Theologie für die Praxis 2019 - Einzelkapitel - Keine Religion außer sozialer Religion. Zum befreienden Charakter wesleyanischer Theologie 3846997079, 9783846997079

Jörg Rieger, derzeit Theologieprofessor an der Vanderbilt University in Nashville, untersucht die soziale Gestalt wesley

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Theologie für die Praxis 2019 - Einzelkapitel - Keine Religion außer sozialer Religion. Zum befreienden Charakter wesleyanischer Theologie
 3846997079, 9783846997079

Table of contents :
Inhalt
Zu diesem Band
Keine Religion außer sozialer Religion
Die Sehnsucht dazuzugehören
Ihr macht das schon! Zuversichtlich leben in konfliktreichen Zeiten
Martin Luther und John Wesley zur kirchlichen Erneuerung und Gemeindeentwicklung
Den Austausch der Generationen lebendig halten
Fröhliche Geber
Thomas und die Jesusfrage
LIEBE(S)LEBEN
Rezension
Autorinnen und Autoren

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Theologie für die Praxis 37. Jahrgang 2011 Heft 1/2 45. Jahrgang 2019

Theologische Hochschule Hochschule Reutlingen Reutlingen Theologische

Theologische Hochschule Reutlingen Staatlich anerkannte Hochschule der Evangelisch-methodistischen Kirche

ISSN: ISSN:0939-5121 0939-5121

Inhalt Zu diesem Band ....................................................................................... 2 Vorträge und Aufsätze Jörg Rieger Keine Religion außer sozialer Religion Zum befreienden Charakter wesleyanischer Theologie .............................. 4 Michael Nausner Die Sehnsucht dazuzugehören Theologische Reflexionen über Teilhabe in Gesellschaft und Kirche ........ 15 Wilfried Röcker Ihr macht das schon! Zuversichtlich leben in konfliktreichen Zeiten Zusammenfassung einer Weiterbildungszeit ........................................... 30 Friedemann Burkhardt Martin Luther und John Wesley zur kirchlichen Erneuerung und Gemeindeentwicklung..................................................................... 49 Achim Härtner Den Austausch der Generationen lebendig halten Perspektiven für intergenerationelles Lernen im Kirchlichen Unterricht ...67 Jörg Barthel Fröhliche Geber Der Zehnte im Alten Testament ............................................................. 76 Christoph Schluep Thomas und die Jesusfrage Zur Existenzialisierung der Christologie bei Johannes.............................. 93 Predigt Holger Eschmann LIEBE(S)LEBEN Predigt zu Johannes 15,9f.12 ..................................................................113 Rezension Willibald J. Stronegger/Kristin Attems (Hg.), Das Lebensende zwischen Ökonomie und Ethik (H. Eschmann) ............115 Autorinnen und Autoren ....................................................................... 119

Zu diesem Band Die Beiträge des vorliegenden Bandes von »Theologie für die Praxis« beleuchten je auf ihre Weise das Thema Gemeinschaft in Kirche und Gesellschaft. Gerade in Zeiten des empfohlenen social distancing können sie dazu anregen, Sozialität neu zu denken und zu leben. Im ersten Beitrag untersucht Jörg Rieger, derzeit Theologieprofessor an der Vanderbilt University in Nashville, die soziale Gestalt wesleyanischer Spiritualität und Theologie. Im Zentrum seiner Argumentation steht die These, dass es für eine methodistische Ekklesiologie wesenhaft ist, dass die Kirche mit der Gesellschaft ins Gespräch kommt und gerade auch mit den am Rand stehenden Menschen soziale Beziehungen auf Gegenseitigkeit pflegt, um wirklich Kirche sein zu können. Über Konkretionen, wie solche Beziehungen auf Gegenseitigkeit in einem säkularen, durch den Gebrauch digitaler Medien bestimmten Raum Gestalt gewinnen können, denkt der frühere Systematische Theologe der Theologischen Hochschule Reutlingen, Michael Nausner, in seinem Beitrag mit dem Titel »Die Sehnsucht dazuzugehören« nach. Anhand von Reflexionen über das Abendmahl und über das Motiv der Gottebenbildlichkeit und der darin gründenden gerechten Verwalterschaft, zeigt er Orte der gemeinsamen Teilhabe in Kirche und Gesellschaft und die bleibende Relevanz religiöser Sprache für säkularisierte Gesellschaften auf. In dem Artikel »Ihr macht das schon! Zuversichtlich leben in konfliktreichen Zeiten« fasst Wilfried Röcker Überlegungen aus seiner in Großbritannien verbrachten Weiterbildungszeit zusammen. Er gibt geistliche und psychologische Anstöße, wie in kirchlichen und gesellschaftlichen Konflikten gegenseitiger Respekt wachsen und eine neue Perspektive auf den jeweils Anderen entstehen kann. Friedemann Burkhardt vergleicht in seinem Beitrag die beiden protestantischen »Kirchenväter« Martin Luther und John Wesley im Blick auf die Frage der kirchlichen Erneuerung und Gemeindeentwicklung. Dabei zeigt er einige überraschende Parallelen bei den beiden großen Theologen im Verständnis von Gottesdienst, Gemeinschaftsbildung und individuellen religiösen Reifeprozessen der Christen und Christinnen auf. Das Thema Gemeinschaft wird von Achim Härtner im Blick auf den Kirchlichen Unterricht thematisiert, indem er in seinem Aufsatz die Chancen und Möglichkeiten aufzeigt, die ein generationenverbindendes Lernen im Kirchlichen Unterricht für alle Beteiligten bietet. Gestützt auf empirische

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Untersuchungen beleuchtet er beispielhaft, auf welche Weise Alt und Jung voneinander, miteinander und über einander lernen können. Den Abschluss der Vorträge und Aufsätze in diesem Band bilden zwei exegetische Abhandlungen. Der alttestamentliche Beitrag von Jörg Barthel untersucht die Gabe den Zehnten und seine wechselvolle Geschichte in den verschiedenen biblischen Traditionen. Dabei wird deutlich, dass die Gabe des Zehnten in der Dankbarkeit über den erfahrenen Segen Gottes wurzelt und auf gegenseitige Solidarität – gerade auch mit den Schwachen und Bedürftigen – zielt. Der neutestamentliche Artikel von Christoph Schluep betont vor allem die horizontale Dimension der Gemeinschaft des glaubenden Menschen mit Gott. Er tut dies aus einer johanneischen Perspektive, die die existenzielle Dimension des Glaubens auf eine in der Bibel einzigartige Weise hervorhebt. Das Thema Gemeinschaft wird durch eine Predigt von Holger Eschmann zur göttlichen und menschlichen Liebe und eine Rezension zu dem gesellschaftlich relevanten Thema der Begleitung von Menschen am Lebensende abgerundet. Reutlingen, im Mai 2020

Jörg Barthel Holger Eschmann Roland Gebauer Christof Voigt

Zu diesem Band

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Keine Religion außer sozialer Religion Zum befreienden Charakter wesleyanischer Theologie1 Jörg Rieger

1. Eine notwendige Neuorientierung der Kirche Seit etwa fünfzig Jahren hat sich die methodistische Theologie weltweit nicht nur mit Befreiungstheologien auseinandergesetzt, sondern sie in vielen Fällen sogar mitbegründet. Die verschiedenen Vertreterinnen und Vertreter sind weit über den Methodismus hinaus bekannt geworden, und die Befreiungstheologie wird auch heute noch mit Erfolg weiterentwickelt. Unter den bekanntesten BefreiungstheologInnen finden sich Methodisten wie Jose Miguez Bonino, Mitbegründer der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, James Cone, bekannt als Vater der Black Theology in den USA, und Mercy Amba Odoyoye, eine der Urheberinnen der feministischen Theologie in Afrika. Das methodistische Erbgut ist in all diesen Ansätzen zu finden, wenn es auch die weitere theologische Welt oft mehr beeinflusst hat als die methodistische Theologie selbst. Da ich in meiner eigenen theologischen Arbeit über die Jahre ähnliche Erfahrungen gemacht habe, will ich in diesem Aufsatz versuchen, einen befreiungstheologischen Ansatz in die methodistische Theologie zurückzubringen mit dem Ziel, methodistische Theologie an ihre Quellen zu erinnern. Natürlich wäre es anachronistisch, John Wesley der gegenwärtigen Befreiungstheologie zuzurechnen. Theologie, wie auch Geschichte, kann sich nie einfach ohne Veränderung wiederholen. Das gilt grundsätzlich für alle theologischen Ansätze, auch für diejenigen, die den Fortschritt der Zeit nicht zu bemerken scheinen. Jedoch finden sich einige grundlegende Parallelen zwischen der Theologie von John Wesley und befreiungstheologischen Ansätzen, und darum geht es im Folgenden. Zwei Zitate von John und Charles Wesley bilden die Grundlage für alles Weitere. Das erste Zitat ist von John und Charles in ihrer »Liste poetischer Werke« und das zweite von John in einer seiner Lehrpredigten über die Berg-

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Für eine ausführlichere Behandlung dieses Themas siehe J. Rieger, No Religion but Social Religion. Liberating Wesleyan Theology, mit weiteren Beiträgen von P. A. Mattos, H. Renders, and J. C. de Souza, Nashville 2018.

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DOI 10.2364/3846997079

predigt: »Das Evangelium von Jesus Christus kennt keine Religion außer einer sozialen; keine Heiligkeit außer sozialer Heiligkeit.« Und: »Das Christentum ist wesensmäßig eine soziale Religion und es in eine individualistische zu verwandeln, bedeutet, es zu zerstören.«2 Ein erstes Missverständnis dieser Aussagen können wir gleich zu Beginn ausräumen. Manche Theologinnen und Theologen haben behauptet, dass es hier lediglich um die geläufige Einsicht geht, dass niemand für sich allein Christ sein kann. Dieses Thema ist hinlänglich bekannt: Christen benötigen die Gemeinschaft anderer Christen, sie brauchen eine Art Kirche. Die Gebrüder Wesley hätten sicher nichts gegen diese Einsichten einzuwenden, ging es ihnen doch um die Wiederbelebung der Kirche in ihrer Zeit. Aber in diesen Aussagen geht es ihnen um mehr, wie die folgenden Zitate zeigen. John Wesley formuliert das in der oben zitierten Lehrpredigt so: »Religion kann ohne die Gesellschaft, ohne mit anderen zu leben und sich auszutauschen, überhaupt nicht existieren.«3 Dabei geht es ihm nicht nur um Gemeinschaft mit anderen Christen, sondern auch mit denjenigen, denen die meisten Christen lieber aus dem Weg gehen würden. Ausdrücklich erwähnt Wesley folgende Gruppen: Menschen, die dem Evangelium Jesu Christi nicht folgen oder es vielleicht sogar gar nicht glauben, und andere, die hungrig und unbekleidet sind.4 Hier haben wir es mit einer wesentlichen theologischen Einsicht wesleyanischer Theologie zu tun, die häufig übersehen wird, weil viele Kirchen meinen, Glauben bedeute, nach innen in die Gemeinde anstatt nach außen in die Gesellschaft zu blicken. Sogar Kirchen, die sich um andere kümmern, finden das Wesen der Religion nicht in der Begegnung mit diesen anderen, sondern in den Begegnungen mit Christen, die am Sonntagmorgen oder in der Woche in Kirchengebäuden stattfinden. Wesley definiert Religion im Gegensatz zu diesen Einstellungen folgendermaßen: Ohne wirkliche Beziehungen zu Menschen in der Gesellschaft, besonders zu denen, die leiden und ausgebeutet und unterdrückt sind, gibt es keine echte Religion und somit auch keine Kirche. Anders ausgedrückt: Nicht nur brauchen Christen die Kirche (das wissen wir schon), die Kirche braucht den größeren sozialen Bezug, um wirklich Kirche zu sein! 2

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»The gospel of Christ knows of no religion, but social; no holiness but social holiness.«, J. Wesley/C. Wesley, List of Poetical Works, in: T. Jackson (Hg.), The Works of the Rev. John Wesley, 3. Aufl., London 1872; Peabody 1986, 14:321. »Christianity is essentially a social religion, and to turn it into a solitary one is to destroy it.«, J. Wesley, Upon Our Lord’s Sermon on the Mount. Discourse the Fourth, in: A. C. Outler (Hg.), The Bicentennial Edition of the Works of John Wesley, Nashville 1984, 1:533. Ibid., 533–34. Ibid., 535, 546.

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Es geht in diesen sozialen Beziehungen also nicht in erster Linie um eine Nebensächlichkeit der Religion. Es geht auch nicht nur um soziale Auswirkungen der Religion, also das, was Christen und Gemeinden zusätzlich zum Gottesdienst und anderen kirchlichen Verpflichtungen tun. Es geht um die Grundlagen der Religion selbst. Für ChristInnen geht es um die Grundlagen des Christentums, für MethodistInnen um die Grundlagen des Methodismus. Wichtig ist auch, dass es hier nicht in erster Linie um eine Art Diakonie geht oder um Beziehungen des Helfen-Wollens. Beziehungen mit Anderen außerhalb des kirchlichen Kreises sind Teil der Religion und beruhen auf Gegenseitigkeit. Zusammenfassend kann deshalb gesagt werden, dass es keine wirkliche Religion und kein wirkliches Christentum geben kann ohne gegenseitigen Austausch mit anderen. Wesley spricht sich an vielen Stellen zu diesem Problem aus, oft auf originelle Weise. Hier noch ein Beispiel: Der Ausdruck »heilige Individualisten« passt genauso wenig zum Evangelium wie »heilige Ehebrecher.«5 Während sich die Kirchen immer grundsätzlich gegen Ehebruch ausgesprochen haben, hat das Thema eines religiösen Narzissmus wesentlich weniger Aufsehen erregt. Man könnte sogar sagen, dass Narzissmus oft als der normale Weg der Religion gesehen wird, und so ist es nicht verwunderlich, wenn viele religiöse Gemeinschaften ihren Auftrag hauptsächlich in der Selbstpflege oder in der Sorge um ihr Fortbestehen sehen. Wie wichtig das Anliegen für Wesley und seine Vision des Methodismus ist, zeigt sich, wenn er alle verfügbaren theologischen Register zieht, wenn er anderswo sagt, dass diejenigen, die sich nicht um andere kümmern, sich auf dem Weg in das ewige Feuer – die Hölle! – befinden.6 Selbst zu Zeiten, in denen noch des Öfteren über Hölle und Gericht gepredigt wurde, war die zentrale Botschaft zumeist eine andere. Auf dem Weg zur Verdammnis vermutete man Ehebrecher, Übeltäter, Menschen, die nicht regelmäßig in die Kirche gehen, Atheisten, aber nicht Christen oder ganze Gemeinden und Kirchen, die sich um sich selber drehen. Um das Anliegen Wesleys wirklich ernst zu nehmen, muss deshalb die Frage gestellt werden, ob Religion und Glaube ohne soziale Beziehungen zur Welt nicht nur wertlos, sondern geradezu destruktiv und schädlich sind, nicht nur für die Welt, sondern auch für diejenigen, die eine solche Religion und einen solchen Glauben praktizieren. Selbst Dietrich Bonhoeffers bekannte Rede von der »Kirche für andere« 7 muss von hier aus noch einmal überdacht 5 6 7

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»›Holy solitaries‹ is a phrase no more consistent with the gospel than holy adulterers.« Wesley/Wesley, List of Poetical Works, 14:321. »Shall go away into everlasting fire.« Wesley, Upon Our Lord’s Sermon on the Mount, 546. D. Bonhoeffer, Entwurf für eine Arbeit, in: ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 1983, 193.

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werden. Besser wäre es, sofern Wesley und die BefreiungstheologInnen Recht haben, von einer »Kirche mit anderen« zu reden. Was bedeutet das für die Kirchen von heute? Vor fast dreißig Jahren hat das einer meiner damaligen Professoren an der Duke Universität, Frederick Herzog, einmal so ausgedrückt: »Die Kirche kann nicht wirklich von innen her gebaut werden.«8 Es geht nicht in erster Linie darum, dass einzelne Christen nicht ohne Beziehungen zu anderen und zur Welt Christen sein können. Es geht vor allem darum, dass die Kirche ohne echte Beziehungen zu anderen und zur Welt nicht Kirche sein kann. Für die gegenwärtigen Diskussionen um die Zukunft der Kirche, die mittlerweile auch den Methodismus in den USA erreicht haben, bedeutet das nichts weniger als eine völlige Neuorientierung. Anstatt nach Mitgliederzahlen und Finanzen zu fragen, müssen nun Fragen nach den Beziehungen von Kirche und Welt gestellt werden. Welche ernsthaften Beziehungen pflegen wir, was verändert sich durch diese Beziehungen, und was ist das Neue und Hoffnung Gebende, das dadurch entsteht?

2. Werkgerechtigkeit? Bevor wir diese Gedankengänge weiter vertiefen können, muss ein wesentlicher Vorbehalt der protestantischen theologischen Tradition zur Sprache kommen. Wenn Beziehungen zur Welt und insbesondere zu den Leidenden und Unterdrückten für Wesley so wichtig sind, handelt es sich hier möglicherweise um eine Art Werkgerechtigkeit? Mit anderen Worten: Müssen Christen sich Gottes Gnade durch fromme Leistungen verdienen? Das wesleyanische Verständnis der Gnadenmittel vertieft unser Verständnis des Themas.9 Kurz gefasst sind Gnadenmittel die Dinge, durch die Gott in unser Leben tritt. In der anglikanischen Tradition, aus der Wesley kommt, umfasst die Liste der Gnadenmittel Bibellesen, Gebet und Abendmahl, die sogenannten »Werke der Frömmigkeit«. Später fügt Wesley den Gnadenmitteln die sogenannten »Werke der Barmherzigkeit« hinzu. Was die Werke der Frömmigkeit betrifft, so scheint klar, dass es hier nicht um Werkgerechtigkeit geht, sondern um die Öffnung für das Wirken Gottes. Bibellesen oder Beten sind keine Werke, sondern »Kanäle«, durch die Gott

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»The church cannot truly be built from within.« F. Herzog, Dual Citizens, in: J. Rieger (Hg.), Theology from the Belly of the Whale. A Herzog Reader, Harrisburg 1999, 298. Vgl. die Aussage von J. Wesley, dass Werke der Barmherzigkeit Gnadenmittel sind: J. Wesley, On Zeal, in: The Bicentennial Edition of the works of John Wesley, 3:313, und meine Interpretation in J. Rieger, Grace under Pressure. Negotiating the Heart of the Methodist Traditions, Nashville 2011, Kap. 2.

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mit uns Verbindung aufnimmt.10 Das bedeutet, dass die Bibel uns liest und nicht nur wir die Bibel, und dass das Gebet nicht nur aus dem Reden sondern auch aus dem Hören besteht. Wenden wir diesen Ansatz nun auf die Werke der Barmherzigkeit als Gnadenmittel an, so wird klar, dass es auch hier zuerst um ein Sich-Öffnen Gott gegenüber geht.11 Anders gesagt: Im barmherzigen Engagement mit anderen begegnet mir die Gnade Gottes auf eine Art, die mich herausfordert und verändert, genau wie beim Bibellesen oder beim Beten. Die Beziehung zu anderen und die Beziehung zu Gott sind also eng verbunden, ohne dass die eine mit der anderen direkt identifiziert werden muss. Es geht also bei den Werken der Barmherzigkeit nicht darum, sich Gottes Gnade durch Wohltätigkeit zu verdienen, sondern Gottes freie Gnade in der Beziehung mit anderen zu erfahren, und sich in diesen Beziehungen weiter für Gottes Gnade zu öffnen. Das Missverständnis der Werke der Barmherzigkeit als Forderungen der Werkgerechtigkeit könnte vielleicht auch durch eine Veränderung der Bezeichnung vermieden werden. Der Begriff »Werke der Solidarität« bringt die Gegenseitigkeit besser zum Ausdruck als der Begriff »Werke der Barmherzigkeit«. Diese Solidarität schließt die Solidarität Gottes und mit Gott ein, so dass die Qualität der Beziehungen zu anderen sich in der Qualität zu Gott widerspiegelt und umgekehrt. Nicht vergessen werden darf, dass Wesley ernsthaft besorgt darum war, dass viele seiner Methodisten aus seiner Sicht wieder aus der Gnade gefallen waren, obwohl sie alle Werke der Frömmigkeit erfüllten, weil sie nicht verstanden, dass Werke der Barmherzigkeit auch Gnadenmittel sind!12 Hier finden wir ein weiteres Indiz für das Wesen des Christentums als sozialer Religion. Die Werke der Frömmigkeit allein – Bibellesen, Beten und Abendmahl – sind für das Christsein nicht ausreichend. Damit kehrt sich unser allgemeines Verständnis der Diakonie und der sozialen Dienste um. Christen stehen nicht im Zentrum und sie sind nicht die primär Handelnden. Aus Einseitigkeit wird Gegenseitigkeit, aus Wohltätigkeit wird Solidarität. Beziehungen können tiefer gehen als gedacht, besonders Beziehungen zu denen, die anders sind, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und die nicht zur Gemeinde oder Kirche gehören. Mehr noch, diese sich vertiefenden Beziehungen zu anderen spiegeln sich in einer vertiefenden Beziehung zu Gott wieder. Auch in dieser Hinsicht ist eine methodistische Theologie der Gnade eng mit Theologien der Befreiung verbunden.

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Wesley benutzt den englischen Begriff »Channels«, J. Wesley, The Means of Grace, in: The Bicentennial Edition of the Works of John Wesley, 1:381. Für eine weitere Diskussion dieses Themas siehe J. Rieger, Grace under Pressure, Kap. 2. Siehe J. Wesley, »On Visiting the Sick,« in: The Bicentennial Edition of the Works of John Wesley, 3:385.

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3. Die Umkehrung der sozialen Religion Wenn Religion also immer soziale Religion ist, dann muss untersucht werden, um welche sozialen Formen es sich handelt. Auch der Kulturprotestantismus des neunzehnten Jahrhunderts war ja eine soziale Form der Religion, und sowohl zu Wesleys Zeiten als auch heute verbündet sich die Religion oft mit den Einflussreichen und Mächtigen der Zeit, soweit Gelegenheit dazu besteht. Die Absage Wesleys an eine individualistische Religion gilt zugleich auch einer Religion, die sich mit den Einflussreichen und Mächtigen sozialisiert. Der folgende Satz vom Mai 1764 findet sich in Wesleys Tagebuch: »Religion darf nicht von den Größten zu den Geringsten gehen, oder es würde so aussehen, also ob ihre Wirkkraft bei den Menschen liegt.«13 Damit nimmt er einen Teil der Religionskritik vorweg, die im neunzehnten Jahrhundert vor allem in Deutschland Schule machte. Ludwig Feuerbach scheint diese Art von Religion im Sinn gehabt zu haben, wenn er Religion als eine Projektion von noblen menschlichen Anliegen interpretiert. Aber Wesley geht davon aus, dass es Alternativen zu einer solchen Religion gibt. Anders gesagt, die Kritik einer Religion, die von oben nach unten geht, ist die Kritik einer spezifischen, wenn auch weitverbreiteten Form der Religion, aber nicht der Religion überhaupt. Zwanzig Jahre später schreibt Wesley: »Alle sollen mich erkennen, sagt der Herr, nicht von den Größten zu den Geringsten (das ist die Weisheit der Welt, die Torheit bei Gott ist), sondern von den Geringsten zu den Größten, damit das Lob nicht den Menschen gilt, sondern Gott.«14 Wahre Religion geht für Wesley nicht von oben nach unten – hier ist Religion zumeist nur die Selbstbeweihräucherung des status quo – sondern von unten nach oben. Im Sinne einer methodistischen Gnadentheologie heißt das, dass Gottes Gnade nicht auf den Höhen des Lebens, sondern in den Tälern und Gräben gesucht werden muss. Auch hier finden sich wieder enge Parallelen zur Befreiungstheologie, die ich in meiner eigenen Arbeit über die Jahre herausgearbeitet habe. Wie steht es nun mit dem Zusammenhang von sozialer Religion und persönlicher Religion? Für Wesley ist soziale Religion die Grundlage persönlicher Religion und nicht umgekehrt, und zwar eine soziale Religion, die von 13 14

»Religion must not go from the greatest to the least, or the power would appear to be of men.« J. Wesley, Journal, 21. Mai 1764, in: The Works of the Rev. John Wesley, III, 178. »They shall all know me, saith the Lord, not from the greatest to the least (this is that wisdom of the world which is foolishness with God) but from the least to the greatest, that the praise may not be of men, but of God« J. Wesley, The General Spread of the Gospel, in: The Bicentennial Edition of the Works of John Wesley, 2:494.

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unten nach oben – von den Geringsten zu den Größten – geht. Wesley besteht darauf, dass eine solche soziale Religion zur Erneuerung der menschlichen Seele in wahrer Rechtfertigung und Heiligung unentbehrlich ist!15 Könnte diese Umkehrung eine neue Reformation der Kirche mit sich bringen, einschließlich des gegenwärtigen Methodismus, der sich in diesen Fragen zum Teil weit von Wesley entfernt hat?

4. Heil und Heiligung in der sozialen Religion In einer seiner wichtigsten Lehrpredigten mit dem Titel »Der biblische Weg des Heils« sagt Wesley ausdrücklich, dass zwar das Heil häufig als ein In-denHimmel-Kommen oder als ewiges Glück nach dem Tod definiert wird, aber dass es ihm um etwas ganz anderes geht. Ausgehend vom Predigttext Eph 2,8: »ye are saved through faith« im Englisch der King James Bibel (übersetzt: »Ihr seid gerettet durch Glauben«), betont Wesley nicht die Zukunft des Heils, sondern seine Gegenwart: »Ihr seid gerettet.« Ich selber drücke das manchmal so aus: Die zentralste Frage des Christseins ist nicht, ob es ein Leben nach dem Tod, sondern ob es ein Leben vor dem Tod gibt. Natürlich geht es weder Wesley noch mir darum, die Frage nach dem Leben nach dem Tod zu verdrängen. Aber wenn es tatsächlich ein Leben mit Gott vor dem Tod gibt, dann brauchen wir uns um das Leben nach dem Tod eigentlich keine weiteren Gedanken machen. Und umgekehrt: Wenn es für viele Menschen kein wirkliches Leben vor dem Tod geben sollte, dann muss auch die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod in Frage gestellt werden. Mit dem Begriff der Gnade ausgedrückt: Wenn Gnade die Beziehung zu Gott und anderen bezeichnet, so besteht die Beziehung zu Gott gleichermaßen vor dem Tod als auch danach. Was sollte sich durch den Tod ändern? Was also bedeutet Heil im Sinne einer wesleyanischen Theologie? Die Basis für das Heil ist das Wirken Gottes. Wenn Gott Schöpfer sowohl des Himmels als auch der Erde ist, wie die biblischen Traditionen bezeugen, so kann dieses Wirken nicht limitiert oder reduziert werden. Gottes Wirken lässt sich weder auf die Privatsphäre noch auf das Individuum oder die Gemeinde einschränken. Ebenso ist Gottes Wirken weiter als jedes Verständnis der Religion und schließt mit der Welt auch die Gesellschaft, die Politik, die Ökonomie und die Kultur ein – besonders dort, wo Leiden, Unterdrückung und Ausbeutung erfahren werden. Dieses Thema findet sich schon bei Wesley und wurde in den letzten 50 Jahren besonders von methodistischen TheologInnen der Befreiung weiter ausgearbeitet. 15

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Vgl. J. Wesley, Upon Our Lord’s Sermon on the Mount. Discourse the Fourth, 545.

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Wenn also das Heil auf dem Wirken Gottes beruht, dann kann kein Bereich des Lebens davon ausgeschlossen werden. Der Unterschied von »Heil« und »Wohl«, auf den manche Theologen bestehen, existiert somit im Wirken Gottes nicht, weil dieses Wirken immer alles umfasst und nichts ausgrenzt. Wenn Wesley also die Gegenwart des Heils betont, dann ist Heil Wohl und Wohl ist Heil. Dieser Zusammenhang wird auch im Begriff der Heiligung deutlich. Nur ist leider dieser Begriff nach Wesleys Tod in vielen Bereichen des Methodismus immer enger gefasst worden. Meine Generation ist noch mit einem Verständnis der Heiligung aufgewachsen, das Tanzen, Rauchen, Konsum von Alkohol und Kinobesuche streng untersagte. Heiligung bezog sich hier vor allem auf individuelle Verhaltensweisen, mit Blick auf die individuelle Moral (persönliches Wohl) und den individuellen Zugang zum Himmel (persönliches Heil). Wesley hat die Frage der Heiligung aber noch anders verstanden. Das Verbot von harten Spirituosen (spirituous liquors, nicht Wein oder Bier) hatte zum Hintergrund ein doppeltes soziales Bewusstsein. Der unkontrollierte Gebrauch von Spirituosen zerstörte zum einen das Leben und die Familien der Arbeiter, die vom Land in die Städte getrieben wurden, als einige wenige Privilegierte sich das Land aneigneten. Zum anderen zerstörte die Abhängigkeit vom Alkohol den Zusammenhalt und die Solidarität der Arbeiter selbst. Und schließlich führte das Brennen von Spirituosen zu einem übermäßigen Verbrauch von Getreide, so dass ein Mangel an Lebensmitteln entstand.16 Das Wohl der Arbeiterschaft, um das es hier geht, ist von der Frage des Heils grundsätzlich nicht zu unterscheiden. Heiligung im wesleyanischen Denken bedeutet, Christus ähnlicher zu werden. Und Christus ähnlicher zu werden bedeutet die Bekämpfung von allem, was uns von Gott und anderen trennt. Für Wesley kommen hier vor allem die großen sozialen Spaltungen in den Blick. Nicht umsonst setzte er sich entschieden gegen den Sklavenhandel und die Sklaverei ein. Und seine Unterstützung der Armen ist nicht nur eine Frage der Sozialhilfe, sondern er kritisiert auch die Ausbeutung der Armen durch die Reichen in seiner Zeit, in der wir die Anfänge des Kapitalismus, die Ausdehnung des Landbesitzes der Reichen und die Vertreibung der Armen vom Land in die Städte finden.17 Wesleys Verständnis der großen sozialen Spaltungen als ein theologisches Problem wurde in den letzten Jahrzehnten von methodistischen Befreiungs-

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Vgl. J. Wesley, Thoughts on the Present Scarcity of Provisions, in: The Works of the Rev. John Wesley, XI, 56-57. Ebd.

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theologien wieder aufgenommen und auf verschiedene Arten weiterentwickelt. James Cone, einer der bekanntesten Theologen in den USA, hat die schwarze Theologie begründet, Rebecca Chopp war in der feministischen Theologie federführend, Andrew Sung Park in der amerikanisch-asiatischen Theologie und Homer Noley in der Theologie der amerikanischen Ureinwohner. Über drei Generationen hinweg haben Jose Miguez Bonino, M. Douglas Meeks und ich selbst über die theologische Bedeutung der ökonomischen Ausbeutung gearbeitet.18 Wenn Heiligung als Bekämpfung dessen, was uns von Gott und anderen trennt, verstanden wird, dann ist Heil die Versöhnung mit Gott und anderen. Jedoch kann es keine Versöhnung ohne die Überwindung der Ursachen der Spaltungen geben. Hier muss die methodistische Theologie heute weiterarbeiten. Was ist es, das heute einen großen Teil der Menschheit daran hindert, sich an Gottes Wirken zu beteiligen und Christus ähnlicher zu werden? Was sind die großen sozialen Spaltungen und Spannungen in unserer Zeit? Hat der gegenwärtige Methodismus noch den Mut, sich befreiungstheologisch zu engagieren mit dem Ziel, diejenigen Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, die uns von Gott und den anderen trennen? Eine reine Liebesethik, wie sie in vergangenen Jahren im Methodismus oft vertreten wurde, genügt in den großen Spannungen der Gegenwart nicht mehr, um auf diesem Weg weiterzukommen.

5. Die Gottesfrage in der sozialen Religion Die größte Herausforderung der sozialen Religion ist nach wie vor die Gottesfrage. Hier ist ein grundsätzliches Umdenken gefragt, das über eine bloße Perspektivenerweiterung hinausgeht. Wesley gibt dazu den entscheidenden Anstoß, wenn er fordert, die Religion von unten her zu überdenken. Was würde es bedeuten, Gott (und unsere Beziehungen zu Gott) auf diese Weise zu sehen? Die dritte Versuchung von Jesus (Matthäus 4,8–11) deutet die Tragweite dieses Umdenkens an. Hier lehnt Jesus das Angebot des Teufels ab, von oben her Macht über alle Reiche der Welt auszuüben. Dass ihm diese Macht vom Teufel angeboten wird, deutet auf den diabolischen Charakter solcher Macht hin. Und die teuflische Versuchung wäre nicht der Rede wert, wenn Jesus davon hätte ausgehen können, dass er diese Art Macht von Gott sowieso einige wenige Jahre später erhalten würde. Was Jesus also ablehnt, ist nicht nur das Angebot des Teufels, sondern jegliche Form der Macht von oben, weil diese nicht die Macht Gottes ist. 18

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Für Einführungen in die verschiedenen theologischen Ansätze, siehe Rieger, No Religion but Social Religion, Fußnote 1.

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Wenn wir uns also Gottes Wirken nicht von oben herab vorstellen können, dann müssen wir Alternativen finden. Eine solche Alternative wäre z.B., sich Gott als neutralen Richter vorzustellen, der über den Geschehnissen schwebt. Ein Sinnbild solchen Wirkens ist die römische Göttin der Gerechtigkeit, Justitia, die mit Augenbinde, Waage und Schwert göttliche Neutralität verkörpert. Aber wenn man sich Jesus schwerlich so vorstellen kann, sollte man sich auch Gott nicht so vorstellen. Schließlich hat sich seit dem Exodus aus Ägypten gezeigt, dass Gott das Leiden und die Bedrängnis der Unterdrückten sieht und auch hört, und dann auf ihrer Seite Stellung bezieht (Exodus 3,1–10). Wie die verschiedenen Befreiungstheologien zur Genüge gezeigt haben, bezieht Gott auch heute noch Stellung auf der Seite der Unterdrückten, der Ausgebeuteten und der Opfer. Wenn dem nicht so wäre, dann hätten die Unterdrückten und Ausgebeuteten kaum Hoffnung, ihr Joch abzuwerfen und sich jemals gegen ihre Unterdrücker und Ausbeuter durchzusetzen und neue Beziehungen miteinander und mit Gott aufzubauen. Vergessen wir nicht: Es ist nicht möglich, mit der neutralen Göttin Justitia Beziehungen aufzubauen, die ja noch nicht einmal sehen kann, weil sie eine Augenbinde trägt. Neutrale Überlegenheit lässt im Grunde keine wirklichen Beziehungen zu. Im Gegensatz zu einem Verständnis von Gerechtigkeit als Neutralität bedeutet Gerechtigkeit im biblischen Sinne, sich zum Bund zwischen Gott und Mensch zu bekennen, also »bündnistreu zu sein«.19 Anders gesagt: Gottes Gerechtigkeit schafft Beziehungen mit und unter Menschen und stellt diese Beziehungen wieder her, wo sie gebrochen wurden. Denjenigen, die Ausbeutung in ihren Beziehungen erfahren, steht Gott bei und richtet sie wieder auf: Gott sieht die Niedrigkeit der Maria an und erhebt sie (Lk 1,48.52). Denjenigen, die Beziehungen zum Zweck der Ausbeutung anderer missbrauchen, widerfährt Gericht und Korrektur: Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und lässt die Reichen leer ausgehen (Lk 1,52f.). Wenn also Gottes Gnade in solchen Beziehungen zum Ausdruck kommt, dann muss hier theologisch weitergearbeitet werden. Wesley hat manches geahnt und vorausgesehen, aber niemand kann die Wirklichkeit Gottes ganz ausloten. Das grundlegende Problem ist, dass wir auch in der Beziehung zu Gott meist von uns selbst ausgehen, genauso wie wir in Beziehungen zu anderen meist von uns ausgehen. Aber Umkehrungen sind möglich. Anstatt in Beziehungen zu anderen anzunehmen, dass andere Menschen wie wir sind (wie wohlmeinende Eltern manchmal ihren Kindern sagen, wenn sie Menschen anderer Kulturen begegnen), können wir fragen, wie wir den anderen 19

W. Kerber/C. Westermann/B. Spörlein, Gerechtigkeit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 17, Freiburg 1981.

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ähnlich sind. Mit dieser Fragestellung geht die Definition des Menschseins nicht von uns, sondern von den anderen aus. In gleichem Maße kann auch ein tieferes Verständnis von Gott in der Welt ein tieferes Verständnis von uns selbst bewirken. Die theologische Faustregel, gerade auch für die Kirche, ist deshalb nicht: »Ist Gott auf unserer Seite?« sondern: »Sind wir auf Gottes Seite?« Und Gottes Seite ist gerade dort, wo es die kirchliche Wohlanständigkeit oft am Wenigsten vermutet.

6. Zum Schluss Diese Überlegungen zur sozialen Religion führen dazu, grundsätzliche theologische Voraussetzungen noch einmal zu überdenken. Kann Religion jemals Privatsache sein? Religion ist eigentlich immer sozial, eine Tatsache, die in der Antike grundsätzlich verstanden wurde (Moses, Jesus und Paulus20 wussten das auf ihre Weise), wenn sie auch in der Moderne oft vergessen worden ist. Die Geschichte der Kirche im Dritten Reich sollte uns daran erinnern, dass politische Neutralität generell dem status quo zu Gute kommt. Mk 9,40: »Wer nicht gegen uns ist, ist für uns«, gilt auch für die Politik der Mächtigen. Aber nicht nur die Politik, sondern auch die Ökonomie ist wohl oder übel mit der Religion verbunden, auch wenn das eher noch seltener gesehen wird. Was von den Kanzeln der Kirchen (und besonders auch der Freikirchen) gepredigt wird, hängt oft direkt oder indirekt mit den Interessen der Spender zusammen, und die meisten Theologiestudierenden lernen früh, was sie sich – im wörtlichsten Sinne – leisten können zu sagen oder zu denken. Dazu kommt, dass besonders der Geist des neoliberalen Kapitalismus alles zu durchdringen versucht, nicht nur Politik und Ökonomie, sondern auch die Kultur, persönliche Beziehungen, Gefühle und schließlich auch den Glauben.21 Auf den ersten Blick mag diese Sicht der Dinge irritieren, aber sie führt zu einer durchaus positiven Bewertung der Religion, die neue Relevanz und neue Möglichkeiten für das Christentum in unserer Zeit aufdeckt. Religion ist wichtiger als gedacht, sie ist weder Hobby noch Freizeitbeschäftigung und sie ist kein Sonderinteresse für spirituell veranlagte Menschen. Soziale Religion im Sinne Wesleys kann dazu beitragen, die Welt zu verändern, so wie es der sozial engagierte Methodismus seit seinen Anfängen immer wieder getan hat.22 20 21 22

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Vgl. J. Rieger, Christus und das Imperium. Von Paulus bis zum Postkolonialismus, Münster 2009, bes. Kap. 1. Vgl. U. Duchrow/R. Bianchi u.a., Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege der Überwindung, Berlin 2006. Beispiele für gelebten und sozial engagierten Methodismus aus verschiedenen Teilen der Welt in: J. Rieger/J. Vincent, Methodist and Radical. Rejuvenating a Tradition, Nashville 2003.

Theologie für die Praxis 45, 2019

Die Sehnsucht dazuzugehören Theologische Reflexionen über Teilhabe in Gesellschaft und Kirche1 Michael Nausner

1. Einleitung »ZuschauenWarGestern« Für das Studium Generale wurde dieses Semester dem Thema »Medien, Macht, Menschen« ein sehr aktuelles Unterthema hinzugefügt, und zwar sowohl was den Inhalt als auch was die Form angeht. Die Form ist die einer ohne Abstand aneinander gefügten Wortreihe, wobei sowohl die herkömmlichen Regeln der Worttrennung als auch der Groß- und Kleinschreibung außer Kraft gesetzt sind: »ZuschauenWarGestern«. Was kommuniziert diese Form? Bei mir erweckt sie den Eindruck, dass man eine ununterbrochene Dynamik kompakter Informationsvermittlung erzeugen will. Schnell, klar, ohne Umschweife und Pausen soll die Botschaft vermittelt werden. Ich muss ehrlich sagen, dass ich allein vom Hinschauen schon ein wenig Atemlosigkeit empfinde. Die meisten von uns wissen, dass diese Form aus der Welt der »Tweets« kommt, in der die Gleichzeitigkeit und die Schnelligkeit von großer Bedeutung sind. Auch die komplexesten Umstände müssen knapp und schnell kommuniziert werden. Das erinnert mich an das, was der Journalist Rupert Eser bei der letzten Vorlesung im Studium Generale mit dem Thema »Die aufgeregte Republik« sagte, dass nämlich die Kommunikation in »real time« Aspekte einer aufgeregten Gesellschaft hat, weil sie in ihrer Schnelligkeit eine Art »hype« erzeugt und vielleicht sogar die Illusion, tatsächlich zu wissen, was in »Jetzt-Zeit« um uns herum geschieht. In seinem Abschlussplädoyer sprach er sich mit Nachdruck für eine Entschleunigung der Medienwelt aus, um in all dieser Schnelligkeit nicht die Unterscheidungskraft zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu verlieren. Es geht mir allerdings nicht darum, über verschiedene Arten der Medienvermittlung zu moralisieren. Entscheidend ist natürlich, wie wir mit diesen Vermittlungen umgehen. Worum es mir heute gehen soll, ist vielmehr der

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Überarbeiteter Vortrag beim Studium Generale der drei Reutlinger Hochschulen, gehalten am 15. Mai 2013 an der Hochschule Reutlingen. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten.

