Dieser Band stellt umfassend die Theologie des Neuen Testaments auf dem Stand der internationalen Forschung dar. Dem gru
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German Pages 793 [752] Year 2016
Table of contents :
Theologie des Neuen Testaments
Impressum
Vorwort
Vorwort zur 2. Auflage
Hinweis zu den Literaturangaben
Inhalt
1 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
1.1 Das Entstehen von Geschichte
1.2 Geschichte als Sinnbildung
1.3 Verstehen durch Erzählen
2 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
2.1 Das Phänomen des Anfangs
2.2 Theologie und Religionswissenschaft
2.3 Vielfalt und Einheit
2.4 Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung
3 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.1 Die Frage nach Jesus
3.1.1 Jesus in seinen Deutungen
3.1.2 Kriterien der Frage nach Jesus
3.2 Der Anfang: Johannes der Täufer
3.2.1 Johannes der Täufer als historische Gestalt
3.2.2 Jesus und Johannes der Täufer
3.3 Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich
3.3.1 Der eine Gott in der Verkündigung Jesu
3.3.2 Das neue Gottesbild
3.4 Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes
3.4.1 Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben
3.4.2 Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes
3.4.3 Das Reich Gottes in Gleichnissen
3.4.4 Das Reich Gottes und die Verlorenen
3.4.5 Reich Gottes und Mahlgemeinschaften
3.5 Ethik im Horizont des Reiches Gottes
3.5.1 Schöpfung, Eschatologie und Ethik
3.5.2 Die ethischen Radikalismen Jesu
3.5.3 Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu
3.6 Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes
3.6.1 Das kulturgeschichtliche Umfeld
3.6.2 Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu
3.6.3 Jesus von Nazareth als Heiler
3.7 Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos
3.7.1 Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes
3.8 Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten
3.8.1 Gesetzestheologien im antiken Judentum
3.8.2 Jesu Stellung zur Tora
3.8.3 Jesus, Israel und die Heiden
3.9 Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet
3.9.1 Jesus als endzeitlicher Prophet
3.9.2 Jesus als Menschensohn
3.9.3 Jesus als Messias
3.10 Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang
3.10.1 Verhaftung, Prozess und Kreuzigung
3.10.2 Jesu Verständnis seines Todes
4 Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie
4.1 Jesu vorösterlicher Anspruch
4.2 Die Erscheinungen des Auferstandenen
4.3 Erfahrungen des Geistes
4.4 Die christologische Lektüre der Schrift
4.5 Religionsgeschichtliche Kontexte
4.6 Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos, Titel, Formeln und Traditionen
5 Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie Mission
5.1 Die Hellenisten
5.2 Antiochia
5.3 Die Stellung des Paulus
6 Paulus: Missionar und Denker
6.1 Theologie
6.1.1 Der eine und wahre Schöpfergott
6.1.2 Der Vater Jesu Christi
6.1.3 Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln
6.1.4 Gottes Offenbarung im Evangelium
6.1.5 Das neue Gottes-Bild
6.2 Christologie
6.2.1 Transformation und Partizipation
6.2.2 Kreuz und Auferstehung
6.2.3 Rettung und Befreiung durch Jesus Christus
6.2.4 Jesu Christi stellvertretender Tod ‚für uns‘
6.2.5 Sühne
6.2.6 Versöhnung
6.2.7 Gerechtigkeit
6.3 Pneumatologie
6.3.1 Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens
6.3.2 Die Gaben des Geistes
6.3.3 Vater, Sohn und Geist
6.4 Soteriologie
6.4.1 Das neue Sein ‚mit Christus‘/‚in Christus‘
6.4.2 Gnade und Rettung
6.5 Anthropologie
6.5.1 Der Leib und das Fleisch
6.5.2 Sünde und Tod
6.5.3 Gesetz
6.5.4 Glaube
6.5.5 Freiheit
6.5.6 Weitere anthropologische Begriffe
6.6 Ethik
6.6.1 Teilhabe und Entsprechung
6.6.2 Das neue Handeln
