen eine humane Einstellung verlangen. Ihre Voraussetzung ist die Befreiung der Soziologie von einem weltanschaulich-philosophischen Rahmenwerk, durch welches diese zum Werkzeug der Durchsetzung bestimmter Ideologien gemacht wird 1 7 8 . Erst nach einer Entmythologisierung der Metaphysik der Ordnungen und Systeme, um die es in den verschiedenen Ideologien unserer Zeit geht, kann sich die Sozio277

logie theoretisch und praktisch auf der Grundlage eines galileischen Wissenschaftsverständnisses voll entfalten. Sozialwissenschaftliche Theorien können die Totalität der Gesellschaft nicht erfassen, aber sie sind nötig, um die Zusammenhänge in der Gesellschaft besser begreifen und die gesellschaftliche Wirklichkeit besser gestalten zu lernen 179 . Wenn uns die strukturell-funktionale Theorie aus den angeführten Gründen für analytische Zwecke ungeeignet erscheint, weil sie von ihrem Ansatz im aristotelischen Wissenschaftsverständnis her die gewünschten Erklärungen empirischer Sachverhalte nicht geben kann, bleibt zu fragen, wie sich ihre unbestreibare Wirkung erklären läßt. Homans sagt in ausdrücklichem Bezug auf die Theorie von Parsons: „Ein großer Teil der modernen soziologischen Theorie scheint mir jede Art von Tugend zu besitzen, nur nicht die, etwas zu erklären" (Elementarformen, S. 9). Welches sind solche „Tugenden" der Theorie von Parsons? Man kann davon ausgehen, daß die analytischen Begriffe nicht unbedingt völlig „leer" sein müssen. Sie könnten sich auf Sachverhalte beziehen, die dem Aussagenden selbst nicht so bewußt werden 180 . Unter solchen Voraussetzungen läßt sich seine analytische Theorie verstehen als eine sozialphilosophische Interpretation der psychologischen Erlebniswelt des heutigen Menschen, wie sie mit seinem Handeln in der sozialen Welt verbunden ist; in ihr werden Systeme zu Eigenwesen, welche die Menschen als Individuen zu „schlucken" scheinen. So haben die politisch-ideologischen Systeme die persönliche und physische Existenz unzähliger Menschen vernichtet. Auch die technisch-industrielle Zivilisation wirkt oft nur noch in der Funktion einer Gleichschaltung. Der Mensch fühlt sich nur funktional angesprochen und gebraucht. Er reagiert als Rollenbündel in ständigen Rollenkonflikten und Anpassungsversuchen. Er fühlt sich lediglich partiell mit partiellen Bereichen eines in sich zusammenhanglosen sozialen Feldes verbunden. Menschliche Gemeinwesen scheinen nur noch durch Druck von außen zusammengehalten werden zu können, weil die innewohnende gestaltende Dynamik fehlt. Wir treffen hier in der Theorie von Parsons auf Folgen des ungeklärten Verhältnisses von Philosophie und empirischer Wissenschaft. Ausgegangen war Parsons von dem Individuum, das nach seiner Orientierung in der Gesellschaft fragt. Von dieser Fragestellung her analysiert er letztlich in seiner strukturell-funktionalen Theorie, wie der Mensch die Gesellschaft im Bezugsrahmen seines nach Orientierung verlangenden Handelns erlebt181. Insofern ermittelt sie tatsächlich ein „kollektives Bewußtsein" im Sinne von Dürkheim. Damit schließen sich auch die beiden 278

theoretischen Modelle, deren Beziehungslosigkeit von den meisten Kritikern festgestellt wird, zu einer logischen Einheit zusammen. Einerseits hat die Theorie von Parsons eine sozialphilosophische Seite, die besonders im Organismusgedanken zum Ausdruck kommt, zum anderen eine psychologische Seite, in welcher der eigentliche Bezug zur Empirie steckt. Die „psychologische Situation" ist als wirklich in dem Sinne anzusprechen, daß sie eine Erlebnisweise der Umwelt durch den heutigen Menschen charakterisiert. Trotzdem ist das nicht die Sprache der wissenschaftlichen Analyse, sondern von „Bildern", in denen sich die Weise des Erlebens der äußeren Welt widerspiegelt 182 . Zwar begegnen wir den Systemen als eigenständigen Wirklichkeiten, aber sie empfangen ihre Wirklichkeit durch uns. Wir können die Welt phänotypisch analysieren, wie wir sie „unmittelbar" sehen und erleben. Aber die empirischen Wissenschaften möchten gerade aus dieser Situation herausführen. Sie geben Erkenntniswerkzeuge an die Hand, um zwischen Wirklichkeit und Schein im empirischen Sinne unterscheiden zu können. Das Verhältnis von „unmittelbarem Erleben" und den zugrundeliegenden Sachverhalten und damit auch den Unterschied zwischen Fragestellungen im aristotelischen und galileischen Sinne möchten wir an einem Beispiel veranschaulichen, zu dem wir durch Homans angeregt wurden. Wenn man die Flugbahn eines Flugzeuges beobachtet, scheint das Flugzeug aus eigener Kraft zu fliegen. Das Innere des Flugzeuges verbirgt jedoch die Tätigkeit der Flugzeuginsassen. U m das wirkliche Geschehen zu begreifen, muß ich diesen für mich nicht unmittelbar beobachtbaren Vorgang mit in die Erklärungen der Flugbahn einbeziehen. Er läßt sich nicht mit Hilfe einer Naturmetaphysik deuten. Nun kann ich Flugzeug und Flugbahn auch nach dem unmittelbaren Eindruck beschreiben, den sie auf mich machen, kann ästhetischen Gefühlen, philosophischen oder technischen Betrachtungen nachgehen. U m aber die innere Seite des Geschehens zu erkennen, muß ich aus der Rolle des reinen Beobachters heraustreten und etwas tun, z. B. mich mit dem Piloten in Verbindung setzen, um sein Ziel in Erfahrung zu bringen. Denn das innere Geschehen läßt sich nicht von dem Flugzeugtyp oder der Flugbahn ableiten. Die Bewegung des Flugzeuges kann nur im Zusammenhang mit Menschen verstanden werden. Die im Geschehen des Fluges wirksamen Faktoren sind komplexer Natur. Ich muß die konstitutiven herausfinden. Die genotypischen Zusammenhänge, die uns die Bewegung des Flugzeuges verstehen lassen, befinden sich in demselben. Phänotypische Beschreibungen können sie nicht ermitteln. Was ich zu erkennen habe, ist außen von mir her gesehen, aber innen im Blick auf 279

das Flugzeug. Ich muß darum genau unterscheiden, welcher A r t das „ A u ß e n " ist und in welchem Verhältnis jeweils „ i n n e n " und „ a u ß e n " stehen. D i e empirische Wissenschaft w i r d i m m e r wieder untersuchen müssen, ob das, was die philosophische Metaphysik zu einem „ I n n e n " erklärt, nicht doch in Wirklichkeit i m Verhältnis zu uns „ a u ß e n " ist. W e n n w i r Fieber haben, gehen w i r nicht zum Philosophen, sondern zum Arzt, weil er die Wirkzusammenhänge hinter den S y m p t o m e n besser beurteilen kann. D i e Krankheitssymptome der Gesellschaft lassen w i r uns aber meist v o n Philosophen deuten. Das zeigt den noch verschiedenen Entwicklungsstand

zwischen

Naturwissenschaften

und

Sozialwissen-

schaften an. Popper drückt dieses mit folgenden W o r t e n aus: „ . . . mit Galilei und Newton errang die Physik ganz unerwartete Erfolge und übertraf alle anderen Wissenschaften, und seit Pasteur, dem Galilei der Biologie, sind die biologischen Wissenschaften fast ebenso erfolgreich. Die Sozialwissenschaften aber haben, wie es scheint, ihren Galilei noch immer nicht gefunden" (Elend, S. i).

e) Abschied von aristotelischer Logik und

Metaphysik

D e r Z u g a n g z u m Erkennen, w i e ihn die empirischen Wissenschaften suchen, führt in die Außenwelt. Das Erkennen spielt sich ab zwischen dem Wissenschaftler und der W e l t , auf die er trifft. Diese entfaltet sich f ü r ihn in verschiedenen Bezügen, über die er kritisch reflektieren muß. S o ist etwa die Beziehung zwischen dem D u und Ich eine andere als die Beziehung zu dem physikalischen Außen oder dem Außen des Organismus. A u c h das angetroffene Innen, beispielsweise Gefühle, Stimmungen, Strebungen, M o t i v e , Inhalte des Denkens und anderes mehr sind W i r k lichkeit. Es gibt jeweils verschiedene Bedeutungen v o m Außen und v o m Innen 1 8 3 . D e r Wissenschaftler bleibt ganz in der phänomenalen W e l t , die w e g e n ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität keine Naivität der W a h r nehmung zuläßt 1 8 4 . D a r u m impliziert alle Erkenntnistheorie irgendeine A r t v o n Wahrnehmungslehre, auch w e n n sie sich selbst darüber nicht kritisch Rechenschaft gibt 1 8 8 . Ein großer T e i l der erkenntnistheoretischen Fragen entsteht aus d e m unlöslichen Zusammenhang v o n Erkennen und W a h r n e h m e n 1 8 6 . Andererseits ist die Wahrnehmungslehre, die sich mit der „Eigenart des W a h r g e n o m m e n e n " beschäftigt, zu unterscheiden v o n der Erkenntnistheorie, welche nach den „Mindestbedingungen

aus-

reichender Information" über die Wirklichkeit fragt (Metzger, S. 14). S o geht es beispielsweise in der Wahrnehmungslehre nicht darum, was w i r 280

im physiologischen oder physikalischen Sinne für wahrscheinlich halten. Die Beziehung zwischen Erkenntnistheorie und Wahrnehmungslehre ist ein zentrales Problem der Logik empirischer Wissenschaften in der Auseinandersetzung zwischen aristotelischem und galileischem Wissenschaftsverständnis. Angesichts der mannigfaltigen Fülle der Erscheinungswelt stellt sich die Frage nach dem Ausgangspunkt für das Erkennen. Nach Popper knüpft empirische Wissenschaft immer an praktische Bedürfnisse oder Probleme an. Sie hat es darum nicht direkt mit Wahrnehmungen, Beobachtungen, Daten und Tatsachen zu tun, sondern diese stehen im Zusammenhang einer „problemerzeugenden Beobachtung", die meist auf den Widerspruch von Beobachtung und Erwartung zurückgeht (Logik, S. 105; Elend, S. 95f.). Das Erkennen beginnt nicht mit einzelnem, sondern mit einem ganzen Satz. Darum lehnt Popper das Induktionsprinzip ab 1 8 7 . Es führt für ihn kein Weg vom Besonderen zum Allgemeinen. Die Induktion als Beweisverfahren setzt jeweils die Geltung eines allgemeineren Satzes voraus. Sie zwingt zu einem ständigen Rückgang hinter den Ausgangspunkt in der Weise eines regressus ad infinitum (Logik, S. 2 1 ; Gesellschaft II, S. 24 u. a.). Nach Popper hat Kant dieses Dilemma nur gewaltsam lösen können durch seine Lehre von den synthetischen Urteilen a priori 188 . Für Hegel liegt das Problem der Erkenntnistheorie Kants darin, daß Erkennen der Bedingungen möglicher Erkenntnis bereits Erkennen voraussetzt189. So bleibt Erkenntniskritik immer auf ein Vorgängiges angewiesen und kann sich nicht selbst als Ausgangspunkt setzen. Indem Hegel die Bedingtheit der Erkenntnistheorie als kritischen Maßstab feststellte, setzte er selbst die Möglichkeit absoluten Wissens voraus 190 . Das philosophische Denken beginnt faktisch ohne Voraussetzungen. Die Kriterien des Erkennens sind ihm immanent. So wird es möglich, Erkenntnistheorie in einer Theorie des dialektischen Denkens aufzuheben, das Gegenüber von Objekt und Subjekt aufzulösen und Wirklichkeit mit Vernunft zu identifizieren (vgl. Popper, Gesellschaft II, S. 391). Damit werden dann auch die Wissenschaften in einer Philosophie aufgehoben, die sich als Universalwissenschaft versteht. Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft wird von vornherein abgeschnitten. Hier setzt Habermas ein, um auf der Grundlage dialektischen Denkens neu die Möglichkeit eines aufgeklärten Verhältnisses der Philosophie zur Wissenschaft zu untersuchen. Wir haben bereits gezeigt, daß in der Bemühung um die neu aufgegebene Frage nach dem Anfang des Erkennens ein Brückenschlag zur erkenntnistheoretischen Frage281

Stellung empirischer Wissenschaft nicht gelingt (s. o. S. 2 4 9 t . ) . Auch die transzendentalphilosophische Fragestellung läßt sich nicht von dem Ort des Erkennenden in der Wirklichkeit lösen. Im Vollzug des Erkennens der ihm begegnenden Wirklichkeit stößt der Mensch gleichzeitig auf die Bedingungen seines Erkennens in der Wirklichkeit und in sich selber. Diese hat er kritisch zu überprüfen und die Grundannahmen, von welchen das Erkennen herkommt, ins Bewußtsein zu heben (s. u. S. 294). Die Frage nach dem Ausgangspunkt oder dem Ursprung von Erkenntnis ist in der philosophischen Metaphysik jeweils mit der Gewißheitsproblematik verbunden. Die Zurückführbarkeit auf etwas hinter den Dingen Liegendes, auf ihre Herkunft, auf Anlässe ihrer Entstehung und anderes mehr soll gleichzeitig Auskunft geben über die Sachverhalte in der Wirklichkeit191. Dabei wird unmittelbar angetroffene Wirklichkeit behandelt, als sei sie ungewisser als das, wovon sie jeweils abgeleitet wird. Wenn Habermas beispielsweise wissenschaftliches Erkennen auf das emanzipatorische Vernunftinteresse zurückführt und dieses wiederum in der Naturgeschichte der Menschengattung verankert, wird dabei die andere, gewissere und empirisch festzustellende Tatsache übersprungen, daß Wissenschaftler an ihrer wissenschaftlichen Arbeit ein sehr verschiedenes Interesse haben, beispielsweise ein Wahrheitsinteresse, ein einfaches Hobbyinteresse und anderes mehr. So wird aus einer Reduktionstheorie eine erkenntnistheoretische Erklärung a priori 192 . Wenn die phänomenale Welt nur Durchgang zu den unbeweisbaren und unvermittelten Grundlagen ist, nicht aber Ort allen Erkennens bleibt, dann wird auch die Beziehung zwischen Erkenntnistheorie und implizierter Wahrnehmungslehre nicht mehr kritisch reflektiert. So endet beispielsweise die Phänomenologie bei Aristoteles und Hegel in einer Abwendung von der Empirie: das Erkennen von Wesenheiten wird zur eigentlichen Wissenschaft und das Erkennen der Empirie zu einem vorwissenschaftlichen Verfahren 193 . An die Stelle des Erkennens im wissenschaftlich-kritischen Sinne tritt der religiöse Anspruch philosophischer Metaphysik, das „Wesen" von Wirklichkeit in geistiger Schau erfassen zu können und auf diese Weise der unvermittelten Grundlagen gewiß zu werden. Die Art der philosophischen Gewißheit als Grundlage für die Beweise und ihr Verhältnis zur Empirie bleiben dabei im Dunkeln. Aristoteles überspielte dieses Dilemma mit seiner „Theorie des Begriffes" und der dazugehörigen Behauptung intellektueller Intuition, Hegel durch seinen Begriff des absoluten Wissens194. Bis heute hat die Philosophie des Aristoteles der philosophischen Metaphysik ihren Weg vorgezeichnet. Von ihrem Denkmodell her ist die kontinental-europäische Wissenschaftsgeschichte bestimmt195. Schon Aristoteles hat, wie auch sein Lehrer 282

Plato, die Philosophie als Grundlagenwissenschaft für alle übrigen wissenschaftlichen Disziplinen verstanden. Da es in der Logik der Sozialwissenschaften letztlich bis heute um die Auseinandersetzung mit Sozial- und Geschichtsphilosophien geht, die sich von einer aristotelischen Grundlage her entwerfen, müssen wir uns dieser selbst kurz zuwenden. Alles Beweisen setzt nach Aristoteles unbeweisbare Grundlagen voraus, da „man durch Beweis nicht wissen könne, wenn man nicht die ersten unvermittelten Grundlagen erkannt hat" (Zweite Analytik, S. 128). Darum lehrt er gegenüber den Philosophien seiner Zeit, daß es nicht nur Wissen gebe, „sondern auch einen Anfang des Wissens, sofern wir die Begriffe erkennen" (a.a.O., S. 2off.) 1 9 6 . Solche unbeweisbaren Begriffe definieren das Wesen der Dinge 1 9 7 . Wie man zu solchem Anfang in den Begriffsbestimmungen kommt, bleibt unklar. Zunächst muß Aristoteles dazu eine Erkenntnisweise postulieren, welche dem Beweisen überlegen ist. Er sieht sie in der allen Menschen verliehenen „Unterscheidungskraft, die man Wahrnehmen nennt" (a.a.O., S. 128). Durch diese erfaßt der Mensch das Allgemeine 198 . Eigentlich läßt sich nur Einzelnes wahrnehmen. Aber indem der Mensch Einzelphänomene wiederholt sieht, in seinem Gedächtnis behält und auf die Dauer bestimmte Ähnlichkeiten feststellt, entdeckt er das Allgemeine, nämlich „das, was in allen Wahrnehmungen dasselbe blieb" (a.a.O., S. i29f.). So kommt der Mensch zu den unbeweisbaren und unvermittelten Grundlagen alles Beweisens durch seinen erkennenden Umgang mit der phänomenalen Welt. Andererseits ist die begriffliche Grundlage bereits Ausgangspunkt für die Gliederung der Erscheinungswelt durch Klassifizieren der Phänomene nach Arten und Gattungen. So kann Aristoteles auf Grund der vorausgesetzten unfehlbaren Wesensschau das Allgemeine einmal als Anfang oder auch als Endpunkt des erkennenden Umganges mit der Empirie sehen199. In der unfehlbaren Wesensschau liegt beides ineinander: „Wahrgenommen wird zwar das Einzelne, aber die Wahrnehmung hat als Gegenstand . . . das Unvermittelte und Allgemeine" 2 0 0 .

Auf diese Weise wird auch bei Aristoteles wieder ein Zirkel des Denkens geschlossen. Einerseits geht er von dem Besonderen aus, andererseits beginnt er mit einer Definition des Allgemeinen 201 . Je allgemeiner der Begriff wird, je mehr Einzelphänomene er umfaßt, desto inhaltsleerer wird er 202 . „Allgemein nenne ich, was entweder jedem oder keinem zukommt" (Erste Analytik, S. 17). Unter den allgemeinen Begriff der höchsten Gattung kann daher jeder beliebige Denkinhalt fallen. Der Aufstieg vom Besonderen ins Allgemeine müßte im Leeren 283

enden, wenn Aristoteles nicht behauptete, daß der Begriff als Ausdruck für das Wesen gleichzeitig die Ursache des Dinges angeben würde 203 . Dadurch verknüpft seine Theorie des Begriffes die Logik mit der Metaphysik und verhindert die völlige Auflösung der Empirie. Indem die Wesensdefinitionen gleichzeitig Ursachenbestimmungen sind, gewinnen sie den Sinn, die in der Empirie wirksame Dynamik von ihren metaphysischen Ursachen her abzuleiten und zu erklären 204 . Sinnvoll erweist sich die aristotelische Logik daher nur unter Voraussetzung ihres Substanzverständnisses in der Metaphysik 205 . Mit dessen Auflösung in der Wissenschaftsgeschichte zeigte sich auch die Aporie der logischen Grundlagen, die es verdeckte. Während wissenschaftliche Begriffsbildung eine eindeutigere und klarere Bestimmung von Sachverhalten erreichen möchte, führt die aristotelische zur Nivellierung aller Charakteristiken der Erscheinungswelt. Ihre Dichotomien zerspalten die Wirklichkeit (s. o. S. 206f.). Indem die Phänomene ohne Rücksicht auf ihre konkreten Zusammenhänge nach Ähnlichkeitsmerkmalen verbunden werden, führt die aristotelische Begrifflichkeit zu einem künstlichen Ausschnitt aus der Wirklichkeit 206 . Von diesem werden dann die Erklärungen für die ganze Wirklichkeit abgeleitet. Erst durch seine theologische Konzeption vom „Nous" als dem unbewegten Beweger hinter der Wirklichkeit gelingt es Aristoteles, die durch dichotomische Wesensdefinitionen auscinandergerissenen Zusammenhänge in der Empirie wieder zusammenzufügen. Er stiftet die verlorengegangene Einheit wieder, indem alle Prozesse in der Welt von ihm her den gemeinsamen Anstoß erhalten207. In der „Zweiten Analytik", in welcher Aristoteles den Weg zu den unvermittelten und unbeweisbaren Grundlagen aufzeigen will, hat der „Nous" noch keine Funktion im Aufbau des Erkenntnisvermögens208. Die Entfaltung der unbeweisbaren Grundlagen erfolgt dann in der Metaphysik, die sich in ihrem Anfang auf die zentrale Fragestellung der „Zweiten Analytik" nach den unbeweisbaren Grundlagen der Wissenschaft bezieht. So zwingt das logische Dilemma zum Rückgang hinter die Erscheinungswelt. Der Empirismus schlägt um in Metaphysik 209 . Theologie und Metaphysik treten als „Lückenbüßer" in den Bruch des logischen Systems und geben durch ihre Wesensdefinitionen die Grundlagen für das wissenschaftliche Erkennen. Die ganze Problematik des Verhältnisses von philosophischer Metaphysik und Wissenschaft in der abendländischen Geschichte ist hier bereits sichtbar 210 . Der „Begriff des uneingeschränkten Wissens" (Zweite Analytik, S. 21) kann für den heutigen Wissenschaftler nicht mehr Voraussetzung des 284

Erkennens sein. Er hat keinen absoluten Standort in der Erscheinungswelt, von dem her er die Wirklichkeit als ganze in den Griff bekommen könnte. Die Wesensdefinitionen, aus denen das Wissen abzuleiten ist, sind als Grundlagen wissenschaftlicher Argumentation nicht mehr haltbar (vgl. dazu Popper, Gesellschaft II, S. 22ff.). Die Frage der Zurückführbarkeit oder Nicht-zurückführbarkeit auf Begriffe, die nur einer intellektuellen Wesensschau zugänglich sind, entscheidet nicht über empirische Sachverhalte, die erst zu erforschen sind. Das intuitive Erfassen des Wesens in der Erscheinung kann nicht Basis und Begründungszusammenhang wissenschaftlicher Logik sein. Die Berufung darauf ersetzt nicht die kritischen Maßstäbe, an welchen die Wissenschaft ihre Aussagen überprüfen muß 2 1 1 . Noch problematischer ist das Wirklichkeitsverständnis im Sinne eleatischer Philosophie, das hier der Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Empirie zugrunde liegt. Der sich ständig wandelnden Erscheinungswelt in ihrer Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit wird kein eigentliches Sein zuerkannt, sondern nur dem Wesen, das in ihr erscheint, der Kraft, die sie hervorruft (vgl. Geyer, a.a.O., S. 251 f.). So entsteht die Vorstellung von einer Wissenschaft, die aus ihren Wesensdefinitionen die Welt der Tatsachen abzuleiten imstande ist (vgl. dazu Popper a.a.O., S. 18). Das unmittelbar Gegebene gilt solange nicht als wirklich, bis es auf das in ihm erscheinende Sein zurückgeführt oder aus ihm bewiesen werden kann. Nach Tillich ist es das aller philosophischen Metaphysik gemeinsame Kennzeichen, daß sie sich selbst letzte Instanz ist (IV, S. 16). Er definiert ihr Denken als Haltung, in welcher sich der Mensch das Ganze der Wirklichkeit gegenüberstellt, um es im Begreifen zu „haben". Z u diesem Zweck „zerfällt der Mensch das ihm Begegnende und die wahre, im Gegenüber erkennbare Gestalt" (ebd.). Er spaltet sie gewissermaßen von der unmittelbaren Wirklichkeit ab, um ihr eigentliches Wesen zu erkennen (vgl. auch Diemer, in: Philosophie, S. I29ff.). Philosophieren geschieht damit in Wegwendung von der unmittelbar erfahrenen geschichtlichen Lebenswelt, gewissermaßen an ihr vorbei, um hinter ihr die zeitlose Wahrheit zu erkennen. Oder es vollzieht sich in Gestalt positivistischer Gegenmetaphysik als Identifizierung eines einzelnen Faktors in der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit schlechthin (vgl. Diemer, a.a.O., S. 190). Aus den Voraussetzungen, welche dem jeweiligen Philosophieren selbst immanent sind, wird ein Bild entworfen, mit welchem die Wirklichkeit als ganze umgriffen wird. Die in der Selbstreflexion implizierten Kriterien entscheiden über die Struktur der Wirklichkeit (Hegel, Phänomenologie, S. 70f.). Insofern bei Aristoteles nur das Denken als intellektuelle Intuition Zu285

gang zum Sein hat, befindet es über den Wirklichkeitscharakter. Die Begriffsbildung zeigt den Weg an, wie die reale Substanz sich in der phänomenalen Welt in ihren verschiedenen Seinsweisen entfaltet (vgl. Cassirer, a.a.O., S. 9). So können die verschiedenartigen Phänomene undifferenziert unter die Begriffe „summiert" werden 212 . Dem allgemeinsten Begriff entspricht das all-identische Sein, in dem alle Unterscheidungsmerkmale aufgehoben sind. Damit wird dem wissenschaftlichen Erkennen die Erfassung der Besonderheiten unmöglich gemacht. In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion um erkenntnistheoretische, methodische und begriffliche Probleme einer Theorienbildung stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem vor allem als Frage nach dem Verhältnis von Ganzem und Teilen. Hier wird das gegensätzliche Verständnis von Ganzheit in den holistischen Philosophien und in den Wissenschaften deutlich. Die holistischen Philosophien gehen von einer Wesensschau des Ganzen aus, die dann zur Voraussetzung des Erkennens des Besonderen gemacht wird. In ihren Ableitungen von dem zugrundehegenden Totalitätsbegriff verschwinden alle Differenzen und Struktureigenschaften in der Wirklichkeit. Eine solche, alle Aspekte der Wirklichkeit umfassende Totalität ist eine leere und mit jedem beliebigen Sinngehalt zu füllende Formel. Sie impliziert den vor keinem wissenschaftlichen Erkenntniskriterium auszuweisenden subjektiven Anspruch, im Besitz des absoluten Wissens zu sein. Totalität in diesem Sinne läßt sich nicht zum Gegenstand einer Wissenschaft machen (vgl. dazu Popper, Elend, S. 62ff.). So verschieden auch die Ganzheitsverständnisse in der Wissenschaft sein mögen, wie sie beispielsweise E. Nagel anführt, so meinen sie doch immer nur in irgendeiner Weise Zusammenhänge in der Wirklichkeit 213 . Die verschiedenartigen Ganzheitsverständnisse lassen sich charakterisieren durch die verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Teilen eines Ganzen. Sie bringen verschiedenartige Wirkzusammenhänge und Verbundenheiten in der Wirklichkeit zum Ausdruck. Gerade beim „Unterteilen" in der Begriffsbildung müssen diese verschiedenartigen Zusammenhänge in der Wirklichkeit berücksichtigt werden. Nur so kann der jeweils allgemeinere Begriff zur schärferen Fassung des untergeordneten Begriffs beitragen und seine Besonderheiten begründen (vgl. dazu Cassirer, a.a.O., S. 7 f.). Die Begriffe galileischer Wissenschaft sind darum operational im weiteren Sinne, das ist auf Sachverhalte in der Wirklichkeit bezogen. Sie bilden nicht Wirklichkeit ab, aber sie werden im Umgang mit der Wirklichkeit definiert im Blick auf die darin einsichtigen Zusammenhänge und Problemstellungen. Sie werden der Wirklichkeit nicht ohne Rücksicht 286

auf ihre Zusammenhänge als ein metaphysisch sich begründendes Ordnungsschema auferlegt 214 . Die Orientierung in den empirischen Wissenschaften erfolgt an Problemstellungen, nicht an Begriffen (Albert, in: Theorie, S. 14). So stehen sie in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Theorie der Begriffsbildung, die bis in unsere Tage hinein von weitreichenden Folgen für die Wissenschaftsgeschichte geblieben ist. Es gibt wohl kaum ein Problem der Logik empirischer Wissenschaften, in welchem es nicht um eine Auseinandersetzung mit aristotelischer Metaphysik geht. Die vielen Unklarheiten und Verwirrungen in der Diskussion zeigen, wie wenig die Differenz zwischen aristotelischem und galileischem Wissenschaftsverständnis in das allgemeine Bewußtsein gedrungen ist. Das Verhältnis von Ganzheit und Teilen, von Allgemeinem und Besonderem, von Philosophie und Wissenschaft, Gewißheit im wissenschaftlichen Sinne, Gesetz und Gesetzmäßigkeiten, Beweis, B e griff, Theorie und anderes mehr werden in der gegenwärtigen Diskussion immer wieder in aristotelischem Sinne mißverstanden, auch wenn sie im Bezugsrahmen galileischen Wissenschaftsverständnisses stehen 216 . Das macht eine gründliche Diskussion der erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen nötig. Eine Neuorientierung von philosophischer und theologischer Reflexion hinsichtlich des Fortschrittes in der Wissenschaftsgeschichte erscheint unausweichlich, weil durch denselben auch ihr eigener erkennender Umgang mit der W i r k lichkeit betroffen ist 414 . Es geht um die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Denken und Wirklichkeit. Der Wissenschaftler steht der Wirklichkeit anders gegenüber als der Philosoph. Er hat sie „zunächst einfach hinzunehmen, wie sie ist, auch wenn es ungewohnt, unerwartet, unlogisch, widersinnig erscheint und unbezweifelten Annahmen oder vertrauten Gedankengängen widerspricht" (Metzger, Psychologie, S. 12). Seine Zweifel hat er in solchem Fall zunächst gegen seine eigenen Voraussetzungen und Interpretationsschemata zu richten. Von ihm ist vor allem die Ehrfurcht vor den unmittelbaren Gegebenheiten zu fordern (a.a.O., S. 12 f.). Als die „letzte und eigentliche, ich-unabhängige Wirklichkeit", wie sie für empirische Forschung gegeben ist, bezeichnet Metzger „die wirklichen Leute und Sachen selbst, wie sie vor uns hintreten und in Wechselwirkung mit uns stehen" (S. 17). 287

Sieht man sie „als Lebenswelt, als Umwelt und Mitwelt, als Inbegriff aller Möglichkeiten des Tuns und Lassens", dann „ w i r d der Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Schein zur Grundtatsache, und man kann keinen Schritt tun, ohne darauf zu stoßen und sich damit auseinanderzusetzen" (ebd.).

Die Frage der Zurückführbarkeit kann sich in der empirischen Forschung nur genetisch stellen als „Frage nach einer bestimmten Art von Abhängigkeitsverhältnis zweier Sachverhalte, die beide gleichermaßen als wirklich anerkannt werden."

Sie darf nicht mit einer ontologischen Fragestellung verwechselt werden, die auf Grund philosophischer Schlußfolgerung über Wirklichkeit und Schein befinden will (a.a.O., S. 9). Metzger zeigt, auf welche Irrwege solche philosophische Denkweise in der Psychologie geführt hat. Auch der sogenannte „Psychologismus" geht auf solche Erklärungstheorien zurück (a.a.O., S. iof.). Wahrheit meint eine Aussage, die in Übereinstimmung mit den Tatsachen steht (Popper, in: Adorno, Positivismusstreit, S. 117). Dieses Wahrheitsverständnis hat sich nach Popper in der modernen Logik durchgesetzt. So geht das heutige Wissenschaftsverständnis auch über Descartes hinaus. Gerade in den Disziplinen, in denen das theoretische Denken am weitesten fortgeschritten ist, wird das deutlich 217 . Descartes setzt ein mit dem Zweifel an der Existenz der Außenwelt. Auch die Logik ist vom radikalen Zweifel nicht ausgenommen. Nur die mathematischen Erkenntnisse sind kraft intellektueller Intuition unmittelbar einsichtig. Die Sinne und die logische Deduktion können den Menschen täuschen. Doch setzt aller Zweifel das Denken des Menschen voraus. Gerade durch den Zweifel kann er seiner selbst als eines Denkenden gewiß werden. Darin liegt der Ansatzpunkt, aus welchem alle andere Gewißheit abzuleiten ist, auch die Gewißheit der Außenwelt. Trotz der großen Anregungen, die Descartes durch sein Prinzip des Zweifels den modernen Wissenschaften auf methodischem Gebiet gegeben hat, bleibt sein Wissenschaftsverständnis der aristotelischen Tradition verhaftet. Wissenschaft hat mit klaren Begriffen einzusetzen, deren der Denkende durch Intuition unmittelbar gewiß ist und aus denen er alles andere ableitet 218 . Aber nach Weizsäcker ist Descartes mit seinem Zweifel auf halbem Wege stehen geblieben. Er hätte auch den Sinn der von ihm als völlig klar und unmittelbar einsichtig vorausgesetzten Begriffe in Zweifel ziehen müssen. Denn die Wissenschaft geht heute den umgekehrten Weg. Einerseits sammelt sie mit Hilfe überkommener Begriffe neues Wissen, andererseits unterzieht sie gerade in ihrem Fundament die Begriffe einer 288

ständigen Kritik. Sie kann nicht mit klaren Begriffen einsetzen, sondern hat die Begriffe erst durch den Gebrauch zu klären. Daher hat sie auch ein anderes Verständnis von Gewißheit. Sie setzt voraus, daß wirklich ist, was sich im Umgang mit der Wirklichkeit als Wirklichkeit erweist. So wendet Cassirer gegen den cartesianischen Ausgang v o m Ich-Bewußtsein ein: „ D e r Gedanke des Ich ist keineswegs ursprünglicher und logisch unmittelbarer als der Gedanke des Objektes, da beide nur miteinander bestehen und sich nur in steter Wechselbeziehung aufeinander entwickeln

können"

(Substanz, S. 392).

Das Wirklichkeitsverständnis der heutigen Naturwissenschaften charakterisiert Weizsäcker mit einer Bemerkung von Niels Bohr beim Geschirrspülen in einer Skihütte: „Daß man mit schmutzigem Wasser und einem schmutzigen Tuch schmutzige Gläser sauber machen kann - wenn man das einem Philosophen sagen würde, er würde es nicht glauben."

Und Weizsäcker fügt hinzu: „ S o aber ist Wissenschaft wirklich, und der Philosoph, der das nicht glaubt, ist Descartes" (a.a.O., S. 27).

Die Gewißheit im Blick auf „Wirklichkeit" findet der Denkende nicht in sich selbst, sondern in der Begegnung mit einer Wirklichkeit, die außerhalb seiner selbst existiert, sich dem Erkennen erschließen oder verschließen, auf das Handeln so oder so reagieren kann. Nach Popper können Theorien, obwohl sie menschliche Erfindungen sind, dennoch echte Einsichten in die Wirklichkeit ermöglichen; denn „sie können mit etwas zusammenstoßen, sie können an etwas scheitern, das wir nicht selbst erfunden haben" 2 1 *.

Indem wir unsere Gedanken und wissenschaftlichen Konstruktionen dem „Risiko des Scheiterns an den Tatsachen" aussetzen und dadurch der Wirklichkeit die Möglichkeit geben, sich gegenüber unserem Denken durchzusetzen, können wir auf dem W e g e einer Korrektur unserer Irrtümer der Wahrheit näher kommen 2 2 0 . Absolute Sicherheit für das Erkennen gibt es nach Popper nicht. Er sieht die Problematik der klassischen Erkenntnislehre darin, daß sie die Frage nach der Wahrheit und die Frage nach der Gewißheit oder Begründung unserer Erkenntnis miteinander identifizierte. Die Anschauung, auf diese Weise eine Wahrheitsgarantie gewinnen zu können, findet sich sowohl im klassischen Rationalismus oder Intellektualismus als auch im klassischen Empirismus. Beide Richtungen beruhen nach Popper letztlich auf einer quasitheologischen Übertragung des christlichen Offenbarungsbegriffes auf die Vernunft 289

oder die Sinne, welche als Ort direkter Manifestation der Wahrheit verstanden wurden. Der Unterschied lag nur in der verschiedenen Erkenntnisquelle. Popper stimmt mit dem cartesianischen Rationalismus darin überein, daß die Wissenschaft nur ein deduktives Verfahren anwenden kann, da wir nicht auf dem Wege der Verallgemeinerung von Beobachtungen, die immer selektiv und von Irrtümern belastet sind, zu allgemeinen Erkenntnissen kommen können. Auch unsere Wahrnehmungen sind bereits durch theoretische Überlegungen bestimmt. Im Gegensatz zu Descartes aber ist er der Meinung, daß die Prämissen der deduktiven Systeme nicht apriorisch sind, sondern hypothetische Überlegungen, die mit Hilfe von Beobachtung und Experiment zu überprüfen sind - darin liegt das Wahrheitsmoment des Empirismus oder „Induktivismus". Die Theorien haben sich in härtesten Prüfungen am Maßstab der Erfahrung zu bewähren. Dabei ist Popper der Meinung, daß Theorien streng genommen nicht verifiziert, sondern nur falsifiziert werden können, da immer die Möglichkeit besteht, daß wir Tatsachen übersehen haben, die unsere Theorien widerlegen können. Wenn man auch Theorien rational nicht rechtfertigen, sondern nur kritisieren kann, so lassen sich doch bessere von schlechteren unterscheiden (in: Adorno, S. 1 2 2 ) m . Jedoch wird man auch sagen müssen, daß Theorien nicht ohne systematische Wahrnehmungen gewonnen werden (s. o. S. 2i4f.). Weder Deduktion noch Induktion können Ausgangspunkte sein, sondern man wird grundsätzlich von einem „nützlichen Zusammenspiel von Theorie und Beobachtung" 222 , bzw. von einer Wechselbeziehung von Deduktion und Induktion sprechen müssen (s. o. S. 2 1 1 f.). Es war gerade eine Überzeugung Lewins, daß es von Allgemeinbegriffen keinen Weg zurück zum konkreten individuellen Fall gibt. Auch kann die Frage der Gewißheit nicht ausgeschlossen werden. Es muß nur ihrer Verlagerung an einen falschen Ort gewehrt werden. Die Frage nach der Richtigkeit unserer Vorstellungen und Anschauungen über etwas ist zu unterscheiden von der Frage nach der Gewißheit seiner Wirklichkeit. Die wissenschaftliche Analyse kann bestätigen oder in Frage stellen, aber sie kann die Wirklichkeit selbst nicht von Denkvoraussetzungen her durch Schlußfolgerungen beweisen. Das Denken muß sich selbst am „Widerstand" der Wirklichkeit in Frage stellen lassen. Diese im denkenden und wahrnehmenden Umgang mit der Wirklichkeit erfahrene Gewißheit hinsichtlich derselben ist einer Begründung durch metaphysische Deduktionen nicht bedürftig. Das Denken kann zwar die Wirklichkeit des Wirklichen bezweifeln oder ignorieren, aber es kann nicht verhindern, daß diese Wirklichkeit da ist 290

und sich auch im Denken selbst auswirkt. Diese Gewißheit darf nicht mit einer „Grunderfahrung" im philosophisch-metaphysischen oder religiösen Sinn noch mit einem „Erlebnis" im psychologischen Verständnis verwechselt werden. Der Physiker macht nicht nur eine Grunderfahrung oder hat nicht nur ein Erlebnis, wenn er physikalische Prozesse und deren Gesetzmäßigkeiten erforscht. Er kann zwar seinen Gegenstand nicht ontologisch definieren, sondern nur das unter bestimmten wissenschaftlich kontrollierten Bedingungen im Umgang mit ihm Erfahrene in seinen Begriffen aussagen. Aber darin hat er Gewißheit von der Wirklichkeit des von ihm untersuchten Vorganges. Ein Sozialwissenschaftler mag von bestimmten philosophischen Voraussetzungen her die Atmosphäre einer Gruppe, die Beziehungen zwischen den Gruppengliedern usw. nicht als Wirklichkeit betrachten, aber im Umgang mit der Gruppe wird er darauf stoßen, daß alles „wirklich" ist, was zu einer gegebenen Zeit auf eine gegebene Gruppe einwirkt (s. o. S. 224). Damit ist ein Vertrauen in die Wahrnehmung vorausgesetzt, aber es ist nicht unkritisch. Sie ist intersubjektiv durch Beobachtung und Experiment überprüfbar. Die empirischen Wissenschaften treten damit notwendig mit philosophischen Deutungen der personal-geschichtlich-sozialen Lebenswelt in Auseinandersetzung, insofern diese beanspruchen, sich auf wirkliche V o r gänge in derselben zu beziehen. Im Gespräch zwischen empirischer Forschung und philosophischer Anthropologie, Sozial- und Geschichtsphilosophie geht es um die Klärung der Beziehung zwischen den Voraussetzungen des Denkens und der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit, wie sie durch Beobachtung und Experiment wissenschaftlich erhellt wird. Den philosophischen Voraussetzungen, von denen her die Philosophie die Wirklichkeit zu umgreifen versucht, hält die empirische Forschung die „Voraussetzungen" entgegen, welche in der menschlichen Wirklichkeit selbst gegeben sind. Diese sind zwar genausowenig wie philosophische A x i o m e beweisbar, aber sie sind empirisch aufweisbar als Faktoren, ohne welche die gemeinte Wirklichkeit nicht angetroffen wird. Darum greift beispielsweise Lewin an den entscheidenden Punkten seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen immer wieder auf solche Voraussetzungen zurück, wie sie in der geschichtlich-sozialen Lebenswelt wirksam sind (s. o. 0. 206ff.). Er fragt in seiner Feldtheorie nicht hinter die geschichtlich-soziale Wirklichkeit zurück, sondern beobachtet experimentell und durchdenkt systematisch nur das, was in ihr erscheint. Es geht u m die Analyse von Wirkzusammenhängen in der geschichtlich-sozialen Welt, welche in ihrer strukturellen Beschaffenheit untersucht werden. Der Begriff „Struktur" meint die jeweilige konkret geschichtliche W i r k 291

bzw. Kräftekonstellation. Lewin bezieht sich also auf Gesetzmäßigkeiten in der Wirklichkeit, nicht auf Wesensgesetze der Wirklichkeit (s. o. S. 227). Sein Ansatz entspricht der modernen Naturwissenschaft, welche sich auch auf den Nachweis von Strukturidentitäten in der Wirklichkeit beschränkt und eine Ontologie der Physik nicht mehr zu ihren wissenschaftlichen Voraussetzungen macht (Lohr, in: Feld, S. 35). Inhalt der modernen Physik bilden nur die Phänomene selbst, wie sie uns unmittelbar zugänglich sind, nicht die absoluten Ursachen dahinter (Cassirer, SubstanzbegrifF, S. ijof.). Die Sozialwissenschaft im Sinne Lewins beginnt und endet wie die moderne Naturwissenschaft mit den Phänomenen 223 . Dieser Ansatz bei den Phänomenen ist jedoch zu unterscheiden von der „phänomenologischen Bewegung" der Jahrhundertwende, mit der die empirische Forschung nur den allgemeinen Grundsatz gemeinsam hat, daß sich die wissenschaftlich-theoretische Reflexion nicht vom Leben lösen dürfe und von den Phänomenen selbst gedeckt sein müsse224. Obwohl gerade für den späten Husserl der BegrifF„Lebenswelt" symptomatisch wird 2 2 5 und obwohl er wie Lewin die Krisis der Wissenschaften darin sieht, daß sie die menschliche Lebenswelt als ihr eigentliches Fundament vergessen hatten und ihr philosophisch-objektives Weltbild mit ihr verwechselten, meint doch die Forderung des ständigen Rückbezuges der Wissenschaft auf die Lebenswelt bei Husserl und bei Lewin etwas völlig anderes. Husserl wendet sich der Lebenswelt mit der Frage nach dem Ursprung derselben zu und findet diesen in seiner transzendentalen Reduktion im transzendentalen „Ich". Damit hob er aber praktisch die Wirklichkeit der geschichtlich-sozialen Welt und die Beziehungen zur Wirklichkeit des Du und des Wir auf. Es blieb ihm ein entleertes Ur-Ich, von dem her die Seinsgeltung und der Seinssinn gewährleistet sein sollten. Er meinte, mittels solcher transzendentalen Reduktion die Sicherheit der Erkenntnis und damit auch der Philosophie als strenger Wissenschaft zu begründen (vgl. Gadamer, a.a.O., S. 2ifF.). Indem somit die Frage nach der menschlichen Lebenswelt in eine Philosophie des Sinns und Wesens von Phänomenen und Bewußtseinsakten überführt wird und ihre Gewißheit mittels transzendentaler Deduktion gewährleistet werden soll, bleibt faktisch keine Verbindung mehr zur Wirklichkeit im Sinne empirischer Forschung 226 . Philosophisch gesehen hat sicherlich der Gedanke Diltheys der „Auslegung des Lebens aus ihm selber" die Arbeit der empirischen Wissenschaften an der Berliner Universität zur Zeit Lewins vorbereitet. Hier lag der Einfluß vor allem in der Forderung Diltheys, auf ein geschlossenes metaphysisches System als „Grundlage der Erklärung der Wirklichkeit 292

in den Einzelwissenschaften" und auf die Suche nach einem „Träger des Lebens" als Erklärungsursache zu verzichten227. Die Stelle, w o im System Lewins die Person, die Geschichte und die Gesellschaft zur Sprache kommen, ist nicht durch philosophische Definitionen besetzt, sondern grundsätzlich offen (vgl. Lohr, a.a.O., S. 16, 35). Es ist gerade der Vorteil einer im Bereich der Phänomene bleibenden Sozialwissenschaft, daß sie diese Frage offen läßt, weil darin die Möglichkeit zu personaler Entscheidung hegt. Ein „Trägersubstrat" im Sinne einer Wesensphilosophie wird bei Lewin nicht vorausgesetzt228. Das trug ihm den Vorwurf ein, daß er sich mit einer bloßen Beschreibung von Wirkzusammenhängen und einer „formalen Betrachtung" begnüge 229 . Es ist aber noch eine in Zukunft weiter zu klärende Frage, inwieweit Aussagen über geschichtlich-soziale Wirkzusammenhänge und Strukturen vielleicht mehr über den „wirklichen" Menschen mitzuteilen vermögen als philosophische Wesensdefinitionen und ontologische Deduktionen. Das hängt davon ab, welche Bedeutung man jeweils der Geschichte, dem Sozialen und der konkreten Situation für das Erkennen des wirklichen Menschen beimißt. Cassirer weist darauf hin, daß alle sogenannten Definitionen des Menschen nichts als gehaltlose Spekulationen seien, solange sie nicht auf unserer Erfahrung vom Menschen aufbauen und durch sie bestätigt würden: „Es gibt keinen anderen W e g , den Menschen kennenzulernen, als sein Leben und sein Verhalten empirisch zu erforschen und ihn so zu verstehen suchen" (Mensch, S. 23 f.).

So darf die personal-geschichtlich-soziale Wirklichkeit nicht unter philosophischen Kategorien subsumiert werden, die den in der Wirklichkeit gegebenen Zusammenhang auflösen würden (vgl. Cassirer, a.a.O., S. 35). Das ist die Voraussetzung für die Möglichkeit struktureller Vergleiche und die Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein im Sinne einer empirischen Untersuchung. Erst dann tritt das Problem hervor, daß dieselbe Wirklichkeit in verschiedener Gestalt und mit verschiedener Begründung erscheinen kann und umgekehrt eine verschiedene Wirklichkeit in gleicher Gestalt und mit gleicher Begründung (s. o. S. 207). Sinndeutungen sozialer und geschichtlicher Vorgänge mittels kausaler Deduktionen sagen noch nichts über das wirkliche Geschehen aus. Der Forscher trifft mit seinen Denkvoraussetzungen auf die Voraussetzungen, die in der menschlichen Wirklichkeit selbst gegeben sind. Insofern die empirischen Wissenschaften einen neuen Zugang zur Erkenntnis der Wirklichkeit eröffnen, tritt auch die Philosophie, die sich auf 293

die menschliche Lebenswelt bezieht, in eine neue Situation ein, vergleichbar nur mit der Auseinandersetzung von Naturwissenschaft und Naturphilosophie seit der Zeit Galileis. Auch die „ewigen Vernunftwahrheiten" werden mit der Wahrnehmung von Geschichte konfrontiert. Daher kann die empirische Sozial Wissenschaft nicht als eine Verlängerung der philo-

sophischen Aufklärung verstanden werden. Es geht nicht um ein Erkennen und Erklären der Wirklichkeit, sondern um ein Erkennen in der Wirklichkeit. Nach Albert entstammt die Sozialwissenschaft besonders in ihrer ideologie- und sozialkritischen Funktion der Tradition der Aufklärung, die durch eine über den Bereich des Intellektuellen hinausgehende moralische „Entscheidung zur Rationalität" gekennzeichnet sei und auf der „Idee der Selbstbefreiung durch Wissen" basiere230. Topitsch hingegen stellt heraus, daß Wissenschaft im Sinne von Max Weber auch die Philosophie der Aufklärung selbst trifft, insofern auch sie an eine wertrationale Ordnung der Welt auf Grund eines vernünftigen Sittengesetzes glaubte 231 . Das wissenschaftliche Erkennen als Instrument der „Entzauberung der Welt" habe alle früheren wertorientierten Formen der Weltdeutung durchbrochen. Popper stellt den kritischen oder „sokratischen" Rationalismus, wie er in der wissenschaftlichen Methode seinen Ausdruck findet, und den Irrationalismus der metaphysischen Systeme als zwei verschiedene „Glaubensweisen" einander gegenüber 232 . Andererseits kann er aber davor warnen, eine Philosophie zur Grundlage wissenschaftlicher Systeme zu machen 233 . So muß sich die rationalistische Philosophie der Aufklärung auch durch die empirische Forschung in Frage stellen lassen. Wegen der starken philosophischen Belastung des Begriffes „Aufklärung" sollte er nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit den empirischen Wissenschaften gebracht werden. Sonst könnten sie zu leicht als eine neue philosophische Denkweise betrachtet bzw. mit einer solchen identifiziert werden 234 . Zwar geht jeder Forscher von Voraussetzungen aus, und es ist unbestreitbar, daß die modernen Wissenschaften auch im Zusammenhang neuer philosophischer Orientierungen stehen. Aber es geht gerade darum, daß der Forscher sich seiner Voraussetzungen kritisch bewußt wird, nicht aber, daß er durch solche Prämissen seine Forschung philosophisch begründet. U m der Objektivität seiner Forschung willen muß er sich über die Bedingtheiten seines Erkennens Rechenschaft geben. Wenn wir nach einem methodischen Prinzip in der empirischen Forschung fragen, so läßt es sich unseres Erachtens nicht als „kritischer Rationalismus" im Sinne der Aufklärung bezeichnen, sondern im Sinne von Lewin, Metzger u. a. als „kritischer Realismus", verstanden als „fruchtbares heuristisches Prin-

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Eine neue wechselseitige Bezugnahme von Philosophie und empirischer Wissenschaft ist eine wichtige Aufgabe der Gegenwart. Die Philosophiegeschichte selbst ist ein Beweis dafür, daß alle große Philosophie aus dem lebendigen Gespräch mit der Wissenschaft ihrer Zeit erwachsen ist 236 . Ein solches wird seinen Gegenstand in der gemeinsamen Arbeit an den wichtigen Problem- und Aufgabenstellungen unserer Zeit suchen müssen. Für eine Philosophie kommt nach Popper alles darauf an, eine relevante Problemstellung zu haben (Logik, S. XVIIfF.). Die empirischen Wissenschaften sind ihr heute dafür, wie für vieles andere, unentbehrliche Werkzeuge. Die wichtigste Funktion derselben besteht darin, dem Denken die zu verantwortende Wirklichkeit aufzuzeigen. Darum kann das wechselseitige Verhältnis auch nicht durch philosophische Ableitungen, sondern nur durch die Verantwortung vor der gemeinsam aufgegebenen Wirklichkeit bestimmt werden. V o r allem geht es in einem solchen Gespräch um wechselseitige Kritik. Bestimmte Arten des Bezuges auf die geschichtlich-soziale Lebenswelt, wie sie in philosophischer Metaphysik geübt wurden, sind heute angesichts der empirischen Wissenschaften überholt. Ein Deduktionalismus mit seinen Dichotomien bekommt die Sachverhalte in der Wirklichkeit, wie sie die empirischen Wissenschaften erforschen, nicht zu Gesicht. Philosophie als Grundlagenwissenschaft für die Einzelwissenschaften ist nicht mehr möglich. Sie kann nicht bei einer Totalität ansetzen, um von dorther den Rahmen wissenschaftlicher Forschung zu erstellen oder zu definieren, was in ihr als Wirklichkeit gelten kann oder nicht. Auch „systemimmanentes" Denken verhindert den Bezug auf den Erkenntnisvorgang in den empirischen Wissenschaften. Jaspers sieht als besonders wichtige Konsequenz wissenschaftlicher Weltorientierung die Auflösung der Totalität von Weltbildern im Sinne absoluter Systeme, in denen alles seinen Platz hat (Philosophie, S. 114). Die Wissenschaften können jedoch dem philosophischen Denken nicht irgendwo eine Grenze in der Denkbewegung ziehen, sondern es nur auf die Zusammenhänge in der Wirklichkeit hinweisen, in denen es sich vollzieht. Sie machen auf die Vermitteltheit des Denkens im personalgeschichtlich-sozialen Sinne aufmerksam und auf die erkenntnistheoretische Bedeutung des Standortes des Denkenden in der Wirklichkeit 2 3 7 . Sie konfrontieren philosophische Sinndeutung geschichtlich-sozialer Wirklichkeit mit der Frage, ob die Sinngehalte nicht auch Produkt einer Flucht vor der menschlichen Wirklichkeit sein könnten. Sie decken gleichzeitig auf, daß sich auch in der Wahrnehmung „angetroffener" Wirklichkeit Sinn erschließen kann. Auf die Transzendenz des menschlichen Lebens stoßen wir nicht in der philosophischen D e 295

duktion, sondern im geschichtlichen Prozeß selbst, an dem wir alle teilhaben. Umgekehrt aber bedarf auch die empirische Forschung des kritischen Gegenübers der Philosophie. Sie wird durch das Gespräch mit der Philosophie davor bewahrt, ihrerseits in eine Metaphysik umzuschlagen und zur soziologistischen Weltanschauung zu werden oder nur atomistischmechanistisch in der Weise eines physikalistischen Positivismus die menschliche Wirklichkeit zu zergliedern. Sie wird sich selbst immer wieder kritisch Rechenschaft geben müssen über die Art der Wirklichkeit, die zu erkennen ihr aufgegeben ist. Sie wird sich auch der Frage stellen müssen, welche Folgerungen sich aus der empirischen Analyse unmittelbarer Lebenswelt für die Ganzheitsvorstellungen ziehen lassen, mit denen der Mensch seine Wirklichkeit intentional zu gestalten versucht. Wie in solchem Gespräch die „übergreifenden Zusammenhänge" zur Sprache gebracht werden können, ist unseres Erachtens noch völlig offen. Lewin hat die Bedeutung der Philosophie für die empirische Forschung vor allem darin gesehen, daß sie ihr als Philosophie der Wissenschaft und ihrer Geschichte bei der Lösung ihrer erkenntnistheoretischen Probleme helfen kann. So stellt er beispielsweise heraus, wie die von Cassirer intendierte vergleichende Wissenschaftstheorie das Erkennen struktureller Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Wissenschaften ermöglicht und damit entscheidende Einsichten in die Zusammenhänge von Faktenfindung, experimenteller Methode und Begriffsbildung vermittelt (in: Schilpp, S. 276 fF.). Aber auch hier kann die Philosophie nicht einfach die erkenntnistheoretische Arbeit der empirischen Forschung übernehmen 238 . Lewin weist darauf hin, daß die Philosophie in ständiger Gefahr steht, vergangene Gestalten der Wissenschaft zu verabsolutieren und sie zum Leitbild für gegenwärtige Wissenschaft zu machen. Demgegenüber vollzieht sich in der empirischen Forschung, welche sich an der Gegenwart orientiert und in die Zukunft hinein fragt, ein ständiges Durchbrechen der von der Philosophie aufgestellten Tabus. Wenn aber eine Philosophie der Wissenschaft im Sinne Cassirers gerade diesen Weg der Wissenschaften als ständiges Hinausgehen über die jeweiligen Grenzen des wissenschaftlich Legitimen verdeutlicht, kann sie Einsichten gewinnen in den zeitgebundenen Aspekt wissenschaftlicher Arbeit, welche der gegenwärtigen Forschung dabei helfen können, jeweils den „nächsten Schritt" ins Unbekannte zu tun 239 . Unter Voraussetzung der Wahrung der Grenzen ist Philosophie unentbehrlich als Ratgeberin für die Wissenschaft („Consultant to science", a.a.O., S. 273). 296

Vom Standpunkt philosophischer Sinndeutung oder geisteswissenschaftlich orientierter Fragestellungen ist die Bedeutung der empirischen Forschung bis heute vielfach mit dem Argument bestritten worden, daß sie entweder nur Selbstverständlichkeiten zutage fördere oder sich in Faktensammlungen erschöpfe (s. o. S. 243f.). Es ist unbestreitbar, daß die Sozialwissenschaft, solange sie sich in der unfruchtbaren Alternative positivistisch-atomistischer Faktenwissenschaft oder soziologischer Weltanschauung bewegt, viel zu dem Vorurteil beigetragen hat, daß sie wenig Wissenswertes zutage gefördert habe. Aber in diesem Vorwurf ist übersehen, daß vom Standpunkt des Wissenswerten die spekulativen Systeme der Vergangenheit und Gegenwart unter derselben Kritik stehen, sobald sie von ihren Denkvoraussetzungen aus kritisch überprüft werden. Die Philosophie gebraucht heute gegenüber der empirischen Forschung genau dieselben Argumente, die bereits am Anfang ihres Weges gegen sie selbst geltend gemacht wurden. Genausowenig, wie sich philosophisches Denken nur von den spekulativen Systemen her beurteilen läßt, in welchen es historisch Gestalt gefunden hat, so wenig läßt sich der Wert empirischer Sozialwissenschaften von ihren Ergebnissen ablesen. Ihr eigentlicher „Wert" erschließt sich erst, wenn man sie von dem Erkenntnisvorgang her versteht, der sich in ihr vollzieht 240 . Ihr erkennender Umgang mit der Wirklichkeit ist für den einzelnen wie für die gesamte Gesellschaft nicht nur ein Wert, sondern auch eine zwingende Notwendigkeit. Dieses setzt aber voraus, daß sie ihre eigene Aufgabe ernst nimmt, die Frage nach der Wahrheit als Frage nach den Wirkzusammenhängen in der personal-geschichtlich-sozialen Wirklichkeit zu stellen. Nur wenn sie aus dieser Verantwortung heraus getrieben wird, kann sie dem Erziehungsauftrag entsprechen, der ihr heute zufällt: dem einzelnen und der Gesellschaft auf dem Weg zur Mündigkeit im Urteilen und Handeln zu helfen. Nur so wird sie nicht nur das wissenschaftliche Rüstzeug hefern, um die neue Situation der Menschheit zu diagnostizieren, sondern selbst ein Element dieser neuen Situation sein.