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Inhalt dieses Untertitels »ZuschauenWarGestern«. Hier wird nämlich indirekt etwas ausgedrückt, was in der Tat viele der neuen und neuesten Medien anzubieten scheinen, nämlich ein direktes »Dabeisein«, ein »Dazugehören« zu den verschiedensten Zusammenhängen, zu denen wir ohne die Hilfe gewisser Medien scheinbar nicht dazugehören würden. Ob es nun »Twitter« ist oder »Skype« oder »Facebook« oder das »Smartphone« mit der schier unendlichen Vielzahl der »Apps«, die heutzutage angeboten werden und eine milliardenschwere Industrie darstellen – all diese Hilfsmittel scheinen mir eines gemeinsam zu haben, nämlich dass sie damit locken, mit ihrer Hilfe im buchstäblichen Sinne dazuzugehören. Wenn wir diese Technologien verwenden, sind wir einerseits in und gehören in dem Sinne dazu; wir sind auf der anderen Seite aber auch mit einer Vielzahl von Menschen und Institutionen vernetzt, zu denen wir dann zumindest virtuell dazugehören. Wie gesagt: Es liegt mir nicht daran zu moralisieren oder eine grundlegende Technikkritik zu äußern. Ich verwende selbst Facebook, Skype und sehr selten sogar Twitter. Aber ich merke auch, dass sich bei mir das (implizit oder explizit versprochene) Gefühl der Dazugehörigkeit bzw. der Teilhabe eigentlich enttäuschend selten einstellt. Und dabei bin ich gut vernetzt. Auch in dieser Hinsicht klingen die Worte Rupert Esers in meinen Ohren nach. Eser warnte angesichts der Schnelligkeit und Oberflächlichkeit der neuen Medien davor, dass sich ein »Scheingefühl von Teilhabe« einstellt. Und in der Tat, die Frage muss gestellt werden: Welche Art von Teilhabe wird hier ermöglicht? Eser zitierte vor einem Monat aus einer Wochenzeitung, in der angesichts der neuen Medienlandschaft die These aufgestellt wurde, dass Mitsprache und Partizipation oft nur vorgespielt werden. Kann es sein, dass die neue Medienlandschaft mit tiefen menschlichen Sehnsüchten spielt und sie sogar ausnützt? Bin ich tatsächlich Teil einer Gemeinschaft von Freundinnen und Freunden, nur weil eine gewisse Anzahl von mehr oder weniger bekannten Gesichtern auf meinem Bildschirm erscheint? Woran habe ich eigentlich teil, wenn ich hier eintippe, wo ich gerade gewesen bin, dort ein »I like« anklicke für ein Bild, das mir gefällt, dann wieder meinen Freundinnen und Freunden weltweit mitteile, welchen Artikel ich gerade gelesen habe und ein wenig später einen kurzen Chat über das gestrige Fußballspiel mit einem anderen Freund habe? Angesichts der vielen hundert Millionen Benutzerinnen und Benutzer sozialer Netzwerke will ich mir nicht anmaßen, eine Antwort auf diese komplexe Frage zu geben. Eine mögliche Antwort müsste sehr differenziert ausfallen, und eine Evaluation der Qualität der Kommunikation auf verschiedenen sozialen Netzwerken würde vermutlich recht ambivalent ausfallen. Um eine solche Evaluation vorzunehmen, fehlen mir die Informationen und auch die Zeit. Aber ich will angesichts dieser immer dichter werdenden medialen Vernetzung heute Abend eine These mit Ihnen teilen, die sehr schlicht ist und 16

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mir dennoch von großer Bedeutung zu sein scheint. Die These ist in meinen einleitenden Worten bereits angeklungen. Sie ist zweigliedrig und lautet: Teilhabe ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis, und es ist dieses Bedürfnis, das uns oft so vorbehaltlos die neue mediale Vernetzung akzeptieren lässt. Heute Abend soll es mir also um diesen Begriff der Teilhabe, der Partizipation gehen. Ich glaube, dass er ein Brückenbegriff ist, der die Welten des Glaubens und des Denkens, die Welten der Gesellschaft und der Kirche miteinander in Verbindung und in fruchtbarer Spannung halten kann. An solchen Brücken zwischen geistlichen und weltlichen Diskursen ist mir als Theologe gelegen. Ich will damit auch versuchen, aufzuzeigen, dass Menschen mit verschiedenen Lebensanschauungen, mit verschiedenen Formen von Glauben, ja auch Menschen ohne explizit religiösen Glauben gemeinsam mit diesem Begriff arbeiten und von ihm Inspiration und Orientierung bekommen können, auch wenn sie ihn mit unterschiedlichem Inhalt füllen. Mein Anspruch ist deshalb, dass mein Vortrag sowohl von Menschen unterschiedlichen Glaubens als auch von Menschen ohne religiösen Glauben nachvollzogen werden kann. Außerdem hoffe ich, dass es am Ende dieses Vortrages deutlich geworden sein wird, dass christlicher Glaube insofern von allgemeiner und öffentlicher Bedeutung ist, als ihm auf grundlegende Weise an der gerechten Teilhabe aller an den Ressourcen und Möglichkeiten unseres Planeten gelegen ist. Denn der christliche Glaube ist eine (nicht die!) weltanschauliche Stimme, auf die der moderne Verfassungsstaat angewiesen ist, um pluralistisch zu bleiben und nicht zu einer Diktatur zu werden. So hat der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde darauf hingewiesen, dass »der freiheitliche, säkularisierte Staat … von den Voraussetzungen (lebt), die er selbst nicht garantieren kann.«2 Die christliche Theologie hat deshalb die Aufgabe, ihre Glaubens- und Wertevorstellungen zum öffentlichen Diskurs beizutragen. Den Begriff Teilhabe will ich also versuchen so zu beschreiben, dass seine Bedeutung im öffentlichen Raum deutlich wird. Und der öffentliche Raum – ein solcher ist auch dieser Vorlesungssaal der Hochschule Reutlingen – ist ein Raum, in dem sich Menschen der verschiedensten Weltanschauungen aufhalten. In dieser Hinsicht ist mir die berühmt gewordene Rede von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels wichtig geworden. Er hielt sie im Oktober 2001, also unmittelbar nach den Terrorattacken in den Vereinigten Staaten. Da ich damals selbst in den Vereinigten Staaten lebte und ich deshalb die Diskussionen um diese 2

E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, zitiert in: W. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen 2008, 305.

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Rede mit dem Titel »Glauben und Wissen«3 nicht mitverfolgt habe, musste mich mein Kollege Christof Voigt auf die Bedeutung dieser Rede hinweisen. Ich verstehe diese Rede nicht zuletzt auch als ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, Perspektiven verschiedener Weltanschauungen gleichberechtigt am öffentlichen Diskurs teilnehmen zu lassen. Habermas weist in seiner Rede darauf hin, dass im Zeitalter der Säkularisierung, im liberalen Verfassungsstaat, gläubige Menschen »ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden.« Da das aber nicht immer möglich ist, plädiert Habermas dafür, dass sich auch die säkularisierte Gesellschaft »ein Gefühl für die Artikulationskraft religiöser Sprachen« bewahrt. Dass er selbst sich um ein solches Gefühl bemüht, kommt in derselben Rede zum Ausdruck. Denn als säkularer Hausphilosoph der Sozialdemokraten, der sich selbst als »religiös unmusikalisch« beschreibt, geht er am Ende seiner Rede so weit, den theologischen Begriff der Gottebenbildlichkeit als einen Begriff zu würdigen, der auch in der Öffentlichkeit in seiner Bedeutung für ethische Entscheidungsfindung und das Zusammenleben der Menschen nicht überhört werden dürfe. Ich werde später auch ein paar Worte zu diesem Begriff und seiner Bedeutung für ein theologisches Verständnis von Teilhabe sagen. Wenn ich also nun meine Reflexionen über den Begriff Teilhabe artikuliere, dann tue ich das bewusst als Theologe. Ich bemühe mich, wie gesagt, eine Sprache zu verwenden, die für Gläubige und Nichtgläubige zugleich verständlich ist, sage aber auch gleich, dass das aus theologischer Perspektive nicht immer möglich ist. Denn sobald eine aus der Glaubensperspektive betrachtete Wirklichkeit zur Sprache kommen soll, geht an einer Verwendung von Begriffen wie Gott, Leib Christi, Heiliger Geist, Gnade, Schöpfung etc. kein Weg vorbei. All diese Begriffe in ein säkulares Sprachkleid zu bringen, ist ohne signifikanten Bedeutungsverlust nicht möglich. Deshalb bitte ich diejenigen unter Ihnen, die sich wie Jürgen Habermas als »religiös unmusikalisch« verstehen, um Geduld. Ja, ich bitte sie um noch viel mehr als um Geduld. Ich bitte sie – im Anklang an Habermas’ Formulierung – um die Kultivierung eines »Gefühls für die Artikulationskraft religiöser Sprache«, auch oder gerade dort, wo Ihnen etwas »zu mystisch« zu werden scheint. Denn natürlich ist es so, dass der theologische Gebrauch des Begriffs Teilhabe nicht einfach derselbe ist wie der politische. Aber gerade in dieser Spannung zwischen Übereinstimmung und Differenz liegt das Potential eines die Weltanschauungen überspannenden Gesprächs über die Bedeutung der Partizipation im menschlichen Leben.

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Nachzulesen online unter: http://www.glasnost.de/docs01/011014habermas.html

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Was also hat die christliche Theologie zum Thema Teilhabe beizutragen? Und jetzt bitte ich um Geduld, wenn ich zunächst kurz in theologische Abstraktionen »abhebe«, um in der Folge die praktischen Konsequenzen aus diesen theologischen Überzeugungen zu skizzieren: Aus theologischer Perspektive ist die entscheidende Dimension die Teilhabe an Gottes Leben selbst, das, was die griechischen Kirchenväter vor etwa siebzehnhundert Jahren bereits als die »metousia tou theou« (das Sein mit Gott) bezeichnet haben. Dass diese Teilhabe an Gottes Leben nicht als ein Rückzug aus der Welt oder als ein isoliertes Leben in einem heiligen Raum missverstanden werden darf, ergibt sich aus dem Glauben daran, dass Gott nicht nur die Welt irgendwann einmal erschaffen hat, sondern dass Gott ununterbrochen zum Wohl der gesamten Schöpfung wirksam ist und bleibt. Teilhabe an Gott bedeutet also Teilhabe an der kontinuierlichen Erneuerung der Schöpfung und damit auch aktive Teilnahme an sozialen, ökonomischen und ökologischen Veränderungen. Was das bedeutet, will ich in der Folge in zwei Schritten reflektieren, die dezidiert theologischen Inhalts sind. Erstens will ich über die Bedeutung des Leibes Christi als Metapher für Teilhabe im christlichen Sinne nachdenken, zweitens über die Bedeutung der Schöpfung als Beauftragung zur Teilhabe und Teilnahme.

2. Teilhabe, gegründet im Leib Christi Zunächst also zur Teilhabe, die im Leib Christi gegründet ist. Im christlichen Leben, das per definitionem ein Leben der Teilhabe an einer Gemeinschaft ist, geht kein Weg vorbei an der Teilhabe am Leib Christi, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche wird besiegelt im Sakrament der Taufe, in der Gläubige hineingetauft werden in den Leib Christi. Der Leib Christi ist eine zentrale Metapher für die Einheit und Zusammengehörigkeit der christlichen Kirche. So ist im ersten Korintherbrief des Apostels Paulus von einem Leib und vielen Gliedern die Rede. Das ist ein Bild von einer funktionierenden pluralistischen Gemeinschaft. Ein anderes Bild ist das Bild vom Weinstock und den Reben. Diese Bilder kommunizieren eine organische Zusammengehörigkeit all derjenigen, die dem Ruf und dem Auftrag Jesu Christi gefolgt sind. Die Zugehörigkeit und gemeinsame Teilhabe wird vor allem aber in allen Kirchen durch das mehr oder weniger regelmäßige Feiern des Abendmahls (römisch-katholisch: Eucharistie) zum Ausdruck gebracht. In einer der unzähligen Liturgien, die es für die Feier dieses Mahles gibt, heißt es: »So sind wir, wenn auch viele, ein einziger Leib, denn alle haben wir teil an ein und demselben Brot.«

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Es ist mir bewusst, dass die Sakramente der Taufe und des Abendmahls in der Öffentlichkeit sicher nicht als Symbolhandlungen aufgefasst werden, die mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Teilhabe zu tun haben. Und in der Tat, in der Kirchen- und Theologiegeschichte gibt es unzählige Beispiele dafür, dass Taufe und Abendmahl verwendet wurden, um exklusive Teilhabe zu markieren, um auszuschließen und um Grenzen zu ziehen. Lassen Sie mich deshalb versuchen, so kurz und deutlich wie möglich eine alternative Sichtweise vor allem des Abendmahls zu präsentieren. Ich muss natürlich vorausschicken, dass es in dieser Hinsicht große Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen gibt. So wird in der römisch-katholischen Kirche in der Regel die Eucharistie nur mit KatholikInnen gefeiert. In vielen protestantischen Kirchen ist die Taufe eine Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl. Mein Verständnis des Abendmahls aus evangelisch-methodistischer Perspektive ist, dass es prinzipiell offen ist für alle Menschen, getauft oder nicht, Christ oder nicht, die bei diesem Mahl Gemeinschaft mit Jesus Christus haben möchten. Entgegen des Eindrucks, den ein säkularisierter soziologischer oder auch ein psychologischer Blick bisweilen vermitteln mag, verstehe ich das Abendmahl nicht so sehr als eine Abkehr weg von der profanen Welt, sondern vielmehr als eine Wendung hin zur Welt. Im Abendmahl nimmt die feiernde Gemeinschaft teil an den Veränderungsprozessen dieser Welt. Ich will versuchen, ein solches Verständnis des Abendmahls als eine Wendung nach außen kurz zu erläutern. 2.1 Die Abendmahl feiernde Gemeinde wendet sich nach außen Wenn Christen sich um den Abendmahlstisch versammeln, dann versammeln sie sich um Brot und Wein, Elemente also, die für die verwandelnde Kraft göttlicher Liebe stehen. Diese Vorstellung ist natürlich für die säkularisierte Vernunft eine große Herausforderung, und gerade hier braucht es wohl besonders jenes »Gefühl für die Artikulationskraft religiöser Sprache«, zu dem Habermas seine säkularisierten Mitbürgerinnen und Mitbürger ermutigt. Wenn ein Katholik von Wandlung spricht, und ich als Protestant von der verwandelnden Kraft göttlicher Liebe, die in Brot und Wein symbolisiert wird, rede, dann geht es letztlich um nichts weniger als um die Art und Weise, wie der Schöpfer dieser Erde seine Schöpfung zu sich hinliebt und so grundlegend verwandelt. Das wiederum bedeutet nichts anderes, als dass der Blick, der sich nach innen auf Brot und Wein richtet, gleichzeitig ein Blick nach außen in die ganze Weite geschöpflichen Lebens ist. Natürlich ist das ein Geheimnis, ein Mysterium, an das man glauben kann oder auch nicht. Ich glaube daran und sehe darin eine entscheidende Motivation dafür, ja eine Berufung dazu, be-

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wusst an der kreativen und konstruktiven Verwandlung dieser Welt teilzuhaben. So kann das Abendmahl für Gläubige als die Motivation schlechthin verstanden werden, an den Transformationsprozessen dieser Welt gestaltend mitzuwirken. Denn aus theologischer Perspektive ist das Abendmahl »verwirklichte Teilhabe an Gottes (ökonomischer und ökologischer) Fürsorge für die ganze Schöpfung«.4 2.2 In der Abendmahl feiernden Gemeinde sind alle gleich Das Abendmahl ist nicht nur eine »geistliche« Veranstaltung, wie es aus säkularisierter Perspektive missverstanden werden kann. Seit den Anfängen des Christentums wird ein Sakrament verstanden als ein »sichtbares Zeichen einer unsichtbaren Gnade«. Nun, über das Sichtbare kann man auch mit säkularisierten Menschen reden, und das Sichtbare sind zunächst einmal Brot und Wein, die in gleichen Mengen an eine Gruppe von Menschen ausgeteilt werden. Die Gleichheit, die darin zum Ausdruck kommt, ist von großer Bedeutung, auch wenn sie durch die geringe Menge des verteilten Brotes und des geteilten Weines nur eine symbolische ist. Hier wird ganz konkret jene »Verteilungsgerechtigkeit« praktiziert, um die in so vielen politischen Diskursen und ganz konkret immer wieder in der Gesellschaft gerungen wird. Um den Abendmahlstisch sind alle gleich. Margot Käßmann, die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen in Deutschland, hat diese Gleichheit in ihrem Buch »Die eucharistische Vision« so ausgedrückt: »Integration der Marginalisierten und das Teilen des Brotes vollzieht sich bereits in der Eucharistie.« Hier nimmt die Kirche die »Einheit der Menschheit« voraus, »die sie in ihrem Schöpferglauben postuliert.«5 Nicht nur die Einheit der Gläubigen, sondern die Einheit der Menschheit wird also hier dargestellt.6 Keine der Aspekte, die so oft in der Gesellschaft Menschen auf konfliktreiche Weise trennen, dürfen deshalb hier zu einem Ausschlusskriterium werden. Am Tisch göttlicher Gastfreundschaft spielen Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziale Stellung, ethnische Herkunft oder irgendeine andere Art der Trennung und Unterscheidung von Menschen keine Rolle mehr. Aus theologischer Perspektive kann man mit Fug und Recht sagen, dass am Abendmahlstisch Anti-Diskriminierung praktiziert wird. Und das hat durchaus politische Dimensionen: Am Abendmahlstisch üben sozusagen Christen die gleichberechtigte Teilhabe an den Ressourcen dieser Welt. Je mehr die Wirklichkeit 4 5 6

M. Nausner, Gebrochenheit und Erneuerung der Schöpfung. Das Abendmahl als Basis sozialer Gerechtigkeit, in: Ökumenische Rundschau 61 (4/2012), 440–456, 441. M. Käßmann, Die eucharistische Vision. Armut und Reichtum als Anfrage an die Einheit der Kirche in der Diskussion des Ökumenischen Rates, Mainz und München 1992, 23. Vgl. a.a.O., 349.

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einer solchen Teilhabe verinnerlicht wird, desto mehr werden sich Christen als gestaltender Teil auch der ökonomischen, ökologischen und politischen Welt im weitesten Sinne verstehen. 2.3 Im Abendmahl nimmt die feiernde Gemeinde teil an der Welt der Ökonomie Und noch ein Letztes will ich bezüglich des Abendmahls als Übungsfeld für die Teilhabe an den Veränderungsprozessen dieser Welt hervorheben. Das Abendmahl kann bei all seiner geheimnisvollen Bedeutung, die säkularisierten Menschen so schwer zugänglich ist, auch als ein ganz konkreter ökonomischer Vollzug der Teilhabe verstanden werden. Der amerikanische Theologe Theodore Jennings hat über den christlichen Gottesdienst, in dem das Abendmahl eine zentrale Rolle spielt, gesagt: Der christliche Gottesdienst ist »ein Paradigma für eine Art und Weise in der Welt der Politik, der Wirtschaft, in der Welt der Verantwortung und der Arbeit, in der Welt der Beziehung zu leben.«7 Zugespitzt ausgedrückt könnte man sagen, dass das Abendmahl bei all seiner geistlichen Bedeutung gleichzeitig auch Politik ist. Es ist Politik der Teilhabe. Die Theologinnen Andrea Bieler und Luise Schottroff haben das in ihrem Buch über das Abendmahl schön auf den Punkt gebracht, wenn sie schreiben: »Das Brot, das wir in der Küche essen, das Brot, das wir von den Armen stehlen, und das Brot, das während des Abendmahls konsekriert wird, stehen miteinander in Beziehung.«8 Insofern diese Beziehung besteht, hat das Abendmahl auch eine politische Komponente. Das bewegendste Beispiel eines solchen Verständnisses des Abendmahls als Praxis gerechter Teilhabe habe ich in einem Artikel des argentinischen Philosophen Enrique Dussel gelesen. Er berichtet dort von dem Priester Bartholomé de las Casas, jenem furchtlosen Verfechter der Würde der indigenen Bevölkerung gegenüber dem brutalen Vorgehen der spanischen Eroberer in Lateinamerika. Im Jahre 1514 weigerte sich las Casas, die Eucharistie mit den conquistadores zu feiern, weil er das auf ungerechte Weise von den Eingeborenen geraubte Brot der Ökonomie für nicht geeignet hielt für die Feier der Eucharistie.9 Diese konkrete Verbindung zwischen weltlicher und göttlicher Ökonomie scheint mir gerade in einer Zeit von großer Bedeutung zu sein, in der sich mit zunehmender Deutlichkeit erweist, dass das ökonomische System der freien Markwirtschaft nicht

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T. W. Jennings, The Liturgy of Liberation. The Confession and Forgiveness of Sins, Nashville, TN 1988, 17 [Hervorhebungen von mir]. A. Bieler/L. Schottroff, Das Abendmahl. Essen, um zu leben, Gütersloh 2007, 17. E. Dussel, Eucharistie und Ökonomie, in: Continuum. Internationale Zeitschrift für Theologie, 47. Jg. 5/2011, 500–510, 507.

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in der Lage ist, gerechte soziale Verhältnisse, geschweige denn einen balancierten Umgang mit den Ressourcen der Schöpfung herbeizuführen. Ein Verständnis des Abendmahls als eines Mahles der Teilhabegerechtigkeit,10 wie ich es hier skizziert habe, hat das Potential, Menschen für die Dynamik der auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich zu sensibilisieren und für ein Eintreten gerechter Teilhabe aller zu motivieren.

3. Teilhabe, gegründet in der Schöpfung (Gottebenbildlichkeit und/als Verwalterschaft) Natürlich verbirgt sich hinter der Begründung gerechter Teilhabe ausgehend vom Abendmahl eine spezifisch christliche Perspektive. Auch wenn sie inhaltlich von säkularisierten Menschen nicht geteilt wird, so hoffe ich dennoch, mit meinen Ausführungen die Logik einer solchen Begründung deutlich gemacht zu haben. Ich denke, es leuchtet ein, dass ein solches Abendmahlsverständnis ein gemeinsames Engagement für gerechte Teilhabe gemeinsam mit Menschen verschiedener Weltanschauungen möglich macht. Eine andere Art der Begründung gerechter Teilhabe lässt sich von der von Jürgen Habermas hervorgehobenen Gottebenbildlichkeit herleiten. Sie steht offensichtlich auch im Hintergrund der Formulierung von der Würde des Menschen im ersten Paragraphen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.11 Aber heute Abend geht es mir nicht um verfassungsrechtliche Fragen, sondern um die spezifisch theologische Begründung gerechter Teilhabe, und diese Begründung lässt sich aus dem ersten Buch der Bibel herleiten. Darin geht es um die Erschaffung der Welt und im Zusammenhang damit auch um die Erschaffung der Menschheit. Dieser Text ist deshalb wohl für säkularisierte Menschen leichter nachvollziehbar in seiner Bedeutung für die gesamte Menschheit als die Bibeltexte über das Abendmahl. Hier begegnet uns eine Erzählung, die ganz offensichtlich den Anspruch erhebt, für die ganze Menschheit zu gelten und nicht nur für ein Volk oder eine Glaubensgemeinschaft. Natürlich ist es dabei sowohl aus theologischer als auch aus säkularer Perspektive wichtig, die Erzählung von der Erschaffung der Welt nicht als einen Text misszuverstehen, der Anspruch auf historische oder gar biologische Exaktheit erhebt. Wenn hier ein »Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprache« fehlt, dann verläuft man sich schnell in fruchtlose Debatten 10 11

Vgl. Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, Gütersloh 32006, 43. Ich glaube übrigens, dass die Kritik daran, dass in einem säkularen Staat das Grundgesetz auf einem religiösen Menschenbild fußt, berechtigt ist und aufmerksam gehört werden muss.

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darüber, wie und ob denn die Erde in sieben Tagen erschaffen werden konnte oder ob das erste Buch Mose und die Evolutionstheorie gleichzeitig wahr sein können. Wenn allerdings darüber Einigkeit besteht, dass es sich in diesem Text um ein in metaphorischer Sprache gehaltenes Loblied auf den Schöpfer der Erde handelt, dann kann ein fruchtbares Gespräch darüber einsetzen, ob gewisse Grundaussagen dieser alten Erzählung nicht auch heute noch, in einem säkularen Kontext Sinn machen, auch wenn man die Glaubensvoraussetzungen der Urheber dieses Textes nicht teilt. Dieses erste Kapitel der hebräischen Bibel hat auf dreierlei Weise etwas Grundlegendes über das Phänomen der Teilhabe im menschlichen Leben zu sagen. Zunächst finden wir in diesem Kapitel die wirkmächtige Aussage von der sog. Gottebenbildlichkeit des Menschen. 3.1 Die Teilhabe an Gott In der Übersetzung Martin Luthers lautet Gen 1,26 folgendermaßen: »Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich ist …«, und weiter in Vers 27: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.« Nun wären diese Verse gänzlich missverstanden, würde man aus ihnen ableiten, dass man sich das »Aussehen Gottes« vorstellen könne, wenn man sich einen Menschen ansieht. Das Gebot, sich von Gott kein Bild machen zu dürfen, ist ja ein Eckstein aller abrahamitischen Religionen. Es kann also bei der Gottebenbildlichkeit nicht um eine Äußerlichkeit gehen. Aber auch die Vorstellung, es handle sich bei der Gottebenbildlichkeit um eine innere Eigenschaft oder Qualität des Menschen, zum Beispiel die Vernunft, den freien Willen oder die Sprachfähigkeit, geht in die Irre. Es entspricht vielmehr biblischem Glauben, dass der Mensch ohne Beziehung zu Gott letztlich nicht Mensch ist. In Psalm 104, einem anderen Text, in dem das Lob der Schöpfung eine zentrale Rolle spielt, heißt es: »Nimmst du (Gott) weg … den Odem (der Menschen), so vergehen sie und werden wieder zu Staub« (Psalm 104,29b). Ohne ständige Verbundenheit mit Gottes lebenspendendem Atem ist menschliches Leben nicht möglich. Aus theologischer Perspektive zerrinnt jegliche menschliche Fähigkeit ohne diese vitale Verbindung im Sand. Gottebenbildlichkeit ist also nichts, was sich isoliert als eine Eigenschaft oder eine Qualität gar gegen Gott hervorheben ließe. Vielmehr besteht sie in der Beziehung zu Gott, in der Teilhabe an Gott selbst. Diese grundlegende Teilhabe an Gott, wie sie auch im von Gott eingehauchten Odem zum Ausdruck kommt, ist konstitutiv für das Menschsein. Theologisch gründet die Rede von der Würde des Menschen also in diesem Umstand: Der Mensch ist ein von Gott mit Leben erfülltes und

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dadurch mit Gott verbundenes Wesen von unverlierbarer Würde.12 Kein noch so destruktives Verhalten anderer Menschen kann einer Person diese Würde nehmen. 3.2 Die Teilhabe an menschlicher Gemeinschaft Ist Teilhabe an Gott das erste Merkmal der Gottebenbildlichkeit, so ist die menschliche Sozialität mit ihr verbunden. Beides ist für den Menschen konstitutiv, die Beziehung zu Gott und die Beziehung zu anderen Menschen. Auch das kommt ja bereits in diesem ersten Kapitel der Bibel zum Ausdruck, wenn von der Schaffung des Menschen als geschlechtlichem Wesen die Rede ist. Die Schaffung des Menschen als männlich und weiblich bedeutet unter anderem, dass es schlicht und einfach zum Wesen des Menschen dazugehört, in Gemeinschaft zu leben. Es fehlt etwas, wenn Zugehörigkeit, wenn die Teilhabe an einer Gemeinschaft fehlt. Nur in Gemeinschaft ist der Mensch kreativ in mehrfacher Hinsicht. Bei aller Zustimmung zu der Befreiung des Individuums von den Zwängen autoritärer Strukturen, wie sie die Aufklärung ermöglicht hat, bleibt aus christlicher Perspektive die Betonung des Menschen als Gemeinschaftswesen bestehen. Diese christliche Grundüberzeugung hat der französische Philosoph Jean Luc Nancy in seinem Büchlein »Singular plural sein« auf den Punkt gebracht, wenn er gegen den existentialistischen Philosophen Martin Heidegger ins Feld führt, dass das Leben nicht mit dem Dasein des einzelnen Menschen beginnt, sondern mit dem Mit-Sein. Das scheint mir in der Tat analog zur Grundaussage des ersten Buches der Bibel zu sein. Ein Doppeltes wird hier ausgesagt: Der Mensch ist seinem innersten Wesen nach ein auf Gott und seine Mitmenschen bezogenes Wesen. In der systematischen Theologie wird diese grundlegende Bezogenheit des Menschen oft mit dem Begriff relationale Anthropologie bezeichnet. Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, und die Sehnsucht dazu zu gehören, die ja in vielen Spielarten zum Ausdruck kommt, ist meines Erachtens ein Zeichen für diese grundlegende Sozialität des Menschen. 3.3 Die Teilhabe an der Bewahrung und Verwaltung der Schöpfung Und noch einen letzten Aspekt der Teilhabe entdecke ich in diesem ersten Kapitel der Bibel. Es fällt auf, dass die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in Vers 27 eingebettet ist in zwei Verse, in denen es um die Bewahrung und die Erhaltung der Schöpfung geht. Theologinnen und Theologen sind sich uneinig, ob dieser Auftrag, über die Tiere zu herrschen (Vers 26) 12

Vgl. W. Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 116.

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und sich die Erde untertan zu machen (Vers 28), ein Teil der Gottebenbildlichkeit ist. Ich verstehe diesen Bewahrungs- und Erhaltungsauftrag als einen integralen Bestandteil der Gottebenbildlichkeit und nicht bloß als eine Konsequenz einer gewissen Identität. Das heißt, dass die Gottebenbildlichkeit selbst nicht zuletzt auch im gemeinsamen Haushalten mit der den Menschen anvertrauten Schöpfung besteht. Es ist sozusagen der dritte Aspekt der in der Schöpfung des Menschen gründenden Teilhabe: Wir haben Teil an der Gestaltung des Schöpfungshaushaltes. Ein wesentlicher Teil der Gottebenbildlichkeit und damit der Menschenwürde besteht also darin, dass alle Menschen zu Ökonominnen und Ökonomen berufen sind. In der Tat, ein wesentlicher Bestandteil der Menschenwürde, wie sie uns in Genesis 1 bezeugt wird, besteht im Auftrag praktizierter Ökonomie. Gottebenbildlichkeit, so scheint es, drückt sich auf entscheidende Weise darin aus, wie Menschen ihren Verwaltungsauftrag, oder theologisch gesprochen: ihre ökonomische Berufung wahrnehmen. Ökonomie verstehe ich hier als etwas, das weit über das hinausgeht, was sich in unserer Gesellschaft und in vielen ökonomischen Lehrgängen als eine Vorstellung von Ökonomie etabliert hat, nämlich die Gesetzmäßigkeiten des Geldmarktes. Als Christ und Theologe verstehe ich jede verantwortliche Ökonomie, jedes menschenwürdige Wirtschaftssystem als einen Ausdruck schöpfungsgemäßen Haushaltens. So gesehen geht es bei einer guten Ökonomie um das bestmögliche Haushalten mit den Ressourcen für ein gutes, gemeinschaftliches Leben. Und das fängt weit vor dem Bankschalter an. Der Begriff Ökonomie setzt sich aus den beiden griechischen Begriffen oikos (Haus) und nomos (Gesetz, Gesetzmäßigkeit) zusammen. Ganz grundlegend verstanden ist deshalb jede Ökonomie an ihrer Verankerung in den schöpfungsgemäßen Gesetzmäßigkeiten des globalen Haushaltes zu messen. Als Theologe kann ich nicht umhin, auch in Fragen der Ökonomie nach dem göttlichen Willen und Auftrag für den weltweiten Haushalt, für ein gottgewolltes Verwalten zu fragen. Es ist bemerkenswert, dass die erste Konkretisierung der Gottebenbildlichkeit das alltägliche, ganz irdische Verwalten betrifft. Sie und ich leben gemäß unserer Gottebenbildlichkeit, indem wir verantwortungsvoll haushalten, indem wir im besten Sinne des Wortes ökonomisch leben. Zunächst steht in Genesis 1 gar nichts von der Sorge um das Geistliche, um die Seele, um ein »Höheres«, sondern von den Gaben des Haushaltes. Gute Ökonominnen und Ökonomen sollen die Menschen sein in ihrer Gottebenbildlichkeit. Die typisch moderne Interpretation des Verhältnisses zwischen Theologie und Ökonomie als getrennte Bereiche, wie sie sich im 19. Jahrhundert auf beiden Seiten des Atlantiks herausgebildet hat, ist hier noch lange nicht im Blick: So war der amerikanische Theologe Andrew Carnegie zum Beispiel 26

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davon überzeugt, dass die Geldwirtschaft nach festen Naturgesetzen funktioniert, und dass sich deshalb die Theologie in ökonomische Fragen genauso wenig einzumischen hat wie in naturwissenschaftliche. Das Geldverdienen soll die Kirche ganz den Gesetzen der Wirtschaft überlassen, so Carnegie. Die ökonomische Aufgabe der Kirche müsse sich auf die Wohltätigkeit beschränken. Aus theologischer Perspektive könnte die momentane Wirtschaftskrise dazu dienen, Menschen daran zu erinnern, wovon die ganze Bibel von Anfang an – im Alten und Neuen Testament – spricht: Die Art und Weise, wie sie die ihnen anvertraute Schöpfung verwalten und wie sie ihre Ressourcen miteinander teilen, gehört zur Gottebenbildlichkeit dazu. Es kann Gläubigen deshalb nicht egal sein, an welchem Wirtschaftssystem sie teilhaben. In Genesis 1 wird, wie wir gesehen haben, das irdische Verwalten mit Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde in Verbindung gebracht. Und im restlichen Alten Testament werden die Israeliten immer wieder an ihre ökonomische Verantwortung erinnert. Nur ein paar weitere Gebote seien hier erwähnt: etwas von der Ernte für Arme, Witwen und Waisen stehen lassen; den Zehnten geben; dem Fremdling Gastfreundschaft erweisen. Zahlreich sind auch Jesu Worte über ökonomische Verhältnisse, angefangen mit den Gleichnissen, die so oft die ökonomischen Wirklichkeiten unseres Alltags zum Inhalt haben (das Gleichnis vom reichen Kornbauer, das Gleichnis von Lazarus und dem reichen Mann, das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden etc.), über die Bergpredigt mit ihren Worten über die Armen und das Almosengeben bis hin zu der herausfordernden Begegnung mit dem reichen Jüngling. Aus theologischer Perspektive lässt sich deshalb sagen: Die Art und Weise, wie Menschen als einzelne und als Gemeinschaft mit dem ihnen Anvertrauten umgehen, ist nicht bloß eine »irdische« Frage, sondern auch eine Glaubensangelegenheit. Deshalb meine ich, dass es klar sein muss, dass Theologinnen und Theologen ebenso sehr von den Ökonomen und Ökonominnen über die Details der Geldwirtschaft zu lernen haben, wie es Ökonomen gut tun würde, mehr auf die weitere theologische Sichtweise der Voraussetzung aller Ökonomie zu achten. Die Trennung dieser Bereiche darf nicht akzeptiert werden. Das Gespräch zwischen Ökonomie und Theologie muss aufrecht erhalten werden. Ich habe Ihnen aus theologischer Perspektive zwei Begründungsmöglichkeiten für eine gerechte Teilhabe in Gesellschaft und Kirche vorgestellt. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass es aus besagter theologischer Perspektive zwar eine Unterscheidung zwischen Kirche und Gesellschaft geben muss, dass sie aber nicht getrennt werden dürfen, als seien sie voneinander isolierte Sphären. Die Teilhabe an der Gastfreundschaft Jesu Christi beim Abendmahl beinhaltet eo ipso ein gewisses Verständnis politischer und demokratischer Teilhabe. Und die Teilhabe am Bewahrungs- und Verwaltungsauftrag der Michael Nausner, Die Sehnsucht, dazuzugehören

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Schöpfung ist nicht zu trennen von der Teilhabe am sozialen, ökonomischen und ökologischen Haushalten in der säkularen Gesellschaft. Als gläubiger Christ und als Theologe schöpfe ich meine Motivation und meine Inspiration für die Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen aus der religiösen Metaphorik meiner Tradition. Das heißt in der Praxis nicht, dass es mir um ein christliches Modell gesellschaftlicher Teilhabe geht, aber es heißt, dass ich als Christ gemeinsam mit Menschen anderer Weltanschauung und anderem Glauben beitragen will zu der Verwirklichung gerechter Teilhabe in unserer pluralistischen Gesellschaft. Ich kehre zurück zu meinen einleitenden Gedanken über unsere intensive Vernetzung in der Mediengesellschaft und Rupert Esers warnenden Worten vor dem »Scheingefühl der Teilhabe«. Wir werden täglich überschwemmt von einer Vielzahl an Angeboten, uns zu vernetzen und virtuell an einer schier unendlichen Zahl von Netzwerken und Zusammenhängen »teilzuhaben«. Unsere in der Schöpfung gegründete Sehnsucht, dazu zu gehören, ist ständig in der Gefahr, von ökonomischer Vermarktung ausgenutzt zu werden. Fragen wir uns dabei noch gezielt, an welchen Netzwerken wir teilhaben wollen? Bleiben wir wach für das Risiko, angesichts all dieses »Scheingefühls der Teilhabe« unsensibel zu werden für die wirklich wichtigen Aspekte gerechter Teilhabe? Ausgehend von meinen beiden theologischen Beispielen lässt sich zumindest andeuten, welche Form der Teilhabe es wert ist, angestrebt zu werden. Eine solche Teilhabe stellt sich nicht automatisch per Mausklick oder Touchscreen ein. Inmitten der vielen virtuellen Angebote der Teilhabe, die nicht pauschal verurteilt werden können, bleibt es wichtig, auf die Nachrichten in den Medien besonders zu achten, die von der Bedrohung gerechter Teilhabe aller berichten, aber auch für die Beispiele, die neue Formen gerechter Teilhabe fördern. In der Tat, die Medien können uns helfen, sensibel zu bleiben für die Gefährdung gerechter Teilhabe. Dazu wäre es wichtig, und auch hier schließe ich mich ein letztes Mal Rupert Eser an, dass mehr Menschen dazu bereit sind, sich weniger von den vielen Angeboten des Eventjournalismus und des Showbusiness okkupieren zu lassen und stattdessen den Informationen nachspüren, die auf eine wachsende Ausgrenzung gewisser Gruppen in der Gesellschaft hindeuten. Dazu gehört natürlich die exorbitante Jugendarbeitslosigkeit in großen Teilen Europas, dazu gehört die mehr oder weniger explizite Ausgrenzung von ethnischen und religiösen Minderheiten, und dazu gehört ganz allgemein die wachsende Armut trotz wachsendem Börsenindex. Denn die Botschaft der jüdisch-christlichen Tradition mit ihrem Auftrag gemeinsamer Bewahrung der Schöpfung scheint mir eindeutig: Die Teilhabe an der

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Wirklichkeit Gottes verpflichtet uns Menschen dazu, aktive Teilhabe an den gesellschaftlichen Aufgaben für alle Menschen zu ermöglichen.13

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Vgl. Gerechte Teilhabe (Fußnote 10), 11.

Michael Nausner, Die Sehnsucht, dazuzugehören

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Ihr macht das schon! Zuversichtlich leben in konfliktreichen Zeiten Zusammenfassung einer Weiterbildungszeit Wilfried Röcker

1. »Die Welt ist aus den Fugen geraten« Kirchentage sind mit ihren Themen ein Pulsmesser dafür, was Christen bewegt und umtreibt. 2015 waren Frank-Walter Steinmeier, damals Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, und Kofi Annan, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen, beim DEKT in Stuttgart als Podiumsgäste bei einer Veranstaltung mit dem Titel: »Die Welt ist aus den Fugen geraten«. In seiner Rede bezeichnete Steinmeier die vielen verschiedenen Krisenherde und die damit verbundenen Schicksale einzelner Menschen als eine Herausforderung, die Deutschland zu interessieren habe. Deutschland trage Verantwortung, politisch, wirtschaftlich und sozial.1 Beim DEKT 2017 in Berlin war Frank-Walter Steinmeier als frisch gewählter Bundespräsident zu Gast. »Ist die Vernunft noch zu retten? Hat in der digital vernetzten Welt die Vernunft noch eine Chance? Oder gerät die Welt angesichts wachsender Verunsicherung durch den digitalen ›Dauerregen‹ vollends aus den Fugen?« – so lautete die Headline zur Veranstaltung. Zusammen mit der Philosophin Susan Neiman wurde über eine Wiederentdeckung der Grundüberzeugungen der Aufklärung und der westlichen Wertegemeinschaft diskutiert. »Was anderes soll uns retten als die Vernunft?« war die Gegenfrage des Bundespräsidenten am Ende seines Vortrags2. 2018 übernimmt Steinmeier die Schirmherrschaft der Aktion »Deutschland spricht« und ermutigt zum Dialog. In einer Rede vor dem Schweizer Bundesrat im April 2018 sagte er: »... (M)eine größte Sorge ist die, wenn die Gesellschaft auseinanderdriftet, wenn der Ton, erst recht im Internet, immer schroffer wird,

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Siehe https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/150607-rede-bm-kirchentagkofi-annan/272218 (Download am 5.9.2018). Vgl. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/ Reden/2017/05/170527-Panel-Kirchentag-Berlin.html (Download am 6.9.2018).

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DOI 10.2364/3846997055

wenn politische Kontrahenten sich nicht mehr als Gegner, sondern als ›Feinde‹ begegnen, dann geht etwas verloren, was für die Demokratie überlebenswichtig ist: nämlich die Bereitschaft zur Vernunft.«3 Aber wie steht es in unserer Welt mit der »Bereitschaft zur Vernunft«? Die Vernunft scheint ständig neuen Angriffen ausgesetzt zu sein: Die Bedrohung der Lebensverhältnisse von Millionen von Menschen durch Gewalt und Terror, durch wirtschaftliche und strukturelle Ungerechtigkeit treibt immer mehr Menschen in die Flucht; Fake-News und Twittermeldungen der Mächtigen oder die Propagandareden auf Massenveranstaltungen solcher, die mächtig werden wollen, bedrohen die Demokratien mit ihren Grundüberzeugungen aus der Aufklärung. Woran liegt das? Was passiert in unseren Gesellschaften? Welch friedensstiftende Rolle sollen die Kirchen in ihren jeweiligen Gesellschaften übernehmen? Leider scheinen sie sich im Blick auf ihre Streitpunkte in genau denselben Schemata zu zerfleischen. Paulus warnte die Galater: »Wenn ihr einander wie wilde Tiere beißt und gegenseitig auffresst, dann passt auf! Sonst wird am Ende noch einer vom andern verschlungen.«4 Lässt sich das in der United Methodist Church, in unseren Gemeinden verhindern? Schafft es die UMC, trotz kontroverser Standpunkte zusammenzubleiben? Das waren die Leitfragen meiner Weiterbildungszeit im Sommer 2018. Viele Ereignisse in jenem Sommer wurden zu Mosaiksteinen auf meiner Suche. In dieser Zeit ist z.B. auch Fußballweltmeisterschaft: Nach dem frühen Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft beginnt die Suche nach Gründen und mit der öffentlichen Debatte um Mesut Özil die #MeTwoKampagne. Ali Can, ein junger Autor aus Essen, hatte diesen Hashtag in Anlehnung an #MeToo erfunden. Im Interview der Tagesthemen wird seine Überraschung darüber deutlich, dass sich so viele beteiligten.5 Deutsche »mit Migrationshintergrund«6 berichteten von ihren Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus. Und sie schrieben von den zwei Herzen in ihrer Brust, von der Verbundenheit mit der Tradition ihrer Herkunft und dem Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland. Die Berichte machen deutlich, dass es in

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Siehe https://www.tagesschau.de/inland/deutschland-spricht-103.html (entdeckt im Juli 2018). Gal. 5,15, Übersetzung aus der BasisBibel. Tagesthemen vom 02.08.2018 https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-6165. html (Download des einzelnen Sendungsbeitrags am 03.08.2018). Der deutsche Soziologe A. El-Mafaalani verwendet in seinem Buch: Das Integrationsparadox, Köln 2018, 50–56, statt »mit Migrationshintergrund« den Frame: »Deutsche mit internationaler Geschichte« und »Deutsche mit nationaler Geschichte« bzw. »ohne internationaler Geschichte«. Mir gefällt dieser neue Frame sehr.