6.7 Ekklesiologie
6.7.1 Ekklesiologische Grundbegriffe
6.7.2 Strukturen und Aufgaben
6.7.3 Die Gemeinde als sündenfreier Raum
6.8 Eschatologie
6.8.1 Teilhabe am Auferstandenen
6.8.2 Die Endereignisse
6.8.3 Das Gericht
6.8.4 Israel
6.8.5 Tod und neues Leben
6.9 Theologiegeschichtliche Stellung
7 Die dritte Transformation: Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
7.1 Der Tod von Gründergestalten
7.2 Die Verzögerung der Parusie
7.3 Der Untergang des Tempels und der Urgemeinde
7.4 Der Aufstieg der Flavier
7.5 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
8 Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte: Sinn durch Erzählen
8.1 Die Logienquelle als Proto-Evangelium
8.1.1 Theologie
8.1.2 Christologie
8.1.3 Pneumatologie
8.1.4 Soteriologie
8.1.5 Anthropologie
8.1.6 Ethik
8.1.7 Ekklesiologie
8.1.8 Eschatologie
8.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung
8.2 Markus: Der Weg Jesu
8.2.1 Theologie
8.2.2 Christologie
8.2.3 Pneumatologie
8.2.4 Soteriologie
8.2.5 Anthropologie
8.2.6 Ethik
8.2.7 Ekklesiologie
8.2.8 Eschatologie
8.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung
8.3 Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit
8.3.1 Theologie
8.3.2 Christologie
8.3.3 Pneumatologie
8.3.4 Soteriologie
8.3.5 Anthropologie
8.3.6 Ethik
8.3.7 Ekklesiologie
8.3.8 Eschatologie
8.3.9 Theologiegeschichtliche Stellung
8.4 Lukas: Heil und Geschichte
8.4.1 Theologie
8.4.2 Christologie
8.4.3 Pneumatologie
8.4.4 Soteriologie
8.4.5 Anthropologie
8.4.6 Ethik
8.4.7 Ekklesiologie
8.4.8 Eschatologie
8.4.9 Theologiegeschichtliche Stellung
9 Die vierte Transformation: Das Evangelium in der Welt
9.1 Die soziale, religiöse und politische Entwicklung
9.2 Pseudepigraphie/Deuteronymität als historisches, literarisches und theologisches Phänomen
10 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
10.1 Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit
10.1.1 Theologie
10.1.2 Christologie
10.1.3 Pneumatologie
10.1.4 Soteriologie
10.1.5 Anthropologie
10.1.6 Ethik
10.1.7 Ekklesiologie
10.1.8 Eschatologie
10.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung
10.2 Der Epheserbrief: Raum und Zeit
10.2.1 Theologie
10.2.2 Christologie
10.2.3 Pneumatologie
10.2.4 Soteriologie
10.2.5 Anthropologie
10.2.6 Ethik
10.2.7 Ekklesiologie
10.2.8 Eschatologie
10.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung
10.3 Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem
10.4 Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit
10.4.1 Theologie
10.4.2 Christologie
10.4.3 Pneumatologie
10.4.4 Soteriologie
10.4.5 Anthropologie
10.4.6 Ethik
10.4.7 Ekklesiologie
10.4.8 Eschatologie
10.4.9 Theologiegeschichtliche Stellung
11 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
11.1 Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden
11.1.1 Theologie
11.1.2 Christologie
11.1.3 Pneumatologie
11.1.4 Soteriologie
11.1.5 Anthropologie
11.1.6 Ethik
11.1.7 Ekklesiologie
11.1.8 Eschatologie
11.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung
11.2 Der Jakobusbrief: Handeln und Sein
11.2.1 Theologie
11.2.2 Christologie
11.2.3 Pneumatologie
11.2.4 Soteriologie
11.2.5 Anthropologie
11.2.6 Ethik
11.2.7 Ekklesiologie
11.2.8 Eschatologie
11.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung
11.3 Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes
11.3.1 Theologie
11.3.2 Christologie
11.3.3 Pneumatologie
11.3.4 Soteriologie
11.3.5 Anthropologie
11.3.6 Ethik
11.3.7 Ekklesiologie
11.3.8 Eschatologie
11.3.9 Theologiegeschichtliche Stellung
11.4 Der Judas- und der zweite Petrusbrief: Identität durch Tradition und Gegnerpolemik
12 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
12.1 Theologie
12.1.1 Gott als Vater