Resümee: Theorie und Empirie Wie wir darstellten, hat die Suche nach einem eigenständigen Erkenntniszugang zur Wirklichkeit in den empirischen Wissenschaften zur Entwicklung von Theorien geführt, die den weiteren Fortgang der Wissenschaften maßgeblich bestimmen. Eine theologische Auseinandersetzung wird sich vor allem auf die beiden zentralen Problemkomplexe beziehen 297

müssen, wie sie sich heute von der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie her für die SozialWissenschaften stellen: mit dem Problem empirischer Theorienbildung und der Bedeutung des normativen Elementes für das Erkennen und Handeln. Wir möchten die Ergebnisse unserer Untersuchung im Blick darauf kurz zusammenfassen: 1. Die Theorienbildung in den verschiedenen empirischen Disziplinen zeigt bereits heute deutlich allgemeine Züge und umgreift die Einzeldisziplinen, so daß Albert feststellen kann, daß die früheren Abgrenzungen demgegenüber wie „Vorurteile" erscheinen241. Schelsky stellt die wachsende Übereinstimmung fest, daß die Theorie und ihre Wesensmerkmale als offenes Erkenntnissystem den eigentlichen Kern des modernen Wissenschaftsverständnisses bilden (Einsamkeit, S. 287fr., 3i2fF.). Auf der Ebene der Theorienbildung bewegen sich bereits heute nach Schelsky die Einzeldisziplinen wieder auf eine neue, durch das offene Gespräch verbundene Einheit zu 242 . 2. Das Gemeinsame der Theorienbildung in den empirischen Disziplinen ist ihr Rückbezug auf Vorgänge in der Wirklichkeit, die sie in ihren Wirkzusammenhängen erforschen, ob es sich um psychologische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, pädagogische, biologische, chemische, physikalische oder andere Prozesse handelt. Ihre Begriffsbildung orientiert sich daher an Prozessen. Die Art ihrer Analyse ist genetisch-konditional. Sie bedürfen keiner philosophischen Ontologie und deren Wesensdefinitionen. Dadurch ist es ihnen möglich, das Gespräch untereinander ohne philosophische Vermittlung zu führen und sich auf die Daten der anderen Disziplinen direkt zu beziehen, nicht als Bestandteile eines philosophischen Welt- und Menschenbildes. An die Stelle der früheren Begriffsorientierung (Wesensdefinitionen) tritt eine Problemorientierung. Indem die Einzeldisziplinen in ihrer Theorienbildung die Probleme der anderen Disziplinen im Blick auf ihre eigene Problemstellung mitbedenken, nehmen sie zusehends selbst interdisziplinären Charakter an. 3. Die wachsende Allgemeinheit theoretischer Behandlung empirischer Probleme darf allerdings nicht übersehen lassen, daß die von ihnen erhellten Vorgänge sehr verschiedener Art sind. Das gilt vor allem, wie wir hervorgehoben haben, hinsichtlich der Verschiedenartigkeit des Wirklichkeitsverständnisses in Naturwissenschaft und empirischer Wissenschaft vom Menschen 243 . Es müssen aber auch die Vorgänge und die auf sie bezogenen Problemstellungen der verschiedenen empirischen Disziplinen selbst je nach ihrem verschiedenen Ort und Bezugsrahmen, ihrer 298

Funktion und Perspektive unterschieden werden. Verständnis der durch die Theorien vermittelten Einsichten, ihrer Aussagemöglichkeiten und ihres rechten Gebrauches ist nur möglich, wenn man ihren empirischen Ort und die damit zusammenhängende Aufgaben- und Problemstellung im Auge behält. 4. Es ist ferner zu beachten, daß die Theorien sich auf Vorgänge beziehen, die zwar in der Wirklichkeit, aber nicht die Wirklichkeit sind. In Abwehr einer philosophischen Metaphysik, welche den Wirklichkeitscharakter des Forschungsgegenstandes einer empirischen Disziplin bestritt, wurde sie nicht selten selbst zur Quelle von Metaphysik, indem sie das Verständnis menschlicher Wirklichkeit von den durch sie untersuchten Vorgängen abzuleiten versuchte. Auf Grund solcher philosophischer Mißverständnisse empirischer Theorienbildung kam es zu Erscheinungsformen wie Ökonomismus, Soziologismus, Psychologismus, Historismus, Biologismus, Physikalismus, deren gemeinsames Kennzeichen darin besteht, daß sie jeweils von einem Faktor her die menschliche Wirklichkeit erklären wollen. 5. Aber wenn auch die Theorien der empirischen Wissenschaften nicht das Ganze der Wirklichkeit erfassen, sondern nur Aussagen über feststellbare Faktoren und Zusammenhänge in der Wirldichkeit machen können, so betrifft doch das jeweilige Urteil die Wahrheitsfrage in bezug auf den konkreten, zur Diskussion gestellten „Faktor" oder „Zusammenhang". Das Urteil kann in bezug darauf nur lauten: wahr oder nicht wahr, richtig oder falsch; zutreffend oder nicht zutreffend 244 . Ob es sich so verhält und nicht anders, das läßt sich nicht von Denkvoraussetzungen ableiten, sondern muß sich selbst durch die Wirklichkeit verifizieren 245 . Schon aus der Weise ihrer Verifizierung ergibt sich ihre grundsätzliche Offenheit zur Empirie hin und die grundsätzliche Möglichkeit ihrer Überholbarkeit. Es besteht ständig die Möglichkeit übersehener Faktoren, nicht erkannter Wirkzusammenhänge usw. So erfolgt die Wahrheitsfindung in ständigem Gespräch und in ständiger Überprüfung unter Zuhilfenahme von Experiment und wissenschaftlich kontrollierter Beobachtung 246 . 6. Sie ist daher in ständigem Fortschreiten begriffen und kann nur approximative Urteile fällen, die dazu nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen gültig sind. Wie könnte es auch anders sein, da die empirische Forschung darin teilhat an der grundsätzlichen Offenheit der Wirklichkeit, die wir sind und in der wir leben. Aber gerade darin stellt sie trotz 299

der Überholbarkeit ihrer Erkenntnis und der Approximativität ihrer U r teile die Wahrheitsfrage im konkreten Verständnis. Der mittels der Wissenschaften aufgewiesene Wirkfaktor ist zwar nicht das Ganze, aber an dem, was sie aufzeigt und erkennt, kann sich das Verhältnis zum Ganzen und damit auch zur Wahrheit entscheiden, die an diesem konkreten Punkt nun gerade zur Diskussion stehen kann. 7. In dieser Hinsicht besteht auch ihr eigentlicher Dienst für die Praxis, auf die sie bezogen ist. Sie ermöglicht jener das Erkennen von Wirkzusammenhängen, in denen ihr eigenes Tun sich vollzieht und vor denen sie sich verantworten muß 2 4 7 . Der Ort der Verantwortung für die Praxis sind nicht mehr umgreifende Normen- und Wertsysteme, sondern Einsichten in Wirkzusammenhänge in der Empirie. Es ist die Wissenschaft selbst, welche aus diesem normativen Denken herausführt, indem sie Wirkzusammenhänge einsichtig macht, welche die W e g e zur Erfüllung philosophischer Normen- und Wertsysteme in kritischem Licht erscheinen lassen. Es zeigt sich, daß verschiedene W e g e möglich sind, die zu demselben Ziel führen; es zeigen sich Wege, die angesichts der Situation besser oder schlechter sein können usw. So führt die wissenschaftliche Theorie die Praxis in die Offenheit der eigenen kritischen Verantwortung. Sie kann keine Normen aufzeigen, sondern nur Einsichten vermitteln, vor welchen sich die jeweilige Praxis zu verantworten hat. D a mit aber stellt sie das normative Urteil in das Licht der Wahrheitsfrage. 8. Daraus ergibt sich keine Abhängigkeit der Praxis von der Theorie, wie sie bei einer philosophisch-normativen Begründung praktischen Handelns vorhegt, durch welche die Normen praktischen Handelns von bestimmten Denkvoraussetzungen her für ihre Anwendung in der Praxis deduziert werden sollen. Insofern sich die Theorie im Umgang mit der Wirklichkeit verifizieren muß, ist auch Kritik in Richtung von der Praxis zur Theorie hin grundsätzlich möglich. Das gibt letzterer eine kritische Selbständigkeit gegenüber dieser. Beide sind verbunden durch den U m g a n g mit derselben Wirklichkeit. Aber gerade weil sie nicht isoliert voneinander existieren können, müssen sie ihrer Frage- und A u f gabenstellung nach unterschieden werden. Der Umgang mit der W i r k lichkeit tritt in der Theorie in die Bezüge des Erkennens, in der Praxis in die Bezüge des Handelns. Beides darf nicht in pragmatischem Sinne miteinander vermischt werden. 9. Die in der empirischen Analyse erhellten Wirkzusammenhänge sind von allen Standorten aus einsichtig, sofem diese nicht eine normative 300

Metaphysik implizieren, welche die Voraussetzungen empirischer Forschung ablehnt. Die Analyse ergibt keine normativen Urteile, sondern empirische. In den Bezügen praktischen Handelns jedoch sind „Werturteile" nötig. Der einzelne muß entscheiden und damit auch persönlich verantworten, warum er den einen Weg einschlägt und nicht den anderen, dieses für wichtiger hält als jenes. Er folgt in irgendeiner Weise immer konkreten Zielvorstellungen. Aber indem er sein wertendes Urteil in das Licht der Wahrheitsfrage stellt, mit der er durch die empirische Wissenschaft konfrontiert wird, werden seine normativen Vorstellungen und wertenden Urteile relativiert. Sie sind nicht mehr einfach vorgegeben, deduktiv von Voraussetzungen philosophischer Metaphysik oder induktiv von rein praktischen Erfahrungen abzuleiten, sondern kritisch zu verantworten vor den Einsichten, welche das theoretische Denken der Wissenschaft vermittelt. Damit bindet die Theorie die Praxis nicht, sondern gibt ihr die Möglichkeit eigenständiger kritischer Verantwortung gerade auch gegenüber dem Zugriff von Welt-, Geschichts- und Menschenbildern. So weist sie die Praxis auf den Weg zur Mündigkeit 248 .

301

Kapitel VII

ANSATZ UND ORT EINER EMPIRISCHEN IN DER D E U T S C H E N

THEOLOGIE

SITUATION

a) Theologie zwischen Philosophie und empirischer Wissenschaft Indem die Theologie das Gespräch mit den empirischen Wissenschaften aufnimmt, werden auch ihre Voraussetzungen und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit in Frage gestellt. W i r können die damit gegebene Problematik im Rahmen unseres Themas nur im Zusammenhang des Entstehens empirischer Sozialwissenschaft behandeln. Damit müssen wir andere notwendige Aspekte ausklammem, die deswegen nicht unwichtiger sind 1 . Aber wie sich die erkenntnistheoretischen Probleme empirischer Forschung nur jeweils in einem begrenzten Rahmen diskutieren lassen, so auch die Fragen, die sich aus der Konfrontation der Theologie mit den empirischen Wissenschaften in ihrer „galileischen Epoche" ergeben (vgl. auch Exkurs 6, S. 549ff.). Der Theologie ist die Problemstellung, die aus dieser Situation auf sie zukommt, nicht fremd. Sie ist ihr bereits gestellt durch die Naturwissenschaften. N u r greift sie dieses Mal noch tiefer, da nicht nur das Verständnis der Natur und der Umgang des Menschen mit derselben davon betroffen sind, sondern die personal-geschichtlich-soziale Lebenswelt des Menschen selbst. Im Blick auf diese Wirklichkeit des Menschen wurde die Theologie auch schon vor ein entsprechendes Problem gestellt durch das Aufkommen des historischen Denkens und der historisch-kritischen Methode, die in ähnlicher Weise wie die empirischen Wissenschaften eine Erschütterung des traditionellen Geschichts-, Gesellschafts- und Menschenbildes und eine Relativierung absoluter Normen zur Folge hatten 2 . Aber insofern die historischen Wissenschaften selbst hinsichtlich ihres Ansatzes und ihrer Methoden durch die Sozialwissenschaften kritisch in Frage gestellt und zu einer Änderung ihrer Perspektiven genötigt werden (s. o. S. 237L), ergibt sich auch für die Theologie eine andere Problematik als zur Zeit des Entstehens der historischen Wissenschaften. Dieses ist um so mehr der Fall, weil sie selbst durch ihre einseitige Orientierung an den historischen Geisteswissenschaften dem Historismus und geschichtsphilosophischen Fragestellungen verfiel. Jedoch steht in diesen verschiedenen Situationen jeweils das Verhältnis von Theologie, Philosophie und Wissenschaft und das damit zusammenhängende Verständnis von Wirklichkeit zur Diskussion. 302

Wie die Theologie sich im ausgehenden Mittelalter gegen die entstehenden Naturwissenschaften mit einer an Aristoteles orientierten Naturmetaphysik verbündete, um mögliche mit ihnen verbundene Gefährdungen zu vermeiden, so verbündete sie sich im 19. Jahrhundert weithin mit einer Geschichts- und Sozialmetapysik, mit welcher die aufkommenden Wissenschaften vom Menschen in Konflikt standen3. Damit wurde der Anschein einer Alternative zwischen christlichem Glauben und Wissenschaft erweckt, welcher für die Situation der christlichen Gemeinde und ihr Zeugnis vom Evangelium tiefgreifende Folgen hatte4. Die entstehenden Wissenschaften wurden dadurch gezwungen, sich mit einem philosophischen Skeptizismus zu verbünden, welcher sich von seinen Denkvoraussetzungen her • gegen die biblische Offenbarung wandte. Wie das Bündnis zwischen Theologie und Naturmetaphysik im 17./18. Jahrhundert die Reaktion rationalistischer und deistischer Philosophie zur Folge hatte, so rief das Bündnis zwischen Theologie und Geschichts- und Sozialmetaphysik im 19. Jahrhundert den Gegenschlag positivistischer und atheistischer Philosophie hervor 5 . Dieser bestimmt bis heute die Situation des christlichen Glaubens in seiner Umwelt. Nachdem die Kirche im Namen Gottes gegen naturwissenschaftlich gesicherte Erkenntnis zu Felde gezogen war und die bedrängenden Probleme menschlicher und geschichtlich-sozialer Wirklichkeit mit theologisch-philosophischer Spekulation zugedeckt hatte, war ein starker Vertrauensschwund in die Wahrheit der christlichen Botschaft die Folge. Schon unmittelbar nach der französischen Revolution kam die Rede vom toten bzw. abwesenden Gott auf. Jean Pauls bekannte „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei" bringt zum Ausdruck, daß Christus als die bindende Mitte aus dem Ganzen der gesellschaftlichen Verhältnisse entschwunden ist6. Von dort geht die Linie bis in die „Gott-ist-tot-Theologie" unserer Tage, die den Bruch zwischen dem christlichen Glauben und der Welt, in der wir leben, feststellt. Hier wird sichtbar, wie sehr die Glaubensnot heute mit dem Verlust seines Empiriebezuges zusammenhängt7. Die atheistische und materialistische Philosophie erschien als Anwalt des Menschen, der geschichtlichen Wirklichkeit und der Wissenschaft. Als erster protestierte Feuerbach gegen den Verlust menschlicher Wirklichkeit in der philosophisch-theologischen Spekulation Hegels und seiner Schule. In seinen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft" von 1843 machte er geltend, daß die Philosophie der Zukunft „nicht den absoluten, das ist abstrakten Geist, kurz, nicht die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen" zum Gegenstand haben müsse8. Mit seiner Entdeckung des „ D u " durchbrach er den cartesianischen Ansatz der bisherigen Philosophie und

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zeigte auf, daß der Mensch nur in seiner Beziehung zum Mitmenschen und in der Liebe zwischen Ich und Du seine eigentliche Wirklichkeit habe. Damit wurde er zum geheimen Vater des modernen Denkens9. Der anthropologischen Wendung bei Feuerbach folgte bei Marx die Hinwendung der Philosophie zur Frage nach der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit. Ganz allgemein kann man sagen, daß das philosophische Denken damit zur Suche nach dem Menschen und der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit der Gegenwart aufbrach. Die Theologie wurde mit philosophischer Metaphysik identifiziert, welche den Zugang zum Erkennen der menschlichen Wirklichkeit versperrte (vgl. Löwith, a.a.O., S. 9of.). Aber auch die großen Aufbrüche des 19./20. Jahrhunderts in Richtung geschichtlicher Empirie, wie sie nicht nur in materialistischer und atheistischer Philosophie, sondern auch in Phänomenologie, Lebensphilosophie und Existentialismus intendiert waren, konnten den Bannkreis philosophischer Metaphysik nicht durchbrechen. Im Namen einer neuen philosophischen Metaphysik wurde das Ende der Metaphysik als solcher verkündet 10 . Diese bemächtigte sich mittels ihrer monokausalen Deduktionen auch der Ergebnisse der neu entstehenden empirischen Wissenschaften. So kam es zum Historismus, Psychologismus, Soziologismus und anderen „Ismen". Weitgehend unbemerkt blieb, daß inzwischen Naturwissenschaften und empirische Wissenschaften vom Menschen neue wissenschaftliche Grundlagen erarbeiteten, von denen her sie den philosophischen Materialismus, Physikalismus, Historismus, Positivismus, Biologismus, Psychologismus, Soziologismus usw. mit Hilfe theoretischer Analyse, Beobachtung und Experiment in sich selbst überwanden (vgl. Metzger, Psychologie, S. iff., 11). Zu einem Bruch der Theologie mit den metaphysischen Systemen des 19. Jahrhunderts kam es erst mit dem Angriff der dialektischen Theologie auf den Psychologismus und Historismus, welche den christlichen Glauben als Religion im Sinne einer „psychologisch-historisch faßbaren Größe in der Welt" darstellten. Demgegenüber betonte Barth, daß die Wirklichkeit Gottes und der christliche Glaube nichtpsychologisch, nichtgeschichtlich und jenseitig seien 11 . Der Protest richtete sich besonders gegen Troeltsch, an welchem die ganze Problematik der Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts deutlich wird. Bultmann wirft ihm vor, daß er das Christentum als „innerweltliche, sozialpsychologischen Gesetzen unterworfene Erscheinung" auffasse, was dem Evangelium direkt widerspreche (I, S. 5). Troeltsch war nun gerade der erste Theologe, welcher durch seine über Jahre hinweg währende Hausgenossenschaft und Freundschaft mit Max

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W e b e r unmittelbaren Z u g a n g zu der entstehenden empirischen Sozialwissenschaft in Deutschland hatte und diese in umfassender W e i s e für die Theologie fruchtbar zu machen versuchte. Er vermittelte dieselbe jedoch mit entgegengesetzten Intentionen, als sie M a x W e b e r in seiner empirischen Analyse verfolgte. W ä h r e n d es diesem gerade darum ging, gegenüber der Philosophie v o n M a r x die Komplexität der geschichtlichen Wirklichkeit herauszustellen (s. o. S. 266), w u r d e die Sozialwissenschaft bei Troeltsch zu einem eklektischen geschichts- und sozialphilosophischen Deutungssystem, in das dann auch die christliche Religion integriert w u r d e 1 2 . W ä h r e n d es M a x W e b e r in seiner Front gegen die Philosophie Hegels u m die W a h r u n g der empirischen Wirklichkeit des Menschen und die Freiheit des Individuums gegenüber den Institutionen zu tun war, w u r d e in dem sozialphilosophischen Ansatz v o n Troeltsch die Geschichte der christlichen Gemeinde in Abhängigkeit v o n der Philosophie Hegels weitgehend auf eine Institutionengeschichte i m Sinne der organisatorischen

Selbstgestaltung

der „soziologischen

Idee des

Christentums" (vgl. I, S. 14, 966fF.) reduziert, aus deren D e u t u n g sich dann das Fazit ergab, daß die A u f g a b e der christlichen Gemeinde in der G e g e n w a r t v o r allem „soziologisch-organisatorischer N a t u r " sei 13 . D e m entsprechend z o g Troeltsch aus der B e g e g n u n g v o n T h e o l o g i e und Sozialwissenschaft die Folgerung, daß die B i n d u n g des christlichen Glaubens an die Person Jesu lediglich auf G r u n d eines sozialpsychologischen Gesetzes n o t w e n d i g sei, w o n a c h die Gemeinschaft zwecks dauerhafter Organisation eines persönlichen Mittelpunktes bedarf: „Die Verbindung der christlichen Idee mit der Zentralstellung Christi in Kult und Lehre ist keine begriffliche aus dem Begriff des Heils folgende Notwendigkeit ... Sie ist sozialpsychologisch für Kult, Wirkungskraft und Fortpflanzung unentbehrlich, und das mag genügen, um die Verbindung zu rechtfertigen 14 ." W e n n Bultmann sagt, daß eine solche Auffassung der Christologie nicht T h e o l o g i e genannt werden könne (I, S. 5), so m u ß man hinzufügen, daß hier auch die Grenzen empirischer Sozialwissenschaft überschritten sind, die solche Folgerungen und kausalen Erklärungen nicht geben kann. W i e fruchtbar die soziologische Betrachtungsweise zur Erhellung der urchristlichen Tradition sein kann, zeigt die formgeschichtliche Forschung, die aber gerade auf solche kausalen Deduktionen b e w u ß t verzichtet. D i e formgeschichtliche Frage nach d e m „Sitz i m L e b e n " meint nicht die Erklärung des christlichen Glaubens und seiner Außerungsformen aus soziologischen und psychologischen Gegebenheiten, sondern den V e r such, ihn im Zusammenhang mit dem Leben der Gemeinde zu verstehen.

305

War es auch das Verdienst von Troeltsch, die Theologie auf die entstehende Sozialwissenschaft hingewiesen und dadurch vor allem der Kirchengeschichte wesentliche Anregungen vermittelt zu haben, so erweist es sich doch als verhängnisvoll, daß die erste Begegnung von Theologie und empirischer Sozialwissenschaft im Rahmen solcher Geschichtsund Sozialmetaphysik erfolgte. Die Wichtigkeit der Weberschen Unterscheidung von empirischer Analyse und philosophischer Sinndeutung für die Theologie konnte nicht eindrucksvoller demonstriert werden. Wenn Barth anfangs meinte, daß die Theologie wohl mit einer Philosophie ins Gespräch kommen könne, die ihren Namen verdiene, nicht aber mit Psychologismen (a.a.O., S. 63), so muß ergänzt werden, daß es sich bei diesen Psychologismen gerade um philosophische Spekulationen in der empirischen Forschung handelt. So hat denn auch Barth in seiner „Kirchlichen Dogmatik" in Ablehnung spekulativer Weltanschauung und philosophischer Anthropologie die Nähe von empirischer Wissenschaft und Theologie gerade hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit herausgestellt (KD III/2, S. i2f.). Ihre Gemeinsamkeit sieht er vor allem darin, daß sie im Gegensatz zur philosophischen Spekulation nicht von einem geschlossenen Weltbild ausgehen und die menschliche Wirklichkeit nicht als Element einer kosmologischen Ontologie behandeln. Während die philosophische Anthropologie im Zusammenhang einer Weltanschauung steht (a.a.O., S. 24), empfiehlt sich die empirische Wissenschaft zum Gespräch mit der Theologie infolge ihrer „reinen Verknüpfung von Wahrnehmung und Denken" und ihrer Beschränkung auf die Feststellung von Phänomenen (a.a.O., S. 12). Da die philosophische Anthropologie mit ihrem Urteil „einen absoluten Anfang" zu setzen und der Wirklichkeit des Menschen mit ihren Definitionen habhaft werden zu können glaubt (S. 24L), sieht Barth keine Gesprächsmöglichkeit zwischen ihr und der Theologie. Aber „die exakte Wissenschaft vom Menschen als solche kann nicht der Feind des christlichen Bekenntnisses sein. Sie würde es erst dann, ... wenn sie zum Exponenten und Bestandteil einer Philosophie und Weltanschauung würde, wenn sie also aufhörte, exakt und Wissenschaft zu sein."

Von diesem Standpunkt aus wird rückblickend auf Kapitel V und VI unserer Arbeit deutlich, was der Kampf empirischer Wissenschaft gegen die Umklammerung durch philosophische Metaphysik auch für das Gespräch mit der Theologie bedeuten könnte. Den Wert eines solchen Gespräches sieht Barth vor allem darin, daß dadurch die Metaphysikfreiheit der wissenschaftlichen Arbeit gefördert würde (a.a.O., S. 241). Tatsäch306

lieh steht ja beispielsweise auch die Feldtheorie Lewins in derselben Front wie die dialektische Theologie : gegen Historismus, Psychologismus (bzw. psychologischen Physikalismus) und philosophische Metaphysik, zwar nicht in bezug auf die Wirklichkeit Gottes, worum es der dialektischen Theologie primär ging, wohl aber hinsichtlich der Wahrnehmung menschlicher Wirklichkeit in der empirischen Forschung 15 . Im Gegensatz zur philosophischen Spekulation hat die empirische Wissenschaft nach Barth „einen realen Gegenstand" 16 . Sie analysiert die „Phänomene des Menschlichen" und bezieht sich somit auf die „jedem menschlichen Auge und jedem menschlichen Nachdenken erkennbaren Formen" (a.a.O., S. 236f.), die als Hinweis auf den wirklichen Menschen in seiner Erscheinung verstanden werden können. Der Mensch selbst in seiner Wirklichkeit ist der empirischen Analyse nicht zugänglich, sondern nur in der „Fülle seiner Möglichkeiten". Aber von der Erkenntnis des wirklichen Menschen her, wie er Gegenstand theologischer Anthropologie ist, erweisen sich jene Phänomene und Möglichkeiten als reale Symptome des Menschlichen (a.a.O., S. 28 und 236f.). So kommt Barth zu dem Schluß: „So also und in diesem Sinne ist Wissenschaft vom Menschen als nichttheologische, aber echte Wissenschaft auch von der theologischen Anthropologie her gesehen möglich, grundsätzlich berechtigt und grundsätzlich notwendig" (a.a.O., S. 241). Barth selbst läßt jedoch keine Durchführung des Gespräches mit den empirischen Wissenschaften folgen, sondern setzt sich unter dem Stichwort „Phänomene des Menschlichen" außer mit Portmanns „Biologischen Fragmenten zu einer Lehre v o m Menschen" nur mit philosophischer Anthropologie auseinander. Z u einer wirklichen Konfrontation mit den empirischen Wissenschaften kommt es daher nicht. Die Schwierigkeiten zeigen sich schon darin, daß Barth in seinem Vorwort zu K D III/2 darauf hinweist, daß er den Aspekt „ v o m Einzelnen, von den Gemeinschaften und von der Gemeinschaft der Menschen" ausklammern müsse, weil er zu diesem Problemkomplex keinen theologischen Zugang gefunden habe (S. VIII). Gerade um diesen geht es aber u. a. im Gespräch zwischen Theologie und Sozialwissenschaften 17 . Eine Durchführung- des Gespräches mit den empirischen Wissenschaften v o m Menschen scheitert letztlich daran, daß Barth die theologische Anthropologie aus der Christologie deduziert (vgl. z. B . K D I/i, S. i3off.), ohne die geschichtliche Situation des Menschen mit ihren verschiedenen Implikationen als konstitutiv in die Anthropologie einzubeziehen. Es bleibt jedoch das Verdienst von Barth, die Theologie auf die Möglichkeit eines Gespräches

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mit den empirischen Wissenschaften v o m Menschen hingewiesen und in die Grundrichtung eines solchen eingeführt zu haben. Sein Gegenstand ist die menschliche Wirklichkeit. Spekulative Anthropologie, Geschichts- und Sozialmetaphysik sind schon deswegen für die Theologie als Gesprächspartner wenig geeignet, weil sie mit einer Definition der Wirklichkeit einsetzen, die es erst zu erforschen gilt. Die empirische Wissenschaft ist in ständiger Bemühung auf solches Ziel hin unterwegs, ohne es je zu erreichen. Andererseits impliziert sie aber den A n spruch, daß ohne sie kein klares Erkennen personaler, geschichtlicher und sozialer Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen möglich ist. Sie kann nicht Wirklichkeit als solche definieren, aber sie kann wohl aussagen, daß ohne diese oder jene von ihr aufgewiesenen Faktoren, Zusammenhänge, Strukturen, Gesetzmäßigkeiten usw. Wirklichkeit jeweils nicht recht gesehen und erkannt w i r d 1 8 . Z w a r kann sich philosophische Anthropologie auch geschichtlich verstehen und so zum echten Gesprächspartner von Theologie und empirischen Wissenschaften werden, wie es sich am Beispiel der Philosophie von Buber, Jaspers u. a. zeigen läßt. Aber sie darf sich nicht mit metaphysischen Definitionen menschlicher Existenz an die Stelle der Wirklichkeit setzen und mit dem Anspruch auftreten, aus sich selbst heraus und von ihren philosophischen Prämissen her die menschliche Wirklichkeit deduzieren zu können. In der Negierung solchen A n spruches stehen die empirische Forschung und die Theologie an derselben Front (Barth, K D III/2, S. 12t.). Dieses gilt auch gegenüber einer „phänomenologischen" Ontologie im Sinne des frühen Heidegger, die sich als rein formale Analytik des D a seins versteht (vgl. Sein und Zeit, S. 43) und ihrer Bedeutung für die Theologie. Wenn Bultmann meint, daß die Philosophie der Theologie die Erkenntnis der formalen Strukturen menschlichen Daseins vermitteln könne und daß eine Korrektur oder Ergänzung der existentialen Analyse seitens der Theologie nicht möglich sei, weil die Philosophie den Anspruch erhebe, das Ganze des Daseins zu verstehen (I, S. 309), so ist dem entgegenzuhalten, daß sowohl die Theologie als auch die empirische Wissenschaft einem solchen Selbstverständnis der Philosophie entgegentreten und es in seinem Absolutheitsanspruch bestreiten müssen. Mit ihrer Behauptung, die formalen Strukturen menschlichen Seins als Bedingung der Möglichkeit konkreten Existierens aufweisen zu können, versucht die existentiale Analyse letztlich, die gesamte menschliche Wirklichkeit begrifflich zu definieren und damit auch den Einzelwissenschaften das fehlende ontologische Fundament zu geben, während doch ein solches dem Selbstverständnis empirischer Wissenschaften widerspricht 19 . 308

Jonas zeigt an mehreren Beispielen auf, wie die angeblich rein formale philosophische Bestimmung menschlicher Wirklichkeit durch Heidegger notwendig auch inhaltliche Bestimmungen impliziert, die in die Theologie unkritisch übernommen werden, wenn diese die Analyse nur als ganze übernehmen oder verwerfen kann 20 . Die Philosophie Heideggers überspringt die geschichtlich-soziale Vermitteltheit des Denkens (vgl. Jonas, S. 624 fr., 63 3 ff.). Nicht die Seins Vergessenheit, auf die Heidegger hinweist, sondern die Geschichts- und Personvergessenheit seiner Philosophie scheint das Problem für die Theologie zu sein 21 . Die Verbindung von Theologie und existentialer Analyse führt letztlich zu einer neuen Gestalt des alten Bündnisses von Theologie und Metaphysik 22 . Die „Frage nach der richtigen Philosophie" als die Frage nach dem sachgemäßen hermeneutischen Prinzip richtiger Auslegung menschlicher Existenz 23 kann sich in dieser Weise weder für die empirische Forschung noch für die Theologie stellen, insofern ein von der Philosophie entwickeltes System „angemessener BegrifFlichkeit" von vornherein den Zugang zur Wirklichkeit - sowohl der empirischen als auch der im Glauben erschlossenen einengen würde. Die Reduktion des Heilsgeschehens auf das punktuelle Hier und Jetzt der Verkündigung und des ihr antwortenden Glaubens des einzelnen und die damit verbundene dichotomische BegrifFlichkeit (z. B . Historie - Geschichtlichkeit) weisen deutlich auf diese Konsequenz hin. Ähnliches gilt auch für das Verhältnis der Theologie zur Philosophie des späteren Heidegger nach seiner sogenannten „Kehre" 2 4 . Wenn sich theologisches Denken in Analogie zur Bestimmung philosophischen Denkens im Sinne der Entbergung des Seins als das „anfängliche und wesentliche Denken" versteht und die Interpretation der Bibel in Entsprechung zur philosophischen Deutung einer Dichtung gesehen wird, dann ist zu fragen, ob damit nicht sowohl der Bezug zur Komplexität geschichtlicher Empirie als auch die Geschichtlichkeit des Glaubens übersehen werden 25 . Damit meinen wir nicht, daß ein Gespräch zwischen Theologie und Philosophie nicht möglich oder abzulehnen sei; wir haben bereits darauf hingewiesen, daß auch die empirische Forschung eines Gespräches mit der Philosophie bedarf, um nicht ihrerseits in Metaphysik oder Ontologie umzuschlagen (s. o. S. 296). Philosophisches Denken wird genauso wenig aufhören wie empirische Forschung. Immer wieder wird der Mensch nach dem Sinn seines Daseins fragen, immer wieder wird er sich bemühen, die geschichtliche Wirklichkeit zu deuten, in welcher er lebt 26 . Das vielfach beschworene Ende philosophischer Metaphysik kann nicht einfach ein Ende philosophischen Denkens überhaupt meinen (Plessner, Philosophie, S. 10), wohl aber das geschichtlich notwendige Ende bestimmter 309

Weisen philosophischen Selbstverständnisses und Systemdenkens (s. o. S. 295), wie auch mit dem Entstehen der Naturwissenschaften das Ende aristotelischer Naturphilosophie, nicht aber einer Naturphilosophie überhaupt, unausweichlich wurde 2 7 . Es wird darum, wie Tillich sagt, eine immer neu zu vollziehende Aufgabe der Theologie bleiben, die in Offenbarung und Glauben erschlossene Wirklichkeit in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Philosophie zu interpretieren und sich um eine Antwort auf die Fragen der Philosophie zu bemühen 28 . Der Gedanke einer „wahren Philosophie", von der sich die Theologie ein umfassendes Wirklichkeitsverständnis und ein entsprechendes kategoriales System vermitteln lassen könnte, erscheint uns jedoch als unannehmbar. Die B o t schaft des Evangeliums wird sich immer in allen Denkformen der jeweiligen geschichtlichen Situation aussagen und mitteilen müssen. Ein Gespräch zwischen Theologie und Philosophie kann auch nicht bedeuten, daß sich die Theologie Ergebnisse empirischer Wissenschaften durch philosophische Anthropologie, Geschichts- oder Sozialphilosophie vermitteln lassen müßte. Gerade das Beispiel von Troeltsch zeigt, wie schnell dieses zu Mißverständnissen empirischer Analyse und ihrer Ergebnisse Anlaß geben und zu falschen theologischen Schlußfolgerungen führen kann. Die Theologie muß der Situation Rechnung tragen, daß empirische Wissenschaft v o m Menschen zu unterscheiden ist von philosophischer Anthropologie, Geschichts- und Sozialphilosophie. Die Auseinandersetzungen der Theologie mit den anderen Wissenschaften, z. B . Psychologie, Soziologie, Geschichtswissenschaften usw. brauchen nicht mehr den W e g über die Philosophie zu gehen, da diese heute nicht mehr die Zusammenfassung aller Wissenschaften ist. Die Bedeutung der Philosophie als Gesprächspartnerin der Theologie in früheren Jahrhunderten lag darin, daß sie meistens das herrschende Denken einer Gesellschaft repräsentierte und zum Ausdruck brachte. Diese Rolle der Philosophie hörte auf mit dem Ende der „geschlossenen" Gesellschaften. Die Theologie wird daher das direkte Gespräch mit den empirischen Wissenschaften suchen, sich auf die Probleme der innerwissenschaftlichen Diskussion beziehen und diese im Zusammenhang ihrer wissenschaftlichen Grundlagen, methodischen Bedingtheiten und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sehen müssen 29 . Nach Moltmann ist der Ort der Begegnung zwischen theologischem und wissenschaftlichem Denken einerseits die „Grundlagenproblematik der Wissenschaften", andererseits das „Ethos der wissenschaftlich-technischen Weltbeherrschung" 3 0 . W i e es die Diskussion des N o r m e n - und Wertproblems in den Sozialwissenschaften gezeigt hat, erscheinen im U m g a n g des Wissenschaftlers mit der

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Wirklichkeit erkenntnistheoretische und normative Problematik als verschiedene Aspekte, die in ihrer Wechselbeziehung und in ihrer Unterschiedenheit gesehen werden müssen. Diese Zusammenhänge zwischen Verhalten und Wahrnehmung, normativer und empirischer Erkenntnis, Ethik und Erkenntnistheorie müßten daher in einer Diskussion zwischen den Wissenschaften besondere Beachtung finden. Ein Gespräch zwischen Theologie, empirischer Wissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie setzt voraus, daß der je eigenständige Zugang zur Wirklichkeit von den Wissenschaften erkannt und berücksichtigt wird. Nur so kann es zu einem kritischen, aber gerade darin fruchtbaren Gegenüber und zum Zusammenarbeiten der Wissenschaften an der Lösung der Probleme kommen, die sich aus dem Umgang mit der geschichtlichen Wirklichkeit ergeben. Wie die Antwort auf die Problematik des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Konzeption von Wissenschaft führte, muß auch die Theologie in ihrer Konfrontation mit dieser neuen geschichtlichen Situation und mit dem andersartigen Selbstverständnis der Wissenschaften eine neue Antwort von ihren eigenen Voraussetzungen her suchen.

b) Empiriebezug und Theorienbildung in der Kirchensoziologie Im Blick auf die Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg ist festzustellen, daß von der praktischen Theologie her der Bezug zu den Wissenschaften, die sich mit der geschichtlich-sozialen Lebenswelt des Menschen beschäftigen, bisher kaum aufgenommen wurde, wie man hätte erwarten können. Statt dessen wurde das Gespräch von zwei Randdisziplinen geführt, die sich erst in jüngster Zeit neu konstituierten: der Kirchensoziologie und der Sozialethik. Wir beabsichtigen nicht, eine umfassende Darstellung des Diskussionsstandes in diesen beiden neuen Fächern zu geben. Wir beschäftigen uns mit den in ihnen verhandelten Fragen unter der Perspektive unserer bisherigen Problemstellung und versuchen, die Art ihres Verhältnisses zu den empirischen Wissenschaften an einigen der wichtigsten systematischen Ansätze auf diesen Gebieten jeweils exemplarisch aufzuzeigen. Bis heute sind beide Disziplinen ein Sammelbecken sehr verschiedener Fragestellungen, die sich im Gespräch zwischen Theologie und Sozialwissenschaften ergeben haben, aber in ihrer Differenziertheit nicht zutage treten, weil sie in einen von der Tradition vorgegebenen Rahmen hineingestellt werden. Die Sozialethik wird als eine Erweiterung der dogmatischen Disziplin verstanden; die Kirchensoziologie steht im Zusammenhang der Soziologie und ihrer Methoden und wird zum Teil als Modi3"

fizierung der älteren Religionssoziologie angesehen31. Erstere fragt nach der christlichen Verantwortung in Wirtschaft, Politik, gesellschaftlichen Institutionen usw.; letztere untersucht mittels empirisch-soziologischer Erhebungen die vorgefundenen Formen kirchlichen Verhaltens und kirchlicher Organisation, vor allem im Blick auf ihre Zusammenhänge mit bestimmten Sozialfaktoren (soziale Herkunft, Beruf, Bildung usw.) 32 . Die Kirchensoziologie wäre dann der Ort, an welchem im Interesse eines kirchlichen Orientierungsbedürfnisses in der gegenwärtigen Welt soziologische Methoden auf dem kirchlichen Sektor Anwendung finden, die Sozialethik wäre die Stelle, an welcher die Probleme der Gesellschaft theologisch zur Sprache gebracht würden (vgl. Matthes, Emigration, S. 93). Das bedeutet faktisch, daß die Probleme des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft, Theologie und Sozialwissenschaften entweder unter einer normativen Fragestellung oder unter dem Aspekt voneinander isolierter soziologischer Untersuchungen gesehen werden, ohne daß die damit implizierten erkenntnistheoretischen Fragen behandelt werden. Hier setzte die Kritik von sozialwissenschaftlicher Seite an. Goldschmidt forderte bereits 1959, daß „das Tabu über der Theologie gebrochen und eine eigentliche Wissenssoziologie der Theologie in enger Verbindung mit der Ideologieforschung" angeregt werden sollte, um kritisch nach dem Charakter der theologischen Wahrheit „im Verhältnis zu Geschichte und Gesellschaft" zu fragen (Probleme, S. 4f.). Matthes sieht das Dilemma der neueren Theologie darin begründet, daß sie mit ihren Fragestellungen primär am „etablierten Kirchensystem" und damit an bloßen Systemproblemen orientiert sei 33 . Auch der Bezug zum geschichtlich-sozialen Feld und das Gespräch mit den Sozialwissenschaften seien nur unter dieser begrenzten Perspektive aufgenommen worden. So werden die speziellen Probleme von Kirchensoziologie und Sozialethik oder Soziallehre dadurch bestimmt, daß die „volle gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion" nicht in den Blick gekommen sei34. Diese bleibt unter einer Scheinalternative verdeckt, welche die Begriffe „Kirche" und „Gesellschaft" isoliert einander gegenüberstellt, ohne daß nach deren gegenseitiger geschichtlicher und empirischer Vermitteltheit gefragt wird 35 . Die entkirchtlichte Gesellschaft erscheint als Gegenpol zu einer „entgesellschafteten", das ist aus der Gesellschaft emigrierten und ihre Struktur nicht mehr repräsentierenden Kirche. Diese Alternative ist Ausdruck eines dichotomischen Denkens, das der Theologie den Zugang zur geschichtlich-sozialen Empirie und die Einsicht in die „Komplexität der Wirklichkeit" versperrt (Emigration, S. 21 ff.). Statt von der „geschichtlich vermittelten Einheit" von Kirche und Gesellschaft auszugehen, kreist

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es ständig um das Bemühen, die diastatischen Größen Kirche und Gesellschaft „in ein Verhältnis zueinander" zu setzen (a.a.O., S. 20 und 24). Die Gesellschaft kommt dabei nur als ein Objekt kirchlichen Handelns zu Gesicht, was dieser die Möglichkeit gibt, ihrerseits die Kirche zum Objekt ihres Handelns zu machen (S. 1 7 t . ) . Da sich die Kirche selbst nicht kritisch in der Weise ihrer Teilhabe am geschichtlich-sozialen Prozeß sieht, werden die Begriffe „Kirche" und „Gesellschaft" zu „Leerformeln", die mit jedem beliebigen Inhalt gefüllt werden können, ohne daß ihr Bezug zur Wirklichkeit ernsthaft zur Diskussion stünde. Charakteristisch für solches dichotomische Denken in der Theologie ist die Frage nach dem „Wesen" und der „Natur" von Kirche und Gesellschaft (S. 20f.). Der allgemeine geistesgeschichtliche Prozeß der Verselbständigung von Begriffen und Systemen gegenüber den komplexen Zusammenhängen in der Wirklichkeit wird „als bloße Natur" interpretiert. Dabei wird übersehen, daß dieser Prozeß auch dann geschichtlich bleibt, wenn man ihn ungeschichtlich versteht. Die Frage nach dem „Wesen" in ihren verschiedenen Erscheinungsweisen, auch in ihren kirchlich-theologischen, und die damit zusammenhängenden dicho tomischen Denkschemata als Deutungsformeln sind heute „an ihr Ende gekommen" (S. 20). Die Theologie hat aus dieser Situation nur noch nicht die Konsequenzen gezogen. Sie hat sich der grundsätzlichen Frage, welche durch die Sozialwissenschaft an die ganze Theologie gerichtet war, praktisch entzogen, indem sie diese „in der Gestalt einer Spezialwissenschaft institutionalisiert" und damit entschärft hat (a.a.O., S. 99f.). Die Kritik von Matthes zielt durchgehend auf die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Begriff und nach der Bedeutung der empirisch-geschichtlichen Vermitteltheit von Theologie und Kirche. Die Voraussetzungen selbst, von denen die Theologie bisher das Gespräch mit den Sozialwissenschaften führte, werden hier zur Diskussion gestellt. Matthes sieht das dichotomische Verständnis von Kirche und Gesellschaft als Ausdruck und Bestandteil eines geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhanges an, der zumeist mit dem Begriff der Säkularisierung umschrieben wird 36 . Die „Säkularisierungsthese" ist in ihren verschiedenen Varianten ein Instrument globaler Zeitdeutung, das den sozialen und kulturellen Wandel zu erklären versucht. Da sie eine Fülle von deskriptiven, normativen und praktischen Elementen enthält, können sich sowohl Theologie und Kirche als auch ihre Gegner darauf berufen. Befragt man diese These auf ihren Aussagegehalt, so geht es darin um eine Feststellung darüber, wie die moderne Gesellschaft im Verhältnis zu ihrer durch die christliche Religion bestimmten Herkunft charakterisiert

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werden kann: Die moderne Gesellschaft ist zwar ihrer Herkunft nach wesentlich durch die christliche Religion geprägt, ihr gegenwärtiges Verhältnis lasse sich jedoch nur als „partiale ... Beziehung zu einem begrenzten und besonderen Sektor Religion" beschreiben (Matthes, a.a.O., S. 74). Der BegrifF„Säkularisierung" kennzeichnet demnach die Erfahrung, daß die moderne Gesellschaft einerseits und ihre christliche Herkunft andererseits Gegensätze sind (a.a.O., S. 76). Der „Emanzipation" der Gesellschaft von ihrer Herkunft entspricht die „Emigration" der Kirche aus der Gesellschaft. Hier erweist sich nach Matthes die These von der Säkularisierung als Erbe der klassischen Religionskritik und ihrer Konzeption von „expliziter Religion". Die Religionskritik der Aufklärung definierte das Phänomen Religion als „Konfiguration mehrerer miteinander verbundener Elemente (Bewußtseinsformen, Verhaltensweisen, Weltdeutungen, Institutionen), die zusammen eine spezifische Erscheinung im soziokulturellen Feld bilden"(a.a.O., S. 71). In seiner Unterschiedenheit von anderen Phänomenen hat das religiöse Phänomen sein „eigentliches Wesen" 3 7 . Das bedeutet aber: Religion wird auf das eingeengt, was an ihr explizit und manifest religiös ist. Die Elemente, die nicht unter dieses Kriterium fallen, konstituieren dann die Gesellschaft (a.a.O., S. 72). Setzt man explizite Religion gleich mit Christentum, so ergibt sich, daß das Christentum identisch ist mit seinen kirchlichen Manifestationen. Säkularisierung meint dann den Prozeß fortschreitender „Entkirchlichung" der Welt im Sinne ihrer „Entchristlichung". Diese Konzeption wurde deshalb so wirksam, weil sie gewissen Trends in Theologie und Kirche entgegenkam und in der Folgezeit immer mehr zum Selbstverständnis von Theologie und Kirche verfestigt wurde 38 . Als Handlungstheorie könne sie nur auf die Tendenz zu einer neuen Verkirchlichung und Verchristlichung der Gesellschaft hinauslaufen, wenn dieses auch nicht immer direkte Absicht hinter den kirchlichen Aktivitäten sei39. Das eigentliche Problem liegt nach Matthes darin, daß man die Säkularisierungsthese verabsolutierte, statt sie kritisch auf ihren Aussagegehalt zu überprüfen, ihre Widersprüche aufzudecken und die Tatbestände zu analysieren, auf die sie sich bezieht (Religion, S. 84ff). Diese Kritik trifft jedoch nicht nur die Theologie, sondern in gleicher Weise die Soziologie. Bereits in der klassischen Religionssoziologie sei das Thema der Säkularisierung Voraussetzung der Forschung gewesen, wie es auch in der Gegenwart das gemeinsame Dilemma sowohl der Kirchensoziologie als auch ihrer Gegner darstelle40. Die These von der Säkularisierung als Entkirchlichung und Entchrist-

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lichung der Gesellschaft wurde mit ihren dichotomischen Implikationen ungeprüfte Leithypothese der kirchensoziologischen Forschung. Hierin sind, wie die Kritik von sozialwissenschaftlicher Seite deutlich gemacht hat, der Mangel an theoretischer Orientierung und die Verengung des Empiriebezuges begründet 41 . Das Problem wird vor allem darin gesehen, daß die Kirchensoziologie bisher ihre theologischen Voraussetzungen nicht kritisch reflektierte, sondern zum umgreifenden Bezugsrahmen der Forschung machte. Dadurch wurden sowohl die operationalen Definitionen als auch die Auswahl der zumeist deskriptiven Methoden festgelegt 42 . So konzentriert sie ihr Forschungsinteresse auf „explizite Religion" und arbeitet daher unter der Voraussetzung, daß Religion mit manifester Kirchlichkeit identisch sei. Religiöses Verhalten und religiöse Einstellung werden als kirchliches Verhalten und kirchliche Einstellung bestimmt. Alle anderen religiösen Phänomene werden als defizienter Modus von Kirchlichkeit angesehen: „Kirchliche Praxis, ablesbar an besonderen Verhaltensweisen und Einstellungen, wird zum operationalisierbaren Kriterium, an dem sich die besondere soziale Kategorie .Kirchlichkeit' bilden und zu anderen sozialen Kategorien (Alter, Geschlecht, Schichtung, Bildung usw.) in Beziehung setzen läßt" (Matthes, Kirche, S. 13).

Das Kriterium der kirchlichen Praxis wird dabei primär an den Institutionen gewonnen, die dieses repräsentieren und als Verhaltenserwartung an den Menschen herantragen. Darum rücken die institutionell normierte und regulierte Kirchlichkeit und die Organisationsformen, in denen sie sich unmittelbar darstellt, in das Zentrum der Forschung, vor allem die Veranstaltungen der örtlichen Kirchengemeinde. Kirchensoziologie wird somit zu einer Soziologie kirchlicher Institutionen (Luckmann, a.a.O., S. 14), bzw. zu einer „Soziologie kirchlicher Organisation" und der von ihr normierten Verhaltensweisen (Matthes, Religion, S. 103). Dieses hat zur Konsequenz, daß der ganze Bereich kirchlich nicht in Erscheinung tretender Frömmigkeit, die Umsetzung kirchlich-religiöser Einstellungen in Entscheidungs- und Handlungssituationen, sowie die gesamtgesellschaftliche Verflechtung von Religion aus dem Zentrum des Forschungsinteresses ausgeblendet werden 43 . Daß die Kirchensoziologie ihr Vorverständnis nicht kritisch reflektierte, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß ihre Fragestellung nicht primär religionssoziologisch-theoretisch orientiert war, sondern aus einem „Pastoralen Orientierungsbedürfnis in der heutigen Welt" und aus einem „kirchlichen Interesse" entwickelt worden ist. Dieses wurzelte in der Diskussion um den Kirchenbegriff und konnte gerade deshalb nicht Gegenstand kritischer Reflexion werden, weil es in der dichotomischen

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Denkweise der gegenwärtigen Theologie verankert ist (Emigration, S 78ff. und 84 fr.). Angesichts der mangelnden theoretischen Orientierung und des verengten Empiriebezuges der Kirchensoziologie wird daher von soziologischer Seite die Begründung einer neuen Religionssoziologie angestrebt, die an genuin soziologischen Problemstellungen orientiert ist und das Phänomen Religion in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen sieht. Während die einen die Kirchensoziologie wegen ihrer kirchenpolitischen Interessen völlig ablehnen (z. B . Luckmann), wollen die anderen auf dem Wege der Erweiterung und Veränderung der kirchensoziologischen Fragestellung einen neuen Ansatz für die Religionssoziologie gewinnen (Matthes und Rendtorff) 44 . Dabei ergibt sich das Problem, wie „Religion" definiert werden soll. Hier liegt der neuralgische Punkt der Grundlagendiskussion in der Religionssoziologie der letzten Jahre. Matthes stellt als Fazit der bisherigen Ansätze heraus, daß noch keine soziologische Definition der Religion gefunden worden sei, die alle religiösen Phänomene erfassen könnte (Religion, S. 14). Deswegen sei es zur Zeit nicht sinnvoll, allgemeine Religionssoziologie zu treiben. An diesem Punkt scheiden sich die Versuche, das Dilemma der Kirchensoziologie zu überwinden, in zwei Richtungen. Die einen gehen von einem allgemeinen Religionsbegriff aus. Luckmann beschreibt die „universale gesellschaftliche Grundform der Religion" als das „schlechthin Sinngebende des Daseins" oder als „Sinntranszendenz". Unter den Sozialformen der Religion sei die institutionelle letztlich nur eine Randerscheinung. Heute bilde sich in der Privatsphäre eine neue allgemeine, nicht institutionalisierbare Sozialform 45 . Demgegenüber gehen Matthes und Rendtorff davon aus, daß Religion sich nur konkret bestimmen läßt, da ein allgemeiner Religionsbegriff keine Erklärungskraft habe. Er impliziere für die Forschung immer das Problem, wie die jeweiligen Tatbestände wirklich als religiöse auszuweisen seien. Die religiöse Dimension der Gesellschaft lasse sich nicht universal definieren, sondern nur in konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Vorgängen fassen. Religionssoziologie könne man zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in der westlichen Gesellschaft sinnvoll nur treiben als „Soziologie des Christentums" bzw. als „Soziologie der Gesellschaft unter dem bestimmten Gesichtspunkt des Christentums" 46 . Über die Untersuchung der historischen Gestalten des expliziten Christentums hinaus muß eine Soziologie des Christentums auch das „allgemeine Christentum" außerhalb der institutionellen Grenzen einbeziehen. Dieses ist jedoch nicht möglich ohne Soziologie der expliziten

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Religion, welche die konkreten institutionellen Manifestationen der Religion analysiert und damit auch die Möglichkeit bietet, die „latenten" religiösen Phänomene zu identifizieren, wie sie sich - dem „Kirchensystem" gegenüber mehr oder weniger indifferent - in einer Fülle von Gestalten realisieren47. Darum müssen die Ergebnisse der Kirchensoziologie aufgenommen, aus der Enge ihres Bezugsrahmens befreit und in einen theoretischen Zusammenhang eingefügt werden, der an umfassenderen geschichtlich-gesellschaftlichen Fragestellungen orientiert ist. Matthes sieht die Bedeutung der Kirchensoziologie darin, daß sie im Unterschied zur älteren kultur- und geistesgeschichtlich orientierten Religionssoziologie eine Fülle empirischer Daten erschlossen und gleichzeitig deutlich gemacht habe, daß Religionssoziologie nur als Soziologie konkreter Religion möglich sei (Kirche, S. 23 ff.). Von einer solchen Soziologie des Christentums her würden sich neue Perspektiven für eine fruchtbare Zusammenarbeit von Theologie und Soziologie ergeben. Bisher könne man nur von „wechselseitiger pragmatischer Bezugnahme" und „einer Art ideologischer Koexistenz bei indirekter wechselseitiger Bestätigung des gemeinsamen Vorverständnisses" reden (Religion, S. I04f.). Einer an „expliziter Religion" orientierten Soziologie habe eine Theologie entsprochen, welche die absolute Andersartigkeit des Heilsgeschehens gegenüber allem Profanen behauptet und somit die Reduktion des Christlichen auf Theologie und Kirche sanktioniert habe. Die Möglichkeit einer Zusammenarbeit von Theologie und Soziologie würde daher in Zukunft davon abhängen, „inwieweit eine Theologie des Christentums mehr sein kann als Theologie der expliziten Religion" (a.a.O., S. 118).