Wilfried Röcker, Ihr macht das schon!

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unserer offenen deutschen Gesellschaft viele unterschiedlich gelebte Alltagskulturen mit sehr kontroversen Positionen gibt.7 Ein Unverständnis über die Anderen kann zur Quelle von Empörung und Wut werden. 2016 bezeichnet der Soziologe Heinz Bude unter Aufnahme des von Martin Heidegger geprägter Begriffs der »Stimmung« dieses Phänomen als »Stimmung der Gereiztheit«8. Der Rapper Eko-Fresh schrieb im Fußballsommer 2018 unter dem Eindruck der ganzen Debatte den Song »Aber«. In diesem Rap sagen sich zwei so richtig die Meinung, zwei, die sonst nicht miteinander reden. Beim Zuhören wird man hineingestoßen in diese ausweglos harten Fronten und die Wut. Am Ende des Clips gibt es eine überraschende Wendung.9 (Am besten, sie schauen sich jetzt gleich den Clip bei YouTube an.) Mich beeindruckte diese Wendung so sehr, dass ich den Titel meines Aufsatzes daraus entnahm: Meine Ansicht, bro, ob Religion, ob Tradition,

zusammen in ’nem Land zu wohn’n, ist schwer, aber ihr macht das schon.

Was würden sich zwei Gemeindeglieder zu sagen haben, wenn sie sich mit Ihren unterschiedlichen Positionen zum Thema Homosexualität einmal so richtig offen aussprechen würden? Vielleicht würden sie auch mit einer Vorbemerkung beginnen: »Als aller erstes will ich klar stelln, ich bin nicht homophob, aber …« bzw.: »Ich liebe Gottes Wort, aber …«. So wie im Clip der eine sagt: »Ich bin kein Nazi, aber …« und der andere antwortet: »Ich liebe Deutschland, aber …«. Eine gewagte Analogie? Ich meine, dass Gemeindeglieder der EmK wie alle anderen in den westlichen Gesellschaften ganz plural »ticken«, denken und fühlen. Wir sind Kinder unserer Zeit. Wir sind unterwegs in vielen unterschiedlichen Frömmigkeitskulturen (analog zu den Alltagskulturen). Die »Stimmung der Gereiztheit« wirkt, und bei kontroversen Themen fällt darum auch uns das Miteinander schwer. Auch wir bewegen uns vor allem in unseren Meinungsgruppen. Bude spricht vom »Rückzug in die Blase der Selbstähnlichkeit«10. Das bestärkt die eigenen Positionen. Die Fronten scheinen klar, und nach ermüdenden Diskussionsrunden ohne Ergebnis gedeiht ein Gedanke, der mit einem »ich liebe meine Kirche, aber …« dennoch erwägt, diese Kirche möglicherweise zu verlassen. Was bedeutet das für unsere kirchliche Arbeit? Gibt es einen Ausweg? Helfen Erkenntnisse aus den Kognitionswissenschaften, der Psychologie und 7 8 9 10

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Vgl. A. El-Mafaalani, Das Integrationsparadox (Fußnote 6), 57ff. Vgl. H. Bude, Das Gefühl der Welt. Über die Macht der Stimmungen, München 2016, 24. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=1A7Qw88As64. H. Bude, Das Gefühl der Welt (Fußnote 8), Über die Macht von Stimmungen, 24.

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der Soziologie? Soviel sei schon einmal gesagt: Ja, davon bin ich überzeugt! Ich möchte den kontroversen Gruppen in der EmK wie im Rap zuversichtlich sagen: »Zusammen in 'ner Kirch' zu bleib'n ist schwer, aber ihr macht das schon.« Der Weg dahin fordert uns alle heraus. Er wird uns verändern und weiterbringen. In diesem Aufsatz ist leider der Platz nicht gegeben, Erkenntnisse der Psychologie, der Kognitionswissenschaften und der Soziologie ausführlich vorzustellen. Ich verweise hierfür auf meine ausführliche Arbeit, die auf der Homepage des Bildungswerks zu finden ist: www.emk-bildung.de/ihrmacht-das-schon. Dort findet sich ebenso eine Literaturliste mit empfehlenswerten Büchern.

2. Aber ihr macht das schon? Weiterführende Fragen 2.1 Lassen sich Konflikte anders als Bedrohung des bestehenden Systems deuten? Im Buch »Das Integrationsparadox – warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt« interpretiert der Soziologe Aladin El-Mafaalani die derzeit auftretenden Konflikte und Schließungstendenzen in unserer Gesellschaft als Zeichen für gelingende Integration und als Zeichen dafür, dass wir in einer offenen Gesellschaft leben. »Die Integration ist heute so gut, wie sie noch nie in der deutschen Geschichte war.«11 Unser Erschrecken über aktuelle gesellschaftliche Spannungen, liege nach El-Mafaalani an einer falschen Annahme. Wir meinen, unter gut integrierten Menschen müsse es friedlicher zugehen, und je offener eine Gesellschaft sei, desto harmonischer müsste das Miteinander der verschiedenen Gruppen sein. Für El-Mafaalani ist das ein Irrtum. Er deutet Konflikte anders und erklärt seine Sicht auf die Gesellschaft mit dem Bild einer Tischgemeinschaft: »Biodeutsche« oder »Deutsche ohne internationale Geschichte« sitzen an diesem Tisch. Lange saßen sie alleine in diesem Raum und sie teilten sich an diesem Tisch ihren Kuchen nach ihren Regeln auf. Dann kamen die ersten »Gastarbeiter«. Sie waren sehr zurückhaltend. Froh, mit im Raum sein zu können, nahmen sie in einer Ecke auf dem Boden Platz und gaben sich bescheiden mit den Brocken ab, die vom Tisch herunterfielen. Deren Kinder und Enkel aber wollen mit am Tisch sitzen. Sie bilden eine neue Generation von Deutschen. Nun gibt es auch »Deutsche mit Migrationshintergrund« oder »Deutsche mit internationaler Geschichte«. Teilweise sehr gut gebildet

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A. El Mafaalani, Das Integrationsparadox (Fußnote 6), 29.

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und qualifiziert, erheben sie nicht nur Anspruch auf einen guten Platz, sondern wollen auch mitentscheiden, wie die Rezeptur des gemeinsamen Kuchens zukünftig aussehen soll und nach welchen Regeln geteilt wird. All das müsse nun neu ausgehandelt werden und gehe – laut E-Mafaalani – nicht ohne Streit. Konflikte als Zeichen des Zusammenwachsens verstehen, anstatt sie als Rückgang der offenen Gesellschaft beklagen – das hat mich angesprochen. Aus der Gruppendynamik sind solche Prozesse bekannt.12 Diesen Ansatz auch für gesamtgesellschaftliche Prozesse zu verwenden, finde ich hoch interessant, weil er Konfliktparteien zusammenhält. Wäre das ein Deutungsmuster für die Prozesse in der UMC? Lassen die Konflikte in der Generalkonferenz im Blick auf die Fragen zur Homosexualität den Schluss zu, dass wir uns nähergekommen sind, dass wir als Kirche weiter zusammengewachsen und offener geworden sind, dass wir uns deshalb streiten? Konferenzmitglieder begegnen einander mit einem anderen Selbstbewusstsein. Dies drängt auf eine endgültige Klärung einer 50 Jahre alten Streitfrage. Die Generalkonferenz begreift sich internationaler, globaler; Methodisten außerhalb der USA melden sich entschiedener zu Wort. Fünfzig Jahre nach der Vereinigung zur United Methodist Church steht auch der Integrationsprozess zwischen Evangelischer Gemeinschaft und Bischöflicher Methodistenkirche an einer anderen Stelle. Eine neue Generation stellt andere Ansprüche. Das »WIR« ist größer geworden, es hat sich verändert und es muss sich darum neu finden. Haltungen müssen neu ausdiskutiert werden. Konflikte sind also ganz normal. Die Kirche steht nicht am Abgrund, sondern befindet sich in einem Prozess kurz davor, einen großen Schritt weiter zu kommen. Die »EmK-Gemeinschaft« ist offener geworden. Was für ein gutes Zeichen! Machen wir uns an die Arbeit! Klären wir unsere Konflikte und zwar möglichst so, dass das WIR am Ende zusammenbleibt und gestärkt weitergehen kann, um seinem Dienst nachzugehen. Aber lässt sich die derzeitige Konfliktlage in der UMC wirklich so deuten?

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Die Phasen der Gruppendynamik lauten: (1) Forming (Kontakt), (2) Storming (Konflikt), (3) Norming (Kontrakt), (4) Performing (Kooperation), (5) Adjourning (Auflösung), Eine Gruppe bewegt sich bis zur Auflösung im Kreislauf zwischen 1–4. D.h. sie kommt im Laufe ihrer dynamischen Geschichte immer wieder in die Stormingphase, weil Themen, Fragen, Normen neu geklärt werden und vereinbart werden müssen. Das Ergebnis des Stormings entscheidet darüber, ob eine Gruppe in einen neuen Prozess kreativer, kooperativer Zusammenarbeit gelangt, oder ob sie sich auflösen wird.

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2.2 Verändern Erkenntnisse zu »Implicit Bias« unsere Selbsteinschätzung? Eine ausführliche Beschäftigung darüber, wie Vorurteile entstehen13, hat mich positiv verunsichert. Ich traue meiner Wahrnehmung nicht mehr blind. Ich frage mich: Kann ich dem, was ich sehe, was ich höre, wie ich eine Situation einschätze, wie ich spontan reagieren will, trauen oder täusche ich mich? Gibt es eine unbewusste Voreingenommenheit, die mir im Weg steht? Lasse ich mich von einer allgemeinen Stimmung anstecken und genervt reagieren, obwohl es eigentlich doch gar keinen Grund dafür gibt? Raum für solche Fragen entsteht freilich nur, wenn ausreichend Zeit und der nötige Abstand zur Reflexion gegeben sind. Nur selten gibt es einen solchen Raum wie in einer Studienzeit. Ich hoffe, dass mich diese Erfahrungen weiter begleiten und sie mein Verhalten nachhaltig verändern, auch dann, wenn ich mich neu in konkrete inhaltliche Auseinandersetzung begebe. Ein erster Plan war, die Studienzeit dazu zu nutzen, so etwas wie ein »Fünf-Schritte-Programm« für die Gemeindeberatung zu entwickeln, mit dem sich schwierige Probleme in einer Gemeinde besser bearbeiten lassen. Schon bald habe ich gemerkt, dass es in einer solchen Situation aber möglicherweise schon viel zu spät ist. Wer sich mit anderen um eine Sache streitet, ist vermutlich schon im Eifer versunken. In dieser Phase ist das Ziel vor allem, die anderen von ihrem Irrtum zu überzeugen. Kritische Rückfragen, ob es möglicherweise eine unbewusste Voreingenommenheit gibt, können nicht mehr gedacht werden. Im Gegenteil, sie werden als Angriff erlebt. In solch einer Situation kann eine kritische Rückmeldung nur abgelehnt werden, selbst wenn sie eine externe Gemeindeberatung stellt. Mir wurde klar, dass eine Reflexion über »implicit bias« in den Gemeinden früher ansetzen muss. Es braucht dazu nötige Freiräume, um in einem gewissen Abstand die eigenen Verhaltensmuster zu reflektieren. Wo finden sich solche offenen Räume in der Gemeinde? Der Raum »Ernstfall Konflikt« ist es sicher nicht. Dort brauchen Menschen Schutz, die Erfahrung von Respekt und Angenommensein, um gut streiten zu können. Gelegenheiten, um in vertrauter Atmosphäre zu erleben und zu reflektieren, wie unser Gehirn arbeitet, dass es ganz normal ist, sich zu irren, dass wir unbewusst voreingenommen sind und dies unser Urteilen und Empfinden beeinflusst, müssen an anderer Stelle gegeben werden. Können Hauskreise solche Räume bieten? Wäre eine Gemeindefreizeit ein geeigneter Ort? Ließe sich solch ein geschützter Rahmen nutzen, um sich aus der Distanz heraus zu betrachten? Wäre es möglich, sich an solchen Orten neu zu entdecken und 13

Das Buch der Psychologen M. R. Banaji und A. G. Greenwald, Vorurteile. Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können, München 2015, ist in diesem Zusammenhang sehr empfehlenswert.

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Gottes verändernde Kraft zu erfahren? Wäre es möglich, dass im Streitfall an diesen Erfahrungen angeknüpft werden kann? 2.3 Wer bietet die passenden »Frames« an, um gut diskutieren zu können? Wer über die Bedeutung und Wirkung von Frames mehr erfahren möchte, dem empfehle ich die kleine Zusammenfassung von Elisabeth Wehling mit dem Titel »Politisches Framing, Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht«.14 Ich will an dieser Stelle gleich ganz konkret werden. Wenn wir das Thema Homosexualität weiter unter den Frames »Diskriminierung« und »Sünde« diskutieren, finden wir zu keiner Lösung, die uns zusammenbleiben lässt. Nun könnten beide Gruppen entgegnen, dass es aber doch gerade darum gehe, also um Sünde bzw. um Diskriminierung. Dazu sollte bedacht werden, dass bei der Verwendung eines Frames immer nur ein Aspekt eines komplexen Sachverhalts betont wird, andere aber unter den Tisch fallen. Wer das Thema unter dem Frame Diskriminierung behandelt, betont vor allem die Erfahrung von Ausgrenzung. Die Wirkung davon ist, dass Menschen zu Kämpfern für eine Minderheit werden. Andere können nur erwidern, dass sie niemanden ausgrenzen wollen, weil natürlich Gottes Liebe ebenso Menschen mit homosexueller Geschichte gilt. Das habe ich in vielen Diskussionsverläufen so erlebt. Wird das Thema unter dem Frame Sünde behandelt, werden im Argumentationsstreit Bibeltexte genannt, die das zweifellos so benennen. In der Diskussion darüber treffen unterschiedliche Schriftverständnisse aufeinander, die sich nicht auflösen lassen. Auch das habe ich in vielen Diskussionen so erfahren. Bisher hatten in der EmK unterschiedliche Schriftverständnisse gut nebeneinander Platz. Sollten das bei Fragen zum Thema Sexualität nicht auch möglich sein? Ich bin überzeugt, dass wir mit beiden Frames nicht weiter kommen. Sie stehen uns eher im Weg, um das komplexe Thema Sexualität differenziert genug beschreiben und einordnen zu können. Diskutieren wir den Konflikt mit diesen Frames, geraten wir immer wieder in dieselbe Sackgasse. Die Frage ist, ob sich ein anderer Frame finden lässt, der den Diskussionsprozess wieder voranbringt und vor allem Menschen mit einer homosexuellen Geschichte nicht weiter als Objekte behandelt. Das tun nämlich beide Frames. Es geht aber nicht um Objekte, sondern um Subjekte, um Menschen aus der EmK. Es geht um Schwestern und Brüder. Dieser alte christliche Sprachgebrauch schafft ein WIR, das an dieser Stelle unbedingt nötig ist. Es geht nicht um die Homosexuellen. Es geht um uns Geschwister. Findet sich ein Frame, der beim Streiten und Suchen nach Lösungen auch dieses WIR neu erschließt? 14

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Köln 2016.

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In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Buch von Miroslav Volf mit dem Titel »Zusammenwachsen – Globalisierung braucht Religion«, hinweisen.15 Volf stellt fest, dass in unserer globalisierten Welt unbedingt die Frage geklärt werden muss, wie Menschen mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Religionen friedlich, Seite an Seite, zusammenleben können. Er meint, dass das allem Anschein zum Trotz möglich sei und dass gerade die Religionen den Weg weisen könnten, wie in interkulturellen Gesellschaften das WIR gelebt werden könnte. Um über diese komplexe Frage nachdenken zu können, führt er einen Frame ein, der solch zuversichtliches Denken ermöglicht. Anders als Hans Küng sucht er nicht nach einem Weltethos, das sich in allen Religionen wiederfinde und darum eine verbindende Kraft habe. Vielmehr beschreibt Volf in seinem Buch eine Sehnsucht, die alle Menschen antreibt und darum auch miteinander verbindet. Diese Sehnsucht bezeichnet er mit dem englischen Wort Flourishing (so lautet auch der Originaltitel seines Buches im Englischen). Im Vorwort der deutschen Ausgabe heißt es dazu: Auf Deutsch lässt sich [der Begriff Flourishing, WR] mit Gedeihen, Wachsen, Aufblühen, Erblühen, mit Zusammenwachsen bzw. zusammen wachsen wiedergeben. Flourishing – das steht für ein Leben, das gut gelebt wird, für ein Leben, das gut geht und das sich gut anfühlt – alles zusammen, unlösbar miteinander verflochten. Es steht für ›ein gutes Leben‹ und ›ein lebenswertes Leben‹ und ruft ein Bild von etwas Lebendigem hervor, das in seiner eigenen ihm angemessenen Umgebung gedeiht: ›ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken‹ (Ps. 1,3), ein Lamm, das ›auf grünen Auen lagert‹ und ›an stillen Wassern geht‹ (Psalm 23,2), ›ein mächtiger Adler mit gewaltigen Flügeln, mit weiten Schwingen, mit dichtem, bunten Gefieder‹ (Ezechiel 17,3). Auch wenn diese Bilder manchen allzu pastoral für unser schnelles modernes Leben vorkommen mögen, vermitteln sie doch deutlich eine Vorstellung davon, was sie meinen: Ein gutes Leben besteht nicht nur darin, bei dem einen oder anderen Vorhaben erfolgreich zu sein, gleichgültig ob es sich um etwas Alltägliches oder ganz Außergewöhnliches handelt, sondern vor allem darin, eine menschliche und persönliche Fülle zu erfahren. Ein gutes Leben bedeutet, kurz gesagt, zu wachsen, zu gedeihen, ein blühendes Leben zu führen.16

Flourishing! Das wäre ein Frame, mit dem ich gerne arbeiten, sprich denken möchte, als Ziel und Berufung eines jeden Lebens, als Verheißung, dass Gott »a flourishing life« schenkt und als Frame, unter dem auch die Frage nach der Bedeutung der Sexualität anders diskutiert werden kann. Welche Rolle spielt 15 16

Gütersloh 2017. M. Volf, Zusammenwachsen (Fußnote 15), 7.

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sie in dem von Gott geschenkten und zum Wachsen, Gedeihen und Blühen berufenen Leben eines Menschen? Was in unserer Sexualität lässt uns wachsen, gedeihen und blühen? Was stört und hindert, so dass sich in unserem Leben diese Bestimmung nicht entfalten kann? Und welche Auswirkungen hat das auf das seelsorgliche Begleiten eines jeden Menschen? Ich wage zu behaupten, dass es mit diesem Frame möglich wäre, die Rolle der Sexualität im Leben eines Menschen und auch Fragen zur sexuellen Praxis unterschiedlich zu bewerten. Dieser Frame würde nicht trennen. Er würde auch nicht eine Gruppe zum Objekt machen. Er würde einen Raum schaffen, an dem Menschen über sich selbst sprechen können und ihre Geschichte erzählen dürfen. Für mich wäre Flourishing ein wirklich hilfreicher Frame – leider habe ich noch keinen angemessenen deutschsprachigen Begriff gefunden. Der deutschsprachige Titel von Volfs Buch, Zusammenwachsen, passt vielleicht zum Thema Globalisierung, aber nicht zu unserem Thema. Als Familie singen wir relativ regelmäßig den Kanon »Dass Erde und Himmel dir blühen, dass Freude sei größer als Mühen, dass Zeit auch für Wunder, für Wunder dir bleibt und Friede für Seele und Leib«. Im Jahr 1990 hat Herbert Bäuerle diesen Text von Kurt Rose vertont.17 Wenn wir diesen Kanon im Familienkreis singen, schauen wir uns an und der Segenswunsch wird beim Singen lebendig und knüpft Beziehung. Für mich greift dieser Kanon den Frame Flourishing auf. Wer findet einen kurzen, passenden Begriff dafür und versucht ihn als neuen Frame ins Gespräch zu bringen? 2.4 Wie findet man vom Argumentieren ins Fragen? Wann immer derzeit Menschen kontroverse Themen diskutieren (ob in der Gemeinde, im Privaten oder in Talkshows), werden Positionen und Argumente im Sinne von Fakten ausgetauscht, die anderen klarmachen sollen: So ist es! Ganz egal, ob das nun Stuttgart 21, PEGIDA, Brexit oder das Thema Homosexualität ist. Selten hat sich in solchen Diskussionen jemand öffentlich darüber geäußert, was sie oder er sich fragt. In der Regel erfährt man, was die andere Person weiß. Dem kann dann entweder zugestimmt werden, oder es erfolgt eine Ablehnung der Fakten, weil man selbst anderes weiß. Am Ende steht der Streit darüber, bei welchen Fakten es sich um Fake-News handelt. Das kann nur in eine Sackgasse führen. Es braucht eine Kultur des Fragens. Zur Kultur des Fragens gehören allerdings zwei. Beide Seiten brauchen diese Haltung des Suchens und Fragens anstelle des Wissens. Der Satz »was ich mich frage…«, erwartet keine Antwort. Es ist eine Frage, die Resonanz wünscht. Andere, die ebenso suchen und fragen. Es braucht Einfühlen und 17

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Vgl. EM 501.

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ein Nachfragen, wie andere zu ihrer Sicht der Dinge gekommen sind. Es braucht die Bereitschaft zum Austausch über Fragen, die einen selbst im Blick auf das kontroverse Thema zutiefst umtreiben. Was ich mich zum Beispiel ernsthaft frage, ist, warum es ein einzelner Satz aus dem Heiligkeitsgesetz18 ins Zentrum unseres Glaubens gebracht hat: »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst« (Lev. 19,18). Warum dieser Satz und nicht die anderen? Dieser Teilvers war ja offensichtlich schon im Pharisäertum als zentraler Vers des Glaubens betrachtet worden (vgl. Lk 10,27). Doch es ist nur der zweite Teil von Lev 19,18. Auch Jesus klammert in seiner Deutung dieser Bibelstelle den ersten Teil des Verses aus, wo es heißt: »An den Kindern Deines Volkes sollst Du Dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Liebe Deinen Nächsten wir Dich selbst, ich bin JHWH.« Warum fand dieser erste Teilvers aus dem Heiligkeitsgesetz nicht ins Zentrum unseres Glaubens, sondern nur der zweite? Warum lehnen einige unter uns andere Verse aus dem Heiligkeitsgesetz ganz selbstverständlich ab und warum sind sie anderen plötzlich so wichtig? Aber nicht, dass jetzt jemand sich schon angeregt fühlt, mir darauf eine plausible Antwort zu schreiben. Ich will sie gar nicht wissen. Ich will vielmehr wissen, was Sie sich fragen. Wir brauchen, um einen Ausweg aus festgefahrenen Debatten zu finden, eine Kultur des Fragens. 2.5 Gibt es Bereitschaft, über zentrale biblische Texte neu nachzudenken? John Anthony Reddie, ein Theologe in Großbritannien, geht in seinem Buch mit dem Titel »Is God Colorblind« der Frage nach, inwieweit die leidvolle Geschichte der Kolonialisierung und der Sklaverei und die dazugehörigen Denkmuster noch immer Einfluss auf die Auslegungstradition biblischer Texte haben. Er stellt fest, dass eine »Black-Theologie« auf dem Weg zu einer Neubesinnung biblischer Texte helfen könne. Er fordert in seinem Buch dazu auf, lang bekannte und zentrale biblische Texte neu zu lesen und neu zu bedenken. Die Botschaft lautet: re-think! Gibt es dazu die Bereitschaft? Oder genügt das Wissen über die richtige Auslegung? Was, wenn sich die Wortführer großer Auslegungstraditionen geirrt haben? Was, wenn ich mich selbst bisher geirrt habe? Nach all dem, was ich in meiner Studienzeit über Fehler in unserer Wahrnehmung und über die Bedeutung von Stimmungen im Blick auf unsere Gedanken und Schlüsse und damit über unbewusste Voreingenommenheiten gelesen habe, ist m.E. eine Bereitschaft, biblische Texte neu zu lesen und zu hören, unbedingt erforderlich. 18

Die Kapitel 17 bis 26 im Buch Leviticus (3. Mose) werden als Heiligkeitsgesetz bezeichnet.

Wilfried Röcker, Ihr macht das schon!

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Warum z.B. geben wir dem Gleichnis vom »barmherzigen Samariter« diesen Namen? Jesus nennt an keiner Stelle im Gleichnis den Samariter barmherzig. Warum bekommt es nicht die Überschrift: Das Gleichnis von den unbarmherzigen Geistlichen? Was für eine Stereotype bekommen wir mit dieser Beschreibung des Samariters als barmherzig? Sind sie in der Regel unbarmherzig? Re-think! Ein weiteres Beispiel: Ist es wirklich nötig für die Beschreibung des Menschseins, mit dem Begriff der Ursünde und den dazugehörenden Satisfaktionslehren zu arbeiten. Hilft der Gedanke der original sin weiter? Bräuchte es nicht die Botschaft von original blessing, die Botschaft vom Ursegen, der sich auf den ersten Seiten der Bibel ebenso findet, und die Botschaft von Flourishing, um den Menschen zu verkünden, welch gesegnetes Leben Gott schenkt? Welch andere Deutungen würde dieser Ansatz ermöglichen? Rethink! Wir stehen hier m.E. ganz am Anfang. 2.6 Wie entsteht Respekt, der mehr ist als Toleranz? Natürlich lassen sich grundlegende Meinungsverschiedenheiten nicht immer durch neue Frames, durch Nachfragen und Neubedenken einfach aus dem Weg räumen. Es wird sicher so sein, dass es an bestimmten Stellen unterschiedliche Schriftverständnisse, unterschiedliche Lebenserfahrungen oder Geschichten, die sich nicht ausklammern lassen, gibt. Es kann auch sein, dass bei allem neuen Überlegen und Fragen am Ende nicht dasselbe Ergebnis steht. Was dann? Bleibt dann doch nur die Trennung? Kann am Ende nur eine Person recht haben und die andere nicht, weil es nur eine Wahrheit gibt? Sollte es einen Schiedsrichter geben, der am Ende sagt, wer Recht hat? Stellen Sie sich so Gott vor? Was für ein Wahrheitsverständnis gehört zu diesem Denkansatz? Miroslav Volf behandelt in seinem Buch »Zusammenwachsen« sehr ausführlich die Frage, ob die Weltreligionen mit ihren Absolutheitsansprüchen – allen voran das Christentum und der Islam – einen Weg finden können, wie sie in Frieden nebeneinander leben können19. Beide Religionen haben nach Ansicht Volfs unter den Weltreligionen den stärksten missionarischen Antrieb. Beide sind darauf bedacht, ihre Wahrheit zu verbreiten – und auch die anderen Weltreligionen täten dies in gewisser Weise. Alle seien Weltreligionen, offen gegenüber Menschen, die zu ihrem Glauben konvertieren wollen. Alle seien offen dafür, dass Menschen von außen ihre Religion als die Wahre erkennen können und darum konvertieren dürfen. Umgekehrt aber, wenn

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M. Volf, Zusammenwachsen (Fußnote 15), 122–162.

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sich Menschen vom bisherigen Glauben abwenden wollen, gäbe es bei allen Religionen einen großen Widerstand. Über viele Seiten macht Volz in seinem Buch deutlich, dass hier ein logischer Denkfehler vorliegt und die Weltreligionen sich selbst widersprechen. Christen können beispielsweise nicht vom Islam fordern, dass er Menschen, die sich zum Christentum bekehren, in Frieden ziehen lässt, ohne auch zu akzeptieren, dass Christen im Islam das finden, wonach sie in ihrem Leben suchen und sich zu ihm bekennen wollen. Welchen Weg ein Mensch einschlägt, um sich auf den Weg des Flourishing zu machen, kann man niemandem vorschreiben. Vielmehr sei es nötig, jedem Menschen, der ernsthaft auf der Suche ist, mit Respekt zu begegnen. Volf ist davon überzeugt, dass es die Weltreligionen schaffen können, den Menschen und ihren Religionen mit Respekt zu begegnen, ohne ihren eigenen Absolutheitsanspruch aufzugeben. In diesem Sinne Volfs lade ich dazu ein ich, dass wir einander mit Respekt begegnen. Niemand muss dazu die eigene Position verlassen. Sie wird auch nicht geschwächt, wenn die Sicht eines Anderen respektiert wird. Respekt ist etwas Anderes als Toleranz. Bei Toleranz wird erduldet, dass es auch andere Positionen gibt, weil man nichts dagegen unternehmen kann. Respekt meint aber viel mehr: Ich gestehe meiner Schwester, meinem Bruder in der Gemeinde zu, dass sie mit großer Ernsthaftigkeit dem nachgehen, was sie glauben. So wie ich auch von ihnen erwarte, dass sie meine Ernsthaftigkeit respektieren, mit der ich meinen Glauben lebe und für wahr halte. Allerdings muss ich nicht jeder Meinung, nicht jedem Verhalten Respekt zollen. Für Volf gibt es durchaus Haltungen, Taten und Denkweisen, die keinen Respekt verdienen. In der Regel ist dies dann der Fall, wenn dabei andere Menschen respektlos behandelt werden. Können wir einander in der EmK mit Respekt begegnen? Können wir anderen das Suchen und Entscheiden darüber, was ihr Leben zum Blühen bringt, als ein zutiefst ernsthaftes und im Gespräch und in der Begegnung mit Gott gewachsenes Verstehen respektieren, auch wenn wir zu einer ganz anderen Entscheidung kommen? Ich meine, dass das unbedingt so sein muss. Schließlich hoffe ich ja auch, die anderen von meiner gewachsenen und ernsthaft gesuchten Sicht überzeugen zu können. Und ich erwarte, dass meine Position respektiert wird. Sie sollten sich unbedingt die Videos der verschiedenen Teilnehmenden der Commission on a way forward anschauen20. Hier kann man lernen, wie Respekt entsteht und wirkt. Die unterschiedlichsten Personen aus der Kommis-

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Vgl. dazu die Meldung auf emk.de vom 23.08.2018 https://www.emk.de/de/meldungen2018/die-anatomie-des-friedens/ (Download am 03.09.2018).

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sion berichten in den Videos, wie gerade im gemeinsamen Ringen und Suchen der Respekt füreinander gewachsen sei, auch wenn sie bei den konkreten Fragen zur Homosexualität unterschiedlicher Meinung geblieben sind. Also: Keine Angst vor kontroversen Positionen und einem gemeinsamen Ringen. Man muss sich deswegen nicht trennen. Es kann gerade so der Respekt füreinander wachsen.

3. Wie finden wir den Kitt, der uns zusammenhält? Im Frühjahr 2018 war ich in Stuttgart bei einem Vortrag, der den Titel hatte: »Der Kitt bröckelt – was unsere Gesellschaft im Innern zusammenhält«21. Der Soziologe Klaus Boehnke, der den Vortrag hielt, machte der »alt-achtundsechziger« Zuhörerschaft deutlich, dass es nicht die unterschiedlichen Meinungen seien, die eine Gesellschaft bedrohten und dass sie nicht erwarten könnten, dass nachfolgende Generationen dieselbe Sicht auf das Leben hätten wie sie. Sie selbst hätten schließlich 1968 für das Recht auf freie Meinungsäußerung gekämpft. Wenn aber die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben in Deutschland (Flourishing) immer ungleicher werden, könnte der Kitt bröckeln und eine Gesellschaft auseinanderbrechen. Allerdings hätten seine Erhebungen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung dies im Großen und Ganzen nicht ergeben. Dennoch bräuchte es gerade hier eine sorgfältige Beobachtung und dabei seien die Themen Bildung, Familie, bezahlbarer Wohnraum, Integration, demographischer Wandel die wichtigsten politischen Herausforderungen. Für uns übertragen, kann das heißen: Der Kitt, der uns als Kirche zusammenhält, kann nicht dieselbe Meinung oder Gesinnung sein. Wer das glaubt, der trennt sich immer wieder von denen, die anderer Meinung sind. Wer so denkt, bleibt in seiner Systemblase und seiner Sicht auf das Leben stecken. Sein Gehirn wird sich dabei nicht weiterentwickeln können, keine neuen Lösungsmöglichkeiten finden, weil in der Systemblase alle gleich denken. David Field weist in seinem Buch »Our Purpose Is Love« (Zu lieben sind wir da22) auf den Kitt hin, der eine Kirche zusammenhält, nämlich die Liebe. Die Liebe als elementares Geschenk Gottes, das in das Leben eines Menschen fließt, verbindet und auch dort noch zusammenhält, wo Positionen schon lange nicht mehr zusammenhalten. Wie gut, dass der Kitt, der uns zusammenhält, diese transzendente Dimension hat. Wir können ihm viel zutrauen. Solange dieser Kitt aber nur eine theologische Selbstverständlichkeit ist, solange er nicht

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Siehe dazu: https://www.theaterhaus.com/theaterhaus/?id=1,3,22364. Leipzig 2018.

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erfahren wird und uns ins Handeln bringt, bleibt er wirkungslos. Wie also finden oder, besser gesagt, verwenden wir diesen Kitt, der uns zusammenhält?

4. Vier Dimensionen für die Arbeit in einer Gemeinde In vier verschiedenen Dimensionen will ich kurz skizzieren, wie in der konkreten Gemeindearbeit diese Fragestellungen vorkommen und wirken. Ich verwende den Begriff der Dimension, weil Dimensionen immer gleichzeitig wirken. Es gibt also keine Hierarchie dazu, was zuerst bearbeitet werden müsste. Man wird mit ihnen in der kirchlichen Arbeit auch nie fertig. Im Gegenteil, sie sollten ständig im Blick behalten werden23. 4.1 Gemeinde als eine lernende Kultur verstehen – die zeitliche Dimension »Learning not Teaching!«, erklärt mir Steven, ein Gast am Nachbartisch in einem Café in Folkestone, mit dem ich ins Gespräch über meine Arbeit und Fragestellung gekommen bin. Über Stevens Unterscheidung zwischen Teaching und Learning musste ich weiter nachdenken. Bisweilen wird Gemeinde als Gemeinschaft der Suchenden und Fragenden beschrieben und erlebt, wo man sich füreinander interessiert, einfach mal etwas ausprobiert, sich irren, neue Ideen ansprechen und Erfolge feiern darf, Niederlagen gemeinsam überwindet, nicht festhält, weitergeht. Gemeinde als eine lernende Kultur begreifen – das lässt uns zusammenbleiben. Ich verwende an dieser Stelle den Begriff Kultur, um der Idee zu wehren, dass man das Beschriebene einfach machen könne. Kultur lässt sich weder machen noch beschließen (etwa per BK-Beschluss). Kultur lässt sich lediglich beobachten, beschreiben, erleiden, bestaunen. Vielleicht lassen sich rückblickend Veränderungen und Entwicklungen beschreiben, die dankbar machen. Doch ein »Tun-Ergehen-Denken« passt nicht in das Denkschema des Kulturbegriffs. Kultur entwickelt sich auch langsam. Veränderungen passieren nicht von heute auf morgen. Und Ereignisse wirken auf sie ein, die nicht vorhersehbar sind. Menschen lassen sich nicht zu etwas machen. Gemeindearbeit besteht nicht aus Indoktrination, nicht aus Teaching in diesem Sinne. Viele reagieren zurecht äußerst allergisch, wenn ihnen jemand etwas eintrichtern möchte und dann erwartet, dass sie, wenn sie nur wüssten, was richtig ist, auch entsprechend denken und funktionieren würden. Wenn sich eine Kultur also nicht verändern lässt, was soll man dann tun? In ihr leben, an ihr leiden, Teil der Kultur sein – mit Haut und Haaren! 23

Auch die Reihenfolge, die ich vornehme, ist keine Aussage über eine Gewichtung der Dimensionen.

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Dieses Verständnis brauchen unsere Gemeinden! Verantwortliche Leitungsgremien sollten ihre Gemeinde als eine lernende Kultur verstehen, die sich langsam, aber stetig weiterentwickelt. Dazu braucht es Gelassenheit und Gottvertrauen. Nur so kann dem Machbarkeitsdenken der westlichen Welt entkommen werden, das sonst im Wege steht. So kann m.E. diese zeitliche Dimension gelebt werden. Und wer weiß, vielleicht reden Sie über Ihre Gemeinde irgendwann einmal rückblickend demütig und dankbar von Gottes Fügungen. 4.2 WIR-Erfahrungen ermöglichen – die geistliche Dimension London ist mit 8,8 Millionen Einwohnern die größte Stadt Europas24. Ca. 19 Millionen Touristen kommen jedes Jahr nach London25. Unter ihnen auch einige Methodisten, z.B. meine Frau und ich im Sommer 2018. An einem Sonntag besuchen wir den Gottesdienst in der Wesley Chapel. Hinter der Kirche ist John Wesley begraben. Sein Haus neben der Kirche kann man besichtigen, und im Untergeschoss der Kirche gibt es ein Museum. Das Grab von Susanna Wesley befindet sich auf dem alten Friedhof gegenüber. Wir erleben an diesem Sonntag, in der der City-Road en miniature, was Katholiken bei der gemeinsamen Andacht auf dem Petersplatz erleben: ein WIR. Am Eingang zur Chapel werden wir freundlich begrüßt und gefragt, woher wir kommen. Der Mann hat sich wohl alle Herkunftsländer der Gottesdienstbesucher*innen gemerkt und die Pastorin informiert, denn diese heißt zu Beginn des Gottesdienstes alle Gäste herzlich willkommen und listet auf, aus welchen Ecken der Welt wir heute hier zusammen sind, um gemeinsam Gott die Ehre zu geben, um miteinander zu hören, zu fragen und zu beten. Das hat mich beeindruckt. Fremde wurden mit wenigen Worten zu einer Gemeinschaft, zu einem WIR. Unser Glaube, unser Singen, unser methodistisches Erbe verband uns. Es verband uns auch mit allen, die per Life-Stream26 zugeschaltet waren. Anschließend waren alle herzlich zu Tea und Sandwich eingeladen. Die Bedeutung der Eigengruppe ist nicht zu unterschätzen. Solche Erfahrungen lassen den Kitt, der uns als Kirche zusammenhält, konkret werden. Deswegen bezeichne ich diese Dimension von Gemeindearbeit, in der wir darum bemüht sind, WIR-Erfahrungen zu ermöglichen, als die geistliche Di-

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Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_gr%C3%B6%C3%9Ften_St%C3%A4dte_ der_Europ%C3%A4ischen_Union (abgerufen am 16. September 2018). Vgl. https://www.welt.de/reise/staedtereisen/article173133754/Ranking-Das-waren-2017 -die-meistbesuchten-Staedte-der-Welt.html (abgerufen am 16. September 2019). Vgl. https://www.wesleyschapel.org.uk/livestreaming.

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mension. Geistliches braucht die Mitwirkung der Geistlichen. Nach methodistischen Verständnis sind in einer Gemeinde viele Geistliche für das geistliche Leben einer Gemeinde verantwortlich, nicht nur Hauptamtliche.27 Sie gestalten Gottesdienste, begleiten Menschen in der Seelsorge, leiten beim Gebet, beachten die Wirkung der Gnadenmittel wie z.B. die Bedeutung des gemeinsamen Singens, planen besondere Veranstaltungen in der Gemeinde. All das erarbeiten sie mit Engagement, mit großer Verantwortung und gleichzeitig in der Erwartung, dass Gott wirkt, dass Gott handelt, und das Leben der Einzelnen zum Blühen kommt, sich entfaltet und in Dienst nehmen lässt, Frucht bringt. Was würde in Bewegung kommen, wenn sich die Verantwortlichen für das geistliche Leben in einer Gemeinde darüber einig wären, dass Gottes Liebe dort zum Wirken und Tragen kommt und dort das Leben blüht, wo WIR-Erfahrungen berücksichtigt, geplant, entwickelt und gestaltet werden? »Teilen – Gott verbindet uns« – bei der Zentralkonferenz 2017 wurde diese neue Schwerpunktsetzung im Gottesdienst beschlossen. Mit der neuen Gottesdienstreform soll das Teilen zukünftig neben dem »Hören – Gott spricht zu uns« einen weiteren Schwerpunkt in jedem methodistischen Gottesdienst bilden. Das ist m.E. eine weitreichende Entscheidung, die Wir-Erfahrungen als eine wesentlich geistliche Dimension im Gottesdienst begreift. Nun sind die Geistlichen herausgefordert, die »Feier der Gemeinschaft« vielfältig zu gestalten. Noch scheinen nur wenige Ideen vorhanden. Wer macht sich auf den Weg – neugierig, suchend, offen, gemeinsam? 4.3 Das Menschliche im Zusammenleben bedenken – die psychologische Dimension Für mich war es eine heilsame Entdeckung, dass es menschlich ist, unbewusste Vorurteile (implicit bias) zu haben. Niemand braucht sich deswegen moralisch schlecht zu fühlen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass normale Dynamiken in kirchlichen Gruppen geistlich überhöht werden. Doch auch Gruppenprozesse sind zutiefst menschlich und psychologisch zu verstehen und darum auch in dieser Weise zu begleiten. Gerade deshalb rede ich hier von der psychologischen Dimension. Die EmK unterscheidet sich an dieser Stelle nicht von anderen Gruppen. Darum kann auch mit bewährten Methoden gearbeitet werden, um Gemeinden in den unterschiedlichen dynamischen Prozessen angemessen zu begleiten. Das braucht eine gewisse Kompetenz und Qualifizierung. Gruppenleiterlehrgänge, die das KJW anbietet, sind ein guter Einstieg, um schon früh Gruppenprozesse und die eigene Rolle als 27

Siehe VLO der EmK, Art. 120–129.