12.1.2 Das Wirken des Vaters im Sohn
12.1.3 Gott als Licht, Liebe und Geist
12.2 Christologie
12.2.1 Präexistenz und Inkarnation
12.2.2 Die Sendung des Sohnes
12.2.3 Die ‚Ich-bin-Worte‘
12.2.4 Christologische Titel
12.2.5 Kreuzestheologie
12.2.6 Die Einheit der johanneischen Christologie
12.3 Pneumatologie
12.3.1 Jesus Christus und die Glaubenden als Geistträger
12.3.2 Der Heilige Geist als Paraklet
12.3.3 Trinitarisches Denken im Johannesevangelium
12.4 Soteriologie
12.4.1 Begriffliches
12.4.2 Prädestination
12.5 Anthropologie
12.5.1 Der Glaube
12.5.2 Das ewige Leben
12.5.3 Die Sünde
12.6 Ethik
12.6.1 Das Liebesgebot
12.6.2 Narrative Ethik
12.6.3 Die Ethik des ersten Johannesbriefes
12.7 Ekklesiologie
12.7.1 Eckpunkte: Paraklet und Lieblingsjünger
12.7.2 Die Sakramente
12.7.3 Die Jünger
12.7.4 Sendung und Mission
12.8 Eschatologie
12.8.1 Die Gegenwart
12.8.2 Die Zukunft
12.9 Theologiegeschichtliche Stellung
13 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
13.1 Theologie
13.2 Christologie
13.3 Pneumatologie
13.4 Soteriologie
13.5 Anthropologie
13.6 Ethik
13.7 Ekklesiologie
13.8 Eschatologie
13.9 Theologiegeschichtliche Stellung
14 Autorenregister
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
Udo Schnelle
Theologie des Neuen Testaments
Zweite, durchgesehene Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Prof. Dr. theol. Udo Schnelle, o. Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät in Halle. Veröffentlichungen: Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, 21986; Einführung in die neutestamentliche Exegese, 82014; Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, 1987; Wandlungen im paulinischen Denken, 1989; Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes, 1991; Neuer Wettstein II (mit G. Strecker), 1996; Das Evangelium nach Johannes, 42009; Neuer Wettstein I/2, I 1.1, I/1.2, 2001.2008.2013; Paulus. Leben und Denken, 22014; Einleitung in das Neue Testament, 82013; Aufsätze.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2014, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Titelbild: Die Apostel Petrus, Paulus und Johannes; Kunstsammlung der Theologischen Fakultät Halle. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Hubert & Co, Göttingen Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm UTB-Nr. 2917 ISBN 978-3-8252-4069-1 (UTB-Bestellnummer)
Vorwort
Ziel dieser Theologie des Neuen Testaments ist es, umfassend die Vielfalt und den Reichtum der neutestamentlichen Gedankenwelt darzustellen. Jede Schrift/jeder Autor des Neuen Testaments blickt aus der je eigenen Perspektive auf das gemeinsame Zentrum Jesus Christus und gerade diese Multiperspektivität eröffnet Glaubenswelten und ermöglicht neues Denken und Handeln. Zu danken habe ich Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn (Mainz), der einzelne Kapitel des Buches gelesen hat und wertvolle Hinweise gab; zu danken habe ich ferner Herrn wiss. Ass. Markus Göring (Halle) und Herrn stud. theol. Martin Söffing (Halle) für ihre Hilfe bei den Korrekturarbeiten. Halle, im August 2007
Udo Schnelle
Vorwort zur 2. Auflage
Für die 2. Auflage wurde der gesamte Text auf Fehler durchgesehen. Halle, im Oktober 2013
Udo Schnelle
Hinweis zu den Literaturangaben
Wenn die Literatur in abgekürzter Form nachgewiesen wird, findet sich der vollständige Erstnachweis immer im Literaturblock des betreffenden Abschnittes oder in den Anmerkungen desselben Unterabschnittes. Sonst erfolgt der Nachweis an Ort und Stelle oder es wird auf den Abschnitt des Erstnachweises verwiesen (s. o./s. u.). Theologien des Neuen Testaments werden ohne späteren Rückverweis nur im Abschnitt 1 vollständig angeführt. Die Abkürzungen entsprechen den Verzeichnissen der TRE, des EWNT und des Neuen Wettstein.