Mit Recht kritisiert Matthes das dichotomische Denken von Theologie und Kirche, die Verengung des kirchensoziologischen Ansatzes und die unsachgemäße Verwertung soziologischer Ergebnisse in Theologie und kirchlicher Praxis. Die Kritik an der Kirchensoziologie zeigt, wie notwendig es ist, daß genau differenziert wird zwischen den theologischen oder philosophischen Voraussetzungen des Forschers, den Bedingungen empirischer Theorienbildung, philosophischer oder theologischer Sinndeutung und der Frage der Auswertung für die Praxis (s. o. S. 291 ff. und 298 ff.). Wir möchten unsererseits einige Überlegungen zu dem hier vorgeschlagenen Ansatz einer Soziologie des Christentums hinzufügen. Matthes hat in seiner Kritik an der Säkularisierungsthese aufgezeigt, wie eine globale Zeitdeutung die Perspektiven von Theologie und Kirche verengt und wie sie, als ungeprüfte Forschungshypothese verwandt, zu 317

einem unsachgemäßen Verständnis gegenwärtiger Wirklichkeit führt. Sie verstellt den Blick für den Prozeß der Umbildung überkommener Gestalten der Christenheit und für die Verflochtenheit theologischer Problemstellungen mit ihrem kultur-, geistes- und sozialgeschichtlichen Hintergrund. Es ist aber gleichzeitig zu fragen, ob das Säkularisierungsproblem auch in seiner kritischen Sicht so einseitig zum einzigen Bezugsrahmen der gegenwärtigen theologischen Diskussion verallgemeinert werden darf. Beispielsweise ist Bonhoeffers Gedanke eines religionslosen Christentums und einer nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe nicht allein von dorther, sondern auch im Zusammenhang des Metaphysikproblemes in Theologie und Wissenschaften zu sehen48. Wenn sich eine Soziologie des Christentums so sehr aus einer Gegenposition zur „Säkularisierungsthese" entfaltet, gerät sie in die Gefahr, nur einen anderen geistesgeschichtlichen Deutungsrahmen an ihre Stelle zu setzen. Es ist nicht ganz ersichtlich, warum die Ermöglichung einer Zusammenarbeit zwischen der Soziologie des Christentums und der Theologie von der weiteren Entwicklung einer „Theologie des Christentums" abhängig gemacht wird. Wenn Rendtorff Säkularisierung versteht als „nichtkirchliche Realisierung eines zuvor im System der Kirche wahrgenommenen religiösen Sachverhaltes" bzw. als „christliche Emanzipation von der Kirche" (a.a.O., S. 224 und 225), wird dann nicht der komplexe geschichtliche Zusammenhang der Säkularisierung übersehen, z. B . daß sie auch Abkehr von der Botschaft des Evangeliums implizieren kann? Soll das Phänomen der Säkularisierung als „ein. Aspekt des geschichtlich-sozialen Prozesses der Differenzierung" begriffen werden 49 , dürfte unseres Erachtens überhaupt nicht irgendeine bestimmte Deutung desselben zur Grundlage religionssoziologischer Untersuchungen erhoben werden. Wenn eine Religionssoziologie mit operationalen Begriffen und nicht mit geisteswissenschaftlichen Kategorien und philosophiegeschichtlichen Prämissen arbeitet, muß sie gerade diese vielschichtigen Vorgänge sichtbar machen, die sich hinter dem Erscheinungsbild der „Säkularisierung" verbergen. Die „komplexe und schon immer vermittelte Einheit" von Kirche und Gesellschaft muß nach Matthes als Ausgangspunkt theologischen Denkens über Kirche und Gesellschaft vorausgesetzt werden (Emigration, S. 20). Die Frage ist, wie solche Einheit zu verstehen ist. Unter soziologischem Gesichtspunkt ist für Matthes eine „unauflösbare Einheit" von Religion und Gesellschaft durch jeweilige Konstellationen von Kirchensystemen, Kulturmustem, Welt- und Selbstdeutungen gegeben (vgl. Kirche, S. 91). Theologisch wäre zu bedenken, daß das Enthaltensein der

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Kirche in der Gesellschaft nicht zu einer Auflösung des „Gegenübers" führen darf, wie es sich notwendig durch den geschichtlichen Vollzug christlichen Glaubens konstituiert. Es ist darum zu unterscheiden zwischen der Dichotomie Kirche - Gesellschaft, die in einer „Antithetik der Begriffe" Ausdruck findet, und der Differenz von Kirche und Gesellschaft, wie sie mit den verschiedenen Glaubensbekenntnissen in der Gesellschaft zusammenhängt. Vielleicht läßt sich solche Dichotomie nur überwinden, wenn man Gemeinde als Gruppe im Zusammenleben mit anderen Gruppen der Gesellschaft sieht, die gemeinsam am geschichtlich-sozialen Feld partizipieren. Sowohl der Gedanke einer Antithetik als auch der einer unauflösbaren Einheit überspringt die geschichtlich-soziale Pluralität. Die Einheit der Wirklichkeit, an welcher „Kirche" und „Gesellschaft" teilhaben, kann nicht als Identität verstanden werden, sondern nur als ein Beziehungsverhältnis, in welchem die Weise des jeweilig wechselseitigen Enthaltenseins und Gegenübers kritisch zu bedenken ist50. Für eine Soziologie wie auch für eine Theologie des Christentums stellt sich die Frage, was mit dem Wort „christlich" gemeint ist. Rendtorff als hauptsächlicher Gesprächspartner von Matthes versteht unter „Theologie das Christentums" eine „Theorie der heutigen praktischen Lebenswelt des Christentums" 51 . Er meint mit letzterer die ganze Mannigfaltigkeit der Verwirklichung christlichen Glaubens, der nicht auf den engen Sektor kirchlicher Institutionen und dogmatischer Normen beschränkt werden kann, sondern sich in der Fülle christlicher Impulse „im freien Raum von Welt und Gesellschaft" zeigt 52 . Die Bedeutung dieses Ansatzes liegt darin, daß die Wirkungen des christlichen Glaubens nicht aufgehen in institutionellen Fixierungen. Bereits die Reformatoren wiesen auf die Zweideutigkeit des Phänomens der Kirche hin. Aber es erhebt sich die Frage, ob hier der Begriff „Christentum" nicht zu einem allgemeinen ethisch-kulturellen Begriff wird 53 . Damit wäre er kaum weniger allgemein als der Begriff „Religion" und als Ausgangspunkt einer sozialwissenschaftlichen Analyse ebenso problematisch 54 . Diese wird, wenn sie operational verfährt, die soziale Dimension des christlichen Glaubens nur als ein religiöses Phänomen unter anderen zu Gesicht bekommen. Aber gerade dann darf sie ihre soziologischen Kategorien nicht mit einer theologischen Interpretation füllen. Dieses geschieht, wenn die religiöse Dimension der Gesellschaft mit der sozialen Dimension des christlichen Glaubens identifiziert wird. Dann werden die verschiedenen Bezugspunkte von Theologie und allgemeiner Soziologie übersehen55. Es ist zu fragen, ob eine Soziologie des Christentums oder eine Religions319

Soziologie die Kirchensoziologie in ihrer spezifischen Funktion für Theologie und Kirche ersetzen kann. Kirche und Theologie müssen es selbstverständlich begrüßen, wenn ihnen eine von kirchlichen Interessen und Institutionen unabhängige Religionssoziologie gegenübersteht. Mit Recht sagt Fürstenberg, daß gerade die wissenschaftliche Eigenständigkeit der Religionssoziologie mit ihrer ideologiekritischen Intention der beste Dienst sei, den sie der Kirche leisten könne (a.a.O., S. 28). Aber daneben müßte es auch weiterhin eine Kirchensoziologie geben. Auch Matthes weist auf die Bedeutung einer „kirchlichen Sozialforschung" oder „Pastoralsoziologie" für Theologie und Kirche hin (Emigration, S. 87 f.). Ihr Verhältnis zur Soziologie ließe sich unseres Erachtens bestimmen als Verhältnis von allgemeiner und spezieller Soziologie. Die allgemeinen Sozialwissenschaften sind in unserer Sicht bezogen auf die Gesellschaft und das Zusammenwirken von Personen und Gruppen in ihr. Das schließt nicht aus, daß die einzelnen Gruppen der Gesellschaft spezielle Soziologien entwickeln, deren Aufgabe es wäre, von ihren Voraussetzungen her ihr Verhältnis zu den übrigen Gruppen in der Gesellschaft zu klären 56 . Eine solche Kirchensoziologie könnte z. B . auch die jeweiligen Wirkzusammenhänge eines Gemeindeprozesses, nicht nur der Ortsgemeinde, analysieren, um die verschiedenen Möglichkeiten seiner Gestaltung aufzuzeigen und die Mittel und Einrichtungen kirchlichen Handelns zu überprüfen, ob sie für die Zielsetzungen gemeindlicher Arbeit wirksam und angemessen sind (s. o. S. 277). Damit stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich aus ihren Ergebnissen Folgerungen für die Praxis, z. B . die Kirchenreform, ableiten lassen57. Die Gemeinde steht hier angesichts der Wissenschaften in derselben Situation wie die übrigen Gruppen in der Gesellschaft (s. o. S. 262f.). Die Wissenschaften können durch kein „Deduktionsschema" die richtigen Maßstäbe für das praktische Handeln garantieren. Die Gemeinde muß die Folgerungen für ihr Leben und Arbeiten selbst ziehen und verantworten, aber sich dabei von der Theologie und den anderen Wissenschaften beraten lassen. Auch die Wissenschaften selbst sind in ihren geschichtlichen und sozialen Bedingtheiten und in ihrer Vorläufigkeit zu sehen. Matthes weist darauf hin, daß die Aporien der Religions- und Kirchensoziologie nicht nur mit ihrem geistes- und theologiegeschichtlichen Kontext zusammenhängen, sondern auch mit bisher ungelösten erkenntnistheoretischen und methodischen Problemen der Soziologie selbst68. Wenn der Mensch in der kirchensoziologischen Analyse hauptsächlich in seiner Eigenschaft als „kirchlicher Rollenträger" untersucht wird, zeigen sich darin die Folgen ihrer theoretischen Orientierung an der strukturell-funktionalen Theo320

rie 59 . V o n dorther läßt sich die Reduktion des Christen auf einen kirchlichen Modellmenschen ohne weiteres verstehen. Das Problem einer Ausrichtung der Kirchensoziologie an einem vorgegebenen Verständnis von institutioneller Kirchlichkeit ist darum nicht nur auf einem bestimmten theologiegeschichtlichen Hintergrund zu sehen, sondern auch im Ansatz der soziologischen Forschung selbst. Die Kirchensoziologie übernimmt hier deren aristotelisches Wissenschaftsverständnis, das die geschichtlichsoziale und personale Situation des Menschen in ihrer Komplexität überspringt. Auch die Diastase von Kirche und Gesellschaft und die damit zusammenhängenden Kategorien von Kirchlichkeit lassen sich als Ausdruck eines solchen Denkens verstehen, das nach „phänotypischen", isolierten Merkmalen klassifiziert, die letztlich kirchliche Werturteile darstellen. Die notwendige Korrektur für die sozialwissenschaftliche Analyse kann nicht von einem neuen philosophisch-theologischen Bezugsrahmen erwartet werden, sondern muß in Überwindung des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses mit den Werkzeugen sozialwissenschaftlicher Analyse selbst geleistet werden. N u r so kann sie verhindern, in die Abhängigkeit von theologischen und philosophischen Prämissen zu kommen. Ebenso darf die theologische Interpretation nicht in eine Abhängigkeit von sozial-, geschichts- oder religionsphilosophischen Prämissen geraten, welche ihr durch die empirische Analyse vermittelt werden können. Darum fordert Matthes mit Recht, daß auch der Theologe den „Durchgang durch die geschichtlich-gesellschaftliche Analyse" vollziehen und das „innersoziologische Zustandekommen" der sozialwissenschaftlichen Theorien kritisch überprüfen muß (Emigration, S. 106 und 103). Die Eigenständigkeit von Theologie und Soziologie ist die notwendige V o r aussetzung eines Gespräches zwischen ihnen.

c) Normative und empirische Orientierung in der Sozialethik Die Sozialethik versteht sich nach ihrer bisher bedeutendsten systematischen Konzeption bei Wendland als „theologische Analyse der Gesellschaft" und Entwurf von Leitbildern gesellschaftlichen Handelns 60 . Dieser Ansatz der Sozialethik entsprach der Situation nach dem Kriege, die es erforderlich machte, der verändert empfundenen Wirklichkeit auch in den ethischen Problemstellungen gerecht zu werden. Die begegnende Wirklichkeit rief zu neuer Antwort christlichen Glaubens auf, da „ihrer herausfordernden N e u - und Andersartigkeit gegenüber die traditionellen theologischen Begriffe versagten, mit deren Hilfe bislang die Beziehungen zwischen christlichem Glauben und der sozialen Welt gedeutet wer-

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den konnten" 61 . So war von Anfang an das Erkenntnisproblem, das sich angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit ergab, mit der ethischen Fragestellung verbunden. Dementsprechend meinte Wendland, daß der „traditionelle Begriff der .Sozialethik'" für die hier gestellte Aufgabe „zu eng" sei, da es heute „um eine universelle Theologie der Gesellschaft, nicht bloß um ethische Normen für das soziale Handeln" gehen müsse62. Das eigentliche Problem, vor das sich die Sozialethik gestellt sieht, ist zunächst das Erkennen der Wirklichkeit, auf die sie sich zu beziehen hat. Dieses läßt sich nur lösen im Gespräch mit den empirischen Wissenschaften, welche die geschichtlich-soziale Wirklichkeit erforschen. Die besondere Situation nach dem Kriege brachte es mit sich, daß die gesellschaftlichen Probleme der theologischen Reflexion zunächst im Gespräch mit den in der Praxis verantwortlich handelnden Personen vermittelt wurden. Wir sehen hierin nicht nur eine geschichtliche Notwendigkeit, sondern etwas durchaus Positives. Die theoretische und theologische Durchdringung dieser Fragen jedoch erfolgte nicht in Auseinandersetzung mit den empirischen Wissenschaften, sondern im Gespräch mit der Sozialphilosophie, bzw. mittels Übernahme sozialphilosophischer Systeme. Das bedeutet aber, daß sich die Theologie auch in der Sozialethik den Zugang zur Wirklichkeit, die sie erkennen wollte, von einer Philosophie erschließen ließ. Hier setzt die Kritik von Tödt an Wendland ein. Er zeigt an mehreren Beispielen auf, daß Wendland in seiner „theologischen Analyse der Gesellschaft" letztlich eine Interpretation des sozialphilosophischen Systems von Freyer gibt und dessen philosophische Voraussetzungen und Wertungen mit übernimmt, so daß diese nunmehr theologisch legitimiert und verifiziert erscheinen64. Dadurch verhindert die sich als Analyse verstehende theologische Interpretation eine kritische Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Anschauungen und Wertungen 65 . Demgegenüber fordern Tödt und Matthes, daß man der Komplexität und Vielfalt der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit theologisch gerechter werden müßte. Sonst könne die theologische Analyse zu einer unbewußten „Projektion der eigenen gesellschaftlichen Situation in die Sphäre der Werte, Normen und Maßstäbe" werden 66 . Zwar hat Wendland, wie seine neueren Veröffentlichungen zeigen, inzwischen die einseitige Orientierung an Freyers These von der gegenwärtigen Gesellschaft als sekundärem System zugunsten eines komplexeren und auch positiveren Verständnisses heutiger sozialer Wirklichkeit aufgegeben 67 . Aber auch diese neue Auffassung bezieht sich weniger auf empirische Analysen als auf umfassende sozialphilosophische Fragestellungen und konzentriert sich vor allem auf das Verhältnis von Person 322

und Institutionen68. Wendland fordert wiederholt den kritischen Dialog zwischen Theologie und Soziologie und weist auf die Bedeutung der Sozialwissenschaften für die Erkenntnis der sozialen Bedingtheit kirchlicher Strukturen und für die kritische Prüfung des Wirklichkeitsbezuges sozialtheologischer und sozialethischer Aussagen hin. Aber er hat doch bisher den Bezug von Theologie und empirischer Forschung, abgesehen von vereinzelten Hinweisen, nicht explizit und systematisch zu klären versucht. Eine Unterscheidung von Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie liegt nicht vor 69 . Weil das Verhältnis von Normativem und Empirischem, Werten und Erkennen, Philosophie und Wissenschaft letztlich unreflektiert bleibt, werden Theologie, Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie wenig differenziert- miteinander verbunden. So werden der „theologischen Analyse der Kräfte und Trends der Gesellschaft" Aufgaben zugewiesen, die nur empirische Analyse lösen kann, wie z. B . die Analyse der „Situation des Menschen in der Gesellschaft", der „Aufgabe und Reichweite ihrer Institutionen", des „Systems der sozialen Sicherheit", des „Industriebetriebes", des „Leistungsprinzips" usw. (vgl. Einführung, S. 16). Es ist zu fragen, ob hier nicht theologische Analyse in Entsprechung zu sozialphilosophischer Deutung verstanden wird und als solche auch die Tendenz hat, Ergebnisse empirischer Analysen in sich aufzunehmen, ohne sich mit den Grundlagen derselben und der Art ihrer Erkenntnisse explizit auseinanderzusetzen. Tödt stellt den normativen Charakter einer theologischen Analyse in Frage, welche beansprucht, die Wirklichkeit tiefer zu erfassen als die empirische Analyse' 0 . Schon der seit Max Weber in den SozialWissenschaften verhandelte Konflikt zwischen empirischer und normativer Erkenntnis sollte davor warnen, Aufgaben einer umgreifenden Analyse der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit mit der Frage nach ebenso umgreifenden Maßstäben und Leitbildern in der Disziplin einer „Sozialethik" oder „Theologie der Gesellschaft" zusammenfassen zu wollen (vgl. a.a.O., S. 16). Die Frage der Normen ist nicht nur Erkenntnisproblematik für die Analyse, sondern auch Verhaltensproblematik in bezug auf die Ethik. Auf die letztere zielt vor allem die Kritik von Tödt. Er stellt die Frage, ob es überhaupt solche christlichen Leitbilder gibt, welche Wendland-herauszuarbeiten sucht und ob nicht gerade durch einen solchen Versuch künstliche Fronten zwischen Kirche und Welt aufgerichtet werden könnten 71 . Zwar weist Wendland darauf hin, daß es kein zeitloses „System einer christlichen Gesellschaftsordnung" gibt, das man der modernen Gesellschaft aufzwingen könnte (Einführung, S. 13), und daß die Christen keine „christlichen Sozialordnungen" schaffen können 72 . Auch difFeren-

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ziert er zwischen „christlichen Leitbildern" für das gesellschaftliche Handeln des Christen und der Kirche und allgemeinen humanen Leitbildern für die gesamte Gesellschaft73. Er betont, daß die Leitbilder nicht „abstrakte Normen des Sollens" darstellen, sondern „kritische Maßstäbe", die in der geschichtlichen Realität der Gesellschaft begründet sind (Einführung, S. 18). Dementsprechend bezeichnet er die sozialthcologischen Begriffe als .„mittlere Axiome' im Sinne der Folgerungen aus den fundamentalen dogmatisch-ethischen Sätzen", die angesichts einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur geboten sind (Botschaft, S. 138L). Aber er ist doch der Meinung, daß die Leitbilder von christlichen Grundnormen und Fundamental-Institutionen abzuleiten sind, die unter allen Gesellschaftssystemen Geltung besitzen, nur jeweils im Blick auf reale Situationen zu konkretisieren seien74. So intendiert seine Soziallehre eine „christliche Lehre von den Institutionen" bzw. von den „Fundamental-Institutionen" (Kirche, S. 152 und 164). Sie fordert eine Humanisierung der Gewohnheiten und Institutionen der Gesellschaft. In der Erziehung zu verantwortlicher Teilhabe an der Gesellschaft geht es ihm um die Entwicklung humaner Konventionen, mit deren Hilfe die Menschen sich als „mitbestimmende Träger der Institutionen" begreifen lernen sollen (a.a.O., S. 103, 115). Eine besondere theologische Aufgabe sieht er darin, „die Wohltat der Ordnung und im Blick auf revolutionäre Umwälzungen die Heilsamkeit klarer .Gesetzeskataloge' zu begreifen und zu preisen" (a.a.O., S. n j f . ) . Die sozialethischen „Forderungen", welche die christliche Soziallehre „an die Menschen und Institutionen dieser Gesellschaft zu richten hat" (a.a.O., S. 145), können mit ähnlichen Forderungen von Seiten der Soziologie, Sozialpolitik usw. zusammentreffen (a.a.O., S. 164). Ein solches Zusammentreffen kann dann zur Basis einer Kooperation werden. Inwiefern solche kirchlich-sozialethischen Forderungen allgemeingültigen Charakter haben können und eben nicht nur Ausdruck eines bestimmten theologisch-philosophisch-politischen Standortes sind, wird nicht kritisch reflektiert. Wendland begründet die Möglichkeit solcher Aussagen letztlich darin, daß sie „ontologisch-ethische" und in dieser Hinsicht „naturrechtliche" seien (a.a.O., S. 102). Eine solche allgemeine ontologisch-ethische Basis sieht er z. B . in der ökumenischen Übereinstimmung wichtiger sozialethischer Forderungen, wobei er die Ontologie nicht zeitlos, sondern geschichtlich verstanden haben möchte. Aber auch mit dieser ökumenischen Entwicklung ist die Pluralität sozialethischer Ansätze in der Christenheit nicht aufgehoben. Eine theologische Analyse kann schon deswegen nicht die allgemeine Verbindlichkeit von Maßstäben und Leitbildern begründen, weil sie jeweils von bestimmten 324

theologischen Denkvoraussetzungen abhängig ist. Sie steht immer auch im Zusammenhang bestimmter Theologien und kirchlicher Gemeinschaften als Voraussetzung der Verbindlichkeit ihrer Normen. Es kann daher nur eine Vielzahl einander oft widersprechender normativer Sozialethiken geben, die allerdings jeweils geschichtlich vermittelt sind. Ihre Bedeutung liegt darin, daß in ihnen theologische Schulen oder Konfessionen ihrem Verständnis von sozialer Verantwortlichkeit Ausdruck zu geben versuchen. Davon zu unterscheiden ist aber der Anspruch solcher Sozialethiken, der Christenheit oder der Gesellschaft verpflichtende Maßstäbe aufzeigen zu können (vgl. Tödt, S. 241). Das Dilemma der Vielfalt theologisch normativer Ansprüche und Forderungen an die Gesellschaft ist grundsätzlich nicht verschieden von der Problematik, vor welcher die einander widersprechenden Wertphilosophien angesichts der komplexen geschichtlich-sozialen Wirklichkeit stehen75. Diese Problematik wird beispielsweise sichtbar in dem Versuch von Hartmut Weber, eine theologische Soziallehre und Sozialethik mit der normativen Sozialwissenschaft von Gerhard Weisser in Beziehung zu setzen76. Die Aufgabe letzterer besteht darin, von normativen Axiomen und empirischen Analysen her Empfehlungen für Ordnungstypen zur Gestaltung des sozialen Lebens abzuleiten. Die normativen Axiome sind nach Weisser vom Sozialwissenschaftler „bekenntnismäßig" einzuführen, da sie metasozialwissenschaftlicher Natur sind, dürfen aber seinen Grundüberzeugungen nicht widersprechen. Angesichts des metasozialjvvissenschaftlichen Charakters der Axiome schlägt er vor, die Frage ihrer Gültigkeit den Theologen oder Philosophen zu überlassen77. Als Ansatz einer Verbindung ergibt sich somit für Hartmut Weber die Fragestellung, ob die evangelische Soziallehre und Sozialethik solche Axiome zu erstellen vermögen, welche die normative Sozialwissenschaft „bekenntnismäßig" in ihr System einführen kann. Es kommt dabei auf die theologische Grundposition an, ob evangelische Soziallehre und Sozialethik solche Axiome deduzieren können, wie sie die normative Sozialwissenschaft benötigt (a.a.O., S. 130). Ganz abgesehen davon, ob ein solcher Entwurf normativer Sozialwissenschaft wissenschaftlich durchführbar ist78, muß gefragt werden, ob der Anspruch des Evangeliums hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirklichkeit überhaupt theologisch in Entscheidungen über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von metasoziologischen Prämissen einer Theorie der Wirtschaftspolitik aussagbar ist. Letztlich entscheidet doch der einzelne Sozialwissenschaftler auf Grund seiner persönlichen Stellungnahme, welche der von den verschiedenen theologischen und philosophischen Systemen an-

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gebotenen Axiome er seiner Theorie zugrundelegt und in welcher Art sie verbunden werden 79 . So meint auch Weisser selbst, daß zwischen den theologischen Deduktionen und den Grundlagen des Handelns die individuelle Entscheidung steht80. Dann kann zwar eine solche Deduktion einer Norm für den Sozialethiker persönlich von Bedeutung sein, aber nicht für die allgemeine wissenschaftliche Theorienbildung. Mit Recht fragt Hartmut Weber, ob nicht doch die Auswahl der Axiome von Seiten des SozialWissenschaftlers unter dein Aspekt sozialwissenschaftlicher Auswirkung erfolgt (S. 133 f.). Damit wäre jedoch das Problem der Deduzierbarkeit oder Nichtdeduzierbarkeit der Axiome von theologischen Grundpositionen letztlich belanglos. Solche Deduktionen werden aber in dem Augenblick theologisch problematisch, wenn man ihre Notwendigkeit darin begründet sieht, daß man dadurch einem Ökonomismus auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik wehren könne (Hartmut Weber, a.a.O., S. 134, 146). Die theologische Wissenschaft als solche kann den Ökonomismus so wenig überwinden wie den Psychologismus oder Soziologismus. Ein solcher kann nur von der jeweiligen Wissenschaft selbst überwunden werden, indem sie den Bezug von wissenschaftlicher Theorienbildung und geschichtlich-sozialer Empirie kritisch reflektiert. Dieses Anliegen von Max Weber ist auch deswegen noch heute von akuter Bedeutung, weil die Gefahren, die aus dem falschen Gebrauch der Wissenschaften kommen, selbst wiederum nicht mit wissenschaftlichen Mitteln abwendbar sind (s. o. S. 257). Theologische oder philosophische Deduktionen könnten diese Gefahren verdecken, statt daß sie aufgedeckt würden. In dem Versuch von Hartmut Weber, eine Beziehung zwischen normativer Sozialethik und normativer Sozialwissenschaft herzustellen, wird somit die ganze Problematik des Werturteilsstreites wieder sichtbar, ohne daß eine erkenntnistheoretisch befriedigende Lösung erreicht würde. Allerdings weist die Differenzierung von „Grundentscheidungen" und „mittelbaren Entscheidungen", wie sie Weisser selbst gibt, in eine Richtung, die man weiter durchdenken müßte. Er versteht unter ersteren Entscheidungen „für etwas unmittelbar um seiner selbst willen Bejahtes", die keines Beweises bedürfen und nicht ableitbar sind, während die „mittelbaren" oder „mittelbar begründeten" Entscheidungen an empirische Tatsachen, Zusammenhänge und Tendenzen gebunden sind 81 . Die Unableitbarkeit der Grundentscheidungen von empirischen Analysen muß in jedem Fall herausgestellt werden. Darin liegt auch eine theologische Aufgabe. Nur müßte dabei deutlich werden, daß solche Entscheidungen nicht einfach normativen Charakter haben und daher auch nicht mittels normativer Kategorien faßbar sind82. Es soll auch nicht ab326

gestritten werden, daß die Arbeit einer theologischen Sozialethik oder Soziallehre eine Hilfe für die Ausbildung von Ordnungs- und Zielvorstellungen in der Wirtschaftspolitik bedeuten kann. Aber ihre Aufgabe kann nicht damit beschrieben werden, christliche Leitbilder zu entwerfen, ontologisch begründete Axiome zu erstellen83 oder von theologischen Voraussetzungen abgeleitete Ansprüche normativer Art der Gesellschaft gegenüber geltend zu machen. Die Frage nach „christlichen" Normen und Leitbildern wuchs zwar aus einem echten Bedürfnis der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit, insofern die christlichen Kirchen zu den wenigen Institutionen gezählt wurden, welche noch einigermaßen intakt und am wenigsten durch den Nationalsozialismus kompromittiert erschienen. Das Verlangen nach verantwortlich durchdachten Ordnungsvorstellungen wurde in dem Chaos nach dem Kriege von außen an die Kirche herangetragen 84 . Sie fühlte dieses Bedürfnis der Gesellschaft als ihre Verantwortung und kam ihm weitgehend entgegen, woraus die Sozialethik in ihrer gegenwärtigen Gestalt erwuchs. Sie arbeitete vor allem an den Stellen des öffentlichen Lebens mit, an welchen sich die neuen Ordnungsvorstellungen entschieden. Hier liegt auch ihre besondere geschichtliche Wirkung, die gesellschaftsreformerische Tendenzen hatte und aus ihrer Nähe zur Praxis die wichtigsten Impulse bezog. Sie wandte sich besonders an diejenigen, welche für das Funktionieren der neuen gesellschaftlichen Institutionen verantwortlich waren. Von daher ergab sich für die Sozialethik die Perspektive der Volkswirtschaft und der Wirtschafts- und Sozialpolitik85. Ihre Mitarbeit an den neuen „Ordnungen" war ihre eigentliche Leistung, aber auch ihre Problematik. Es ist zu fragen, ob dieses Verständnis der Aufgabenstellung einer Sozialethik nicht noch an der Vorstellung orientiert ist, daß das eigentliche Gegenüber der Kirche die „Regierung" und ihre Funktionen seien (z. B. allgemeine Politik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesetzgebung usw.), und nicht die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit 88 . Das würde aber bedeuten, daß sie die auf sie überkommenen Traditionen fortsetzte, nämlich die Verbindung von Kirche und Staat, wenn der letztere auch nunmehr durch demokratische Institutionen repräsentiert war 87 . Die Kehrseite der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, in der auch die Sozialethik stand, war die zunehmende Klerikalisierung und Konfessionalisierung in der Bundesrepublik. Der „Dienst" der Kirche konnte von dieser Seite her auch als neuer Herrschaftsanspruch oder als Hineinreden in die öffentlichen Angelegenheiten verstanden werden. Was als Begegnung zwischen Kirche und Gesellschaft intendiert 327

war, schuf gleichzeitig neue Weisen der Unmündigkeit der Gesellschaft und belastete ihr Verhältnis zur Gemeinde. Indem das Phänomen der Gesellschaft nicht genügend in das Blickfeld kam, wurde dadurch auch deren Entwicklung zur Demokratie gehemmt. Mit Recht fordert Paul Collmer von der kirchlichen Diakonie her, daß in allem sozialpolitischen Handeln heute die „Reste der Bevormundungsmentalität des 19. Jahrhunderts aufzugeben" seien und der „Ausbau der sozialen Demokratie nach den gesellschaftspolitischen Erfordernissen einer modernen Industriegesellschaft" in den Mittelpunkt zu stellen sei88. Dann läge die Verantwortung der Gemeinde vor allem darin, diesen Rückstand heute aufzuholen. Wenn wir hier auch nur einen Trend angesprochen haben, auf welchen nicht alle sozialethischen und gesellschaftsdiakonischen Bemühungen der Kirche und Theologie bezogen werden können, so hängt er doch in mancherlei Hinsicht damit zusammen, daß Kirche und Theologie die Probleme der Gesellschaft unter normativer Perspektive aufnahmen. Im Gespräch mit Volkswirtschaft und politischer Wissenschaft wurde zwar die empirische Problematik in der Sicht dieser Wissenschaften erkennbar, aber deren Fragestellungen bezogen sich primär auf das Funktionieren von wirtschaftlichen und politischen Systemen, nicht auf das Gesamtphänomen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die eigentliche Herausforderung, welche die empirische Wissenschaft gegenüber Theologie und Kirche bedeutete, wurde durch sozialreformerische Bemühungen weitgehend zugedeckt, welche sich an der Sozialphilosophie und Gesellschaftskritik orientierten89. Insofern hat Matthe? nicht Unrecht mit der Bemerkung, daß sich die Sozialethik als theologische Disziplin entwickelte „als ein aus einer bestimmten Praxis herauswachsender Annex eines in sich unverändert bleibenden Ganzen". So könne sie nur die Rolle eines Ubersetzers spielen, „der Sprachen wechselseitig überträgt, jedoch nicht selbsttätig definiert und so eher bestehende Wirklichkeiten reproduziert, nicht aber zu deren Gestaltung und Veränderung beiträgt" 90 . Den eigentlichen Zusammenhang sozialethischer Fragen und empirischer Forschung sehen wir in der Frage der Wahrnehmung von geschichtlichsozialer Wirklichkeit. Von theologischen Prämissen deduzierte Normen und Leitbilder können keine wirkliche Hilfe in den konkreten Problemen und Entscheidungen sein, vor die sich Menschen und Gruppen in der heutigen vielschichtigen Gesellschaft gestellt sehen. In den ethischen Problemen haben der Christ und die Gemeinde teil an den Normen und Strukturen der Gesellschaft91. Sie müssen ihren Glauben in einer großen Mannigfaltigkeit von normativen Prozessen vollziehen. Innerhalb dieser

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begegnen ihnen Normen und Werte in ihrer Auswirkung innerhalb verschiedenster geschichtlich-sozialer Zusammenhänge, von denen sie nicht gelöst werden können. Die Verantwortung des Christen korrespondiert nicht zu Normen, Leitbildern und Werten, sondern zum Erkennen der Wirklichkeit und ihres Aufforderungscharakters im Lichte des Evangeliums (s. u. S. 385f.). Sofern die ethischen Probleme nicht im Sinne einer idealistischen Persönlichkeitsidee oder einer Ordnungsmetaphysik gesehen werden, verweisen sie zurück auf Fragen der Erkenntnistheorie und der empirischen Analyse. Im zugespitzten Sinne könnte man sagen: Sie stellen sich zunächst in der empirischen Forschung selbst als Frage nach der Wahrheit im geschichtlichen Verständnis (s. o. S. 258). Was nicht wahrgenommen wird, kann überhaupt nicht zum ethischen Problem werden. Oder anders: Die ethische Verantwortlichkeit setzt die Möglichkeit und die Bereitschaft zur Wahrnehmung von geschichtlich-sozialer Wirklichkeit voraus. Dementsprechend stellt sich die ethische Verpflichtung im Zusammenhang der empirischen Forschung als Forderung, alle Erkenntnismittel zu gebrauchen, diese Wirklichkeit zu erkennen, welche der Mensch in seinem Denken und Tun zu verantworten hat 92 . Gerade diese Frage nach der Wahrheit im geschichtlichen Sinne kann aber auch als Sprengung normativer und wertphilosophischer Kategorien verstanden werden. Weizsäcker sieht in der Radikalität, mit welcher die Wissenschaft nach Wahrheit fragt, ein Erbe des urchristlichen Denkens, das mit der Frage nach der Wahrheit die ethischen Gesetze in Kirche und Gesellschaft durchbrach93. Gogarten beruft sich im Aufbruch der dialektischen Theologie in diesem Sinne auf die Reformatoren, welche in ihrer Frage nach der Wahrheit „die Grenzen und Schranken, Normen und Gesetze zerrissen, durch die die Kirche die Welt ... vor dem Chaos behütete und als Kosmos erhielt" 94 . So hat der Konflikt zwischen empirischem und normativem Denken tiefe geschichtliche Wurzeln und tritt der evangelischen Christenheit und Theologie in ihrer eigenenTradition entgegen95. Schon deswegen kann eine evangelische Sozialethik ihn in der Weise, wie sie ihre Probleme zu stellen versucht, nicht überspringen. Indem die Sozialethik von einem normativen Ansatz ausgeht, muß sie damit rechnen, daß sie die Probleme, wie sie die geschichtlich-soziale Empirie stellt, eher zudeckt als aufdeckt. Die Problematik von Sozialethik und Kirchensoziologie weist auf die erkenntnistheoretische Fragestellung hin, welcher sich das Gespräch zwischen Theologie und empirischer Wissenschaft in Deutschland gegenübersieht. In der Kirchensoziologie stellte sie sich als das Problem der 329

theologischen oder philosophischen Voraussetzungen in ihrer Bedeutung für die empirische Analyse, in der Sozialethik als das Problem der empirischen Voraussetzungen und geschichtlich-sozialen Vermitteltheit in ihrer Bedeutung für die theologische Reflexion. Darin werden die Kernprobleme der gegenwärtigen Diskussion in den Sozialwissenschaften sichtbar, nämlich die Klärung des Verhältnisses von Theorie und Wirklichkeit, normativem und empirischem Denken, Erkenntnistheorie und Praxis. Es wird gleichzeitig deutlich, daß sich die Probleme der Sozialwissenschaften in Deutschland auch im theologischen Gespräch mit denselben widerspiegeln. So hat die mangelnde Unterscheidung von Sozialphilosophie und empirischer Wissenschaft die Theologie vielfach übersehen lassen, daß sie in Wirklichkeit nicht mit der Sozialwissenschaft, sondern mit der Sozialphilosophie im Gespräch stand, oder sie hat sich auf die Übernahme deskriptiver Forschungsmethoden beschränkt. Die aufgezeigten Schwierigkeiten im bisherigen Gespräch zwischen Theologie und Sozial Wissenschaften lassen erkennen, daß die Theologie nicht an einer Auseinandersetzung mit der besonderen Art der Fragestellung, Erkenntnisweise und den Voraussetzungen empirischer Wissenschaft vorbeikommt 96 . Auch neuere Ansätze zu einer Theologie der Gesellschaft haben eine explizite Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis empirischer Forschung kaum aufgenommen, da sie als ihren eigentlichen Gesprächspartner Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie ansehen. Wenn beispielsweise RendtorfF die Aufgabe einer Theologie der Gesellschaft so definiert, daß sie einem „theologischen Verständnis der Wirklichkeit in ihrer Totalität" Ausdruck geben müsse97, so entspricht sie darin der Theorie der Gesellschaft, die ihrerseits eine „Deutung der Totalität des sozialen Daseins" intendiert (s. o. S. 246).. Hans Schulze stellt im Vorwort zu seinem Entwurf einer Sozialtheologie ausdrücklich fest, daß sich sozialtheologische Erkenntnis im „Überschneidungsbereich theologischer und soziologischer Erkenntnis vollziehe" und daß sie kein normatives System deduzieren könne 98 . In ihrer Frage nach den Gegebenheiten gegenwärtiger Wirklichkeit könne die Sozialtheologie nur von der empirischen Analyse ausgehen. Aber er ist der Meinung, daß über die von ihr erhobenen Fakten nicht zu diskutieren sei, da sie sich objektiv feststellen ließen. Ein Punkt der Auseinandersetzung und des Vergleiches könne nur die Weise sein, wie diese Fakten von Theologie oder Philosophie in bestimmte Zusammenhänge eingeordnet würden. Die eigentlichen Gesprächspartner der Theologie seien also die „Weltinterpretationen", wie sie die Geschichts- und Gesellschaftsphilosophien geben, nicht die empirischen Wissenschaften (a.a.O., S. i j f . ) . 330

Jedoch hat gerade die Diskussion der Grundlagenprobleme der Sozialwissenschaften gezeigt, daß die Erhebung der Fakten nicht eine indiskutable Sache ist, sondern daß der Erkenntnisweg empirischer Forschung, die Weise ihres Umganges mit der Wirklichkeit usw. von entscheidender Bedeutung sind. Mit Recht sagt Martin Honecker, daß eine „Diskussion über den unterschiedlichen axiomatischen Ansatz von Theologie und Soziologie" die Voraussetzung dafür ist, daß die „Theologie ihr Verhältnis zur Soziologie überhaupt theologisch bestimmen kann" (a.a.O., S. 506 und 5 0 4 ) " . Diese Problemstellung jedoch sprengt den Rahmen von Sozialtheologie, Sozialethik und Kirchensoziologie und nötigt zu der Überlegung, ob der bisherige theologische Rahmen für die Diskussion dieser Fragen angemessen ist oder ob nicht gerade er den Zugang zu ihnen erschwert. Es ist zu wenig beachtet worden, daß sich nicht nur Fragestellungen in einem Rahmen ändern können, sondern daß auch die Fragestellungen selbst zu einer Änderung des Rahmens zwingen. Dann aber wäre zu folgern, daß man zunächst von den Fragestellungen selbst ausgehen müßte 1 0 0 .

d) Aufgaben und Intention empirischer Theologie Nach der Meinung von Hans Otto Wölber wird die Theologie im Blick auf die von der empirischen Forschung ermittelten Bedingtheiten und Gesetzmäßigkeiten in der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit in neuer Weise vor die Wahrheitsfrage gestellt. Sie muß eine Antwort darauf finden, was das doppelte Verständnis von Realität im sozialwissenschaftlich-empirischen und normativen Sinne für sie bedeutet. Das macht eine neue Konzeption theologischer Wissenschaft nötig. Sie hat „das Ganze der Theologie als praktische Wissenschaft zu intendieren". Die Theologie habe sich in ihrer Geschichte immer wieder „als eine praktische, d. h. nicht spekulative Wissenschaft betrachtet". Ihre Aufgabe sieht Wölber darin, daß sie im Gespräch mit der empirischen Anthropologie „die Infragestellung von Theologie und Kirche durch die ihr begegnende Wirklichkeit wachhält" und „in einem eigenständigen wissenschaftlichen Vorgang die in der Praxis erfahrene Realität erforscht" (Religion, S. 218ff.). W i r möchten sie als „empirische Theologie" bezeichnen, da sie ein theologisches Verstehen der Wirklichkeit intendiert, wie sie Gegenstand der empirischen Wissenschaften v o m Menschen ist 1 0 1 . Überlegungen in dieser Richtung werden in den letzten Jahren häufiger. So sieht das Gutachten des Fachverbandes Evangelische Theologie im

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Verband Deutscher Studentenschaften von 1965 das Dilemma der gegenwärtigen theologischen Situation zwischen Historismus und Dogmatismus einerseits und dem Pragmatismus eines kirchlichen Betriebes andererseits begründet im Fehlen des theologischen Gesprächs mit den Gegenwartswissenschaften und weist diese Aufgabe der praktischen Theologie zu 1 0 2 . In einer Erweiterung der praktischen Theologie und ihrem Ausbau, in ihrer Auseinandersetzung mit „Fragestellungen der Religionssoziologie, Ideologiekritik (Wissenssoziologie), Sozialpsychologie, Kultur- und Bildungstheorie", Kybnernetik, Pädagogik wird daher eine dringende Notwendigkeit in der gegenwärtigen kirchlichen und theologischen Situation gesehen (a.a.O., S. 85, 91). „ D i e Praktische Theologie ist der Raum der Relation, der Raum der wissenschaftlichen Analyse, der kirchlichen Selbst- und Welterfahrung, in dem Kirche und Theologie sich gegenseitig kontrollieren" (S. 91).

Der praktischen Theologie fiele damit vor allem die Verantwortung für die „empirische Perspektive" der Theologie zu, welche gegenüber der historischen und systematisch-normativen weithin vergessen worden sei (S. 82ff.). Ihre eigentliche Verfahrensweise müsse daher „empirischkritisch" sein. Sie ist insofern vor allem „kirchenkritisch" und „theologiekritisch". Sie ist „nicht pragmatisch, sondern systematisch-praktisch, empirisch-kritisch engagiert" (S. 84). So wird sie u. a. umschrieben als „empirisch systematische Wissenschaft", als „Wissenschaft von der gegenwärtigen Kirche" (S. 91 und 124), „Wissenschaft der kirchlichen Information" und „Theologie der Reformation der gegenwärtigen Kirche" (S. 90). Als solche weist sie hin „auf den Ausgangspunkt aller theologischen Bemühung: das gegenwärtige Leben der Kirche" (S. 91). In entsprechender Weise fordert der Arbeitskreis Fakultäts- und Studienreform der Fachschaft Evangelische Theologie Münster in einem Gutachten, die praktische Theologie solle mit Hilfe der empirisch-kritischen Gegenwartswissenschaft unter Kooperation aller theologischen Disziplinen die kirchliche Praxis analysieren. Als Ort der Begegnung von historisch-kritischen und empirisch-kritischen Beitragswissenschaften sei sie Integrationswissenschaft und darin „Voraussetzung für die sinnvolle Arbeit aller theologischen Sachgebiete" 103 . Diese Bestimmungen der Aufgaben praktischer Theologie weisen in Richtung dessen, was wir mit dem Stichwort „empirische Theologie" meinen. Und doch möchten wir bei der Bezeichnung „empirische Theologie" bleiben, weil sie sich durch ihr Gespräch mit den empirischen Wissenschaften konstituiert und sich als Versuch einer Antwort auf die

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durch das Aufkommen empirischer Wissenschaften heraufgeführte Situation versteht. Damit würde einer vorzeitigen Einordnung in eine vorgegebene wissenschaftsorganisatorische Gesamtkonzeption gewehrt. Das halten wir für wichtig, insofern sich immer stärker eine „offene" Wissenschaftsorganisation abzeichnet, die in Auflockerung der traditionellen Fachgebiete sowohl „Schwerpunkte der Spezialisierung" als auch gleichzeitig „immer neue Varianten der Kommunikation und Integration der Fächer" bildet 104 . Auch in den U S A entwickeln sich derzeit „dialogische" Disziplinen neben den „klassischen" theologischen Disziplinen 105 . Ein wissenschaftliches Fach ist kein „Ding-an-sich" (Popper, in: Adorno, S. 108). Zunächst müssen an den Problemstellungen selbst die theoretischen Grundlagen und die wissenschaftlichen Werkzeuge erarbeitet werden, bevor die Frage der institutionellen Fixierung des Rahmens entschieden werden kann. Die „empirische Theologie" in unserem Sinne geht in Richtung einer theologisch-praktischen Grundlagenwissenschaft, wie sie auch bereits von katholischer Seite her gefordert worden ist 106 . Dieses kann jedoch nur als Richtungsangabe verstanden werden und als Kriterium für die Weise der Arbeit selbst, die zunächst an Hand von spezifischen Problemstellungen im Gespräch mit den verschiedenen empirischen Wissenschaften vom Menschen durchgeführt werden muß. Eine spezifizierte Bestimmung dessen, in welcher Richtung eine „empirisch-kritische Theologie" sich entwickeln könnte, versucht Herrmann 107 . Sie führt die „soziale Dimension neben die historische und anthropologische in die Theologie ein" und befreit damit die Theologie vom Individualismus, Subjektivismus und einer praxisfemen Theorie (II, S. 61). Ihr Horizont ist die „Zukunft von Theologie, Kirche und Gesellschaft" (a.a.O., S. 59). Diesen Intentionen können wir zustimmen, wie auch in etwa der grundlegenden Definition: „Empirisch-kritisch arbeiten heißt, Theologie und Kirche auf ihren gegenwärtigen Sitz i m Leben wissenschaftlich zu b e f r a g e n " (a.a.O., S. 58).