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leitende Person zu reflektieren. Schicken Sie Ihre Jugendlichen auf diese Lehrgänge! Mit der Reihe »Laien in der Leitung« hat das Bildungswerk in den letzten Jahren Angebote gemacht, um diese Dimension zu bedenken. Auch berufliche Weiterbildungsangebote für Hauptamtliche sind vorhanden. Die Gemeindeberatung und -entwicklung kann Prozesse kompetent begleiten. Nutzen Sie diese Angebote. 4.4 Mit hilfreichen Frames neue Denkhorizonte eröffnen/ Leitungsverantwortung wahrnehmen – die hermeneutische Dimension Der Begriff Denkhorizont mag ein wenig sperrig klingen. Er knüpft an Gerald Hüthers Gedanken an, dass einmal gelernte Problemlösungsansätze, je häufiger sie genutzt werden, zu immer besser vernetzten und ausgebauten Vernetzungen im Gehirn führen. Sie springen als erstes an, und so wird dann auf dieselbe Art und Weise immer schneller und routinierter reagiert. Das ist einerseits sinnvoll, um gewisse Dinge zu optimieren. Hüther meint aber auch, dass dies in Sackgassen führen kann, wenn immer nur dieselben Lösungswege zur Lösung von Problemen gegangen werden. Einzelne Menschen und ganze Gruppen kommen nicht mehr weiter, sie drehen sich um sich selbst, Diskussionen laufen immer nach demselben Schema ab. Neue Wege und andere Möglichkeiten zu suchen und auszuprobieren ist anstrengend, mühsam und geht viel langsamer. Es ist vergleichbar mit dem Treten eines neuen Pfades im Tiefschnee. Aber es werden dabei neue Handlungsmuster entwickelt. Gehirne lernen vielfältiger zu reagieren. Neue Ideen und Lösungen bringen gemeinsam weiter, eröffnen neue Perspektiven. Neue Denkhorizonte helfen aus der Sackgasse. Alles Denken braucht Sprache. Was nicht gesagt wird, wird auch nicht gedacht. Abstrakte und komplexe Themen brauchen hilfreiche Frames, um darüber diskutieren zu können. Aber wer formuliert diese Frames in einer Gemeinde? Zunächst einmal werden in einer Gemeinde die Frames genutzt, die in der Gesellschaft verwendet werden. Aber ist es angemessen, auch in den Gemeinden von eine »Flüchtlingskrise« zu sprechen? Ist es nicht besser, von der großen menschlichen Not, von Terror und Gewalt, von Armut und Hoffnungslosigkeit zu berichten, die den Menschen ihr Zuhause rauben? Wer trägt an dieser Stelle Verantwortung? Welche Frames sollen komplexe Sachverhalte verständlich machen? Welche bekannten Frames sind angemessen und wo sollte Komplexes anders gedeutet und beschrieben werden? Ich bezeichne diese Aufgabe als die hermeneutische Dimension in der Gemeindearbeit. Es geht um das Verstehen von Sinnzusammenhängen. Es braucht Menschen, die helfen, zu deuten und zu verstehen. Es ist eine herme-

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neutische Aufgabe, angemessene Frames zu finden, um herausfordernde Fragen gut diskutieren zu können. Entscheidungsprozesse brauchen hilfreiche Frames. M.E. tragen diesbezüglich die leitenden Gremien eine große Verantwortung. Wie sollen Themen in die Gemeinde hineintragen werden? Mit welchen Bildern soll gearbeitet werden? Wovon soll gesprochen werden – und wovon nicht? Was ist wichtig? Was soll betont werden? Welcher neue Denkhorizont muss dafür eröffnet werden, um nicht mit denselben Denkabläufen, Diskussionsverläufen und Reaktionsschemata in eine Sackgasse zu geraten? Was würde sich wohl ändern, wenn Beschlüsse im Gemeindevorstand und der BK abschließend daraufhin bedacht werden, mit welchen Worten davon in der Gemeinde berichtet wird? Hilfreiche Frames können neue Denkhorizonte öffnen. Denken Sie an diese hermeneutische Dimension von Leitung und arbeiten Sie daran.

5. Zum Schluss In meinem Glaubensleben berühren mich immer wieder die biblischen Erzählungen von der Sturmstillung. Sie sind in vielfacher Ausführung in den Evangelien zu finden. Allen voran die Versionen, in denen Jesus im Boot schläft.28 In der Regel wird in der Auslegung Jesu Vollmacht der Sturmstillung betont. Was aber, wenn wir Jesu Anfrage: »Was seid ihr so ängstlich, habt ihr noch immer keinen Glauben« (Mk. 4,40) als berechtigte Anfrage hören? Wäre die Geschichte weniger erzählenswert, wenn die Jünger zwar in Todesangst und fast absaufend am Ende »das Schiff schon geschaukelt hätten« und heil am anderen Ufer angekommen wären? Nicht nur Jesu Schlaf verstehe ich als ein großes Zutrauen. Auch seine Anfrage weist mich darauf hin: Macht doch. Vertraut! Habt Glauben! Warum so ängstlich? Ich trau Euch viel zu! Ich schlage vor, dass wir uns als Gesandte verstehen und unaufgeregt unserem kirchlichen Auftrag nachgehen. Miteinander sind wir auf dem Weg in eine gemeinsam zu entdeckende und gestaltende Zukunft. Wir sind bestens ausgestattet, haben Gehirne, die nur darauf warten, Probleme lösen zu dürfen, wir leben in generationenverbindenden und multikulturellen Gemeinschaften, in denen Offenheit, Verlässlichkeit, Vertrauen, Dankbarkeit, Bescheidenheit, Achtsamkeit und Wertschätzung dem gemeinsamen Lernen einen fruchtbaren Boden bieten und wir werden vom Geist der Liebe getragen, der uns wachsen und blühen lässt.

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Mk 4,35–41 (par. Mt 8,23–27; Lk 8,22–25).

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Und wenn’s stürmt? Warum so ängstlich? Vertrauen wir! Hören wir den Auftrag: Ihr macht das schon!

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Martin Luther und John Wesley zur kirchlichen Erneuerung und Gemeindeentwicklung Friedemann Burkhardt Milieustudien prognostizieren für die nächsten Jahre spürbare Veränderungen und Umbrüche in der Gesellschaft.1 Davon ist auch die gesellschaftliche Mitte betroffen, die sich bisher aus Menschen mit einer eher traditionellen und bürgerlichen Lebensausrichtung zusammensetzt. Menschen mit einem solchen Lebensstil nehmen laut Milieustudien stark ab, während die künftige Mitte im adaptiv-pragmatischen und expeditiven Milieu liegt.2 Für traditionelle Volks- und Freikirchen ist diese Entwicklung bedeutsam, weil sich diese hauptsächlich aus Menschen des traditionellen Milieus und dem der bürgerlichen Mitte zusammensetzen und in den beiden Zukunftsmilieus unterrepräsentiert sind.3 Kommt es hier zu keiner Veränderung, stehen diese Kirchen und Gemeinschaften »in Gefahr, den Anschluss an weite Teile der Bevölkerung zu verlieren.«4 Angesichts dieser Faktenlage und vor dem Hintergrund der davon ausgelösten kirchlichen Reformdebatten richtet sich der Blick auch auf historische Umbruchszeiten der Kirche, in denen sie Erneuerung erfuhr und neue gesellschaftliche Relevanz gewann. Dabei wird mitunter auf die Reformation und Martin Luther (1483–1546) oder den Methodismus John Wesleys (1703–1791) verwiesen. Die folgenden Ausführungen5 gehen der Frage nach, welche Anstöße sich aus deren kirchentheoretischen Konzepten 1

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Vgl. H. Bremer/A. Lange-Vester, Zur Entwicklung des Konzepts sozialer Milieus und Mentalitäten, in: dies. (Hg.), Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur. Die gesellschaftlichen Herausforderungen und die Strategien der sozialen Gruppen, Wiesbaden 2 2014, 14; M. Calmbach, Alles schön bunt hier. Das SINUS-Modell für Jugendliche Lebenswelten in Deutschland, in: Bremer/Lange-Vester (Hg.), Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur, 69.78f. Adaptiv-pragmatisch bezeichnet eine von Nützlichkeitsdenken und Vergnügen bewegte Haltung, während expeditiv eine kreativ-ambitionierte avantgardistische Einstellung meint. Vgl. B. Barth/B. Flaig, Aktuell und zukunftssicher: Die Relevanz der Sinus-Milieus, in: B. Barth u.a. (Hg.), Praxis der Sinus-Milieus. Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells, Wiesbaden 2018, 35–38; Calmbach, Alles schön bunt hier, 69.78f. M. Ebertz, Sinus-Milieus, Kirchenmarketing und Pastoral, in: Bremer/Lange-Vester (Hg.), Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur, 211–220. H. Hempelmann, Kirche im Milieu, Giessen/Basel 2013, 85f. Ausführlich dargestellt und begründet bei F. Burkhardt, Erneuerung der Kirche. Impulse von Martin Luther und John Wesley für die Gemeindeentwicklung, Leipzig 2019.

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für eine kirchliche Erneuerung ergeben und welche Relevanz deren Grundsätze für die Herausforderungen in der Kirchen- und Gemeindeentwicklung der Gegenwart zeigen.

1. Luther und Wesley über kirchliche Erneuerung und Gemeindeentwicklung In den aktuellen kirchlichen Reformdebatten und Überlegungen zum Gemeindebau wird von ganz unterschiedlicher Seite auf Martin Luthers Gemeinschaftskonzept verwiesen, das er im Vorwort zur Deutschen Messe 1526 beschrieb, und dem Philipp Jacob Spener (1635–1705) im Pietismus eine Verwirklichungsgestalt verlieh.6 Weniger bekannt ist, dass Luther in jenem Vorwort eine konkrete, differenzierte und umfassende Vorstellung zur kirchlichen Erneuerung entwarf, deren Facetten und Potenziale das Spenersche ecclesiola in ecclesia-Konzept nur ansatzweise aufgreift. Unkenntnis herrscht auch über die Wirkungsgeschichte dieses lutherischen Gemeinschaftskonzepts im angelsächsischen Raum, insbesondere über seine Rezeption in der methodistischen Erweckung unter John Wesley. Dieser erste Abschnitt stellt die beiden Ansätze kirchlicher Erneuerung, wie sie Luther und Wesley vertraten, vor. 1.1. Luthers Idee kirchlicher Erneuerung im Vorwort zur Deutschen Messe 1526 beschrieb Martin Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe seine Idee kirchlicher Erneuerung7 und wie er sich die Entwicklung von katholischen zu evangelischen Gemeinden in zwei aufeinander folgenden Schritten vorstellte: Im ersten Schritt ging es ihm um eine Hebung der landläufigen Volksfrömmigkeit mittels einer Gottesdienstreform. Diese bestand in der Einführung einer deutschen Liturgie, der sog. Deutschen Messe. Ziel war eine missionarische Ausrichtung des Gottesdienstes auf all jene, die »noch nicht glauben odder Christen sind«.8 In den evangelischen Städten und Dörfern

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Vgl. E. Hauschildt/U. Pohl-Patalong, Kirche, Gütersloh 2013, 34.430 oder P. Stuhlmacher, Kirche nach dem Neuen Testament, in: ders., Biblische Theologie und Evangelium. Gesammelte Aufsätze, WUNT 146, Tübingen 2002, 256.277. Vgl. M. Brecht, Martin Luther. Bd. 2. Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521– 1532, Stuttgart 1986, 250. WA 19,74,25–28: »sondern das mehrere Teil da steht und gaffet, das sie auch etwas neues sehen, gerade als wenn wir mitten unter den turcken odder Heiden auff eym freyen platz felde Gottis dienst hielten«.

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DOI 10.2364/3846997048

sollte die gesamte Einwohnerschaft zum Glauben gerufen,9 im Glauben unterrichtet und im Sinn des Evangeliums angeleitet werden.10 In dem Maß, wie diese erste Maßnahmen Früchte tragen, wären dann in einem zweiten Reformschritt innerhalb der Kirchengemeinden besondere Hausgruppen zur Vertiefung von Glaube und Gemeinschaft einzurichten. Diese Gruppen würden zu Trägern einer gesellschaftlichen und kirchlichen Umgestaltung im Sinn einer innerkirchlichen Revitalisierung. Luther schreibt darüber: Aber die dritte Weise, die rechte Art der evangelischen Ordnung haben sollte, müsste nicht so öffentlich auf dem Platz geschehen unter allerlei Volk, sondern diejenigen, so mit Ernst Christen wollen sein und das Evangelium mit Hand und Munde bekennen, müssten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werk zu üben. In dieser Ordnung könnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann tun nach der Regel Christi, Matth. XVIII. Hier könnte man auch ein gemeinsames Almosen den Christen auflegen, das man williglich gäbe und austeilete unter die Armen nach dem Exempel S. Pauli II. Cor. IX. Hier bedürfte es nicht gross und viel Gesänges. Hier könnte man auch eine kurze feine Weise mit der Taufe und Sakrament halten und alles aufs Wort und Gebet und die Liebe richten. Hier müsste man einen guten Katechismum haben über den Glauben, zehen Gebote und Vaterunser. Kürzlich, wenn man die Leute und Personen hätte, die mit Ernst Christen zu sein begehrten, die Ordnungen und Weisen wären balde gemacht. Aber ich kann und mag eine solche Gemeinde oder Versammlung noch nicht anweisen oder einrichten, denn dazu habe ich noch keine Leute und Personen, wie ich auch nicht viele sehe, die sich dazu drängen. Kommt es aber, dass ich es tun muss und dazu gedrängt werde, so dass ich es mit gutem Gewissen nicht unterlassen kann, will ich das meine gerne dazutun und so gut ich kann helfen. Bis dahin will ich es bei den beiden (anderen vorher) genannten Arten bleiben lassen und öffentlich unter dem Volk solchen Gottesdienst, die Jugend zu üben und die anderen zum glauben zu rufen und zu reizen, neben der Predigt helfen fordern, bis die Christen, die diese Bezeichnung ernst nehmen, sich selbst finden und dazu anhalten, damit nicht eine Zusammenrottung wird, wenn ich es nach meinem Kopf erzwingen will. Denn wir Deutschen sind ein wildes, rohes Volk, mit dem nicht leicht etwas anzufangen ist, es treibe denn die höchste Not dazu.11

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Den Gottesdienst in deutscher Sprache verstand Luther als »eyne offentliche reyzung zum glauben und zum Christenthum.« WA 19, 75,1f. Vgl. WA 19,74,29–75,1. Zur katechetischen Aufgabe des Gottesdienstes vgl. WA 19, 76,1–78,24. WA 19,75,3–30. Der Lesbarkeit und Verständlichkeit wegen ist der Text an die heutige Sprache angepasst.

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Zentral für diese Gemeindegruppen war die Vorstellung einer besonderen Gemeinschaft innerhalb der Kirchengemeinde zur gegenseitigen geistlichen Begleitung. Diese Gemeinschaft kennzeichnete eine Kultur des Gesprächs, Gebets und der Liebe. Sie waren der Ort, an dem die Sakramente gespendet und die Armenhilfe erhoben wurde, geprägt durch Verbindlichkeit, Vertrautheit, Überschaubarkeit, Laien in der Leitung und Freiwilligkeit. Weil die Entwicklung einer solchen Freiwilligkeitskultur für Luther noch ausstand, hielt er die Zeit zur Realisierung seiner Gemeinschaftsidee noch nicht für gekommen.12 1.2 Von Straßburg über Frankfurt nach England Luthers Impulse erfuhren im deutschen Sprachraum vielfältige Aufnahme und Ausformungen.13 1670 verwirklichte Philipp Jacob Spener mit den collegia pietatis in Frankfurt Luthers Idee. Mit dem Begriff ecclesiola in ecclesia profilierte er sein Reformkonzept als Programm innerkirchlicher Erneuerung. Von dort aus verbreitete es sich weiter unter August Herrmann Francke (1663–1727) mit dem von dort ausgehenden preußischen Pietismus, unter Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) in Herrnhut und in Württemberg, wo die collegia pietatis durch das sog. Pietistenreskript 1743 eine große Breitenwirkung erzielten. Bereits im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts fand Luthers Gemeinschaftskonzept durch den deutschen Pietisten und Spenerschüler Anton Horneck (1641–1698) den Weg nach England.14 Horneck war Pfarrer an der Londoner Savoykirche und führte 1678 die Religious Societies als neue Gemeinschaftsform innerhalb der anglikanischen Kirche ein.15 Das Ziel dieser Gemeinschaften bestand in der Beförderung eines heiligen Lebens durch

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Vgl. WA 19,75,20f: »ich habe noch nicht Leute und Personen dazu; so sehe ich auch nicht viel, die dazu dringen.« Die Gründe erörterte Luther im zweiten Teil seiner Beschreibung, WA 19,75,18–30. Zu Jean de Labadie (1610–1674) vgl. J. Wallmann, Philipp Jacob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 21986, 147; zu Martin Bucer (1491–1551) vgl. K. Hammann, Martin Bucer 1491–1551. Zwischen Volkskirche und Bekenntnisgemeinschaft (VIEG, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Bd. 139), Stuttgart 1989, 70–76.29– 313. F. W. Bautz, Anton Horneck (BBKL 2), Herzberg 1990, 1060f.; R. P. Heitzenrater, Wesley and the people called Methodists, Nashville TN 1995 21f.; M. Schmidt, John Wesley. Leben und Werk, Bd. 1, Zürich 1987, 31f.; ders., Anglokatholizismus (TRE 2), 727; G. A. Benrath, Erweckungen/Erweckungsbewegungen (TRE 10), 206. Vgl. Heitzenrater, Wesley and the people called Methodists, 21. Diese Gemeinschaften bildeten die Basis für Initiativen wie die Society for the Promotion of Christian Knowledge (1698, SPCK) oder die Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts (1701,

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geistliche Übungen wie Bibelstudium, Gebet, Teilnahme am Abendmahl, Fasten, geistliche Selbsterfahrung, gemeinschaftliche Beichte, Vermeidung von Bösem, Einübung christlicher Tugenden, Lesen von Erbauungsliteratur und Hilfe für Bedürftige. Als gutes Beispiel für eine Religious Society kann ein Studentenkreis gelten, der sich seit 1729 in Oxford traf, dessen Leitung bald auf John Wesley überging und dessen Mitglieder wegen ihres zeichenhaften Lebenswandels als »Holy Club« oder »Methodists« verspottet wurden.16 Von weiteren Begegnungen mit dem Pietismus inspiriert, führte Wesley 1738 in den von ihm betreuten Religious Societies ein alternatives Gemeinschaftskonzept ein, das die gemeinschaftliche Selbsterfahrung und Gewissenserforschung mehr betonte. Doch je mehr die methodistische Bewegung wuchs, desto weniger vermochten die herkömmlichen Hausgemeinschaften interessierte Erweckte aus den Versammlungen auf Straßen, Feldern oder in Kohlengruben zu integrieren und geistlich angemessen weiter zu begleiten. So wurden Anpassungen im Konzept der Gemeinschaftsbildung unausweichlich. Wesleys Grundsatz, »I design plain truth for plain people«,17 führte zu einer bewussten Abwendung von der gebildeten und belesenen Kultur der Religious Societies mit ihrer »für gewöhnliche Leute unbekannten Sprache«18 und zum Experimentieren und Suchen nach einem für seine neue Zielgruppe passenderen Gemeinschaftskonzept. 1.3 Wesleys Vision innerkirchlicher Gemeinschaft zur Erneuerung von Kirche und Welt 1743 gab John Wesley schließlich die sog. Allgemeinen Regeln19 als Leitbild und Grundordnung für seine Gemeinschaften heraus, in dem er sein Konzept für die geistliche Begleitung und kirchliche Integration der in den Evangelisationsversammlungen erweckten Menschen beschrieb. Diejenigen, die an einer Glaubensvertiefung interessiert waren und einer methodistischen Society20 beitreten wollten, wurden informiert, was von einem Methodisten im Blick auf seine Lebensführung erwartet wurde. Wesley überschrieb die Schrift mit »The Nature, Design, and General Rules of the United Societies«.

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SPG) zur Förderung und Vernetzung der Religious Societies, vgl. J. Kent, Society of the Propagation of the Gospel in Foreign Parts, EWM Vol. 2, 2195. Vgl. Heitzenrater, Wesley and the people called Methodists, 33–58. J. Wesley, The Preface, (WJW 1), 104. J. Wesley, The Preface, 3 und 4 (WJW 1), 104. »Wesley took his appeal to the common people of England, and on their own turf and in their own terminology,«, D. M. Henderson, John Wesley’s Class Meeting, Gilmore KY 1997, 70. WJW 9, 69–75. Society meint hier die methodistische Gemeinschaft an einem Ort, die sich in mehrere Class Meetings unterteilte.

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Die Bezeichnung »Wesen, Gestalt und allgemeine Regeln« zeigte, dass es um mehr ging als um Regeln, wie es der heute gebräuchliche Titel »Allgemeine Regeln« vermuten lässt.21 Was Wesley mit dieser Schrift vorlegte, war tatsächlich ein umfassendes Leitbild für seinen Gemeinschaftsbund. Sie gliedert sich in einen Textteil und ein geistliches Gedicht. Der Textteil besteht aus sieben Abschnitten: Abschnitt 1 beschreibt einzelne Punkte zur Entstehungsgeschichte, zum Anlass und Anliegen der United Societies. Abschnitt 2 nennt als Hauptanliegen der methodistischen Society die Erfahrung der Kraft des christlichen Glaubens auf dem Weg gemeinschaftlicher geistlicher Begleitung. In Abschnitt 3 geht es um organisatorische Aspekte des Society-Lebens: die Einteilung in Gruppen entsprechend den Wohnorten, die sog. Class Meetings, ihre Größe und Leitung. Hier ist der spirituell-supervisorische Charakter des Class Meetings im Sinn einer geistlichen Selbsthilfegruppe und seine Funktion in der Erfüllung der sozial-karitativen und seelsorglichen Aufgaben der Society beschrieben. Abschnitt 4 handelt von der Bedingung für die Society-Mitgliedschaft und stellt dann, zusammen mit den Abschnitten 5 und 6, die methodistischen Regeln vor, die zeigen, was von den Society-Mitgliedern im Blick auf ihre Lebensführung erwartet wird. Entlang der drei geistlichen Grundsätze Böses meiden, Gutes tun und Gebrauch der Verordnungen Gottes illustrierte Wesley an Konkretionen, wie diese Prinzipien zu verstehen sind. Im letzten Abschnitt bestimmte Wesley die Schrift als die Allgemeinen Regeln für die methodistische Society, stellte fest, dass diese durch Gottes biblisches Wort zu halten aufgegeben sind, und erklärte abschließend, wie mit denen umzugehen ist, die die Regeln nicht beachten. Der Gebetsteil, der sich anschließt, besteht aus dem Lied »O most compassionate High Priest« von Charles Wesley, überschrieben mit der Anweisung »Ein Gebet für die von Sünde Überzeugten«. Mit 18 Strophen bildet es den spirituellen Schwerpunkt der Gemeinschaftsregeln und reflektiert in poetischer Sprache die theologischen Zielbegriffe wie vollkommene Liebe, ganze Heiligung, Heiligkeit, Vergewisserung der Sündenvergebung etc., die im Prosatextteil fehlen.22 John Wesley führte die Allgemeinen Regeln flächendeckend ein. Als eine Gemeinschaftsordnung bestimmten sie das Leben der Methodisten in allen 21

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Als »vor allem ethische Weisungen für die Mitglieder der methodistischen Gemeinschaften« verstehen W. Klaiber und M. Marquardt die Allgemeinen Regeln, vgl. dies., Gelebte Gnade. Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Göttingen 2 2006, 91. Die vorliegende Arbeit versteht die Allgemeinen Regeln als eine Gemeinschaftsordnung, in der die ethischen Weisungen (Abschnitte 4 und 5) einen Aspekt neben anderen aufzeigen. Vgl. Burkhardt, Erneuerung der Kirche (Fußnote 5), 69f. 7–76. 121f.

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wichtigen Themen. Das in Abschnitt 3 beschriebene Class Meeting wurde zum Herzstück und Motor der Bewegung, über das Dwight Lyman Moody (1837–1899), einer der bedeutendsten Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, sagte: »The Methodist class-meetings are the best institutions for training converts the world ever saw.«23

2. Gemeinsame Grundsätze kirchlicher Erneuerung John Wesleys Umsetzung des lutherischen ecclesiola-Konzepts führte zu einer Gemeinschaftsvorstellung, die zu dem Gemeindeideal Martin Luthers aus seiner Vorrede zur Deutschen Messe erstaunliche Ähnlichkeiten aufweist. Als offensichtliche Entsprechungen zwischen Luther und Wesley lassen sich fünf Grundsätze kirchlicher Erneuerung identifizieren, die im Folgenden dargestellt sind: 2.1 Eine missionarische Funktion des öffentlichen Gottesdienstes Eine erste Gemeinsamkeit bei Luther und Wesley zeigt sich in der missionarischen Funktion, die der öffentliche Gottesdienst einnahm. Sichtbar wird dies, wenn beide die religiöse Grundsituation ihrer jeweiligen Zeit nahezu identisch beschreiben: Luther charakterisiert den Großteil der Getauften als ungläubig und im Blick auf kirchliche Handlungen unkundig »gerade als wenn wir mitten unter den turcken odder heyden auff eym freyen platz felde Gottis dienst hielten.«24 Ähnlich sieht Wesley sich gesandt, den kirchlichen Auftrag im Umfeld eines neuen Heidentums auszuführen, wenn er in einem zivilisierten Land Menschen trifft, die im Blick auf den christlichen Glauben »völlig unwissend [waren] so wie Creek- oder Cherokee-Indianer.«25 Weiter sind Luther wie Wesley davon bewegt, Menschen von einem nominellen zu einem bekennenden Christsein zu führen, was sie zur Ausbildung ähnlicher Strategien veranlasste. Luther beschrieb seinen 1526 unter der Bezeichnung Deutsche Messe veröffentlichten Gottesdienst als »eyne offentliche reytzung zum glauben und zum Christentum«26 und verband ihn damit primär und ausdrücklich mit einer missionarisch-evangelistischen Funktion. Auch Wesley wies im Spektrum der verschiedenen Angebotsformate einer metho-

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Henderson, John Wesley’s Class Meeting, 91. WA 19,74,25–28. J. Wesley, Journal v. II 20.10.1739 (WJW 19),106. Vgl. T. A. Campbell, John Wesley and Christian Antiquity. Religious Vision and Cultural Change, Nashville TN 1984, 81. WA 19,74,25–28.

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distischen Society den Predigt- und Gottesdienstveranstaltungen diese missionarisch-evangelistischen Rolle zu. Ob unter freiem Himmel oder in den Sunday evening meetings der Societies – das primäre Mittel, um Menschen mit christlichem Glauben bekannt zu machen und sie für den Glauben zu sensibilisieren, waren die Gottesdienste. 2.2 Gemeinschaftsbildung innerhalb der Gemeinde zu ihrer Erneuerung Ein zweites Grundprinzip im Gemeindeverständnis, in dem Luther und Wesley Übereinstimmung aufweisen, zeigt sich in der Vision, systematisch Hausgemeinschaften innerhalb einer lokalen Gemeinde oder örtlichen Gemeinschaft zu bilden. Beide bewegte das Ziel, die durch Gottesdienste am Glauben Interessierten in einer besonderen Gruppe zur weiteren Vertiefung und Entwicklung ihres Glaubens zu sammeln. Luther nannte diese Hausgemeinschaft »die dritte weyse, die rechte art der Euangelischen ordnunge«.27 Er widmete ihr im Vorwort zur Deutschen Messe eine Seite, auf der er seine Überlegungen zu diesem Angebot näher beschrieb. Um diesen neuartigen Gemeinschaftstyp vom Gottesdienst zu unterscheiden, nannte Luther ihn »gemeyne« oder »versamlunge«.28 Wesley organisierte seine verschiedenen Kleingruppentypen als ein System verschiedener ineinandergreifender Gruppen innerhalb einer Society und gab ihr im Class Meeting die für alle Methodisten verbindliche Grundform. Mit diesem Grundsatz der Bildung von Hausgemeinschaften innerhalb der Parochialgemeinde oder örtlichen Gemeinschaft verfolgten beide, Luther wie Wesley, das ausdrückliche Ziel, die bestehende Kirche zu erneuern und keinesfalls, sich von der Kirche zu trennen oder diese von Sündern zu reinigen. Luther sah in der Hausgemeinschaft so etwas wie die Kerngemeinde für die lokale Kirchengemeinde, eine ecclesiola in ecclesia, wie es Spener nannte. Diese Funktion einer Kerngemeinde innerhalb der Parochialgemeinde kam in Wesleys Konzept der methodistischen Society als Ganzer zu. Während Luther auf eine Umsetzung aus Sorge vor separatistischen Wirkungen verzichtete,29 entwickelte Wesley ein lebendiges und vielgestaltiges Gemeinschaftsleben innerhalb einer Parochie und verpflichtete seine Gemeinschaften zu absoluter Loyalität gegenüber der Kirche und wehrte sich entschieden gegen alle Tendenzen der Separation.

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WA 19,75,3. WA 19,75,19. WA 19,75,20f.

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2.3 Ein relationaler Glaubensbegriff Beide, Luther und Wesley, vertraten eine Vorstellung von Gemeinschaftszugehörigkeit, die auf die Beziehung zu Gott und Jesus Christus fokussiert war und weniger auf äußere, formale oder statusorientierte Merkmale wie die Taufe oder das Zeugnis über eine bestimmte Konversionserfahrung. Das Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer Hausgruppe (Luther) oder Society bzw. Class Meeting (Wesley) benennen Luther und Wesley mit nahezu gleichlautenden Formulierungen. Für Luther galt als Voraussetzung der Mitgliedschaft der Wunsch, mit Ernst Christen sein zu wollen,30 und die Bereitschaft, dieses Begehren durch eine zeugnishafte Lebensführung nach den Prinzipien des Evangeliums zu zeigen.31 Auch Wesley sah als Kriterium für die Gemeinschaftszugehörigkeit allein die Ernsthaftigkeit, wie der Glaubensweg verfolgt wird.32 Die Gemeinschaft stand für jeden offen, der sich wünschte, dem Gericht Gottes zu entgehen und von Sünde gerettet zu werden, und der bereit war, die Ernsthaftigkeit dieses Wunsches durch ein Leben nach den methodistischen Grundsätzen zum Ausdruck zu geben und sich auf diese Ernsthaftigkeit hin von der Gemeinschaft ansprechen zu lassen. 2.4 Hausgemeinschaften als Raum der Glaubensentwicklung Luther hatte für die von ihm vorgeschlagenen Hausgemeinschaften eine konkrete Aufgabenbestimmung. Ihren ersten Zweck sah er darin, die durch die Gottesdienste oder den Schulunterricht begonnene persönliche Glaubensentwicklung weiterzuführen und zu vertiefen.33 Dabei ging es um die praktische Einübung des Glaubens durch Gebet und Hören auf die Lesung von Gottes

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»so mit ernst Christen wollen seyn « WA 19,75, 5f.17f.,26f. Zu Gestalt und Bedeutung der Christus-Relation der Gläubigen, wie sie sich in Luthers Glaubensbegriff als »geistliche Lebensgemeinschaft der Gläubigen mit Christus« und als »Kern« der ecclesia spiritualis zeigt, vgl. K. Hammann, Ecclesia spiritualis. Luthers Kirchenverständnis in den Kontroversen mit Augustin von Alveldt und Ambrosius Catharinus, Göttingen 1989, 91–94.237–239. Nämlich »das Euangelion mit hand und munde [zu] bekennen«, WA 19,75,5f. »Es gibt zunächst nur eine Bedingung, die von denen verlangt wird, die Aufnahme in diese Gemeinschaften [Societies] wünschen: ein Verlangen, dem zukünftigen Zorn zu entfliehen und von Sünden gerettet zu werden. Aber wo immer dieses [Verlangen] wirklich im Herzen wohnt, wird es durch seine Früchte sichtbar werden. Es wird daher von allen, welche darin verbleiben wollen, erwartet, dass sie ihr Verlangen nach Seligkeit stets dadurch beweisen: Erstens, dass sie nichts Böses tun […] Zweitens, indem sie Gutes tun […] Drittens durch den Gebrauch aller von Gott verordneten Mittel«, J. Wesley, General Rules of the United Societies, 4–5 (WJW 9), 70,18–24, 72,5, 33,1. Vgl. WA 19,75,7.9f.

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Wort34 mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Seelsorge entsprechend Mt 18.35 Orientierung sollten ein kleiner Glaubenskatechismus, die Zehn Gebote und das Vaterunser geben.36 Darüber hinaus sah er die Hausgemeinschaften als den geeigneten Rahmen für den Empfang der Sakramente. Sie sollten von Gespräch, Gebet und Liebe geprägt sein. Die Tauf- und Abendmahlfeiern waren liturgisch ohne »viel und gros gesenges« auf das Wesentliche zu beschränken.37 Ähnlich wie Luther beabsichtigte Wesley mit Einführung seiner Kleingruppen, insbesondere den sog. Class und Band Meetings, die in den Predigten der Society-Zusammenkünfte aufgenommenen Inhalte und Einsichten christlichen Glaubens im eigenen Leben anzuwenden und die dabei gemachten positiven und negativen Erfahrungen im Rahmen einer geistlichen Begleitung zu thematisieren. Ziel und Absicht war die Unterstützung einer möglichst individuellen und bedarfsgerechten Glaubensentwicklung. Beide, Luther und Wesley, verbanden die Hausgemeinschaften mit einer produktiven und konstruktiven Funktion innerhalb der Gesamtgemeinde bzw. Gesamtgemeinschaft. Im Rahmen von gemeinschaftlicher Seelsorge sollte Ermutigung, Trost und Korrektur geschehen, Gutes gefördert und Schlechtes ausgeschieden werden.38 Glaube und christliches Leben gewinnen hier einen Prozesscharakter, durch den sich der Glaubende in seiner Selbstund Gotteserkenntnis entwickelt.

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Nach Werner Bellardi meint lesen nach WA 19,75,6 »Schriftlesung«, nicht etwa gemeinschaftliches Hören auf christliche Erbauungsliteratur, W. Bellardi, Die Vorstufen der Collegia pietatis bei Philipp Jacob Spener, Gießen 1994, 74. Hier ist zunächst an die Sätze Mt 18,15–17 gedacht, die den Weg der auf Seelsorge und Beichte basierten Gemeindezucht zeigen. Allerdings kann in einem weiteren Sinn das gesamte Kapitel oder wenigstens der Abschnitt Mt 18,12–35 mit seiner Forderung von Vergebungsbereitschaft und Barmherzigkeit gegenüber den Sündern als Hintergrund und Rahmen verstanden werden für die Begleitung derer, »die sich nicht Christlich hielten«, um sie zu »kennen, straffen, bessern, ausstossen oder ynn den bann thun«, WA 19,75,9f. Vgl. WA 19,75,15f. WA 19,75,13f. In ihrer Vorstellung, wo die Sakramente gespendet und empfangen werden sollen, liegt der wohl auffälligste Unterschied zwischen Luther und Wesley. Während Luther in den Gemeinde- oder Hausgruppen den adäquaten Raum für den Empfang von Taufe und Abendmahl innerhalb einer volkskirchlichen Struktur sah, gestattete Wesley den Gemeinschaften nicht das Spenden der Sakramente ohne ordinierten Geistlichen, sondern sah es im Raum der Kirche angesiedelt und er verpflichtete die Methodisten zur regelmäßigen Teilnahme an den kirchlichen Abendmahlsfeiern. WA 19,75, 7.9f.14f.; Wesley, General Rules of the United Societies, 2 (WJW 9), 69,22– 24. Während Luther Seelsorge und Glaubensentwicklung vor dem Hintergrund von Mt 18 sah, orientierte sich Wesley an Jak 5. Im Gegensatz dazu waren Speners Collegia pietatis auf das Bibelstudium ausgerichtet.

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2.5 Die Hausgemeinschaften als Ort für die Organisation sozialer Hilfe Luther sah in den Hausgemeinschaften das Zentrum für die praktische Organisation der Armenfürsorge innerhalb einer Parochie. Diese sollte durch Sammlung von Beiträgen und ihre Weiterverteilung unter den Armen nach dem Beispiel von 2Kor 9 geschehen.39 Ähnlich hatte auch Wesley darüber verfügt, in den wöchentlichen Class Meetings den Beitrag für die Armenhilfe einzuziehen. Nach dem Vorbild in Apg 6 hatte er das Amt des Verwalters eingeführt, dem in einer Society die Verwaltung der Finanzen und Armenhilfe im Sinn christlicher Haushalterschaft oblag.40 In beiden Gemeinschaftskonzeptionen wird eine Eigenständigkeit der Werke der Barmherzigkeit neben den Werken der Frömmigkeit betont und die Erhebung einer Kollekte zur Verteilung an Hilfsbedürftige bestimmt, so dass der Glaubensbegriff ein soziales Profil erhält. So lassen sich als fünftes Grundprinzip kirchlicher Erneuerung bei Luther und Wesley die Hausgemeinschaften als Ort für die Organisation sozialer Hilfe identifizieren.

3. Impulse für die Gemeindeentwicklung Der Vergleich von Luthers Vorstellung von Gemeinde, Gottesdienst und Gemeinschaft mit Wesleys Gemeinschaftsmodell ergab fünf gemeinsame Grundsätze kirchlicher Erneuerung: 1. Eine missionarische Funktion des öffentlichen Gottesdienstes, 2. Gemeinschaftsbildung innerhalb der Gemeinde zu ihrer Erneuerung, 3. ein relationaler Glaubensbegriff, 4. Hausgemeinschaften als Raum der Glaubensentwicklung und 5. Hausgemeinschaften als Ort für die Organisation sozialer Hilfe. Schon die unmittelbare Reflexion dieser fünf Grundsätze gibt Anstöße und zeigt Perspektiven für ihre Anwendung im Gemeindealltag. In ihrer vertieften Betrachtung in einem erweiterten theologischen Horizont verdichten sich die Grundsätze weiter zu drei Impulsen für die Gemeindeentwicklung mit strategischem Wert, die in diesem Abschnitt näher ausgeführt sind.

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»Hie kund man auch eyn gemeynenalmosen den Christen auflegen, die man williglich gebe und aus teilte unter die armen nach dem Exempel S. Pauli. ii. Cor. ix.«, WA 19,75,11f. Vgl. Burkhardt, Gottes Hausverwalter? Der Verwalter im Methodismus. Eine kirchengeschichtliche Untersuchung des Amts und des Begriffs »Verwalter« im Blick auf seine Verwendung in der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1999, 9–20.

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3.1 Ein bipolares Gemeindekonzept Peter Stuhlmacher identifiziert im Gottesdienst- und Gemeinschaftsleben der Jerusalemer Urgemeinde eine Doppelstruktur, die von zwei Brennpunkte bestimmt wird: Nach Apg 2,42.46–47 hat die Gemeinde Gottesdienst in zweifacher Form gefeiert: Sie hat sich zu Gebet und Belehrung im Tempel versammelt und – wahrscheinlich abends – ›in ihren Häusern das Brot gebrochen und miteinander Mahl gehalten in Freude und Einfalt des Herzens‹; Brotbrechen ist nach Apg 20,11 sehr wahrscheinlich Kürzel für die damals noch mit einem Sättigungsmahl verbundene (sonn-)tägliche Feier des Herrenmahls (vgl. Lk 24,35). In Jerusalem liegen also die Anfänge für den über die Paulusbriefe bis hin in den Pliniusbrief nachweisbaren zweifachen urchristlichen Gottesdienst. Er teilte sich in einen für alle offenen prophetischen Wortgottesdienst und eine nur für die Getauften offene gemeinsame Mahlfeier.41

Dieses Bild eines bipolaren Gemeindekonzepts findet sich sowohl bei Luther als auch bei Wesley. Für beide liegt ein Pol ihrer Gemeindevorstellung in einem missionarisch ausgerichteten öffentlichen Gottesdienst, der auf Menschen im Einzugsbereich der Gemeinde ausgerichtet ist, während der andere Pol in den Glauben und Gemeinschaft vertiefenden Hausgemeinschaften innerhalb der Ortsgemeinde oder Society liegt.

Was diese beiden Brennpunkte verbindet, ist die Ermöglichung einer Erfahrung von Kirche, in der christliches Leben, wie Eilert Herms es formuliert, »auf seinen Ursprung und die bleibende Quelle seiner Kraft verweist«.42 Ähnlich betont Martin Abraham, dass die Mitte von Kirche und Gemeinde

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Stuhlmacher, Kirche nach dem Neuen Testament, 259f. E. Herms, Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, XIV.

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nicht die Kerngemeinde43 ist, sondern das, worin sie gründet.44 Für Eilert Herms ist diese Mitte von Kirche und Gemeinde der Ort, an dem der Mensch heilsam in sich gehen kann, [...] der leibhaften Begegnung mit dem Wort vom Kreuz in Predigt und Sakrament. Hierbei handelt es sich um einen sozialen Ort [...], der definiert ist durch bestimmte Regeln der Interaktion, nämlich: das Darreichen und Empfangen des Evangeliums in seiner leibhaften Gestalt als Predigt und Sakrament. Dieser soziale Ort ist von den Glaubenden nicht erst zu schaffen und zu konstruieren, sondern er ist ihnen gegeben.45

Die Orte von Wortverkündigung und sakramentaler Handlung in Taufe und Abendmahl sind also in einer konzentrischen Relation auf ein von Gott vorgegebenes Zentrum hin ausgerichtet. Auch Martin Abraham vertritt dieses konzentrische Modell von Kirche, das sich um den Gottesdienst bildet, und sieht in dieser »Zentralstellung des Gottesdienstes« das »Grundanliegen reformatorischer Ekklesiologie«.46 Vor dem Hintergrund von Luthers Gemeinschaftsbegriff, wie er ihn in der Vorrede zur Deutschen Messe beschreibt und wo er ihm neben dem Gottesdienst der Hausgemeinschaft eine »Zentralstellung« zumisst, ist das konzentrische Modell von Martin Abraham zu erweitern. Es ist im Sinne einer Ellipse zu denken und um einen zweiten Brennpunkt zu ergänzen, der in der Hausgemeinschaft besteht, wie sie Luther in der sog. »dritten Weise« beschrieben hat, und wie es Peter Stuhlmacher für das frühe Christentum aufzeigt. Für eine Ekklesiologie, die sich an Luther oder Wesley orientiert, führt eine solche konzentrische Ausrichtung also zu einem bipolaren Gemeindekonzept in Gestalt einer Ellipse mit den beiden Brennpunkten »missionarischer Gottesdienst« und »glaubensvertiefende Hausgemeinschaft.« Die vorgestellten Überlegungen von Eilert Herms und Martin Abraham erschöpfen sich aber nicht in einem strukturellen Impuls zur Gemeindeentwicklung, sondern fokussieren auf Relationen und Interaktionen sozialer und spiritueller Natur, die im Folgenden weiter vertieft werden sollen.

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Vgl. M. Abraham, Evangelium und Kirchengestalt. Reformatorisches Kirchenverständnis heute, (TBT 140), Berlin/New York 2007, 485: »In jeder Gemeinde lässt sich eine soziologisch mehr oder weniger deutlich abgrenzbare Gruppe ausmachen, die gemeinhin als Kerngemeinde bezeichnet wird. Meist wird darunter die Gesamtheit der (wochenzyklisch) regelmäßigen Gottesdienstteilnehmer verstanden«. Vgl. Abraham, Evangelium und Kirchengestalt (Fußnote 43), 492f. Herms, Erfahrbare Kirche, XV. Die wesleyanische Tradition nennt diese Orte wegen ihrer von Gott eingesetzten Art »Gnadenmittel«, zu denen der öffentliche Gottesdienst und die Class Meetings zählten. Abraham, Evangelium und Kirchengestalt (Fußnote 43), 485.