Inhalt
1 1.1 1.2 1.3
Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung . Das Entstehen von Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte als Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen durch Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 17 22 25
2 2.1 2.2 2.3 2.4
Der Aufbau: Geschichte und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Phänomen des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologie und Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfalt und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 30 34 37 42
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
Jesus von Nazareth: Der nahe Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Die Frage nach Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Jesus in seinen Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Kriterien der Frage nach Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Der Anfang: Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Johannes der Täufer als historische Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Jesus und Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Der eine Gott in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Das neue Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . 71 Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Das Reich Gottes in Gleichnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Das Reich Gottes und die Verlorenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Reich Gottes und Mahlgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Ethik im Horizont des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Schöpfung, Eschatologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Die ethischen Radikalismen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3
8 Inhalt
3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.7 3.7.1 3.8 3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.9 3.9.1 3.9.2 3.9.3 3.10 3.10.1 3.10.2
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes . . . . . . . . . . . . . . 104 Das kulturgeschichtliche Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Jesus von Nazareth als Heiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Gesetzestheologien im antiken Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Jesu Stellung zur Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Jesus, Israel und die Heiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet . . . . . . . . . . . . . . 128 Jesus als endzeitlicher Prophet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Jesus als Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Jesus als Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Verhaftung, Prozess und Kreuzigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Jesu Verständnis seines Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie . . . . . 145 Jesu vorösterlicher Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Die Erscheinungen des Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Erfahrungen des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Die christologische Lektüre der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Religionsgeschichtliche Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos, Titel, Formeln und Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
5 5.1 5.2 5.3
Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie Mission . 173 Die Hellenisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Die Stellung des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5
Paulus: Missionar und Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Der eine und wahre Schöpfergott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Der Vater Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Gottes Offenbarung im Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Das neue Gottes-Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Inhalt 9
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5 6.5.6 6.6 6.6.1 6.6.2 6.7 6.7.1 6.7.2 6.7.3 6.8 6.8.1 6.8.2 6.8.3 6.8.4 6.8.5 6.9
Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Transformation und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Kreuz und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Rettung und Befreiung durch Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Jesu Christi stellvertretender Tod ‚für uns‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Sühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . 244 Die Gaben des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Vater, Sohn und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Das neue Sein ‚mit Christus‘/‚in Christus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Gnade und Rettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Der Leib und das Fleisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Sünde und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Weitere anthropologische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Teilhabe und Entsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Das neue Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Ekklesiologische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Strukturen und Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Die Gemeinde als sündenfreier Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Teilhabe am Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Die Endereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Tod und neues Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
7
Die dritte Transformation: Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Der Tod von Gründergestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Die Verzögerung der Parusie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
7.1 7.2
10 Inhalt
7.3 7.4 7.5
Der Untergang des Tempels und der Urgemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Der Aufstieg der Flavier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . 343
8
Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte: Sinn durch Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Die Logienquelle als Proto-Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Markus: Der Weg Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Lukas: Heil und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462