Es muß jedoch geklärt werden, was darunter zu verstehen ist. Herrmann unterscheidet im Anschluß an Habermas die empirisch-analytischen, die historisch-hermeneutischen, die systematischen Handlungswissenschaften und die Kritische Theorie als „Selbstreflexion der Wissenschaften" (III, S. 30). Das besondere Problem für die Theologie sieht er in der Vermittlung von historisch-hermeneutischer Wissenschaft mit den Sozialwissenschaften, da für ihn die historisch-kritischen und die empirisch-kritischen Verfahrensweisen die eigentlich wissenschaftlichen Methoden in der Theologie sind. Diese muß sich als Wissenschaft an „historisch und empi-

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risch verifizierbaren Gegenständen" ausweisen (a.a.O., S. 31). Darum kann auch das Wort Gottes nicht wissenschaftlicher Gegenstand der Theologie sein, sondern nur die es vermittelnden drei Medien Bibel, Kirche und Tradition. Theologische Arbeit vollzieht sich als Bibelkritik mit historischen und philologischen, als Traditionskritik mit historischen und ideologiekritischen Methoden, als Kirchenkritik mit soziologischen, sozialpsychologischen und ideologiekritischen Methoden. Diese Ebenen der Kritik müssen ständig aufeinander bezogen, die Ergebnisse theologischer Wissenschaft hinsichtlich ihres Praxisbezuges kontrolliert werden im Sinne einer „ideologiekritischen Selbstreflexion" (a.a.O., S. 32). Theologie ist für ihn Aufklärung (ebd.). Mit „empirisch-kritischer Theologie" scheint er letztlich in Analogie zu den normativen Geschichts- und Sozialphilosophien eine theologische Wissenschaft vor Augen zu haben, die Verhaltens- und Handlungsnormen für die Gemeinde abzuleiten hat. Sie soll „Ort und Auftrag der Christenheit in den konkret reflektierten Weltprozessen" bestimmen (II, S. 61). Ihr Kriterium liegt nicht im Gewissen, sondern in ihrem Beitrag zum Weltfrieden (a.a.O., S. 62). Sie beschäftigt sich vor allem mit Fragen der sozio-ökonomischen Verhältnisse. Unter dem Aspekt der Zukunft und der Verbesserung der Verhältnisse arbeitet sie mit gegenwartskritischen und futurologischen Methoden (a.a.O., S. 61 f.). Wir haben bereits ausgeführt, warum empirische Wissenschaft für solche globalen Funktionen nicht zuständig sein kann. Jedoch kann sie Werkzeuge geben, mit deren Hilfe die Gruppen in Gesellschaft und Christenheit größere Klarheit über ihre Aufgaben im geschichtlich-sozialen Feld und die Möglichkeiten ihrer Realisierung gewinnen können. Vor allem können wir diese Ausführungen von Herrmann nicht als eine Definition dessen ansehen, worum es in einer empirischen Theologie geht. Indem zwischen normativen und empirischen Aussagen, Sozialphilosophie und empirischen Sozialwissenschaften nicht eindeutig differenziert wird, werden auch kurzschlüssig empirische Theologie und empirische Wissenschaft ineinander gesehen. Auch im Gespräch mit den empirischen Wissenschaften darf die Theologie ihren eigentlichen Gegenstand nicht preisgeben 108 . Ihre Aussagen betreffen die Beziehung zwischen Gott und Mensch und sind als solche nicht im Sinne empirischer Wissenschaft verifizierbar. Sie stehen auf der Grundlage des Glaubens, der sich vor der durch die Wissenschaften erhellten Wirklichkeit zu verantworten hat. Eine theologische Theorie kann ferner nicht nur eine kritische Funktion haben. Sie macht auch Feststellungen und gibt Informationen, die ständig selbst wieder kritischer Überprüfung zu unterwerfen sind. Einen absoluten Standort für die Kritik gibt es nicht. Es muß jeweils Auskunft darüber 334

gegeben werden, auf welchen Grundlagen sie geschieht, welche Methoden der Überprüfung angewandt werden, welche Erkenntnisse und Einsichten durch sie vermittelt werden können. Die Art des angestrebten kritischen Prüfungsverfahrens für die Verifikation wird bei Herrmann nicht präzisiert109. Was und wie und nach welchen Maßstäben aufgeklärt werden soll und kann, bleibt unklar. Fragwürdig ist auch die Bestimmung der Gegenstände nach ihren Methoden (III, S. 31). Es müßten doch umgekehrt die verschiedenen Methoden danach ausgewählt werden, was sie für die Lösung anstehender Problemstellungen beitragen können. Diese lassen sich nicht aus der Anwendung der Methode selbst deduzieren. Die Stellungnahmen, wie sie Herrmann vollzieht, sind im Rahmen einer empirischen Theologie zwar möglich, aber sie dürfen nicht mit deren Grundlagen und Voraussetzungen verwechselt werden. Sonst kommt die empirische Wissenschaft nur in einem vorgegebenen normativen philosophisch-theologischen Bezugsrahmen zur Sprache. Sicherlich kann man zur Zeit nur sehr vorläufige Aussagen darüber machen, in welcher Weise sich ein theologisches Gespräch mit den empirischen Wissenschaften durchführen und der Ansatz einer empirischen Theologie entfalten lassen. Die Landschaft ist noch unbekannt, in die hinein wir uns bewegen. U m so wichtiger ist es dann, möglichst klare Vorstellungen über die Voraussetzungen, Möglichkeiten, Leistungsfähigkeiten, Aufgaben und Grenzen empirischer Wissenschaften zu gewinnen. W i r möchten versuchen, von dem bisherigen Hintergrund aus unsere Überlegungen hinsichtlich der möglichen Funktion empirischer Theologie im Gespräch mit den empirischen Wissenschaften vom Menschen zusammenzufassen: 1. Sie macht die erkenntnistheoretische und die experimentelle Arbeit der empirischen Wissenschaften vom Menschen für die theologische Reflexion fruchtbar und untersucht die Bedeutung der Ergebnisse empirischer Forschung für das Leben des einzelnen Christen und der Gemeinde. Wir haben in Teil A unserer Arbeit zu verdeutlichen versucht, wie dieses durch die interpersonale Theologie geschieht. Die Notwendigkeit des Gespräches zwischen der Theologie und den empirischen Wissenschaften ergibt sich nicht nur daraus, daß diese Wissenschaften die Erkenntnis von empirischen Wirkzusammenhängen vermitteln, sondern sie ist auch darin begründet, daß die empirischen Wissenschaften selbst in der gegenwärtigen Welt ein Wirkfaktor in der Gestaltung menschlicher Wirklichkeit geworden sind. Insofern sich der Christ und die Ge335

meinde nicht außerhalb des Zusammenhanges mit der Menschheit und nicht außerhalb der Welt und der geschichtlichen Situation „wirklich" sind, betrifft die empirische Forschung auch die Wirklichkeit des Christen und der Kirche. Darum kann auch das Gespräch zwischen der Theologie und den empirischen Wissenschaften nicht nur als ein innerwissenschaftliches angesehen werden, das aus dem allgemeinen Geschichts- und Gesellschaftszusammenhang herausgelöst werden könnte, sondern in der Begegnung mit den empirischen Wissenschaften trifft der Christ auf die „Mächte" seiner Zeit, die nicht nur die Welt bestimmen, in der er lebt, sondern auch die Wirklichkeit, die er selber ist. Die Kirche kann heute ihren missionarischen, diakonischen und seelsorgerlichen Auftrag nicht durchführen, ohne an allen Orten auf den Einfluß dieser Mächte zu stoßen. So geht es in diesem Gespräch um den geschichtlichen Menschen unserer Zeit und damit auch um die konkrete Existenz der Kirche in der Gegenwart. 2. Im Vollzug des Gespräches hat sich die Theologie aber auch in den Dienst ihres Gesprächspartners nehmen zu lassen, ihm dabei zu helfen, seine wissenschaftliche Aufgabe der Erforschung empirischer Wirklichkeit und die damit verbundene Verantwortung wahrzunehmen und selbst an der erkenntnistheoretischen und praktischen Grundlegung und Entfaltung dieser Wissenschaften mitzuarbeiten 110 . Die Partizipation daran ist auch deswegen für die Theologie nötig, da sie sonst die Art der Problemstellungen, die Weise des Erkennens und die Bedeutung der Ergebnisse in ihrem Bezug zur geschichtlich-sozialen Wirklichkeit nicht recht verstehen könnte. Nur so kann einer unkritischen Abhängigkeit theologischen Denkens von einzelnen sozialwissenschaftlichen oder sozialphilosophischen Schulen oder kurzschlüssiger Übertragung einzelner ihrer Ergebnisse gewehrt werden. Wenn Schelsky darauf hinweist, daß sich die Theologie heute ihre „materielle Welterfahrung sehr deutlich" von der Soziologie borge (Ortsbestimmung, S. 31), ist es um so wichtiger, die Art der Vermittlung kritisch zu überprüfen. Ohne eine Differenzierung zwischen Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie könnte es beispielsweise leicht zu einer Soziologisierung und Ideologisierung theologischen Denkens und kirchlichen Lebens kommen, was der Intention eines Gespräches mit den empirischen Sozialwissenschaften zuwiderliefe. 3. Indem sich die empirische Theologie gemeinsam mit den Sozialwissenschaften um die Wahrnehmung geschichtlich-sozialer Wirklichkeit bemüht, vollzieht sie gleichzeitig Kritik an Kirche und Theologie. Wir 336

haben oben darauf hingewiesen, wie eine unkritische Theologisierung naturwissenschaftlich-weltanschaulicher Sachverhalte im 17./18. Jahrhundert zu einer tiefen Entfremdung der Menschen von der Kirche geführt hat und wie die unkritische Theologisierung empirisch-soziologischer und psychologischer Sachverhalte im 19. Jahrhundert eine noch stärkere Entfremdung zur Folge hatte. Wie die historisch-kritische Theologie die im 17./18. Jahrhundert aufgebrochene Kluft zu überwinden half, so steht die empirisch-kritische Theologie angesichts der im 19. Jahrhundert entstandenen Problematik vor einer ähnlichen Aufgabe. Sie kann dabei von der historisch-kritischen Forschung lernen. Wie diese das Wort Gottes in seinem Charakter als geschichtliches Zeugnis verstehen lehrte und damit die Sanktionierung von Weltbildern seitens der Theologie in Frage stellte, so muß die empirisch-kritische Theologie den ekklesiologischen Prozeß der Gegenwart als eine geschichtliche Gestalt des Evangeliums in seiner Gewirktheit durch Gott und in seiner empirischen Bedingtheit verstehen lernen und einer Metaphysik kirchlicher Strukturen wehren 1 1 1 . Dabei fällt ihr auch eine theologiekritische Aufgabe zu. So kann sie etwa bewußt machen, w o theologische Reflexion ohne ihr Wissen in theologischer Begrifflichkeit psychologisiert oder psychologisch argumentiert 112 . Die Auseinandersetzung zwischen empirischer SozialWissenschaft und Philosophie kann ihr Anlaß und Möglichkeit geben, die jeweiligen Voraussetzungen theologischen Denkens daraufhin zu überprüfen, ob sie nicht den Zugang zur Wahrnehmung geschichtlich-sozialer Wirklichkeit versperren und geschichtlich-sozial bedingte Denkgestalten verabsolutieren. So trägt sie bei zur Verantwortung theologischen Denkens vor der Wirklichkeit des Menschen und gegenwärtiger Geschichte. 4. Die empirische Theologie übt jedoch auch eine Funktion theologischer Erkenntniskritik gegenüber den empirischen Wissenschaften vom Menschen aus. Sie hat in ihrer erkenntnistheoretischen Diskussion mit den empirischen Wissenschaften die notwendig in allem Verstehen menschlicher Wirklichkeit implizierten Glaubensurteile aufzudecken und dazu beizutragen, daß die Erforschung empirischer Phänomene nicht in eine Metaphysik umschlägt. In Ausübung ihrer kritischen Funktion können sich empirische Theologie und die empirischen Wissenschaften vom Menschen wechselseitig den Dienst tun, sich von einer Umklammerung durch Weltanschauung und philosophische Anthropologie freizuhalten. Es ist dabei die kritische Aufgabe empirischer Theologie, die empirische Forschung auf Verkürzungen der Empirie aufmerksam zu machen, beispielsweise auf die Folgen der Ausklammerung des Todes, der Vergäng337

lichkeit, der Schuld usw. bei der Analyse menschlicher Wirklichkeit. Gerade vom biblischen Zeugnis her wird erschlossen, was es für das Erkennen des Menschen bedeutet, daß er sich auf der Flucht vor der Wirklichkeit befindet, die ihn umgibt und die er selber ist. Dieses gebrochene Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, wie es die biblische Geschichte aufdeckt in seiner Bestimmtheit durch Tod, Sünde, Selbstverschlossenheit, Selbstbetrug, wirkt sich zwar auch im Verhältnis empirischer Forschung zur Wirklichkeit aus, kann aber von dorther selbst nicht erkannt werden, solange die von ihr wahrgenommene Wirklichkeit nicht durch die in der Bibel bezeugte Geschichte erhellt wird. Daraus ergibt sich, daß empirische Forschung nicht nur des Zeugnisses von der Wirklichkeit Gottes in der menschlichen Wirklichkeit bedarf, sondern auch einer theologischen Erkenntniskritik in bezug auf die von ihr wahrgenommene Wirklichkeit 113 . Wir haben unsere Funktionsbestimmungen einer empirischen Theologie auf dem Hintergrund unseres Gespräches mit empirischer Sozialwissenschaft, speziell mit der Gruppendynamik, formuliert. Das bedeutet jedoch nicht, daß empirische Theologie auf diese Bestimmungen, welche in unserem konkreten Problemzusammenhang aufgezeigt wurden, eingeschränkt werden darf. Aus dem Gespräch der Theologie mit anderen empirischen Wissenschaften werden sich andere Problem- und Aufgabenstellungen ergeben, die ihrerseits zu klären sind. Es ist aber möglich, die an Hand des jeweiligen konkreten Problemzusammenhanges gefundenen Aspekte und allgemeineren Bestimmungen in Beziehung zu setzen zu Einsichten, die an den anderen Fragestellungen gewonnen wurden, und die wechselseitigen Bezüge herauszuarbeiten. Wir orientieren uns hierbei methodisch an den Auffassungen einer empirischen Wissenschaft, wie sie Lewin in seiner Feldtheorie erkenntnistheoretisch durchdenkt. Demnach ist Wissenschaft zunächst ein Bereich von Problem- und Aufgabenstellungen, an denen sich das methodische Verfahren auf Grund erkenntnistheoretischer Überlegungen auszurichten hat. Auch die empirische Theologie kann nicht bereits von einem System und systematischen Untergliederungen ausgehen. Ihr „Gegenstand" sind geschichtliche Problem- und Aufgabenstellungen, wie sie im U m gang des Christen und der christlichen Gemeinde mit der Wirklichkeit unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen entstehen. Ihre Systematik ergibt sich daher aus den Bezügen, die in den jeweiligen Problemen selbst und in ihrem Zusammenhang mit anderen Fragestellungen wirksam sind. Sie kann dabei weder rein deduktiv noch rein induktiv verfahren. 338

Im Gespräch der Theologie mit den empirischen Sozialwissenschaften geht es um Probleme der rechten Wahrnehmung geschichtlich-sozialer Wirklichkeit, für die auch der Christ v o m Evangelium her Verantwortung trägt. Die Theologie hat es daher mit der empirischen Sozialwissenschaft weder aus allgemein wissenschaftlichen Gründen noch aus Motiven der „Anpassung" der Kirche an die moderne Gesellschaft zu tun, sondern einfach aus ihrer Verpflichtung für die Wahrheitsfrage im geschichtlichen Sinne. M i t der Hinwendung zu den Fragen empirischer Forschung betritt die Theologie kein eigentlich neues Gebiet, insofern im kirchlichen Leben von jeher die Wahrnehmung unmittelbarer geschichtlich-sozialer Z u sammenhänge im vorwissenschaftlichen oder wissenschaftlichen Sinne ausgeübt und nach ihrer Bedeutung für kirchliches Handeln und theologische Beurteilung größerer Zusammenhänge gefragt worden ist (vgl. Wölber, a.a.O., S. 239). Schon das Prinzip der Ortsgemeinde führte in seiner Verwirklichung zum Ernstnehmen der Wahrnehmung unmittelbarer Zusammenhänge, in welche der Vollzug christlichen Glaubens und kirchlicher Praxis eingebettet ist. Aber die Bindung der Theologie an Philosophie und Geisteswissenschaften trug in der deutschen Situation immer mehr zu einer Auflösung der lebendigen Wechselwirkung zwischen gegenwärtiger Gemeinde und Theologie bei. Eine empirische Theologie müßte dazu beitragen, daß diese wechselseitige kritische Vermittlung heute wieder belebt werden kann. W i r stellten fest, daß sich die Grundlagenprobleme der SozialWissenschaften gerade im Umgang mit der Wirklichkeit stellen und von der empirischen und praktischen Problematik, der sich der Mensch gegenüber sieht, unablösbar sind. Theorie und Praxis, Denken und Wirklichkeit sind nicht voneinander zu isolieren. In den praktischen Problemen, die aus dem U m g a n g des Menschen mit gegenwärtiger Wirklichkeit kommen, stellen sich die erkenntnistheoretischen Fragen und umgekehrt. Die empirische Theologie orientiert sich in ihrer Arbeitsweise an den empirischen Wissenschaften. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie sich in einem solchen Gespräch in die Aufgaben und Methoden der empirischen Wissenschaften integrieren müßte. Die Fragestellung der empirischen Theologie ergibt sich aus ihrem Enthaltensein und Gegenüber im Blick auf die empirischen Wissenschaften v o m Menschen. Als Intention des G e spräches zwischen empirischer Theologie und empirischer Wissenschaft v o m Menschen möchten wir als eine Arbeitshypothese formulieren, was w i r auch als ein Charakteristikum der interpersonalen Theologie herausgestellt haben (s. o. S. 85 fr.): Es geht der empirischen Theologie gleich339

zeitig um wissenschaftlich-methodische Wahrnehmung der Wirklichkeit des heutigen Menschen und ihr Verständnis v o m Evangelium her. Im Blick auf das Gespräch mit den empirischen Sozialwissenschaften könnte man eine der Intentionen empirischer Theologie bezeichnen als Hermeneutik der Ekklesiologie in den Kategorien der Gegenwartswissenschaften. Ihre Aufgabe im weiteren Sinne besteht darin, die gegenwärtige W i r k lichkeit, wie sie von den empirischen Wissenschaften erforscht wird, auf der Grundlage des biblischen Zeugnisses so zu verstehen, daß die G e meinde und der einzelne Christ dadurch angeleitet werden, in eigener Antwort auf den Anruf des Evangeliums die ihnen gemäße Gestalt des Lebens und Handelns zu suchen. Sie intendiert daher primär einen A k t theologischen Verstehens, nicht eine Handlungstheorie, die im einzelnen methodologisch-praktisch entfaltet werden müßte. Dieses ist jeweils nur vor Ort möglich. Sie bemüht sich aber, in der Konfrontation empirischer Zusammenhänge mit der in der Bibel bezeugten Geschichte die theologisch-empirischen Probleme aufzudecken, die dabei zur Diskussion stehen, die Kategorien zu ihrem Verständnis und zu ihrer Bewältigung zu klären und die Richtung anzudeuten, in welcher ihre Lösung gesucht werden könnte. Sie hat daher in Entsprechung zu den empirischen Wissenschaften eine primär diagnostizierende, kognitive und beratende Funktion. Sie ist ihrer Methode nach „indirekt": In Entsprechung zu den empirischen Wissenschaften kann sie nicht definieren, was Wirklichkeit ist (s. o. S. 308), aber sie kann zur Diskussion stellen, ohne welche Wirkzusammenhänge die Wirklichkeit des Menschen vor Gott in der gegenwärtigen Situation nicht recht wahrgenommen werden kann. Daraus folgt, daß sie sich ihre Fragestellungen nicht einfach von den empirischen SozialWissenschaften vermitteln lassen kann. Das ist schon deswegen nicht nötig, weil sie im U m g a n g mit derselben geschichtlichsozialen Wirklichkeit steht, aus welcher auch der SozialWissenschaft ihre Aufgaben vermittelt werden 1 1 4 . Sie kann aber im Gespräch mit der SozialWissenschaft lernen, sich methodisch Rechenschaft zu geben über die wahrgenommene Wirklichkeit. Das Verfahren empirischer Theologie kann jedoch nicht als theologische Deutung sozialwissenschaftlicher Theorien beschrieben werden. Sie würde dabei in Gefahr stehen, unkritisch anthropologische und sozialphilosophische Prämissen zu übernehmen, mit denen sie sich gerade theologisch kritisch auseinanderzusetzen hat. Sie selbst hat jederzeit Zugang zu derselben Wirklichkeit, um deren Erforschung sich auch die empirische Sozialwissenschaft bemüht, und muß daher die Ergebnisse derselben an der geschichtlich-sozialen Empirie kritisch überprüfen.

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Wenn sie auch im Gespräch mit den empirischen Wissenschaften vom Menschen steht, so hat sie doch eine andere Aufgabe, geht von anderen Voraussetzungen aus und steht in einem anderen Bezugsrahmen. Sie ist theologische Wissenschaft. Sie bezieht sich zwar auf dieselbe Wirklichkeit, wie sie Gegenstand der empirischen Wissenschaften ist, aber sie konfrontiert diese mit einer anderen Wirklichkeit, wie sie offenbar wird in der durch das Evangelium bezeugten Geschichte115. Im Unterschied zu den empirischen Wissenschaften erwachsen daher ihre Fragen aus dem Vollzug christlichen Glaubens in der gemeinsamen geschichtlichen Situation, aus dem Umgang mit der Bibel und gegenwärtiger Wirklichkeit. So steht sie in einem doppelten Bezug: einerseits zur biblischen Theologie, andererseits zu den empirischen Wissenschaften. Sie richtet ihr besonderes Augenmerk auf die „Korrelation" zwischen der in der Bibel bezeugten Geschichte und dem geschichtlich-sozialen Prozeß der Gegenwart. Sie versteht darunter einen „Erkenntnisbezug", der eine wechselseitige Erhellung geschichtlicher Wirklichkeit ermöglicht. Wie der Feldtheorie geht es ihr dabei nicht um isolierte Fakten, sondern um ganzheitliche Wirkzusammenhänge, wie sie im theologischen Studium der biblischen Zeugnisse und in empirischer Analyse gegenwärtiger Wirklichkeit zu klären sind.

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Kapitel VIII

GEGENWÄRTIGE PROBLEME

EMPIRISCHER

THEOLOGIE IM H O R I Z O N T

DES

GALILEISCHEN WISSENSCHAFTS VERSTÄNDNISSES

a) Die personale und geschichtlich-soziale Vermitteitheit des christlichen Glaubens Die Bemühung um eine Klärung des Verhältnisses von Theologie und Empirie stellt uns v o r die grundsätzliche Frage nach der Beziehung zwischen göttlicher und menschlicher Wirklichkeit im christlichen Glauben. Diese ist nicht identisch mit der Frage nach der Beziehung zwischen Theologie und empirischen Wissenschaften v o m Menschen, sondern betrifft die erkenntnistheoretischen Grundlagen und Voraussetzungen aller Theologie, an denen empirische Theologie teilhat. Sie läßt sich heute nicht mehr als Wesens- und Substanzfrage stellen, beispielsweise als Frage nach dem Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus, sondern nur noch als Frage nach der Geschichte Gottes mit den Menschen, wie sie von der Bibel bezeugt wird. Die Einsicht in den „geschichtlichen" Charakter der Offenbarung ist weithin Voraussetzung der theologischen Diskussion, wenn auch das Verständnis der Geschichte und die Konsequenzen, die man daraus zieht, sehr verschieden sind (s. u. S. 349 ff.)1. Was uns in der Bibel als „Offenbarung" bezeugt wird, ist nicht Gott selbst im strengen Sinn, nicht sein Wesen, sondern die Geschichte der Wechselbeziehung zwischen Gott und Menschen. Die in dieser Geschichte offenbar werdende göttliche Wirklichkeit meint eine Wirklichkeit, die nicht wir sind. Aber sie läßt sich nicht zum Ausdruck bringen mit B e griffen wie „Jenseits", „Ubernatur", „Ubergeschichte" und anderem mehr. Solche Formulierungen sind unzutreffend, insofern die Bibel gerade im Gegensatz zu ihrer religiösen U m w e l t das Handeln Gottes als Geschehen im Diesseits, im Fleisch, in der Geschichte beschreibt (vgl. z. B . Joh. 1 , 1 4 ; Hebr. 2, i4ff.) 2 . Die Wirklichkeit Gottes ist zwar als Wirklichkeit außerhalb unserer Wirklichkeit (extra nos) anzusprechen, aber der Glaube findet sich immer bereits in Beziehung zu ihr v o r (vgl. auch Exkurs 6, S. 551). Gerade deswegen gibt es für ihn nie eine nur „gegenständliche" Geschichte (s. u. S. 350). Durch die im Glauben vollzogene Kommunikation greift das „ A u ß e n " gleichzeitig in das „Innen" hinein. So entsteht ein vielfältiges Beziehungsgeflecht des Gegenübers von Gott

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und Mensch, in dem sich die göttliche Wirklichkeit mit der menschlichen verbindet. Darin wird die Dichotomie von „außerweltlich" und „innerweltlich" aufgehoben 3 . Wenn Gottes Offenbarung als ein Ereignis beschrieben wird, das die Selbstverschlossenheit menschlicher Wirklichkeit von „außen" aufbricht, so steht sie darin in gewisser Entsprechung zu aller personalen Kommunikation: auch die Menschen sind einander ein „Außen". Sie erweisen sich füreinander nur als Wirklichkeit, wenn sie zueinander in Beziehung treten. So gibt es für uns die Wirklichkeit Gottes nur dadurch, daß er sich zu uns in Beziehung setzt. Das Geschehen des Glaubens, in welchem der gegenwärtige geschichtliche Mensch in der ihm neu eröffneten Beziehung auf die Wirklichkeit Gottes antwortet, ist darum konstitutives Element der Offenbarung selbst4. Als empirischer Ort der Vermittlung der Wirklichkeit, auf welche der christliche Glaube bezogen ist, lassen sich die Bibel und die gegenwärtige Christenheit verstehen. Die Gottesbeziehung ist geschichtlich vermittelt durch zwischenmenschliche Beziehungen, Traditionen, vergangene und gegenwärtige Ereignisse, Selbstverständnisse, Zeugnisse und anderes mehr. Darin hat christlicher Glaube teil an der Begegnungsweise aller konkreten Wirklichkeit. Was wir unter Vater, Mutter, Ehe, Freundschaft usw. verstehen, das entscheidet sich ebenfalls am konkreten Ort der Vermitteltheit dieser Wirklichkeit. Ohne ihn würden die Begriffe „leere" Vorstellungen bleiben. Auch ein Denken, das sich des konkreten Zugangs nicht bewußt ist, steht doch in derselben geschichtlichen Vermitteltheit. Im Umgang mit der Schrift, im Hören auf ihr Zeugnis von der Offenbarung erfährt der Mensch durch den Glauben, daß diese Geschichte Gottes mit den Menschen ihre Fortsetzung in gegenwärtiger Geschichte hat. Im Umgang mit der Bibel „stößt" der Christ auf eine Wirklichkeit, die nicht „Ich" ist, auf eine fremde „Intentionalität" 5 , die sich ihm gegenüberstellt und ihm Widerstand leistet. In solchem Umgang werden wir ermahnt, zurechtgewiesen, getröstet, auf neue Ziele hingelenkt, gerichtet und aufgerichtet, zerbrochen und geheilt, angenommen und gewarnt, gezwungen und befreit, gerichtet und versöhnt, getötet und lebendig gemacht. Die Begegnung mit der Intentionalität, die nicht die unsere ist, die in das konkrete Leben eingreift, in seine Richtung und seinen Vollzug, es in Beziehung setzt zu Menschen, zu Dingen, zu Aufgaben usw., trägt den Charakter des Personalen, insofern die Erfahrung solcher von außen auf uns zutretenden Intentionalität sonst nur eine Entsprechung in den menschlichen Wechselbeziehungen hat. Aber dieses darf nicht im personalistischen Sinne mißverstanden werden. Denn in der Person begegnen wir nicht nur dem Individuum, sondern auch einer Welt, Ge343

schichte und Wirklichkeit, in deren Bezügen sie steht und die sie vermittelt. Insofern wird die personale Kategorie transzendiert6. Gleichzeitig konfrontiert uns die Bibel mit einer Wirklichkeit, in der wir unsere eigene erkennen. Es geht um Tod und Leben, Suchen und Irren, Wege und Ziele, Freude und Schmerzen, Gehorchen und Herrschen, Liebe, Treue, Verrat, Verstockung, Kampf, Versöhnung, Gemeinschaft, Einsamkeit, Reichtum, Mangel, Feiern, Arbeiten, Vorgänge des natürlichen, des personalen und sozialen Lebens, Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, von Menschen und Gruppen, Gruppen und Gruppen u. a. So sehr auch heute immer wieder auf die Fremdheit der Bibel im Vergleich zum gegenwärtigen Leben hingewiesen wird, so kann das doch nur in relativem Sinne gelten, wenn das Weltbild oder die Begrifflichkeit zur Diskussion stehen. Die geschichtlich-sozialen und personalen Vorgänge im menschlichen Leben selbst, auf die sie sich beziehen, finden wir auch in der Gegenwart wieder und bieten Vergleichsmöglichkeiten7. Es könnte auch sein, daß die Art der Fremdheit, welche wir der Bibel gegenüber empfinden, darin begründet ist, daß wir die Vorgänge in der Wirklichkeit, in der wir uns selbst vorfinden, nicht wahrnehmen und als NichtWirklichkeit behandeln. Dann wäre der Fremdheitscharakter in unserer Einstellung zu gegenwärtiger Wirklichkeit zu suchen, nicht einfach in unserem Verhältnis zu einer vergangenen Geschichte. Die Möglichkeit, daß unser Denken eine vorhandene Wirklichkeit als Nichtwirklichkeit erklärt, haben wir in der Geschichte der empirischen Forschung zu Gesicht bekommen (s. o. S. 225 f.). Sie hängt mit der Weise unseres Verhältnisses zur Wirklichkeit zusammen und ist nicht nur ein Problem des historischen Abstandes. Die Bibel spricht von der Wirklichkeit Gottes stets im Gegenwartsbezug : „Immer ist die unmittelbare Gegenwart das Kennzeichen der Worte Jesu, seines Auftretens und Handelns, inmitten einer Welt, die ... die Gegenwart verloren hat, weil sie . . . zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Traditionen und Verheißungen oder Drohungen lebt" (Bornkamm, a.a.O.,

S. 52). Wenn die biblischen Zeugen vom „lebendigen Gott" reden, wollen sie sagen, daß er der Gegenwärtige ist, der in der Wirklichkeit, in der wir leben, handelt und uns darin als eine Wirklichkeit offenbar wird. So ist es auffallende Eigentümlichkeit der neutestamentlichen Schriften, daß sie Jesus nicht einfach als Gestalt der Vergangenheit, sondern vielmehr als den auferstandenen, in seiner Gemeinde gegenwärtigen Herrn verkündigen 8 . Indem sie von den Vorgängen der Geschichte Jesu von Naza344

reth berichten, sagen sie, „wer er ist, nicht wer er war" (Bornkamm, a.a.O., S. 15). Darum spricht das Neue Testament nicht im Sinne historischer Erinnerung von der Offenbarung, sondern im Sinne der Bezeugung gegenwärtiger Wirklichkeit (vgl. z. B . 2. Kor. 4, 5f.). Es wäre eine Historisierung des biblischen OfFenbarungsverständnisses, wenn wir Glaube als Übernahme von Lehren über vergangene Geschichte und deren allgemeine Bedeutung verstehen würden. Die christliche Gemeinde und der einzelne Christ können immer nur von der Selbstmitteilung Gottes als einer gegenwärtigen Wirklichkeit existieren, nur vom Glauben, der die Wirklichkeit empfängt, auf welche die biblische Geschichte verweist. Das „Evangelium im Evangelium" meint nicht eine abstrakte, zeitlose Formel, mittels deren man die Summe der neutestamentlichen Evangelien und Briefe in ihrem Wesen erfaßt hätte, sondern die Gegenwart und Wirklichkeit dessen, was die Bibel als vergangenes Geschehen bezeugt. Dogmatisch gesprochen: Es ist nicht der „Gott an sich" und die Summe dessen, was über ihn auf Grund historischer Offenbarung gesagt werden könnte, sondern es ist „Gott für mich", wie er dem gegenwärtigen Menschen im Evangelium begegnet. „Heil ist immer nur Gott selber in seiner Gegenwart für uns" (Käsemann, a.a.O., S. 132). Die Bindung, wie sie der Glaube erfährt, ist nur zu verstehen als Bindung durch den gegenwärtigen Gott. Nicht das „ W o r t " als Buchstabe, als geschichtlicher Bericht oder als apostolische Autorität bindet und löst hier, sondern das Wort als Stimme des gegenwärtigen Gottes, der den Menschen durch das biblische Zeugnis trifft. Dem Glaubenden begegnet darin die persönliche Zuwendung Gottes, die sich durch das biblische Zeugnis vermittelt, aber von ihm zu unterscheiden ist. Das Wort, in dem uns der gegenwärtige Gott anredet, ist aus der in der Bibel bezeugten vergangenen Geschichte nicht ableitbar. Wohl aber lernen wir in ihr den kennen, der als Gegenwärtiger zu uns redet. Dieses Verhältnis von vergangener und gegenwärtiger Geschichte kann man durch die personale Kommunikation veranschaulichen. Was in einer solchen von der jeweils anderen Person an gegenwärtiger Wirklichkeit mitgeteilt wird, läßt sich nicht aus der vergangenen Geschichte dieser Person, beispielsweise aus ihrer Biographie, ableiten (s. o. S. 222), wohl aber ist die vergangene Geschichte an der gegenwärtigen beteiligt, insofern sie zu dieser Person gehört und sich nicht von ihr trennen läßt. Die Person ist nicht ohne Geschichte, und die Geschichte aktualisiert sich nicht ohne Person, findet ohne sie keine Fortsetzung. Daher interpretieren sich die Kategorien des „Personalen" und der „Geschichte" gegenseitig. Das bedeutet die unlösliche Beziehung zwischen dem Wort, in welchem

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sich der gegenwärtige Gott mitteilt, und der Geschichte als der Geschichte eben der Person, welche in dem Wort mit uns kommuniziert 9 . Der Zu. gang zur vergangenen Geschichte erfolgt hier über die gegenwärtigeOhne die gegenwärtige Selbstmitteilung könnte der Mensch zwar von dieser Person Kenntnis nehmen, aber sie bliebe für ihn eine verschlossene, nicht offenbare Wirklichkeit, falls sie gleichzeitig mit ihm existiert, und eine vergangene, tote Wirklichkeit, falls sie nicht mehr als gegenwärtige existierte. So erfährt sich der Glaube als das Werk des gegenwärtigen Herrn. In der von ihm gestifteten Beziehung wird dem Glaubenden das Innere der Geschichte erschlossen. In der Person Jesu, in seinem Kreuz und seiner Auferstehung findet er die Zeichen für Gottes offenbarendes Handeln, erkennt er die darin sich vollziehende universale Versöhnung der Menschheit mit Gott. Im Kreuz erweist sich die Bedingungslosigkeit der Zuwendung Gottes in seiner erlösenden Liebe zum Menschen, in der Auferstehung die todüberwindende Macht des Lebens Gottes, an dem wir Anteil gewinnen. Diese Liebe Gottes und das uns durch sie ermöglichte Leben sind die Dynamik in der Geschichte der Erlösung und Befreiung der Menschen. Weg Jesu, Kreuz und Auferstehung können nicht als von dieser Geschichte isolierbare „Heilstatsachen" verstanden werden. Sie sind nur in ihrem Zusammenhang gegeben. Wir glauben nicht an „Kreuz" und „Auferstehung", sondern an den Gekreuzigten und Auferstandenen, der uns die Gemeinschaft mit Gott vermittelt 10 . In der „Gestalt" Jesu, wie sie uns in der Bibel bezeugt wird, lernen wir den kennen, der uns als der Gegenwärtige in seine Geschichte hincinnimmt. Wie die Gestalt des Menschen aus seiner Geschichte erwächst und in sie zurück verweist, so ist die Gestalt Jesu als ganze unablösbar von der Geschichte Gottes mit den Menschen, deren Wirkzusammenhänge, Richtung und Ziel sie aufdeckt. Das unterscheidet sie vom Bild. Dieses ist ablösbar von der Wirklichkeit, tritt an ihre Stelle und vertritt sie. Eine Gestalt ist die Weise, in welcher uns eine lebendige Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen und Beziehungen gegeben ist. Wie die Summe der einzelnen Töne noch nicht die Melodie ausmacht, aber die Melodie nicht existiert ohne die Töne 1 1 , so sind auch die Vorgänge, wie sie in der Bibel berichtet werden, nur in ihrer Beziehung zur Gestalt Jesu Offenbarung der Wirklichkeit Gottes, wie umgekehrt die Gestalt Jesu nicht zu trennen ist von den Vorgängen, die ihre Geschichte ausmachen. Auch die biblischen Begriffe sind von der Geschichte her zu interpretieren, in der sie stehen. Sie meinen keine Wesens- und Seinsdefinitionen. Was Sünde, Friede, Versöhnung, Glaube, Liebe, Gehorsam, Treue, Gesetz, Gerechtigkeit, Gnade usw. bedeuten, ist ohne Rückbezug auf die 346

konkreten Vorgänge, durch welche sie gefüllt werden, nicht verstehbar. Sie werden auch nicht nur durch einen einzelnen Vorgang erläutert, sondern durch eine Vielzahl von Vorgängen, welche durch ganz verschiedenartige Strukturmerkmale und Wirkzusammenhänge charakterisiert sind 12 . Auch die einzelnen Schriften der Bibel drücken dieselben Sachverhalte verschieden aus, weil sie an bestimmtem Ort im Blick auf bestimmte Menschen in ihren Denk- und Sozialstrukturen geschrieben sind. So wird z. B . die Rechtfertigungsbotschaft, die Paulus in Begriffen wie „Gottesgerechtigkeit" entfaltet, in den synoptischen Evangelien als Tischgemeinschaft Jesu mit den Sündern dargestellt, während der Ausdruck „Gerechtigkeit" für sie etwas anderes meint als für Paulus 13 . Die Evangelien stellen die geschichtlich-soziale Dimension der Rechtfertigung als unverdiente und bedingungslose Aufnahme in die Gemeinschaft mit Gott heraus, während man den entsprechenden Sachverhalt in der paulinischen Theologie jetzt erst zu entdecken beginnt (s. o. S. 176fr.) 14 . Indem sich Begriffe und Vorgänge wechselseitig interpretieren, werden die Zusammenhänge in der Geschichte Gottes mit den Menschen von immer neuer Seite beleuchtet. Ebenso wird durch das Ineinanderblenden von vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen das Handeln Gottes in der Gegenwart transparent gemacht. Auch die Weise, in welcher sich das Neue Testament auf das Alte Testament zurückbezieht, ist davon bestimmt 1 5 . Alle Auslegungsmethoden der Bibel folgen dem hermeneutischen Prinzip: Geschichte wird durch Geschichte interpretiert, die Geschichte des Alten Testaments durch die Geschichte des Neuen Testaments und umgekehrt, die irdische Geschichte Jesu durch die Geschichte der Gemeinde und umgekehrt 1 6 . Von diesem Hintergrund her ergibt sich auch die Wechselbeziehung zwischen biblischer Geschichte und gegenwärtiger Christenheit. Diese versteht ihre eigene Geschichte im Lichte der von der Bibel bezeugten Geschichte, und umgekehrt findet die biblische Geschichte in ihr die Fortsetzung. Der Glaube des einzelnen ist daher immer geschichtlich-sozial vermittelt, insofern er empirisch nicht denkbar ist ohne die Geschichte und das Zeugnis der Christenheit. Umgekehrt gibt es aber auch keine Geschichte der Christenheit ohne die personale Antwort des Glaubenden in Kommunikation mit anderen. Denn Gott macht uns durch Christus nicht nur zu seinem Gegenüber, sondern auch zum Gegenüber untereinander. Die Beziehung in ihrem Vollzug ist jeweils gegenwärtige Gemeinschaft mit Gott, die Geschichte dieser Beziehung ist die Geschichte der Christenheit in dieser Welt. Ein geschichtliches Verständnis von Glauben bedeutet auch Überwindung eines individualistischen Glaubensverständnisses. 347

Kirche entsteht nicht erst durch die religiösen Bedürfnisse von glaubenden Individuen 17 . Der Herr, der uns durch den Glauben beruft, ist gleichzeitig Herr seiner Gemeinde 1 8 . So steht die individuelle Geschichte mit Gott immer in Wechselbeziehung mit der sozialen Geschichte. U m gekehrt kann die Geschichte der Sozietät mit Gott nicht die individuelle Geschichte aufheben. Beide sind nicht ineinander integrierbar; gerade darum existieren sie nur in Wechselwirkung miteinander. Der Glaube selbst vollzieht sich als Anteilhabe an einer gemeinsamen Geschichte. Die Fortsetzung der biblischen Geschichte Gottes mit den Menschen in der Gegenwart ist nicht einfach durch den historischen Zusammenhang der faktischen Kirchengeschichte gegeben, wie es Rendtorff entfaltet 19 . Ihre Kontinuität ist nicht durch kirchliche Traditionen und einen fortlaufenden Geschichtsprozeß vermittelt, sondern durch die je gegenwärtige Selbstmitteilung Gottes im Evangelium 20 . Im Blick auf diese bleibt der Mensch abhängig davon, wie sich die Wirklichkeit, die sich in der Bibel bezeugt, zu ihm in Beziehung setzt. Er kann es nicht im voraus wissen, auch wenn er den Inhalt der Bibel genau kennen würde. Denn die Stimme, die ihn darin anredet, läßt sich nicht einfach von der Summe ihres Inhaltes ableiten. So führt der Umgang mit der Bibel den Menschen hinein in die offene Frage nach dem, der darin redet. Dieses Geschehen wird in der Theologie in der Lehre vom Heiligen Geist gedeutet. Sie legt den besonderen Akzent auf die Unverfügbarkeit dieses Binde- und Lösungsvorganges. Er kann vom Menschen nur hingenommen werden; denn Gott selbst handelt hier. Dieses Verhältnis von gegenwärtigem W o r t und „Schrift" läßt sich wiederum an der Kategorie der personalen Beziehung verdeutlichen. Voraussetzung einer Kommunikation zwischen Personen ist die gegenseitige Zuwendung. Diese kann sehr verschiedenartige Gestalt annehmen, je nachdem, ob eine Person sich zu verschiedenen Personen in Beziehung setzt oder zu ein und derselben Person in verschiedenen Situationen. Die personale Kommunikation ist nicht nur davon bestimmt, daß sich die jeweils andere Person zu uns in Beziehung setzt, sondern auch von der konkreten Weise, wie dieses geschieht. Uber die Art der Zuwendung Gottes kann der Mensch daher nicht auf Grund des biblischen Zeugnisses, etwa durch Schlußfolgerungen aus theologischen Kriterien, Verfügung gewinnen. Die Lehre vom Heiligen Geist wahrt gerade Gottes Freiheit in seinem Binden und Lösen durch das biblische Zeugnis gegenüber dem biblischen Zeugnis 2 1 . Die Externität des Wortes als gegenwärtiger Anrede meint daher die Externität Gottes gegenüber dem biblischen Zeugnis. Seine Unverfügbarkeit bedeutet für den Menschen die Geschichtlichkeit seiner Gottesbeziehung. Sie gründet sich nicht nur in der Geschicht348

lichkeit seiner eigenen Existenz und Situation, in der er sich vorfindet, sondern auch in der Geschichtlichkeit der Zuwendung Gottes selber. Gott existiert für den Menschen geschichtlich. Seine Freiheit, wie sie in seinem Personsein zur Aussage kommt, zeigt sich gerade darin, daß er sich selbst als ein Gegenwärtiger zum Menschen in Beziehung setzt und sich ihm nur in dieser erschließt. Der Begriff „geschichtlich", wie wir ihn hier verwenden, impliziert ein Geschehen zwischen Personen in ihrem Verhalten zueinander. Indem die theologische Reflexion von der Beziehung ausgeht, in welcher sich die in der Bibel bezeugte Wirklichkeit als eine gegenwärtige mitteilt, ist sie ganz und gar geschichtlich und bleibt auf den Anruf Gottes bezogen. Dieser läßt sich nicht als ein „ewiger" Ruf, der in einer zeitlosen Formel Ausdruck finden könnte, einer zeitgebundenen menschlichen Antwort gegenüberstellen. Der Rufer ist ewig, aber nicht der Ruf. Es lassen sich beispielsweise in den Evangelien die ihnen gemeinsamen Texte und Formulierungen nicht als zeitlose Elemente von anderen, die zeitgebunden wären, unterscheiden, sondern ihre ganze Antwort ist jeweils geschichtlich, aber sie steht in Bezug zu derselben Wirklichkeit (vgl. Bomkamm, Jesus, S. 172ff.). So läßt sich die Wahrheitsfrage nicht phänotypisch in Kategorien der „Allgemeinheit" oder „Ähnlichkeit" stellen, sondern sie gilt der Identität der Wirklichkeit, die uns im Evangelium ergreift. Sie ist Sache Gottes selber. Die Weise, wie wir die im Evangelium erfahrene Wirklichkeit denken, ist jedoch verschieden. Die Kontinuität der Geschichte Gottes mit den Menschen vollzieht sich gerade in der Andersartigkeit der geschichtlichen Zuwendung durch die wechselnden Zeiten und Situationen hindurch, und doch vermag der Glaube die Identität der Wirklichkeit darin zu erkennen. Es wäre ihm sonst nicht möglich, das Zeugnis in der Verschiedenartigkeit seiner Gestalten überhaupt wahrnehmen zu können. Die Gewißheit des Glaubens kann sich darum nicht in allgemeinen Normen, Lehren oder Dogmen begründen. Sie lebt von der gegenwärtigen Zuwendung Gottes. Es ist auch nicht möglich, durch Rückgriff hinter den Glauben auf vergangene Geschichte sich des extra me vergewissern zu wollen. Nach Pannenberg bedarf der Glaube der wissenschaftlichen Begründung in tatsächlichem Geschehen, um nicht zu einer grundlosen Entscheidung zu werden 22 . Diese Begründung soll die historische Wissenschaft durch Verifizierung der Offenbarungsgeschichte leisten. Indem sich der Mensch mittels historischer Forschung des Wissens von der Offenbarung Gottes aus der „Sprache der Tatsachen" versichert, wird das Vertrauen möglich, daß Gott die in der vergangenen Ge349

schichte begonnene und verheißene Vollendung der Geschichte in Zukunft herbeiführen wird 23 . Umgekehrt kann eine Falsifizierung der Überlieferung von vergangener Geschichte durch historische Forschung auch die Verheißung des Glaubens falsifizieren24. Daraus ergibt sich das Dilemma, wie historische Gewißheit, die immer nur Wahrscheinlichkeitscharakter haben kann, und Glaubensgewißheit miteinander zu verbinden sind. Die historische Forschung kann immer nur auf eine vieldeutige menschliche Geschichte treffen. Dieser Aporie entgeht Pannenberg allein dadurch, daß er behauptet, die Bedeutung sei jeweils der Tatsache immanent und darum der historischen Forschung zugänglich. So könne man die Offenbarung Gottes in der Geschichte mittels der Vernunft durch Wahrnehmung identifizieren25, wobei allerdings erst der universale Aspekt den Bedeutungsrahmen für die Interpretation der Tatsachen abgibt 26 . Es ist hier zu fragen, ob Pannenberg damit nicht letztlich ein „aristotelisches" Verständnis von Wirklichkeit und Wissenschaft voraussetzt, wonach die Geschehnisse ihr „Wesen" in sich tragen und aus sich selbst erheben lassen (s. o. S. 283 f.). Die von ihm angestrebte Vergewisserung des Glaubens ist keine Verifizierung auf der Grundlage historischempirischer Wissenschaft, sondern ein Rückschluß verfahren im Sinne holistischer Geschichtsphilosophie, welche die Vieldeutigkeit der menschlichen Wirklichkeit in ihrer erkenntnistheoretischen Problematik überspringt27. Es muß differenziert werden zwischen dem „extra m e " von Geschichtstatsachen, die immer vieldeutig sind, und dem „extra me" des gegenwärtigen Gottes, der sich mit dem gegenwärtigen Menschen durch seine Anrede in Beziehung setzt. Es gibt keine direkte Ableitungsmöglichkeit von einer Tatsache und ihrer Bedeutung auf ein gegenwärtiges Gegenüber Gottes. Wissen von personal-geschichtlicher Wirklichkeit setzt voraus, daß sie sich mir in einer Anrede offenbar macht. Sonst würde die Differenz von geschichtlicher und physikalisch-gegenständlicher Wirklichkeit übersehen. Hier zeigt es sich, daß die Auflösung des „Wortcharakters" der in der Bibel bezeugten Wirklichkeit Gottes zu einem naturalistischen Geschichtsverständnis führt, worauf auch die Kritik von Moltmann zielt (a.a.O., S. Ö9f.). Gegenwärtiges Wort und Geschichte, Offenbarung und Glaube sind nicht zu trennen. Durch den Versuch einer historischen Verifizierung der Auferstehung Jesu würde die Gewißheit des Glaubens, die sich nur im Umgang mit gegenwärtiger Wirklichkeit begründen kann, von Ungewisserem abgeleitet, nämlich von einem mit wissenschaftlichen Mitteln nicht verifizierbaren Ereignis der Vergangenheit. Gewißheit über die Auferstehung Jesu von den Toten ist nur da350

durch möglich, daß wir im Evangelium und im Zeugnis der Christenheit auf ihn als gegenwärtige Wirklichkeit treffen28. Auch ein Vorgriff in die Zukunft kann nur über gegenwärtige Wirklichkeit vermittelt sein. Wenn Moltmann bei der Zukunft ansetzt und die Zeiten in der Reihenfolge von Zukunft - Vergangenheit - Gegenwart anzuordnen versucht, spricht er damit von einer Möglichkeit Gottes, nicht von einer menschlichen Möglichkeit 29 . Gott ist nicht nur „vor uns" (a.a.O., S. 215), sondern auch hinter uns, bei uns, neben uns, außerhalb und durch die Kommunikation mit uns auch innerhalb unser; von allen Seiten kommt er auf uns zu und umgibt uns (Ps. 139). Er ist die alles menschliche Leben umgreifende Wirklichkeit. Unsere Antizipationen im Blick auf die Zukunft haben ihren Ort im Umgang mit der Wirklichkeit Gottes, wie sie sich uns im Evangelium als gegenwärtige erschließt. In ihr haben alle unsere Hoffnungen ihren Realitätsgrund, sonst werden sie zu Zukunftsbildern, in denen wir uns Hoffnung „machen". Die Verheißung der Zukunft Gottes bedeutet, daß die uns in der Gegenwart geschenkte Erfüllung in der Gemeinschaft mit Gott auch die endgültige Bestimmung unseres Lebens zum Ausdruck bringt 30 . Wir sind bereits jetzt mit dem unterwegs, der auch das Ziel unseres Lebens und der ganzen Welt ist. Eine futurische Eschatologie ist vielleicht in der Lage, das praktische Bewußtsein des geschichtlich Handelnden an Hoffnung zu orientieren, aber sie steht in Gefahr, den Ort des Menschen in gegenwärtiger Wirklichkeit zu überspringen, den er auch im Glauben nicht verlassen kann. U m den Glauben an Gott und das geschichtlich notwendige Handeln zur Veränderung der Welt zu verbinden, genügt nicht der gemeinsame „Nenner des kommenden Reiches Gottes" (a.a.O., S. 203). Es geht um die Fülle der Bezüge, durch welche der Glaube in das geschichtlich-soziale Feld eingeht 31 . Dabei ist gerade mittels der Werkzeuge empirischer Wissenschaft immer wieder zu überprüfen, was denn das eigentlich „notwendige Handeln" ist und welche Bedingungsverhältnisse mögliche Veränderungen voraussetzen und anderes mehr. Nur die Entdeckung der Gegenwart, in welcher wir als Glaubende stehen, kann zu den notwendigen Folgerungen führen 32 . Es war ein Mangel der dialektischen Theologie, daß sie das Verständnis von Geschichte nur punktuell zum Ausdruck bringen konnte. Für Bultmann fiel es mit dem individuellen Glaubensakt zusammen; für Barth blieb es wegen seines theologischen Deduktionalismus letztlich unentfaltet. Den fehlenden Bezug der dialektischen Theologie zum gegenwärtigen geschichtlich-sozialen Feld Heß Gogarten bereits in seinem die

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dialektische Epoche einleitenden Aufsatz „Zwischen den Zeiten" erkennen: die Gegenwart wird als ein „dazwischen" verstanden 33 . Diese Vorstellung wirkt auch in der futurischen Eschatologie von Moltmann und in der universalgeschichtlichen Konzeption von Pannenberg nach: Vergangenheits- und Zukunftsperspektive sind wieder Bezugspunkte theologischen Denkens geworden, aber die Gegenwart erscheint - wie im Historismus - nur als Durchgangspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft oder als Ort ihrer Verknüpfung 3 4 . W e n n auch beide betonen, daß sie in ihrer Theologie den Bezug zur Gegenwart suchen, so bleibt er doch von geschichtsphilosophischer Problematik überlagert. W i r „haben" nicht nur Gegenwart, sondern wir „stehen" auch in ihr: in der Gegenwart des ewigen Gottes in Jesus Christus durch das Evangelium und in der geschichtlich-sozialen-personalen Wirklichkeit, in der sich menschliches Leben, Denken und Handeln vollzieht. Weder der Rückblick in eine Vergangenheit, noch der Vorblick in eine Zukunft können uns sagen, was gegenwärtig ist. Theologie und empirische Wissenschaft treffen einander darin, daß sie auf die Gegenwart verweisen und die Erkenntnis- und Wahrheitsfrage in bezug auf die unmittelbare Wirklichkeit stellen, mit welcher der Mensch sich konfrontiert sieht. Die Gegenwart ist theologisch und empirisch Zugang zur menschlichen Geschichte und zur Geschichte Gottes mit den Menschen. Wirklichkeit im geschichtlichen Sinne gibt es für den Menschen letztlich nur als gegenwärtige. Alle theologische Reflexion hat teil an der personal-geschichtlich-sozialen Vermitteltheit, auch wenn sie sich darüber keine Rechenschaft gibt. Sie kommt bereits von gegenwärtiger Wirklichkeit her und erreicht diese nicht erst auf Grund von Deduktionen und Anwendungen. „Personal" meint hier die Ganzheitlichkeit der glaubenden Person, die auch in ihrem Denken und Verhalten zum Ausdruck kommt. Insofern kann theologisches Denken nie rein gegenständlich-instrumentalen Charakter haben. Es geht in ihm immer auch um existentielle Vermittlung des Glaubens, nicht einfach um objektive oder ontologisch-gegenständliche Aussagen. Die Wahrheit, auf die sich der Glaube im Denken bezieht, hat es mit dem ganzen Menschen zu tun. „Geschichtlich-sozial" meint den Standort des Glaubenden und theologisch Reflektierenden in der geschichtlich-sozialen Welt, den er an keinem Punkt verlassen kann. Offenbarung kann als Geschehen im Glauben nicht von dem Beziehungsverhältnis zwischen dem in Christus gegenwärtigen Gott und dem angeredeten Menschen in seinen personalen und geschichtlich-sozialen Bezügen abgelöst werden.