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3.2 Relationalität als Grundmuster für Gemeindeentwicklung Karl Barth beschreibt die Beziehungen der drei Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist als eine interaktive lebendige Relationalität, als ein reales Neben- und Miteinander, Gegen- und Füreinander, im Sinn einer »Einheit in Verschiedenheit«.47 Eine solche Darstellung der trinitarischen Beziehungsfülle Gottes löst starke Resonanzen aus, wenn sie mit Konzeptbegriffen wie »Interkulturalität« oder »Inklusion« zusammengebracht werden.48 Wichtig in dem Zusammenhang ist, dass sich nun für Karl Barth die Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit (1Mo 1,26f.) als der Kristallisationspunkt göttlicher Relationalität im menschlichen Leben erweist. Der Mensch ist berufen, diese »interkulturell-inklusive« Qualität von Gottes Wesen in seinen Beziehungen abzubilden!49 Es sind vor allem zwei Konsequenzen, zu denen dieses Grundmuster der Relationalität in der Gestaltung menschlicher Beziehungen im Raum christlichen Glaubens und Lebens führt: 1. Die Einsicht, dass sich eine christliche Gemeinde wesentlich durch ihre Ausrichtung auf Gott bestimmt,50 worauf Eilert Herms und Martin Abraham verweisen (s. 3.1). Eine solche Einsicht führt zu einer Gemeinschaftsvorstel-

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»In Gottes eigenem Wesen und Bereich findet ein Gegenüber statt: ein reales, aber einmütiges Sichbegegnen und Sichfinden, ein freies Zusammensein und Zusammenwirken, ein offenes Gegeneinander und Füreinander.«, K. Barth, Kirchliche Dogmatik, Zürich 1947, Bd. III/1, 207. Zu einer relationalen Trinitätsvorstellung in Anlehnung an Karl Barth vgl.: R. Meyer zu Hörste-Bührer, Gott und Menschen in Beziehungen. Impulse Karl Barths für relationale Ansätze zum Verständnis christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 2013, 108.111.340f.; U. Liedke, Gott ist die bunte Vielfalt für mich. in: ders. u.a., Inklusion. Lehr- und Arbeitsbuch für professionelles Handeln in Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 2016, 74–79; ders., Grundlagen und Perspektiven inklusiver Gemeindeentwicklung, in: R. Kunz/Th. Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 300f.; ders., Inklusion in theologischer Perspektive, 33–35; C. Schwöbel, Die Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, in: ders., Gott in Beziehung, Tübingen 2002, 25–51. So skizziert Ulf Liedke in seiner theologischen Begründung einer inklusiven Gemeindeentwicklung den »Beziehungsreichtum Gottes« als »Inbegriff einer Inklusion, in der Verschiedenheit geachtet, Gemeinschaft hergestellt und Einheit gewahrt wird.« Liedke, Grundlagen und Perspektiven inklusiver Gemeindeentwicklung, 300. Vgl. F. Burkhardt, Vom Nebeneinander zum Miteinander. Aspekte und Perspektiven einer migrationssensiblen Kirchentheorie für den deutschsprachigen Raum, in: epd-Dokumentation 20 (2019), 6–21. Diese »Bestimmung des Menschen zum Bild Gottes gilt – zu Recht – in der gesamten christlichen Überlieferung als die entscheidende theologische Aussage über den Menschen«, W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 434. In Gemeinden wird »das in Gott selbst stattfindende Sichbegegnen und Sichfinden in Gottes Beziehung zum Menschen abgebildet und nachgebildet«, Barth. Kirchliche Dogmatik, Bd. III, 1, 207.

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lung, die nach der Typologie Paul Hieberts einem »zentrierten Gemeinschaftstyp« entspricht.51 Dieser richtet sich auf Gott als Gegenüber und Mitte aus und lässt von dort her seine Gemeinschaftskultur und -gestalt bestimmen, während er an den Rändern zum Umfeld hin flexibel und offen bleibt.52 Eher geschlossene Gemeinschaftstypen, die statusorientiert mit festen Grenzen nach außen und ohne spirituelles Zentrum in Erscheinung treten, oder nach innen und außen offene Gemeinschaftstypen erfüllen nicht die aus der Relationalität Gottes abgeleiteten Kriterien für die Gemeindeentwicklung. Luther und Wesley vertraten eine Vorstellung von christlicher Gemeinschaft, die vor allem anderen in der Beziehung zu Gott und Jesus Christus gründet und sich weniger durch äußere, formale oder statusorientierte Merkmale bestimmte. 2. Ausgehend vom Grundmuster der relationalen Lebensform Gottes, wie sie Karl Barth in seiner Vorstellung der trinitarischen Beziehungsfülle Gottes beschreibt, und der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit, ergibt sich als Zielbild für die Gestaltung des menschlichen Miteinanders eine »interkulturell-inklusive« Gemeinschaft,53 die sensibel ist, wo Menschen ausgeschlossen, verletzt oder übersehen werden, und die die Ausgeschlossenen, Diskriminierten und am Rand Stehenden auf- und annimmt, wie »Christus uns angenommen hat« (Röm 14,7). Benjamin Schliesser unterstützt diese Überlegung aus Sicht der neutestamentlichen Forschung. Er betont die soziale Dimension, die dem Glauben konkrete Wirkungen im Miteinander in der Gemeinde gibt. Paulus versteht den Glauben nie ohne seinen Gemeinschafts- und Öffentlichkeitscharakter. [...] In der Wechselseitigkeit von individueller und sozialer Dimension, von der Zustimmung zu zentralen Lehrinhalten und deren »Fleischwerdung« im konkreten Zusammenleben entfaltete der christliche Glaube seine attraktionale Wirkung. [...] Schon in frühester Zeit wandten sich die Christusgruppen Armen, Kranken, Waisen, Witwen, Ausgestoßenen, Unterprivilegierten zu, und nicht nur das: sie haben diese benachteiligten Gruppen überhaupt erst ins Blickfeld der Gesellschaft gerückt. Der stärkste Impuls ging von den Worten und Gleichnissen Jesu aus. Besonders nachhaltig wirkte Mt 25,35–36 [...] In solchen Sätzen lag ein revolutionärer Impetus 51

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Hiebert unterscheidet in seiner Typologie von Kollektiven vier verschiedene Ausprägungen: ein Bounded Set, ein Centered Set, ein Intrinistic Fuzzy Set und ein Extrinistic Fuzzy Set, vgl. P. G. Hiebert (Hg.), Anthropological Reflections on Missiological Issues, Grand Rapids/MI 1994, 107–136; ders. Characteristics of Worldview, in: ders., (Hg.) Transforming Worldviews. An Anthropological Understanding of How People Change, Grand Rapids/MI 2008), 34–36. Beispiel für den zentrierten Gemeinschaftstypus sind die Gemeindevorstellungen von Luther oder Wesley. In der Gegenwart erfährt er in der Emerging Church- oder der freshXBewegung eine Neuauflage mit Betonung eines relationalen Gemeindeverständnisses, vgl. M. Frost/A. Hirsch, Die Zukunft gestalten, 89–92.328–330. Burkhardt, Vom Nebeneinander zum Miteinander, 10f. 14–16.

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des frühen Christentums, und sie sind ohne Parallele in der zeitgenössischen griechisch-römischen Literatur.54

Diese »interkulturell-inklusive« soziale Vorstellung christlicher Gemeinschaft ist für Luther wie Wesley ein Merkmal ihres Gemeindeverständnisses, das sich darin konkretisierte, dass sie die Hausgemeinschaften zum Ort sozialer Hilfe bestimmten. 3.3 Die Entflechtung von Hinkehr und Glaubenserfahrung in der Konversionsbegründung Im Blick auf die Wirkung christlicher Hausgemeinschaften im ersten Jahrhundert weist Benjamin Schliesser »auf die formative Kraft des christlichen Ethos« hin.55 Diese resultiert aus einer intensiven christlichen Nachfolgegemeinschaft und gründet in der Häufigkeit der christlichen Zusammenkünfte. Sie fanden wöchentlich statt, boten damit häufig ein Sättigungsmahl und stärkten das Gemeinschaftsgefühl. Die Sozialbeziehungen in der Gemeinde erreichten eine außerordentliche Intensität und Verbindlichkeit und schlossen die Mitglieder »in eine umfassende und exklusive Lebensgemeinschaft« ein. Auch Nichtmitglieder (vgl. 1Kor 14,23–25) konnten probehalber eine Versammlung besuchen und sich ein Bild von ihren Aktivitäten machen.56

Bei Luther begegnet die Idee und bei Wesley die Anwendung einer Glaubensvorstellung, die auf die Konversion im Sinn der Hinkehr zu einer intensiven Form christlichen Lebens zielt. Die Glaubhaftmachung dieser Hinkehr wurde nun aber nicht statusbezogen durch Taufe, Bekenntnis oder Bekundung einer übernatürlichen religiösen Erfahrung erwartet, sondern relational in Gestalt eines zeugnishaften geistlichen Lebens in der Beziehung zu Gott und im menschlichen Miteinander. Damit zeigen Luther und Wesley Konzeptionen für eine weder emotionalistische noch institutionsfeindliche Gestalt intensiver christlicher Gemeinschaft innerhalb der Kirche zu ihrer Erneuerung. Ihre Gemeinschaften ziehen sich nicht aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld zurück, sondern versuchen, es christlich zu erneuern und bleiben darum für ihre Gesellschaft bedeutsam.

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B. Schliesser, Vom Jordan an den Tiber. Wie die Jesusbewegung in den Städten des Römischen Reiches ankam, in: ZThK 116 (2019), 22f. Vgl. dazu J. Frey, Neutestamentliche Perspektiven, in: Kunz/Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, 33–38. B. Schliesser, Vom Jordan an den Tiber, 34. B. Schliesser, Vom Jordan an den Tiber, 35.

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Die enorme Weite im methodistischen Mitgliedschaftsverständnis und die Entflechtung von Mitgliedschaft und Glaubenserfahrung führten nicht dazu, dass der Wunsch nach übernatürlichen spirituellen Erfahrungen wie Glaubensgewissheit, Frieden mit Gott, Vergebung der Sünden, Wiedergeburt und innere Erneuerung nebensächlich wurden oder als verzichtbar galten. Dem widerspricht das geistliche Lied, mit dem John Wesley der spirituellen Erfahrung einen festen Platz im Gemeinschaftsleben gab.57 Gerade neuere kirchenhistorische Untersuchungen zeigen, wie durch die mit der Hinkehr zu Gott (Bekehrung) begonnene Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft ein geistlicher Reifeprozess angestoßen wurde, der im Schnitt nach etwas mehr als zwei Jahren zu einer geistlichen Erfahrung im Sinn einer inneren Erneuerung führte, die von den Betroffenen als neue Geburt (Wiedergeburt) verstanden wurde.58 Offensichtlich eröffnete gerade die Trennung von Hinkehr zu Gott (Bekehrung) und Erfahrung innerer Erneuerung (Wiedergeburt) den Raum für eine individuelle Glaubensaneignung und beförderte einen geistlichen Reifeprozess, in dem sich eigene, von schablonenhaften Vorgaben losgelöste Formen geistlicher Erfahrungen entwickeln konnten.

4. Ergebnisse und Perspektiven Kirchliche Erneuerung ist ein essentielles Thema. Dabei hat eine Theologie in protestantischer Tradition, ob in lutherischer oder wesleyanischer Prägung, »ihr Bild von Gemeinde vor dem Neuen Testament zu verantworten, will sie ihre Grundlagen und Identität nicht preisgeben.«59 Für solches Nachdenken geben die historischen und theologischen Betrachtungen zu Luthers und Wesleys Grundsätzen kirchlicher Erneuerung und die damit verbundenen Impulse für die Gemeindeentwicklung vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten kirchlichen Großwetterlage verheißungsvolle Perspektiven. Eine erste richtet sich auf den Gottesdienst. Dieser hatte bei Luther und 57 58

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WJW 9, 69–75. T. Runyon, The New Creation. John Wesley’s Theology Today, Nashville TN 1998, 115. Runyon bezieht sich auf eine statistische Untersuchung von 555 geistlichen Biografien von Methodisten in den methodistischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, vgl. T. Albin, An Empirical Study of Early Methodist Spiritualität, in: T. Runyon (Hg.), Wesleyan Theology Today, 1985, 278. Ähnlich D. L. Watson, der das Geschenk der inneren Vergewisserung des Glaubens als Frucht der Nachfolge versteht, vgl. ders., Aldersgate Street and the General Rules: The Form and the Power of Methodist Discipleship, in: R. Maddox (Hg.), Aldersgate Reconsidered, Nashville 1990, 44. J. Frey, Neutestamentliche Perspektiven und Impulse zur Entwicklung christlicher Gemeinden, in: ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II, 2016, 779–798, 780. Vgl. ders., Neutestamentliche Perspektiven, in: Kunz/Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, 40.

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Wesley primär eine missionarische Funktion. Er war auf die Menschen ausgerichtet, die durch die Weitergabe des Evangeliums bisher unerreicht blieben. Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen lenkt diese Erkenntnis den Blick auf die prekären und modernen Milieus, in denen die traditionellen Volks- und Freikirchen unterrepräsentiert sind und in denen Bedarfe, aber auch Potenziale liegen. Hier zeigen sich verheißungsvolle Handlungsoptionen für innovative Entwicklungen im kirchlichen Handlungsfeld »Gottesdienst« unter den besonderen Bedingungen der Gegenwart. Die zweite Perspektive ergibt sich im Vollzug der Zuwendung zu diesen bisher unerreichten Lebenswelten. Eine missionarische Ausrichtung des Gottesdienstes verleiht dem Gemeindeleben dann Nachhaltigkeit, wenn die für den Glauben interessierten Menschen dauerhaft integriert werden können. Dies verlangt in der Gemeindeentwicklung ein bipolares Konzept, das sich um die beiden Brennpunkte »missionarischer Gottesdienst« und »glaubensvertiefende Hausgemeinschaften« formiert. Luther und Wesley sahen in den Hausgemeinschaften den Ort persönlicher und gemeinschaftlicher Glaubensentwicklung, was einer an den Rändern für Außenstehende offenen Gemeinde ihre erforderliche Stabilität verleiht und damit gesellschaftliche Relevanz erzeugt. Eine dritte Perspektive in den beiden Konzeptionen kirchlicher Erneuerung bei Luther und Wesley liegt in der Entwicklung eines relationalen Glaubens- und Gemeinschaftsverständnisses. Dieses drückt sich aus in einem in Gott als Kraft- und Inspirationsquelle »zentrierten Gemeindetyp« und einer »interkulturell-inklusiven« Qualität des Miteinanders. Schließlich ergibt sich eine vierte Perspektive durch ein Konversionsverständnis, das zwischen der Hinkehr zu Gott und der inneren Vergewisserung dieses Glaubens unterscheidet und so Raum schafft für einen individuellen geistlichen Reifeprozess. Die hier skizzierten Aspekte zeigen hoffnungsvolle Potenziale für die herausfordernden Prozesse kirchlicher und gesellschaftlicher Erneuerung in der Gegenwart. Diese aus historischen und systematisch-theologischen Betrachtungen gewonnenen Perspektiven praktisch-theologisch noch weiter zu verfolgen und mit unterschiedlichen kirchentheoretischen Ansätzen der Gegenwart ins Gespräch zu bringen,60 verspricht die Generierung weiterer Impulse und Handlungsoptionen zur kirchlichen Erneuerung.

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Exemplarisch geschieht dies mit drei unterschiedlich profilierten kirchentheoretischen Ansätzen bei Burkhardt, Erneuerung der Kirche, 182–235. Ins Gespräch gebracht werden darin die beiden Kirchentheorien aus der akademischen Tradition des deutschsprachigen Protestantismus von J. Hermelink einerseits und E. Hauschildt und U. Pohl Patalong andererseits mit dem kirchentheoretischen Ansatz der Emerging Church Bewegung von M. Frost und A. Hirsch.

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Den Austausch der Generationen lebendig halten Perspektiven für intergenerationelles Lernen im Kirchlichen Unterricht Achim Härtner

1. Warum das Thema »intergenerationelles Lernen« bedeutsam ist ... Während ich in meinem Studierzimmer sitze und diesen Beitrag verfasse, klingelt es an meiner Haustür. Ich öffne, und eine hibbelig wirkende Fünfzehnjährige kommt mir auf der Treppe entgegengesprungen. »Hallo, ich bin Nadine ...«, platzt sie heraus und schaut mir mit fieberhaftem Blick ins Gesicht, »... ich bin hier wegen meines Handys!« Sie hatte es gestern in der Stadt verloren, wir hatten es gefunden, den Kontakt hergestellt und die Abholung vereinbart. »Sie haben mein Leben gerettet!«, sagt sie geradeheraus, als ich ihr das Smartphone übergebe, und sie entspannt sich. »Nun mal langsam: Das ist ein Handy. Leben retten, das ist eine andere Sache.« antworte ich, aber sie fällt mir ins Wort: »Nein doch, Sie haben mein Leben gerettet! All die Fotos, die Kontakte ...«. Wäre Nadine nicht genauso schnell wieder abgerauscht, wie sie hereingeschneit war, wir hätten miteinander ins Gespräch kommen können über das, was im Leben wichtig ist und wer wem das Leben gerettet hat. Diese Begegnung hat mir neu gezeigt, wie notwendig der Dialog zwischen den Generationen ist, und wieviel wir voneinander lernen können. Doch findet dieser Dialog auch statt?

2. ... auch für den Kirchlichen Unterricht Laut Kirchenordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche ist die »christliche Unterweisung der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen ... Aufgabe jeder Gemeinde und der ganzen Kirche«1. Tatsächlich erleben Jugendliche den Kirchlichen Unterricht (KU) allerdings zumeist als reine Zielgruppenveranstaltung, in der sie in aller Regel mit ihrem Pastor bzw. ihrer Pastorin »unter sich« sind. Die Gemeinde in ihrer Vielfalt und die Kirche als Ganze 1

Verfassung, Lehre und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche, Frankfurt 2017, VI.260.1, 222.

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kommen dabei oftmals nur punktuell und ansatzweise in den Blick. Nun hat das gemeinsame Lernen von Gleichaltrigen unter Anleitung einer erwachsenen Lehrperson unbestreitbar seine Vorzüge und sein Recht. Denn so können Themen des Glaubens und Lebens in einer Art und Weise angesprochen werden, die der altersgemäßen Entwicklung der Heranwachsenden entspricht. Im KU ist dieses zielgruppenspezifische Lehren und Lernen daher der Regelfall. Aus religionspädagogischer Sicht kann man das altershomogene Lernen jedoch auch als eine Verengung ansehen, die es zu überwinden gilt: »Die Kirchen stellen dagegen in intergenerationelle und zeitlich unbegrenzte Zusammenhänge. Ihre pädagogischen Angebote zeigen eine eigene soziale und gestalterische Vielfalt mit besonderen Chancen, um unterschiedliche Erfahrungen, Einsichten und Fragen für Leben und Glauben zwischen den Generationen zu ermöglichen.«2 Ausgehend von dieser Sichtweise sollen im vorliegenden Beitrag Perspektiven intergenerationellen Lernens im KU entwickelt werden.

3. Das Generationenverhältnis im gesellschaftlichen Wandel So lange es Menschen auf dieser Erde gibt, gibt es die »Generationentatsache«: Menschen werden geboren, wachsen auf, reproduzieren sich, werden älter und sterben. Der Begriff Generation geht auf das griechische Wort genesis und dessen lateinische Übersetzung generatio zurück und bedeutet Entstehung beziehungsweise Erzeugung von Leben. In unserer Sprache hat der Begriff unterschiedliche Bedeutungsnuancen: Im (religions-)pädagogischen Kontext verwendet man den Begriff vor allem im Zusammenhang mit der wechselseitigen Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern in Bezug auf die Weitergabe von Werten und Zielen, Einstellungen und Handlungsnormen. Die unterschiedlichen Lernverständnisse von Menschen unter der Perspektive der Generation in den Blick zu nehmen, weist auf die Gebundenheit des Lernens an die innere Erlebniswelt der Menschen in den jeweiligen gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexten hin. Die altersmäßige Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland hat sich in den vergangenen hundert Jahren dramatisch verändert.3 In einer Gesellschaft, in der die Nützlichkeit und kommerzielle Verwertbarkeit nahezu aller Lebensgüter im Vordergrund stehen, verwundert es nicht, dass die Zahl der Familien mit Kindern und ebenso die Zahl der Kinder pro Familie rückläufig sind. Die Tatsache, dass weniger Kinder geboren werden und zugleich 2 3

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EKD-Denkschrift »Identität und Verständigung«, Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, Gütersloh 1994, 47–48. Die jeweils aktuellen Zahlen hierzu bietet das Statistische Bundesamt unter www.destatis.de.

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die Lebenserwartung der Menschen weiter ansteigt, führt zu einem deutlichen demoskopischen Ungleichgewicht zwischen den Generationen. Ebenso alt wie die genannte »Generationentatsache« ist die Wahrnehmung eines Generationenkonflikts (engl. generation gap), die Erfahrung also, dass »die Alten« mit »den Jungen« so ihre Schwierigkeiten haben – und umgekehrt. In einer hoch individualisierten Zeit führt dies verstärkt dazu, dass die Generationen tendenziell unter sich bleiben und es – etwa im Vergleich zum Zusammenleben in einer Großfamilie vor hundert Jahren – nur wenige natürliche und bedeutsame Begegnungsflächen zwischen ihnen gibt. Im Zuge einer fortschreitenden Pluralisierung der Lebensentwürfe relativieren sich die traditionellen Generationsgrenzen und Rollenbilder, was zur Folge hat, dass das Bewusstsein einer generationenübergreifenden Zusammengehörigkeit und Verantwortlichkeit schwächer wird.4 Diese Entwicklung ist in der Gesellschaft insgesamt, aber auch im Raum der Kirchen zu beobachten und wirkt sich auch auf den Bereich (religiöser) Bildung und Erziehung aus.

4. Nebeneinander oder Miteinander der Generationen in der Gemeinde? Aus dem afrikanischen Kontext stammt die Einsicht, dass es für die Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf brauche. In unseren Breiten hingegen wird (religiöse) Erziehung mehrheitlich als reine Privatsache angesehen. Das Lernen zwischen Generationen findet also immer weniger in informellen Konstellationen statt. Intergenerationelles Lernen passiert nicht automatisch, es bedarf vielmehr einer bewussten didaktischen Perspektive auf die Vielfalt der Generationen und einer bewussten Planung von generationsverbindenden Lernbegegnungen. In der neueren Pädagogik wird daher nicht mehr von einer linearen Beziehung der älteren zur jüngeren Generation ausgegangen, sondern von intergenerationellen »Netzwerken«5 gesprochen. Solche Netzwerke zu entwickeln, ist auch eine Aufgabe generationenübergreifender kirchlichen Bildungsarbeit (also auch des KU), die von einer »Theologie der Begegnung«6 geprägt ist. In unseren Gemeinden sollten wir daher deutliche Zeichen setzen gegen den Zeitgeist der Abkapselung, der gegenseitigen Nichtbeachtung und Abwertung der jeweils anderen Generationen. »Alte mit den Jungen«, sollen 4 5 6

Vgl. F. Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion, Gütersloh 2003. Vgl. K. Lüscher/F. Schultheiss (Hg.), Generationenbeziehungen in »postmodernen« Gesellschaften, Konstanz 1993. Vgl. B. Fuchs, Eigener Glaube – Fremder Glaube. Reflexionen zu einer Theologie der Begegnung in einer pluralistischen Gesellschaft, Münster 2001.

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nicht nur »den Herrn loben« (Ps 148,12f.), sondern können und sollen in vielerlei Hinsicht lernen: voneinander, miteinander und über einander. Was den KU in der EmK angeht, kann die Ausgangslage für generationenübergreifendes Lernen auf Seiten der Jugendlichen als positiv eingeschätzt werden. Die KU-Studie erbrachte den erfreulichen Befund, dass viele Jugendliche die EmK als eine Kirche erleben, in der gute Gemeinschaft zwischen Alt und Jung möglich ist. Beispiel Gottesdienst: 68% der Heranwachsenden ist es zu Beginn des KU (t1) wichtig, im Gottesdienst »über Generationen hinweg Gemeinschaft zu erleben«, Tendenz steigend (75% am Ende des KU)7; die Erwartung, in der Kirche »nette Leute zu treffen« (t1: 78%) wird in der Einschätzung der Jugendlichen gegen Ende des KU sogar leicht übertroffen (t2: 80%).8 Wie hoch auf der anderen Seite die Bereitschaft der »Erwachsenengemeinde« ist, sich auf einen Lernprozess im Verbund mit den Jugendlichen im KU einzulassen, lässt sich schwerlich sagen. Sie wird aber gewiss auch davon abhängen, wie gut es in den Gemeinden gelingt, die Chancen und Möglichkeiten generationenverbindenden Lernens zu kommunizieren.

5. Perspektiven für generationenverbindendes Lernen im Kirchlichen Unterricht Ein heutiges evangelisches Bildungsverständnis begreift Bildung als »Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens«.9 Damit ist auch eine lebensgeschichtliche Perspektive eröffnet, die das substanzielle Gespräch zwischen den Generationen braucht und sucht. Intergenerationelles Lernen lässt sich in religionspädagogischer Sichtweise in drei Dimensionen erschließen: Es geht darum, in Bezug auf den christlichen Glauben und eine davon bestimmte Lebensgestaltung voneinander, miteinander und übereinander zu lernen.10 Im Folgenden werden einige Ansatzpunkte für das gemeindepädagogische Praxisfeld »Kirchlicher Unterricht« (KU) skizziert, das sich an Jugendliche zwischen 12 und 14 Jahren wendet. 7

8 9 10

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Vgl. T. Beißwenger/A. Härtner, Konfirmandenarbeit im freikirchlichen Kontext. Der Kirchliche Unterricht in der Evangelisch- methodistischen Kirche in Deutschland. Ergebnisse der bundesweiten Studie 2012–2016, Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten, Bd. 9, Gütersloh 2017, 173. A.a.O., 269. EKD-Denkschrift »Maße des Menschlichen«, Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2. Aufl., Gütersloh 2003, 66. Angeregt durch J. Franz, Intergenerationelles Lernen ermöglichen – Orientierungen zum Lernen der Generationen in der Erwachsenenbildung, Bielefeld 2009 und A. Meese, Lernen im Austausch der Generationen, in: DIE Magazin. Nr. 2/2005. Frankfurt 2005, 39–41.

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5.1. Voneinander lernen im KU »In Konzepten des »Voneinander-Lernens« treffen zwei Generationen aufeinander, wobei die eine Generation explizit die andere unterstützt, informiert oder unterrichtet. Zentral für diese Konzepte ist, dass hierbei das Expertenwissen (oder bestimmte Fähigkeiten) bei einer der Generationen liegt.«11 Das Lernen voneinander stellte auch im mitteleuropäischen Kontext jahrhundertelang den intergenerationellen Regelfall dar: Die ältere bringt der jüngeren Generation etwas bei, was für die Bewältigung ihrer Zukunft von Bedeutung ist. Dies ist auch der klassische Ansatz religiöser Erziehung von Kindern und Jugendlichen im Raum von Familie und Gemeinde. Dieser folgt im Wesentlichen einer Didaktik der Vermittlung, die auf das Einverständnis der Kinder bzw. Jugendlichen mit dem von den Erwachsenen Dargebotenen zielt.12 Wie in den das Leben im Allgemeinen betreffenden Fragen lautet auch im Hinblick auf die Weitergabe christlicher Glaubens- und Lebensinhalte die zentrale pädagogische Leitperspektive: »Was will eigentlich die ältere mit der jüngeren Generation?« (Friedrich Schleiermacher). Antworten auf diese Frage in Bezug auf den KU findet man in den einschlägigen kirchlichen Dokumenten zum KU, ebenso in den Antworten der im Rahmen der KU-Studie befragten Unterrichtenden. So sollen Jugendlichen im KU »Gottes Gegenwart erleben« (94%), »in ihrem Glauben gestärkt werden (96%) und »lernen, ihren Alltag in der Beziehung zu Gott zu gestalten« (91%) u.a.m.13 Die hohen Zufriedenheitswerte bei den Jugendlichen am Ende ihrer KU-Zeit (mit dem KU insgesamt: 81%, mit den Hauptamtlichen: 84% und Mitarbeitenden: 80%) belegen, dass Vieles von dem gelingt, was »die ältere mit der jüngeren Generation will«, durchaus auch in inhaltlicher Hinsicht.14 Detailanalysen haben gezeigt, dass die Zufriedenheit nochmals ansteigt, wenn der KU im Team durchgeführt wird15, wenn also noch weitere Personen unterschiedlichen Alters in den KU einbezogen werden, wofür sich jüngst die Zentralkonferenz der EmK ausgesprochen hat.16 Den KU im Horizont intergenerationellen 11 12

13 14 15 16

A. Meese, Lernen, in: Maße des Menschlichen [Anm. 9], 39. Vgl. A. Härtner (Hg.), Glauben lernen in unsicherer Zeit. Aufgaben und Aussichten des Kirchlichen Unterrichts in der Evangelisch-methodistischen Kirche in den gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart. In: Theologie für die Praxis 38 (2012), Nr. 1–2, 24–57, hier 42–43. Beißwenger/Härtner, Konfirmandenarbeit im freikirchlichen Kontext, 106. A.a.O., 88–90; zu den gelernten Inhalten und im KU gemachten sozialen Erfahrungen aus der Sicht der Jugendlichen vgl. 78ff. und 202ff. A.a.O., 80. Der Beschluss vom 17.3.2017 diesbezüglich lautet: »Der KU ist Aufgabe der ganzen Gemeinde. Er wird in der Regel in einem Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen gestaltet. Wo immer möglich, werden jugendliche Teamer*innen integriert«, zitiert in: Beißwenger/Härtner, Konfirmandenarbeit im freikirchlichen Kontext, 418.

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Lernens zu sehen, ist indes nicht neu. Im KU-Material »Unterwegs ins Leben« (2006) heißt es: »Ein besonderes Anliegen der Arbeitshilfe ist die Förderung des generationenübergreifenden Gesprächs. An vielen Stellen zeigen die Stundenentwürfe Möglichkeiten eines generationenverbindenden Lernens und Feierns in der Gemeinde auf«.17 Diese Möglichkeiten wahrzunehmen, als Chance zu nutzen und gezielt weiterzuentwickeln, mag im Kontrast zur gesellschaftlichen Entwicklung einer fortschreitenden Isolation der Generationen stehen, wird aber zukünftig noch an Bedeutung gewinnen für eine Gemeindearbeit, in der die Haltung eines »Lernens in Begegnung«18 prägend sein soll. Gemeindepädagogisch denkbar sind hier auch Lernpatenschaften, bzw. -partnerschaften zwischen Jugendlichen und Erwachsenen oder – unter dem Stichwort »Expertenwissen« – Computer- und Smartphone-Kurse von Jugendlichen für Senior*innen. 5.2 Miteinander lernen im KU »Bei Konzepten des ›Miteinander-Lernens‹ liegt das Expertenwissen außerhalb der Gruppe der Teilnehmer bei einem Dozenten oder wird gemeinsam erarbeitet.«19 Es geht also darum, dass zwei oder mehr Generationen gemeinsam an einem neuen und relevanten Thema lernen und sich bilden. Eine konkrete Möglichkeit dies umzusetzen, wäre beispielsweise ein KU-Wochenende mit einer thematischen Projektarbeit zum Thema »Bewahrung der Schöpfung« unter Beteiligung unterschiedlichen Generationengruppen. Im Blick auf den christlichen Glauben und eine darin begründete Lebensführung – also in der Nachfolge Jesu Christi – bleiben wir lebenslang Lernende und als Generationen im Lernen aufeinander angewiesen. Dies gilt praktisch für nahezu alle Themen, die im KU eine Rolle spielen. Demnach gibt es hier noch Manches zu entdecken. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Unterrichtenden im KU ist der Überzeugung, die Jugendlichen sollen »Menschen kennen lernen, denen der Glaube wichtig ist« (95%). Diese Absicht wird offenbar ernst genommen, denn 68% der (in diesem Alter entwicklungsbedingt eher kritischen) Jugendlichen sagen, dass ihnen in der KU-Zeit Menschen begegnet sind, die ihren Glauben für sie überzeugend vorgelebt haben. Nur 16% verneinen dies. Die EmK hat bei diesem Item den höchsten Wert im europäischen Vergleich. In 17 18 19

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So in der Einleitung des Unterrichtswerks Unterwegs ins Leben, E 5. Vgl. F. Rickers, Lernen durch Begegnung. Pädagogische Erwägungen in religionspädagogischer Absicht. In: Jahrbuch der Religionspädagogik, Bd. 21, Neukirchen-Vluyn 2005, 97–122. A. Meese, Im Austausch der Generationen [Anm. 11], 40.

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der Dokumentation der KU-Studie wird daraus folgendes Fazit gezogen: »Zwei Drittel der Jugendlichen erleben die EmK als einen Raum, in dem sie Menschen begegnen, die ihren Glauben in einer für sie überzeugenden Weise leben. Aus den betreffenden Werten lässt sich eine Korrelation berechnen, die erweist, dass diese Begegnungen die Jugendlichen wiederum in ihrem eigenen Glauben gestärkt haben. Nicht übersehen werden darf dabei jenes Drittel (!) Jugendlicher, die eine positive und prägende Erfahrung diesbezüglich für sich nicht bestätigen können, aus welchen Gründen auch immer. Die Heranwachsenden während der KU-Zeit mit Menschen in Kontakt zu bringen, die ihren Glauben im Alltag erkennbar und glaubhaft leben, bleibt zweifelsfrei eine zentrale Herausforderung für alle, die sich in diesem Bereich der kirchlichen Arbeit engagieren.«20 Über den KU hinaus können insbesondere gemeinsame Projekte und Aktionen, Gemeindefreizeiten und Gottesdienste (vgl. oben 4.) Möglichkeiten für ein gelingendes Miteinander-Lernen eröffnen. 5.3 Über einander lernen im KU »Generationen zeichnen sich vor allen Dingen dadurch aus, dass in einer bestimmten Lebensphase spezifische gesellschaftliche Ereignisse vonstatten gingen, die spezifische gemeinsame Erlebnisse bedingt haben und diese Erlebnisse mit Hilfe kollektiv zur Verfügung stehender Muster verarbeitet wurden.«21 Die scheinbar zufällige Episode, die zu Beginn dieses Beitrags erzählt wird, ist mir »zugefallen« und hat mir Eines neu bewusst gemacht: Im Mittelpunkt des Über-einander-Lernens stehen die biografischen Perspektiven der jeweils anderen Generation, ganz gleich wie vertraut oder fremd sie mir aus der eigenen Lebensperspektive vorkommen mögen. Warum genau ist Nadine ihr Smartphone so wichtig wie ihr Leben? Welche Vorstellungen, Hoffnungen und Ängste stecken bei ihr dahinter? Und natürlich auch umgekehrt: Wie wichtig ist mir mein Smartphone, und wer hat mein Leben gerettet? Unverzichtbar und zentral ist daher das Erzählen(-lassen) und damit verbunden ein gegenseitiges Wahr- und Ernstnehmen der Erfahrung des Menschen aus der jeweiligen anderen Generation. Zu erzählen, von sich und von anderen, vom Leben, den Lebensumständen und Herausforderungen war schon immer eine selbstverständliche, allen Menschen zugängliche Form der Kommunikation, eine conditio humana.22 Warum sollte dies heute anders sein?

20 21 22

Ebd. A. Meese, Im Austausch der Generationen [Anm. 11], 41. Vgl. C. Grethlein, Christsein als Lebensform. Eine Studie zur Grundlegung der Praktischen Theologie [ThLZ.F 35], Leipzig 2018, 193–203.

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Macht das moderne Medienzeitalter mit seinen schnellen Ton- und Bildwechseln das einfache Erzählen überflüssig? Welchen Sinn hat es noch, in einer Zeit, in der die »großen Erzählungen zerfallen« (Jean-Francois Lyotard), Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart zu erzählen? Die Erfahrung zeigt: Wir leben allenfalls in einer »vermeintlich postnarrativen Zeit« (JeanBaptiste Metz), neben den vielen »kleinen Erzählungen«, die uns in den Alltagsmedien geboten werden, ist die Sehnsucht nach den »großen Erzählungen« (d.h. solchen, die Leben und Welt zu deuten nicht nur kurzfristig und individuell in der Lage sind) offenbar nicht obsolet geworden. Anlässlich der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2017 erläutert der einflussreiche Verleger Markus Dohle die Entwicklung, dass weltweit die Nachfrage nach Erzählungen für Kinder und Jugendliche ansteigt und zeigt sich optimistisch: »Geschichten erzählen und Geschichten zu konsumieren wird auch in den kommenden Generationen wichtig sein«.23 Der Religionspädagoge Ingo Baldermann begründet die verbreitete Beobachtung, dass auch medienerprobte Kids und Teens durch einfaches Erzählen bei der Sache zu halten sind, mit einem ebenso schlichten wie überzeugenden Argument: »Offenbar, weil sonst kaum jemand mehr mit ihnen spricht. Denn beim Erzählen reden wir nicht nur mit ihnen, sondern teilen ihnen etwas von uns selbst mit, geben etwas von unserem eigenen Leben. Das widerfährt normalen Kindern nicht eben häufig«.24 Laut der KU-Studie nutzen 68% der Unterrichtenden manchmal oder häufig das Erzählen als Unterrichtsmittel, nur 2% verzichten ganz darauf. Detailuntersuchungen ergaben, dass Unterrichtende, die gerne Geschichten erzählen, auch eher Menschen aus der Gemeinde in den KU einladen.25 Aufs Ganze gesehen besteht diesbezüglich noch reichlich Luft nach oben: Die Arbeitsform »Begegnung mit Menschen aus der Gemeinde« wählen 14% nie, 55% selten, 30% manchmal und 14% häufig in ihrem KU. Von den Jugendlichen wurde in der KU-Studie mehrfach der Wunsch nach »interessanten Themen, die etwas mit dem Alltag zu tun haben« geäußert.26 Gerade in dieser Hinsicht erscheint die »Begegnung mit Menschen aus der Gemeinde« wichtige Chancen für den KU in sich zu tragen. Wenn die Jugendlichen erleben und spüren können, dass auch Erwachsene mit Fragen des Glaubens und Lebens noch nicht »fertig« sind, aber um tragfähige Antworten ringen, wird sie dies auch in ihrem eigenen Fragen und Ringen weiterbringen. Wenn dabei die Bedeutung des Gebets und der Frömmigkeitspraxis für das Alltagsleben im Spannungsfeld von Beruf, Familie etc. erkennbar wird, können solche Begegnungen für die Heranwachsenden auch 23 24 25 26

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M. Dohle, zitiert in: Reutlinger Generalanzeiger/Kultur, 11.10.2017, 33. I. Baldermann, Erzählen als Notwendigkeit, JRP 6/1989, 97. Vgl. Beißwenger/Härtner, Konfirmandenarbeit im freikirchlichen Kontext, 155. A.a.O., 95.

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in geistlicher Hinsicht inspirierend und prägend werden. An dieser Stelle soll an die Möglichkeit erinnert werden, im KU phasenweise in Form von »home-groups« 27 zu arbeiten, also bewusst außerhalb des Kirchengebäudes, sodass der Aspekt des Alltagsbezugs bereits in der räumlichen Umgebung des Lernens erfahrbar wird. Das intergenerationelle Lernen im KU darf freilich nicht idealisiert werden. Es ist weder der religionspädagogische Schlüssel für einen gelingenden KU, noch wird es in der Praxis ohne Konflikte umzusetzen sein. Allemal bietet der Ansatz jedoch eine lohnende Perspektive auf das lebenslange Lernen in der Nachfolge Jesu Christi, und es gilt, die positiven Synergien des Gesprächs zwischen den Generationen in der Gemeinde neu zu entdecken und weiter zu entwickeln: in theologischer, pädagogischer und geistlicher Hinsicht.28

27 28

Vgl. KU-Impulse Nr.6/2016, 13–14, dort auch weitere Modelle des KU außerhalb des Kirchengebäudes. Für den Kontext der Evangelisch-methodistischen Kirche bietet die Arbeitshilfe »Generationen verbinden – Gemeinde miteinander gestalten« hrsg. v. Bildungswerk/Kinder- und Jugendwerke der EmK, Stuttgart 2012, vielfältige Impulse.

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Fröhliche Geber Der Zehnte im Alten Testament1 Ein jeder gebe, wie er sich's in seinem Herzen vorgenommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. (2Kor 9,7)

Jörg Barthel Von der Bedeutung des Zehnten im Alten und – zumindest am Rande – im Neuen Testament soll hier die Rede sein. Diese Aufgabe lässt sich in Form einer klassischen Bibelarbeit zu einem einzelnen Text kaum bewältigen. Mein Beitrag ist deshalb eher ein Referat mit informativem Charakter als eine Bibelarbeit erbaulicher Art. Im schlimmsten Fall führt das zu Enttäuschungen, im besten Fall zeigt sich am Ende, dass auch das Informative erbaulich sein kann. Ich beginne mit einigen allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Ökonomie und Gnade und wende mich dann anhand ausgewählter Texte dem Zehnten im Alten und am Schluss auch im Neuen Testament zu. Am Ende stehen einige Schlussfolgerungen, die hoffentlich zum Nachdenken und zum Gespräch anregen.

1. Ökonomie und Gnade: Der Zehnte zwischen Gabe und Abgabe Die Rede von den »Ökonomen der Gnade Gottes« wirkt auf den ersten Blick wie ein Paradox, besonders wenn wir den modernen kapitalistischen Begriff von Ökonomie zugrunde legen. Denn der homo oeconomicus der modernen Wirtschaftswissenschaften ist »das rationale Individuum, das aus ganz egoistischen Motiven heraus danach strebt, seinen Nutzen zu maximieren«2. Ökonomisch zu handeln heißt, unter den Bedingungen knapper Ressourcen 1 2

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Der folgende Beitrag ist die überarbeitete Version eines Vortrages, der bei der Ostdeutschen Jährlichen Konferenz der Evangelisch-methodistischen Kirche im Jahr 2012 gehalten wurde. T. Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, 29 (vgl. 23.27f.; 321–338 u.ö.).