8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.1.7 8.1.8 8.1.9 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7 8.2.8 8.2.9 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.3.7 8.3.8 8.3.9 8.4 8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.4
Inhalt 11
8.4.5 8.4.6 8.4.7 8.4.8 8.4.9
Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488
9 9.1 9.2
Die vierte Transformation: Das Evangelium in der Welt . . . . . . . . 490 Die soziale, religiöse und politische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Pseudepigraphie/Deuteronymität als historisches, literarisches und theologisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
10 10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6 10.1.7 10.1.8 10.1.9 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.7 10.2.8 10.2.9 10.3 10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6
Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 Der Epheserbrief: Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem . . . . . . . . . . . 536 Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . 541 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
12 Inhalt
10.4.7 10.4.8 10.4.9
Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562
11 11.1 11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5 11.1.6 11.1.7 11.1.8 11.1.9 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5 11.2.6 11.2.7 11.2.8 11.2.9 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5 11.3.6 11.3.7 11.3.8 11.3.9 11.4
Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 564 Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden . . . . . . . . . . . . . . . 564 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Der Jakobusbrief: Handeln und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Der Judas- und der zweite Petrusbrief: Identität durch Tradition und Gegnerpolemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
12 12.1 12.1.1
Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum . . . 619 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 Gott als Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621
Inhalt 13
12.1.2 12.1.3 12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.2.5 12.2.6 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.4 12.4.1 12.4.2 12.5 12.5.1 12.5.2 12.5.3 12.6 12.6.1 12.6.2 12.6.3 12.7 12.7.1 12.7.2 12.7.3 12.7.4 12.8 12.8.1 12.8.2 12.9
Das Wirken des Vaters im Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Gott als Licht, Liebe und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 Präexistenz und Inkarnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 Die Sendung des Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Die ‚Ich-bin-Worte‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Christologische Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 Kreuzestheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 Die Einheit der johanneischen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 Jesus Christus und die Glaubenden als Geistträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 Der Heilige Geist als Paraklet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 Trinitarisches Denken im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672 Begriffliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Prädestination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676 Der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Das ewige Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 Die Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 Das Liebesgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 Narrative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 Die Ethik des ersten Johannesbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 Eckpunkte: Paraklet und Lieblingsjünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Die Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 Die Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 Sendung und Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 Die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6
Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . 712 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
14 Inhalt
13.7 13.8 13.9
Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
14
Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734
1
Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Theologien des Neuen Testaments H. J. HOLTZMANN, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie I.II, hg. v. A. Jülicher/W. Bauer, Tübingen 21911; R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O. Merk, Tübingen 9 1984; H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, hg. v. A. Lindemann, Tübingen 41987; K. H. SCHELKLE, Theologie des Neuen Testaments I-IV, Düsseldorf 1968–1976; W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, Göttingen 3 1976; L. GOPPELT, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. J. Roloff, Göttingen 31978; J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 31979; W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I.II.III, Münster 1981. 1998. 1999; H. HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II.III, Göttingen 1990. 1993. 1995; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II, Göttingen 1992. 1999; A. WEISER, Theologie des Neuen Testaments II: Die Theologie der Evangelien, Stuttgart 1993; J. GNILKA, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S 5, Freiburg 1994; K. BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 21996; B. S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel I.II, Freiburg 1994. 1996; G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F. W. Horn, Berlin 1996; G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000; F. VOUGA, Une thologie du Nouveau Testament, Genf 2001; F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments I.II, Tübingen 2002; U. WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments I.II.III.IV, Neukirchen 2002.2003.2005; K. NIEDERWIMMER, Theologie des Neuen Testaments, Wien 2003; H. MARSHALL, New Testament Theology, Downers Grove 2004; PH. F. ESLER, New Testament Theology. Communion and Community, Minneapolis 2005.