Daß wir nicht hinter den Glauben zurücktragen können, bedeutet für das Verhältnis von Theologie und empirischer Wissenschaft, daß eine Identi352

fizierung von Gottes Wirken und geschichtlich-sozialen Tatbeständen auf Grund empirischer Untersuchungen oder theologischer Deduktionen nicht möglich ist. Dieses meint keine „Immunisierung" theologischer Aussagen gegenüber Verfahrensweisen kritischer Prüfung, sondern eine radikalere Infragestellung, als sie die „kritische Vernunft" gegenüber dem Glauben geltend machen könnte 35 . Der Glaube sieht sich ganz auf die Verifikation durch Gott angewiesen und findet den Grund nicht in sich selber, auch nicht in theologischen „Immunisierungsstrategien". Damit wird aber zugleich der Anspruch abgewehrt, daß sich die Vernunft zum letzten Maßstab für die Wirklichkeit Gottes machen kann. Wenn Albert behauptet, daß der Glaube an die Existenz Gottes nur in den gescheiterten und überwundenen Theorien eines vorwissenschaftlichen Weltbildes eine Rolle gespielt habe und daher mit diesen zusammen aufgegeben werden müsse36, zieht er aus der modernen Wissenschaft Konsequenzen, die weder dem biblischen Zeugnis von Gott gerecht werden, noch von der Erkenntnistheorie empirischer Wissenschaften her legitimiert sind. Daß man Gott nicht zum Lückenbüßer oder zur Arbeitshypothese in philosophischen oder wissenschaftlichen Systemen machen kann, wie es in der Tradition aristotelischer Metaphysik immer wieder versucht wurde (s. o. S. 284), dürfte heute selbstverständlich sein. In der Bibel gibt es für solche Bemühungen keine Anhaltspunkte. Es läßt sich göttliche Wirklichkeit, die alle menschliche Wirklichkeit umgreift, nicht als „Bestandteil" von Erklärungstheorien ausweisen. Andererseits bedeutet die Falsifizierung von Theorien, in denen die „Hypothese" Gott und ihr weltanschaulicher Kontext eine Funktion hatten, nicht die Falsifizierung der Existenz Gottes als solcher, sondern nur bestimmter Gottesvorstellungen. Wenn Albert von einer wissenschaftlichen Theorie her globale Aussagen über die Existenz von Wirklichkeit als ganzer deduzieren will, können wir das nur so verstehen, daß hier die „kritische" oder „sokratische" Vernunft in einen dogmatischen Rationalismus umschlägt, der über Sein und Nichtsein urteilen will 37 . Damit gerät Albert in Widerspruch zu seinem eigenen erkenntnistheoretischen Ansatz. Hier zeigen sich die Folgen dessen, daß er Wissenschaft als neue philosophische Denkweise verstehen will (s. o. S. 294). Wissenschaftliches Denken ist für ihn letztlich nur mit einem weltanschaulichen Atheismus vereinbar 38 . Es müßte aber ein solches wissenschaftliches Verfahren erst noch erfunden werden, mit dessen Hilfe sich derartige globale Aussagen über die Existenz aller göttlichen und menschlichen Wirklichkeit deduzieren ließen. In der empirischen Wissenschaf t gibt es ein solches jedenfalls nicht (s. o. S. 287fF.). Sie bewegt sich in der phänomenalen Wirklichkeit, macht Existenzannahmen nur über bestimmte, begrenzte Tatbestände und differenziert 353

kritisch zwischen den verschiedenen Prozessen, auf welche sich die Theorien beziehen. Die Wirklichkeit hat sich nicht unseren Vorstellungen zu fügen, sondern unsere Vorstellungen haben sich ständig neu an ihr korrigieren zu lassen. Wie die Gewißheit hinsichtlich der Wirklichkeit dessen, was in den empirischen Wissenschaften erforscht wird, im Umgang mit derselben erfahren wird, so kann die Gewißheit, von welcher letztlich alle christliche Theologie herkommt, sich nur im Umgang mit der Wirklichkeit selbst begründen. Sie kann diese aufweisen, aber nicht beweisen. Auch die Vernunft kann nur ihr begegnende Wirklichkeit denken. Das bedeutet für die Theologie, daß sie nur Aussagen machen kann auf Grund der ihr durch den Glauben erschlossenen Wirklichkeit. Insofern deckt gerade die empirische Wissenschaft den Wagnischarakter des Glaubens auf und verhindert damit, daß Glauben als Wissen eingeführt wird oder sich von solchem abzuleiten versucht. Gott kann nur sein eigener Zeuge sein (vgl. R o m . 8, 16; I. Kor. 2, ioff.). Das bedingt die Angefochtenheit, aber gleichzeitig auch die Gewißheit des Glaubens. Diese beruht allein in der Zuverlässigkeit der im Glauben angetroffenen Wirklichkeit, in der Treue Gottes, in der er sich immer wieder als gegenwärtiger in der menschlichen Geschichte finden läßt. Gerade darin, daß theologische Systeme und Theorien ständig an Gott scheitern, erweist er sich als W i r k lichkeit.

b) Theologie im Lichte empirischer und philosophischer Ideologiekritik Alle Theologie hat es mit dem Beziehungsverhältnis zwischen dem in der Geschichte Israels und Jesu von Nazareth sich offenbarenden Gott und dem angeredeten geschichtlichen Menschen zu tun. Sie hat keine M ö g lichkeit, sich über diese Beziehung zu erheben und an ihre Stelle ein zeitloses normatives Kriterium zu setzen, mittels dessen ihr die Identität der Wirklichkeit verfügbar würde. In der Überspringung ihrer personalgeschichtlich-sozialen Vermitteltheit würde sie in die Nachbarschaft von Ideologien und Weltanschauungen rücken. Sie hat im Gegenteil die A u f gabe, den Zugang zur Geschichte Gottes mit den Menschen offen zu halten. Daraus ergibt sich für sie ein Interesse am Gespräch mit den Wissenschaften, welche dem ideologischen Zugriff des Menschen wehren, der sich im Denken und Handeln der geschichtlich-sozialen Lebenswelt zu bemächtigen versucht. Das Problem der Ideologiekritik hat die sozialwissenschaftliche Diskussion von ihrem Ursprung her begleitet und ist bis heute ein Ort der 354

Konfrontation und Auseinandersetzung zwischen Sozialwissenschaften und Theologie geblieben39. Da jedoch die Begriffe „Ideologie" und „Ideologiekritik" zu Schlagwörtern geworden sind, deren sich die verschiedensten Richtungen bedienen40, ist zunächst nach ihrem Bedeutungsgehalt zu fragen. Zwar ist die Diskussion um die Definition des Ideologiebegriffs bis heute noch nicht abgeschlossen, aber im Zusammenhang empirischer Wissenschaften dürfte für ihn doch allgemein die NichtUnterschiedenheit von Erkennen und Werten und die daraus sich ergebende Problematik kennzeichnend sein. Topitsch sieht als einen „Angelpunkt des Ideologieproblemes" das Verhältnis von Erkennen und Werten, wie es sich vom modernen Wissenschaftsbegriff her stellt. Eine ideologische Aussage ist ein Werturteil, das als Tatsachenaussage auftritt, um desto größere Geltung beanspruchen zu können 41 . Wie wir bereits darstellten, steht für Topitsch das Ideologieproblem im Z u sammenhang der Welt- und Selbstinterpretationen des Mythos und der theologischen und philosophischen Metaphysik (s. o. S. 252). In diesen Deutungen wird jeweils ein Wertsystem als universales Erklärungsprinzip in die Geschichte, die Gesellschaft und den Kosmos projiziert und von daher als absolute normative Ordnung auf das menschliche Zusammenleben zurückbezogen42. Die Ideologie ist auf diesem Hintergrund eine Verlängerung archaisch-mythischen Denkens in einer Zeit, in welcher dessen Voraussetzungen angesichts des modernen Wissenschaftsverständnisses nicht mehr haltbar und in ihrer Nichtigkeit durchschaubar sind43. Das ideologische Denken ist dadurch gekennzeichnet, daß es die Begriffe der alten werthaften Welt- und Selbstinterpretationen gebraucht, die doch im Zuge der Auflösung der Konzeption der Welt als normativer Ordnung längst ihres ursprünglichen Erfahrungsinhaltes beraubt sind44. So entstehen Komplexe von Leerformeln, die keinen Bezug zu wirklichen Sachverhalten mehr haben, sich jeder empirischen Nachprüfbarkeit entziehen und daher inhaltlich manipulierbar sind. Das eigentliche Problem dieser Leerformeln, die Topitsch als „Bereich ideologischen Denkens im weiteren Sinne" bezeichnet (Sozialphilosophie, S. 41), liegt darin, daß man von ihnen globale Erklärungstheorien und normative Systeme mit dem Anspruch auf absolute Geltung ableitet, während sie in Wirklichkeit mit jedem beliebigen Sachverhalt und jeder beliebigen Ordnung vereinbar sind45. Topitsch ist der Meinung, daß sich das Ideologieproblem als NichtUnterschiedenheit von Erkennen und Werten, Wirklichkeit und Begriff erst vom modernen Wissenschaftsverständnis her stellt, während im archaisch-mythischen und metaphysischen Denken beides identisch ist 355

(vgl. Leerformeln, S. 234t.; Sozialphilosophie, S. 31 und 41). Jedoch muß man demgegenüber sagen, daß bereits in der Bibel die Kritik an der theologischen Gestalt ideologischen Denkens gegeben ist, wenn dieser Tatbestand auch häufig verdeckt worden ist, nicht zuletzt durch das „geistliche Bildungsmonopol", dessen Beseitigung Topitsch als die geschichtliche Voraussetzung jener Differenz ansieht46. Letztlich kann man „Ideologie" als ein bestimmtes Verhalten verstehen, das sowohl im erkennenden als auch im handelnden Umgang mit der Wirklichkeit Ausdruck findet. Es geht um ein erkenntnistheoretisches Problem mit ethischen Implikationen. Gemeint ist ein Verhalten, das die Wirklichkeit durch „Bilder" erklären und allgemein gültig normieren will 47 . Da die Wirklichkeit im Bild aufgehoben wird, läßt sich die Frage nach ihr nicht mehr stellen. Dementsprechend könnte man „ideologisches Denken" dadurch definieren, daß ihm die kritische Verantwortung vor der wahrgenommenen personal-geschichtlich-sozialen Wirklichkeit fehlt. Es wird in dieser Definition offen gelassen, ob nicht doch im Verborgenen Wahrnehmung stattfindet, aber der Akzent liegt darauf, daß ein solches Denken meint, daß es sich vor der Wahrnehmung geschichtlicher Wirklichkeit nicht zu verantworten braucht. Es lebt zwar in ständigem Zugriff auf diese Wirklichkeit und nimmt auf sie Bezug, insofern sie Material für die normativen Systeme und Ableitungen liefert, aber die Wirklichkeit selbst wird dabei nicht zum Erkenntnisproblem, zum Ort der Wahrheitsfrage, zum kritischen Rückbezug des Denkens. Insofern es in der „Ideologiekritik" um die Ablehnung von Geschichts-, Gesellschafts- und Menschenbildern geht, die sich an die Stelle der Wirklichkeit setzen und diese - im Sinne archaischer Magie - zu beherrschen beanspruchen, finden wir die Ablehnung solchen Denkens und Handelns bereits im Alten Testament in der Kritik der Propheten an den Versuchen der Sicherung durch ein kultisches oder heilsgeschichtliches Normensystem, das die wirklichen Vorgänge verdeckt, wie sie sich im sozialen Verhalten der Menschen untereinander und in ihrem Verhältnis zu Gott abspielen48. Wenn Topitsch beispielsweise die inhaltliche Manipulierbarkeit des Gedankens vom göttlichen Heilsplan und seine Funktion als Legitimierung verschiedenster gesellschaftlicher Verhältnisse ideologiekritisch beleuchtet49, so muß man sehen, daß in der Bibel selbst die Versuche des Menschen aufgedeckt werden, die Geschichte Gottes mit den Menschen als Deutungs- und Legitimationsprinzip zu verwenden und für seine Ziele zu manipulieren (vgl. z. B . Am. 5, i8ff.; Hos. 6, iff.). Der „ideologische Umgang mit der Wirklichkeit" findet seine theologische Zuspitzung gerade darin, daß der Mensch es unternimmt, sich der Wirklichkeit Gottes zu bemächtigen und ein Gottesbild an die Stelle der Be-

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ziehung zum lebendigen gegenwärtigen Gott zu setzen50. Darum vollzieht sich in der Bibel in der Abwehr eines normativen Zugriffes auf die Wirklichkeit des Menschen und die von daher deduzierten Menschenund Geschichtsbilder gleichzeitig Kritik an einem normativen Zugriff auf die Wirklichkeit Gottes und die von daher deduzierten Gottesbilder. Einer der Hauptunterschiede Israels gegenüber der Welt der Religionen besteht in seinem „Wissen um die Bilderwand, die die Menschen zwischen sich und Gott aufrichten". Im Kampf gegen diese Bilder hat es sich „sein Wissen um den lebendigen Gott erhalten" (v. Rad, AT-Theol., II, S. 351). Die urchristliche Gemeinde verstand das Handeln Gottes in Jesus als Gericht über die sich theologisch begründenden Normen und Bilder, welche an die Stelle der Wirklichkeit Gottes und des Menschen treten (vgl. z. B . Rom. 10, 3 f f ; Matth. 21, 28ff.; Joh. 8, 3off). Darum geht es in der Auseinandersetzung Jesu und der urchristlichen Gemeinde mit dem Gesetzesverständnis des Spätjudentums und seiner Auslegung des Alten Testamentes. Die Theologie des Spätjudentums erscheint hier als Beispiel einer Denkweise, die von bestimmten Voraussetzungen her Normen deduziert, mittels deren die Wirklichkeit geordnet und klassifiziert werden soll. Die Auslegung des Alten Testamentes im Neuen erfolgt mit der Intention, daß auf vergangene Geschichte zurückgegriffen wird, weil sie das erhellt, was sich in gegenwärtiger Geschichte vollzieht, und daß umgekehrt der Vollzug gegenwärtiger Geschichte vergangene Geschichte besser verstehen lehrt. Es besteht hier ein wechselseitiges Beziehungsverhältnis im Erkenntnisvollzug, kein Ableitungsverhältnis51. Die Beschäftigung des Spätjudentums mit dem Alten Testament dagegen konzentrierte sich gerade darauf, von ihm zeitlose theologische Verstehens- und Handlungsnormen zu deduzieren, die als Kriterium der Beurteilung gegenwärtiger Geschichte dienen sollten52. Es zeigt sich darin, wie methodische Gesichtspunkte der Auslegung der Schrift sich auswirken im Umgang mit gegenwärtiger Wirklichkeit. Verbunden mit der normativen Deduktion ist eine Fixierung des Verhaltens. Die Fragestellungen dieses „normierenden" Denkens ergeben sich aus dem Versuch, die vorgefundene Wirklichkeit dem deduzierten Normensystem einzupassen. Ein solches Denken weiß bereits über die Wirklichkeit Bescheid, bevor es ihr begegnet. Es berücksichtigt nicht die jeweiligen Zusammenhänge in der Wirklichkeit und beruft sich dabei auf das Alte Testament, obgleich gerade dieses keine Legitimation dazu bietet 53 . So wird z. B . das Sabbatgebot ungeschichtlich und unalttestamentlich als absolute Norm betrachtet, die das Verständnis für den konkreten Men357

sehen in seiner Wirklichkeit verstellt (vgl. Mark. 3, iff. par.; Joh. 5, i f f . ; 9, i3iF.). Dem mangelnden Wirklichkeitsbezug im Erkennen entspricht die soziale Kontaktlosigkeit, die um der Frömmigkeit willen gefordert wird 64 . Die Hinwendung zur menschlichen Wirklichkeit und die Teilhabe an ihr wird verdächtigt, da sie von der Konzentration auf die rechte Gottesverehrung ablenkt. Das normative Denken findet seine theologische Begründung gerade darin, daß es Gott die Ehre geben will, indem es allein nach ihm fragt und nicht nach den Nöten der Menschen (vgl. Luk. 13, 14fr.; Matth. 23, 23fr). So entfaltet sich diese Theologie als Offenbarungs- und Gesetzeswissenschaft, welche die allgemein gültigen Regeln aufzeigt, vor denen sich frommes Denken und Handeln ausweisen muß. Es stützt sich auf die Offenbarung und die Tradition und damit auf Gott, um die eigenen Gedanken als ein System religiöser Begriffe und Vorschriften an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen. Das Neue Testament sieht dieses Denken dadurch charakterisiert, daß es ständig versucht, der Wirklichkeit sein Gesetz aufzuerlegen. Es ist unablässig bestrebt, zu urteilen, zu beurteilen, einzuordnen, zu werten und zu richten, ohne aber wahrzunehmen, was sich in der gegenwärtigen Wirklichkeit vollzieht (vgl. Matth. 23, 4; Luk. 12, 54ff.; Joh. 9, 1 ff.). Dieses gilt sowohl im Blick auf die Wirklichkeit des Menschen als auch im Blick auf die Wirklichkeit Gottes, insofern das normierende Denken über die Kriterien zu verfügen meint, um Gottes Handeln in der Gegenwart erkennen und beurteilen zu können. Der Anruf Gottes in der Gestalt Jesu von Nazareth wird nicht gehört, weil er den Bildern nicht entspricht, die man von der Tradition her für das zukünftige Heilshandeln Gottes abgeleitet hatte (vgl. Matth. 1 1 , 1 9 ) 5 5 . Kennzeichnend für dieses Denken ist die Verquickung von Wahrheitsund Ordnungsproblematik. Ein vorgegebenes Ordnungsschema steckt den Bereich ab, in welchem die Wahrheitsfrage gestellt werden darf. Die Evangelien zeigen immer wieder Beispiele für die typische Frageweise einer Theologie der Ordnung und der Rangordnung 56 . Wirklichkeit und Nicht-Wirklichkeit entscheiden sich daran, ob etwas in die vorgegebenen Ordnungskategorien hineinpaßt oder nicht. Person und Botschaft Jesu waren nach dem Zeugnis des Neuen Testaments für die spätjüdische Theologie keine eigentlich theologische Frage, keine Wahrheitsfrage, sondern ein Ordnungsproblem. Er bedeutete eine Verunsicherung kirchlicher Normen, eine Gefahr für die Geschlossenheit kirchlicher Ordnung und damit ein Ärgernis für die kirchliche Öffentlichkeit 57 . Auf diesen Hintergrund spätjüdischer Sozialtheologie wird der Weg Jesu eingezeichnet als Weg in die von dem Ordnungsschema ausgeklam358

merte Wirklichkeit, nicht um sie in das Ordnungsschema hineinzuholen, sondern um ihr die Gegenwart Gottes zu bringen und damit die Wahrheit und die Erlösung als Wirklichkeit 58 . An die Stelle der Frage nach der rettenden Norm und Ordnung tritt die Frage nach der Wirklichkeit und Wahrheit, vor der die Nichtigkeit dieser Ordnungen enthüllt wird. Sie verdecken letztlich beides: die sündige und dem Tode verfallene ohnmächtige Wirklichkeit des Menschen, aber auch die erlösende Gegenwart Gottes, wie sie im Glauben als Wirklichkeit wahrgenommen wird, sich aber nicht vor theologischen Normen ausweisen läßt. Die Verkündigung Jesu sagt deutlich, daß die Normen, die das Wesen der rechten Gottesverehrung, des Gehorsams, der Liebe usw. definieren sollen, trotz ihrer Ableitung aus dem Alten Testament nicht dem göttlichen Willen entsprechen, sondern menschliche Normen sind, welche die rechte Frage nach Gott gerade verhindern (vgl. z. B . Matth. 15, 2 ff".; Luk. 1 1 , 39fr.). In entsprechender Weise hat Paulus die Versuche der Selbstbehauptung und Selbstbegründung des Menschen im Gesetz als die eigentliche Sünde aufgedeckt angesichts des Gottes, der allein Gerechtigkeit und Leben schenken kann 59 . Es geht in der Auseinandersetzung des Evangeliums mit dem normierenden Denken um die Wahrheitsfrage, die es gleichzeitig mit der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit des Menschen zu tun hat. Darum setzt das Neue Testament die Aufforderung zur Wahrnehmung gegenwärtiger Wirklichkeit Gottes in Jesus und zur Wahrnehmung gegenwärtiger menschlicher Wirklichkeit in Beziehung zueinander (vgl. z. B . Joh. 9, iff.). Darin kommt zum Ausdruck, daß Gott sich in seinem erlösenden Handeln auf die Wirklichkeit beziehen will und nicht auf eine Scheinwirklichkeit, auf den konkreten Menschen in seiner Situation und nicht auf ein theologisches Bild von ihm, auf Vorgänge in der Geschichte und nicht auf zeitlose Normen. Damit wird gleichzeitig einem Denken gewehrt, das Wirklichkeit als Nicht-Wirklichkeit behandelt, auch wenn es sich in theologischen und kirchlichen Normen zu begründen versucht. Der Aufruf zum Glauben ist unablösbar auf die Wahrnehmung geschichtlicher Vorgänge bezogen. Auf die Frage nach dem Kommen des Messias wird auf gegenwärtige Ereignisse verwiesen, in denen sich das Heilsgeschehen der messianischen Zeit vor aller Augen und Ohren vollzieht (vgl. Matth. 1 1 , 2ff.-, Joh. 1, 45ff.). In der Frage nach dem Verständnis der prophetischen Botschaft des Alten Testamentes wird Bezug genommen auf das, was sich zwischen den Pharisäern als Interpreten des Alten Testamentes und Jesus als gegenwärtigem Zeugen Gottes abspielt60. Auf die Frage nach dem Nächsten wird dem, der fragt, ein konkreter, für jeden einsehbarer Vorgang gezeigt, in welchem ihm der Nächste begeg359

net (vgl. Luk. 10, 2 9 S ) . So wird auch die Erfüllung des Sabbatgebotes in ihrer Relativität gegenüber der Verantwortung vor dem konkreten Nächsten in seiner Situation aufgedeckt (Mark. 2, 27f.; 3, 4). Damit wird die „Forderung der sehenden Liebe" der Forderung „blinden Gehorsams" gegenübergestellt81. Wenn Albert auf das Problem hinweist, daß die Kirchen vielfach blinden Gehorsam und totales Engagement zu obersten Tugenden erhoben haben (Traktat, S. 6, 99), so muß man bedenken, daß diese „Tugenden" nicht erst im Lichte des Ideals kritischer Rationalität fragwürdig geworden sind, sondern bereits im Lichte der Verkündigung Jesu. Der Glaube steht der Wahrnehmung wirklicher Geschichte nicht im Wege, sondern fordert sie im Gegenteil. Das spätjüdische Denken trifft in diesem Zusammenhang der Vorwurf blinden Urteilens (vgl. Joh. 9, 39f.; Luk. 12, 56). Das aber bedeutet nicht, daß mit dem Glauben notwendig eine richtige Wahrnehmung von geschichtlicher Wirklichkeit gegeben sei. Damit würde man Glaube und Wahrnehmung in ein automatisches Verhältnis zueinander setzen und ignorieren, daß sie nach dem Neuen Testament einander durch die menschliche Person vermittelt sind, die glaubt und wahrnimmt. Genausowenig, wie aus dem Geschenk des Glaubens gefolgert werden kann, daß der Mensch sein Denken und Handeln nicht mehr kritisch zu verantworten habe, ist die Wahrnehmung wirklichen Geschehens mit dem Glauben als solchem gegeben, sondern sie ist durch den Glauben gerade aufgegeben. Wenn es auch verfehlt wäre, eine Differenzierung zwischen Wahrnehmen und Werten im Sinne moderner Wissenschaftstheorie in die Bibel hineinzulesen, so ist es doch deutlich, daß hier unter Voraussetzung des Glaubens das Wissen um die Differenz von Wirklichkeit und Norm, Erkenntnis und Wertung, Wahrheit und Ordnung, Geschehen und Bild, Offenbarung und Theologie, Wirklichkeit und Begriff vorhanden ist. Dieses hat seinen Grund nicht in „empirisch-rationaler Erklärung" 62 , sondern im Glauben, daß Gott den Menschen als ganzen, das ist auch mit seiner Vernunft und seinem Wahrnehmungsvermögen, in eine Geschichte hineinruft 63 . Innerhalb der Geschichte Gottes mit den Menschen haben auch Normen, Ordnungen, Bilder ihre Bedeutung (s. u. S. 370 und 385), aber sie werden immer wieder von dieser Geschichte selber überholt, eben weil es um die Beziehung zu Gott geht, nicht um Wertsysteme, Weltbilder usw. Darum ist die Theologie von der biblischen Geschichte selbst her aufgefordert, das Urteilen an der Wahrnehmung, Vorstellungen am Geschehen, Begriffe an der Wirklichkeit zu orientieren, nicht aber, wie es sich immer wieder als Gefahr allen theologischen Denkens erwiesen hat, das Wahrnehmen im Urteilen, die Wirklichkeit im Begriff aufzuheben. 360

Insofern Topitsch mit seiner Theorie von den Leerformeln, in welcher die Ideologieproblematik derzeit eine ihrer wesentlichsten Zuspitzungen erfährt, die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit und die Ablehnung „leerer Wortfassaden" meint (vgl. Leerformeln, S. 236), handelt es sich dabei um ein zentrales Problem biblischer Hermeneutik. Eine BegrifFsmetaphysik ist unvereinbar mit dem Evangelium. Es sind nicht die biblischen Begriffe, welche die Gemeinde des alten und neuen Bundes von ihrer Umwelt unterscheiden, sondern der Rückbezug dieser Begriffe auf bestimmte geschichtliche Vorgänge, in welchen sich Gottes Handeln mit dem Menschen vollzieht (s. o. S. 34öf.). Die Bibel teilt die Begriffe ihrer Umwelt, auch die religiösen, mythischen, weltanschaulichen, politischen, und bezieht sich darin auf die Problemstellungen ihrer Zeit, die mit diesen Begriffen ausgesagt werden. Aber sie braucht sie, um die Geschichte Gottes mit den Menschen in der Geschichte Israels, Jesu von Nazareth und seiner Gemeinde zur Sprache zu bringen64. Damit löst sie die Begriffe von ihren Identifikationen mit den Bildern, „operationalisiert" sie und braucht sie approximativ in bezug zur Wirklichkeit Gottes in der menschlichen Wirklichkeit. Die Vielfalt der Begriffe, die von den biblischen Autoren zur Bezeugung des Heilshandelns Gottes gebraucht werden, weist darauf hin, daß keiner dieser Begriffe eine zeitlose Verstehensnorm für das Handeln Gottes bieten kann. Im Lichte der Begegnung Gottes mit geschichtlichen Menschen werden sie in jeder Zeit und Umwelt aufs neue reflektiert. Das, was Topitsch als Grundformen archaischen Denkens kennzeichnet, gilt daher nicht für das biblische Denken, das zwar dieselben Begriffe, aber in anderer Intention braucht, immer im Durchbruch zur geschichtlichen Wahrheit und Wirklichkeit, nicht aber im Bestreben, eine religiöse Erklärungstheorie des Universums zu geben und von dieser absolute Normen zu deduzieren, die das Verhalten zu Gott und untereinander ein für allemal ordnen 85 . Die „soziomorphen" Projektionen und Gottesbilder werden immer wieder zerschlagen, kultische Formeln, normative Vorschriften, theologische Begriffe werden als „leere Wortfassaden" enthüllt, sofern sie nicht bezogen sind auf das gegenwärtige Handeln Gottes in Christus und vor dieser begegnenden Wirklichkeit verantwortet werden. Alles theologische Denken steht in Gefahr, zur „Leerformel" zu werden, wenn es sich nicht ständig Rechenschaft gibt über den Rückbezug theologischer Aussagen auf die konkrete Wirklichkeit der Zuwendung Gottes zum Menschen. Mit Recht weist Topitsch auf die Schwierigkeiten hin, welche der Theologie durch die schrittweise Entleerung des Gottesbegriffes von den anthropomorphen Vorstellungen des Mythos über die verschiedenen Formen der Theologia negativa bis 361

zum Rückzug auf so vage Formulierungen wie „das Absolute" oder „das Sein" erwachsen sind (Leerformeln, S. 24ifF.). Die Richtung, in welcher eine Antwort auf diese Frage zu suchen ist, hat bereits Pascal gegeben, indem er gegenüber dem abstrakten „Gott der Philosophen" auf den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" und auf Jesus Christus verwies 66 . Die Theologie wird „leer", wenn sie den Zusammenhang mit der in der Bibel bezeugten Geschichte Gottes mit den Menschen aufgibt, wie sie sich in der Gegenwart fortsetzen will. Aber es gibt auch einen „leeren" Gebrauch des Begriffes „Leerformel", wenn nämlich alles, was mit den eigenen Denkvoraussetzungen nicht übereinstimmt, die man als die moderne Wissenschaftstheorie hinstellt, global zur Nichtwirklichkeit erklärt wird (vgl. Topitsch, Leerformeln, S. 242; Ursprung, S. 3of.). Wenn Ideologiekritik impliziert, daß als „wirklich" nur angesehen werden kann, was mittels wissenschaftlicher Methodik verifizierbar ist, erscheint diese Ideologiekritik und das ihr zugrundeliegende Wissenschaftsverständnis vom Standpunkt christlichen Glaubens selbst als eine Ideologie. In einem solchen Wissenschaftsverständnis vollzieht sich letztlich dasselbe wie in philosophischer Metaphysik: der Mensch meint, die Wirklichkeit zu erkennen, während er doch nur jeweils diese oder jene Vorgänge in der Wirklichkeit analysiert. So schlägt ein solches Wissenschaftsverständnis notwendig um in eine Metaphysik der Erkenntnistheorie und wissenschaftlichen Methodik, die an die Stelle einer Metaphysik der Geschichte und der Gesellschaft tritt mit dem Anspruch, das letzte Kriterium der Wirklichkeit zu besitzen. Topitsch verläßt in seinen wissenschaftstheoretischen Erörterungen trotz aller gegenteiligen Versicherungen die Weltanschauungsproblematik nicht. So sehr seine Theorie von den Leerformeln die Diskussion angeregt hat, steht sie doch hier im Zusammenhang einer positivistischen Auffassung der Wirklichkeit, welche den Unterschied zwischen empirischer Wissenschaft und philosophischer Aufklärung verwischt. Ideologiekritik vollzieht sich bei ihm als Reduktion der Wirklichkeit auf psychologische und soziologische Sachverhalte67. Begriffe wie „psychologisch", „soziologisch", „wissenschaftslogisch", „wissenschaftstheoretisch" werden gebraucht, um eine globale Erklärungstheorie von menschlicher Wirklichkeit zu begründen, welche die Voraussetzungen empirischer Forschung unzulässig verallgemeinert. Die Verschiedenartigkeit des erkenntnistheoretischen Zuganges in empirischer Wissenschaft, Kultur- und Naturwissenschaft wird nicht beachtet. Die Entstehung religiöser und kultureller Phänomene wird aus psychologischen und sozio362

logischen Vorgängen „erklärt", indem Feststellungen der Psychologie lind Soziologie auf vergangene Entwicklungen zurückprojiziert und als deren Ursache verstanden werden68. Eine empirische Psychologie kann nur feststellen, daß bestimmte religiöse Phänomene nicht ohne Zusammenhang mit psychologischen Faktoren zu verstehen sind, aber sie würde sie nicht auf diese Faktoren zurückführen69. Im Sinne von Lewin und Metzger verwechselt oder vermischt Topitsch die genetische mit der erkenntnistheoretischen Frage 70 . Damit wird der Anspruch philosophischer Metaphysik, durch Zurückführbarkeit oder Nicht-Zurückführbarkeit auf bestimmte Voraussetzungen über Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit zu entscheiden, auf die Wissenschaftstheorie übertragen (vgl. dazu Metzger, a.a.O., S. 9). Aber gerade diesen Anspruch erhebt die Psychologie als empirische Wissenschaft nicht, sondern lehnt ihn von ihrer erkenntnistheoretischen Grundlage her als Psychologismus ab 7 1 . Damit erweist sich aber die Berufung auf die moderne Wissenschaftstheorie gegenüber den Leerformeln von Theologie und Philosophie als Ausdruck eines dogmatischen Rationalismus, der allein das „wissenschaftlich" Verifizierbare für wirklich hält72. Die Bedeutung der Theorie von den Leerformeln sehen wir darin, daß sie das Verhältnis von Begriff" und Wirklichkeit neu zur Diskussion gestellt hat und sich gegen eine Weise der wissenschaftlichen Arbeit wendet, welche den Empiriebezug nicht kritisch mitreflektiert. Die breite Aufnahme der Anregung von Topitsch zeigt die Notwendigkeit des kritischen Rückbezuges wissenschaftlichen Denkens auf empirische Sachverhalte73. Es wird aber dabei leicht übersehen, daß sich die Frage des Empiriebezuges in den verschiedenen Wissenschaften verschieden stellt74. Gerade in der Uberspringung dieses Unterschiedes sehen wir eine der Ursachen für einen „leeren" Gebrauch des Begriffes „Leerformel". Sie kann zu einem bequemen Mittel werden, die Fragestellungen, die man subjektiv nicht nachvollziehen kann, pauschal zur Ideologie zu erklären. Wenn es in den empirischen Wissenschaften um die Lösung von Problemen geht, wie sie sich aus dem Umgang des Menschen mit der geschichtlichen Wirklichkeit ergeben, vollzieht sich in ihnen immer auch Ideologiekritik am konkreten Ort. So könnte man die Leerformeln als „PauschalbegrifFe" bezeichnen, welche sehr verschiedenartige Probleme in sich bergen, ohne daß man sich in ihrer Anwendung darüber Rechenschaft gibt. Es würde sich dann nicht nur die Aufgabe stellen, die Pauschalbegriffe in ihrer „Leerheit" zu entlarven, sondern auch die in ihnen enthaltenen Problemstellungen zu identifizieren und zu differenzieren und die jeweils relevanten zur Diskussion zu stellen und einer besseren Lösung zuzuführen75.

363

Die Überwindung ideologischer Systeme vollzieht sich am besten durch den weiteren Ausbau empirischer Wissenschaften, nicht aber durch eine Ideologiekritik im Verständnis von Topitsch, welche psychologische und soziologische Sachverhalte als Erklärungsprinzip auf die ganze menschliche Wirklichkeit anwendet. Trotz aller Verweise auf notwendig zu stellende Probleme bleibt sein Ansatz doch innerhalb der Ideologiediskussion des 19. Jahrhunderts. Er bringt eine neue Variante einer Reduktionstheorie der Wirklichkeit, der sich mit demselben Recht eine andere gegenüberstellen läßt. Hans Barth kennzeichnet die Situation solcher Ideologiekritik in seinem Buch über die Geschichte der Ideologien des 19. Jahrhunderts folgendermaßen: „ W e r v o n Ideologie spricht, versucht eine gegnerische geistige oder politische Dimension zu entwerten, indem er sie als Standort- und interessebedingte Perspektive nachzuweisen trachtet. Gleichzeitig unternimmt er es, die eigenen Aspekte und Haltungen v o r dem Forum der Vernunft als allgemeinverbindlich zu legitimieren. Diese erste Stufe der ideologischen D e nunziation ist aber rasch überschritten. Denn die angegriffene Seite kann mit den gleichen Argumenten die Position ihres Widerparts der Ideologiehaftigkeit bezichtigen und ihr mit dem Einwand, sie sei selbst bloß eine ungerechtfertigte Rationalisierung eines subjektiven Vorurteils, begegnen" (Wahrheit, S.9f.).

Es ist darum notwendig, zwischen einer philosophischen Ideologiekritik, wie sie Topitsch fordert, und einer empirischen Ideologiekritik zu unterscheiden. Unter empirischer Ideologiekritik verstehen wir Kritik an Aussagen über geschichtlich-soziale Zusammenhänge, welche die von den empirischen Wissenschaften aufgewiesenen Wirkzusammenhänge nicht berücksichtigen. Dabei wird vorausgesetzt, daß das Verhalten des Menschen von persönlichen Überzeugungen und Intentionen geleitet wird, die nicht einfach Funktion der von den empirischen Wissenschaften ermittelten Gesetzmäßigkeiten sind (s. u. S. 389L). Das Ideologieproblem stellt sich in der empirischen Wissenschaft anders als im philosophischen Bezugsrahmen. Dieses wird in Deutschland weithin durch die Geschichte der philosophischen und politischen Ideologieproblematik verdeckt. Ideologien entfalten sich hier meist als „totale Philosophien", welche jeweils von ihren Voraussetzungen her die menschliche Wirklichkeit monokausal erklären und den Anspruch erheben, von daher die Normen ihrer Gestaltung ableiten zu können. Sie implizieren zumeist den Anspruch auf eine universale Erkenntnistheorie 76 . Eine solche liegt auch in der Ideologiekritik von Topitsch vor. Sie bleibt damit dem Zirkelverfahren verhaftet, wie es Barth als typisch für die Ideologiediskussion des 19. Jahrhunderts beschreibt, und zeigt damit das 364

Dilemma der deutschen Situation, das nur durch einen Ausbau empirischer Wissenschaft überwunden werden kann. Das Ziel kann nicht die „Entlarvung" sein, welche an die Stelle der zu entlarvenden falschen Erklärungstheorie eine neue Erklärungstheorie setzt, sondern die Bemühung um die Einsicht in die Komplexität der Wirklichkeit, welche durch die Ideologien verdeckt wird. Die Unterscheidung zwischen Erkennen und Werten wird in einer solchen reduktiv verfahrenden Erklärungstheorie wieder aufgehoben, insofern sich Erklären als Deduktion von der vorausgegangenen Reduktion vollzieht77. Max Webers Intention bestand gerade darin, die monokausalen Reduktionen der Wirklichkeit durch den Aufbau einer empirischen Wissenschaft zu überwinden, nicht aber eine neue monokausale Theorie an ihre Stelle zu setzen78. Es ging ihm nicht nur um die Abwehr der Gefahr, daß sich philosophische Deduktionen an die Stelle der Wissenschaft setzen, sondern auch darum, daß sich die Wissenschaft nicht an die leere Stelle der philosophischen Metaphysik setzt. An die Stelle der Philosophiegläubigkeit darf keine Wissenschaftsgläubigkeit treten. Insofern meinen wir, daß bereits Max Weber in seinem Ansatz einer empirischen Wissenschaft über eine philosophische Ideologiekritik hinausgewiesen hat in die Offenheit und Weite der geschichtlichen Wirklichkeit, die dem Erkennen aufgegeben ist. Die Frage der Wirklichkeit steht in der philosophischen Ideologiekritik innerhalb der politischen Auseinandersetzungen, aus denen Weber sie gerade herausnehmen wollte 79 . Dieser Ideologiekritik geht es um die Zerstörung einer Metaphysik der Normen und Ordnungen, die als Rechtfertigung der Herrschaft einer Gruppe in der Gesellschaft über die anderen dient (vgl. dazu Topitsch, Leerformeln, S. 254; Barth, a.a.O., S. 9). Die totalitären politischen Ideologien leben davon, daß die Einsichten in die empirischen Wirkzusammenhänge entweder nicht weit genug geklärt und verbreitet sind oder auch systematisch unterdrückt werden 80 . Solange dieses der Fall ist, bildet zwar die philosophische Ideologiekritik ein wichtiges Kampfmittel gegen totalitäre politische Ideologien, aber gerade in dieser Funktion entrinnt sie nicht der Zwangsgesetzlichkeit, jeweils andere Normen als letzte Kontrollinstanz geltend zu machen. Das gemeinsame Kennzeichen von Ideologie und philosophischer Ideologiekritik ist eine Verquickung der Wahrheitsfrage mit der Ordnungsproblematik, in welcher es um die Frage des Anspruchs und der geschichtlichen Durchsetzung geht 81 . Die kontinental-europäische Christenheit steht seit langem unter der Anklage der Gesellschaft, daß sie selbst zu der Entwicklung beigetragen hat, die heute im Konflikt der Ideologien und Gesellschaftssysteme ihre Zuspitzung erfährt, insofern die Theologie oft die Funktion einer „Herr365

schaftsideologie" ausübte82. Albert sieht in Theologie und Kommunismus Musterbeispiele des Ideologischen, unter dem er ein Verfahren der Dogmatisierung durch Rekurs auf unbedingte Autoritäten versteht (Traktat, S. 86ff.). Dieses hat sowohl eine erkenntnistheoretische als auch eine ethische Seite. Die dogmatische Behauptung, im Besitz absoluter Wahrheit zu sein, impliziert notwendig den „sozialen Aspekt des D o g m a tismus" mit seinen verhängnisvollen Tendenzen der Immunisierung, Vernebelung, Diffamierung kritischer Alternativen, Verketzerung und - w o möglich - Verfolgung „Andersgläubiger" (a.a.O., S. 97L) Das Verfahren ist immer dasselbe - auswechselbar sind nur die Autoritäten bzw. OfFenbarungs- und Glaubensinhalte. Z w a r wird bei Albert die wissenschaftliche Ideologiekritik, die als Aufdeckung solcher dogmatischer Verfahrensweisen gedacht ist, ähnlich wie bei Topitsch zu einem rationalistischen Instrument, das über Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit im ganzen befindet (s. o. S. 353) 83 . Aber seine Kritik an gewissen dogmatischen Methoden der Theologie und ihren sozialen Auswirkungen ist nicht nur von der Empirie, sondern auch von der biblischen Geschichte her ernst zu nehmen. Die moderne Ideologiekritik kann die Radikalität nicht überbieten, mit welcher in der Bibel selbst solche Gestalten theologischen Denkens und kirchlichen Handelns in Frage gestellt werden. Es gibt heute keine Antwort v o m Evangelium her, welche nicht zugleich eine Antwort auf diese Problematik ist. Sie läßt sich aber auf weite Sicht nur freilegen und bewältigen in Zusammenarbeit mit den empirischen Wissenschaften, welche selbst ein Agens der gesellschaftlichen Entwicklung sind. Die Theologie muß darum eine empirische Ideologiekritik unterstützen und sich ihr aussetzen84, gleichzeitig aber daran mitwirken, daß eine empirische Ideologiekritik nicht durch empiristische oder rationalistische Verabsolutierung der Wissenschaftstheorie selbst in eine ideologische Reduktionstheorie umschlägt.

c) Das Verhältnis von Wirklichkeit und Struktur in der Ekklesiologie Das Ideologieproblem erfährt seine ekklesiologische Zuspitzung in der Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Struktur. W i r verstehen unter „Struktur" die Weise der Beziehungen und Zusammenhänge, in denen menschliche Wirklichkeit gegeben ist, und damit auch die Weise, in der menschliches Denken und Verhalten Gestalt gewinnen 85 . Es geht in dieser Frage sowohl um das eigene Leben der Kirche als auch um ihr Verhältnis zur „ W e l t " . 366

Dem Neuen Testament ist oft ein fehlender Bezug zur geschichtlichsozialen Wirklichkeit vorgeworfen worden. Nach der vielfach die theologische Diskussion der Jahrhundertwende bestimmenden Auffassung begann die urchristliche Gemeinde erst nach ihrer Enttäuschung über die ausbleibende Parusie von der Umwelt Notiz zu nehmen und sich in ihr einzurichten. Eine solche Betrachtung verwechselt aber die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug mit der Frage nach der „politischen" Wirksamkeit, welche als Herrschaft oder als Beteiligung an derselben im öffentlichen Leben in Erscheinung tritt. Unter dem Gesichtspunkt so verstandener politischer Wirksamkeit bzw. des Strebens nach ihr hat das Spätjudentum einen ganz anderen Realitätsbezug als die urchristliche Gemeinde. Der theokratische Staatsgedanke war gerade in der Unterdrückung durch den heidnischen Römerstaat lebendig und verlangte nach Gestaltung der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit, während im Neuen Testament das Problem politischer Gewalt nur ganz am Rande auftaucht (vgl. Bornkamm, Jesus, S. nof.). Das Schweigen Jesu und der Urchristenheit an diesem Punkt ist genauso bedeutsam wie der bewußt vollzogene Durchbruch der Grenze zwischen „Kirche" und „Welt". Für das Spätjudentum schied die vom Gesetz als zeitloser Größe abgeleitete normative Struktur kirchlichen Lebens den heiligen von dem profanen Bereich. Teilhabe an der so verstandenen Struktur (Gesetz, Kultus, Beschneidung usw.) bedeutete zugleich Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes, Nicht-Teilhabe den Ausschluß von derselben. Für den Innenbereich legte die Struktur die Handlungsnormen fest, durch welche die Wirklichkeit Gottes und des Menschen in Kult und Leben aufeinander bezogen wurden. Indem die Struktur zum Objekt menschlicher Verwirklichung gemacht wurde, begründete sich dieses „strukturelle" Wirklichkeitsverständnis letztlich in menschlichem Handeln. Damit wurde die spätjüdische Theologie gewissermaßen zu einer sich in theologischer Strukturmetaphysik begründenden kirchlichen Gesellschaftswissenschaft, welche die Normen definierte, durch deren Erfüllung Wirklichkeit konstituiert wurde. An der Stelle der normativen Struktur im spätjüdischen Denken steht im Neuen Testament Jesus als der, welcher die Gnade und Wahrheit bringt, indem er die göttliche und die menschliche Wirklichkeit offenbar macht und vermittelt (vgl. z . B . Phil. 3, 3ff.; Gal. 5, i f f . ; Joh. I, i6f. u.a.). Durch ihn ist Gott gegenwärtig, sowohl in der „Kirche" als auch in der „Welt". In seiner Geschichte vollzieht sich die Öffnung der Kirche für die Welt als ein Gericht über die Scheinwirklichkeit in der Kirche und als Annahme des Menschen in seinen geschichtlich-sozialen Bezügen durch Gott. Damit wird aber die normative Verbundenheit von Wirklichkeit, 367

Struktur und Herrschaft aufgelöst. Die Frage nach der Struktur stellt sich als Frage nach den Strukturen in der Wirklichkeit, die im Denken und Handeln vor Gott verantwortet werden müssen. Die Frage nach der Wirklichkeit Gottes stellt sich als Verweis auf die Gnade hinsichtlich der in Jesus vermittelten Gegenwart Gottes und als Verweis auf das Gericht hinsichtlich der Aufdeckung des „ f r o m m e n " Scheins (vgl. Joh. 9, 39f.). Die Frage nach der Herrschaft stellt sich als Frage nach der Herrschaft Gottes über uns in seinem erlösenden Handeln und nach dem Dienst unter seiner Gnade in der Welt 8 8 . Die Probleme der geschichtlichen Wirklichkeit des Menschen werden als Fragen des Verhaltens, Wahrnehmens, Erkennens, Verantwortens, der zwischenmenschlichen B e ziehungen usw. behandelt (s. u. S. 369f.), nicht als Ordnungsprobleme. Damit wird das zur Sprache gebracht, was wir heute als gesellschaftliche Wirklichkeit bezeichnen. Kirche und Staat werden in ihrer Institutionalität nicht einfach aufgehoben, aber der Blick wird auf ihre Funktionalität im geschichtlichen Prozeß gelenkt und daran gemessen, ob und wie sie ihre Aufgabe darin erfüllen. Charakteristisch für das Verhältnis zum Staat ist die Weise, in welcher das Steuerproblem behandelt wird (Mark. 12, 13 ff. par.). Gegenüber einer Verteufelung des Staates durch die Theokratie wird geltend gemacht, daß man der staatlichen Gewalt für ihren Dienst eine Bezahlung schuldig ist, wobei gleichzeitig die Vorläufigkeit des Staates betont wird („Gebt Gott, was Gottes ist"). In Römer 1 3 , ifF. liegt der Akzent darauf, daß der Gehorsam gegenüber der staatlichen Gewalt einbezogen ist in die Freiheit des Christen zum Dienst: „Auch der Gehorsam gegen die irdische Obrigkeit wird von Paulus als ein Stück des christlichen Gottesdienstes in der Profanität der Welt betrachtet 87 ." Es geht darum, nach Möglichkeit mit allen Menschen in Frieden zu leben (Rom. 12, i8ff.; 13, 7flf.). Die Fragen des Verhältnisses zum Staat werden hier eingeordnet in den Bezugsrahmen des Zusammenlebens der Menschen88. Der Staat ist eine der Mächte im sozialen Feld, welche eine notwendige Funktion erfüllen, mehr jedoch nicht. Eine Staatsmetaphysik oder eine heilsgeschichtliche Bedeutung läßt sich aus seiner Rechts- und Ordnungsfunktion nicht ableiten89. Käsemann stellt es als äußerst bezeichnend heraus, daß im Neuen Testament jede „Glorifizierung" wie auch - mit Ausnahme der Apokalypse - jede „Mythologie und Dämonisierung" des Staates unterbleibt: die politische Gewalt gehört ganz und gar „in den Bereich des Vorläufigen" und bleibt beschränkt auf das „Feld 368

innermenschlicher Beziehungen", aber gerade darin wird sie zum „Gegenstand der Paränese" (a.a.O., S. 2 1 1 ) . In entsprechender Weise vollzieht sich auch in der Geschichte Jesu und der Urchristenheit eine Profanisierung der kirchlichen Strukturen, die nun nicht mehr als die conditio sine qua non für die Anteilhabe an der Wirklichkeit Gottes gelten können. Das bedeutet gleichzeitig die Ablösung der Priesterschaft und des Kultes als Ort der Vermittlung der Gegenwart Gottes. Kirche ist nicht dort, w o eine durch besondere Weihe beauftragte Person ihr besonderes Amt ausübt, sondern dort, w o sich der christliche Glaube in seinen vielfältigen Diensten in der Welt vollzieht (vgl. Rom. 12, ifF.)90. Von diesen konkreten Diensten der Glaubenden her, in denen sich die Teilhabe an der Gnade und der Gegenwart Gottes für den einzelnen realisiert (1. Kor. 12, ifF.), ist die jeweilige Gestalt der Gemeinde bestimmt, nicht mehr'von sakralen Strukturen (s. o. S. 177). Paulus zieht in seinem Gemeindeverständnis die ekklesiologischen Konsequenzen aus dem, was sich bereits in der Geschichte Jesu ereignet hat. An eben demselben Punkt hegt daher auch seine Auseinandersetzung mit den Vertretern der judenchristlichen Gemeinden um die Frage, ob sich auch der Heidenchrist beschneiden lassen und das Gesetz erfüllen müsse, um an der Wirklichkeit Gottes teilhaben zu können (Gal. 2). Er lehnt nicht eine judenchristliche kirchliche Struktur als eine mögliche geschichtliche Struktur ab, in welcher sich auch christlicher Glaube vollziehen kann (vgl. Gal. 2, 7fF.), aber er lehnt die Identifizierung von Struktur und Wirklichkeit und den damit verbundenen Absolutheitsanspruch ab (vgl. Gal. 5, ifF.). Die Relativierung kirchlicher Strukturen bedeutet ni Weber, S. 5 6 : „... empirisch wirklich ist nur das Handeln Einzelner." Darum bezeichnet Jaspers auch Webers empirische Analyse als „individualistische Methode" (vgl. dazu auch Baumgarten, S. 598 fr., 653 fr.; Weber, W . L., S. 4 0 5 f r . ) . 105 Baumgarten weist darauf hin, daß schon Webers Voraussetzung, das Individuum als alleinigen Handlungsträger anzusehen, dem einer empirischen Analyse zugänglichen Phänomen nicht gerecht wird, daß sich durch das Individuum auch übergreifende Funktionszusammenhänge auswirken, die durchaus für das Individuum nicht sinn-motiviert sind (vgl. Baumgarten, a.a.O., S. 604). Ein weiteres Problem bestünde darin, daß etwa 80 Prozent allen sozialen Handelns nicht zum Thema gehören, wenn „sinnhaftes Handeln" Gegenstand der Sozialwissenschaft ist. 10« Vgl Baumgarten, S. 602ff.Diese individualistische Anthropologie steht auch im Zusammenhang damit, daß er Sozialwissenschaft im Rahmen der Kulturwissenschaft treibt, deren Gegenstand im Unterschied zu den Naturwissenschaften gerade durch das „historische Individuum" definierfwird (vgl. dazu Antoni, Historismus, S. 225; vgl. auch Weber, W . L., S. 171fr.). 107 Gerade Webers pädagogische Ausführungen selbst machen deutlich, daß der Vollzug empirischer Analyse notwendig zurückwirkt auf die jeweils geltenden Normen und sie von daher einer kritischen Beurteilung unterworfen werden, die nicht nur als Funktion einer subjektiven Stellungnahme ver469

standen werden kann. Diese Einsicht hat sich auch in den empirischen Sozialwissenschaften durchgesetzt (vgl. Albert, in: Stammer, S. 73). 108 V g j dazu Rossis Ausführungen darüber, daß auch die wissenschaftliche Forschung zu Wertungen gelangen muß (in: Stammer, S. 93 t.). Er fordert eine neue Formulierung der Unterscheidung von Wissenschaft und Werturteilen als eine Unterscheidung von verschiedenen Arten von Wertungen. Vgl. auch Albert, in: Stammer, S. 72, der darauf hinweist, daß Untersuchungen von Sachzusammenhängen zu normativen Umorientierungen im Bereich der Erkenntnis führen können, die: nicht mit letzten unkorrigierbaren Stellungnahmen identisch sind. 109

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Sie übt dabei nicht die Rolle eines Architekten aus, welcher gewissermaßen den Grundriß für das soziale Handlungsfeld zu erstellen hätte. Sonst erhöbe die Sozialwissenschaft schließlich denselben Anspruch wie die Theologie des Mittelalters. Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften, S. 181 ff".; hier S. 199. Daher gehört die Entscheidung für Wertfreiheit, wie auch für intersubjektive Prüfbarkeit und kritische Methodologie nach Albert zur „Wertbasis" der Sozialwissenschaften. In diesem Sinne liegen ihnen - wie allen Wissenschaften - „Wertentscheidungen" zugrunde (vgl. dazu auch A . 240). Davon zu unterscheiden ist aber der Tatbestand, daß die wissenschaftliche Analyse selbst und ihre Aussagen von normativen Aussagen freizuhalten sind. Sozialwissenschaftliche Aussagen selbst können nicht den Charakter von Werturteilen haben (a.a.O., S. 186 ff.). W i e gerade die Argumentation von Albert zeigt, läuft die Werturteilsfreiheit nicht darauf hinaus, „dem puren Sein ein abstraktes Sollen" gegenüberzustellen (so Habermas, Technik, S. 150).

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In gleiche Richtung weisen die Ausführungen von Henrich auf dem Heidelberger Soziologentag, der eine Neuformulierung der Position Webers hinsichtlich der Aufgabenstellung empirischer Sozialwissenschaft in der Richtung fordert, daß die Sozialwissenschaft als „Diagnose der Situation" die Voraussetzung für eine Deutung und Umgestaltung der gegenwärtigen Lage der Gesellschaft sein sollte, die in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit steht. Die Sozialwissenschaft könne zwar weder diese Deutung noch diese Umgestaltung selbst bewerkstelligen. Sie könne aber Kriterien entwickeln, die es ermöglichen, „das Willkürliche v o m Angemessenen hinreichend zu unterscheiden" (in: Stammer, S. 86).

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Beispielsweise können Erfordernisse einer personalen und sozialen Integration im Widerspruch stehen. Eine einzelne Person nimmt gewöhnlich an verschiedenen sozialen Prozessen teil, in denen verschiedene Normen und Werte wirksam sind. Insofern sind dann verschiedene soziale Situationen mit verschiedenen Strukturen in einer personalen Situation wirksam und müssen in ihr integriert werden. Umgekehrt sind in einer sozialen Situation mehrere verschiedenartige personale Situationen und Strukturen wirksam. Je nach Perspektive und Aufgabe erscheint dann die eine oder die andere als die umgreifende.

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Vgl. dazu Parsons, in: Stammer, S. 52f. und Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre M a x Webers, S. 1 1 ff., 18f., 35, 103 f. W i r stimmen Henrich darin zu, daß Webers Wissenschaftslehre nicht im Zusammenhang erkenntnistheoretischer Reflexionen steht, sondern nur eine Methodenlehre beinhaltet (vgl. S. 18 f.), aber wir können ihm nicht folgen, wenn er meint, daß Weber seine Methodenlehre ohne erkenntnistheoretische Implikationen gewinnt (S. 2, 103). Erstens trifft dieses unseres Erachtens für Weber selbst nicht zu, zweitens meinen wir, daß es überhaupt keine Methodologie ohne erkenntnistheoretische Implikationen geben kann. Die Frage ist nur, wieweit man sich dieser Implikationen kritisch bewußt ist.

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In diesem Zusammenhang steht auch die Kategorie der „Wertbeziehung", die angesichts der chaotischen Fülle der Erscheinungen ein Auswahlkriterium bieten soll (s. o. S. 256). Baumgarten weist darauf hin, daß Weber zwar von diesem Wirklichkeitsbegriff der Philosophie Rickerts herkommt, aber diese Voraussetzung im praktischen Vollzug seiner Forschung immer wieder durchbricht (vgl. S. 592, 604). Aber trotzdem ist dieses philosophische Verständnis der Wirklichkeit bereits im Ansatz der empirischen Analyse Webers wirksam, weil er von dieser Grundlage her nur von dem Individuum als Träger sinnhaften Handelns ausgeht, das als solches sinnvoll deutbar ist.

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Zur Überwindung der historistischen Situation durch Weber vgl. Parsons, in: Stammer, S. 48ff. und 6off. So stellt er durch seine Analyse der antiken Geschichte beispielsweise die wirtschaftlichen Faktoren heraus, die bisher übersehen waren, umgekehrt in seiner Analyse des Kapitalismus die ethischreligiösen Faktoren in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit gegenüber der philosophischen Unterbau-Überbau-These von Marx.

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Wie sehr Weber Sozialwissenschaft als Kulturwissenschaft betreibt, wird z. B . deutlich in seiner Bestimmung des Gegenstandes der Sozialwissenschaft als „die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinen universellen, aber deshalb nicht minder individuell gestalteten Zusammenhängen und in seinem Gewordensein" (Weber, W . L., S. 212). Wenn man Sozialwissenschaft innerhalb der Kulturwissenschaft betreibt, dann impliziert dieses, daß man den Menschen in seiner Anwesenheit in der Geschichte nur als kulturschaffendes Wesen sieht und den sozialen Prozeß nur von seinen kulturellen Gestalten her interpretiert. Dieses ist aber eine verkürzte Sicht des Menschen und eine nicht haltbare anthropologische Voraussetzung für eine empirische Sozialwissenschaft. Als Beispiel für eine solche Auffassung könnte man etwa die Soziologie A. Webers sehen, der die Kultur als die eigentliche Antriebskraft in der Geschichte versteht, die sich dann in den großen Genien der Menschheit realisiert. Von dorther versteht er dann Geschichte in ihren Ablaufsperioden von verschiedenen kultursoziologischen Menschentypen her.

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So weist z. B . Habermas darauf hin, daß ein Widerspruch besteht zwischen der durch das Postulat der Wertfreiheit bedingten Einschränkung des Erkenntnisinteresses der Sozialwissenschaften auf Erzeugung von technisch

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verwertbarem Wissen einerseits und der hermeneutischen Absicht einer Erklärung der Kukxxbedeutung historischer Erscheinungen andererseits (in: Stammer, S. 78). Antoni zeigt das Dilemma auf, daß Weber empirische Wissenschaft will, aber gleichzeitig Begriffe konstruiert, die der Wirklichkeit nicht entsprechen können (vgl. Historismus, S. 230, 23 8 f.). Auch weist er auf die Diskrepanz zwischen kausaler Erklärung und deutendem Verstehen hin (vgl. S. 229). Vgl. dazu auch Baumgarten: „Weber will durch Verstehen .erklären' - als ob sinnhafte Intention stets causa causans, sich ereignende Handlung causa causata sei" (a.a.O., S. 604). Antoni urteilt, daß bei Weber die Soziologie nicht eine Wissenschaft für sich sei, sondern ein begriffliches Mittel zur Orientierung in der historischen Forschung (S. 239). Er spricht deshalb sogar von einer vollständigen Auflösung der Soziologie in Historie (S. 248), vgl. dazu Weber, W . L., S. 164, w o er meint, daß die ökonomische Geschichtsinterpretation eine Vorarbeit für die volle historische Kulturerkenntnis sei. 119

Vgl. Habermas, in: Stammer, S. 77: Der Typus des zweckrationalen Handelns sei in Übereinstimmung mit einer bestimmten Geschichtsphilosophie gebildet. Z u m Typus zweckrationalen Sichverhaltens, vgl. Weber, W . L., S. 403 ff. Weber verstand unter „Idealtypen" gedankliche Konstruktionen, die das Charakteristische verwandter Erscheinungen einseitig steigern und verdeutlichen. Sie sind kein Abbild der empirischen Wirklichkeit, sondern Erkenntnismittel, das durch Vergleich mit der Empirie die Übereinstimmung mit dem Typus und die Abweichungen erfassen soll (vgl. W . L., S. 191).

120

Er hat zwar darauf hingewiesen, daß die Wertbeziehung auch Einfluß hat auf die Bildung idealtypischer Theorien, aber er wollte doch die methodische Verwendung der Theorien und den darauf beruhenden Vorgang kausaler Erklärung von den Wertvoraussetzungen in der Weise isolieren, daß die Ergebnisse der Forschung nicht durch sie bedingt sind, was wiederum impliziert, daß die Wertvorausssetzungen selbst nicht kontrollierbar und auch im Falle einer möglichen Falsifizierung des Idealtypus nicht korrigierbar sind (vgl. W . L., S. i82ff.). Rossi weist nach, daß eine solche „Neutralisierung" der Wertvoraussetzungen Weber nicht gelungen und daß sie auch nicht möglich sei. Demgegenüber fordert er eine Neuformulierung in dem Sinne, daß der Gebrauch der die ganze Untersuchung leitenden Wertvoraussetzungen genauen Regeln unterworfen werde: sie müßten zu Erklärungsmodellen werden, die am Maßstab der Erfahrung zu bewahren oder abzulehnen sind (in: Stammer, S. 90ff.).