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(Zeit, Arbeitskraft, Rohstoffe) bei möglichst umfassender Information im Wettbewerb mit anderen den größtmöglichen Nutzen für sich zu erzielen. In diesem Sinne ist die Gnade völlig unökonomisch, eine »Anomalie« (Sedláč ek): Sie ist im Übermaß vorhanden und niemals knapp, sie folgt nicht den Gesetzen des Tauschs und des Wettbewerbs, sie lässt sich nicht kaufen, sondern nur empfangen. Sie realisiert sich im Modus der freien Gabe und des Geschenks, nicht dem der verpflichtenden Abgabe. Man stelle sich vor, jemand wollte für ein Geschenk bezahlen. Er würde das Wesen des Geschenks verkennen und obendrein den Schenkenden beleidigen. Stehen also Ökonomie und Gnade unverbunden nebeneinander wie zwei getrennte Sphären? Dagegen spricht schon, dass die ältesten uns bekannten Wirtschaftsformen Gabenwirtschaften waren. Sie beruhten auf wechselseitigen Transaktionen, die nicht im strengen Sinne ein Tausch von Äquivalenten waren. Stutzig macht auch, dass Jesus in seinen Gleichnissen vom Reich Gottes mit Vorliebe in ökonomischen Kategorien spricht, auch wenn diese Kategorien dabei mitunter kräftig durcheinandergewirbelt werden. Offensichtlich kennt die Ökonomie Elemente des gnadenhaften Geschenks (noch in der Schwundform des Werbegeschenks), und umgekehrt hat die Gnade einen Hang zum Ökonomischen. Der tiefere Grund dafür liegt in unserer geschöpflichen conditio humana, die Materialität und Spiritualität gleichermaßen umfasst. In der Zeit sehnen wir uns nach der Ewigkeit, als Endliche nach der Unendlichkeit. Wir leben vom Brot des Lebens, aber wir können nicht leben ohne das tägliche Brot, das aus der Erde wächst. Die Fülle trifft uns stets in einer Situation des Mangels, wir empfangen die unendliche Gnade nie anders als in irdenen, zerbrechlichen Gefäßen, also unter den Bedingungen der Knappheit. Darum treten Gnade und Ökonomie notwendigerweise in ein intimeres Verhältnis, wenn es die Gnade mit der Welt zu tun bekommt und die Welt mit der Gnade. Andernfalls liefen wir Gefahr, eine weltlose Gnade einer gnadenlosen Welt vorzuenthalten – eine der großen Versuchungen christlicher und zumal protestantischer Kirche und Theologie. Man kann diese spannungsvolle Beziehung von zwei Seiten her noch ein wenig näher in den Blick nehmen: 1. Zum einen gibt es so etwas wie eine Ökonomie der Gnade, d. h. eine der Gnade eigene Ökonomie. Denn auch wenn das Geschenk nicht der Logik des Tauschs gehorcht, ist es doch auf Resonanz bedacht. Die Gabe will empfangen werden im Modus der Dankbarkeit, und diese Dankbarkeit wird selbst zur Gabe (gewissermaßen als Äquivalent des Preises) oder drängt zur Gegen-

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gabe. Auf diese Weise mündet auch die Transaktion per Gabe in einen Gabenkreislauf.3 Mit anderen Worten: Die Gnade entwickelt eine ihr eigene Form von Ökonomie. Sie wird bewirtschaftet und verwaltet, so wie ein Haushalt verwaltet wird. Hinzu kommt, wie wir sahen, in theologischer Perspektive ein Zweites: Die unendliche Gnade Gottes trifft auf endliche, begrenzte Empfänger. Das bedeutet: Sie wird nicht allen in gleicher Weise zuteil, sondern jedem und jeder nach dem je persönlichen Maß. Darum gibt es auch hier eine Ökonomie, ein Wirtschaften und Haushalten: »Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei [oder: bunten] Gnade Gottes« (1Petr 4,10). Zur Buntheit der Gnade gehört unabdingbar die Verschiedenheit ihrer Zuteilungsraten und Zuteilungsformen. Röm 12,3 spricht vom »Maß des Glaubens«. 2. Umkehrt können wir aber auch von einer Ökonomie der Gnade sprechen, d. h. einer von Gnade bestimmten Ökonomie. Ökonomisches Handeln im Sinne von Tauschbeziehungen ist der Gnade gegenüber zunächst einmal indifferent und in diesem Sinne gnadenlos. Es funktioniert unter den Bedingungen verlässlicher Rahmenbedingungen und gleicher oder zumindest vergleichbarer Voraussetzungen. Weil diese Bedingungen aber niemals zur Gänze erfüllt sind, wirkt es stets diskriminierend oder exkludierend, es produziert Gewinner und Verlierer – einmal abgesehen davon, dass Tauschbeziehungen durch Bestechung, Übervorteilung oder Gewalt korrumpiert werden können. Es bedarf deshalb eines Ausgleichs, also einer Ökonomie der Gnade, die auch denen gibt, die nichts oder wenig zu tauschen haben. Dass jedes uns bekannte Wirtschaftssystem auf die eine oder andere Weise einen solchen Mechanismus kennt, ist das sicherste Indiz für die Insuffizienz des rein ökonomischen Prinzips. Allerdings unterscheiden sich die Mechanismen des Ausgleichs erheblich: Wir kennen verschiedene Formen und Grade des Gemeineigentums, der Umverteilung durch Steuern und andere Abgaben, die legitime Aneignung fremden Gutes in Notsituationen (z.B. von Thomas von Aquin vertreten!), der Armenfürsorge bis hin zum liberalen Nachtwächterstaat, der den sozialen Ausgleich weitgehend der Initiative gesellschaftlicher Gruppen und einzelner Wohltäter überlässt, wie von Peter Sloterdijk im Blick auf die Finanzierung des Sozialstaates gefordert.4 3 4

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Klassisch dazu M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 91990 (stw). Vgl. P. Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: FAZ vom 10.6.2009. Sloterdijk fordert darin die Revolutionierung des aus seiner Sicht unplausiblen Konstrukts des umverteilenden Steuerstaates durch »eine von Einsicht und generösem Beitragswillen getragene aktive Gebe-Leistung zugunsten des Gemeinwesens« von Seiten der Privilegierten. Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung die Entgegnung von A. Honneth: Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe, in: DIE ZEIT vom 24.9.2009.

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Wie mir scheint, steht der Zehnte genau auf der Grenze zwischen beiden Formen der Ökonomie. Theologisch betrachtet hat er den Charakter einer freien, ungeschuldeten Gabe, die aus Dankbarkeit erbracht wird. Unter ökonomischen Gesichtspunkten aber hat er die Form einer verpflichtenden Abgabe, die dem gesellschaftlichen Ausgleich dient. Der Zehnte gehört zur Ökonomie der Gnade und zur Ökonomie der Gnade gleichermaßen. Das macht seine Stellung prekär, aber auch in besonderer Weise interessant. Schauen wir uns also die wichtigsten biblischen Texte ein wenig genauer an. Wir beginnen mit Gen 14, der Urszene des Zehnten im Alten Testament.

2. Die Urszene: Abraham im Königstal Der Zehnte wird früh im kanonischen Leseablauf der hebräischen Bibel verankert: Abraham, der Stammvater Israels, gibt Melchisedek, dem geheimnisvollen Priesterkönig von Salem, den Zehnten, nachdem der ihn mit Brot und Wein bewirtet und ihn im Namen des »höchsten Gottes (el eljon), des Schöpfers von Himmel und Erde«, gesegnet hat. Die Szene ist Teil einer Erzählung, die sich im Kontext der Abrahamgeschichte inhaltlich, form- und quellenkritisch merkwürdig isoliert ausnimmt, wie zahlreiche Exegeten betont haben.5 Sie zeigt Abraham als Gegner von fünf Großkönigen des Ostens (und Nordens), die eine Rebellion von vier lokalen Stadtkönigen in der Umgebung des Toten Meeres niedergeschlagen und mit der Habe der besiegten Städte auch Abrahams Neffen Lot und dessen Familie deportiert haben. An diesem Punkt wird die große Völkergeschichte mit der Familiengeschichte Abrahams verzahnt. Abraham setzt dem abziehenden Heer der Großkönige mit seinen 3186 hausgeborenen Knechten und seinen Verbündeten Aner, Eschkol und Mamre Richtung Norden nach, schlägt das übermächtige Völkerheer in die Flucht und erbeutet den geraubten Besitz samt Lot und seiner Familie.

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Bei näherem Zusehen zeigt sich allerdings, dass das Kapitel sehr wohl mit dem Kontext verklammert ist. So bildet der Hinweis von Gen 14,12, dass Lot in Sodom »wohnte«, die Brücke zwischen Gen 13,12 (»und er schlug seine Zelte auf bis nach Sodom«) und der Sodomgeschichte Gen 18–19, die Lots Wohnen in Sodom voraussetzt. In Melchisedek erfüllt sich exemplarisch die Verheißung, dass derjenige, der Abraham segnet, selbst gesegnet wird (Gen 12,3). Die Zahl 318 entspricht dem Zahlenwert des Namens Elieser (Gen 15,2) – eine frühe Form der Gematrie (Deutung von Worten durch Zahlen). Auch darin zeigt sich, dass Gen 14 im Blick auf den Kontext verfasst wurde.

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Auf dem Rückweg kommt es zu einer denkwürdigen Doppelbegegnung Abrahams mit zwei Königen im Tal Schawe, dem »Königstal« unweit von Jerusalem.7 Zunächst zieht der König von Sodom, einer der geschlagenen Koalitionäre, Abraham entgegen (14,17). Doch noch bevor er das Wort ergreifen kann, betritt ein zweiter König die Szene: Melchisedek, »König von Salem« und »Priester des höchsten Gottes (el eljon)«, bringt Brot und Wein heraus. Er segnet den siegreichen Abraham im Namen seines Gottes, des Schöpfers von Himmel und Erde, und stimmt dessen Lob an, worauf Abraham ihm den Zehnten »von allem« gibt. Kaum zufällig ist Melchisedek der zehnte König in unserer Erzählung. Ich kann auf die komplexen religionsgeschichtlichen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, hier nicht eingehen. Sie lohnten ein eigenes Referat, denn die Melchisedek-Episode ist nicht nur die Urszene des Zehnten, sie stellt auch den ersten interreligiösen Dialog der biblischen Geschichte dar. Hier nur so viel: Der Name Melchisedek bedeutet »mein König ist (der Gott) Sedek« oder auch »mein König (d. h. mein Gott) ist gerecht«. Im ersten Fall wäre Sedek eine Gottesbezeichnung, im zweiten »mein König«. Salem steht wahrscheinlich für das vorisraelitische Jerusalem, und El Eljon, eine auch aus den Texten von Ugarit bekannte Gottesbezeichnung, ist der Stadtgott von Jerusalem. Was besagt dieser Text über den Zehnten? Ich will auf drei Aspekte aufmerksam machen: 1. Fragt man nach der pragmatischen Absicht der Melchisedek-Szene, dann kann man darin eine Legitimation für die Abgabe des Zehnten an den Jerusalemer Hof oder den Tempel finden. So deutete z. B. Gerhard von Rad die Szene als Appell an die zahlungsunwillige judäische Landbevölkerung, gefälligst ihre Abgaben an den Hof in Jerusalem zu leisten. Wenn schon der Stammvater Abraham dem vorisraelitischen Vorgänger Davids den Zehnten gezahlt hat, wieviel mehr sollten das seine Nachfahren gegenüber dem davidischen König selbst tun! Neuere Auslegungen, die Gen 14 (mit Recht) für einen Midrasch aus später Zeit halten, beziehen die Szene in ähnlicher Weise auf die levitische Tempelsteuer der nachexilischen Zeit. Melchisedek verkörpert dann das Jerusalemer Priestertum. Dafür könnte auch der Namensbestandteil Sedek (zädäq) sprechen, der an die Bezeichnung der Jerusalemer Priester als Zadokiden anklingt. 2. Eine solche pragmatische Deutung mag zutreffen, aber sie erübrigt es nicht, den Text auf seine theologische Aussage hin zu befragen. In dieser Perspektive erscheint der Zehnte der Beute, den Abraham gibt, als Antwort auf Melchisedeks Einladung zum Mahl und den Segenszuspruch im Namen des 7

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Man sollte diese Doppelbegegnung nicht vorschnell literarkritisch auflösen, will man eine entscheidende Pointe des Textes nicht verpassen (s. unten).

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höchsten Gottes, der als Schöpfer des Himmels und der Erde apostrophiert wird. Brot und Wein sind dabei wohl nicht als ein Bundesmahl zu verstehen, sondern zunächst einmal schlicht als ein Zeichen königlicher Großzügigkeit und Gastfreundschaft (in dieser Hinsicht liegt die spätere christliche Deutung auf das Abendmahl durchaus im Gefälle des Textes). So verstanden ist der Zehnte keine Abgabe, sondern eine freie Gabe, mit der Abraham auf die großzügige Einladung und den Segen Melchisedeks antwortet. Abraham gibt als Gesegneter! Zugleich wird die Gabe des Zehnten durch die Bezeichnung des höchsten Gottes als Schöpfergott schöpfungstheologisch begründet – ein Zug, den die Exegeten in ihrer Begeisterung, eine kanaanäische Gottesbezeichnung in der Bibel gefunden zu haben, oft übersehen. Obwohl es im unmittelbaren Zusammenhang um die Kriegsbeute geht, wird der Zehnte auf diese Weise transparent für die Gabe der Erträge des Landes, und er wird zugleich mit dem Schöpfungsbericht in Gen 1–2 verknüpft. Abraham gibt den Zehnten, weil er selbst aus dem Segen des Schöpfers lebt und von ihm zehrt. 3. Eine letzte Pointe ergibt sich aus der Fortsetzung der Szene. Denn nun tritt der König von Sodom auf den Plan und fordert von Abraham seine entführten Leute zurück. Abraham aber gibt ihm alles zurück – mit Ausnahme des Anteils seiner Verbündeten und der Wegzehrung für seine Knechte. Er bekräftigt dies mit einem Schwur beim »höchsten Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde«, den er nun ausdrücklich mit JHWH, dem Gott Israels identifiziert.8 Nicht einmal einen Faden oder Schuhriemen der aus Sodom entwendeten Beute will er behalten, damit der König von Sodom nicht sagen könne, er habe Abraham »reich gemacht« (V. 23; im Hebräischen wird hier kaum zufällig die mit ma'aser »Zehnter« verwandte Wurzel 'sr hif. »reich machen« benutzt!). Das Verhalten des Königs von Sodom kontrastiert scharf mit der Großzügigkeit Melchisedeks. Während jener gibt, fordert dieser. Abraham aber gibt auch jetzt, sogar mehr als gefordert, und er beruft sich dafür auf Gott den Schöpfer. Vielleicht darf man das so deuten: Der Gesegnete wird befähigt, auch dem Habgierigen mit Großmut zu begegnen. Abrahams Großzügigkeit lässt sich auch durch die Kleinlichkeit des Königs von Sodom nicht klein kriegen. Unter dem Segen des Schöpfers wandelt sich auch die erzwungene Abgabe in eine Gabe. Allerdings hat die Großzügigkeit dort eine Grenze, wo die Belange anderer berührt werden. Die Wegzehrung der Knechte und der Anteil der Verbündeten bleibt ausgenommen. Großzügig sein, ja! Aber nicht auf Kosten anderer, auf Kosten der eigenen Familie, und vielleicht darf ich hinzufügen: auch nicht auf Kosten der eigenen Gesundheit.

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Anders die Septuaginta, der diese Identifikation JHWHs mit dem Stadtgott Melchisedeks offenbar zu weit ging.

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3. Die soziale Transformation: Das deuteronomische Gesetz Zu einer regelrechten Revolutionierung des Zehnten kommt es im deuteronomischen Gesetz9, das in seiner Urform als Programmschrift der Reform des Königs Joschija im Jahr 622 v. Chr. diente. Um diesen Umbruch zu verstehen, müssen wir uns kurz den historischen Hintergrund verdeutlichen: Im vorexilischen Israel fungierte der Zehnte wie in vielen Kulturen der Umwelt wahrscheinlich als eine Staatssteuer auf agrarische Erträge, die dem König (1Sam 8,15.17) oder bestimmten Tempeln und Heiligtümern zukam. Amos 4,4 erwähnt die Entrichtung des Zehnten ans Heiligtum von Bethel, das Reichsheiligtum des Nordreichs (vgl. Am 7,10ff). Ähnliches gilt wahrscheinlich auch für Juda, wie ein Ostrakon, d.h. eine beschriftete Tonscherbe, aus dem 8. Jh. v. Chr. zeigt. Vielleicht sind auch die zahlreich gefundenen Henkelaufschriften »für den König« in diesem Sinne zu deuten. Gen 28,22 für das Nordreich und je nach Datierung auch Gen 14,18–20 für Juda könnten der Legitimation dieser Praxis gedient haben. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die radikale Neuordnung des Zehnten im dtn. Gesetz, dessen Kernkorpus durch die Bestimmungen zum Zehnten in Dtn 14,22–29 und 26,12–15 gerahmt ist. Der Zehnte wird hier zur tragenden Säule eines umfassenden Ethos geschwisterlicher Solidarität. Diese Transformation kommt in mehrfacher Hinsicht einer Abschaffung des Zehnten in seiner traditionellen Form als Staatssteuer gleich: 1. Der Zehnte ist nicht mehr als Abgabe an den Hof oder ein Heiligtum zu entrichten, er wird vielmehr in zwei von drei Jahren von den Familien am zentralen Heiligtum in Jerusalem selbst verzehrt. Das gemeinsame Mahl ist Ausdruck der Gottesfurcht, d.h. der unbedingten Loyalität zum Gott der Befreiung, und es dient zugleich der Festigung der Identität Israels als einer solidarischen Gemeinschaft (14,23; vgl. 12,17). Aus der Abgabe für JHWH wird ein freudiges Mahl vor JHWH, an dem wahrscheinlich auch die abhängigen Klienten der Familie teilnahmen (vgl. 12,6ff; 16,10ff). 2. Damit verbunden ist eine »Entsakralisierung« der Güter: Wenn der Weg zum Heiligtum zu weit ist, können die Erträge am jeweiligen Wohnort in Geld umgesetzt werden, mit dem dann Nahrung für das gemeinsame Mahl am zentralen Heiligtum gekauft werden kann. Dabei wird ausdrücklich betont, man solle all das kaufen, was das Herz bzw. der Gaumen begehrt (14,26)! Der Zehnte wird zu einem Mahl, das auch einem selbst zugutekommt.

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Das ursprünglich selbstständige deuteronomische Gesetz bildet den Kern des Buches Deuteronomium. Es umfasste den Grundbestand von Dtn 12–26, dazu wahrscheinlich einen Rahmen, der mit dem Schema Israel in Dtn 6,4f. einsetzte und mit Fluch- und Segenbestimmungen endete (vgl. Dtn 27–28).

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3. In jedem dritten Jahr aber sollen die Ernteerträge am Wohnort selbst abgeliefert und eingelagert werden. Sie dienen nun in vollem Umfang der Versorgung der Armen, d.h. der Witwen und Waisen, jetzt ergänzt um die verarmten Leviten und die Fremden (14,28f). Auf diese Weise wird der Zehnte zum Grundpfeiler einer frühen Form der Sozialversicherung für alle von Armut und Verschuldung Bedrohten, er ist mit anderen Worten »die erste bekannte Sozialsteuer« (Frank Crüsemann). Wie von den Propheten eingeklagt, greifen Kult und Ethos, Gottesdienst und soziale Gerechtigkeit unmittelbar ineinander (vgl. Hos 6,6). Wie wichtig diese Bestimmung war, zeigt sich daran, dass gerade das dritte Jahr ausdrücklich als »Zehntjahr« bezeichnet wird (26,12). 4. Nach Dtn 26,12–15 ist die Abgabe des Zehnten im dritten Jahr mit einem Bekenntnis verbunden, in dem der Geber ausdrücklich gelobt wird, den Zehnten für die Armen gegeben und nicht zu kultischen Zwecken missbraucht zu haben. Dem Gelöbnis folgt die Bitte an Gott, Israel und sein Land vom Himmel her zu segnen, also ihm Fruchtbarkeit zu verleihen. Auch das Dtn betont also die enge Korrelation von Gabe und Segen. Offenbar soll hier der Tendenz gewehrt werden, den Zehnten einfach einzubehalten und selbst zu verzehren (vgl. auch 12,17). 5. Der Zehnte in beiderlei Form ist Teil eines Siebenjahreszyklus, der mit dem Erlassjahr (schemittah) im siebten Jahr gipfelt (vgl. 15,1ff). Später wurde dieser Siebenjahresrhythmus mit dem levitischen Zehnten aus Num 18 kombiniert. Fassen wir zusammen: Das Dtn gibt dem Zehnten in dreifacher Weise einen neuen Sinn. Er dient der Bindung des Einzelnen an das Heiligtum und damit an Gott selbst, der Stärkung der Gemeinschaft im gemeinsamen Mahl und der Pflege eines geschwisterlichen Solidarethos der Option für die Armen. Theologisierung und Sozialisierung des Zehnten gehen Hand in Hand. Darin ist das Dtn bis heute wegweisend. Die Freude des Empfangens und der Gemeinschaft vor Gott und die Sorge für die Armen gehören untrennbar zusammen. Kontemplation bedeutet hier gerade nicht Exklusion. Die zur Mahlfeier versammelte Gemeinde praktiziert »radikale Gastfreundschaft« (R. Schnase) gegenüber denen, die (noch) draußen stehen. Und noch etwas scheint mir bemerkenswert zu sein: Das Genießen wird nicht nur hoffähig, sondern kultfähig! Eigener Genuss und Sorge um die Anderen bilden keinen Gegensatz wie so oft in der protestantischen Verzichtsethik, sie bedingen einander. Die selbst (im Wortsinne) vom Segen zehren, werden Segensträger für andere. »Wie also die Armen von Gottes Zehnt leben (vgl. Mt 25,40; 1Joh 3,17), so bleiben auch die wohlhabenden Spender von Gott Abhängige und Empfangende (vgl. Lk 18,9–14). Dies bewusst zu halten, ist wohl der tiefste

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Sinn des ›vor Jahwe‹ selbst Genossenen als auch der für die Armen geleisteten dtn ›Kirchensteuer‹.«10

4. Der Zehnte in priesterlichen Gesetzen der nachexilischen Zeit In der Perserzeit erfährt die Konzeption des Zehnten eine grundlegende Veränderung. Die staatliche Steuer ist nun an den persischen Großkönig zu leisten (Neh 5,4), während der Zehnte der Versorgung des Kultpersonals am Jerusalemer Tempel dient. Dies belegen vor allem zwei Texte aus den priesterlichen Gesetzen der Tora. Lev 27,30–32 regelt die Abgabe von Getreide, Früchten, Rindern und Kleinvieh an das Heiligtum allgemein, Num 18,21–32 spezifiziert die Empfänger: Der Zehnte geht an die Leviten, die ihrerseits den Zehnten vom Zehnten zur Versorgung der Priester an den Priester Aaron, d.h. an den Hohenpriester geben sollen. 1. Lev 27,30–33 ist ein Anhang zum Gesetz über Gelübde11 von Geld (als Ersatz für Menschen), Tieren, Häusern, Grundstücken, Erstlingen und Gebanntem, der die Tarife für die vorgesehenen Ersatzzahlungen festlegt.12 Der Zehnte erscheint dabei als Naturalsteuer auf Ernteerträge und Herden für JHWH, d.h. faktisch für den Tempel und die Priesterschaft. Bei den Tieren der Herde ist jedes zehnte nach dem Zufallsprinzip abzuzählen und für JHWH auszusondern; es kann nicht ausgewechselt oder ausgelöst werden. Bei den pflanzlichen Erträgen gibt es dagegen die Möglichkeit der Ersatzzahlung mit 20% Aufschlag (wie bei anderen Gelübden). Wenn man sich den logistischen Aufwand verdeutlicht, den dies erfordert, versteht man, warum Tempel seit sumerischer Zeit auch Wirtschaftszentren waren (Thomas Staubli spricht salopp vom »fund-raising altorientalischer Tempel«). Die Gaben dienten dem Unterhalt des Tempels und der Priester und darüber hinaus dem Aufbau eines Tempel- oder Staatsschatzes für besondere Notlagen wie feindliche Belagerungen (vgl. z.B. 2Kön 12). In theologischer Perspektive sind Gelübde und Zehntabgabe nicht Tauschgeschäft oder Ausdruck eines Verdienstgedankens, sondern Inbegriff einer Gottesbeziehung, die alles umfasst, was in der Verfügungsgewalt des Israeliten steht. 10 11

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G. Braulik, Deuteronomium 1–16,17 (NEB), Würzburg 1986, 110. Bei einem Gelübde versprach der Gelobende für den Fall der Rettung aus einer bedrängenden Krise ein Dankopfer (2Sam 15,7–12; Ps 22,26f; 107 u.a.), den Zehnten (Gen 28,20f), in Ausnahmefällen auch Menschen (Num 21,1–3; Ri 11,30ff, im Sinne der Weihe für JHWH 1Sam 1,11.27f). Ausgenommen vom Gelübdeopfer ist die Erstgeburt, weil sie ohnehin JHWH gehört; vgl. Ex 13,2.11–13; 22,28f).

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2. Num 18 bestimmt die Verantwortung der Priester und Leviten (18,1– 7) und regelt ihre Versorgung durch ein differenziertes System von Abgaben. Dazu dienen die essbaren Opferanteile, die Weihegaben (terumah) und Darbringungsopfer (tenufah), die Erstlingsgaben der Agrarprodukte (Fett, Öl, Most, Getreide), die Erstlingsfrüchte (von Getreide und anderen Feldfrüchten), alles dem Heiligtum Geweihte (chäräm), schließlich die Erstgeburt von Tieren und (in ausgelöster Form) Menschen (18,8–19). Die Leviten aber, der niedere Klerus am Heiligtum, erhalten anstelle des erblichen Landanteils (nachalah) den Zehnten (18,20–24), von dem sie ihrerseits wiederum den Zehnten an die Priester abgeben müssen (18,25–32). Auf zwei Aspekte dieser Bestimmungen sei besonders aufmerksam gemacht: a) Die grundsätzliche Aussage, JHWH selbst sei anstelle des Landes Anteil (chäläq) und Erbe (nachalah) der Leviten (18,20), steht unmittelbar neben dem Hinweis, der Zehnte sei ihr Erbteil für ihre Arbeit (18,21.24). Mit anderen Worten: Die umfassende Gottesbeziehung konkretisiert sich in der Gabe des Zehnten durch das Volk und normiert sie zugleich. Wie auch an anderen Stellen lassen sich ganzheitliche Hingabe an Gott und praktische Regelungen für den Alltag nicht gegeneinander ausspielen. b) Ein interessantes Detail ist der Adressatenwechsel zwischen Num 18,20– 24 und 18,25–32. Während die Bestimmungen über die Erhebung des Zehnten für die Leviten an Aaron, also die Priester gerichtet ist, wird die Regelung der Abgaben der Leviten an die Priester an Mose adressiert (institutionell gesprochen: an das Jerusalemer Obergericht). Darin spiegelt sich ein sorgfältiger Umgang mit einem drohenden Interessenskonflikt. Die Priester sollen nicht selbst über ihre Alimentierung durch die Leviten bestimmten. Diese wird vielmehr von einer dritten Instanz (Mose) geregelt. 3. Konkretionen dieser priesterlichen Bestimmungen begegnen uns im Nehemiabuch: Nach Neh 10,38f. sammeln die Leviten den Zehnten unter priesterlicher Aufsicht im Land ein und geben den Zehnten des Zehnten anschließend an den Tempel, wo er unter Aufsicht in Vorratskammern eingelagert wird (Neh 12,44; 13,5.12). Nach 2Chr 31 wurde dieses Versorgungssystem bereits von König Hiskija eingerichtet.

5. Ungeteilte (Hin-)Gabe: Maleachi 3,6–12 Einen Einblick in die praktischen Probleme der Zehntabgabe und deren theologische Deutung in der späteren nachexilischen Zeit gibt uns das MaleachiBuch in Mal 3,6–12. Der Text hat die für Maleachi typische Form eines Diskussionswortes, in dem der Prophet eine göttliche Botschaft im kritischen

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Gespräch mit Einwänden der Adressaten entfaltet.13 Im Hintergrund steht das doppelte Besteuerungssystem der nachexilischen Zeit mit Abgaben an den persischen Staat (wohl an regionale Schatzhäuser) und an den lokalen Tempel in Jerusalem. Die wirtschaftliche Situation scheint schwierig zu sein, aber nicht mehr so katastrophale wie zur Zeit Nehemias (vgl. Neh 5), auf die Maleachi vermutlich bereits zurückblickt. Zu Beginn konfrontiert der Prophet die Unveränderlichkeit und Treue JHWHs zu seinem Volk mit der fortgesetzten Untreue der Jakobsöhne, d.h. Israels, gegenüber den (kultischen) Satzungen JHWHs (»ich« – »ihr«). Er verbindet damit eine Mahnung mit bedingter Verheißung: Umkehr des Volkes zu JHWH würde Umkehr JHWHs zum Volk bedeuten. Doch die Adressaten sind sich keiner Schuld und keiner Notwendigkeit zur Umkehr bewusst (»Inwiefern sollten wir umkehren?«). Auch als der Prophet seinen Vorwurf zuspitzt (»Darf ein Mensch Gott berauben. Ja, ihr beraubt mich!«), bleibt das Volk uneinsichtig: »Inwiefern haben wir dich beraubt?« Jetzt kommt der Prophet zur Sache: Die Beraubung Gottes besteht in der mangelnden Gabe des Zehnten und der Zehntelabgabe. Im Hintergrund steht die priesterliche Konzeption aus Num 18, wonach der Zehnte an die Leviten zu zahlen ist, die ihrerseits den Zehnten des Zehnten als Abgabe (terumah) an die Priester zu entrichten haben. Dabei klingt an, dass die Adressaten trotz des Fluchs, der auf ihnen lastet, an ihrer laxen Praxis festhalten. Der letzte Abschnitt (V. 10–12) wendet die Anklage zu einer Mahnung, den vollen Zehnten ins Vorratshaus, d.h. wohl in die entsprechenden Kammern des Tempels, zu bringen, damit dort ausreichend Nahrung (für die Leviten und Priester) vorhanden sei. In einer merkwürdigen, in dieser Form einmaligen Wendung fordert JHWH die Israeliten auf, ihn zu »prüfen«, d.h. die Probe aufs Exempel zu machen. Tun sie das und entrichten den vollen Zehnten, dann wird Gott ihnen seinen Segen nicht vorenthalten. Er wird vom Himmel regnen lassen und Segen im Übermaß ausschütten. Er wird die Schädlinge (»Fresser«), die jetzt noch die Felder und Weinberge verheeren, verschwinden lassen. Das ganze Land wird in neuer Fruchtbarkeit erblühen, so dass selbst die Völker Israel glücklich preisen werden. Stoßen wir hier auf das berüchtigte »do ut des«-Prinzip: Wenn ihr gebt, dann gebe ich auch? Wird Gott zum Tauschpartner an einer Börse menschlicher Leistungen degradiert? Oder dient der ganze theologische Aufwand lediglich einem raffinierten »Priesterbetrug«, wie ihn die Aufklärer mit Vorliebe aufs Korn genommen haben? Geht es letztlich nur um die religiös sanktionierte Sicherung der eigenen Pfründe? 13

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Vgl. Einzelheiten bei A. Meinhold, Maleachi (BKAT XIV/8), Neukirchen-Vluyn 2006, 288–344.

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Diese Einwände sind ernst zu nehmen. Und doch verkennen sie die Pointe des Textes. Der oft mit einem antijüdischen Unterton vorgebrachte Eindruck, hier werde die Gottesbeziehung auf ein einfaches »ich gebe, damit du gibst« reduziert, verkennt die Ordnung der Ereignisse: Der Segen kann nur Folge der Gabe des Menschen sein, weil er zuvor und immer schon dessen Voraussetzung ist. Der treue Gott, der seinen Segen gibt, wartet auf Antwort, damit sich der Kreislauf des Segens schließen kann. Anders gesagt: Zum Geben kann nur aufgefordert werden, weil Gott zuvor gegeben hat. Wer Gott gibt, gibt, was Gott schon immer gehört (vgl. den Hinweis auf die Selbigkeit und Identität JHWHs V. 6). Und der zweite Einwand? Auch diese Gefahr gibt es: Sagen wir »Hingabe an Gott« und meinen insgeheim die Versorgung der Pastoren? In der Tat mag die Sicherung der Versorgung von Priestern und Leviten bei Maleachi eine Rolle spielen. Aber im Kern geht es um etwas anderes, nämlich um die Erhaltung des Heiligtums als des Ortes der intensivsten Gottesbegegnung. Darum stehen die Bediensteten des Heiligtums unter einer hohen Verpflichtung. Sie vermitteln das Heilige in ihre Umgebung hinein – auf Leben und Tod (vgl. Num 18,1–7). Deshalb und nur deshalb gebührt ihnen eine angemessene Entlohnung. Anders und unter anderen Bedingungen gesagt: Die Bereitschaft zu geben, hängt am Bewusstsein der besonderen Verantwortung und Würde des priesterlichen Dienstes als Dienstes im »Machtbereich des Heiligen« (Manfred Josuttis). Haben wir ein Bewusstsein für die »Heiligkeit« eines solchen Dienstes? Für die Würde, aber auch die Verantwortung der Aufgabe, anderen das Wort Gottes zu sagen und sie einzuführen in den Machtbereich des Heiligen? Vielleicht sind Fragen der Zahlungsmoral in einem tieferen Sinne Fragen der Heiligung, der Würdigung dessen, was im priesterlichen Dienst aller Gläubigen, aber in besonderer Weise im Dienst der eigens dafür Eingesetzten geschieht.

6. Ausblick: Der Zehnte im Neuen Testament Und das Neue Testament? Ist der Zehnte hier nicht passé, überholt und abgetan? Leben wir nicht unter der Gnade und nicht mehr unter dem Gesetz? So einfach ist es nicht, wie ein kurzer Blick ins Neue Testament zeigen kann. 1. In der synoptischen Jesusüberlieferung wird der Zehnte an zwei Stellen erwähnt: Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verzehntet die Minze und den Anis und den Kümmel, aber ihr habt die gewichtigeren Dinge der Tora beiseitegelassen: das Recht und die Barmherzigkeit und den

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Glauben. Dies hättet ihr tun und jenes nicht lassen sollen. (Mt 23,23 par. Lk 11,42)

Jesus steht hier ganz in der Tradition der alttestamentlichen Propheten. Er geißelt den Kontrast zwischen der akribischen Erfüllung der Bestimmungen zum Zehnten und der Vernachlässigung des weitaus Wichtigeren in der Tora: Recht, Barmherzigkeit und Glaube. Wohlgemerkt, beides ist Inhalt der Tora! Es geht also weder um eine Abschaffung des Zehnten noch gar um die der Tora. Ähnliches gilt für die Beispielgeschichte vom Pharisäer und vom Zöllner in Lk 18,9–14: Nicht dass der Pharisäer fastet und den Zehnten gibt (V. 12), kreidet Jesus ihm an, sondern dass er sich über den sündigen Zöllner erhebt und sich selbst allzu selbstverständlich und selbstsicher auf der Seite des Guten verortet. Es ist wohl wahr: Jesus fordert heraus zu einem freien, souveränen Umgang mit der Tora, der sich an Recht, Barmherzigkeit und Glaube als deren eigentlicher Intention bemisst. Aber der souveräne Umgang mit der Tora bedeutet nicht ein Zurückfallen unter ihr Niveau. Was für die Antithesen der Bergpredigt gilt, gilt auch hier: Barmherzigkeit überschreitet die Grenzen des Rechts, aber sie unterschreitet sie niemals. Liebe ist mehr als Recht, aber niemals weniger (vgl. Apg 4,32ff. und die Gegengeschichte 5,1ff). So bemerkt John Wesley im Blick auf den Pharisäer in Lk 18,12: Wer von uns ist so reich an guten Werken wie er? Wer von uns gibt Gott ein Fünftel14 von all seinem Vermögen, und das vom Grundbesitz wie vom Zugewinn? Wer von uns gibt im Jahr von (angenommen) 100 Pfund zwanzig für Gott und die Armen; von 50 Pfund zehn und so weiter mit größerem oder kleinerem Betrag? Wann wird unsere Gerechtigkeit im Gebrauch aller Gnadenmittel, im Befolgen aller Gebote Gottes, im Meiden des Bösen und Tun des Guten an die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer wenigstens heranreichen?15

2. Außerhalb der Evangelien begegnet der Zehnte im Neuen Testament nur noch an einer, ebenso gewichtigen wie schwierigen Stelle, nämlich im Rahmen der Begründung des hohenpriesterlichen Amtes Jesu Christi »nach der Ordnung Melchisedeks« in Hebr 7 (vgl. 5,6.10; 6,20). Dieses Kapitel würde

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Wesley rekurriert hier auf die weiter unten beschriebene Praxis des zweifachen Zehnten für die Priester und Leviten und für die Armen. J. Wesley, Predigt 25. Über die Bergpredigt unseres Herrn V, in: ders., Lehrpredigten, übersetzt und herausgegeben von M. Marquardt, Göttingen 2016, 358–373, dort 370. Zusammenfassend heißt es weiter: »Wer du auch bist, der du den heiligen und ehrwürdigen Namen eines Christen trägst, schau zuerst, dass deine Gerechtigkeit hinter der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht zurücksteht. Sei du nicht »wie die anderen Leute«. Wage es, allein zu stehen, entgegen dem Beispiel, einzig gut!« (a.a.O. 371f).

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eine eigene Bibelarbeit erfordern. Ich beschränke mich auf einige knappe Hinweise.16 Der Verfasser des Hebräerbriefes unternimmt hier den kühnen Versuch, die Schrift im Resonanzraum der Christuserfahrung zu lesen. In diesem Rahmen wendet er Regeln jüdischer Schriftauslegung an, wie wir sie aus Talmud und Midrasch kennen. Im Zusammenhang von Hebr 7 geht es um den Erweis des vorläufigen, provisorischen Charakters des levitischen Priestertums gegenüber dem ewigen Priestertum Jesu. Dabei rekurriert der Verfasser auf Melchisedek, der schon auf eine lange »Sinnkarriere« (Knut Backhaus) in der jüdischen Tradition zurückblickt, in der er u.a. als Engel und Mittler zwischen himmlischer und irdischer Welt verstanden wurde (vielleicht klingt etwas davon in den hymnischen Prädikationen von Hebr 7,3 nach). Melchisedek ist hier weniger Prototyp als vielmehr Symbol des ewigen Priestertums Christi. Dabei lässt der Verfasser messianische Töne anklingen, vor allem aber bedient er sich des Grundsatzes »quod non in Tora non in mundo«, also einer Argumentation aus dem Schweigen der Schrift. Weil Melchisedek in der Schrift unvermittelt, ohne Stammbaum erscheint und ebenso plötzlich wieder verschwindet, verkörpert er ein ewiges, unveränderliches Priestertum von anderer Seinsart als das levitische Priestertum, nämlich jenes ewige Priesteramt, das nun Christus übertragen ist. In diesem Zusammenhang kommt nun die Szene aus Gen 14,18–20 zum Tragen: Dass Abraham von Melchisedek gesegnet wurde und ihm im Gegenzug den Zehnten entrichtete, zeigt für den Hebräerbrief unmissverständlich die Überlegenheit Melchisedeks gegenüber Abraham, damit aber auch gegenüber den levitischen Priestern als Abrahams Nachfahren. Der Zehnte ist hier also kein eigenständiges Thema, er hat allein die Funktion, den Vorrang des Priestertums Melchisedeks zu demonstrieren. Aber auch die Gestalt des Melchisedek selbst wird auf wenige Züge reduziert (V. 2f.). Zugespitzt gesagt: Was den Hebräerbrief an Melchisedek interessiert, ist Christus. Und was ihn am Zehnten interessiert, ist der Ausweis der Ewigkeit seines Priestertums. Wir bewegen uns hier also auf dem Feld einer ontologisch-metaphysischen 16

In der neueren Exegese wird der Hebräerbrief trotz des früh bezeugten Titels »An die Hebräer« vor allem mit Verweis auf Hebr 6,1–3 fast unisono als Schreiben an eine heidenchristliche Gemeinde, z.B. die in Rom, verstanden. Der ganze Brief und sein Umgang mit der Schrift (unserem »Alten Testament«) erscheint in einem anderen Licht, wenn man den Hebräerbrief als »ein innerjüdisches Gespräch über Christus« liest, wie zuletzt F. Crüsemann mit überzeugenden Gründen vorgeschlagen hat (Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, Gütersloh 2011, 174–179, dort 177; vgl. auch 107–110). M.E. kann gerade Hebr 6,1–3 die Beweislast für eine heidenchristliche Adressierung nicht tragen: Warum sollten nicht Juden an die Grundlagen ihres Glaubens erinnert werden? Zur Auslegung von Hebr 7 und zur Rezeptionsgeschichte der Melchisedek-Figur vgl. K. Backhaus, Der Hebräerbrief (RNT), Regensburg 2009, 253ff.

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Interpretation, in der das Irdische zum Zeichen für die himmlische Wirklichkeit wird. Dass dem Hebräerbrief die im Zehnten implizierten Fragen des Gemeinwohls und der Gastfreundschaft gleichwohl alles andere als gleichgültig waren, belegen andere Stellen in den paränetischen Teilen des Briefes. So heißt es in Hebr 13: 1

Die Geschwisterliebe bleibe! 2 Die Gastfreundschaft vergesst nicht, denn durch sie haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. 3 Denkt an die Gefangenen als Mitgefangene, an die Misshandelten als solche, die auch im Leib sind. [...] 5 Ohne Geldgier sei (euer) Lebenswandel, seid zufrieden mit dem, was da ist. [...] 16 Gutes zu tun und zu teilen (koinonia) vergesst nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Gefallen.

7. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 1. Die Praxis der Abgabe des Zehnten war in der Umwelt des alten Israel weit verbreitet. Die Prozentzahl als solche hat also kulturgeschichtliche und pragmatische Gründe und darf nicht überbewertet werden. Schon im Alten Testament selbst ist der Ausdruck an einigen Stellen zum Terminus technicus für Abgabe geronnen, ohne eine exakte Quantifizierung zu beinhalten. Auch ist der Zehnte Teil eines ausdifferenzierten Systems von Gaben und Abgaben, zu denen z. B. auch die Gabe bzw. Auslösung der Erstgeburt und die Erstlingsgabe gehören. Im späteren System des doppelten (oder dreifachen) Zehnten steigert sich die Abgabe auf mindestens ein Fünftel. 2. Der Zehnte hat schon im alten Israel und im Alten Testament eine wechselvolle Geschichte durchlaufen. Die Staats- oder Tempelsteuer der vorexilischen Zeit wurde im dtn. Gesetz radikal im Sinne des Ethos der Geschwisterlichkeit transformiert und in den priesterlichen Gesetzen der nachexilischen Zeit auf den Unterhalt des Heiligtums und seiner levitischen Bediensteten konzentriert (neben der persischen Steuer). Beide Systeme wurden schließlich mit dem Erlassjahr zu einem Siebenjahreszyklus mit einem ersten, »levitischen« und einem zweiten, dem Selbstverzehr bzw. in jedem dritten Jahr der Armenfürsorge dienenden Zehnten kombiniert (letzterer manchmal auch »dritter Zehnter« genannt). 3. Soziologisch betrachtet erscheint der alttestamentliche Zehnte in einer dreifachen Funktion: als Steuer zur Sicherung der Aufgaben des Staates bzw. des Tempels, als Mittel zur Stiftung von Gemeinschaft und als Sicherung solidarischer Fürsorge für die personae miserae (Waisen, Witwen, Leviten, Fremde).