Eine Theologie des Neuen Testaments muss zweierlei leisten: 1) Die Gedankenwelt der ntl. Schriften erheben und 2) sie im Kontext gegenwärtigen Wirklichkeitsverständnisses zur Sprache bringen. Sie partizipiert gleichermaßen an verschiedenen Zeitebenen; es gilt, das Vergangene zu vergegenwärtigen, zu explizieren und ihm einen zukunftsrelevanten Status zu verleihen. Damit ist die ntl. Theologie eingebunden in die Frage nach der bleibenden Bedeutung vergangenen Geschehens und somit immer ein Teil der Geschichtswissenschaften. Sie hat teil an der geschichtstheoretischen Debatte und muss nach dem Wesen und der Reichweite historischen Erkennens fragen. Indem sie dies tut, befindet sie sich bereits innerhalb wissenschaftstheoretischer Erwägungen, wie Vergangenheit/Geschichte und damit auch Wirklichkeit entstehen und welche Kategorien dabei eine zentrale Rolle spielen. Wirklichkeit ist nicht jenseits menschlicher Deutungsleistungen zu erfassen, die das Geschehene innerhalb von Erfahrungswelten kanalisieren und ihm in unterschiedli-
16 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
cher Weise Bedeutung zuschreiben. Diese Zuschreibungsprozesse sind immer auch Sinnbildungen, denn sie zielen als Vergewisserung, Erweiterung oder Neuaufbruch immer auf gültige Orientierung. Sie vollziehen sich stets als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn, d. h. Deutungskraft zur Orientierung innerhalb der Lebenszusammenhänge verleihen soll1. Sinn ist dem menschlichen Sein eingeprägt und erwächst aus Ereignissen, Erfahrungen, Einsichten, Denkprozessen und Deutungsleistungen und verdichtet sich zu Konzeptionen, die inhaltlich eine zeitübergreifende Perspektive für zentrale Lebensfragen bieten, narrativ präsentiert werden können und in der Lage sind, normative Aussagen zu formulieren und kulturelle Prägungen zu entwickeln2. Die Sinn-Kategorie3 ist in besonderer Weise geeignet, die Welt des Neuen Testaments und die Gegenwart miteinander in Verbindung zu setzen. Die Wirklichkeit war und ist zu jeder Zeit durch ständige Sinnbildungsprozesse gekennzeichnet, wobei die religiöse Sinnbildung als ein zentrales Element kultureller Sinnbildung immer auch an parallelen Sinnbildungsprozessen (in der Politik, Philosophie, Kunst, Dichtung, Wirtschafts- und Sozialstruktur) partizipiert. In der griechisch-römischen Antike wurden auf den Gebieten der Religion, Philosophie, Kunst, Politik und Naturwissenschaften ebenso Sinnbildungsleistungen erbracht wie in der Gegenwart. Das Leben ist immer eine Sinnverwirklichung, so dass es nicht um die Frage geht, ob Menschen Sinnbildungen vornehmen, sondern welche Ressourcen, Struktur, Qualität und argumentative Kraft sie aufweisen. Für eine ntl. Theologie ist der Sinnbegriff von großer Bedeutung, denn er vermag Göttliches und Menschliches miteinander zu verbinden, indem er die Sinnstiftung Gottes in Jesus Christus und ihre Bezeugung in den Schriften des Neuen Testaments gleichermaßen erfasst. Das Neue Testament als Basisurkunde des Christentums ist eine Sinnbildung mit einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte. Das frühe Christentum entfaltete sich in einem multi-kulturellen Umfeld mit zahlreichen attraktiven religiösen und
1 Zum geschichtstheoretischen Sinnbegriff vgl. J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, in; ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002, (9–41) 11; zum vielschichtigen Sinnbegriff insgesamt vgl. E. LIST, Art. Sinn, HRWG 5, Stuttgart 2001, 62–71. 2 Vgl. J. RÜSEN/K.-J. HÖLKESKAMP, Einleitung: Warum es sich lohnt, mit der Sinnfrage die Antike zu interpretieren, in: Sinn (in) der Antike, hg. v. K.J. Hölkeskamp/J. Rüsen/E. Stein-Hölkeskamp/H. Th. Grütter, Mainz 2003, (1–15) 3: „Ein Sinnkonzept lässt sich folgendermaßen definieren: Es ist ein plausibler und verlässlich beglaubigter reflektierter Be-
deutungszusammenhang der Erfahrungs- und Lebenswelt und dient dazu, die Welt zu erklären, Orientierungen vorzugeben, Identität zu bilden und Handeln zweckhaft zu leiten.“ 3 Das Wort Sinn leitet sich von dem indogermanischen Stamm sent- ab: eine Richtung nehmen, einen Weg gehen; im geistigen Sinn verbinden sich damit lat.: sentio (fühlen, wahrnehmen), sensus („Gefühl, Gesinnung, Meinung“), sententia (Meinung); althochdeutsch: sin (Sinn), sinnan (trachten, begehren); vgl. dazu J. POKORNY, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch I, Bern/München 1959, 908.