121

Ein Beispiel ist im Blick auf die philosophische Anthropologie die Falsifizierung des positivistisch-mechanistischen Menschenbildes durch die Gestaltpsychologie (s. o. S. 69). Die Untersuchungen, wie sie von der Gruppendynamik über die Auswirkungen der verschiedenen Führungsstile durchgeführt wurden (s. o. S. soff.), ermöglichen durchaus ein Verstehen der empirischen Zusammenhänge innerhalb eines autoritären Machtstaates und innerhalb einer demokratischen Gesellschaft, woraus sich Folgerungen

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ziehen lassen f ü r eine Beurteilung ihres eigenen Selbstverständnisses in Gestalt ihrer Gesellschaftstheorien. Die Auswirkungen des sozialphilosophischen Darwinismus i m Nationalsozialismus sind sozialwissenschaftlichen Analysen zugänglich u n d können seine Behauptungen über den sozialen Prozeß falsifizieren. 122

Parsons ist der Meinung, daß W e b e r entscheidend dazu beigetragen habe, die gesamte geistig-gesellschaftliche Situation auf eine solche Weise neu zu •definieren, daß die wesentlichen Kategorien des 19. Jahrhunderts auf einmal veraltet w a r e n (in: Stammer, S. 62). W e b e r verkündet das „ E n d e der Ideologie" (S. 63). 123 W e r k u n d Person, S. 593 u n d 595. Auch Jaspers weist darauf hin, daß W e b e r , wie Galilei in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften „ d e n hier ganz andersartigen endgültigen Schritt . . . zur reinen Wissenschaft" getan habe (S. 8). 124

Vgl. z u m gegenwärtigen Einfluß v o n M . W e b e r in den U S A besonders Parsons, Die jüngsten Entwicklungen in der strukturell-funktionalen T h e o rie, i n : Kölner Zeitschrift f ü r Soziologie u n d Sozialpsychologie, 1/1964, S. 30. 125 Vgl. dazu Bergmann, der in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Parsons den „Gegensatz zwischen einer positivistischen und dialektischen K o n zeption v o n Gesellschaft" herausarbeitet (Adorno, i n : B e r g m a n n , D i e Theorie des sozialen Systems von Talcott Parsons, Frankfurt a. M . 1967, S. 9.). Vgl. zu d e m , was Parsons unter Erkenntnistheorie versteht, P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der O r d n u n g . Organismus u n d System bei C o m t e , Spencer u n d Parsons, Freiburg i. Br. 1967, S. 1 3 7 L 126

Shils, T h e Calling of Sociology, i n : Parsons, Shils, Naegele, Pitts ed., Theories of Society, Glencoe 1961/62, S. 1445 t. Er bezeichnet die soziologische Theorie, die sich auf eine „theory of action" gründet, als n u r eine der vielen Möglichkeiten, die später einmal in eine viel umfassendere Theorie eingehen könnten. Andere Möglichkeiten eines Bezugspunktes vgl. bei Dahrendorf, Pfade, S. 58. Dahrendorf hält die Grundkategorie „soziales H a n d e l n " f ü r k a u m geeignet, in den Katalog der soziologischen G r u n d begriffe a u f g e n o m m e n zu werden. M a n k ö n n e „die konkreteren Probleme der sozialen E r f a h r u n g " nicht alle als Probleme des sozialen Handelns erklären. Er w i r f t Parsons vor, daß er aus seinem Bezugssystem ein „ S y s t e m " gemacht habe (S. 57). Dahrendorf selbst stellt in den Mittelpunkt seiner Soziologie die Kategorien N o r m , Sanktion, Herrschaft, davon abgeleitete Begriffe wie „soziale Schichtung", Konflikt u. a. (Pfade, S. 61).

127

Entsprechung zu M . W e b e r z. B. i m Einsatz beim subjektiven Sinn, in der Bedeutung der Kategorie der sozialen N o r m , i m Verständnis des Gesetzes als festzustellender Regelmäßigkeiten in sich wiederholenden Handlungsabläufen u n d anderem m e h r . Das Handlungsmodell, das sich an M . W e b e r orientierte, ist dann in d e m Interaktionsmodell, w o h l in unmittelbarem Z u s a m m e n h a n g mit der Gruppenforschung (beispielsweise durch Bales vermittelt), von Parsons

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weiter entwickelt worden (vgl. z. B. Toward a General Theory of Action, Cambridge 1954, S. 105ff.; The Social System, Glencoe 1952, S. 37ff.). Bestimmend blieb, daß die einzelnen Individuen nur durch ihre Bedürfnisstrukturen und durch ihr an Normen ausgerichtetes Verhalten mit dem sozialen Feld in Beziehung gesetzt werden, z. B . i n : Toward, S. 153: "The starting point is the interaction of persons or, to put it in other words, of ego with a system of social objects"; vgl. auch Bergmann, Theorie, S. 29, 38ff.

128 Yg] dazu den bereits genannten Aufsatz: Die jüngsten Entwicklungen in der strukturell-funktionalen Theorie, S. 31. 1 2 9 Zur Differenzierung von Bezugsrahmen und Theorie vgl. z. B. Parsons, Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 193 ff. und 218. Die Theorie der sozialen Systeme gehört nach Parsons in die „more general class of conceptual schemes", wie sie im Bezugsrahmen des Handelns („in the frame of reference of action") stehen; vgl. An Outline of the Social System, in: Parsons, Theories, S. 30. 130 Vgl. zur Bedeutung, die Parsons ihr beimißt, z. B. Jüngste Entwicklungen, S. 30fr. 131 Vgl. a.a.O., S. 32fr., und Parsons, The Present Position and Prospects of Systematic Theory in Sociology, in: Twentieth Century Sociology, Hrsg. von G. Gurvitch und W. E. Moore, New York 1945, S. 47 f. 1 3 2 Das Dilemma, aus welchem die strukturell-funktionale Analyse entspringt, sieht Dahrendorf in der nahezu unüberwindbaren Schwierigkeit, ein theoretisches Werkzeug für die Analyse zu erstellen, das der Vielschichtigkeit und Komplexität des sozialen Prozesses in seinem ständigen Wandel entsprechen könnte. Damit begründet Dahrendorf den Versuch Parsons', auf eine abstraktere Ebene auszuweichen, um einen Ansatzpunkt für eine Theorienbildung zu finden (Pfade, S. 228f.). Lewin sah sich demselben Problem gegenüber. Wie er damit fertig zu werden versuchte, vgl. Topologie, S. 9ff. und 2 5 ff. Ihm war unseres Erachtens vor allem das Ganzheitsverständnis der Gestalttheorie darin eine Orientierungshilfe. 133 Vgl. J. E. Bergmann, Die Theorie des sozialen Systems von Talcott Parsons, Frankfurt a. M. 1967, sowie P. Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg 1967. Vgl. zur amerikanischen Kritik an Parsons die Literaturangaben bei Kellermann, S. 188, Anm. 155. 134

135

Zum Begriff der Rolle vgl. T. Parsons, An Outline of the Social System, in: Theories, S. 41 f.; zur „Rolle" als begriffliche Einheit des sozialen Systems vgl. Toward, S. 190; zur Verknüpfung beider Theorien, für welche der Rollenbegriff konstitutiv ist, bes. Parsons, Sociological Theory, S. 192 ff. Parsons stellt fest, daß er bereits die „pattern variables" (Dichotomien) in der Theorie des sozialen Handelns im Blick auf die Rollentypen in den sozialen Systemen entworfen habe (a.a.O., S. 193 f.). Vgl. dazu Anm. 147. Zur Verknüpfung von Handlung und System vgl. z. B. Toward, S. 54t.; System, S. 37 fF.; zur Bedeutung der Rolle für den Menschen z. B. Toward,

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S. 1 5 3 ; zum BegrifFspaar Status-Rolle, Parsons, System, S. 25; Toward, S. 40 u. a.; Dahrendorf, Pfade, S. 228f. 136 Damit erhält das Handeln die innere Tendenz, mit den Normen der Gesellschaft konform zu werden. Diese Meinung äußert Parsons bereits in Structure, S. 732: " A s process, action is, in fact, the process of alteration of the conditional elements in the direction of conformity with norms." 137 Y g ] z u m Problem von Werten und Normen, Outline, in: Parsons, Theories, S. 43 fF.; zum Zusammenhang von kulturellem und sozialem System vgl. System, S. 41 ff. 138 jsjur durch eine Internalisierung und Institutionalisierung der Werte wird die Motivationsstruktur des Individuums sozial integriert und in ihrer Tiefe erfaßt, so daß es die Rollenerwartungen erfüllt (System, S. 42). Vgl. zur Internalisierung der Werte u. a. System, S. 36ff.; Toward, S. 22, 55t., 150ff. u. a. Vgl. Bergmann, Theorie, S. 143 fr.; Rüschemeyer, Parsons, S. 19 u. a. 139

Faktisch gibt es für Parsons nur „geregelte" Beziehungen; vgl. Bergmann, Theorie, S. 44; Dahrendorf, Pfade, S. 22Ó. " B y institutionalization we mean the integration of the expectations of the actors in a relevant interactive system of roles with a shared normative pattern of values. The integration is such that each is predisposed to reward to conformity of the others with the value pattern and conversely to disapprove and punish deviance" (Toward, S. 20, Anm. 26).

140

Auf dem Hintergrund des Organismusgedankens, auf welchem Menschen und Gruppen nur als Bestandteile des Systemes lebensfähig erscheinen, erhalten Begriffe wie Gesellschaft und Kollektiv die Bedeutung, bestimmte Systemtypen zu charakterisieren. In dieser Hinsicht können dann Gesellschaft, Kollektiv und System synonym gebraucht werden, vgl. z. B . System, S. 1 9 L , 1 0 1 ; Toward, S. 196; auch: " A collectivity is a system of roles integrated in certain w a y s " (System, S. 133). Folgerichtig kann dann Parsons auch von „lebendigen Systemen" sprechen (Theory, S. 218); vgl. zu diesem Verständnis von System bei Parsons vor allem Kellermann, Kritik, z. B . S. 1 3 7 L

141

Schon die Definition des „sozialen Systems" bringt das zum Ausdruck: " A social system of this type, which meets all the essential functional prerequisites of long term persistence from within its resources, will be called society" (System, S. 19). Der Mensch wird durch sein Handeln in dem System integriert (vgl. Structure, S. 732). Vgl. zum Equilibrium bei Parsons, Outline, S. 6off.; zum Verständnis von Wandel, Outline, S. 70ff.

142

Z u m Handelnden als Einheit des sozialen Systems vgl. Present, S. 61. Das dahinterstehende Ganzheitsverständnis: die Menschen als „Zellen" einer Ganzheit, vgl. Narr, in: Kellermann, S. 15. Handlungsträger kann praktisch alles sein: Kollektive, sich verhaltende Organismen, kulturelle Systeme, Firmen, Haushalte usw. (Sociological Theory, S. 194). 143 " T h e unit act involves the relationships of an actor to a situation composed of objects, and it is conceived as a choice (imputed by the theorist to the actor) among alternative ways of defining the situation" (Parsons, Socio-

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logical Theory, S. 193). Vgl. zur Abstraktheit der Begriffe Individuum und Gesellschaft bei Parsons, z. B. Bergmann, Theorie, S. I39ff. 114 Vgl. vor allem die Kritik von Kellermann, auch Narr, in: Kellermann, S. 12; vgl. auch Homans, Funktionalismus, Verhaltenstheorie und sozialer Wandel, in: Zapf, Theorien des sozialen Wandels, Köln/Berlin 1969, S. 95ff., hier S. 106. 145 Vgl. dazu Anm. 146. 146 Ygi z u r Kritik am „aristotelischen" Wissenschaftsverständnis von Parsons auch Mey, Studien zur Anwendung des Feldbegriffes, S. 91 ff. Mey meint unter Berufung auf Deutsch, daß Parsons in seinem „Structure of Social Action" eine feldtheoretische Herkunft erkennen ließe und erst in seinem „Social System" die Wechselwirkung von Person und Gesellschaft aufgegeben habe (a.a.O., S. 91). Vgl. Parsons, The Structure of Social Action, A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers. Glencoe/Ill. 1949. Der Zusammenhang des Ansatzes von Parsons mit der von der Feldtheorie herkommenden experimentellen Sozialpsychologie wird auch unseres Erachtens von Anfang an sichtbar. Sie begleitet auch die weitere Arbeit von Parsons (Zusammenarbeit mit Bales u. a.). Jedoch scheint uns Mey zu übersehen, daß auch schon in Structure zwar feldtheoretische Begriffe aufgenommen, aber jeweils umdefiniert werden. Sie werden eben nicht von der Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt her definiert. Das zeigt der doppelte Bezug auf M. Weber und Dürkheim an, der schon in den ersten Kapiteln deutlich wird. Von dorther stellt sich ihm bereits im Ansatz seiner Theorie des sozialen Handelns das Kardinalproblem, die Beziehung der individuellen Situation zum sozialen Handlungsfeld herzustellen. In seinen Worten: "This problem of the relation between the analysis of the action of a particular concrete actor in a concrete, partly social environment, and that of a total action system including a plurality of actors will be of cardinal importance to the later discussion" (S. 5of.). Dieses Problem ist das Kardinalproblem für Parsons geblieben. Er hat es nicht lösen können. Eine Lösung wäre nur möglich gewesen, wenn er wie Lewin bereits von der Wechselwirkung mit dem sozialen Feld ausgegangen wäre. Von dorther ist zu beachten, daß von Anfang an Begriffe wie Prozeß, Struktur, dynamisch, System, Gesetz, Interdependenz usw. anders verstanden, eingeordnet und definiert werden. Es handelt sich nicht um operationale Begriffe im Sinne Lewins. Auch das Verhältnis von Ganzem und Teilen orientiert sich bereits in der Einführung am Organismusmodell, vgl. Parsons, Structure, S. 32L Der Interaktionsprozeß ist durch die komplementäre Rollenerwartung bestimmt. Dadurch ist er gleichzeitig mit den drei Systemen bei Parsons verbunden (System, S. 205). 147

Die fünf Dichotomien, durch welche die Struktur der Situation des Handelns bestimmt wird, sind: Affectivity - Affective neutrality, Self-orientation-Collectivity-orientation, Universalism - Particularism,

476

Ascription - Achievement, Specificity - Diffuseness. Z u r Anwendung dieses Klassifikationsschematas in der Analyse vgl. vor allem Parsons, Toward, S. 76 ff. Über den Begriff der Rolle verband Parsons diese Dichotomien dann mit dem sozialen System (vgl. Theory, S. 1 9 3 f . ; System, S. 101 ff. und andere mehr). Eine kurze Erläuterung zu dien pattern variables gibt u. a. Rüschemeyer, Parsons, S. 2 7 L Nach ihm entspricht „die jeweils erste dieser Orientierungsalternativen . . . dem Begriff der Gemeinschaft, die zweite dem der Gesellschaft" (S. 28). 148

119

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Die vier Kategorien: Pattern-Maintenance (auch tension management), Goal-Attainment, Adaption, Integration. Vgl. zu ihren Funktionen Outline, S. 3 8 ff.; zur Funktionalität und Disfunktionalität bes. Present, S. 48; vgl. auch Homans, Funktionalismus, in: Zapf, Theorien, S. 96 und Rüschemeyer, Parsons, S. 18. Parsons, Social System, S. 249ff. (Kap. VII: Deviant Behavior); vgl. dazu Lewin, Übergang, S. 434; Aristoteles, Topik (Hrsg. Gohlke), S. 64 und 104f., über die Dichotomie von Gesundheit und Krankheit. "Its structure is that system of determinate patterns which empirical observation shows within certain limits, 'tend to be maintained' . . . Functional significance in this context is inherently teleological" (Present, S. 48).

151

Vgl. dazu vor allem Kellermann und Bergmann. is2 V g l zum biologischen Weltverständnis von Plato und Aristoteles, Popper, Gesellschaft II, S. ioff. Verbunden ist der Gedanke der Teleologie schon bei Plato und Aristoteles mit der Meinung, daß alle Dinge die Tendenz haben, an ihren natürlichen Platz zurückzukehren, wenn sie sich von ihm entfernt haben (a.a.O., S. 1 1 ) . Darum hat das Verständnis von Teleologie als Lehre von der Bewegung auch für eine sozialphilosophische Deutung weitreichende Folgen. 153

Ihnen geht es vor allem auch um den Nachweis der Abhängigkeit Parsons' von Comte, Spencer und Dürkheim, bes. im Blick auf das Konzept v o m sozialen Organismus und des kollektiven Bewußtseins; Kellermann, Kritik, S. 1 9 ; Bergmann, S. 13 ff.; Rüschemeyer, Parsons, S. i ö f . : Parsons sei es in der Ausgangsbasis für eine Soziologie um die Konvergenz der Ansätze von A . Marshall, Pareto, Weber und Dürkheim gegangen.

164

Vgl. dazu Bergmann, Theorie, S. 4 3 f . ; Parsons hat früher selbst vor einer solchen Verwechslung gewarnt (vgl. Structure, S. 10). Parsons kann z. B . das personale, soziale und kulturelle System als Abstraktionen für eine theoretische Analyse verstehen (Toward, S. 54), andererseits die beiden ersteren als empirische Größen behandeln und miteinander in Beziehung setzen (System, S. 27; vgl. dazu Kellermann, Kritik, S. I 3 7 f . ; Homans, in: Zapf, S. 97). Dahrendorf weist im Anschluß an Popper auf die außerordentliche Wichtigkeit der Unterscheidung von „empirisch-geschlossenem" und „logisch geschlossenem" System hin, Pfade, S. 219, Anm. 1 .

165

A n der Stelle der Konstrukta Lewins stehen bei Parsons die Propositionen, vgl. z . B . Structure, S. 7: "the general propositions . . . which constitute a

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body of theory have mutual logical relations to each other." Diese Propositionen stellen sich dar als phänotypische Beschreibungen wahrgenommener Wirklichkeit, vgl. Present, S. 43 ff.; in ihrer Entfaltung implizieren sie ganz bestimmte gesellschaftsphilosophische Vorstellungen, die jedoch nach Parsons von den logischen Strukturen seines Systems abzuleiten seien; vgl. dazu Theory, S. 2i6ff.; dazu auch die Kritik von Kellermann und Bergmann zum Inhalt der theoretischen Lehrsätze. Z u r Abspiegelung der Empirie in der Theorie von Parsons, vgl. Kellermann, Kritik, S. 137. Daß Parsons sich des Unterschiedes seines strukturell-funktionalen Systems von einem analytischen System mit operationaler Begriffsbildung bewußt war, vgl. Present, S. 48. Andererseits kann er darauf hinweisen, daß ähnliche Systeme wie sein strukturell-funktionales System auch in der Physiologie und Psychologie vorliegen. Im gleichen Atemzug aber kann er als den wichtigsten Bezugspunkt solcher Systeme die anatomische Struktur des Organismus nennen (Present, S. 49). Von dorther ergibt sich für ihn eine phänotypische Entsprechung zwischen physiologischen und psychologischen Prozessen, zwischen anatomischer Struktur und personaler Charakterstruktur, zwischen Ernährung und Motiven usw. So liegen die Unklarheiten bei Parsons von Anfang an im erkenntnistheoretisch ungeklärten Empiriebezug seiner Begriffs- und Theorienbildung, bzw. in seinem aristotelischen Wissenschaftsbegriff. Von dorther lassen sich auch seine oft widersprüchlichen Aussagen zur Theorienbildung erklären. Vgl. dazu Kellermann, Kritik, S. ioóff., I37ff. u . a. 156

Zur Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen den Prozessen vgl. Homans, Sozialwissenschaft, S. 75 ff.; Metzger, Der Ort der Wahrnehmungslehre im Aufbau der Psychologie, in: Metzger (Hrsg.), Handbuch 1,1, S. 3 ff., I S ff. 157 Vgl. dazu bes. Kellermann, Kritik, S. 188, Anm. 155; Homans, in: Zapf, S. 106; Rüschemeyer, Parsons, S. I4f. 158 Ygi L e w ¡ n > Übergang, S. 451. 159 Vgl. z. B. Present, S. 48. Gerade hier unterscheidet sich Homans von Parsons in charakteristischer Weise. Für ihn besteht die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften darin, Lehrsätze aufzustellen. Dieses aber ist ohne operationale Begriffe nicht möglich, insofern es gerade u m die Zusammenhänge der Phänomene geht. „Sich mit nicht-operablen Definitionen aufhalten, das kann dieser Hauptaufgabe jeder Wissenschaft wirklich den W e g versperren." Als Folge davon sieht es Homans an, daß man jedes beliebige soziale Phänomen dann je nach Definition in die Theorie einordnen kann, aber man unterläßt es, „etwas über die Zusammenhänge der Phänomene auszusagen" (Wissenschaft, S. 25f.). Z u r operationalen Begriffsbildung vgl. Lewin, Topologie, S. 28. Nach seinen hier gegebenen Definitionen würde die „analytische Theorie" von Parsons unter die „spekulativen Theorien" fallen. Vgl. auch Bergmann, Theorie, S. 203, Anm. 63. 160

Vgl. dazu Homans, in: Zapf, S. 95fF.; Sozialwissenschaft, bes. S. 47 und 65 fr.

478

161

Die Theorie hat die Aufgabe, empirische Phänomene nach ihrem Grad von Gleichförmigkeit und Stabilität zu klassifizieren, Theory, S. 194; System, S. 20. " T h e theory, then, is a set of logical relationships among categories used to classify empirical phenomena and, in empirical reference, attempts to account for whatever may be the degree of uniformity and stability of such phenomena" (Theory, S. 194). Die Notwendigkeit der strukturellen Kategorien wird damit begründet, daß man sonst die Gleichförmigkeiten des dynamischen Prozesses im sozialen System nicht fassen könne, System, S. 2of.; s. o. S. 267t. Z u m Verständnis der Prozeßanalyse bei Parsons: "It may be taken for granted that all scientific theory is concerned with the analysis of elements of uniformity in empirical processes. This is what is ordinarily meant by the dynamic interest of theory" (System, S. 20).

162

Vgl. zu den verschiedenen Stufen der Theorienbildung, Toward, S. 50t. Hier sind viele Entsprechungen zur Feldtheorie, aber der Unterschied wird deutlich, wenn Parsons beim ersten Schritt („ad hoc classificatory systems") mit willkürlichen Klassifizierungen einzelner Phänomene nach dem gesunden Menschenverstand beginnt. Andererseits kann Parsons auch vor einem formlosen Empirismus warnen; in: Outline, S. 79. Die verschiedenen Stufen der Theorie zeigen den Fortgang v o m Besonderen hin zum Allgemeinen im aristotelischen Sinne. Vgl. zum Verständnis von „Verallgemeinerung" und „Generalisierung": Theory, S. 2 i 6 f f . ; dazu auch Lewin, Topologie, S. 30t.

163

Z u m normativen Charakter der Begriffe der Rolle und der Institution vgl. auch Homans, in: Zapf, S. 95fr. Vgl. zum Verständnis der strukturell-funktionalen Theorie als Methode der Ausgrenzung von Untersuchungseinheiten Bergmann, Kritik, S. 134. Homans meint: „Es wird nichts damit erreicht, wenn man die Theorie behandelt, als sei sie etwas anderes als die Erklärung." (Homans, Sozialwissenschaft, S. 95); oder etwas später: „Ich kann gar nicht oft genug wiederholen, daß unsere jeweiligen Erklärungen zugleich unsere Theorien sind." (Sozialwissenschaft, S. 96); „nichts, was nicht eine Erklärung ist, verdient den N a men einer Theorie" (S. 33). Vgl. auch Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Ph. R., Beiheft 5, 1967, S. 194. Z u m Problem des Erklärens sozialer Phänomene vgl. Homans, Sozialwissenschaft, S. 32fr. und 94fr.

164

166

166 167

Vgl. Homans, Elementarformen, S. j S . Deswegen betont Lewin so sehr seinen Ausgang in der Analyse v o m ganzen Feld, das feldtheoretische Prinzip der Gleichzeitigkeit und das Prinzip der Wechselwirkung von Person und Umwelt. U m die damit gekennzeichneten Zusammenhänge sichtbar machen zu können, entwickelte er seine töpologische Begrifflichkeit. Etwa: „ D i e Formalisierung sollte die Entwicklung von Konstrukta bringen, deren jedes von Anfang an sowohl als Träger formaler Beziehungen wie auch als adäquate Repräsentation empirischer Daten betrachtet wird. Das bedeutet, daß die operationalen und die begrifflichen Definitionen nicht beliebig aufeinander bezogen sind, sondern eine innere Kohärenz aufweisen. Es bedeutet ferner, daß die verschiedenen Konstrukta zum vornherein als Glied eines logisch konstruierten und empirisch adäqua-

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ten Systems aufgebaut werden sollten"; Lewin, Feld, S. 68. Vgl. zum Bezug seiner Konstrukta auf die Zusammenhänge des sozialen Feldes u. a. Feld, S. 182, 187, 274t. Vgl. dazu auch Lohr, in: Lewin, Feld, S. 20 (s. o. S. 211). 188 Für Lewin haben die „Gesetze lediglich die Stellung von Ableitungsprinzipien, gemäß denen das tatsächlich eintretende Geschehen aus den dynamischen Eigenheiten der konkreten Situation herzuleiten ist" (Lewin, Topologie, S. 31). Mit anderen Worten:' die in die Theorie eingegangenen Erklärungen dürfen den konkreten Situationen nicht vorweggreifen, sondern haben nur die Funktion des Erkenntniswerkzeuges in ihnen. Diese Beziehung zwischen Theorie und Empirie halten wir für sehr wichtig. l8 ' Homans charakterisiert solche Theorien, welche sich nicht um die Zusammenhänge in der Wirklichkeit kümmern, als „anatomische Theorien". Ihr Prinzip wäre dann, jeweils in ein vorgegebenes begriffliches Ordnungsschema die Bausteine aus der Empirie einzufügen (Elementarformen, S. 8). Er hält einer solchen Theorie die Notwendigkeit von gleichzeitig induktivem wie deduktivem Verfahren vor, wie es auch bei Lewin geübt wird. Anstelle einer Theorienbildung im Sinne strenger Wissenschaftlichkeit bei Lewin setzt Homans jedoch mehr in der Alltagssprache an. 17l) Homans weist darauf hin, daß „die generellen Hypothesen aller Sozialwissenschaften Lehrsätze der Verhaltenspsychologie" sind (Sozialwissenschaft, S. 97). Die Lehrbücher der Soziologie enthalten auch tatsächlich häufig nur die Ergebnisse sozialpsychologischer Forschung mit einigen allgemeinen statistischen Übersichten und sozialphilosophischen Erörterungen; vgl. als Beispiel für eines der neueren P. J. Bouman, Grundlagen der Soziologie, Stuttgart 1968. 171 Vgl. Popper, Gesellschaft II, S. H2ff. 172 Vgl. dazu Metzger, Psychologie, S. 8ff.; zum Ableitungsproblem zwischen Psychologie und Soziologie Homans, Sozialwissenschaft, S. 71 ff. 173 Vgl Popper, Gesellschaft II, S. 109 ff. Auch Popper vertritt die Position des methodischen Individualismus (Elend, S. iiof.). Nur lehnt er es ab, daß diese Position die Konsequenz impliziere, alle Sozialwissenschaft auf Psychologie zurückzuführen (ebd. und in: Adorno, Positivismusstreit, S. 119t.), insofern die Soziologie immer wieder vor der Aufgabe stünde, unbeabsichtigte und unerwünschte Folgen menschlichen Handelns zu erklären, die sich psychologisch nicht fassen lassen. Zur Kritik an Poppers Verhältnis zur Psychologie vgl. Homans, Sozialwissenschaft, S. 63. 174 Vgl. dazu Homans, Sozialwissenschaft, S. 71L; Popper, a.a.O., S. 109fr. 176 Vgl. z. B. Homans, Sozialwissenschaft, S. 60; auch insgesamt seine beiden Hauptwerke. In diesem und anderem Sinn kann man auch von einem feldtheoretischen Ansatz sprechen; vgl. dazu Mey, Studien, S. 199fr.; Lohr, in: Lewin, Feld, S. 39. 178 Zum Verhältnis von Mensch, Gruppe und Institutionen und zum Prozeß der Institutionalisierung vgl. auch Homans, Elementarformen, S. 326 fr.; Sozialwissenschaft, S. 56 und 75; zum Verhältnis von Individuen und Institutionen siehe auch Popper, in: Adorno, Positivismusstreit, S. 122. 480

177

Zur Verwendung des Rollenbegriffes in der soziologischen Literatur vgl. z. B. R. Dahrendorf, Homo Sociologicus, Köln und Opladen 1969, S. 75 ff Dahrendorf führt hier eine ziemlich umfangreiche Literatur an, die mit dem Rollenbegriff arbeitet. Sie würde für uns zumeist in den Bereich der Kulturanthropologie und Sozialphilosophie fallen. Über die Problematik des analytischen Wertes des Rollenbegriffes für die Soziologie vgl. u. a. Homans, Sozialwissenschaft, S. 24ff Zum Rollenbegriff in der Analyse vgl. Homans, in: Zapf, S. 95ff. 1,8 Den Hintergrund dieser Problematik zeigt Popper in seinem Buch „Das Elend des Historizismus", sowie in seinem Vortrag „Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften", abgedruckt in: Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften, S. 113 ff; vgl. auch Kap. VI a. 17 * Zum Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Theorie und Sozialtechnologie vgl. auch Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Topitsch, Logik, S. 181 ff, hier S. 191 ff.; die von den Theorien beschriebenen Gesetzmäßigkeiten können den Spielraum von Handlungsmöglichkeiten abstecken und dadurch Gesichtspunkte ergeben für die Beantwortung der Frage: Was können wir tun? 180 Vgl z u m Folgenden auch Dahrendorf, Homo Sociologicus. - Parsons selbst verlangt, daß man die „implizite Theorie" in den Aussagen untersuchen solle; in dieser Weise analysiert er z.B. den Empirismus; vgl. Structure, S. 10. 181 Dahrendorf sieht folgende Grundstruktur in der Verfahrensweise, wie sie Parsons anwendet: „Von bestimmten wichtigen, aber vorwissenschaftlichen Grunderfahrungen ... ausgehend, werden Fragen formuliert, die taxonomische Antworten verlangen. Die Beantwortung folgt dem Wunsch nach Formulierung eines in sich möglichst kohärenten und geschlossenen Systems von Kategorien" (Pfade, S. 58). 182 Vgl. z. B. Narr, in: Kellermann, S. 14: „die Systemtheorie ist zu einem affirmativen und selektiven Abzugsbild der jeweiligen Wirklichkeit selbst geworden". Darin sei sie nicht wissenschaftliche Theorie, sondern Ideologie. In unserer Sicht wächst dieses selektive Abbild aus der geschilderten Erlebnisweise heraus. Das Typische dieser Erlebnisweise für die Situation des heutigen Menschen könnte erklären, inwiefern diesem selektiven Abzugsbild solche Allgemeingültigkeit zugesprochen wird, daß es weithin zur Grundlage der gegenwärtigen Soziologie werden konnte. 183 Vgl. dazu Bischof, Erkenntnistheoretische Grundlagenprobleme der Wahrnehmungspsychologie, in: Metzger (Hrsg.), Handbuch I, 1, S. 21 ff. 184

Solche Komplexität und Vieldeutigkeit der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit übersieht z. B . Habermas, wenn er in seiner Erkenntniskritik an die „sinnliche Gewißheit" anknüpfen will (Erkenntnis, S. 16 ff; vgl. auch dazu Lobkowicz, a.a.O., S. 257ff). Auch die sinnliche Gewißheit ist von einer Erkenntniskritik nicht ausgenommen. Der Vorwurf der Naivität, den Haberman gegenüber der Wissenschaftstheorie empirischer Wissenschaft geltend macht (a.a.O., S. 90), trifft ihn hier selbst im Blick auf den Ausgangspunkt seiner Selbstreflexion. 481

185 Vgl. dazu Metzger, Der Ort der Wahrnehmungslehre im Aufbau der Psychologie, in: Metzger (Hrsg.), Handbuch I, i , S. u f f . Für ihn ist die Wahrnehmungslehre „Voraussetzung alles Weiteren". Vgl. zur Auswirkung der Wahrnehmungslehre auf die Erkenntnistheorie von Kant z. B. S. 12, Anm. 4. 188

187

188

189

1.0

1.1

182 1,3

194

Fragen der Wahrnehmung, wie sie für eine Erkenntnistheorie relevant werden, sind z. B . : die Verläßlichkeit der Auskünfte unserer Sinnesorgane, ihre Einrichtungen für die Vermittlung, die an sie zu stellenden Mindestforderungen, die Gründe für Fehlerquellen und anderes mehr. Die Wahrnehmung liefert nach Metzger „dem Erkennen gewissermaßen das Rohmaterial" (ebd.). Es ist zu fragen, ob Popper nicht in der Dichotomie von Besonderem und Allgemeinem denkt, vgl. dazu sein Beispiel, daß man nicht aus der Beobachtung von weißen Schwänen schließen könne, daß alle Schwäne weiß seien (Logik, S. 3). Auch sein Gesetzesverständnis zeigt diese Dichotomie, was in der Gegenüberstellung des verschiedenen Interesses der theoretischen und historischen Wissenschaften zum Ausdruck kommt (allgemeine Gesetze - singulare Ereignisse). Vgl. demgegenüber zum Verständnis von Gesetzen in den empirischen Wissenschaften z. B . Metzger, Psychologie, S. 243 ff., sowie das feldtheoretische Gesetzesverständnis (s. o. S. 229f.). Zum Induktionsproblem s. o. S. 290. Logik, S. 5. Vgl. zu einer differenzierteren Auffassung der synthetischen Urteile a priori im neueren Positivismus u. a. Lobkowicz, a.a.O., S. 259f. „ D i e Untersuchung des Erkenntnisvermögens ist selbst erkennend, kann nicht zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist" (Hegel, Geschichte der Philosophie, Bd. III, S. 555f.; Ausg. Glockner; zit. in: Habermas, Erkenntnis, S. 1 5 ; vgl. zum Folgenden: Erkenntnis, S. 15£F.). Phänomenologie, S. 75: „ . . . indem es (Bewußtsein) selbst dies sein Wesen erfaßt, wird es die Natur des absoluten Wissens selbst bezeichnen." Vgl. dazu Habermas, a.a.O., S. 2off. Metzger nennt das den eleatischen Grundsatz in der Wissenschaft: „Das schlußfolgernde Denken" . . . als „unfehlbarer Richter über Sein und Nichtsein" (Psychologie, S. 8 ff.). Vgl. z. B . Habermas, Technik, S. 163; Lobkowicz, a.a.O., S. 268 ff. Vgl. zur Entsprechung im Verständnis von Wissenschaft und Logik bei Aristoteles und Hegel: Popper, Gesellschaft II, S. iöff. und Habermas, Erkenntnis, S. 3 2 ff. Die phänomenale Welt ist nur Durchgang zum absoluten Wissen, der Inhalt der Logik sind die Wesenheiten. Habermas charakterisiert dieses Dilemma treffend: „Allenfalls dürften wir dann die Phänomenologie als Leiter betrachten, die wir, nachdem wir auf ihr zum Standpunkt der Logik emporgeklettert sind, wegwerfen müssen" (a.a.O., S. 33f.). Vgl. zur Theorie des Begriffes: Cassirer, Substanz, S. 5ff.; zur Theorie der intellektuellen Intuition bzw. geistigen Anschauung: Zeller, Philosophie II, 2, S. I92ff. und Popper, Gesellschaft II, S. I7ff.; zum Begriff des absoluten Wissens: Hegel, Phänomenologie, S. 73fr., 5 4 9 f f ; Habermas, Erkenntnis,

482

195

S. 2off.; Popper, Gesellschaft II, S. 391, Anm. 36; Aristoteles, Zweite Analytik, S. 2 1 . Vgl. dazu Bochenski, Logik, S. 3 f f . ; Cassirer, Substanz, S. 3 ff.; Zeller, Philosophie II, 2, S. 67; Geyer, Metaphysik als kritische Aufgabe der Theologie, in: Dantine und Lüthi (Hrsg.), Theologie zwischen gestern und morgen, S. 251 ff", und andere mehr.

186

„Ferner sind die Grundlage des Beweisens Begriffsbestimmungen. Daß es aber davon nicht auch wieder Beweise geben kann, ist früher (Kap. I, 3) gezeigt worden. Sonst werden auch die Grundlagen beweisbar sein, es wird Grundlagen der Grundlagen geben und so fort bis ins Unendliche. Oder aber den Anfang bilden unbeweisbare Begriffsbestimmungen" (Aristoteles, Zweite Analytik, S. 94). Hier haben wir das von Popper dargestellte Problem des regressus ad infinitum (s. o. S. 281). Die Lösung, die Aristoteles dem Problem gibt, bedeutet für das Erkennen die Zurückführung der empirischen Phänomene auf Wesensdefinitionen und ihre Erklärung durch Deduktion von Beweisen auf dieser Grundlage.

197

„Begriff ist ein Ausdruck, der das Dingwesen bezeichnet." (Aristoteles, in: Topik, S. 27) oder: „ W e n n nämlich Begriff ein Ausdruck ist, der für den Gegenstand seine Wesensbestimmung enthüllt, und wenn alles im Begriff Ausgesagte nur auf die Frage antworten darf, was das Ding sei (solche Aussagen sind Gattung und Artunterschied), dann ist klar, daß ein Ausdruck Begriff sein muß . . . " (a.a.O., S. 205) und anderes mehr.

1,8

Vgl. Popper, Zur intellektuellen Intuition bei Aristoteles, in: Gesellschaft II, S. 16 ff. Zweite Analytik, S. 128 ff.: „Es ist also einzusehen, daß wir nur durch Heranholen aus der Erfahrung die ersten Grundlagen gewinnen können. Denn auch die Wahrnehmung vermittelt uns auf diesem W e g das Allgemeine" (S. 130). Umgekehrt aber kann er auch sagen: „Das Allgemeine jedoch und das, was für alle gilt, kann man unmöglich wahrnehmen, da es nicht dieses hier und jetzt ist" (a.a.O., S. 82t.; vgl. dazu auch Gohlke, a.a.O., S. 10).

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200

a.a.O., S. 130, vgl. dazu Zeller, Philosophie II, 2, S. 192fr.; Gohlke, in: Aristoteles, Zweite Analytik, S. 10 ff. Letztlich bleibt die Art der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Allgemeinem unklar. Das führt dann nachher dazu, daß Aristoteles zur Lösung dieses Dilemmas den Nous (Vernunft) einführt. So schließt die Zweite Analytik: „ D a jedoch keine andere an Wahrheitserkenntnis dem Wissen überlegene Kraft vorhanden ist als die Vernunft, so ergreift die Vernunft die Grundlagen, aus diesem Grunde und weil der Anfang alles Beweisens nicht wieder Beweis sein kann . . . Unsere Vernunft ist der Ursprung der Grundlage des Wissens, die Weltvernunft verhält sich zum All entsprechend" (Aristoteles, Zweite Analytik, S. 1 3 1 ) . W i r sind mit Gohlke der Meinung, daß es sich hier um einen späteren Nachtrag des Aristoteles handelt (Gohlke, in: Aristoteles, Zweite Analytik, S. 1 1 f . ; vgl. auch Popper, Gesellschaft II, S. i ö f f ) .

201

Das Wissenschaftsverständnis von Aristoteles geht trotz des Induktionsprinzipes davon aus, daß sich alles Wissen aus den Begriffsbestimmungen als 483

202

203

Wesensdefinitionen ableiten läßt (Zweite Analytik, S. 94, vgl. auch S. 128). Vgl. zur Unterscheidung von demonstrativem und intuitivem Wissen, Popper, Gesellschaft II, S. 358, Anm. 27; zum Wissenschaftsverständnis vgl. Aristoteles, a.a.O., S. iöff.; Metaphysik, S. 54ff. Vgl. zum Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen, bis schließlich alle Unterschiede aufgehoben sind: Zweite Analytik, S. 116, H9ff. „Das Allgemeine ist deshalb so wertvoll, weil es die Ursache enthüllt" (Zweite Analytik, S. 83). Vgl. zum Ursachenbegriff bei Aristoteles auch a.a.O., S. 1 0 2 f . , i o ö f f . , 1 2 3 f r . ; Metaphysik, S. 23fr., 54fr., 1 1 7 ;

Zeller,

P h i l o s o p h i e II, 2 , S . 1 8 8 , 3 2 7 f r .

201 Y g j z u r Entsprechung in der Lehre von der Dynamik bei Aristoteles und Hegel: Popper, Gesellschaft II, S. 48; Hegel, Phänomenologie, S. 20. 205 „So ist es dieser Grundbegriff der Substanz, auf den auch die rein logischen Theorien des Aristoteles dauernd bezogen bleiben. Das vollständige System der wissenschaftlichen Definitionen wäre zugleich der vollständige Ausdruck der substantiellen Kräfte, die die Wirklichkeit beherrschen" (Cassirer, Substanz, S. 9; vgl. auch Popper, Gesellschaft II, S. 18). 20« y g j . zur dichotomischen Begriffsbildung z. B. Zweite Analytik, S. 17, 1 1 8 ; Topik, S. 3 9 f r (Buch I und II der Topik); S. 207 und anderes mehr. Vgl. zur Begriffsbildung auf Grund von Ähnlichkeit und nach Gattung, Zweite Analytik, S. I 2 0 f . ; Topik, S. 29fr., 9 5 f f . , 2 0 7 . 207 Zum Problem der Dynamik vgl. Zeller, Philosophie II, 2, S. 3 51 ff.; Cassirer, Substanz, S. 9ff.; Geyer, Metaphysik, S. 252. Die Dynamik im Kosmos wird von Aristoteles auf eine letzte äußere Ursache zurückgeführt, indem sie ihren Ursprung außerhalb ihrer selber hat und dadurch ihre Einheit findet. Der göttliche Nous als erster Beweger, das unbewegliche ewige Wesen (Metaphysik, S. 283ff.) stiftet die Einheit: „der unbewegte Beweger, göttlicher Ursprung und Gipfelpunkt zugleich jener Hierarchie, die sich im kontinuierlichen Aufstieg von niederer zu höherer Form verwirklicht" (Patzig, Aristoteles, R G G I 3 , Sp. 600). Wir meinen, daß die Schrift „Über die Welt", abgesehen von der noch ungeklärten Verfasserfrage, die logische Konsequenz dieser Linie aufzeigt. Ihr Problem, wie es denn möglich ist, daß „die Welt aus gegensätzlichen Urstoffen bestehe" (S. 46), zeigt mindestens an, daß das Dilemma in der aristotelischen Logik schon früh erkannt wurde und zum Suchen seiner Überwindung herausforderte. Ebenso verbindet sie in der Lehre der Dynamik den Gedanken der äußeren Ursache (unbewegter Beweger) mit der früheren Vorstellung, daß die Dinge ihren eigenen Wesensgesetzen folgen. Der theologisch sich begründende Gedanke der Einheit versöhnt schließlich alle Dichotomien in Logik und Begriffsbildung. 208 y g j (j a 2 U Gohlke, in: Aristoteles, Zweite Analytik, S. 1 1 f.; siehe auch Anm. 200. Wir können in diesem Zusammenhang nicht auf Einzelheiten der Aristotelesinterpretation eingehen, wie der Weg vom Empirismus in die Metaphysik vorzustellen ist. Ob hinter der Logik des Aristoteles bereits implizit eine Metaphysik steht (Ideenlehre des Plato) oder die Entfaltung der Metaphysik erst die Antwort auf das logische Dilemma darstellt, ist für den 484

Sachverhalt selbst gleichgültig, nämlich den unauflösbaren Wechselbezug von Metaphysik und Logik bei Aristoteles. Die Verschiedenheit der Sicht wird damit zusammenhängen, wie man jeweils den Einfluß Piatos auf Aristoteles einschätzt. Mit der Wende zur Metaphysik ist unseres Erachtens auch gleichzeitig eine erneute Hinwendung zur platonischen Ideenlehre verbunden, allerdings auf der spezifischen Grundlage aristotelischer Theologie (Lehre vom unbewegten Beweger). 208 Vgl. die Literaturverweise in Anm. 194. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich beispielsweise in der Geschichte des Positivismus feststellen. Hier mündet der anfängliche Empirismus in einer Sinnphilosophie sprachlicher Formulierungen, die bei Wittgenstein zu einem reinen Verbalismus führt, in welchem der kritische Bezug der Begriffe zur Wirklichkeit verlorengeht, vgl. dazu Popper, Gesellschaft II, S. 371 ff. 210 Vgl di e Literaturverweise in Anm. 195. sn Vgl. dazu Popper, Gesellschaft II, S. 22ff.; Lobkowicz (in Auseinandersetzung mit Habermas), a.a.O., S. 256f. u * Zum Beispiel Kirschen und Fleisch unter die „Merkmalgruppe rötlicher, saftiger, eßbarer Körper", vgl. Cassirer, a.a.O., S. 8; oder „z. B. sind Mensch, Pferd und Gott eines, weil sie alle Lebewesen sind" (Aristoteles, Metaphysik, S. 137). 213 Vgl. Nagel, Structure of Science, S. 380ff.: z. B . im Sinne eines räumlichen Ganzen, einer Zeitepoche, einer Klasse, eines Musters von Beziehungen bestimmter Elemente untereinander, eines Prozesses, eines Gegenstandes, eines Systems und anderes mehr. Mit Recht weist Nagel darauf hin, daß man auch aus der Unterscheidung von Ganzheit und Summe keine Dichotomie machen dürfe (a.a.O., S. 392 ff.). Schlick will Summe und Ganzheit nicht als Gegensatz verschiedener Art von Dingen oder Vorgängen verstanden wissen, sondern als verschiedene Darstellungsweisen, wobei es dann jeweils darauf ankommt, in welcher Weise man das Teil definiert. Nur so könne man die Gedankenlosigkeit des Teilens ohne Rücksicht auf die Zusammenhänge überwinden. Man müsse das Problem der Zuordnung beachten (Über den Begriff der Ganzheit, in: Topitsch, Logik, S. 222f.). Vgl. zur grundlegenden Differenz zwischen Ganzheit im Sinne der Gestalttheorie und Totalität im Sinne der holistischen Philosophien vor allem Popper, Elend, S. 61. Vgl. zu den verschiedenen Arten von Ganzheiten und der Weise, wie das Problem der Zusammensetzung bei Aristoteles gesehen wird, z. B. Aristoteles, Topik, S. 192ff.; Metaphysik, S. I37ff. »14 Vgl. zur Begriffsbildung in der Wissenschaft u. a. Popper, Gesellschaft II, S. 20ff.; Cassirer, Substanz; zur Auseinandersetzung von Popper mit künstlichen Modellsprachen im Neopositivismus: Logik, S. XXffF.; über das Verhältnis von theoretischer Sprache zur Alltagssprache vgl. z. B. Schlick, Begriff, S. 213ff., welcher die Differenz stärker betont, und Popper, a.a.O., S. X I X f f . , welcher die Beziehung zwischen beiden mehr heraushebt, da wissenschaftliche Erkenntnis immer Fortentwicklung alltäglicher Erkenntnis bedeute. Über die Schwierigkeit der Verbindung mathematischer Symbole 485

mit der alltäglichen Sprache vgl. Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1969, S. 171. 215 Ygj ¿ a z u Metzger, Psychologie, S. 8 ff., 244 fr. und anderes mehr. Beispielsweise zeigt der gegenwärtige Positivismusstreit die ganze Fülle der Mißverständnisse. Man beachtet den Bezugsrahmen und die Grundlagen empirischer Wissenschaften nicht. So z. B. setzt Habermas einen Gesetzesbegriff und ein Theorienverständnis in den empirischen Wissenschaften voraus, das in diesen längst überwunden ist (vgl. dazu Habermas, in: Adorno, S. 1 5 7 f r . , 162ff., und dagegen die Aufsätze von. Albert, in: Adorno, S. 193ff. 2Ó7ff.). 216 Zum Beispiel Kirchenbegriff in Dichotomie zum Weltbegriff (s. o. S. 3 i 2 f . ) ; Struktur theologischen Denkens; Situation der Theologie gegenüber den Sozialwissenschaf ten usw.; vgl. zum Aristotelismus in der heutigen Theologie auch Geyer, Metaphysik, S. 2 5 7 f r . 217 Vgl. dazu Drucker, Das Fundament für morgen, Düsseldorf 1 9 5 8 , S. i 8 f f . , wo er darauf hinweist, daß die Einzelwissenschaften bereits Perspektiven entwickelt und Kategorien entfaltet haben, die mit den Grundannahmen des cartesianischen Wirklichkeitsverständnisses nicht mehr in Einklang stehen. Vgl. zum Folgenden C. F. v. Weizsäcker, Descartes und die neuzeitliche Naturwissenschaft, Hamburg 1958. 218 Folgenreich war die unkritische Übernahme seines philosophischen Wirklichkeitsverständnisses in die Naturwissenschaften. Gerade die damit zusammenhängenden Forderungen hinsichtlich des Entwurfes einer deduktiven Naturwissenschaft verfallen heute der Kritik in den Naturwissenschaften selber (vgl. Vermitteltheit der Wirklichkeit durch den Gottesbeweis, Verständnis von Exaktheit, Substanzbegriff u. a.; Weizsäcker, a.a.O., S. 27fr.). 219 Popper, Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft, in: Albert, Theorie und Realität, S. 73 f. S20 y g j z u m Folgenden außer dem in Anm. 219 zitierten Aufsatz vor allem Popper, Logik der Forschung, S. 7 f f . ; Elend des Historizismus, S. I 0 2 f f . ; Was ist Dialektik? in: Topitsch, Logik, S. 263fr.; Logik der Sozialwissenschaften, in: Adorno, S. io6ff.; Albert, in: Theorie, S. 14fr. und Traktat über kritische Vernunft, S. 8ff. und 29fr.; Theorie und Prognose, in: Topitsch, S. I 2 6 f f , bes. S. i 2 8 f . 221 Die Objektivität der Wissenschaft besteht nach Popper in der „Objektivität der kritischen Methode". Diese ist eine kritische Fortbildung der „Methode des Versuchs und Irrtums" (in: Adorno, S. 106). Die Theorien müssen „intersubjektiv nachprüfbar" sein. Aber „begründbar" sind sie nicht (Logik, S. 18). Die Kritik vollzieht sich in ständigen Widerlegungsversuchen (in: Adorno, S. 106). „Die Straße der Wissenschaft ist gepflastert mit abgelegten Theorien, die einst als selbstevident galten" (Popper, Gesellschaft II, S. 23). 222 So Popper, in: Elend des Historizismus, S. 106; vgl. auch Gesellschaft II, S. 275. Andererseits kann er aber wieder sagen, daß es nicht darauf ankäme, wie wir unsere Theorien gefunden, sondern wie wir sie geprüft haben. Vgl. dazu auch die These von Albert, daß Beobachtung und Experiment nur Mittel zur Kontrolle theoretischer Konzeptionen sind (in: Topitsch, S. 129; 486

Traktat, S. 28). Darauf sei das Induktionsproblem beschränkt. Vgl. zur Wechselbeziehung von Induktion und Deduktion z. B . Homans, Elementarformen, S. 8. Die Induktion bezieht sich aber eben nicht auf isolierte Phänomene, sondern auf in der Wirklichkeit beobachtete Zusammenhänge, die dann deduktiv erklärt werden sollen. Insofern kann er sagen, daß er „induktiv zu deduktiven Erklärungen" kommen möchte (s. o. S. 480). So verfuhr er beispielsweise in dem Buch „Theorie der sozialen Gruppe" induktiv, während er in den „Elementarformen" deduktive Erklärungen geben will. Auch die Differenzierung zwischen „phänotypischen" und „genotypischen" Fakten und die damit zusammenhängende Rückfrage „hinter" die direkt beobachtbaren Daten (s. o. S. 208) bleibt im Bereich der Phänomene, insofern der Forscher diese „zugrundeliegende Wirklichkeit" mittels wissenschaftlicher Werkzeuge feststellen kann und in seiner Analyse auf sie trifft. Z u r Ablehnung einer Rückfrage hinter das geschichtlich-soziale Feld vgl. z. B . Feld, S. 274. Z u m Problem von Denken und Lebenswelt in der Philosophie des 19. Jahrhunderts vgl. auch die Frankfurter Antrittsvorlesung von Habermas am 28. Juni 19Ö5, in: Habermas, Technik, S. 146fr., vor allem auch seine Ausführungen über Husserl. Vgl. dazu Gadamer, Phänomenologische Bewegung, in: Ph. R. 1 1 , 1963, S. 19 f . : „Das Wort,Lebenswelt' hat im zeitgenössischen Bewußtsein eine erstaunliche Resonanz gefunden ... Dennoch handelt es sich aber, w o ein neues W o r t erwacht, immer um mehr als um die Vordergründigkeit bewußter Stellungnahme. Ein beharrlich verfolgtes und von vielen geteiltes sachliches Anliegen, das sich noch nicht auszusagen wußte und doch schon lange nach dem rechten Ausdruck suchte, läßt allein die willkürliche begriffliche Prägung eines einzelnen zu einem Wort werden." Gadamer faßt den Begriff „Lebenswelt" als einen Gegenbegriff zur „ W e l t der Wissenschaft" auf (Gadamer, Phänomenologische Bewegung, S. 19). Gerade diesen Gegensatz hat aber die empirische Sozialwissenschaft im Verständnis Lewins überwunden. Lewins Intention war es, die „ W e l t der Wissenschaft" wieder dem Dienst an der „Lebenswelt" zurückzugewinnen. Vgl. zum Begriff „Lebenswelt" bei Husserl auch Hohl, Lebenswelt, S. 21 ff. Z u r Kritik am geisteswissenschaftlich-phänomenologischen Denken in Deutschland und den dadurch geschaffenen Hindernissen für die Entfaltung empirischer Sozialwissenschaften vgl. auch Albert, in: Theorie und Realität, S.6f. Vgl. dazu z. B . Dilthey V , S. 4, 5, 83, 136, 194; IV, S. 2 i o f . ; VII, S. 2 6 1 ; VIII, S. 184, 193 u. a.; besonders VII, S. 334: „ W i r wissen von keinem erlebbaren oder erfahrbaren Träger des Lebens. Dieser wäre zum Leben selbst transzendent. Er gehörte in die Klasse von Begriffen wie Seele oder Gegenstand jenseits des Bewußtseins . . . Ich, Seele sind hinzugefügte Zeitlosigkeiten. W i r wissen aber von nichts als Geschehen und haben kein Recht, einen Träger desselben hinzuzufügen, da dies eine Übertragung des Substanzbegriffes auf die Welt des Erlebens wäre."

487

Aus einem Gespräch mit Professor König erfuhren wir, daß der Gedanke des „Außen" der Wirklichkeit, die ihre Wirklichkeit erweist, indem der Mensch auf sie „trifft", wie er vom Berliner Kreis um Cassirer und Lewin vertreten wurde, auf den Einfluß Diltheys zurückgeht. 228 Das unterscheidet ihn auch von anderen Gestalttheoretikern wie Koffka und Wertheimer, die ihm sonst nahestehen, aber eine Verbindung von psychologischer und physiologischer Ebene im Sinne einer Ableitung versuchen (vgl. Lohr, S. 15). 22» Vgl. u . a . Bühler, Psychologie, S. 99; Maus, in: Handbuch der Soziologie, S. 86. 230 Wissenschaft und Politik, in: Topitsch, Probleme der Wissenschaftstheorie, S. 201 ff.; hier S. 232t. In einem entsprechenden Zusammenhang sieht Dahrendorf das Verhältnis von Wissenschaft und Aufklärimg, vgl.: Die angewandte Aufklärung Gesellschaft und Soziologie in Amerika, S. 27 ff. Dahrendorf bezeichnet die „Rationalität" als Grundzug der amerikanischen Haltung zur Welt, so daß Amerika als politisches und soziales Gebilde durch den Gedanken der angewandten Aufklärung beschrieben werden könne. Dabei unterscheidet er allerdings mit Recht die amerikanische von der französisch-europäischen Aufklärung, insofern die Vernunft hier nicht Göttin, sondern Instrument im Dienst der Machbarkeit der Welt und der Erziehbarkeit des Menschen ist (S. 27). Die Erfahrungswissenschaft vom Menschen sieht er in diesem Z u sammenhang als ein Mittel des aufklärerischen Vernunftglaubens zur Gestaltung der Welt und Erziehung des Menschen. Dahrendorf versteht hier die Aufklärung im Sinne des philosophischen Pragmatismus und stellt die empirische Forschung in diesen Zusammenhang hinein. 231

232

233 234

236

Der Unterschied lag nur darin, daß es für die Aufklärung nicht göttliches Gesetz, sondern Vernunftgesetz war (Topitsch, in: Stammer, S. 34; Sozialphilosophie, S. 77, 273, 279). Die offene Gesellschaft II, S. 275 ff., 284, 304; vgl. auch was S. 246 f. über den kritischen Rationalismus gesagt worden ist. Popper betont, daß auch der Pseudorationalismus, der die Vernunft verabsolutiert, zum Irrationalismus zu rechnen ist. Es handelt sich dabei u m eine Frage des Glaubens und der moralischen Entscheidung, insofern der Mensch vor der Alternative steht „zwischen einem Glauben an die Vernunft und an menschliche Individuen und einem Glauben an die mystischen Fähigkeiten des Menschen, die ihn zum Bestandteil eines Kollektivs machen" (a.a.O., S. 304). Was ist Dialektik?, in: Topitsch, Logik, S. 261 f f , hier S. 288. So Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Topitsch, Logik, S. 198, w o er vom kritischen Rationalismus und der ihm entsprechenden wissenschaftlichen Methode als einer „philosophischen Gesamtorientierung" spricht. Bischof, Erkenntnistheoretische Grundlagenprobleme, in: Metzger, a.a.O., S. 27; vgl. dort auch zu den Glaubensvoraussetzungen des kritischen Realismus, die sich weder beweisen, noch widerlegen lassen, S. 27 ff.