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4. In theologischer Perspektive ist der Zehnte in allen seinen Formen Antwort auf die Gabe des Segens Gottes, wie das paradigmatisch Gen 14 zeigt: In der Gabe des Zehnten (wie anderer Gaben) realisiert sich die tiefe Überzeugung, dass aller Besitz an Land, Häusern, Vieh und Ernteerträgen letztlich geliehen ist (vgl. für das Land Lev 25,23). Es ist also falsch, die »jüdische« Quantifizierung gegen den »christlichen« Gedanken ganzheitlicher Hingabe auszuspielen. Die Quantifizierung, wandelbar wie sie ist, ersetzt die Hingabe auch nach alttestamentlichem Verständnis keineswegs, sie gibt ihr eine lebbare, praktikable Form (auch hier gilt: das »Gesetz« ist nicht das Gegenteil des Evangeliums, sondern seine »Form«, K. Barth). 5. Von besonderer Relevanz ist die dtn. Konzeption des Zehnten mit ihrer integralen Verbindung von Selbstsorge und Sorge für andere, von Gemeinschaftspflege und Gastfreundschaft, von Feier vor Gott und Hingabe an die Nächsten. 6. Der Zehnte steht durchweg in der Spannung von (freiwilliger) Gabe und (verordneter) Abgabe. Darin beschlossen ist die Möglichkeit der Perversion der Abgabe zu einer Zwangsabgabe, die der Sicherung staatlicher oder kultischer Privilegien dient. Sehr viel grundsätzlicher aber verweist der Doppelcharakter des Zehnten auf den Weltbezug der Gnade und den Gnadenbezug der Welt. Im Zehnten berühren sich gewissermaßen die Sphäre der Gnade, der freien Gabe aus der Dankbarkeit des Gesegneten, und die Notwendigkeit, unter den Bedingungen der Endlichkeit und Fehlbarkeit ein handhabbares und damit von je neuer Entscheidung entlastetes Verfahren zu gewährleisten. 7. Aus dieser Spannung ist auch die christliche Gemeinde nicht entlassen. Jesus schafft den Zehnten nicht ab, aber er misst seine Praxis an Recht, Barmherzigkeit und Glaube als dem »gewichtigeren« Inhalt der Tora. Und die urchristliche Gemeinde überbietet die Zehntabgabe in einer umfassenden Gütergemeinschaft, in der allen alles gemeinsam ist und alle miteinander teilen (Apg 4,32–37). Freilich konnte es nicht ausbleiben, dass auch die christliche Kirche unter den Bedingungen ihrer zeitlichen (und staatlichen) Existenz erneut nach pragmatischen Lösungen der Finanzierung suchte und dabei in unterschiedlichen Formen auf die Praxis des Zehnten zurückgriff – mit allen Vorzügen und Risiken. 8. In alledem verbirgt sich kein Plädoyer für eine neue Gesetzlichkeit, aber erst recht nicht für Antinomismus oder Antijudaismus. Wer glaubt, die »alttestamentlich-jüdischen« Bestimmungen im Sinne des bürgerlichen Besitzindividualismus zu schnell hinter sich lassen zu können, sehe zu, dass er nicht vom alttestamentlichen Regen in die neutestamentliche Traufe kommt. Hören wir noch einmal John Wesley aus seiner bekannten Predigt über das Geld: Und dann [wenn du soviel erworben hast und soviel gespart hat, wie du kannst] gib alles, was du kannst, oder mit anderen Worten: Gib alles, was du Jörg Barthel, Fröhliche Geber

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hast, Gott. Beschränke dich nicht auf einen bestimmten Teil, eher wie ein Jude als ein Christ [sic!]. Gib Gott nicht ein Zehntel, nicht ein Drittel, nicht die Hälfte, sondern alles, was Gott gehört, es sei mehr oder weniger, indem du alles für dich, dein Haus, die mit dir im Glauben verbundenen und alle Menschen so verwendest, dass du über dein Verwalten eine gute Rechenschaft ablegen kannst [...]17

Zur Begründung für solche Haushalterschaft heißt es einige Abschnitte zuvor: Um dessen Grund und Ursache zu erkennen, bedenke: Als der Eigentümer des Himmels und der Erde dich ins Dasein rief und in diese Welt setzte, hat er dich nicht als Eigentümer, sondern als Verwalter [steward] eingesetzt. Als solchen hat er dich für eine bestimmte Zeit mit Gütern verschiedener Art betraut. Aber das alleinige Eigentumsrecht an ihnen bleibt bei Ihm und kann ihm nie aberkannt werden. Wie du selbst nicht dein Eigen bist, sondern ihm gehörst, so alles, was du besitzt. Sein ist deine Seele, so dein Leib nicht dein Eigen, sondern Gottes. Genauso speziell dein Besitz.18

Gute Ökonomen wissen zu haushalten, aber sie wissen vor allem, dass alles, was sie verwalten, einem anderen gehört. Es ist geliehen auf Zeit, nicht für die Ewigkeit. Das macht demütig, es macht dankbar und es macht uns zu fröhlichen Gebern.

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J. Wesley, Predigt 50. Der Umgang mit Geld, in: a.a.O., 704–714, dort 713f. A.a.O., 712.

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Thomas und die Jesusfrage Zur Existenzialisierung der Christologie bei Johannes Christoph Schluep Wer – vielleicht zum ersten Mal – die synoptischen Evangelien der Reihe nach liest und dann zu Johannes vorstößt, wird sich unweigerlich fragen, weshalb nach drei Büchern ein viertes folgt, das noch einmal dieselbe Geschichte erzählt. Wer Johannes dann trotzdem gelesen hat, weiß seine Frage beantwortet: weil nach drei ähnlichen Erzählungen eine ganz andere nicht nur unterhaltsam und lehrreich, sondern auch nötig ist, damit die Ereignisse um den Mann aus Galiläa, wenn nicht abschließend, so doch umfänglich erzählt werden. Damit aber stellt sich die nächste Frage. Weshalb ist das vierte Evangelium so seltsam anders als die ersten drei? Die Geschichte vom zweifelnden Thomas ganz am Ende des Buches und insbesondere der Finger, den Thomas in die Wunde Jesu stecken wollte, durfte und dann doch nicht mehr musste, gibt einen Hinweis darauf, weshalb Johannes den drei Vorgängern sein eigenes Evangelium folgen ließ. Es ging ihm offenbar darum, die synoptische Tradition so zuzuspitzen, dass sie nicht nur narrativ-christologischen, sondern christologisch-existentiellen Charakter aufweist.

1. Der Skopus der Christologie bei den Synoptikern Jedes der vier Evangelien im Neuen Testament entfaltet die Erzählung seiner Christusgeschichte anders und legt dementsprechend einen eigenen christologischen Schwerpunkt. Bei Markus bestimmt bereits die Überschrift »[Das ist] der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« (Mk 1,1) die Identität Jesu als Sohn Gottes. Mit dem Fortgang der Geschichte wird diese Identität jedoch immer mehr in Frage gestellt. Aus dem Evangelium von Jesus Christus wird das Evangelium Gottes (Mk 1,14), was theologisch zwar anspruchsvoll, aber durchaus stimmig ist.1 Den Leser, der die Geschichte als Geschichte hört und nicht als komplexes theologisches Konzept, wird dieser 1

Jesus von Nazareth untersteht in seinem Auftrag und seiner Verkündigung dem Heilswillen Gottes, den er zum Subjekt seiner Verkündigung macht. Erst mit der Auferweckung wird der Christus Jesus zum unverzichtbaren Bestandteil dieses Heilswillens, der Verkündiger wird (in Anlehnung an Bultmann) zum Verkündigten, und darum hängt das Evangelium seit Ostern untrennbar mit ihm zusammen. Dieses österliche Bestimmtsein drückt

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Wechsel allerdings verwirren. Dies jedoch ist von Markus beabsichtigt, und die verschiedenen Schweigegebote gegenüber Dämonen, Geheilten und sogar seinen Jüngern verstärken diese Verwirrung absichtlich (Mk 1,32.43; 3,12; 7,36; 8,30 u. a.). Die Klimax christologischer Verwirrung ist in Mk 8,27ff. erreicht, wo Petrus Jesus als den Christus bekennt, kurz darauf jedoch massiv in Schranken gewiesen wird, weil er ihm dessen Todesansagen vorhält. Wer also ist Jesus? Die Frage klärt sich am Schluss, als der Hauptmann den Gekreuzigten als Sohn Gottes bekennt (Mk 15,39). Der Kreis schließt sich, denn als dieser Sohn Gottes wurde Jesus schon in der Überschrift Mk 1,1 bezeichnet. Markus entwickelt seine Christologie, indem er die Frage nach der Identität Jesu zum Thema der gesamten Erzählung macht und eine Antwort erst ganz am Schluss ermöglicht: Jesus ist der Sohn Gottes (1,1), aber die Tiefe dieser Aussage und ihre theologische wie auch existentielle Bedeutung erschließt sich nur dem, der auch noch im Gekreuzigten diesen Sohn erkennt (15,39). Die bereits zu Beginn alles erklärende Überschrift bleibt bis zum Schluss bloße Überschrift, zum hermeneutischen Schlüssel und damit zum integralen Bestandteil der Erzählung wird sie dem Leser frühestens bei der zweiten Lektüre.2 Matthäus dagegen verzichtet auf eine Überschrift und erzählt stattdessen die Geschichte von der Geburt Jesu, den Sterndeutern aus dem Osten und der Flucht nach Ägypten (Mt 1,18–2,23). Es ist bedeutsam, dass er Engel und Propheten auftreten lässt (also quasi himmlisches Personal), um die Bedeutung dieses Kindes zu erläutern, denn so wählt auch er anstelle der eindeutigen Identifikation Jesu deren erzählerische Entfaltung. Es bleibt innerhalb der Kindheitsgeschichten bei Hinweisen, die zwar konkret sein mögen, trotzdem aber Hinweise sind, die noch nicht das Echo eines Bekenntnisses hervorrufen. Matthäus entwickelt seine Christologie erzählerisch weiter, aber im weiteren Verlauf der Geschichte weicht er von der markinischen Vorlage ab und entfaltet die Identität Jesu nicht mehr primär aufgrund des Verständnisses bzw.

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Markus mit dem Wechsel von Gott (1,14) zu Christus (1,1) als dem Inhalt des Evangeliums aus. Leider fehlt der Bericht über die Erscheinung des Auferstandenen. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, inwiefern er in das Ganze der markinischen Christologie gepasst hätte. Es scheint mir unwahrscheinlich, dass Markus sein Evangelium mit der Furcht der beiden Frauen beendet hat (Mk 16,8), zum einen, weil das Messiasgeheimnis am Kreuz bereits gelüftet ist und darum keiner Fortsetzung in den Ostererzählungen bedarf, zum anderen, weil es literarisch und theologisch schwer vorzustellen ist, dass der erste Autor, der je ein Evangelium geschrieben hat, auf die Auferstehung und damit auf die wichtigste Passage der Erzählung hätte verzichten können oder wollen. Die Vermutung von Walter Klaiber, Markus sei kurz vor der Fertigstellung seines Werkes verstorben, scheint mir darum am plausibelsten (W. Klaiber, Das Markusevangelium, Botschaft des Neuen Testaments Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 2010, 316).

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DOI 10.2364/3846997017

Unverständnisses der Personen um Jesus, sondern anhand der großen Reden.3 Jesus ist der Lehrer Israels und darüber hinaus der ganzen Welt, und als solcher erweist er sich als der Messias, dem alle Macht der Welt gegeben ist, was zu seinen Lebzeiten in Heilungen, Exorzismen und vor allem in den Naturwundern nur punktuell aufblitzt, nach seinem Tod und seiner Auferstehung jedoch explizit bekannt wird (Mt 26,18). Diese Explizierung erst nach der Auferstehung ist zwar durch den Ablauf der Ereignisse vorgegeben, zeigt aber die interpretatorische Leistung des Matthäus, indem er sich an den Aufbau von Markus anlehnt und entsprechend die Lösung der Fragestellung bis an den Schluss aufspart, trotzdem aber seinem christologischen Konzept treu bleibt, indem er den Auferstandenen noch immer den Lehrer der Welt sein lässt, der seine Jünger anweist, die Völker nicht nur zu Jüngern zu machen, sondern sie auch zu lehren (Mt 28,20). Lukas schließlich baut sein Evangelium ähnlich auf wie Matthäus. Auch er setzt deutliche Zeichen in den Kindheitserzählungen, vielleicht sogar noch deutlichere als Matthäus (cf. die Parallelerzählung Johannes – Jesus Lk 1,5ff., die Engelsoffenbarung vor den Hirten 2,8ff. oder die Geschichte von Simeon 2,25ff.). Lukas nimmt aber nicht die Lehrtätigkeit Jesu in den Fokus seiner Erzählung, sondern zeichnet Jesus als den Heiland der Menschen, insbesondere der Armen. Der fürsorgliche Charakter des Messias kommt deutlich zur Geltung (z.B. im Gleichniskapitel 15, wo Schafe, Drachmen und Söhne gesucht und auch gefunden werden), und weil Lukas dem Evangelium mit der Apostelgeschichte eine Fortsetzung anfügt, die wesentlich vom Auf- und Ausbau der Kirche bis nach Rom handelt, könnte man seinen christologischen Zugang einen ekklesiologischen nennen: Jesus ist der Messias, der die Seinen um sich schart und im Jüngerkreis den Nukleus der späteren Kirche erschafft. Der Höhepunkt seiner Christologie dürfte darum die Erzählung des Weges der beiden Jünger nach Emmaus sein. Klopas, offenbar ein Augenzeuge des Auferstandenen und noch zur Zeit von Lukas namentlich bekannt, wird neben dem anonymen Jünger zur christologischen Leitfigur. Er ist verzweifelt unterwegs, als ihm der Auferstandene begegnet, zuerst noch unerkannt, dann aber offenbar als der Messias, der die Armen und Einsamen sammelt. Klopas wird neben Petrus (Lk 24,34) zum wichtigen Zeugen der Auferstehung und damit zum Mitbegründer der nachösterlichen Kirche.4 3 4

Die Anzahl der Reden ist umstritten, sie variiert zwischen fünf (Bergpredigt Mt 5–7, Aussendungsrede Mt 10, Gleichnisrede Mt 13, Gemeinderede Mt 18, Endzeitrede Mt 24) und sieben (zusätzlich die Rede über Johannes den Täufer Mt 11 und die Pharisäerrede Mt 23). Bei Lukas werden die Frauen nur Zeuginnen des leeren Grabes und der Erscheinung der Engel, nicht aber des Auferstandenen selbst (Lk 24,1ff.). Das hat wohl damit zu tun, dass Lukas die Figur des Petrus als Leitapostel und Gründer bzw. Vorsteher der Urgemeinde hervorheben will und ihn darum auch zum ersten Zeugen des Auferstandenen macht. Dazu

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Hier gipfelt die lukanische Christologie: Der Weg Gottes zu den Menschen führt durch den Tod in eine neue Gemeinschaft, die fortan vom Geist (als Geist Jesu: Lk 24,49) geleitet werden wird. Erst mit der Grundlegung der Kirche ist die christologische Entfaltung bei Lukas an ihr Ziel gelangt.

2. Die johanneische Christologie Und Johannes, der vierte und letzte Evangelist?5 Bei ihm ist alles anders. Die Christologie wird nicht mehr allmählich entfaltet und durch Erzählung illustriert, vielmehr ist von Anfang an klar: Das Wort ist uranfänglich, es ist bei Gott und von Gottes Wesen (Joh 1,1), es ist Schöpfer (1,3), Leben und Licht (1,4). Obwohl diese Bestimmungen in poetischer Form verfasst sind, wird die Identifikation mit Jesus von Nazareth ab V. 10 immer deutlicher. Das Wort ist in der Welt (V. 10), es kommt in das Seine (V. 11), es verleiht Kindschaft durch den Glauben (V. 12). Spätestens mit V. 14 sind alle Zweifel beseitig. Das Wort inkarniert, und ohne dass der Name genannt wird, ist es eindeutig, dass Jesus gemeint ist. In der Umkehrung bedeutet dies für die Identität Jesu, dass er, der Mensch, Gottes Wort ist und darum Gott selbst.6 Nicht nur wird

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passt die lukanische Verlagerung der Auferstehungserscheinungen von Galiläa (Matthäus und Markus, wobei dessen Erscheinungsbericht sekundär und darum wohl von Mt abhängig ist) nach Jerusalem, dem Zentrum des Judentums und jetzt auch des Christentums. Die Urgemeinde hat ihren Ursprung in Petrus und in Jerusalem, und vor dort aus breitet sich der neue Glaube über die ganze Welt aus. Mit ein paar wenigen Pinselstrichen hat Lukas damit bereits in seinem Evangelium das Konzept der Apostelgeschichte vorweggenommen. Interessant dabei ist, dass Lukas den Vorrang von Jerusalem und Petrus nicht konsequent durchzieht. Die Erscheinung Jesu vor Petrus wird nicht berichtet, sondern nur als Faktum erwähnt (Lk 24,34), so dass die Emmauserzählung mehr Gewicht gewinnt und es sogar möglich wäre, dass die Erscheinung im Gasthaus der vor Petrus vorangegangen ist. Dann wären Klopas und sein namenloser Gefährte die ersten Zeugen, und die erste Offenbarung des Auferstandenen hätte nicht in Jerusalem, sondern in Emmaus bzw. auf den Weg dorthin stattgefunden. Es könnte also sein, dass Lukas, der Historiker, um die historischen Ereignisse gewusst hat, sie seinem Konzept aber untergeordnet hat, ohne jedoch ganz auf sie zu verzichten. Trifft diese These zu, dann sähen wir hier Lukas nicht nur erzählerisch, sondern auch konzeptuell an der Arbeit. Inwiefern Johannes die synoptische Tradition vertraut gewesen ist, bleibt umstritten. Die Vorschläge umfassen eine Spannbreite von den Evangelien in schriftlicher Form, wie sie uns heute vorliegen, bis hin zu einem sehr frühen oder sehr späten Stadium der mündlichen Überlieferung. Dass die synoptische Tradition Johannes jedoch bekannt war, wird von niemandem mehr ernsthaft bezweifelt, denn zu viele, zum Teil wörtliche Übereinstimmungen sprechen gegen eine literarische Unabhängigkeit des vierten Evangeliums von der synoptischen Tradition. Vgl. dazu z.B. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB, 82013, 578f. V 1c kann auf zwei Arten grammatisch aufgelöst werden: Entweder ist Gott das Subjekt und Wort das Prädikatsnomen (so Luther 2017: Gott war das Wort), dann wird Gott mit dem Wort gleichgesetzt und so sichergestellt, dass niemand anders als Gott selbst jenes

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gleich zu Beginn des Evangeliums, faktisch sogar noch vor der Erzählung der eigentlichen Geschichte, in christologischer Hinsicht alles geklärt und bedarf fortan keiner weiteren Entfaltung mehr (selbst Joh 10,30: der Vater und ich sind eins bietet, obwohl eine fast schon ungeheuerliche Aussage, inhaltlich nichts Neues), vielmehr wird hier dem Christus eine Nähe zu Gott zugeschrieben, wie es kein anderer Entwurf des Neuen Testaments wagt. Jesus ist nicht nur der Sohn oder der Herr oder der Christus, er ist Gott selbst. Die Nähe wird nicht bloß maximiert, sondern geradezu aufgehoben zugunsten einer faktischen Identität, die fortan nicht mehr diskutiert wird. Und damit ist in christologischer Hinsicht bereits alles gesagt, was es zu sagen gibt. Verwundert es da noch, dass Jesus im vierten Evangelium gar nicht getauft wird – wozu auch? Der Täufer mutiert zum Zeugen und zum soteriologischen Traditionsmittler (Joh 1,29: Siehe da, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt).7 Und mag es des Weiteren verwundern, dass das Messiasbekenntnis, für welches Markus ein halbes Evangelium benötigt, schon bei der ersten Jüngerberufung erfolgt (Joh 1,40f.)? Und weil alles anders ist, ist es auch nicht erstaunlich, dass nicht Petrus, der sonst als Garant für die Tradition des Urchristentums steht, dieses Bekenntnis spricht, sondern sein Bruder Andreas, von dem wir aus den anderen Evangelien kein einziges Wort überliefert finden. Wenn bei Johannes im Gegensatz zu den drei Synoptikern der Skopus der Christologie nicht in ihrer Entfaltung durch den Gang der Erzählung liegt, wo liegt er dann? Wozu ein über weite Teile narratives Evangelium schreiben, wenn die Erzählung an sich im Grunde gar keine Rolle zu spielen scheint? Wäre da eine systematische Erörterung, ein Bekenntnis oder vielleicht ein credohaftes Gedicht nicht passender? Und doch greift diese Kritik zu kurz, denn die johanneische Christologie hat ihr Ziel nicht bereits dann erreicht, wenn sie die Identität Jesu sichergestellt hat. Vielmehr scheint es so, als ob die johanneische Christologie deshalb schon zu Beginn des Evangeliums ganz entfaltet ist, damit innerhalb der Erzählung genug Raum bleibt, sie anzuwenden. Anwenden heißt, die Identifikation Jesu als Gott nicht nur in einen Erkenntniszusammenhang zu bringen, sondern in einen des Glaubens. Erst

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Wort ist, von dem in den V 1a.b gesprochen wird. Oder das Wort ist das Subjekt und Gott das Prädikatsnomen (Zürcher 2007: von Gottes Wesen war der Logos), so dass dem Wort, das später mit Jesus identifiziert wird, eine göttliche Qualität zugeschrieben wird. Die beiden Interpretationen betonen je eine andere Richtung, stimmen aber dahingehend überein, als sie das eine mit dem anderen identifizieren: Gott ist das Wort bzw. das Wort ist Gott. Es handelt sich hier um eine Formel, die sehr alt zu sein scheint und gar nicht so recht zur johanneischen Soteriologie passen will, jedoch bewusst eingefügt und in berufenen Mund gelegt wird, um zumindest die formale Zusammengehörigkeit des Evangeliums zum Rest der Kirche bzw. der Tradition zu untermauern.

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wenn die Identität von Vater und Sohn auch geglaubt wird, ist die johanneische Christologie an ihr Ziel gelangt (vgl. Joh 20,31: Dies ist aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes). Diese pragmatische Intention zielt auf die Person des Lesers und Hörers und auf ihren Glauben, und dies ist der Grund für meine These, im johanneischen Zusammenhang von einer Existenzialisierung der Christologie zu sprechen.

3. Personalisierung und Glaubensmotiv als Kennzeichen der Verarbeitung synoptischer Tradition bei Johannes Geht man davon aus, dass Johannes der letzte Evangelist ist und in irgendeiner Weise Kenntnis der ihm vorangehenden synoptischen Tradition hatte, so drängt sich der Schluss auf, dass der vierte Evangelist die ersten drei Evangelien verarbeitet und neu interpretiert hat. Zwei im Zusammenhang dieser relecture immer wieder auftretende Merkmale sind die Personalisierung und die Hervorhebung des Glaubensmotives.8 Diese beiden Merkmale sind wesentlich für die Existenzialisierung der Christologie verantwortlich. Unter Personalisierung verstehe ich eine Überarbeitung, die das Geschehen auf wenige Akteure reduziert und die Anonymität der Erzählung überwindet, indem sie die beteiligten Personen genauer beschreibt und ihnen in der Regel einen Namen zuweist.9 Zudem wird das oft allgemeine bzw. allgemeingültige Gespräch auf die Ebene eines persönlichen Dialogs gehoben, an dessen Ende jeweils die Frage des Glaubens steht, sei dies implizit oder explizit (= Glaubensmotiv). Die beiden Schritte sind aufeinander bezogen, denn wird das Gespräch persönlicher, lässt sich die Frage nach dem persönlichen Glauben leichter stellen.10 Was für die Erzählperspektive gilt, gilt auch für die Leserperspektive: Je einfacher sich der Leser mit der bzw. den Figuren der Erzählung identifizieren kann, weil ihm deren Fragen bzw. Situationen aus der

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Der Begriff der relecture im Zusammenhang des Johannesevangeliums ist von J. Zumstein übernommen worden, obwohl er diesen nicht in Hinblick auf die Verarbeitung synoptischer Tradition verwendet, sondern als hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis innerjohanneischer Interpretations- und Überarbeitungsvorgänge. Vgl. dazu J. Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK Bd. 4, Göttingen 2015, und ders., Kreative Erinnerung, Zürich 2 2004. Die Anzahl der involvierten Personen variiert, es sind in der Regel jedoch immer weniger als in der gleichen oder ähnlichen Erzählung der synoptischen Tradition. Zwei klassische Beispiele für den Zusammenhang zwischen persönlichem Gespräch und Glaubensfrage sind der Dialog mit der samaritanischen Witwe am Brunnen (Joh 4,4ff.) und die Fragen des Auferstandenen an Petrus am Strand (Joh 21,15–19), auch wenn beide aus der johanneischen Tradition stammen und kein Pendant innerhalb der synoptischen Erzählung haben. Trotzdem wird an ihnen die Art und Weise sichtbar, wie Johannes arbeitet.

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eigenen Biographie bekannt sind, desto einfacher wird es ihm fallen, die Glaubensfrage nicht als die Pointe der Erzählung zu verstehen, sondern seiner eigenen Lektüre, dass also nicht lediglich die Figuren der Geschichte von Jesus angesprochen werden, sondern er selbst. Einige Beispiele sollen die These verifizieren: a) Die ersten Jüngerberufungen sind bei Mk und Mt Kurzbegegnungen: Jesus geht am Strand entlang und beruft noch im Gehen seine Jünger (Mk 1,16ff.; Mt 4,18ff.).11 Bei Johannes sind Ort und Reihenfolge der Berufung verändert (Bethanien am Jordan, Andreas vor Petrus), und die ersten Jünger werden nicht als Fischer vorgestellt, sondern als Nachfolger von Johannes dem Täufer (Joh 1,35–51). Interessanter als diese neuen Elemente ist für unsere Fragestellung die Veränderung der Erzählstruktur. Aus einer beinahe nebensächlich erzählten Geschichte bei Mk/Mt wird bei Joh ein persönlicher Dialog über Suchen und Finden, Bleiben und Erkennen. Die Dynamik, die bei der synoptischen Erzählung allein von Jesus ausgeht, springt bei Joh über auf die Jünger, die nun ihrerseits neue Jünger werben (Andreas Simon, Philippus Nathanael). Das zweimalige komm und sieh (Joh 1,39.46) macht diesen Wechsel der Dynamik deutlich. Es sind die Jünger, die mehr über Jesus wissen wollen und sich darum auf ihn zu bewegen. Sie werden nicht nur aus ihrem gegenwärtigen Leben heraus in die Nachfolge berufen, sondern in ihren eigenen Fragen von Jesus angesprochen. Das Motiv des Glaubens, das bei Mk/Mt ganz fehlt, taucht hier ein erstes Mal auf, auch wenn in beinahe ironischer Form (Joh 1,50: Weil ich dir gesagt habe, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah, glaubst du?). Auch wenn dem Leser sofort klar ist, dass es Jesus nicht um solchen Glauben geht, so stellt Johannes mit der Reinterpretation des überlieferten Stoffes nicht nur die persönliche Beziehung zwischen Meister und Jünger von Anfang an sicher, sondern ermöglicht es auch dem Leser, seine eigene Suche nach dem Messias und dem wahren Glauben in der Erzählung zu finden. Mit anderen Worten: Wer wie Petrus oder Andreas sucht, wird wie Petrus oder Andreas finden. Der pragmatische Charakter der johanneischen Christologie ist unverkennbar, und es wird bereits jetzt deutlich, dass er vor allem kerygmatischer Natur ist.

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Bei Lukas ist die Berufung der Jünger anders dargestellt als bei Mk und Mt, sie ist weitläufiger erzählt und theologisch reichhaltiger gestaltet (Vgl. Lk 5,1–11: Petrus, Andreas, Jakobus, Johannes; Lk 5,17–26 Levi). Das dürfte einerseits mit dem Erzählstil von Lukas zusammenhängen und andererseits mit der vorbildhaften Rolle, die die Jünger einnehmen. Bereits ihre Berufung ist exemplarisch für ihre Aufgabe in der späteren Urgemeinde und auch für die Christen, die sich an ihrem Verhalten orientieren sollen (vgl. dazu auch Apg 1.2).

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b) Das Gespräch mit Nikodemus (Joh 3,1–21) hat keine wörtliche Parallele in den Synoptikern, repräsentiert aber die johanneische Version vieler Streitgespräche, wie sie bei Mk, Mt und Lk zu finden sind. Anders als bei den Synoptikern, wo jeweils ein Wort oder eine Tat Jesu den Widerspruch der Pharisäer hervorruft und zu einem kurzen und konfliktgeladenen Dialog führt (z.B. Mk 2,6ff.16f.24ff.), beginnt das Gespräch hier mit echtem Interesse. Nikodemus ist nicht gekommen, Jesus eine Fangfrage oder gar eine Falle zu stellen, sondern will mehr über ihn erfahren. Obwohl er seine Frage gar nicht aussprechen kann, weil Jesus ihn unterbricht und das Gespräch auf das Thema lenkt, über das er selbst sprechen will, entwickelt sich ein echter Dialog. Jesus setzt bei Nikodemus theologisch-spirituelles Fachwissen voraus und behandelt ihn als Gleichgestellten. Das allerdings überfordert Nikodemus, und im Verlauf des Dialogs wird es fraglich, ob er über die Einsicht, die ihm Jesus zu Beginn des Gesprächs zutraut oder zuspielt (dass nämlich die Erkenntnis des Reiches Gottes nur durch Wiedergeburt im Geist möglich ist), wirklich verfügt. Am Ende wird der Dialog zum Monolog, und leider hören wir keine Antwort oder weitere Fragen von Nikodemus. Und doch ist auch dieser Schlussmonolog insofern von Interesse, als er das Glaubensmotiv einbringt (V. 12.15f.) und damit implizit die Frage der Wiedergeburt vom Anfang beantwortet. Aus einem klassischen Streitgespräch zwischen Jesus und einer Gruppe zumeist namenloser Pharisäer (oder anderer Gegenüber) ist ein persönlicher Dialog auf Augenhöhe geworden, der mit nur einer Person geführt wird, die eine herausragende sozial-religiöse Position einnimmt und namentlich bekannt ist. Zudem findet das Gespräch des Nachts statt, was zu einer noch größeren Intimität führt, weil diese Tageszeit die Öffentlichkeit einer Zuhörerschaft ausschließt. Auch wenn der gewöhnliche Leser sich nicht mit dem hochgebildeten und einflussreichen Nikodemus vergleichen kann, so wird es ihm leicht fallen, sich in die Rolle eines Mannes zu versetzen, dem die Fragen so sehr auf der Zunge brennen, dass er alle Bedenken über Bord wirft und das persönliche Gespräch mit Jesus sucht, um sich seines Seelenheiles zu vergewissern. Dass die Antwort von Nikodemus fehlt, ist zwar bedauernswert, hat aber einen pragmatischen Grund: Der soteriologische Kernsatz 3,16 (Denn so hat Gott die Welt geliebt ...) verlangt nach einer Antwort, und wenn Nikodemus sie nicht gibt oder nicht geben kann, dann liegt es nun am Leser, diese Leerstelle zu füllen. c) Die Abendmahlserzählung der synoptischen Tradition fehlt bei Johannes und ist durch die Brotrede Joh 6,22ff. ersetzt worden. Auf den ersten Blick scheint dieses Beispiel der These zu widersprechen, weil das Geschehen bereits bei den Synoptikern ausführlich geschildert wird und zahlreiche, namentlich genannte Akteure auftreten. Auf den zweiten Blick lässt sich jedoch

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erkennen, dass auch hier mit der Personalisierung und Stärkung des Glaubensmotives gearbeitet wird. Die Szene wird ganz ihres rituell-sakramentalen Charakters und Kontextes entkleidet und neu situiert in den Zusammenhang der Speisung der Fünftausend. Statt als Einleitung in die Passionsgeschichte zu dienen, bildet sie nun den Aufhänger einer längeren Diskussion über die Identität Jesu (Wer oder was ist das Brot des Lebens? Joh 6,35.48.51), deren Ablehnung oder Akzeptanz über die Verleihung des ewigen Lebens entscheidet. Fehlt im synoptischen Kontext des Abendmahls das Glaubensmotiv, so wird es bei Johannes mehrfach in die Brotrede eingefügt (6,40.47.48.50. 51.53.54.58: Jesus ist das Brot des Lebens, wer dieses Brot isst und wer an ihn glaubt, wird leben). Die Spitze der Diskussion bilden die Verse 53ff., in denen die Abendmahlsworte Jesu den rituell-performativen Charakter verlieren, den sie in der synoptischen Fassung tragen, und statt dessen metaphorisch verwendet werden (mein Fleisch essen, mein Blut trinken, V. 54). Das führt zwangsläufig zu Missverständnissen nicht nur unter den Juden, sondern auch unter den Jüngern Jesu, so dass nicht wenige sich von ihm abwenden. Aber gerade diese Ausgangslage ermöglicht es Johannes, die Abendmahlserzählung der Synoptiker, die wenig Interaktion zwischen den Figuren liefert, auf einen intensiven Dialog mit Petrus zu konzentrieren (V. 66ff.).12 Johannes fokussiert auf die negative Wirkung der Brotworte, indem er Jesus seine Jünger fragen lässt, ob nicht auch sie sich von ihm abwenden wollten. War die Glaubensfrage bei Nikodemus in einer konfliktfreien Situation noch als Einladung ausgesprochen worden, so wird sie hier zur alles bestimmenden Entscheidungsfrage, der eine unbedingte Antwort folgen muss. Und Petrus gibt sie. Auch wenn ihm die Worte Jesu nicht wirklich verständlich zu sein scheinen, hat er doch erkannt, wer dieser ist, stellt sich bedingungslos hinter ihn (Joh 6,68) und bekennt seinen Glauben (V. 69). Johannes rekontextualisiert die bereits kirchlich geprägten Abendmahlsworte der synoptischen Tradition13 und lässt sie in ein persönliches Bekenntnis münden, dessen Intensität

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Bei Mk und Mt geht der Abendmahlsperikope die Diskussion um die Auslieferung Jesu voran, in der die Frage der Jünger, wer der Schuldige sei, kollektiv erzählt wird (nur Judas’ Aussage wird direkt berichtet), was erzähltechnisch durchaus sinnvoll ist. Während des Abendmahles finden keine weiteren Interaktionen zwischen den Jüngern und Jesus statt. Bei Lukas ist das Geschehen nochmals gekürzt, und die Jünger stellen die Frage nach dem Verräter nicht mehr Jesus, sondern nur noch untereinander. Dass dem so ist, zeigt die Tatsache, dass Paulus die Abendmahlsliturgie bereits zwanzig Jahre vorher wörtlich zitiert (1Kor 11,23–26) – die Einleitungsworte sind also schon lange vor Markus oder Matthäus festgelegt.

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sich der Leser kaum zu entziehen mag (Wohin sonst sollten [resp. könnten] wir denn gehen? V. 58).14 d) Die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–46) ist eine nur Johannes geläufige Geschichte, sie hat jedoch ihre Pendants in verschiedenen Totenauferweckungen der synoptischen Tradition, etwa in der Geschichte des Jünglings von Nain (Lk 7,11–17) oder der Auferweckung der Tochter des Jairus (Mk 5,21–43 par Mt 9,18–26; Lk 8,40–56). Beide Auferweckungen sind kurz gehalten, und im Falle des Jünglings von Nain findet gar kein Dialog statt, vielmehr befiehlt Jesus der Mutter, nicht zu weinen und dem Toten, sich zu erheben. Das Glaubensmotiv spielt hier keine Rolle. Die Geschichte der Auferweckung der Tochter von Jairus ist bei Mt sehr kurz, und das Glaubensmotiv spielt hier wie schon in Nain keine Rolle.15 Die ähnlichen Versionen bei Mk und Lk schildern das Geschehen etwas ausführlicher und führen das Glaubensmotiv an: Jesus ermutigt Jairus, nicht zu verzweifeln, sondern zu glauben (Mk 5,36; Lk 8,50). Die Dramaturgie dieser Auferweckung ist ähnlich gestaltet wie bei der Lazarusgeschichte: der Ruf nach dem Wundertäter, die Verzögerung auf dem Weg, der Unglaube des Volkes, die Auferweckung und schließlich die Verwunderung der Anwesenden. Diese Parallelen sind kaum zufällig, und es ist darum zu vermuten, dass Johannes die Geschichte nicht nur gekannt hat, sondern sich auch an ihr orientiert hat, wobei die Unterschiede von Bedeutung sind: Die Geschichte ist in aller Länge erzählt (47 Verse gegenüber 6 bei Mt, 11 bei Lk und 13 bei Mk), es werden die Namen der Personen, ihre Familienverhältnisse, die Zeit und der genaue Ort genannt, und der Dialog zwischen Jesus und Marta geht fünf Mal hin und her (V. 21–27, vgl. dazu das Fehlen jeglichen Dialogs in Nain). Das Glaubensmotiv bildet nicht das Ende der Geschichte, sondern ist von Anfang an präsent (Joh 11,4.15). Es bildet den kerygmatischen Höhepunkt lange vor der Auferweckung selbst. Zwischen Marta und Jesus entspinnt sich bereits bei der Begrüßung ein Dialog, der im

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Die Prägnanz dieses Bekenntnisses liegt nicht nur in ihrer (vor allem von heutigen Lesern wahrgenommenen) stark existentiellen Dimension, sondern auch darin, dass historisch betrachtet der johanneischen Gemeinde in der Tat wenig Alternativen zur Verfügung standen, weil sie definitiv aus der Synagoge ausgeschlossen worden ist und so ihre ursprüngliche Heimat verloren hat (Joh 9,22.34f.;12,42;16,2). Vgl. dazu K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, Neukirchen-Vluyn 1986. Die Geschichte scheint in allen drei Versionen relativ lang zu sein, was aber damit zu tun hat, dass sie mit der Heilung der blutflüssigen Frau verknüpft ist. Dieser Teil, der sehr kunstfertig in die erste Erzählung eingeflochten ist, macht mehr als die Hälfte des Textes aus. Mk und Lk bewahren die ältere Version, die Kürzungen bei Mt sind redaktionell und als solche gut erklärbar.

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berühmten Ich-bin-Wort zur Auferstehung gipfelt (V. 25f.) und mit der direkten Frage an Marta endet, ob sie das glaube könne – was sie bejaht (Ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, V. 27). Nach der wundersamen Auferweckung schließt die Erzählung mit dem Hinweis, dass viele der Juden, die das Geschehen gesehen hatten, zum Glauben an ihn kamen (V. 45). Dieses Fazit unterscheidet sich nicht nur darin von den synoptischen Erzählungen, dass der Glaube der Augenzeugen überhaupt genannt wird, sondern dass auch nicht lediglich vom Glauben an sich gesprochen wird, sondern explizit vom Glauben an Jesus. Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus ist quasi eine Steilvorlage für den Leser. Sie bietet alles, was er in persönlicher Hinsicht für eine mögliche Identifikation braucht, und das credoartige Ich-bin-Wort, die explizite Frage sowie der Hinweis darauf, dass (auch) andere aufgrund dieser Geschehnisse zum Glauben gekommen sind, lassen wenig Zweifel über die kerygmatische Absicht des Johannes zu. Obwohl die synoptischen Erzählungen auch nicht anonym sind und zumindest zum Teil das Glaubensmotiv enthalten, wird anhand der Lazarusgeschichte einmal mehr deutlich, wie Johannes bekanntes Erzählmaterial verarbeitet. Auch wenn hier die Gruppe der Akteure gegenüber den synoptischen Berichten vergrößert wird (und nicht wie bei Nikodemus reduziert), so dient dies noch immer der Personalisierung, denn in der Lazarusgeschichte werden nicht unübersichtlich viele Personen aktiv, vielmehr wird der Fokus auf die Mitglieder (und Freunde) einer einzigen Familie gerichtet. Personalisierung hat also verschiedene Facetten und literarisch bedeutend mehr Möglichkeiten als nur etwa Reduktion und Namensgebung. Die christologisch-kerygmatische Zuspitzung ihrerseits als zweites Merkmal wird nirgends so deutlich wie bei dieser Erzählung. Jedes der Beispiele zeigt auf seine Weise, wie Johannes synoptische Tradition oder Motive verarbeitet, verdichtet und fokussiert. Der Glaube als persönliche Entscheidung wird in jeder Geschichte thematisiert, und jedes Mal ist es Jesus selbst, der sein Gegenüber darauf anspricht (z.B. in Form einer Frage bei Petrus und Marta) oder ihn im Gegenüber erweckt (Nathanael und Thomas). Die Glaubensfrage ist also eine dynamische Frage und bezieht sich nicht auf Wissen, sondern auf Entscheidung. Im Folgenden soll nun die Thomasperikope im Sinne einer Kronzeugin etwas genauer untersucht werden, um meine These zur johanneischen Christologie zu verifizieren.

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4. Die Thomasperikope 24

Thomas aber, einer der Zwölf, der auch Didymus genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Da sagten die anderen Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sagte zu ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und nicht meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite legen kann, werde ich nicht glauben. 26 Nach acht Tagen waren seine Jünger wieder drinnen, und Thomas war mit ihnen. Jesus kam, obwohl die Türen verschlossen waren, und er trat in ihre Mitte und sprach: Friede sei mit euch! 27 Dann sagt er zu Thomas: Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28 Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29 Jesus sagt zu ihm: Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Selig, die nicht mehr sehen und glauben! (Joh 20,24–29, Zürcher Bibel)

Auch wenn die Thomasperikope keine direkte synoptische Parallele hat, so gibt es doch eine Erzählung, die ihr so ähnlich ist, dass eine inhaltliche Abhängigkeit nicht zu bestreiten ist.16 Es handelt sich um die Erscheinung des Auferweckten vor seinen Jüngern bei Lukas: 36

Während sie noch darüber redeten, trat er selbst in ihre Mitte, und er sagt zu ihnen: Friede sei mit euch! 37 Da gerieten sie in Angst und Schrecken und meinten, einen Geist zu sehen. 38 Und er sagte zu ihnen: Was seid ihr so verstört, und warum steigen solche Gedanken in euch auf? 39 Seht meine Hände und Füße: Ich selbst bin es. Fasst mich an und seht! Ein Geist hat kein Fleisch und keine Knochen, wie ihr es an mir seht. 40 Und während er das sagte, zeigte er ihnen seine Hände und Füße. 41 Da sie aber vor lauter Freude noch immer ungläubig waren und staunten, sagte er zu ihnen: Habt ihr etwas zu essen hier? 42 Da gaben sie ihm ein Stück gebratenen Fisch; 43 und er nahm es und aß es vor ihren Augen. (Lk 24,36–43, Zürcher Bibel)

Lukas berichtet von der Erscheinung des Auferweckten vor seinen Jüngern, die sich fürchten, weil sie einen Geist vor sich zu sehen meinen. Jesus zeigt seine Male, die ihn als den Gekreuzigten identifizieren, und isst ein Stück Fisch, das offenbar nicht aus ihm herausfällt, womit der Beweis erbracht ist, dass er kein Geist ist. Johannes nimmt die Perikope auf und macht sie zur letzten Geschichte seines Evangeliums (zumindest in der Fassung, die mit Kapitel 20 endet). Sie

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Vgl. z.B. W. Eckey, Das Lukasevangelium, Bd. 2, Göttingen 22004, 986, Anm. 1318, und H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 22015, 764. Anders K. Wengst, Das Johannesevangelium, ThKNT 4,2, Stuttgart 22007, 289, der die Unterschiede für so gravierend erachtet, dass kein literarisches Verhältnis der Texte möglich ist.