Das Entstehen von Geschichte 17
philosophischen Konkurrenzsystemen4. Es gelang ihm, auf dem Fundament der im Neuen Testament vielfältig erzählten Jesus-Christus-Geschichte ein Sinngebäude zu entwerfen, zu bewohnen und ständig auszubauen, das menschliches Leben im Ganzen zu gründen, zu festigen und zu strukturieren vermochte. Dieses Sinngebäude verfügte offenbar über eine große Deutungskraft und es muss das Ziel einer Theologie des Neuen Testaments sein, die Grund-Elemente dieser Deutungskraft zu ermitteln und darzustellen. Die Sinn-Kategorie als hermeneutische Konstante verhindert dabei eine Verengung auf historistische Faktenfragen, denn es kommt darauf an, wie die ntl. Überlieferungen historisch angeeignet und theologisch erschlossen werden können, ohne ihren religiösen Gehalt und ihre sinnbildende Kraft zu zerstören. Auf die Wahrheitsfrage wird dabei nicht verzichtet, denn Wahrheit ist verbindlicher Sinn. Ziel ist nicht ein entkerntes christliches Haus, sondern die Erfassung seiner Architektur, der tragenden Decken und Wände, der Türen und Treppen, die Verbindungen schaffen und der Fenster, die Ausblicke ermöglichen. Zugleich eröffnet die Sinn-Kategorie der Theologie als einer führenden Sinnwissenschaft die Möglichkeit, auf der Basis ihrer maßgeblichen Überlieferung mit anderen Sinnwissenschaften in einen kritischen Diskurs zu treten.
1.1
Das Entstehen von Geschichte
Jesus von Nazareth ist eine Gestalt der Geschichte und das Neue Testament ein Zeugnis der Wirkungsgeschichte dieser Person. Wenn auf einer solchen Basis mit 2000 Jahren Abstand eine Theologie des Neuen Testaments geschrieben wird, zeigen sich unausweichlich die Grundprobleme historischen Fragens und Erkennens. Wie entsteht Geschichte/Historie5? Was passiert, wenn in der Gegenwart ein Dokument der Vergangenheit mit einem Zukunftsanspruch interpretiert wird? Wie verhalten sich historische Nachrichten und ihre Einordnung in den gegenwärtigen Verstehenszusammenhang des Historikers/Exegeten zueinander6?
Vgl. dazu die Textsammlung bei M. HOSSENFELDER, Antike Glückslehren, Stuttgart 1996. 5 Zur Terminologie: Unter Geschichte/geschichtlich verstehe ich das Geschehene, unter Historie/historisch die Art und Weise, wie danach gefragt wird. Die Historik ist die Wissenschaftstheorie der Geschichte; vgl. dazu H.-W. HEDINGER, Art. Historik, HWP 3, Darmstadt 1974, 1132–1137. Es gibt Geschichte immer nur als Historie, zugleich muss aber zwischen beiden Begriffen unterschieden werden, weil die wissenschaftstheoretischen Fragestellungen 4
der Historie nicht einfach identisch sind mit dem, was Menschen in der Vergangenheit unter Geschehenem verstanden. 6 Vgl. dazu J. RÜSEN, Historische Vernunft, Göttingen 1983; DERS., Rekonstruktion der Vergangenheit, Göttingen 1986; DERS., Lebendige Geschichte, Göttingen 1989; H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, Reinbek 1995; CHR. CONRAD/M. KESSEL (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994.