488

238

Vgl. dazu Popper, a.a.O., S. X V I f f . und Jaspers, Philosophie, S. 2sff., 113 ff., 272fr.; Philosophischer Glaube, S. 147fr. Jaspers betont, daß die wissenschaftliche Weltorientierung unerläßliche Bedingung echten Philosophierens sei, da dieses sonst leer und gegenstandlos sei (vgl. Philosophie, S. 25; Glaube, S. 148). Das Heraufkommen der modernen Wissenschaften und des von ihnen intendierten Wahrheitsverständnisses stelle die Philosophie vor die Forderung, ihre eigenen Ziele und Wege methodisch neu zu klären (Glaube, S. 148). Im Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft ist Jaspers der Meinung, daß Philosophie und Wissenschaft in strenger Unterscheidung der Ziele und Methoden, aber dennoch in Verbundenheit gemeinsam gegen mögliche unkritische Verabsolutierungen beider Positionen sowohl um „echte Philosophie" als auch um „echte Wissenschaft" ringen müßten (Philosophie, S. 281 f.).

237

An diesem Punkt trifft sich die empirische Forschung mit philosophischem Denken im Sinne von M. Buber, der die Bedeutung der personalen und interpersonalen Vermitteltheit des Denkens ins Bewußtsein gehoben hat. Zum „Empirismus" Bubers vgl. Schneider, Die geschichtliche Bedeutung der Buberschen Philosophie, in: Schilpp, S. 414fr. Schneider ordnet Buber in die Tradition des religiösen Empirismus ein, betont jedoch, daß er sich von früheren Versuchen unterscheide durch seine Abkehr von einer introspektiven Philosophie und seine Hinwendung zu einer sozialen Psychologie zwischenpersönlicher Erfahrung, so daß man von einem „dialogischen Empirismus" sprechen könne (S. 41 j). Eine andere Auffassung vertritt L. v. Wiese mit seiner Forderung, daß die Fragen der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Sozialwissenschaft (wie aller Wissenschaften) die Domäne der Philosophie seien, nicht aber einer außerphilosophischen Wissenschaftslehre überlassen werden dürften, da sie sonst zur bloßen Technik herabsinken (Philosophie und Soziologie, S. 39). So hat die Sozialphilosophie in ihrer Eigenschaft als erkenntnistheoretische Grundlage der Soziologie die korrelativen Grundbegriffe zu prüfen, mit denen die Soziologie arbeitet (S. 38, vgl. S. I 7 f f ) . Die Problematik zeigt sich aber bereits in der Frage des Verhältnisses der empirischen Untersuchung zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen. L. v. Wiese kann zwar sagen, daß die erkenntnistheoretischen Fragen der Bestätigung durch Erfahrung bedürfen (S. 67, vgl. auch S. 9), aber die Begriffssystematik hat die Tendenz zur Umklammerung der Empirie: sie hat in jedem Fall voranzugehen; die empirischen Ergebnisse müssen zwar mit den theoretischen Voraussetzungen verglichen werden, wobei es dann wohl zu Verbesserungen der Annahmen kommen kann, aber am Schluß steht die Einordnung der empirisch gewonnenen Resultate in die Theorie (S. 36t.).

138

131

Eine solche Philosophie der Wissenschaft und ihrer Geschichte kann die empirische Forschung gerade davor bewahren, ihre Methoden und Begriffe im Sinne zeitloser Logik zu verstehen (in: Schilpp, S. 274). Diese Fragen der Wissenschaftsgeschichte können nach Lewin nicht Aufgabe der historischen Wissenschaft sein, sondern nur der Philosophie, weil es dabei tun grundsätz489

liehe Einsichten in das W e s e n wissenschaftlichen Erkennens, die Bedingungen der Begriffsbildung usw. geht (a.a.O., S. 2'!$l.). 240

Insofern sagt K ö n i g mit Recht, daß die Stellungnahme für die Wissenschaft selbst eine Wertentscheidung und letztlich „Ausdruck einer besonderen Ethik der Verantwortung ist". Überlegungen zur Werturteilsfreiheit bei M . W e b e r , in: Kölner Zeitschrift 1964, S. 1 5 f r . ; v g l . auch Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. i f f . und 39 f r

241

Albert verweist in diesem Zusammenhang w i e Lewin auf die Wissenschaftsgeschichte selbst, welche solche umgreifenden W a n d l u n g e n verstehen lehrt (in: Theorie, S. 14).

242

a.a.O., S. 288. D a r u m fordert Schelsky, daß an die Stelle der früheren Forschungsuniversität die „theoretische Universität" treten solle, deren besondere A u f g a b e er in der „ K o m m u n i k a t i o n in der Theorie zwischen den Fächern" sieht (a.a.O., S. 314).

243

Ein Beispiel für das Übersehen der verschiedenartigen Wirklichkeit in Naturwissenschaften und empirischen Wissenschaften v o m Menschen ist der physikalistische Behaviorismus. V g l . dazu Lohr, in: Lewin, Feld, S. 3 5 f.; s. o. S. 208.

244 V g l dazu König, Einleitung, in: K ö n i g (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialwissenschaft, S. 12. 245

O b z. B . die Diagnose einer Krankheit wahr oder falsch ist, wird sich nicht auf Grund bestimmter Denkvoraussetzungen ableiten lassen, sondern am Verlauf der Krankheit b z w . an der Beeinflußbarkeit dieser Krankheit durch eine bestimmte Therapie zeigen, die in den Zusammenhang eingreift, welcher diese Krankheit ausmacht. Das Urteil „ w a h r " und „falsch" steht hier i m ganzen Ernst der Verantwortung, insofern Leben und T o d v o n Menschen davon abhängen kann. O d e r : Indem die Medizin biologische oder organische Wirkzusammenhänge feststellte, welche d e m Erscheinungsbild bestimmter Krankheiten zugrunde lagen, wurde es unmöglich, „ H e x e n " w e g e n ihrer Gefahr für die Gesellschaft zu verbrennen oder Geisteskranke w i e Verbrecher zu behandeln. O d e r : indem die Statistik den Zusammenhang zwischen Todesstrafe und Verbrechen erhellt, ist es nicht mehr m ö g lich, die Todesstrafe einfach als Schutz für die Gesellschaft zu rechtfertigen.

248

V g l . dazu auch Schelsky: „ . . . ihrem eigenen Wahrheitsgehalt nach sind diese Theorien bis in den Kern hinein immer wieder durch neue Empirie aufzulösen und aufzuheben. Diese prinzipielle Unabgeschlossenheit und U n abschließbarkeit der modernen Wissenschaft ist positiv als .Offenheit des Erkenntnissystems' zu bestimmen und als die Art des Wissens anzuerkennen, in der heute die Wissenschaft ihr W e s e n findet und zugleich das .hellste Bewußtsein des Zeitalters' verkörpert" (Einsamkeit, S. 287).

247

V g l . dazu hinsichtlich empirischer Sozialwissenschaft K ö n i g , in: K ö n i g , Handbuch, S. 11.

248

Das bedeutet nicht, daß empirische Wissenschaft notwendig diesen W e g öffnet. Sie ist wie jedes menschliche Denken dem Mißverständnis und M i ß brauch ausgesetzt. A b e r es besteht die Möglichkeit, daß die Wissenschaft diesen W e g zeigt.

490

K A P I T E L VII 1

Z u m Beispiel das Gespräch der Theologie mit den empirischen Wissenschaften, welche sich mit dem Menschen in seiner konkreten individuellen Lebenswelt beschäftigen, wie Individualpsychologie, Medizin, Psychosomatik, Gruppentherapie, Seelsorge usw.

2

Zur Parallelität des Aufkommens der Wissenschaften v o m Menschen im 19. Jahrhundert zum Aufkommen der Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert vgl. Richardson, Die Bibel im Zeitalter der Wissenschaft, Göttingen 1964, S. 28 ff.; zur Verflochtenheit der historischen Wissenschaft in das Wirklichkeitsverständnis der Neuzeit vgl. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die Theologie, in: W o r t und Glaube, Tübingen 1964, S. 29ff.

3

Die Wende der Theologie zur Geschichtsmetaphysik beginnt bereits mit Herder und der Romantik; führt bei Schleiermacher im Gegenschlag gegen die Rationalisten und Deisten des 18. Jahrhunderts zu seinem Verständnis des christlichen Glaubens als einer positiven historischen Religion (vgl. Richardson, S. 70 ff), findet einen Höhepunkt in der Geschichtsmetaphysik Hegels, in welcher dieser den Inhalt der geschichtlichen Wirklichkeit des christlichen Glaubens von den Vorstellungen zu lösen und im Begriff darzustellen versuchte (vgl. Kahler, Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, München 1962, S. 93 ff), setzte sich fort in der Einwirkung Hegels auf die weitere protestantische Theologie bis Troeltsch, auf welchen dann der Gegenschlag der dialektischen Theologie erfolgte. Auch die Phänomene des Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts und des Deutschen Christentums im 20. Jahrhundert stehen im Zusammenhang solcher Geschichtsmetaphysik.

4

Richardson weist darauf hin, daß es sich zur Zeit Galileis in Wirklichkeit nicht um einen Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion gehandelt habe, sondern um die „Revolte der neuen naturwissenschaftlichen Philosophie gegen die alte pseudo-wissenschaftliche Philosophie des Aristotelismus", die auf dem Hintergrund der kirchlich-institutionellen Machtkämpfe als „Angriff auf die geltende kirchlich-staatliche Ordnung" wirkte (a.a.O., S. 14 ff). Im Blick auf das Verhältnis der Theologie zu den historischen Wissenschaften muß hier allerdings eine Einschränkung gemacht werden: wenn auch die historisch-kritische Methode auf die Ablehnung einer orthodoxen Theologie stieß, welche an dem Welt- und Geschichtsverständnis von Antike und Mittelalter festhalten wollte, wurde sie doch andererseits gerade innerhalb der Theologie angewandt und führte zur Entdeckung von Aspekten, die völlig in Vergessenheit geraten waren (vgl. Ebeling, a.a.O., S. 35, 47). Das Problem dabei war aber dieses, daß die historisch-kritische Methode in der Theologie in der Umklammerung durch Geschichtsphilosophie in Gestalt eines Geschichtspantheismus stand, welcher die Verwendung der Methoden und die Auswertung der Ergebnisse bestimmte, ohne daß man diese Voraussetzungen selbst der Kritik unterwarf (vgl. dazu Bultmann, Glauben und Verstehen, I, S. 5 ff).

491

VII

6

Im angelsächsischen Raum fehlt nach Richardson dieser kontinental-europäische Konflikt zwischen Wissenschaft und christlichem Glauben und die damit zusammenhängende falsche Identifizierung von empirischer Kritik und philosophischem Liberalismus (a.a.O., S. iöff., 4 9 f r . ) . Da die theologische Revolution in England im 19. Jahrhundert von der empirischen Kritik und nicht von einem philosophischen Liberalismus ausging, nahm die Theologiegeschichte in England nach Meinung von Richardson eine andere Wendung als in Deutschland (vgl. Richardson, S. 58 ff.).

• Die Grundforderungen der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, bedeuten letztlich eine Umwandlung der reformatorischen Thesen von der Freiheit der Kinder Gottes, der Gleichheit vor Gott als dem Richter und der christlichen Bruderliebe in die zentralen politischen Themen der heutigen Welt. Es kann nicht als zufällig angesehen werden, daß sich nach der französischen Revolution die Kirche enttäuscht von der neuentstehenden Gesellschaft abwendet und gleichzeitig die europäische Geschichte des Atheismus beginnt. Vgl. auch Bahr, Verkündigung als Information, Hamburg 1968, S. 132fr ' Unter „Gott ist tot" verstehen die sog. „Gott-ist-tot-Theologen" Vahanian, Hamilton, van Buren, Altizer, D. Solle u. a. jeweils etwas Verschiedenes. Aber allen gemeinsam ist, daß es ihnen darin um den Bezug des Glaubens zur geschichtlich-sozialen Lebenswelt geht, nur stellen sie das Problem hinein in die Dichotomie von „überweltlich" und „innerweltlich", Transzendenz und Immanenz, wie wir es als typisch für die philosophische Metaphysik herausgestellt haben. So kommen sie zur Ablehnung eines „überweltlich" gedachten Gottes und möchten den Glauben „innerweltlich" verstehen. Indem sie die Metaphysik überwinden wollen, bleiben sie ihrem Denkschema verhaftet. Zitiert in: Buber, Dialogisches Leben, Zürich 194.7, S. 363. • V g l . Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 19$8, S. 93ff.; Buber, a.a.O., S. 3 6 2 f r . 1 0 Vgl. dazu Plessner, in: Plessner, Philosophie, S. iof. König weist darauf hin, wie Marx' Protest gegen die „totale Philosophie" Hegels selbst in eine neue totale Philosophie umschlägt (Soziologie heute, S. 23 fr.). 1 1 Barth, in: Moltmann, Anfänge der dialektischen Theologie I, München 1962, S. 60, 104; Bultmann, in: Moltmann, S. 119. 1 2 Vgl. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Berlin 1919. Zu den sozial- und geschichtsphilosophischen Anschauungen von Troeltsch und ihren Auswirkungen auf die Kirchengeschichtsschreibung vgl. Wichelhaus, Kirchengeschichtsschreibung und Soziologie, Heidelberg 1965, S. 83 f., 142 fr. Über das Verhältnis von Begriff und Empirie bei Troeltsch sagt Wichelhaus, S. 161: „Troeltsch hat die Erscheinungen in den Begriff gepreßt und nicht den Begriff durch die Erscheinung als Wirklichkeit erwiesen" (vgl. dazu die Ausführungen über Weber, s. o. S. 257f.). Im Gegensatz zu M. Weber versuchte Troeltsch, das Ganze der Wirklichkeit zu erfassen, indem er die Geschichte als Entfaltung der einen göttlichen Ver8

492

nunft verstand (vgl. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, Gesammelte Schriften II, S. 415 ; Wichelhaus, S. 83 f., 154). Mit dieser „metaphysischen Wendung" intendierte er eine Überwindung der Problematik des historischen Relativismus. Die Auffassung vom metaphysischen Zusammenhang allen Geschehens bestimmte auch seine „soziologische Idee" des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft. Weber verfolgte mit seinem Ansatz bei dem vom Individuum gemeinten Handlungssinn die Intention, einen empirischen Zugang zur Sozialwissenschaft zu gewinnen (s. o. S. 260). Troeltsch hingegen ging von einer idealistischen Persönlichkeitsidee aus, die er auch auf die Gemeinschaft übertrug, indem er diese zu einer Gesamtpersönlichkeit bzw. Kollektivperson hypostasierte (vgl. Wichelhaus, S. 142fr., 156). Für Weber war der empirische Charakter der Sozialwissenschaften gerade daran gebunden, daß Gruppen und Gemeinschaften nicht zu Kollektivpersonen erhoben, sondern lediglich als Interaktionseffekt des aufeinander bezogenen Verhaltens einzelner verstanden wurden (vgl. Baumgarten, S. 600). Wir haben bereits auf die Problematik des individualistischen Ansatzes von Weber hingewiesen. Aber ohne Zweifel war er empirisch gemeint, während Troeltschs Auffassungen über Individuum und Gemeinschaft von vornherein sozial- und geschichtsphilosophisch bestimmt sind, was z. B. ganz deutlich in seiner Vorstellung vom Ziel der Geschichte zum Ausdruck kommt: jenseits der Dualismen der Geschichte steht die monadische Identität der Individuen mit Gott und untereinander (vgl. dazu Wichelhaus, S. 175t., 193). 13

14

Troeltsch I, S. 982. Die „soziologische Idee" ist das „soziologische Grundschema" des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft (I, S. 9 t.) als Gleichzeitigkeit des Entstehens von Individuai- und Kollektivperson (vgl. dazu Wichelhaus, S. 157), wobei aber - dem sozialphilosophischen Ansatz entsprechend - trotz aller Betonung des'Wertes der Individualperson ein wirkliches, personales Gegenüber von Individuum und Gemeinschaft dadurch aufgehoben ist, daß es jenseits der Geschichte nur monadische Identität gibt. Die Organisation soll jeweils dazu dienen, das Verhältnis von Individuai- und Kollektivperson zu regeln. Die Gemeinschaftsidee und ihre Organisation ist nach Troeltsch allen sogenannten Dogmen gegenüber das Primäre, sowohl zeitlich als auch sachlich (I, S. 967fr.). Zitiert bei Bultmann I, S. j ; vgl. auch Troeltsch I, S. 968: Christuskult und Christusdogma als „Organisationspunkt" der Gemeinde. Es ist deutlich, daß die Konstruktion jenes sozialpsychologischen Gesetzes und seine Anwendung zur Erklärung der Entstehung des christologischen Dogmas von Troeltschs geschichts-, sozial- und religionsphilosophischen Prämissen abhängen: wenn die Geschichte als solche Entfaltung der einen göttlichen Vernunft ist, an der Individuai- und Kollektivperson in gleicher Weise partizipieren, dann kann der Erscheinung Jesu letztlich nur die Rolle zufallen, daß hier der göttliche Geist die Naturgebundenheit durchbrochen hat; dann hat die Bindung des Glaubens an seine Person nur die Bedeutung des soziologischen Beziehungsmomentes der Gemeinschaft. 493

VII

15

W i e sehr die Fragestellung der dialektischen Theologie auch zeitgeschichtlich zu beurteilen ist, zeigt sich in unserem Zusammenhang darin, daß ihr Protest gegen den Psychologismus als einer Zurückführung des christlichen Glaubens auf psychologische Sachverhalte dem feldtheoretischen Protest gegen den Physikalismus als einer Zurückführung psychologischer V o r gänge auf physikalische Sachverhalte entspricht. Auch ihr Protest gegen den Historismus als einer Ableitung des christlichen Glaubens aus historischen Kausalzusammenhängen entspricht in gewisser Hinsicht der feldtheoretischen Ablehnung des Historismus im Sinne kausaler Ableitung gegenwärtiger Situationen aus der Vergangenheit.

16

K D III/2, S. 2 3 6 . In gewissen Grenzen gesteht Barth dieses zwar auch der Philosophie zu (a.a.O., S. 1 0 5 f f . , 1 2 9 f f . , 237, 2 3 9 f r . ) , aber das Problem besteht darin, daß die philosophische Anthropologie mit der Entdeckung der Phänomene auch die Wirklichkeit des Menschen entdeckt zu haben beansprucht und daß dadurch das Phänomen letztlich verdunkelt wird, während die exakte Wissenschaft die Phänomene das sein läßt, was sie sind (vgl. S. 1 2 1 ) . Indem die Philosophie mehr sehen will als das Phänomen, entgleitet es ihr wieder (S. 126).

17

Es trifft unseres Erachtens nicht zu, was ja auch aus Barths Bemerkung im V o r w o r t zu K D III/2 deutlich wird, daß seine theologische Grundkategorie der Mitmenschlichkeit als Begegnung von Ich und D u eine „theologische Interpretation der Gesellschaft" sei und daß hier von vornherein der Mensch im Kontext der Gesellschaft in den Blick komme (so Bäumler, Der Mensch in der Gesellschaft, in: Dantine (Hrsg.), Theologie zwischen gestern und morgen, München 1968, S. 2o8ff.). Allerdings fügt Bäumler selbst hinzu, daß eine Erweiterung von Barths Ansatz durch die Kategorien der Freiheit und Verantwortung nötig sei, wenn eine wirkliche Vermittlung von Individuum und Gesellschaft gewährleistet werden soll. Jedoch wäre mit einer solchen Erweiterung durch ethische Kategorien das Problem eines theologischen Zugangs zum Phänomen der Gesellschaft nicht gelöst, da die ethische Perspektive hier nicht ausreicht (vgl. Kap. VII c).

18

U m diesen Nachweis ging es beispielsweise M . W e b e r in seiner empirischen Analyse des Kapitalismus, wenn er gegenüber der Einseitigkeit einer Interpretation desselben durch die marxistische Philosophie die Bedeutung der geschichtlichen Wirksamkeit ethischer Faktoren herausstellte oder umgekehrt auf die Bedeutung ökonomischer Faktoren in der Geschichte des Verfalls des römischen Reiches hinwies gegenüber einer philosophisch-ethischen Interpretation, die diesen einseitig auf einen sittlichen Verfall zurückführen wollte (s. o. S. 266).

19

Vgl. zum Verhältnis von Struktur und Wirklichkeit in der Empirie, Metzger, Psychologie, S. 65.

20

V g l . dazu Jonas, Heidegger und die Theologie, in: Ev. Theol. 24/1964, S. 621 ff. V g l . zum Problem der Personvergessenheit Jonas, a.a.O., S. 638f.; auch Hollenbach, in: Krise des Zeitalters der Wissenschaften, S. 157ff. Jonas

21

494

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23

24

fragt z. B., ob überhaupt ein Denken, das sich als Selbstlichtung eines anonymen Seins versteht, geeignet ist als Analogie zu der von der Bibel geforderten personalen Antwort des Menschen, die sich nicht nur im Denken, sondern auch im Tun äußern muß, und die nicht als unmittelbarer Ausdruck des Seins, sondern als Akt personaler Verantwortung zu verstehen ist (a.a.O., S. 639). Vgl. Jonas, S. 631 f. Jonas zeigt dieses zwar primär am Beispiel der Bedeutung des späteren Heidegger für die Theologie auf, aber es betrifft gleichzeitig das Bündnis der Theologie mit der Philosophie von „Sein und Zeit" (vgl. seine Ausführungen über den metaphysischen Charakter der Existentialien, S. 624, 633 t.). Zwar lehnt Bultmann ausdrücklich ab, daß eine Philosophie im Sinne katholischer oder liberaler „natürlicher Theologie" zum Unterbau für die Dogmatik wird (I, S. 295, 311). Aber faktisch besteht die Gefahr, daß die Existentialanalyse zu einer Art „Unterbau" wird, insofern letztlich doch die formalen Strukturen zum Kriterium für das Verstehen der Offenbarung werden. Diese Konsequenz wird z. B. deutlich, wenn Bultmann sagt, daß der Mensch aus dem lumen naturale wisse, was Offenbarung sei. Was der Glaube darüber hinaus zu sagen wisse, sei lediglich, daß die Offenbarung Ereignis geworden ist und je und je wird (vgl. vor allem Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, ZThK 11, 1930, S. 351 f-)Zur Formulierung vgl. Bernet, Verkündigung und Wirklichkeit, Tübingen 1961, S. 38; Bultmann, Kerygma und Mythos II, S. 192; Glauben und Verstehen I, S. 312; Die Geschichtlichkeit des Daseins, a.a.O., S. 339 und J50. Zur Position des späteren Heidegger, vgl. Jonas, a.a.O., S. 624ff., 638; Robinson, in: Robinson-Cobb, Der spätere Heidegger und die Theologie, Zürich 1964, S. 42ff.

26

Ott, Was ist systematische Theologie?, in: Robinson-Cobb, S. ioöff. Michalson weist darauf hin, daß der Bezug auf die Geschichte aus der Sprache des späteren Heidegger fast völlig verschwunden sei (in: RobinsonCobb, S. 171). Indem er der Seinsfrage den Vorrang gibt, würde er übersehen, daß die Geschichte der Ort des Menschen und der unausweichliche Horizont alles Forschens, auch der Frage nach dem Sein, sei (S. 173 ff.). Eine an der Seinsfrage orientierte Theologie würde übersehen, daß in der Bibel nicht die Frage nach dem Sein, sondern die nach geschichtlicher Bedeutsamkeit gestellt würde (S. 175). Er kommt zu dem Schluß: „Eine ontologisch orientierte Hermeneutik eignet sich nicht für einen radikal geschichtlich eingestellten Glauben" (S. 186). Es ist auch zu fragen, ob Wirklich die Geschichte zwischen Gott und Mensch (Ott, Denken und Sein, S. 27) in den Blick kommen kann, wenn die gesamte geschichtliche Wirklichkeit auf Sprache reduziert wird (vgl. Ott, a.a.O., S. 31). Hier zeigt sich die Gefahr, daß eine Sprachphilosophie zur Basis biblischer Hermeneutik wird. Wenn Ott Michalson entgegenhält, daß er Heidegger mißverstehe, insofern die Frage nach dem Sein identisch sei mit der Frage nach dem „Wesen der Geschichte" (in: Robinson-Cobb, S. 242ff.), so ist darauf zu erwidern, daß 495

VII

gerade die Frage nach dem „ W e s e n der Geschichte" in dieser Weise weder v o m christlichen Glauben noch von empirischer Forschung gestellt werden kann. Empirische Forschung meint ein Erkennen in der Wirklichkeit, nicht des Wesens der Wirklichkeit. Die Antwort des Glaubens ist immer innerhalb der Geschichte (vgl. Michalson, S. 175). 28 27

28

V g l . dazu Jaspers, Philosophischer Glaube, S. 138 ff. Z u m engen Zusammenhang von Philosophie und moderner Physik vgl. z. B . C . F. v. Weizsäcker, Weltbild der Physik, S. 200ff. Vgl. auch P. K . Feyerabend, in: Plessner, Philosophie, S. 203fr. über den Unterschied z w i schen einer spekulativen Naturphilosophie, die aus Prinzipien deduziert, und einer kritischen Naturphilosophie, die sich auf Erfahrung stützt. V g l . Tillich, Gesammelte W e r k e V , S. m , 120. W i r stimmen Tillich in dieser Aufgabenbestimmung zu, w i e auch in der Feststellung, daß sich jede Theologie philosophischer Kategorien bedient (V, S. 111 f.), jedoch können wir seine Lösung dieser Aufgabenstellung nicht teilen, da für ihn die O n t o togie Grundvoraussetzung und Grundbedingung der Theologie ist (vgl. Biblische Religion und die Frage nach dem Sein, Stuttgart 1956, S. 69ff.). Es erscheint uns problematisch, daß Tillich die im Gespräch mit der Theologie relevante Frage „einengt" auf die Frage nach dem Sein (vgl. V , S. i i 2 f f . ) und daß die Orientierung an dieser bestimmten philosophischen Frage Kriterium für die Theologie zu sein hat (vgl. Biblische Religion, S. 16; VI, S. 110).

V g l . dazu auch Matthes, Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964, S. 103 f. 80 Moltmann, Die Theologie in der W e l t der modernen Wissenschaften, S. 8. 8 1 Allerdings ist die Stellung der Kirchensoziologie im System der Wissenschaften umstritten, vgl. S. 3 1 4 f r . 3 3 Ihr besonderes Interesse richtete sich bisher auf die sozialen Beeinflussungsfaktoren der Kirchlichkeit und ihre Verteilung auf die Bevölkerung, die sie durch Klassifizierung der Gottesdienstbesucher nach Merkmalen wie soziale Herkunft, Schichtung, Alter, Geschlecht zu erheben versucht. V g l . zu Fragestellung und Ergebnissen der Kirchensoziologie Freytag, Aufgaben und Methoden der empirischen Erforschung von Kirchengemeinden, in: Goldschmidt/Greiner/Schelsky, Soziologie der Kirchengemeinde, Stuttgart i960, S. i f f . ; Rendtorff, Tendenzen und Probleme der kirchensoziologischen Forschung, in: Goldschmidt/Matthes, Probleme der Religionssoziologie, 2. Aufl., Köln/Opladen 1966, S. 191 ff.; Fürstenberg, Problemgeschichtliche Einleitung, in: Fürstenberg (Hrsg.), Religionssoziologie, Neuwied 1964; Josuttis, Die Bedeutung der Kirchensoziologie für die praktische Theologie, in: Verkündigung und Forschung 1967; Matthes, Kirche und Gesellschaft, Einführung in die Religionssoziologie II, Hamburg 1969. 24

38

Matthes, Kirchliche Soziallehre als Wissenssystem, Dialogzeitschrift 2, 1969, S. 102ff., hier S. I i i .

84

a.a.O., S. 112; vgl. auch Emigration, S. 75fr. und Säkularisierungsthese, in: Goldschmidt/Matthes, Probleme der Religionssoziologie, S. 65 ff.

496

in:

Internationale

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36

37

38

V g l . zum folgenden Matthes, Emigration, S. 2 0 f f . ; Aspekte der Kirchensoziologie, in: Mitarbeit 1962, S. 427ff. Matthes, Religion und Gesellschaft, Einführung in die Religionssoziologie I, Hamburg 1967, S. 74 f r ; vgl. zum Folgenden auch Rendtorff, Z u r Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung von der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, abgedruckt in: Matthes, Religion und Gesellschaft, S. 208 ff. Dieser Religionsbegriff wurde auf Grund der Kritik an der christlichen Tradition und Kirche gewonnen und zu einem allgemeinen B e g r i f f v o n Religion erweitert (Matthes, a.a.O., S. 73). Die Diskussionen um den Kirchenbegriff, um das „ W e s e n " des Christentums und um die Differenz von Christentum und Religion, w i e sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geführt wurden und in der dialektischen T h e o logie und Bonhoeffers Konzeption v o m „religionslosen Christentum" einen Höhepunkt erreichten, sieht Matthes als Ausdruck dieses spezifischen Verständnisses von Säkularisierung und expliziter Religion an (vgl. Religion und Gesellschaft, S. 73 fr., 87).

38

Z u r praktischen Anwendung dieser These i m Sinne einer Handlungstheorie mit ihren problematischen Implikationen vgl. Emigration, S. 66ff., bes. S. 68, w o Matthes den „soziotaktischen Modernismus kirchlichen Handelns" kritisiert, der die säkulare Gesellschaft „okkupieren" möchte.

40

V g l . Religion und Gesellschaft, S. 89 und 91 ff. Matthes stellt als das „unausgesprochene Fazit" von M . Webers Religionssoziologie heraus, daß Religionssoziologie i m Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft nur als Soziologie der Ergebnisse der Säkularisierung möglich sei.

41

Z u r Kritik an der Kirchensoziologie vgl. außer den bereits genannten V e r öffentlichungen von Matthes v o r allem Luckmann, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963, S. 1 4 f f . und 7 8 f f . ; Fürstenberg, in: Fürstenberg, S. 2 3 f f . und Matthes, Aspekte der Kirchensoziologie, in: Die Mitarbeit, 11/1962, S. 423 ff.

4a

Matthes, Kirche und Gesellschaft, S. I2ff.; v g l . auch Fürstenberg, in: Fürstenberg, S. 26, w o er darauf hinweist, daß das in der Kirchensoziologie angewandte Begriffssystem auf theologisch relevanten Vorentscheidungen beruhe. In einer Disziplin der Soziologie müßten die Begriffe eindeutig soziologischen, nicht theologischen Bedeutungsinhalt haben.

43

V g l . dazu Matthes, Kirche und Gesellschaft, S. I 4 f . und Matthes, B e m e r kungen zur Säkularisierungsthese, in: Goldschmidt/Matthes, S. 6 5 f f . Mit ihrer Beschränkung auf das Kirchensystem sei sie eine „Theorie der sozialen Irrelevanz v o n Religion g e w o r d e n " (Kirche und Gesellschaft, S. 90). Luckmann w i r f t der Kirchensoziologie vor, daß sie ein vertieftes Verständnis der Religiosität in der modernen Gesellschaft erschwert habe, insofern nach ihren Ergebnissen Religion heute ein Ausnahmephänomen sei (a.a.O., S. 3 1 ) .

44

Luckmann z. B . bezeichnet die Kirchensoziologie als eine „triviale Disziplin" (a.a.O., S. 20), die der Tradition der klassischen Religionssoziologie untreu geworden sei und deshalb keine wirkliche Renaissance der Religions-

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VII

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Soziologie bedeute (S. 81). Matthes und Rendtorff hingegen sind der Meinung, die „kirchensoziologische Phase in der Religionssoziologie" könne nicht als Irrweg abgetan werden, da sie in der Konsequenz der älteren Ansätze liegt (Kirche und Gesellschaft, S. n ) . a.a.O., S. 36fr., 43, 72ff. „Diese Grundform (der Religion) ist durch die religiöse Urfunktion bestimmt: als Bindung und Transzendenz ist sie das schlechthin Sinngebende des menschlich-gesellschaftlichen Daseins. Als Sinngefüge der Gesellschaftsordnung ist sie etwas Objektives ... vermöge dessen der einzelne zur Person wird . . . " (S. 36). Luckmann kann auch von der „inneren Form der Weltanschauung einer Gesellschaft" sprechen (ebd.). Die gegenwärtige Religiosität sieht er durch radikale Privatisierung und Subjektivierung gekennzeichnet (S. 72). Die subjektive Individualität werde zur neuen Sozialform der Religion (S. 73). Zur Kritik von Luckmanns Ansatz vgl. Matthes, Kirche und Gesellschaft, S. 23; Religion und Gesellschaft, S. 189. Goldschmidt definiert für die Grundlegung einer neuen Religionssoziologie Religion im „phänomenologisch-funktionalen Verständnis" als ein „normatives System", das dem einzelnen die Bewältigung existentieller Fragen ermöglicht und den Zusammenhalt der Gesellschaft garantiert. Er urteilt selbst, daß durch eine solche Arbeitshypothese „Religion und Ideologie dicht aneinandergerückt" seien (in: Goldschmidt/Matthes, Probleme, S.4).

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47

Vgl. Matthes, Religion und Gesellschaft, S. 115 ff.; Kirche und Gesellschaft, S. 23t.; Rendtorff, Zur Säkularisierungsproblematik, in: Matthes, Religion und Gesellschaft, S. 229. Eine allgemeine Religionssoziologie wäre dann nur im Zusammenhang der vergleichenden Soziologie möglich (Religion und Gesellschaft, S. 117). „ . . . eine Dichotomisierung von Kirchlichkeit und Religiosität birgt immer die Gefahr in sich, erstere als religiös, letztere als kirchlich minderwertig zu verstehen und damit wieder die Einsicht aufzuheben, daß Religiosität ohne die Möglichkeit kirchlicher Manifestation ebensowenig denkbar ist wie Kirchlichkeit ohne die Latenz einer kirchlich indifferenten Religiosität. Alle Versuche, die Mängel einer an Explizität fixierten Kirchensoziologie zu überwinden, müssen scheitern, wenn sie von einer allgemeinen Religiosität ausgehen, denn diese ist ... ohne das gesellschaftliche Widerlager einer institutionell manifesten Kirchlichkeit nicht zu identifizieren" (Matthes, Kirche, S. 28).

48

Vgl. dazu Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S. 233 fr., besonders die Ausführungen über die „Arbeitshypothese Gott" und die „Diesseitigkeit" des christlichen Glaubens, und S. 183: „religiös interpretieren" heißt: „einerseits metaphysisch, andererseits individualistisch reden", vgl. dazu auch S. 178 ff. Es ist wohl kaum ein Zufall, daß er sich im Zusammenhang dieser Überlegungen mit Weizsäcker, Weltbild der Physik (vgl. S. 210) und mit Dilthey beschäftigte (vgl. S. 82), der ja gerade die Metaphysik als Grundlage der Erklärung der Wirklichkeit in den Einzelwissenschaften ablehnte.

4*

Vgl. zu diesem Verständnis von Säkularisierung Matthes, Soziologische

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Anmerkungen zum Thema „Welt-Geschichte-Eschatologie", in: Marguli, Mission als Strukturprinzip, S. 78ff., hier S. 8of.; vgl. auch: Bemerkungen zur Säkularisierungsthese, in: Goldschmidt/Matthes, S. 7 1 . Es wird nicht deutlich, welches Kirchenverständnis Matthes selbst voraussetzt. Z w a r spricht er von der „Mehrdimensionalität des Verhältnisses von Religion, Kirche und Gesellschaft" (Luth. Monatshefte 3, 1964, S. 136), seiner Variationsbreite und Komplexität, aber wie kann er dann andererseits dieses Verhältnis als „letzte Einheit" bezeichnen (ebd.) ? Mit Recht sagt er, daß Theologie und Kirche „dem unaufgebbaren Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens in der Differenziertheit des gesellschaftlichen Lebens" nachgehen sollten, statt ihn „kirchlich herzustellen" (Emigration, S. 25), was letztlich auf die häretische Ansicht hinausliefe, daß menschliches Handeln auf das Geschichtshandeln Gottes Verfügung gewinnen will (in: Margull, S. 78f.). Aber die Frage bleibt, was unter dieser Differenziertheit konkret zu verstehen ist. Rendtorff Theologie in der Welt des Christentums, in: Neuenzeit (Hrsg.), Die Funktion der Theologie in Kirche und Gesellschaft, München 1969, S. 358ff., hier S. 364 und 366. Vgl. dazu Christentum außerhalb der Kirche, Hamburg 1969, S. 12, 69 und 9 1 ; Theologie in der Welt des Christentums, in: Neuenzeit, S. 367: wir leben in der „ W e l t der Folgen des christlichen Glaubens", nicht der Gegensatz, sondern die gleichlaufende Intention von moderner Gesellschaft und christlichem Glauben und Denken ist charakteristisch für unsere Zeit (S. 366). Diese Folgerung legt sich von daher nahe, daß Rendtorff sagt, heute löse das ethische Zeitalter das dogmatische ab (Christentum, S. 69) und daß er auch das undogmatische, persönliche Christentum vorwiegend unter ethischen Gesichtspunkten beschreibt (a.a.O., S. 81 ff, vgl. auch S. 7 o f f ) . Wenn er für den Glauben als charakteristisch ansieht, daß er eine Auswahl von Möglichkeiten aus der christlichen Überlieferung trifft und die Kriterien der Auswahl aus der „Struktur des Glaubens" selbst ableitet, so scheint er auch hier eine ethisch-rationale Auffassung des Glaubens vorauszusetzen (solche Kriterien sind u. a. Angewiesenheit auf ein Vorbild, Individualität, Einsicht in die Grenzen des tätigen Lebens, S. 7 o f f ) . Das Verständnis des Christentums als kultureller Größe zeigt sich besonders darin, daß Rendtorff bewußt an die Tradition der christlichen Aufklärung mit ihren Konzeptionen von der christlichen Gesellschaft anknüpft und ihre umfassende Rezeption in der Gegenwart fordert (Zur Säkularisierungsproblematik, in: Matthes, S. 2 5 f f ) . W i r stimmen ihm zwar darin zu, daß die Kirche heute ihrer praktischen Aufgabe nicht nachkommen kann, wenn „die nichtkirchliche Wirklichkeit theologisch unbegriffen bleibt" (Theologie und Kirche, Gütersloh 1966, S. 215) und daß es eine Fülle möglicher Verwirklichungen des christlichen Glaubens gibt, aber die Folgerungen, die daraus gezogen werden, können wir nicht teilen. Z u m Problem der Allgemeinheit und Unbestimmtheit des Begriffes von

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VII

„ k o n k r e t e r " b z w . historisch vermittelter Religion v g l . Matthes, Kirche, S. 9 1 : „Gesellschaft ist, u m mit D ü r k h e i m zu sprechen, ohne Religion nicht denkbar, und zwar ohne die Religion, die sie hat, und die sich, auf welcher Stufe subjektiver Bewußtheit und strukturbildender K r a f t auch immer, in jedem Handeln realisiert." N a c h Matthes ist Religion i m Bereich der christlichen Kultur gesellschaftlich verfaßt, a) als „wesentlich auf sich selbst bezogenes Kirchensystem", b) als mit dem Kirchensystem verbundenes, aber eigengewichtiges System v o n Kulturmustern, in denen religiöse W e r t e in Verhaltensweisen und Denkorientierungen umgesetzt sind und werden, und c) in ein Feld locker gruppierter Religiositätsstile, in denen sich religiöse W e r t e mit erfahrenen und antizipierten Situationsdeutungen

verbinden

(a.a.O., S. 149). Religion organisiert sich demnach gesellschaftlich als „plurifunktionales oder multiples S y s t e m " (a.a.O., S. 1 2 3 ) . E r spricht in diesem Zusammenhang auch davon, daß sich Religiositätsmuster als „stark kleingruppenhaft . . . gebundene K o n f i g u r a t i o n e n " zeigen, w o b e i er diese unter dem Aspekt subjektiver Aneignung v o n expliziter und in K u l t u r muster transformierter Religion sieht (ebd.). Ausdrücklich weist Matthes darauf hin, daß eine Soziologie des Christentums nur mit soziologischen, nicht mit speziell religionssoziologischen Begriffen arbeiten könne, da der B e g r i f f Religion selbst nur als „ p h ä n o m e n a l e " , nicht als „analytische K a t e g o r i e " verwandt werden kann (Religion, S. 1 1 7 ) . Das hochkomplexe P h ä n o men Religion sei einer „unmittelbaren Operationalisierung offenbar nicht zugänglich", sondern m a n könne nur bestimmte Indikatoren auswählen, mit deren Hilfe Religion identifiziert werden soll (Kirche, S. 66f.). N i m m t m a n nun bestimmte Institutionen, W e r t e usw. als Indikatoren, so bleibt unseres Erachtens die Frage, w i e sich daran die höchst vieldeutige G r ö ß e „ C h r i s t e n t u m " wirklich fassen läßt. 65

Es scheint uns die Gefahr nicht genügend abgewehrt zu sein, daß in der Soziologie des Christentums ein theologisch-philosophischer B e g r i f f v o n „latenter Christlichkeit"

und ein historisch-soziologischer

Begriff

von

Christentum als kulturellem Phänomen ineinanderliegen. Die „ T h e o l o g i e des Christentums" und die „ S o z i o l o g i e des Christentums" setzen offenbar denselben B e g r i f f v o n „ C h r i s t e n t u m " voraus. Darüber w i r d jedoch erst die bisher noch nicht erfolgte D u r c h f ü h r u n g dieses Ansatzes endgültig A u f schluß geben können. 66

V g l . dazu auch R . M e h l , Bedeutung, Möglichkeiten und Grenzen der Soziologie des Protestantismus in theologischer Sicht, in: Goldschmidt/ Matthes, Probleme, S. 112 f f . M e h l geht davon aus, daß es sich bei einer Soziologie des Protestantismus u m eine spezielle Soziologie handle, die nicht einfach als Variation allgemeiner Religionssoziologie verstanden werden könne. D i e Besonderheit dieser Soziologie sieht er begründet in dem geschichtlichen und theologischen Faktum, daß die christliche Verkündigung v o n A n f a n g an die Gründung v o n Gemeinschaften angestrebt hat, die in ihrem Leben, ihrer Tätigkeit und ihrer Organisation durch das apostolische K e r y g m a und die v o n i h m repräsentierte Offenbarung bestimmt sind (S.

500

112). Angesichts dieser Gemeinschaften handele es sich nicht einfach um das Problem, den allgemeinen Einfluß der Religion auf die Gesellschaft festzustellen, es handelt sich vielmehr „um die Erforschung von Gemeinschaften, die originär durch die Verkündigung des Evangeliums gegründet sind, um dieses zu hören und zu verwirklichen" (ebd.). Bei der Soziologie des Protestantismus handelt es sich im speziellen um „das Studium der durch die Verkündigung des Wortes und die Verwaltung der Sakramente differenzierten und strukturierten Gemeinschaften" (S. 118). Die Möglichkeit einer Soziologie des Protestantismus beruht darauf, daß „die apostolische Verkündigung die Gründung von Gemeinden zum Ziele hatte, die durch die christliche Botschaft geformt waren, sich von der Gesamtgesellschaft unterschieden und trotzdem nicht von ihr abgesondert waren. Diese historische und soziologische Tatsache begründet die Besonderheit dieser Soziologie" (S. 113). Mehl unterscheidet zwischen „Globalgesellschaft" und „differenzierten Gesellschaften" innerhalb dieser (S. 112). " Vgl. zu diesem Problem Honecker, Theologie und Soziologie, in: Ev. Kommentare 9, 1969, S. 501 ff., hier S. 506; Josuttis, Die Bedeutung der Kirchensoziologie für die praktische Theologie, a.a.O., S. 61 und 86ff.; Matthes, Kirche und Gesellschaft, S. 100f. Matthes sieht die Schwierigkeit vom soziologischen Standpunkt besonders darin begründet, daß der Prozeß der Übernahme von Forschungsergebnissen in die Praxis beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaften noch nicht zuverlässig kontrolliert werden kann. M Zum Beispiel hängen viele Probleme zusammen mit dem weithin herrschenden Empirismus und Positivismus in der Soziologie, der gegen den älteren Historismus und spekulative Theorien protestierte, ohne doch die Pnobleme des Erkenntniszuganges und der Methoden lösen zu können (Religion und Gesellschaft, S. 103). Die mangelnde Berücksichtigung wissenssoziologischer Fragen in der Kirchensoziologie, die z. B . zur Untersuchung der organisationeilen und sozialen Bedingtheit des kirchlichen Lehrwissens hätten führen müssen, ist nicht nur in der „pastoralen Orientierung" begründet, sondern auch darin, daß der Ansatz zu einer Wissenssoziologie selbst in der Soziologie umstritten und problematisch ist (Kirchliche Soziallehre als Wissenssystem, in: Internationale Dialogzeitschrift 1969/2, S. 102ff.). Luckmann weist darauf hin, daß die Soziologie kirchlicher Institutionen der vorherrschenden Ansicht von der Soziologie als einer Wissenschaft von gesellschaftlichen Institutionen entspricht (S. 14). 59 Zur Orientierung der Kirchensoziologie an der strukturell-funktionalen Theorie vgl. Matthes, Kirche und Gesellschaft, S. 93 ff., 243; Emigration, S. 89f.; Kirchliche Soziallehre als Wissenssystem, a.a.O., S. I03. 60 Vgl. dazu Wendland, Einführung in die Sozialethik, Berlin 1963, S. 15f.; Die Kirche in der modernen Gesellschaft, Hamburg 1956, S. 27. Ursprünglich hatte Wendland die Aufgabe der Sozialethik auch als Entwurf „christlicher Ordnungen" verstanden (vgl. dazu a.a.O., S. 91 ff. und Tödt, Theologie der Gesellschaft oder theologische Sozialethik?, in: ZEE 4, 1961, 501

VII

81

62

S. 221, 228 ff., 234L). Dieses lehnt er jedoch in seinen neueren Veröffentlichungen ausdrücklich ab, vgl. Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, Gütersloh 1967, S. 93 f. Chr. Walther, Zum Problem von Theologie und Gesellschaft, in: Glaube und Gesellschaft, Beiheft zur „Lutherischen Rundschau", Stuttgart 1966, S. 5ff., hier S. 5. Wendland, Die Kirche, S. 27. G. Weisser hält den Begriff, .Sozialethik" überhaupt für ungeeignet, da es in den Fragen der Gesellschaftsgestaltung um Grundentscheidungen und Grundanliegen, z. B. auch kultureller und emotioneller Art gehe, die mit ethischen Kategorien nur unzulänglich zu erfassen seien. Er bevorzugt deshalb die Bezeichnung „praktische" oder „normative Sozialwissenschaft" (Weisser, Das Postulat „verantwortliche Gesellschaft" erkenntniskritisch und sozialwissenschaftlich erörtert, in: Beckmann-Weisser, Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 76f.).

Vgl. dazu auch Matthes, Emigration, S. 44L und 99 über die Neuanfänge kirchlicher Arbeit nach dem Krieg als Werk einzelner initiativreicher Theologen und Laien, die bestimmte gesellschaftliche Möglichkeiten aufgriffen. 64 Tödt, a.a.O., S. 228 ff; vgl. auch Matthes, Emigration, S. 102 ff. Es handelt sich dabei vor allem um die Übernahme und theologische Deutung der These von der gegenwärtigen Gesellschaft als „sekundärem System" (vgl. Wendland, Botschaft an die soziale Welt, S. 1 2 4 f r . , 1 3 7 L , 1 7 0 f r . ) . 65 Vgl. Tödt, a.a.O., S. 239. Wendland übersieht z. B. die umstrittene Position, die Freyer selbst innerhalb der Sozialwissenschaften einnimmt, vgl. König, in: König, Soziologie, S. 152; vgl. auch Matthes, a.a.O., S. 103, wo er darauf hinweist, daß die Unterscheidung in „primäre" und „sekundäre" soziale Systeme innerhalb der Soziologie nur Instrument zur Analyse konkreter sozialer Systeme sein könne, während sie von Freyer „zu einer globalen, letztlich sozialphilosophischen Deutung unserer Zeit" ausgeweitet sei. 66 Tödt, a.a.O., S. 234t.; Matthes spricht im Blick auf die zeitgenössische Sozialethik von einem Zirkelverfahren, in welchem „zwangsläufig alles das zum Gegenstand der Betrachtung und des Handelns wird, dessen Ausdruck, Funktion und Bestandteil sie letztlich ist" (Emigration, S. 100; vgl. auch S. 103 f.). 63

67

Vgl. dazu Person und Gesellschaft in evangelischer Sicht, Köln 1965, sowie den Aufsatzband: Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, Gütersloh

68

So diskutiert er beispielsweise die Fragestellungen Individuum-Gemeinschaft und Individuum-Gesellschaft unter theologischer und sozialphilosophischer Perspektive (Auseinandersetzung mit idealistischen und romantischen Vorstellungen von Gemeinschaft; Gemeinschaft als Teilhabe an einer sittlichen Ordnung usw.; vgl. Person, S. 25 ff.), nicht in den Zusammenhängen sozialpsychologischer Forschung. Zum Verhältnis von Person und Institution vgl. u. a. Einführung in die Sozialethik, S. I2f., 27; Person und Gesellschaft, S. 2 o f f ; Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 103, 152. Vgl. Die Kirche in der modernen Gesellschaft, S. 15 ff; Einführung in die

1967.

69

502

Sozialethik, S. 5 2 L ; Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 34ff. 69fr., 1 4 1 , iö4f. Vgl. dazu auch Tödt, a.a.O., S. 223, Anm. 58. Matthes kritisiert an diesem Entwurf einer „Theologie der Gesellschaft", daß als „soziologisch" bezeichnete Aussagen als Bestandteile der theologischen Deutung aufgenommen würden, die in Wirklichkeit gar keine soziologischen Aussagen, sondern globale sozialphilosophische Deutungen unserer Zeit seien. Er sieht dies darin begründet, daß das „innersoziologische Z u standekommen" dieser Aussagen nicht geprüft würde (a.a.O., S. 103). 70

71

72

73

Vgl. dazu seine Darstellung von Wendlands Position (S. 222f.) und die sich daran anschließenden kritischen Ausführungen S. 223 ff. a.a.O., S. 235, 238fr. Hier muß man allerdings hinzufügen, daß Wendland sich in seinen neueren Veröffentlichungen um ein theologisches und soziologisches Verständnis der Einheit von Kirche und Gesellschaft bemüht (vgl. Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 6'jS.). Vgl. dazu Person und Gesellschaft, S. 67; Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 94; im übrigen vgl. auch Anm. 60. Vgl. Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 93, 103, I i i , 1 1 6 ; Person und Gesellschaft, S. 67fr.; Einführung, S. n : Die christliche Sozialethik hat sowohl eine kirchliche als auch eine „universal-humane Bestimmung". Letztere erfüllt sie, indem sie „Forderungen allgemeinen humanen Charakters" entwickelt, die aber in den „Prinzipien und Forderungen einer christlichen Humanität" gründen (Kirche, S. m ) . Z u m Leitbegriff des christlichen Humanismus vgl. auch Einführung, S. 1 7 fr.

74

Vgl. z. B . Einführung, S. 1 3 f . : „ W o h l aber gibt es christliche Grundforderungen, die in jeder denkbaren Gesellschaft geltend zu machen sind, in welcher die christliche Botschaft verkündet wird. Diese sind jedoch auf die Realitäten der faktischen Gesellschaft zu beziehen." Er kann diese Grundforderungen auch bezeichnen als „unverrückbare Ansatzpunkte, die für die christliche Sozialethik aller Zeiten und unter allen Gesellschaftssystemen maßgebend sind" (Botschaft, S. 167). Vgl. dazu Moltmann, Die Wahrnehmung der Geschichte in der christlichen Sozialethik, in: Ev. Theol. 15, i960, S. 279.

75

Wenn Wendland gegenüber dem Relativismus historischer oder soziologischer Art die Verbindlichkeit von „Fundamental-Institutionen" geltend macht, in deren Rahmen auch die sozialethischen Maßstäbe und Leitbilder gegeben sind (Einführung, S. 15 f.), so steht er darin unsereres Erachtens in einem geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Denselben Versuch hat die philosophische Wertmetaphysik vergeblich unternommen. Die mit dem Historismus gegebene Problematik scheint auf diesem Wege nicht überwindbar zu sein.

76

H . Weber, Normative Sozialwissenschaft - Evangelische Soziallehre und Sozialethik, in: Z E E 3, 1965, S. 129fr. Zitiert bei H. Weber, a.a.O., S. 130, 1 3 1 und 1 3 3 . Vgl. dazu Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Topitsch, Logik, S. 181 ff., hier S. 197t. und S. 209f. Albert sieht das Hauptproblem

77 79

503

VII

darin, daß angesichts der bekenntnishaften Einführung v o n A x i o m e n das Kriterium

intersubjektiver

Überprüfbarkeit

zurücktritt

gegenüber

der

Berufung auf subjektive Uberzeugungen. 79

So auch H. W e b e r , a.a.O., S. 133f.

80

Weisser, Das Postulat

„Verantwortliche

Gesellschaft", in:

Beckmann/

Weisser, S. 79. 81

a.a.O., S. 78. H . W e b e r schließt sich zwar in seinem Versuch einer V e r bindung zwischen theologischer Soziallehre und normativer Sozialwissenschaft dieser Differenzierung v o n Weisser an, insofern er sagt, daß die sozialethischen Aussagen in den Bereich mittelbarer Entscheidungen gehören und daß die Sozialethik deshalb nur „mittlere A x i o m e " oder „ M a x i m e n sozialer Entscheidung" erstellen könnte, die dann v o n der normativen Sozialwissenschaft bekenntnismäßig eingeführt werden könnten (a.a.O., S. 146t.; v g l . dazu auch H . W e b e r , Theologie der Gesellschaft als Soziallehre und Sozialethik, in: Z E E 10, 1966, S. 236ff., hier S. 243 und 252). W e n n er aber die Besonderheit dieser „mittleren A x i o m e " darin sieht, daß sie auf den ontologischen Aussagen der christlichen Soziallehre basieren und dieses mit der Feststellung verbindet, daß nur eine ontologisch begründete Sozialethik mit der normativen Sozialwissenschaft in Beziehung gesetzt werden könne (ZEE 1965, S. 147, vgl. auch S. 145 und 143), dann ist - abgesehen v o n der theologischen Problematik dieses Ansatzes - zu fragen, o b er der Intention v o n Weisser selbst gerecht wird, der die Versuche „einer ontologisch begründeten christlichen Ethik" kritisiert mit dem Argument, daß sie einen Versuch darstellen, „logisch unentbehrliche Grundentscheidungen durch Ableitungen aus Sachwissen zu ersetzen" (a.a.O., S. 79). Vielleicht könnte es hilfreich sein, wenn die Differenzierung v o n Weisser in den Zusammenhang der Unterscheidung zwischen „ U n b e d i n g t e m " und „ B e d i n g t e m " gestellt würde, w i e sie Tillich gibt.

82

Es geht Weisser letztlich u m die ethischen Probleme, w i e sie sich dem „ G e sellschaftsgestalter" konkret angesichts seiner A u f g a b e stellen, nicht u m allgemeine N o r m e n für Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. Weisser, in: B e c k mann, S. 76).

83

V g l . H . W e b e r , a.a.O., S. 147; siehe auch A n m . 81.