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ist narrativ sozusagen die Krönungserzählung, die Klimax seiner Jesusgeschichte, und wenn man beobachtet, wie Johannes die Perikope bearbeitet, wird deutlich, dass sie dies auch in inhaltlich-theologischer Weise ist. Thomas war bei der ersten Erscheinung des Auferweckten vor den Jüngern abwesend, die Gründe dafür werden nicht genannt (V. 24).17 Es wird ihm davon berichtet (V. 25a), und damit richtet sich der Fokus auf ihn – die Lukasversion hat keinen Protagonisten, die Jünger werden als Kollektiv dargestellt, das jedoch nicht zu Wort kommt. Anders bei Johannes. Thomas äußert seine Bedenken unmissverständlich (V. 25b), obwohl auf das Auferweckungszeugnis der Jünger eher eine Rückfrage seinerseits oder sogar ein Bekenntnis zu erwarten gewesen wäre. Waren die Zweifel der Jünger bei Lukas noch unausgesprochen und musste Jesus den Wunsch nach einem Beweis für seine Auferweckung selbst formulieren und auch erfüllen (Male zeigen, Fisch essen), so formuliert Thomas laut und deutlich, was in ihm vorgeht. Dabei ist es zu einfach, die Zweifel des Thomas lediglich als Zeichenforderung eines Rationalisten oder eines Unbelehrbaren zu deuten, denn Thomas ist nicht ein Ungläubiger, sondern ein Suchender. Wie sollte er auch glauben können nach dem, was am Karfreitag am Kreuz geschehen ist? Auch der Unglaube der anderen Jünger wurde erst durch die Offenbarung des Auferweckten überwunden und nicht bereits durch ihre eigene Reflexion. Thomas nennt bei Johannes als Bedingung seines Glaubens (Wenn ich nicht sehe ...V. 25), was bei Lukas Jesus selbst als Klärung der Situation formuliert (Seht meine Hände ...V. 39). Damit artikuliert Thomas die Vorbehalte der Leser, deren Glaube aufgrund eines Zeugnisses allein zu schwach bleibt und die sich darum nach einer persönlichen Offenbarung sehnen. Dass Thomas sich erdreistet, die Male Jesu nicht nur sehen, sondern sie auch berühren zu dürfen, übertrifft das implizite Verlangen der Jünger bei Lukas, den Auferweckten etwas essen (und behalten) zu sehen. Aber diese Forderung ist wichtig, denn sie steht für den Wechsel vom schweigenden Kollektiv hin zum fragenden Individuum, weg vom Zuschauer hin zum Akteur, und dies gerade auch in Glaubensfragen. Die Wundmale sind die Garanten der Identität des Auferweckten mit dem Gekreuzigten, ohne die der Glaube inhaltsleer bleibt, und das Berührenwollen der Male, so haptisch diese Forderung auch scheint, symbolisiert die existenzielle Dimension der Suche nach dem wahren Glauben. Die Forderung und die Bedingungen, die Thomas stellt, sind also nicht Ausdruck seiner Arroganz oder Besserwisserei, sondern davon, wie wichtig ihm

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Thomas wird im JohEv an zwei weiteren Stellen genannt: 11,16 in der Lazarusgeschichte und 14,5 in der ersten Abschiedsrede. Beide Male zeichnet er sich nicht durch Zweifel, sondern durch Miss- bzw. Unverständnis aus. Ob dies in einem Zusammenhang mit dieser Erzählung seht, ist unklar.

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die Frage nach dem wahren Glauben ist. Sie haben darum existenziellen Charakter und nicht bloß intellektuellen oder zweifelnd-agnostischen.18 Der Dialog zwischen Thomas und den Jüngern bildet das Vorspiel für das entscheidende Geschehen, das sich eine Woche später, also wieder an einem Sonntag, ereignet (V. 26). Jesus erscheint mitten im Raum, obwohl, wie ausdrücklich erwähnt wird, die Türe (wohl aus Angst vor Verfolgung durch die Juden) verschlossen ist. Der Herr erscheint und bietet den Friedensgruß, der aus dem Munde des auferweckten Messias eine deutlich eschatologische Bedeutung hat. Es ist der Friede des ewigen Lebens, den Jesus zuspricht. Diese Erscheinung an sich wäre schon Grund genug, an Jesus zu glauben (für die andere Jünger war dies bei der Epiphanie eine Woche vorher der Fall), aber der, der den Frieden verheißt, spricht den Friedlosen direkt an, wie dies auch schon bei Lukas der Fall war (V 27). Dort allerdings redet Jesus zu einem sprachlosen Kollektiv, hier jedoch zu einem Individuum mit konkreten Forderungen. Jesus geht auf diese Forderungen ein: die Male an den Händen zu sehen und mit dem Finger zu berühren und die Hand in die Wunde an der Seite zu führen. Diese wortwörtliche Aufnahme weist ihn nicht nur als den allwissenden Sohn Gottes aus, sondern zeugt von seiner Sensibilität. Er nimmt die inneren Widerstände von Thomas wahr und ernst und ermöglicht ihm, seine existenzielle Suche zu vollenden. Es wäre auch möglich gewesen, Thomas zu ermahnen und Gehorsam einzufordern. Stattdessen wählt Jesus einen seelsorglichen Zugang, selbst wenn dieser für ihn schmerzhaft ist.19 Glaube entsteht durch Begegnung, und diese Begegnung wird durch die Hingabe Jesu ermöglicht, wie er sie nicht nur hier, sondern bereits bei der Fußwaschung exemplarisch vorgelebt hat. Die Aufforderung am Ende des Verses (sei nicht ungläubig, sondern gläubig!) muss man darum nicht, wie es sonst üblich ist, als tadelnde Ermahnung verstehen, mit der Jesus Thomas zurechtweist und ihn indirekt für seinen Unglauben schilt.20 Vielmehr kann sie, gerade in

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Nach U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 2000, 315, will Thomas nicht »Hörer zweiter Hand« sein, sondern sucht die eigene Erfahrung. Thyen, Johannes, 767: »Thomas, der häufig als der ‚ungläubige Thomas’ mehr karikiert als in seinem berechtigten Anliegen verstanden wird, weigert sich, aufgrund bloßen Hörensagens zu glauben.« Die Wunden sind offenbar noch nicht verheilt, sonst könnte Thomas die Hand nicht in die Seite Jesu legen, so dass jede Berührung Schmerzen verursacht. Diese Details werden in der Erzählung nicht berücksichtigt und sind darum spekulativ, genauso wie die Frage, ob der Auferweckte bei Johannes noch immer auch Mensch ist und darum überhaupt Schmerz empfinden kann. Wengst, Johannes, 291, schriebt zu den Wunden: Jesus »ist kein heiler Siegertyp, sondern bleibend als Verwundeter gekennzeichnet.« Als Schelte interpretieren die Aussage R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK Bd. 2, Göttingen 1941, 538, und R. E. Brown, The Gospel According to John, ABC Vol. 29A, New York 1970, 1045. Anders Wilckens, Johannes, 315. Die in der Tradition weit

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Hinblick auf die seelsorgliche und geradezu zärtliche Hingabe Jesu, die ihr unmittelbar vorangeht, als Ermutigung und Befähigung zum Glauben verstanden werden: Sei [von nun an] nicht mehr ohne Glauben, sondern werde gläubig!21 So verfolgen Handlung und Wort dasselbe Ziel, indem sie dem Friedlosen Frieden vermitteln und dem Zweifelnden Glauben schenken. Handelte es sich hingegen um eine Schelte, wäre nicht verständlich, weshalb Jesus die Bedingung von Thomas erfüllt, ihm dann aber Vorwürfe macht, dass er sie gestellt hat. Ein weiterer Hinweis für diese Lesart ist die Reaktion von Thomas (V 28): Er spricht das Bekenntnis aus, das er gesucht hat. Dieses Glaubensmotiv fehlt in der Version bei Lukas, hier aber bildet es den Höhepunkt der Erzählung und als letzte Geschichte des Evangeliums (in der Version mit 20 Kapiteln) zugleich den des ganzen Werkes, denn die Akklamation Herr und Gott ist nicht nur bei Johannes einmalig, sondern im ganzen Neuen Testament.22 Herr (griech. kyrios) ist im Neuen Testament sowohl eine Höflichkeitsanrede (auch bei Johannes nicht unüblich) wie auch die Gottesbezeichnung im Alten Testament (die griechische Übersetzung der Septuaginta für hebräisch adonaj). Die Verbindung mit Gott macht klar, dass es sich hier nicht um Höflichkeit handelt, sondern um ein Bekenntnis: Du bist der Herr, du bist mein Gott.23 Die Klarheit, die Direktheit, die Kompromisslosigkeit und die Einmaligkeit dieser Aussage verdeutlichen, dass Thomas seine Zweifel verloren und endlich gefunden hat, wonach er suchte: den wahren Glauben und damit ewiges Leben. Für den Leser ist dieses Bekenntnis befreiend, denn es zeigt ihm, dass Zweifel in der Gegenwart Jesu erlaubt sind, aber nicht das letzte Wort haben, weil er sie zu überwinden vermag. Johannes versteht es, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern ihr eine Überzeugungskraft zu verleihen, die den Leser in die Wahrnehmung seiner Zweifel führt, ihn aber nicht

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verbreitete negative Auslegung hat dazu geführt, dass der ungläubige Thomas sprichwörtlich geworden ist. Die Problematik seines Lebens ist jedoch nicht der Unglaube, wie er in der Folge beweist, sondern der Zweifel. pistos und apistos sind zwei hapax legomena. Weshalb Johannes für die positive Aussage nicht das Verb verwendet (glaube!), lässt sich nicht mit Sicherheit klären. Sprachlich gesehen inhäriert dem präsentischen Imperativ ginou auch die Bedeutung werden, was ich (bereits interpretierend) dadurch zum Ausdruck gebracht habe, dass ich das erste Verb mit sei, das zweite aber mit werde wiedergegeben habe. Im Griechischen wird das Verb nur einmal verwendet. Mit dem Thomasbekenntnis als dem letzten Wort eines Jüngers in der letzten Geschichte des Evangeliums entsteht eine Ringkomposition mit dem Beginn des Werkes, wo ebenfalls ein Bekenntnis steht, wenn auch in poetischer Form (Joh 1,1ff.). Vgl. Bultmann, Johannes, 538: »das dem Auferstandenen angemessene Bekenntnis«, Brown, John, 1047: »a supreme christological pronouncement«. Herr und Gott entspricht dem atl. Jahwe Elohim (Brown, ebd.), es ist dieselbe Akklamation, die auch im Philipperhymnus zu finden ist (Phil 2,9f.).

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dort belässt, sondern ihm eine Begegnung mit Christus ermöglicht, die ihm den Glauben schenkt, der seine Zweifel überwindet. War die Geschichte bei Lukas eine kurze Erzählung der Offenbarung des Auferweckten, so wird sie bei Johannes zur Seelenführerin auf Christus hin. In diesem Sinne ist der letzte Vers (V. 29) zu verstehen: Erneut nicht als Tadel,24 weil Thomas noch sehen muss, während andere dessen nicht mehr bedürfen, sondern als Konstatierung: Thomas wurde das Sehen ermöglicht, den Nachgeborenen bleibt nur das Hören des Wortes, z.B. als Geschichten wie diese von Thomas. Gott nahe ist, wer solchem Hören so viel Vertrauen zu schenken vermag, dass daraus Glaube wird.25 Fasst man dies alles zusammen, ist die Thomasperikope ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Johannes synoptische Tradition aufnimmt und verarbeitet, indem er sie personalisiert (anonymes Kollektiv gegenüber namentlich bekanntem Individuum, schweigende Gruppe gegenüber intimem Dialog zweier Bekannter) und auf die Glaubensfrage hin zuspitzt (der Glaube spielt bei Lukas allenfalls implizit eine Rolle, bei Johannes bildet er das Leitthema). Aufgrund der tiefen Spiritualität, wie sie sich im Suchen und Finden von Thomas zeigt, und anhand des einzigartigen Bekenntnisses ist es nicht übertrieben, diese Erzählung als den christologischen Höhepunkt des Evangeliums zu bezeichnen. Sie weist einen pragmatisch-kerygmatischen Charakter auf, indem sie auf den Glauben des Lesers und Hörers zielt. Diese Pragmatik wird von Johannes in seinem Epilog bestätigt, in dem er die Ebene wechselt und seine Erzählung kommentiert. Er habe sie geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und dadurch, dass ihr glaubt, Leben habt in seinem Namen (Joh 20,30). Das Ziel des Evangeliums ist der Glaube an Christus, der dem Glaubenden das ewige Leben eröffnet. Diesem Ziel ist alles untergeordnet, auch die Christologie. Sie dient nicht lediglich dazu, die Identität des Christus konzeptuell sicherzustellen, vielmehr soll sie diese so vermitteln, dass vertrauender Glaube entsteht, der, wie in besonderem Maße das Beispiel des Thomas zeigt, die existentielle Grundlage des menschlichen Seins bildet. Es ist m.E. deshalb durchaus zutreffend zu behaupten, dass Johannes die christologischen Entwürfe und deren Erzählungen bei den Synoptikern 24

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So z.B. A. Schlatter, Das Evangelium nach Johannes, Stuttgart 1962, 298, der von einem »freundlich strafenden Wort« spricht. Bultmann, Johannes, 538, nennt die Geschichte »die Erzählung der beschämenden Überführung des Thomas« und spricht von Thomas als dem »durchschnittlichen Menschen, der ohne Wunder nicht glauben kann« (539). Wilckens, Johannes, 316, hingegen erachtet die Aussage als Beschreibung dessen, was geschehen ist (und Jesus Thomas selbst ermöglicht hat) und was geschehen wird und darum nicht als Tadel. Ähnlich Thyen, Johannes, 768. Es ist nach johanneischem Verständnis nicht die Leistung des Glaubenden, dass er Glauben gefunden hat, sondern die Folge des Wirkens des Parakleten, der dem Wort Gehör verschafft und dem Hörenden Glauben (Joh 16,12ff.).

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kennt, sie aufnimmt, verarbeitet und so zuspitzt, dass in kerygmatischer und pragmatischer Hinsicht die von ihm erstrebte Existenzialisierung der Christologie resultiert.

5. Abschluss und Ausschau a) Die These dieses Artikels besteht in der Beobachtung, dass Johannes synoptisches Material aufnimmt und reinterpretiert, indem er es personalisiert (d.h. auf wenige, klar ausgearbeitete Charaktere reduziert bzw. den Hauptdarstellern mehr Gewicht verleiht, indem er sie u.a. in längere Dialoge mit Jesus stellt) und auf das Glaubensmotiv zuspitzt (die Pointe der Geschichte ist nicht primär das, was in der Geschichte passiert, sondern die Folgerungen, die sich für die Akteure in Hinsicht auf den Glauben ergeben). Das kerygmatische Ziel der einzelnen Erzählungen und des ganzen Evangeliums ist darum der Glaube der Hörer und Leser (Glaubensmotiv, vgl. Joh 20,31), die Personalisierung dient als narratives und pragmatisches Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Offenbar befand Johannes die synoptische Vorgabe diesbezüglich als defizitär und sah sich zu einer relecture veranlasst. Dabei bleibt ungewiss, in welcher Form ihm diese Tradition bekannt war, aber habe ich versucht zu zeigen, dass seine Reinterpretationen sowohl Texte direkt übernimmt (Brotrede Joh 6) als auch einzelne Motive (Streitgespräche mit Pharisäern, Totenauferweckungen) aus verschiedenen Geschichten zusammenzieht und neu unter den beiden genannten Gesichtspunkten darstellt. Dass diese relecture ein genuin johanneisches Werk ist, zeigt sich daran, dass die innersynoptische Traditionsverarbeitung weder mit dem einen, noch dem anderen Kriterium arbeitet. Kein anderes Evangelium erzählt seine Geschichten so personenzentriert und auf den Glauben fokussiert. b) Charles Moule und in seiner Folge auch Richard Bauckham haben den individualistischen Charakter des Johannesevangeliums schon vor geraumer Zeit dargestellt, indem sie aufwiesen, dass der vierte Evangelist das Individuum in viel größerem Masse betont als alle anderen Schriften des Neuen Testaments.26 Individualistische Aussagen – und damit sind explizit Aussagen gemeint, die den Einzelnen betreffen, ihn aber nicht in moderner Manier zum Leitbegriff einer selbstbezogenen Kultur der Egozentrik machen – finden sich in den auffällig zahlreichen Stellen, in denen Johannes Jesus Aussagen (v.a. 26

C. F. D. Moule, The Individualism of the Fourth Gospel, in: Novum Testamentum, Vol. 5, Fasc. 2/3 1962), 171–190 und R. Bauckham, John – a Gospel for Individualists? Cambridge University, 3rd Moule Memorial Lecture 2010 (nur Audio). Moule konzentriert sich bei seiner Untersuchung auf die johanneische Eschatologie, während Bauckham die Formulierungen und die narrativen Strukturen untersucht.

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zum Glauben) machen lässt, die mit wer oder jeder, der oder wenn jemand beginnen (Joh 3,16.36; 6,40.51 u.v.a.).27 Damit untermauern Moule und Bauckham anhand einer synchronen Johanneslektüre, was meine These aufgrund einer diachronen Lektüre (von den Synoptikern zu Johannes) vorschlägt: Das Johannesevangelium (und insbesondere seine Christologie) ist ad personam gerichtet, sie zielt quasi auf den Mann. Darin gleicht es der Struktur paulinischer Theologie, die formal als direkte Anrede gestaltet ist (Paulus schreibt Briefe) und inhaltlich aus der Erörterung des Christusereignisses die jeweiligen Konsequenzen direkt auf die Situation der Hörer zieht.28 c) Ob sich innerhalb des Johannesevangeliums eine qualitative Entwicklung des Glaubensmotives bzw. der Reaktion der Personen, die Jesus auf ihren Glauben an ihn anspricht, finden lässt, ist schwierig zu beantworten. Dazu müssten genauere Untersuchungen angestellt werden. Immerhin lässt sich eine solche Entwicklung anhand der oben vorgestellten Passagen vermuten: Nathanael glaubt zwar, aber Jesus stellt diesen Fragen beinahe ironisch infrage (Weil ich dir gesagt habe, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah, glaubst du? Joh 1,50). Nikodemus (Joh 3,1ff.) kommt aufgrund des Monologes von Jesus gar nicht zum Antworten, allerdings lassen seine Fragen vermuten, dass er nichts verstanden hat. Petrus bekennt im Anschluss an die Brotrede seinen Glauben, allerdings in etwas ungewohnter Form: Zum einen spricht er nicht persönlich, sondern vom Kollektiv (wir sind zum Glauben gekommen, Joh 6,69), und zum anderen bekennt er sich zu Jesus als dem Heiligen Gottes. In der Lazarusgeschichte bekennt Marta ihren Glauben in lupenreiner Form (Jetzt glaube ich, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, Joh 11,27), und im Anschluss an die Geschichte wird von vielen Juden berichtet, die aufgrund der Auferweckung zum Glauben gekommen waren (V. 45). Und schließlich liefert Thomas ein im ganzen Neuen Testament einmaliges Bekenntnis: Mein Herr und mein Gott (Joh 20,28). Stimmen diese Beobachtungen, dann ließe sich innerhalb des Evangeliums tatsächlich eine Entwicklung des Glaubensmotives feststellen: Je länger die Erzählung andauert, desto eindeutiger wird der Glaube der von Jesus Angesprochenen. Dass die Klimax dieser Entwicklung beim Bekenntnis des Thomas vor dem Auferweckten liegt, könnte darauf hinweisen, dass nach johanneischem Verständnis der Glaube nicht dem irdischen Jesus gilt, sondern 27

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Gemäß Bauckhams Zählung finden sich »mindestens 61« solcher Formulierungen im JohEv. Daneben macht er auf die Erzählungen aufmerksam, die Jesus mit einer Einzelperson im privaten Umfeld führt, in deren Verlauf sich die Haltung seines Gesprächspartners verändert. Zu dieser Kategorie gehören zweifelsohne die Beispiele, die ich oben aufgeführt habe. Vgl. dazu z.B. Galater 4.5: Nach einer längeren Diskussion über das Wesen der christlichen Freiheit (Gal 4) spricht Paulus die Galater direkt an, indem er ihnen die Konsequenzen der Diskussion auf ihre Situation hin aufzeigt (Gal 5,1.13.16ff.25f.). Weitere Beispiele ließen sich insbesondere im 1. Korintherbrief finden.

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dem auferweckten Christus. Die Thomasepisode wäre dann die Vergewisserung, dass es möglich ist, an den Auferweckten zu glauben, auch wenn man ihn nicht mehr sehen kann. Denn wie Jesus die noch im irdischen Denken verhafteten Zweifel des Thomas überwand, indem er sich ihm persönlich offenbarte, so ist nachösterlicher Glaube davon bestimmt, dass er sich auf die Offenbarung des Auferweckten bezieht und nicht mehr an dessen irdische Person gebunden ist, die selbstredend zu Zweifel Anlass gibt. Selig sind die, die nicht sehen und glauben (Joh 20,29), nicht aufgrund ihrer besonderen Leistung, sondern weil nachösterlicher Glaube nicht geprägt ist vom Defizit des NichtSehen-Könnens, sondern von der Gegenwart des Erhöhten, der den Glauben ermöglicht. d) Während die Synoptiker so (miss)verstanden werden könnten, dass Christus nicht der Inhalt, sondern das Vorbild des Glaubens ist (glauben wie Jesus), so macht die johanneische Existenzialisierung deutlich, dass christlicher Glaube Glaube an Jesus ist. Diese Position teilt Johannes mit Paulus, auch wenn die beiden in formaler Hinsicht wenig verbindet. Johannes konzentriert die Inhalte seines Evangeliums auf diese Glaubensbestimmung und nimmt in Kauf, andere Inhalte der synoptischen Tradition, wenn nicht zu vernachlässigen, so doch zu reduzieren (z.B. die Rede vom Reich Gottes, die Gleichnisse, die ethische Lehre, die klassische Eschatologie u.a. – alles Themen, die bei den Synoptikern prominent vorkommen). Die fokussierende Reduktion der überlieferten Tradition exemplifiziert (anachronistisch, wohlverstanden) Luthers Diktum, dass nur das von theologischer Bedeutung ist, was Christum treibet.29 Eine solche Lektüre johanneischer Theologie gibt der Kirche der Gegenwart zu bedenken, dass ihre Aufgabe in der Verkündigung von Jesus Christus liegt und in nichts anderem. Jeder Versuch, diesem kerygmatischen Auftrag nicht gerecht zu werden, führt zwangsläufig in eine namenlose Spiritualität, der der Applaus humanistischer oder ethisch interessierter Kreise wohl sicher ist, letztlich der Kirche aber einen Bärendienst leistet, weil er solche mediale Präsenz und Akzeptanz zum Preis des Fundamentverlustes erkauft. In einer von (landes- und frei-)kirchlichen Auflösungserscheinungen geprägten Zeit dient weder die christusfreie Anbiederung an den spirituellen Mehrheitsgeschmack noch die von gegenseitiger Abgrenzung geprägte Rekonfessionalisierung dazu, den Kirchen Glaubwürdigkeit oder gesellschaftliche Relevanz zurückzugeben, sondern allein die Treue zum ihrem einzigen Auftrag: Damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist (Joh 20,31). Alle anderen Aufgaben folgen diesem und sind aus ihm begründet. Die interne Vergewisserung und die Klarstellung des Auftrags für die Welt erfolgt nicht durch cleveres Agendensetting einer auf weiter 29

M. Luther, Vorrede auf die Epistel S Jacobi und Juede (1546), in: WA, DB VII 385.

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Front überinstitutionalisierten Verwaltungskirche, sondern durch Konzentration auf den Glauben an Christus, und dies in allem Wirken der Kirche, sei es in der Sonntagspredigt, in der Diakonie, im theologischen oder journalistischen Schaffen. Die johanneische Konzentration weist den Weg. e) Die Personalisierung der johanneischen Erzählung dient nicht der Unterhaltung der Leser und Hörer, denen gute Geschichten gut gefallen; vielmehr wird anhand persönlicher Begegnungen das Wesen des christlichen Glaubens als Vertrauen auf die sich in Christus offerierende Liebe Gottes eindringlich und verständlich dargestellt. Beim Hören oder Lesen persönlicher Geschichten und persönlicher Begegnungen identifiziert sich der Leser mit den Personen und Situationen der Erzählung und wird selbst empfänglich für die zentralen Fragen des Glaubens. Die johanneische Erzählkunst legt nahe, in homiletischer Hinsicht personenzentriert zu arbeiten. Die Fragen des Thomas bei Johannes bringen zur Sprache, was bei Lukas nicht gesagt wird, aber zwischen den Zeilen zu lesen wäre. Und die Figur des Thomas erlaubt es dem Evangelisten, diese Fragen nicht im theoretischen Rahmen, sondern als Geschichte zu beantworten, die dem Leser nahe geht. Die johanneische relecture dient also als Vorbild für eine personenzentrierte Auslegung und Predigt synoptischer Kurzgeschichten. Sie hat dementsprechend eine hermeneutische, eine interpretatorische und eine homiletische Funktion für unser eigenes Schaffen und Predigen. Denn die Geschichte des dynamischen, persönlichen, Zweifel duldenden und Glauben ermöglichenden Jesus betrifft nicht nur den damaligen Thomas, sondern in existentieller Weise jeden, der sich auch heute mit der Identität dieses Jesus auseinandersetzt – und damit immer auch mit der je eigenen.

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LIEBE(S)LEBEN Predigt zu Johannes 15,9f.12 Holger Eschmann Lesung aus den Abschiedsreden Jesu im 15. Kapitel des Johannesevangeliums: »Jesus spricht: Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe. Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe … Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe.

Liebe Hochschulgemeinschaft, da sagt einer, der geht, zum Abschied zu seinen Freunden: »Bleibt! Bleibt in meiner Liebe!« Jesus sagt das zu seinen Jüngern, weil er weiß, dass sie sich später in einer langen Kirchengeschichte immer wieder zerstreiten werden. »Bleibt in meiner Liebe!« Er sagt das zu ihnen, weil er weiß, dass sie auch von außen Druck bekommen und Verfolgung erleiden werden. »Bleibt in meiner Liebe!« Aber wie macht man das, in Jesu Liebe bleiben? Als Antwort auf diese Frage lässt Jesus uns einen Blick tun in die Liebesgeschichte des dreieinigen Gottes: »Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch … Liebt einander, wie ich euch liebe.« Das steht am Anfang und am Ende seiner Worte. Die Liebe des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ist die Klammer, die unsere Liebe zueinander zusammenhält. Mit Jesu Worten werden wir hineingenommen in Gottes Liebesleben. Diese Liebeskommune des dreieinigen Gottes – wie der Dichterpfarrer Kurt Marti es einmal genannt hat – ist die stetige Quelle unserer Liebe zu Gott und zueinander. Darum nur kann Jesus auch das Folgende zumuten: »Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe … Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt.« Aber erneut müssen wir fragen: Kann man Liebe wirklich gebieten? Wer sich nur ein wenig mit Psychologie auskennt, weiß, dass man Gefühle nicht anordnen oder befehlen kann. Wie soll ich denn den Menschen lieben, den ich nicht sympathisch finde? Ist das nicht doch eine zu große Zumutung? Ja, das wäre es wohl, wenn mit dieser Liebe, von der Jesus spricht, nur die Gefühle von Sympathie und Zuneigung gemeint wären. Im günstigen Falle sind diese Gefühle zwar auch dabei. Aber die Kraft und den Mut, sogar Feinde

Holger Eschmann, Predigt zu Johannes 15,9f.12

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zu lieben, gewinnt die Liebe nicht aus allzu wechselhaften menschlichen Gefühlen, sondern aus Gott, dem Geheimnis der Liebe. Als Menschen, die von diesem Jesus nicht loskommen, gründet unsere Liebe in der Verbundenheit mit ihm. In seiner Schrift »Gemeinsames Leben« schreibt Dietrich Bonhoeffer sinngemäß: Ein Christ kommt zum andern nur durch Jesus Christus. Er ist der Mittler zwischen Gott und Menschen und der Mittler zwischen den Menschen. Ohne Christus wäre unser Weg zueinander versperrt durch unser Ich, durch unsere unterschiedlichen Lebenskonzepte und Zielvorstellungen. Durch Christus aber können wir einander näherkommen, einander lieben und dienen.1 Diese Gedanken Bonhoeffers hörten zwei Mitarbeiter in einer Kirchengemeinde. Sie konnten einander nicht besonders gut leiden. Sie gingen sich aus dem Weg, und es gab immer wieder gegenseitige Verletzungen durch ihr Konkurrenzdenken. Da hörten sie nun in der Predigt, dass ihre gemeinsame Verbundenheit in Jesus Christus Bestand hat und nicht in ihren Gefühlen. Nach dem Gottesdienst fielen sich beide, die sich sonst aus dem Weg gingen, in die Arme und sagten sinngemäß: »Was für eine Erleichterung, dass wir uns nicht sympathisch finden müssen und doch in Christus zusammengehören …« Jesus spricht: »Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe.« Weil Jesus weiß, dass Menschen Worte oft vergessen, hat er seinen Freunden und Freundinnen nicht nur diese Worte gesagt, sondern auch das Abendmahl mit ihnen gefeiert, damit sie sich seiner Liebe erinnern und in seiner Liebe bleiben. Das griechische Wort für Liebe heißt in unseren Bibelversen Agape. Agape hat eine doppelte Bedeutung: Die göttliche Liebe und das urchristliche Liebesmahl, aus dem sich die Feier des Abendmahls entwickelt hat. Wenn wir nachher Abendmahl feiern, befolgen wir Jesu Gebot und bleiben in dem Geheimnis seiner Liebe. Da sagt einer, der geht, zum Abschied zu seinen Freunden: »Bleibt! Bleibt in meiner Liebe!« Er sagt das, weil er weiß, dass die Liebe bleibt – neben dem Glauben und der Hoffnung. Und er sagt: »Bleibt!«, weil er weiß, dass er wiederkommen wird, und dass dann kein Mensch mehr aus dem göttlichen Liebesleben ausgeschlossen sein wird. Amen.

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Vgl. D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, München 1973, 15.

Theologie für die Praxis 45, 2019

DOI 10.2364/3846997000

Rezension Willibald J. Stronegger/Kristin Attems (Hrsg.): Das Lebensende zwischen Ökonomie und Ethik. 2. Goldegger Dialogforum Mensch und Endlichkeit [Bioethik in Wissenschaft und Gesellschaft, Bd. 7], Nomos: Baden-Baden 2019. 189 S., broschiert, 978-3-8487-5676-6. 39,Euro. Angesichts des zunehmenden Pflegenotstands in Krankenhäusern und Seniorenzentren und der damit verbundenen Probleme in der Versorgung alter, kranker und sterbender Menschen ist es notwendig, grundlegend über Möglichkeiten der Verbesserung der Versorgungsqualität nachzudenken. Dieser Aufgabe widmet sich der vorliegende, im Wissenschaftsverlag Nomos erschienene Sammelband. Er enthält für den Druck überarbeitete Vorträge, die im Rahmen des zweiten Dialogforums Mensch und Endlichkeit in Schloss Goldegg (Goldegg am See/Österreich) gehalten wurden. Thematisch sind die Beiträge in zwei Hauptteile gegliedert, von denen der erste mit der Überschrift »Ethisch-existentielle Realitäten am Ende des Lebens« versehen ist, und der zweite »Ökonomische Rationalitäten in der Versorgung am Lebensende« thematisiert. Dem Ganzen ist ein programmatischer Beitrag des Herausgebers Willibald J. Stronegger vorangestellt, in dem er sich kritisch mit der »zunehmenden Verwaltung und Bürokratisierung der letzten Lebensphase« (Vorwort) auseinandersetzt. Stronegger, der Sozialmedizin und Epidemiologie an der Universität Graz lehrt, zieht einen großen geistesgeschichtlichen Bogen von der Wende zur Neuzeit bis ins heutige Gesundheitswesen, das den Patienten mit Hilfe von Kennzahlen und Indikatoren vermisst, die meist aus quantitativen Analysen gewonnen und unter ökonomischen Gesichtspunkten ausgewertet werden. Dabei besteht die Gefahr, dass der Mensch in diesem Prozess der Verobjektivierung als individuelles Subjekt auf der Strecke bleibt. Um diesen Prozess näher zu beleuchten und ihm kritisch-konstruktiv zu begegnen, nehmen die nächsten vier Beiträge ethisch-existenzielle Fragen bzgl. des Lebensendes in den Blick. Der frühere Präsident der Caritas Österreich, Franz Küberl, betont in seinem Aufsatz mit dem Titel »Mensch bleibt Mensch … und keine medizinische Restgröße« besonders den Wert und die Würde des sterbenden Menschen, auch »wenn er ›vordergründig‹ der Gesellschaft ›keinen Nutzen mehr bringt‹« (37). Er spricht dabei von einem »Recht auf Gebrechlichkeit« des alten Menschen und von der Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betreuung und Begleitung am Lebensende. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass auch den Pflegenden Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenzubringen ist, wenn sie die ihnen gestellten Aufgaben menschengerecht erfüllen sollen. Rezension

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Der Beitrag der Stuttgarter Krankenhausseelsorgerin Corinna Schmohl befasst sich mit den »spirituellen und psychosozialen Bedürfnissen« alter und sterbender Menschen im Krankenhaus »und mit der Rolle von Seelsorge und Spiritual Care in der Palliativversorgung« (53). In ihrer beruflichen Praxis stellt sie fest, dass insbesondere im Alter und angesichts von Krankheit spirituelle Fragen (wieder) zentral werden können. Dem Bedürfnis der Patient*innen, darüber zu sprechen und Hilfe und Begleitung zu erhalten, kann aus der Sicht Schmohls insbesondere mit der christlichen Seelsorge, der Logotherapie des Wiener Neurologen und Psychiaters Viktor E. Frankls und der Ausübung von Spiritual Care begegnet werden. Spiritualität wird in diesem Zusammenhang als »lebendige Beziehung eines Menschen zu dem, was sein Leben trägt« (63), beschrieben. Wird auf diese Ressource zurückgegriffen, kann Hoffnung geweckt und auch und gerade angesichts des Todes die Kostbarkeit des Lebens empfunden werden. Die Pflegefachfrau Angelika Feichtner nimmt in ihrem Artikel mit der Überschrift »Bedürfnisse und inneres Erleben Sterbender« den Prozess des Sterbens von der »Rehabilitationsphase« bis zur »Finalphase« (80) in den Blick. Dabei beschreibt sie das Sterben ausführlich als einen multidimensionalen Vorgang, der sowohl körperliche als auch soziale, seelische und spirituelle Dimensionen umfasst. Spiritualität gehört dabei – laut Feichtner – »zur menschlichen Grundausstattung … auch bei Menschen, die keiner Religion zugehörig sind« (93). Im abschließenden Kapitel ihres Beitrags verknüpft sie das Sterben des Menschen auf originelle Weise mit seiner Geburt: »Die Geburt ist unsere Ankunft aus einer unbekannten Dimension und das Sterben ist die Abreise in eine ebenso unbekannte Dimension.« (97). In diesem Zusammenhang plädiert sie dafür, dem Sterben eine ähnlich große Aufmerksamkeit und Sorgfalt in Vorbereitung und Betreuung zu gewähren wie der Geburt eines Menschen. Ein wenig sperrig im Ganzen des Sammelbandes wirkt zunächst der philosophische Aufsatz des Grazer Gesundheitswissenschaftlers Patrick Schuchter. Unter Rückgriff auf antikes Denken werden die Philosophie und Ethik Epikurs als eine bedeutsame Quelle für die »Kunst der Sorge« um den kranken und sterbenden Menschen verstanden. Auf dem Hintergrund epikureischer Reflexion kann »die Lust am Leben zu sein und die Dankbarkeit dafür« zum »Trost- und Heilmittel gegen Schmerz, Angst und Wirrnisse der Seele« werden (114). Von Epikurs Verständnis der Freundschaft her entwickelt Schuchter für die Pflege durch professionelle und ehrenamtliche Kräfte den Gedanken eines Verhältnisses auf Gegenseitigkeit, durch das sowohl die pflegende als auch die gepflegte Person beschenkt werden.

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Die letzten vier Beiträge sind der ökonomischen Dimension bei der Versorgung von Menschen am Lebensende gewidmet. Stärker als in den vorangegangenen Kapiteln ist hier die Situation in Österreich im Fokus. Dadurch wirken die Beiträge nicht so grundlegend-allgemein wie die der ersten Hälfte des Sammelbandes, sondern bisweilen eher exemplarisch. Christian Lagger, Geschäftsführer und Sprecher bei den Elisabethinen Österreich, beleuchtet in seinem Artikel zu »Ökonomie als Service. Gesundheit für alle und das liebe Geld« die Spannung zwischen dem zunehmenden ökonomischen Denken im Gesundheitswesen und der bleibenden Vorrangstellung des Wohls der Patient*innen. Dabei unterscheidet er zwischen notwendigen Rationalisierungen im Sinne einer Optimierung des Einsatzes der begrenzten Mittel und bedenklichen Rationierungen, die bestimmte Gruppen von kranken Menschen von Leistungen ausschließt, und plädiert für eine ethisch verantwortbare Ökonomie, die er beispielsweise in Ordensspitälern verwirklich sieht (145). Stefan Dinges, Praktischer Theologe und Medizin- und Gesundheitsethiker in Wien, geht in seinem Beitrag unter der Überschrift »Eine Sorge für das Ganze« der Frage nach, »(w)elchen Beitrag Pflegende für eine organisatorische Ausrichtung von Gesundheitseinrichtungen leisten – trotz moralischem Stress, Rollenkonflikten und ungeklärter Verantwortung« (147). Auf dem Hintergrund des Pflegenotstands beschreibt er den wachsenden »moralischen Stress«, der daraus erwächst, dass einerseits notwendige Maßnahmen nicht und andererseits z.B. ruhigstellende Maßnahmen zu rasch und großflächig zum Einsatz kommen und dadurch die »eigene, professionelle Wertebasis in Frage gestellt« wird (149). Angesichts dessen plädiert Dinges für eine stärkere Beachtung der Prinzipien der Würde und der Solidarität und für ein neues, interprofessionelles und ganzheitliches Verständnis von Ökonomie (Οικονομια). Der einzige Aufsatz, der von mehreren Autor*innen geschrieben wurde (Christine Trischak, Gerald Gredinger, Claudia Lohr, Sylvia Reitter-Pfoertner) trägt den Titel: »Integrierte Palliativversorgung von multimorbiden geriatrischen Patientinnen/Patienten – eine Kernkompetenz der Primärversorgung?«. Ausgehend von der statistischen Beobachtung, dass der Anteil der älteren Bevölkerung ständig wächst, wird auf die damit zusammenhängende Zunahme von Multimorbidität hingewiesen, durch die sich gerade im Alter »Einzelerkrankungen nicht nur aufsummieren, sondern sich vielmehr in synergetischer Weise verstärken, bzw. mit altersphysiologischen Einschränkungen von Körperfunktionen in Wechselwirkung treten können« (167). Angesichts dieses Befundes plädieren die Autor*innen für eine »integrierte Versorgung«, die patientenorientiert und interdisziplinär ausgerichtet ist und insbesondere in den Aufgabenbereich des Hausarztes und der Hausärztin fällt. Rezension

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Der Sammelband wird beschlossen von dem Beitrag der Gesundheitsforscherin Olivia Kada, die sich mit dem Thema »Vermeidbare Krankenhaustransporte aus Pflegeheimen« beschäftigt. Nach einem Überblick über Transportraten und -anlässe (wie z.B. Stürze, Verschlechterung des Allgemeinzustandes und Schmerzen) wird der Begriff der »vermeidbaren Transporte« näher definiert und beschrieben, welche belastenden Konsequenzen diese Transporte für die Bewohner*innen von Seniorenzentren und für die Pflegenden nach sich ziehen können. Als eine »besonders vielversprechende Maßnahme« (181) zur Reduzierung vermeidbarer Krankenhaustransporte hat sich in Österreich zum einen eine bessere »Strukturierung und Standardisierung der Versorgung im Heim sowie die Installierung von geriatrischen Konsiliardiensten« (179) gezeigt. Alles in allem ist es den Herausgeber*innen gelungen, einen sehr empfehlenswerten Band zu einem höchst brisanten Thema heutiger Gesundheitspflege zusammenzustellen. Holger Eschmann

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Autorinnen und Autoren Dr. Jörg Barthel, Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Friedrich-Ebert-Straße 31, 72762 Reutlingen [email protected] Dr. Friedemann Burkhardt, Pastor und Dozent für Praktische Theologie an der Internationalen Hochschule Liebenzell, Heinrich-Coerper-Weg 11 75378 Bad Liebenzell [email protected] Dr. Holger Eschmann, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Friedrich-Ebert-Straße 31, 72762 Reutlingen [email protected] Achim Härtner M.A., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Friedrich-Ebert-Straße 31, 72762 Reutlingen [email protected] Dr. Michael Nausner, Forscher an der Einheit für Forschung und Analyse an der Kirchenkanzlei der Schwedischen Kirche, Sysslomansgatan 4, 75170 Uppsala, Schweden [email protected] Dr. Jörg Rieger, Distinguished Professor of Theology, Cal Turner Chancellor’s Chair in Wesleyan Studies, Divinity School and Graduate Department of Religion, Vanderbilt University, 411 21st Ave S, Nashville, TN 37240, USA [email protected] Wilfried Röcker, Pastor, Leiter des Bildungswerks der Evangelischmethodistischen Kirche, Giebelstraße 16, 70499 Stuttgart [email protected] Dr. Christoph Schluep-Meier, Pfarrer, Dennlerstrasse 25d, CH-8047 Zürich [email protected]

Autorinnen und Autoren

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