84

Z u r Erwartungshaltung der gesellschaftspolitisch führenden Kreise gegen-

85

V g l . dazu den Bericht v o n Karrenberg, Stand und A u f g a b e christlicher

86

V g l . dazu auch Beckmann, in: Beckmann/Weisser, S. 12f., w o er darauf

über der Kirche vgl. Matthes, Aufgabe, in: Luth. M o n . 2, 1963, S. 8. Sozialethik, in: Gestalt und Kritik des Westens, S. 199ff. hinweist, daß die Probleme der Ehe und Familie hinter den Fragen des Staates, der Politik und Wirtschaft zurückgetreten sind; vgl. auch Wendland, Kirche, S. 141 ff. 87

Matthes sieht das Dilemma der kirchlichen Soziallehre darin, daß sie sich mit ihren Problemstellungen und Lösungsversuchen an den gesellschaftlichen Autoritäten orientiere. Dies zeige sich z. B . daran, daß sie in den letzten Jahrzehnten nur solche Probleme diskutiert habe, die bereits von anerkann-

504

ten Instanzen gesellschaftlicher Autorität repräsentiert worden seien. Nicht der in sozialen Primärsituationen handelnde Einzelne sei der eigentliche Adressat der kirchlichen Soziallehre, sondern der Träger gesellschaftlicher Positionen, der auf Grund solcher Positionen die Definition gesellschaftlicher Probleme und ihrer Lösungen als Geschäft betreibt und von der kirchlicheil Soziallehre Legitimationen erwarte. Dieses hänge wiederum damit zusammen, daß die Träger der kirchlichen Soziallehre Gruppen und Institutionen seien, denen es primär darum gehen müsse, „die Autorität des etablierten Kirchensystems und die Relevanz der von ihm vertretenen Lehre für gesellschaftliches Handeln zu erweisen" (Kirchliche Soziallehre als Wissenssystem, a.a.O., S. i09f.). 88

Vgl. P. Collmer, Sozialhilfe, Diakonie, Sozialpolitik, Stuttgart 1969, S. 9f. Collmer weist auf die Diskrepanz zwischen unserem Sozialsystem und der neuzeitlichen Gesellschaft hin. Auch in der diakonischen Arbeit der Kirche ist der Bezug zur gesamten Gesellschaft zu wenig entfaltet worden. Sie steht noch immer zu sehr unter den Leitvorstellungen sozialer Nothilfe, die sich an den sozial gefährdeten oder gescheiterten Menschen und Gruppen der Gesellschaft orientiert. Hier zeigen sich die Folgen, daß in Deutschland eine Sozialpädagogik als wissenschaftliches Fach fehlt, das eine gemeinsame theoretische Basis für alle in der sozialen Arbeit stehenden Berufe erarbeiten könnte. Die individuelle Not und die Gesellschaftsprobleme hängen eng zusammen. Gerade die Feldtheorie zeigt, wie wenig isolierte Maßnahmen hinsichtlich isoliert gesehener Situationen helfen können.

89

Die Sozialwissenschaft trennte sich bereits in ihren Anfängen von den sozialreformerischen und gesellschaftskritischen Bemühungen sozialphilosophischen Denkens. Dies ist der Punkt, an welchem Saint-Simon und Comte auseinandergingen. Comte intendierte eine Wissenschaft von der Gesellschaft, welche über die wissenschaftlich-systematisch gewonnenen und vermittelten Einsichten in die soziale Wirklichkeit eine Umgestaltung der Gesellschaft herbeiführen sollte, nicht über philosophisch begründete Reformpläne, die unmittelbar die vorgefundene soziale Situation zu ändern bestrebt waren (vgl. zur Unterscheidung zwischen Gesellschaftskritik und empirischer Wissenschaft und ihre Beziehungen zueinander: König, in: König, Soziologie, S. 9).

,0

Vgl. zum ersteren: Emigration, S. 99; zum letzteren: Kirchliche Soziallehre, a.a.O., S. 1 1 2 . " Vgl. dazu auch Tödt, S. 2 4 1 : es ist der Gemeinde versagt, „eigene Werte zu produzieren und sie der Gesellschaft anzubieten, . . . wohl aber muß ihr alles daran gelegen sein, daß der Umgang mit begegnenden Normsystemen und Wertvorstellungen aus dem Gehorsam des Glaubens heraus erfolge . . . " . • 6 Vgl. dazu König, Einleitung, in: Handbuch, S. 16. 93 Weizsäcker, Tragweite der Wissenschaft, S. Höf. " Gogarten, Protestantismus, in: Moltmann, Anfänge der dialektischen Theologie II, S. 196. ,s Moltmann weist darauf hin, daß der in den normativen Ordnungssystemen

505

VII

vorausgesetzte Ordnungsbegriff griechischer Denkstruktur sei. Das

NT

biete keine Seinslehre der Ordnungen: „Darum scheinen ein theologischer Abschied von der Frage nach stabilen Ordnungshypostasen in Welt und Geschichte notwendig und ein Suchen nach Weisungen für die Hingabe an die Relativitäten der Prozesse erforderlich zu sein" (Wahrnehmung, a.a.O., S. 274). 98

Weisser stellt heraus, daß zwar in den Sachfragen bereits ein breiter Raum des Zusammenwirkens von evangelischer Ethik und Sozialwissenschaften besteht, aber er beklagt, daß die erkenntnistheoretischen Vorfragen noch zu wenig diskutiert würden (in: Beckmann/Weisser, S. 7of.).

97

Rendtorff, Gesellschaft und Geschichte, in: Karrenberg, Spannungsfelder evangelischer Soziallehre und Sozialethik, S. 1 5 4 f r , hier S. 154. Rendtorff entwickelt hier seinen Ansatz in Rückgriff auf die Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie Hegels, vgl. S. 1 6 1 ff.

98

Schulze, Gottesoffenbarung und Gesellschaftsordnung, München

1968,

S. 16 und 13 f. 99

Vgl. zur Kritik an einem theologischen Verfahren, das sich von der Soziologie den „Wirklichkeitsunterbau" liefern läßt, auch Ch. Walther, a.a.O., S. 14, und Theologie und Gesellschaft, Zürich 1967, S. 1 3 5 L Walther selbst fordert eine „theologische Theorie der Gesellschaft", die - wie er im A n schluß an das Theorienverständnis von Schelsky, Ortsbestimmung, ausführt -

den sozialwissenschaftlichen Klärungs- und Deutungsversuchen

sozialer Sachzusammenhänge und ihrer Sinnbezüge entspricht. Sie soll vor allem im Gespräch mit der Soziologie eine theologisch eigenständige Analyse sozialer Phänomene bieten (ebd.). 100 Z u der Notwendigkeit, in der Theologie heute wieder bei der Frage anzusetzen, vgl. Bastian, Theologie der Frage, München 1969. Ihm gebührt auch das Verdienst, schon früh auf die Bedeutung des Ansatzes eines analytischen Wissenschaftsverständnisses f ü r die Praktische Theologie a u f m e r k sam gemacht zu haben, vgl. Verfremdung und Verkündigung, Theologische Existenz heute, 1 2 7 ; V o m Wort zu den Wörtern. K . B a r t h und die A u f gaben der Praktischen Theologie, in Evangelische Theologie, 28, S. 25 f f . Einen Weg in unserer Richtung zeigt das gerade erschienene Buch von Th. Vogt, Herausforderung zum Gespräch, Zürich 1970. Leider können w i r es nicht mehr in der Weise aufnehmen, wie w i r es möchten. Es finden sich darin viele Entsprechungen zu unseren eigenen Überlegungen. In seiner Bemühung, das theologische Denken f ü r die E r f a h r u n g der Wirklichkeit o f f e n zu halten, in welcher der Mensch heute lebt, wählt Vogt ein induktives Verfahren, obwohl ihm die vielen unbewältigtcn methodischen und theologischen Probleme desselben bewußt sind (S. i 6 f . ) . So ist das Buch ein Beispiel d a f ü r , wie Theorie und Praxis gegenseitig vermittelt werden können. 101

Schon in den 30er Jahren forderte der amerikanische Theologe A . T . Boisen eine „empirische Theologie". Er verstand darunter eine „authentische Untersuchung der eigentlichen Quellen lebendiger Offenbarung, d. h. der Menschen selbst". Sie sollte sich vor allem auf den Menschen in der Krise

506

beziehen und auf das, was in der menschlichen Krise von ihm offenbar wird (Stollberg, Therapeutische Seelsorge, S. 173 f.). Im Jahre 1936, in welchem Boisen sein Hauptwerk veröffentlichte, erschien gleichzeitig ein Aufsatz von W . Gruehn über „empirische Theologie". Z u m Ansatz von Boisen und Gruehn vgl. Stollberg, a.a.O., S. 163ff. und 172fr Zur Zeit wird der Ausdruck „empirische Theologie" auch von amerikanischen Theologen aufgenommen, die einen unmetaphysischen Zugang der Theologie zur menschlichen Wirklichkeit suchen. Vgl. dazu Marty, in: Peerman, Theologie im Umbruch, München 1967, S. 27ff. Wir selbst sind durch sachliche Erwägungen zu diesem Namen gekommen und stellten erst nachträglich fest, daß er auch schon von anderen vorgeschlagen war. Das weist unseres Erachtens auf übergreifende Zusammenhänge hin, zu denen bestimmte theologische Überlegungen führen. 102

Theologiestudium, Entwurf einer Reform, hrsg. von W . Herrmann und G. Lautner, München 1965. Vgl. dazu auch die Stellungnahmen der verschiedenen studentischen Reformkreise, wie sie in: Hess/Tödt (Hrsg.), Reform der theologischen Ausbildung, Stuttgart 1967 ff. genannt werden, besonders die Beiträge von W . Herrmann (s. Anm. 107). 103 Plädoyer für eine neue Praktische Theologie, vorgelegt vom Arbeitskreis Fakultäts- und Studienreform der Fachschaft Evangelische Theologie Münster, in: Reform der theologischen Ausbildung, Bd. 3, S. 65ff., hier S. 67. 104 Ygi ¿ a z u Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 262, w o er darauf hinweist, daß die heutige Wissenschaft überhaupt nur fortschreiten könne, indem sie sich einerseits immer mehr spezialisiert, gleichzeitig aber in immer neuen Zusammenhängen integriert. 105 Homans, in: P. Homans (ed.), The Dialogue Between Theology and Psychology, Chicago 1968, S. iff. loe Ygj Delahaye, Überlegungen zur Neuorientierung der Pastoraltheologie heute, in: Metz (Hrsg.), Gott in Welt, Freiburg 1964, S. 217t. Er fordert eine praktische Theologie als Grundwissenschaft, die sich mit der Klärung der theoretischen und praktischen Grundprobleme des Gespräches auseinandersetzt, das die Theologie mit den anderen Wissenschaften führt. 107 TJJ Herrmann, Mündigkeit, Vernunft und die Theologie, Kritische Perspektiven der Studentenschaft zur Studienreform, Sommer 1968, in: Hess/ Tödt (Hrsg.), Reform der theologischen Ausbildung, Bd. 2, Stuttgart 1968, S. 52ff., bes. S. 56fr., und Alternative Studiengänge - Eine Projektstudie, in: Hess/Tödt (Hrsg.), Reform der theologischen Ausbildung, Bd. 3, Stuttgart 1969, S. 17fr., bes. S. 29ff. 108 Zwar betont Herrmann, daß die Kirche als Leib Christi schon immer begründet sei und daraus nur die Konsequenzen ziehen müsse (II, S. 61). Aber es ist doch zu unterscheiden zwischen einer Theologie, die solche Begründungen durch irgendwelche Deduktionen erstellen will, und der theologischen Bemühung, das Geschehen der Beziehung von Gott und Mensch auszusagen, vgl. Kap. Villa.

507

VII

10

' Wenn Herrmann sagt, in der Arbeit an den drei wissenschaftlichen Gegenständen der Theologie müsse es sich erweisen, „ob es sinnvoll oder unsinnig ist, von so etwas wie W o r t Gottes zu reden" (III, S. 32), dann ist zu fragen, was hier verifizierbar sein soll. 110 In ähnlicher Weise fordert Ebeling im Blick auf die historisch-kritische Methode, daß sich die Theologie gemeinsam mit Geschichtswissenschaft und Philosophie um eine Lösung der noch ungeklärten Problematik des Verstehens von Geschichte bemühen müßte (in: Wort und Glaube, S. 37). m V g j z u dieser Entsprechung der Bedeutung von historisch-kritischer und empirisch-kritischer Wissenschaft für Theologie und Kirche auch Josuttis, Die Bedeutung der Kirchensoziologie, a.a.O., S. 92. 112

113

Beispiele für unbewußtes Psychologisieren und Soziologisieren nennt W ö l ber, a.a.O., S. 241 ff. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Theologie der Soziologie „ein Erkennen der Grundstrukturen der Gesellschaft" eröffnen kann durch den „Hinweis, daß auch das soziale Sein seinen Grund hat im neuen Sein in Jesus Christus" und ihr auf diese Weise einen realen Gegenstand vermitteln könnte (so Lindner, Theologie und Soziologie, in: Z E E 10, 1966, S. 65ff., hier S. 73). Die Rolle der Theologie im „System der Wissenschaften" wäre dann dieselbe wie die der Philosophie früher: das fehlende ontologische Fundament zu erstellen.

114

Es kann sich also nicht einfach darum handeln, von den Sozialwissenschaften „Material" zu übernehmen oder sich Techniken anzueignen. R . König weist darauf hin, daß der Mensch viel mehr Erfahrungen im Umgang mit der Wirklichkeit macht, als die empirische Wissenschaft aufzeigen kann (Grundformen, S. 53; Beobachtung, S. 4öf.; Grundlagenprobleme, S. 43 f.).

116

In ähnlicherWeise definiert Schulze die Methode der Sozialtheologie: sie könne weder rein induktiv noch rein deduktiv, sondern nur konfrontativ vorgehen (Gottesoffenbarung und Gesellschaftsordnung, S. 12). Sie könne kein normatives System entwickeln, sondern ein „System der Konfrontationen" des sozial jeweils Gegebenen mit dem biblischen Offenbarungszeugnis (a.a.O., S. 13). Nur würden wir meinen, daß eine solche Konfrontation Wirklichkeitbezug und erkenntnistheoretische Problemstellungen empirischer Forschung konstitutiv einbeziehen muß (zur Auseinandersetzung, s. o. S. 33of.).

KAPITEL VIII

VIII

1

So weist z. B . Moltmann darauf hin, daß sich „die Erkenntnis von der biblischen Erschlossenheit der Wirklichkeit als Geschichte in ihrer Diastase zur griechischen Wesensfrage und zum griechischen Kosmosdenken erst heute in der protestantischen Theologie eine neue Bahn bricht" (in: Ev. Theol. 20, S. 267).

2

Vgl. dazu vor allem G. v. Rad, Theologie des Alten Testamentes, Bd. I,

508

München 1957, S. i u f f . ; Theologie des Alten Testamentes, Bd. II, München i960, S. 8ff., 37off. u. a. Die Geschichte ist nicht ein „Akzidens der Offenbarung", das man auch wieder von ihr ablösen kann, sondern „der Ort des wirklichen Handelns Gottes" (a.a.O., S. 12). Pannenberg spricht von der „indirekten Selbstoffenbarung Gottes" in seinem Geschichtshandeln (W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: Pannenberg (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, Kerygma und Dogma, Beiheft 1, 3. Aufl., Göttingen 1965, S. 91 ff.; vgl. dazu auch die Beiträge von R. Rendtorff und U . Wilckens in diesem Band über das Offenbarungsverständnis im Alten und Neuen Testament, a.a.O., S. 2 i f f . und 42ff). Zur Auseinandersetzung mit den Thesen von Pannenberg, s. o. S. 349ff. 3

Vgl. dazu auch die Thesen Bonhoeffers über die „Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit" (Ethik, München 1949, S. 6off.). Vrijhof sieht in diesem Ansatz Bonhoeffers eine definitive Überwindung der Dichotomie von Natur und Übernatur, Jenseits und Diesseits (P. Vrijhof, Was ist Religionssoziologie?, in: Goldschmidt/Matthes, Probleme, S. 10-35, hier S. 28). 4 Vgl. dazu G. Ebeling, Theologie und Wirklichkeit, in: Wort und Glaube, S. 202, wo er darauf hinweist, daß von Gott, Welt und Mensch theologisch nicht getrennt lind an sich, sondern nur in einem einzigen Wirklichkeitszusammenhang geredet werden könne. Die entscheidende Wirklichkeitsdifferenz lasse sich nur beschreiben mit dem Entweder-Oder eines Wirklichkeitsverhältnisses im Glauben oder Unglauben. Vgl. auch Anm. 8. s Wir meinen mit dem Begriff „Intentionalität" eine Weise, in der lebendige personale Wirklichkeit gegeben ist. • Vgl. dazu G. Gloege, Offenbarung und Überlieferung, Hamburg 1954, S. 2 j : Das im Alten Testament bezeugte Offenbarungsgeschehen ist „grundsätzlich personaler Art" und zeigt doch gleichzeitig einen Zug zum LeiblichKonkreten, ja zum Sachhaft-Dinglichen. 7 Vgl. dazu z. B . G. Bornkamm, Jesus von Nazareth, Stuttgart 1956, S. 63, über die Gleichnisse Jesu: „Sie bedienen sich der immer schon und jedem vertrauten und verständlichen Welt mit ihren Vorgängen im Leben der Natur und im Leben des Menschen mit der ganzen Mannigfaltigkeit seiner Erfahrungen, seines Tuns und Leidens... Immer ... bleiben sie im Bereiche dessen, was jeder versteht und tägliche oder doch mögliche Erfahrung ist." 8 Aus diesem Grunde gehören die Botschaft von der Heilstat Gottes in Christus und die Annahme dieser Heilstat im Glauben selbst unablösbar zum Heilsgeschehen (z. B. 2. Kor. 5, 18; Rom. 1, i6f.; 10, 6ff. u. a.; vgl. dazu G. Bornkamm, a.a.O., S. 14fr.; Paulus, S. 165t., 203; Geschichte und Glaube, Teil I, München 1968, S. 9ff.; vgl. auch Käsemann, Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, S. 278 f. und 283 f.). Auch das Alte Testament betont den Gegenwartsbezug des Handelns Gottes, vgl. z. B. das deuteronomische „Heute" (Dtn. 5, 3; 1 1 , i f f ; 26, i6ff.).Allerdings hat die Zukunftsperspektive, besonders in der prophetischen Botschaft, hier das eigentliche Gewicht (v. Rad, AT-Theologie II, S. 125 ff). Zum Verhältnis von Gegenwart und Zukunft s. u. S. 5i2f. 509

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V g l . dazu Gloege, Aller T a g e T a g , Stuttgart i960, S. 281 f.: D e r Osterglaube

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bedeutet nicht, an die Auferstehung glauben, „sondern an den Auferstandenen, an ihn in Person. A b e r gerade weil w i r an ihn als Person glauben, vermögen w i r nie v o n seiner Geschichte abzusehen . . . " V g l . dazu auch Käsemann, Perspektiven, S. 61 ff., bes. S. 95: „Paulus kennt

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nur einen Inhalt des Glaubens, nämlich Christus als Herrn . . . " D a r u m kann Glaube nicht als Annahme v o n einzelnen Fakten verstanden werden, sondern nur als personale Relation (vgl. Gal. 2, 20). Diese personale Struktur des Glaubens ist bereits für das Alte Testament kennzeichnend: „ M a n glaubt an Jahwe und nicht an Sachverhalte" (v. Rad II, S. 394). Dieses ist eins der Grundphänomene, v o n welchen die Gestaltpsychologie

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ausging, vgl. dazu Katz, Gestaltpsychologie, S. 15 ff. und s. o. S. 29 t. Im Verständnis der empirischen Wissenschaften geht es in der Frage nach der Gestalt u m die Frage nach wechselseitigen Beziehungen in der Wirklichkeit, das ist, die Wirklichkeit ist nur in diesen Beziehungen gegeben. Sie stehen „ j e i m Schatten ganz besonderer Ereignisse, Führungen oder

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Setzungen Gottes" (v. Rad, II, S. 381). So meinen beispielsweise die atl. A u s sagen über Jahwes „Gerechtigkeit" keine Definitionen seines Wesens und keine N o r m , sondern bestimmte Taten, in denen er seinem V o l k Heil schenkt und seine Gemeinschaftstreue erweist. Im Blick auf den Menschen meint Gerechtigkeit ein gemeinschaftsgemäßes Verhalten, das in den verschiedensten und scheinbar konträrsten Vorgängen konkret wird (vgl. v . Rad, I, S. 368ff.). In den synoptischen Evangelien ist der Begriff öixaioavvt]

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Sinne verstanden. D e r paulinische Begriff der Sixaiüavvrj d e m synoptischen B e g r i f f ßaoiXela

öeov:

i m ethischen

fteov

entspricht

beide beziehen sich darauf, daß

Gott sein Recht auf den Menschen geltend macht (vgl. Käsemann, Perspektiven, S. 133; Bultmann II, S. 200). 14

Das individualistische und spiritualistische Mißverständnis der Rechtfertigungslehre und andere mit ihr zusammenhängende Verstehensschwierigkeiten hätten vermieden werden können, wenn man darauf geachtet hätte, daß in der Bibel dieselben Sachverhalte mit verschiedenen Begriffen und verschiedene Sachverhalte mit denselben Begriffen ausgesagt werden. A u c h Paulus selbst bringt beispielsweise die Rechtfertigungsbotschaft i m R ö m e r brief und i m 1. Korintherbrief in verschiedener Weise und Begrifflichkeit zur Sprache. In 1. K o r . 1, 29 ff. ist sie bezogen auf die „ S ü n d e " der Griechen, die ihre Selbstbehauptung und ihren Selbstruhm in ihrer eigenen Weisheit suchen, statt die Weisheit Gottes zu suchen und Gott zu rühmen.

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So dient z. B . der Schriftbeweis dazu, an Vorgängen aus d e m Alten Testament zu verdeutlichen, was sich in der Gegenwart ereignet (vgl. Luk. 4 , 1 7 f f . ) . A u c h die typologische Auslegung bezieht V o r g ä n g e auf Vorgänge, z. B . das O p f e r Jesu auf die Opferriten des Alten Testaments (Hebr. 7-10). Selbst die allegorische Auslegung interpretiert durch V o r g ä n g e : z. B . in 1. K o r . 10, 1 - 4 wird an Hand der Geschichte v o n Massa und Meriba (2. Mose 17) verdeutlicht, was Christus i m Abendmahl tut.

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Dieses wird beispielhaft deutlich in der Auslegung der Geschichte von der Sturmstillung bei Matthäus (8, 23 ff.). Wie Bornkamm zeigt, wird hier die „Sturmfahrt der Jünger mit Jesus und die Stillung des Sturmes auf die Nachfolge und damit auf das Schifflein der Kirche" gedeutet: die irdische Geschichtejesu und die Geschichte der Gemeinde in der Nachfolge des erhöhten Herrn interpretieren sich wechselseitig (vgl. dazu Bornkamm, Die Sturmstillung im Matthäus-Evangelium, in: Überlieferung und Auslegung im Matthäus-Evangelium, Neukirchen i960, S. 48ff.). Zur wechselseitigen Erhellung vergangener und gegenwärtiger Geschichte im Alten Testament vgl. v. Rad II, S. 375. Vgl. dazu F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, hrsg. v. M . Redeker, Berlin i960, § 1 1 5 : „ D i e christliche Kirche bildet sich durch das Z u sammentreten der einzelnen Wiedergeborenen zu einem geordneten A u f einander- und Miteinanderwirken." Das Mitteilungsbedürfnis führt die einzelnen, nachdem sie Christen geworden sind, zusammen. Das bringen alle neutestamentlichen Bilder für die Kirche zum Ausdruck, s. o. S. 74 ff. In seiner Kritik an der dialektischen Theologie, daß sie Offenbarung und Kirche direkt durch das Wort der Verkündigung verbunden habe, weist Rendtorff darauf hin, daß der Zusammenhang zwischen der abgeschlossenen Christusoffenbarung und der gegenwärtigen Kirche in der faktischen Geschichte der Kirche liegt (T. Rendtorff, Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff, in: Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, S. H5flf., hier S. 126 ff.). Vgl. dazu auch Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen I, S. 2 i 4 f f , bes. S. 222f.: die Kontinuität liegt im Evangelium - was dieses aber ist, läßt sich nicht historisch verifizieren, sondern nur durch den Glauben, „ v o m Geist überführt und auf die Schrift hörend, entscheiden". Die Kontinuität ist letztlich die „Kontinuität der praesentia Dei". Vgl. dazu W . Kreck, Wort und Geist bei Calvin, in W . Schneemelcher (Hrsg.), Festschrift für Günther Dehn, Neukirchen 1957, S. Iö7ff. Kreck betont, daß die eigentliche Intention Calvins in seiner Lehre v o m Heiligen Geist die ist, „daß die Vollmacht des Wortes Gottes eigene Vollmacht ist und bleibt" (a.a.O., S. 179). Vgl. zu diesem Verhältnis von Schrift und Geist, Tradition und dem „anredenden und sich gegenwärtig manifestierenden Gott" auch Käsemann, a.a.O., S. 223. Vgl. zum Folgenden, Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: Kerygma und Dogma 5, 1959, S. 2 l 8 f f . und 259fr.; Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: Pannenberg (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, S. 91 ff.; Die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth, in: Robinson/Cobb (Hrsg.), Theologie als Geschichte, Zürich/Stuttgart 1967, S. 135 ff. und 285ff. Vgl. Pannenberg, in: Pannenberg, S. 98ff.; Pannenberg, in: Robinson, S. 166 ff. 5 "

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a.a.O., S. 348f. Pannenberg sieht allerdings „keinen Anlaß für Befürchtungen, daß eine solche Situation der Forschung in absehbarer Zeit eintritt". Pannenberg wendet sich gegen eine Unterscheidung von Tatsachen und Wertung, Ereignis und Bedeutung, wie sie vom Positivismus und Neukantianismus gefordert werde. Alle Ereignisse und Fakten stehen in Überlieferungszusammenhängen, durch welche sie eine Bedeutung erhalten. Da diese dem Geschehen innewohnt, kann sie an diesem auch erkannt werden. Ein solches „Erkennen der Geschichte Jesu" führt dann zu einem Glauben, der sich der „Wahrheit seines Grundes" wissenschaftlich versichert habe (in: Robinson, S. 161 ff.; vgl. auch Heilsgeschehen, a.a.O., S. 278 ff.). Zur unmittelbaren Zugänglichkeit der Offenbarung durch Wahrnehmung vgl. in: Pannenberg, S. 98 ff. Das bedeutet für Pannenberg allerdings nicht, daß sie „unvermittelt" ist, insofern sie ja nur im Zusammenhang von Überlieferung gegeben ist (a.a.O., S. I37ff.). Daß der unbefangene Betrachter die „offen zutage liegende Wahrheit" einsehen kann und diese gleichzeitig überlieferungsgeschichtlich vermittelt sein soll (a.a.O., S. 99fr. und 138), verkennt die Pluralität der Überlieferungen und deren jeweils mögliche Differenz zum tatsächlichen Geschehen, die Untersuchungsgegenstand historisch-kritischer Forschung ist. Dabei wird eine geschichtsphilosophische Interpretation von Vernunft, Wahrnehmung, Geschichte und anderem mehr vorausgesetzt, wie sie mit dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis schwer vereinbar sein dürfte. Vgl. auch Moltmann, Theologie der Hoffnung, 8. Aufl., München 1969, S. 67fr.

" Vgl. dazu in: Robinson, S. 162ff. und 308ff. „Jedes einzelne hat seine Bedeutung nur in bezug auf das Ganze, zu dem es gehört" (a.a.O., S. 307t.). So ist „Universalgeschichte im Sinne des Bedeutungsganzen aller Geschichte" zu verstehen (a.a.O., S. 310). Für die Theologie ist eine universalgeschichtliche Konzeption deswegen nötig, weil die „Gottheit Gottes nur in bezug auf das Ganze der als Geschichte verstandenen Wirklichkeit" gedacht werden kann (S. 309). 27 Zur Auseinandersetzung mit der holistischen Geschichtsphilosophie vgl. bes. Popper, Das Elend des Historizismus; vgl. dazu auch unser Kapitel VI. Zur Vieldeutigkeit der Geschichte Jesu und zum notwendigen Zusammenhang von Wort, Glaube und Geschichte vgl. auch Käsemann, Perspektiven, S. 9of.; zur Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung vgl. v. Rad II, S . 387«". 28

J . Cobb meint, daß auch aus einer bloßen Tatsache der Auferstehung Jesu sich für mein persönliches Geschick noch keine Folgerungen ziehen lassen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Robinson, S. 253ff., hier S. 2 7 7 ) . 2 * Moltmann, Antwort auf die Kritik der Theologie der Hoffnung, in: Marsch (Hrsg.), Diskussion über die „Theologie der Hoffnung" von J . Moltmann, München 1967, S. 201 ff., hier S. 2 1 8 f f , 2 1 4 f f . ; vgl. auch Moltmann, Theologie, S. 23ff. Wenn Moltmann (in: Marsch, S. 216) gegenüberstellt „Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein" (Pausanias) und „der da ist und der da war 512

und der da kommt" (Apk. i , 4 und 8), so ist im Neuen Testament nicht nur an die Stelle des Futurum von Sein das praesens apodicticum von Kommen getreten; noch auffälliger ist, daß die Aussage über die Gegenwart Gottes an den Anfang des Satzes gestellt wird. Wenn Moltmarm aus der erstgenannten Veränderung die biblische Meinung ableiten möchte, daß Gottes Gegenwart und Vergangenheit von seinem Kommen her zu verstehen sind, läßt sich genausogut aus der von uns genannten zweiten Veränderung die Meinung folgern, daß nur über den gegenwärtigen Gott der Zugang zur Vergangenheit und Zukunft Gottes gefunden werden kann. Doch dergleichen Argumente dürften wohl überhaupt wenig zum Problem der Erhellung des Gegensatzes von griechischem und biblischem Geschichtsverständnis beitragen, um das es Moltmann an dieser Stelle geht. Für die Klärung dieses Problcmes sind vor allem die erkenntnistheoretischen Fragen der neuzeitlichen Wissenschaften einzubeziehen, die sich ja auch auf das Problem aristotelischer Metaphysik beziehen (vgl. a.a.O., S. 216 und 2 1 9 ; vgl. auch unsere Kap. V und VI). Cobb sieht in der jeweiligen Betonung von Gegenwart oder Zukunft ein Unterscheidungsmerkmal zweier verschiedener Generationen (in: Robinson, S. 277ff.). Vgl. zum Dreizeitenproblem auch Pannenberg, in: Pannenberg, S. 94f. Uns geht es aber hier nicht nur um eine Gewichtsverteilung, sondern um die Bedeutung gegenwärtiger W i r k lichkeit als erkenntnistheoretischem Zugang zur Geschichte Gottes mit den Menschen. 30

Was im Alten Testament für die Zukunft verheißen war, ist im Neuen Testament Gegenwart geworden (vgl. z. B . 2. Kor. 6, 2; Luk. 4, 21). Das Christusereignis selbst ist als die eigentliche Wende anzusehen: das Heil ist bereits Gegenwart (vgl. u. a. 2. Kor. 5, 1 4 ; Rom. 1 , 1 6 ; 3, 2 1 ; 10, 3 f f . ; Joh. 5, 24ff.; vgl. dazu vor allem G. Bornkamm, Paulus, S. 165 f. und 203 ff.). Damit soll nicht eine „präsentische" gegen eine „futurische" Eschatologie ausgespielt bzw. ihr als ausschließliche Alternative gegenübergestellt werden. Das Neue Testament spricht deutlich von einer noch ausstehenden Erfüllung, von der Hoffnung auf die Zukunft Gottes. Aber diese Hoffnung begründet sich in der gegenwärtigen Teilhabe am Heilsgeschehen, im gegenwärtigen Handeln Gottes in Christus (vgl. Rom. 5 , 1 ff.; 8,24; 1. Kor. 1 , 4ff.; Phil. 3, 7 ff. u. a.). Mit Recht kennzeichnet Bornkamm das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft als ein „ W e i l - d a r u m " (a.a.O., S. 203). Hier besteht ein grundlegender Unterschied zum Alten Testament (vgl. Anm. 8). Der alttestamentliche Aspekt von Verheißung und Erfüllung, der selbst im Alten Testament in vielschichtigen Zusammenhängen steht (vgl. v. Rad II, S. 397f.), kann nicht zu einem allgemeinen Schema für das Verhältnis der Zeiten gemacht werden.

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Sauter geht es in der Zukunftshoffnung des Christen nicht um eine Motivation zur Veränderung der Welt, sondern hauptsächlich um das Freiwerden v o m Zwang zur Selbstverwirklichung im Blick auf die Zukunft, die unter der Verheißung immer neuer Verwirklichung der Treue Gottes steht (vgl. G. Sauter, Zukunft und Verheißung, Zürich 1965, S. 3 5 4 f f , 367f.). Da er

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aber den Begriff der Möglichkeit in dem Sinne anthropologisch-theologisch belastet, daß der Mensch in ihr ständig die Chance von Selbstverwirklichungen zu ergreifen versucht, die ihm bisher versagt waren („Möglichkeit wird zum Inbegriff des Heils", a.a.O., S. 355), bringt er ihn in einen einseitigen Gegensatz zum Tun des Christen (a.a.O., S. 358ff.). Infolge dieser und anderer entsprechender Dichotomien gelingt es ihm nicht, die Hoffnung mit dem konkreten Handeln des Christen im geschichtlich-sozialen Feld in Beziehung zu setzen. 32 Vgl. dazu auch R. Shaull, Für eine neue theologische Perspektive, in: Peerman, Theologie im Umbruch, S. 2 1 1 ff.; bes. S. 216. 33 Vgl. F. Gogarten, Zwischen den Zeiten, in: Moltmann (Hrsg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil II, München 1963, S. 95 ff. 34 Vgl. Moltmann, in: Marsch, S. 218; Pannenberg, in: Robinson, S. 166: das Wissen vom Damals begründet das Vertrauen in die Zukunft. Vgl. dazu Cobb, in: Robinson, S. 28of. 35 Albert wirft der Theologie vor, daß sie das Verfahren kritischer Prüfung auf bestimmte Bereiche einschränke und den Kern des Glaubens der Kritik gegenüber abschirme und immunisiere. Das Verfahren sei prinzipiell immer dasselbe, unterschiedlich nur der Punkt, an welchem die Kritik abgebrochen wird (Traktat über kritische Vernunft, S. I04ff.). 3< a.a.O., S. 117. Die Gottesidee hat nach Albert nur innerhalb einer soziomorphen Kosmologie eine sinnvolle Funktion gehabt und wird mit dieser hinfällig. Wie wenig Albert unterschiedliche Vorstellungen differenziert, vgl. ebd. 37 Die erkenntnistheoretische Voraussetzung der empirischen Wissenschaften, daß Hypothesen über zu entdeckende Faktoren und Zusammenhänge durch Beobachtung und Experiment auf ihre Realität überprüft werden müssen, wird von Albert zu der Behauptung ausgeweitet, daß nur das existent sei, was als Hypothese innerhalb prüfbarer Theorien eine Funktion haben könne (a.a.O., S. ii7f.). Damit wird aber der Boden wissenschaftstheoretischer Erörterungen verlassen, was um so erstaunlicher ist angesichts seiner sonstigen gegründeten wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Aussagen. Seine Kritik an der Theologie begründet sich nicht nur in wissenschaftlichen Prinzipien, sondern vielmehr in einem philosophischen Glauben, der trotz aller gegenteiliger Versicherungen einen fragwürdigen Begriff von Vernunft zur letzten Instanz macht. 38 Vgl. a.a.O., S. 108ff. und i i 7 f f . Mit Recht merkt Matthes an, daß hier alle Vorurteile der aufklärerischen Religionskritik wieder auftauchen, „die man dank der soziologischen Aufklärung längst überwunden glaubte" (Kirchliche Soziallehre, a.a.O., S. 104). Wenn Albert meint, daß der Übergang vom aristotelischen zum neuzeitlichen Weltbild einen radikalen „Wandel des metaphysischen Bezugsrahmens" notwendig machte (a.a.O., S. 50), dann bestätigt sich hier wieder die Notwendigkeit, daß man nicht eine bestimmte philosophische Metaphysik zur Grundlage empirischer Wissenschaft machen darf. Es ist zu fragen, ob Albert nicht eine Metaphysik der

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wissenschaftlichen Methode voraussetzt (vgl. a.a.O., S. 49fi".; vgl. auch unsere Auseinandersetzung mit Topitsch im folgenden Kapitel). Z u r Forderung ideologiekritischer Betrachtung der Theologie in der Gegenwart vgl. Goldschmidt, Religionssoziologie, S. 4; Fürstenberg, in: Fürstenberg, Religionssoziologie, S. 28; vor allem Albert, a.a.O., S. 86ff. und 104 fr. Vgl. dazu M . Horkheimer, Ideologie und Handeln, in: K . Lenk (Hrsg.), Ideologie, Neuwied 1964, S. 256 fr. Topitsch weist darauf hin, daß hinsichtlich der Definition der Ideologie bis heute keine Übereinstimmung herrscht (Topitsch, Begriff der Ideologie, in: Sozialphilosophie, S. i j f . ) . Er kennzeichnet vor allem zwei Traditionen: die eine sieht das Kennzeichen der Ideologie in der Verwechslung von Wertung und Tatsache (a.a.O., S. 15-f., 21 f., 31 f.), so z. B . G. Bergmann, Th. Geiger, O. Brunner, auch Topitsch selbst u. a. W i r meinen, daß in dieser Thematik des Ideologieproblemes im Zusammenhang empirischer Wissenschaft bereits hinreichende Übereinstimmung herrscht, vgl. dazu auch Albert, Theorie, S. 59 ff., Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften, in: Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften, S. 126ff., hier S. 1 3 5 : „Ideologische Aussagen sind pseudoobjektive Sätze kryptonormativer Natur." Die andere Tradition, die Topitsch nennt, geht von Marx aus. Hier ist Ideologie entweder als „Überbau" verstanden, zu welchem Religion, Metaphysik, Moral, Kunst usw. gehören, oder als „falsches Bewußtsein", das sich aus der Entfremdung des Menschen von sich selbst im kapitalistischen Wirtschaftsprozeß ergibt (a.a.O., S. i5ff.). Diese Definition von Ideologie schließen wir hier aus, insofern sie selbst auf der Grundlage einer monokausalen Spekulation gewonnen ist, welche alle menschliche Wirklichkeit v o m Wirtschaftsprozeß deduziert. Die postmarxistische Sozialwissenschaft hat bereits in ihren Anfängen den Ideologiecharakter des Marxismus aufgedeckt, wie es bei M . Weber deutlich wird (s. o. S. 266).

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Topitsch kennzeichnet diese Art des Denkens, die bereits in den Hochkulturen des alten Orients vorhanden gewesen sei und sich über das Mittelalter bis in die neuzeitliche Geschichts- und Sozialmetaphysik fortgesetzt habe, als Zirkelverfahren: die Ideologie stellt sich dar als Projektion moralischer und politischer Normen in den Kosmos und als deren Rückübertragung auf die Gesellschaft, also gewissermaßen als ein Taschenspielertrick (Über Leerformeln, in: Wissenschaftstheorie, S. 237).

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Das archaische Denken ist dadurch gekennzeichnet, daß es v o m Bekannten auf das Unbekannte schließt und Letzteres nach dem Maßstab der Analogie bestimmter Grundsituationen der sozialen Produktionen und Reproduktionen des Lebens erklärt. So schloß man z. B . v o m Gesetz der Polis auf ein universales kosmisches Gesetz, von einer hierarchischen Herrschaftsordnung auf die Regierung der Welt durch einen göttlichen Herrn, von der Tätigkeit des Gutsverwalters auf die Ökonomie des göttlichen Heilsplanes in der Geschichte. Auf diese Weise seien die „soziomorphen" und die „technomorphen" Projektionen und die von ekstatischen Motiven bestimmten Seelen515

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lehren entstanden, die schließlich zu Grundmodellen für die Interpretation des gesamten Weltprozesses und die normative Regelung menschlichen Verhaltens geworden seien. Vor allem hätten sie - bereits in ältester Zeit - der metaphysischen Verankerung von Herrschaftsformen gedient (vgl. dazu Leerformeln, S. 234fr.; Das Verhältnis zwischen Sozial- und Naturwissenschaften, in: Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften, S. 57ff.; Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, Neuwied 1967, S. 9 f f ) . 44

Im Zuge des Rationalisierungsprozesses, der vom Mythos zur Philosophie führt, werden die Annahmen der archaischen Welt- und Selbstinterpretation schrittweise falsifiziert, so daß schließlich nur noch eine leere Wortfassade übrig bleibt (Leerformeln, S. 236fr.). Wenn sich z. B. der Glaube, daß moralische oder rituelle Verfehlungen das makrokosmische Geschehen beeinflussen könnten, als falsch erwiesen hat, so ist die Annahme eines aus der kosmischen Ordnung ableitbaren ethisch-politischen Normensystemes leer, da es auf jenem Zirkelschlußverfahren basierte (a.a.O., S. 237).

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Vgl. Topitsch, Sozialphilosophie, S. 32fr.; Leerformeln, S. 234fr. Mittels solcher Leerformeln, wie sie über Jahrhunderte hinweg in der abendländischen Geistesgeschichte tradiert wurden, werden Komplexe von „Scheinaussagen" konstituiert, die sich als „fundamentale Prinzipien des Seins" geben, in Wirklichkeit aber gar keinen Sachgehalt besitzen. Topitsch nennt 3 Reihen solcher Leerformeln: 1. die Naturrechtslehren, die dem soziokosmischen Mythos der altorientalischen Hochkulturen entstammen, über Stoa und Christentum weiter tradiert wurden und im Laufe der Zeit zur Sanktionierung der konträrsten sozialen Ordnungen dienten (Leerformeln, S. 249; Sozialphilosophie,

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s.35ff); 2. die dialektischen Denkformeln, die durch Vermittlung des schwäbischen Pietismus vor allem aus dem gnostischen Mythos vom Fall und Wiederaufstieg der Seele stammen und sich als willkürlich manipulierbares Instrument erwiesen haben, das sich mit jedem beliebigen normativen und politischen Sachverhalt vereinen läßt (Leerformeln, S. 245 fr.; Sozialphilosophie, S. 3 7 L ; Die Sozialphilosophie Hegels, S. 1 1 f.). 3. die „organischen" oder „ganzheitlichen" Formeln, die der technomorphen Deutung der Welt entstammen und zur Sanktionierung von Staatsgebilden als „organischer Ordnung" verwandt wurden (Leerformeln, S. 259L; Sozialphilosophie, S. 40). Sozialphilosophie, S. 31. Allerdings gibt es auch Urteile von Soziologen, welche die Funktion von Theologie und Theologenschaft für die Entwicklung des menschlichen Geistes und der Gesellschaft weit höher einschätzen. So hat z. B . kein geringerer als Comte hervorgehoben, daß die soziale Funktion der Theologenschaft darin gelegen habe, dem menschlichen Geist zur bestimmenden Macht in der Gesellschaft zu verhelfen. Ohne diese Funktion wäre „der allgemeine Charakter der menschlichen Gesellschaft niemals sehr über denjenigen der Gesellschaften großer Affen hinausgekommen" (Sozio-

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logie Bd. I, S. 493, vgl. die gesamten Ausführungen, S. 492ff). Allerdings ist diese Funktion auf das anfängliche Stadium der Menschheit beschränkt. 47 Zum Zusammenhang von Ideologie und „Bild" vgl. auch Topitsch, Das Verhältnis zwischen Sozial- und Naturwissenschaften, in: Topitsch, Logik, 5. 57ff.: Das in den Kosmos projizierte Wertsystem wird zum Urbild, dem sich die irdischen Verhältnisse als Abbild anzugleichen haben. Zum Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Gesellschaftslehre im Ideologieproblem vgl. besonders Albert, Traktat, S. 86 ff". 48 Vgl. dazuz. B.Jes. 1, iofF.; Am. 5, 21 ff.; Hos. 5, 1 ff.; 6, i f f . ; Micha 3, 1 1 ; 6, 6 ff. Zur Kritik der Propheten am Verhalten ihrer Zeitgenossen vgl. v. Rad II, S. 188 ff. 4 * Vgl. Das Verhältnis zwischen Sozial- und Naturwissenschaften, in: Topitsch, Logik, S. 59; Die Sozialphilosophie Hegels, S. 13 f. 50 Vgl. dazu auch Kreck, Der Abbau der Ideologien in der Verkündigung des Evangeliums, in: Theol. Existenz heute, N.F., Nr. 41, S. 23fr. " Vgl. zu dieser „Doppelbewegung eines wechselseitigen Verstehens" v. Rad II, S. 387. 52 Über die Verabsolutierung des Gesetzes zu einer zeitlosen Größe, die das Leben im gegenwärtigen Geschichtsverlauf bestimmt, vgl. M. Noth, Die Gesetze im Pentateuch, in: Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1957, S. H 2 f f , i3öff. " Vgl. dazu Noth, a.a.O., S. 140; v. Rad II, S. 4o6ff. " V g l . z . B . Matth. 15, 3 ff.: an Stelle der Unterstützung der bedürftigen Eltern wird das Zahlen der Kirchensteuern verlangt. H Vgl. auch die Frage nach der „Herkunft" des Messias als Kriterium: Joh. 1, 45 ff.; 7, 27; 9, 28 f.; vgl. dazu Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, Tübingen 1958», S. 380. ff. 68 Zum Beispiel: Wenn eine Frau mehrmals heiratet, welcher ihrer Männer hat im Himmel Anspruch auf sie? (Matth. 22, 23fr.). Welches ist das vornehmste Gebot (ebd.) ? Ist ein Gelübde verpflichtend, wenn es beim Tempel und Altar und nicht beim Opfer geschworen wird? (Matth. 23, i ö f f ) . Selbst bei den Jüngern Jesu begegnet man dieser Frageweise (vgl. Mark. 10, 32ff.). 17 Vgl. z. B. die Frage des Verhältnisses zu den Zöllnern und Sündern, des Haltens der Fastengebote usw. 58 So wird z. B . Joh. I, 17 dem Nomos die x 342. 5o6f.; F u n k t i o n e n 33 5 ff, 340; G e g e n s t a n d 338; M e t h o d e 338fr.; T h e o r i e b i l d u n g 392 fr. - fundamentalistische 84L, 1 4 8 , 1 7 0 - der Gesellschaft 322, 330, 503, 508 - interpersonale, Ansatz 2 1 f.*, 72, 82fr., 99, 120ff., 1 7 2 , 3 3 9 f . , 4 2 3 ; G e m e i n d e p r a x i s 1 2 3 - 1 6 8 , 172, 3 3 5 ; Kritik an 1 7 0 f . ; Vertreter 24 f., 427 - liberale 85, 99, 396, 423 - r e f o r m a t o r i s c h e u n d galileisches Wissenschaftsverständnis 549 fr. - der R e v o l u t i o n 187 f. T h e o l o g i s m u s , s. a. D e d u k t i o n a l i s m u s , theologischer 395 Theorie - dialektische 2 4 1 , 246 fr., 462, 466 - der Gesellschaft 244, 246*, 2 5 1 f., 463 - sozialwissenschaftlich- analytische 2 0 1 , 2 0 3 - 2 3 1 , 246*, 272f., 463 f. - s t r u k t u r e l l - f u n k t i o n a l e 202, 242, 267-279, 473-481 - transzendentale, der Gesellschaft 2 4 2 f . , 462f. T h e o r i e , empirische Wissenschaft - F u n k t i o n 2 1 5 , 230, 246, 272, 277, 299 fr. - u n d Praxis 228, 2 3 0 L , 249fr., 3 00 f. - u n d Prozesse 2 1 0 , 270 fr.*, 298 f.*, 353f-> 363, 392f-. 397f-. 519 - P r ü f u n g 289L, 486 - W i r k l i c h k e i t s b e z u g 2o8f., 2 1 5 * , 243, 246f., 257t., 265, 2 7 2 L , 289 fr.*, 392, 463, 468, 478 f. T h e o r i e , theologische - Begriffsbildung, s. u. Begriffsb i l d u n g , theologische - E r k e n n t n i s p r o b l e m 394f., 397ff. - interdisziplinäres Gespräch 3 96 ff, 402 588

- K a t e g o r i e n 3 96 f. - u n d Praxis 399 - Prüfbarkeit,

s.

a.

Verifikation

353f-» 397 - W i r k l i c h k e i t s b e z u g 392, 3 9 5 f . , 402 T h e o r i e b i l d u n g , s. a. Begriff, B e griffsbildung 269fr., 286, 298,474 - aristotelische u n d galileische 203 fr., 270fr., 5 4 5 f f - Aufgabe 2 1 1 T o t a l i t ä t 2 3 2 f . , 2 4 1 , 2 4 4 f . , 246, 2 5 o f . * , 2 7 7 L , 286*, 2 9 1 , 295, 330, 350, 382, 465f., 485, 5 1 2 T r a n s z e n d e n z 86, 98, 295 t.

U t o p i e 187, 189, 351, 462

Variable - interdependente 41, 49f. - intervenierende 206*, 2 2 1 , 452 V e r a n t w o r t u n g 24, 56, 70, 77fr., 1 5 1 , 184, 263, 300f., 3 2 9 * , 370, 3 8 5 f . , 403. 495 Verhalten, s. a. D e t e r m i n a t i o n , m u l tiple 39fr., 40f.*, 4 4 f . , 5 ^ f f » 220ff., 272fr., 388 - theologische Perspektive 178, 388ff. Verifikation 208, 2 1 5 , 2 3 1 , 246, 273, 289fr., 299, 508 - der Glaubenswirklichkeit 334t., 349f-, 353Î-. 377, 3 M - . 397 Vermitteltheit, s. a. Voraussetzungen, empirische 206*, 269, 275, 277, 295, 309, 330, 380, 395 f. - des Glaubens i o 6 f f , 343, 3 5 2 * V e r n u n f t 247f., 294, 303, 350, 3 5 3 t . , 483, 492f., 5 1 4 , 525 V e r w a l t u n g , s. G e m e i n d e ; O r g a n i s a tion Voraussetzungen (Prämissen) - empirische 236, 258, 266, 2 9 1 *

- philosophische 293 f.

199, 251,

291,

- theologische 315, 321, 330, 340, 342f.

Wahrheitsfrage 258*, 260, 266*, 285, 288f., 297, 299t.*, 301, 331, 339, 349, 358f., 365, 375. 381 f.*, 402 Wahrnehmung 56, 192, 215, 223 £., 281, 283, 29of., 294, 340, 416, 482 f. - und Erkenntnistheorie, s. Erkenntnistheorie - und Ethik 328f., 386 - und Glaube, s. Glaube - und Wandel des Verhaltens 40, 59fF., n o f f . , 224 Wandel - geschichtlich-sozialer 46f.*, 55 ff., 67fr., 1 5 1 , 1 7 3 ff., 184fr., 193,209, 3i3f-, 378, 4 0 i f . - personaler 46f.*, 56fr., 59*, 68, i o i f f . , io6f., 1 1 3 , 1 1 9 Wechselwirkung, soziale (Interaktion) 28, 30*, 33 ff., 4 1 * , 43 fr., 5 6 f f , 79f., 9 2 f f , 102fr., i o ó f f , i i o f . , 1 1 7 * , 159, 161, 182L, 192, 199L, 227*, 261 f., 269, 287*, 476 Wert, (Be)Wertung 40, 45, 56 ff., 57*, 60, 62, 207, 261*, 268, 415 f., 466, 468, 470 Wertfreiheit 255t.*, 258, 260ff., 466, 469 ff. Wertphilosophie 254fr., 258fr., 466, 503 Wertproblematik 67, 242, 252, 254264, 258*, 300f., 466fr, 471 f., 475, 490, 505f-, 518 - theologische 321, 328f., 355f., 360, 384fr.*, 525 Wertsystem 56fr., 6 7 f r , 254, 268,270, 275. 300, 355, 416, 467, 470 Werturteil 256t., 355, 3 8 5 f r , 467*, 470, 550

Werturteilsstreit 255, 326 Wesensfrage 203 f., 2 1 1 , 229, 257, 282fr.*, 3 1 3 , 342, 350, 453, 546t. Wirklichkeit - Erkenntniszugang 224*, 250,264, 28iff., 289fr., 295fr., 300, 3o6f., 382, 384f., 527 - und Erscheinungsweise (Differenz) 38, 157, 189, 2o6ff., 226, 228, 291 f., 372, 387, 396, 5 5 0 - Identitätsproblem 349, 354, 372, 5 50 f. - und Nichtwirklichkeit (Existenzannahme) 56fr, 1 1 0 , 206,224fr.*, 252, 258, 287fr., 288, 293, 344, 353f-, 358f., 400 - Unanschaulichkeit 2o6f., 376, 390 - sverständis 38£.*, 9 i f f . , 1 1 9 , 185, 208 f.*, 266, 271, 274, 289 fr, 299, 310, 467, 471 - Vieldimensionalität 31, 204 fr., 235f., 244, 280, 305, 318, 3 2 l f . Wirklichkeit Gottes, s. Offenbarung Wissenschaften, Verhältnis zueinander; Zusammenarbeit 169, 172, 1 8 1 , 1 9 7 f r , 2i8f., 298, 3 i o f . , 340t., 3Ö2f., 401 f. - empirische Wissenschaften vom Menschen und Geisteswissenschaften 197, 208, 22of., 233, 248fr., 264f., 467, 471 - empirische Wissenschaften vom Menschen und Naturwissenschaften 208, 210, 280, 399f., 453, 456f. - Psychologie und Pädagogik 54 fr. - Sozialwissenschaften und historische Wissenschaften 219 fr., 232f., 2 3 7 f r . - Soziologie und (Sozial)Psychologie 29, 32, 36, 3 9 f „ 198, 202, 219, 273 fr, 276fr., 451 f., 480 - Theologie und empirische Wis589

senschaften v o m M e n s c h e n 89 f., I 7 i f . , 1 8 1 , 193, 306ff., 338, 3 4 1 , 352, 388ff.* - T h e o l o g i e u n d historische W i s senschaften 302, 337, 491 - Theologie und Naturwissenschaften 302 - Theologie und Pädagogik (Grupp e n d y n a m i k ) 100 ff - T h e o l o g i e u n d (Sozial)Psychologie ( G r u p p e n d y n a m i k ) 84fF., 98, i o i f f , 1 1 7 f r . , 120 ff.*, 168 ff, 489 - Theologie und Sozialwissenschaften 305, 3 1 2 , 3 1 7 , 320, 3 3 o f f , 34°f-> 38of., 396 f r * , 526 f. Wissenschaftsgeschichte 197 ff, 224 f r , 266, 273 f., 2 8 2 L , 304, 347, 4 8 9 f . - u n d Sozialgeschichte 402,527 • Wissenschaftsorganisation 197, 3 3 1 ff. Wissenschaftstheorie, wissenschaftstheoretisch 2 1 0 , 274, 296, 360, 3Ó2Ì., 5 1 9 Wissenschaftsverständnis - aristotelisches 11, 3 o f . * , 2 0 2 f f , 206 ff.*, 229, 269fr., 278 fr.,

590

283 fr.*, 287, 3 2 1 , 382, 400fr., 476, 478, 482fr., 5 4 5 f r - cartesianisches 288 ff, 303, 486, 527 - galileisches 11, 3 o f . * , 40*, 2 0 2 f f , 206 ff.*, 229, 266, 278 f r , 287, 382, 399, 400fr., 545fr. - positivistisches, s. Positivismus W o r t Gottes 334, 345t., 348fr., 376f., 396, 508

Z e i c h e n 346, 376f., 379, 396f. Z e i t e n p r o b l e m (Verhältnis v o n G e genwart, Vergangenheit und Z u k u n f t ) 220 ff.*, 234fr., 345 f., 349ff.*, 3 5 i f - * , 3 8 1 , 459. 509, 511, 513L Zusammenhang - B e d e u t u n g s (Sinn)-234, 2 4 1 , 250, 296 - B e d i n g u n g s - 207f., 2 2 0 f f , 2 2 7 * , 259, 3 8 2 L - W i r k u n g s - 3 1 , 3 8 * 40, 1 8 3 , 204fr.*, 2 1 3 , 2 i 6 f f , 221 f., 2 2 6 f f , 276, 279f.-, 286, 2 9 1 , 293, 340, 3 4 6 L , 384, 454