18 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Interesse und Erkenntnis
Das klassische Ideal des Historismus, nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen7 ist, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat8. Die Gegenwart verliert mit ihrem Übergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren Realitätscharakter. Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwärtig zu machen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was geschehen ist9. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangenheit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschließlich im Modus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant von der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die gegenwärtige Weltgestaltung und Weltdeutung einfließt10. Die eigentliche Zeitstufe des Historikers/Exegeten ist immer die Gegenwart11, in die er unentrinnbar verwoben ist und deren kulturelle Standards das Verstehen des gegenwärtig Vergangenen entscheidend prägen. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen, sein geographischer Lebensort, seine politischen und religiösen Werteinstellungen prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die Vergangenheit sagt12. Jeder Mensch hat und pflegt Denkgläubigkeiten. Zudem sind auch die Verstehensbedingungen selbst, speziell die Vernunft und der jeweilige Kontext, einem Wandlungsprozess unterworfen, insofern die jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und die sich notwendigerweise ständig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten das histori-
7 L. V. RANKE, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 2 1874, in: L. v. Ranke's Sämtliche Werke. Zweite Gesamtausgabe Bd. 33/34, Leipzig 1877, VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ 8 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 130 f. 9 Vgl. U. SCHNELLE, Der historische Abstand und der heilige Geist, in: ders. (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin 1994, 87– 103. 10 Vgl. J. G. DROYSEN, Historik, hg. v. P. Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977 (= Nachdruck 1857/1882), 422: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“
11 Vgl. P. RICŒUR, Zeit und Erzählung III, München 1991, 225: „Die erste Art, das Vergangensein der Vergangenheit zu denken, besteht darin, ihr den Stachel der zeitlichen Distanz zu nehmen.“ Derartige Gedanken sind natürlich nicht neu; vgl. einen bei Claudius Aelianus, Variae Historiae 14, 6, überlieferten Ausspruch des Sokrates-Schülers Aristippos (425–355 v.Chr.): „Denn nur der gegenwärtige Augenblick gehöre uns, wie er sagte; weder das, was man vorab tut, noch das, was man erwartet. Das eine sei nämlich vergangen, von dem anderen sei ungewiß, ob es geschehen werde.“ 12 Vgl. J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit, in: J. Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, (45–113) 45: „Repräsentationen von Ereignissen und Entwicklungen liefern keine mimetischen Abbilder einstiger Geschehnisse, sondern an Deutungs- und Verstehensleistungen gebundene Auffassungen eines Geschehens. Solche Auffassungen werden aus der Perspektive einer Gegenwart von bestimmten Personen gebildet, sind also von deren Erfahrungen und Erwartungen, Orientierungen und Interessen unmittelbar abhängig.“
Das Entstehen von Geschichte 19
sche Erkennen bestimmen. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des Gewesenen, sondern hat selbst eine Geschichte, nämlich die Geschichte des Schreibenden. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjektes fordert eine Reflexion über seine Rolle im Erkenntnisprozess, denn das Subjekt steht nicht über der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist ‚Objektivität‘ als Gegenbegriff zu ‚Subjektivität‘ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu beschreiben13. Dieser Begriff dient vielmehr als literarische Strategie nur dazu, die eigene Position als positiv und wertneutral zu deklarieren, um so andere Auffassungen als subjektiv und ideologisch zu diskreditieren. Das Erkenntnisobjekt kann nicht vom erkennenden Subjekt getrennt werden, denn das Erkennen verändert immer auch das Objekt. Das im Erkenntnisvorgang gewonnene Bewusstsein von Realität und die vergangene Realität verhalten sich nicht wie Original und Abdruck14. Deshalb sollte nicht von ‚Objektivität‘, sondern von ‚Angemessenheit‘ oder ‚Plausibilität‘ historischer Argumente gesprochen werden15. Schließlich sind jene Nachrichten, die als historische ‚Fakten‘ in jede historische Argumentation einfließen, in der Regel auch schon Deutungen vergangenen Geschehens. Bereits mit Sinn Versehenes wird notwendigerweise einer weiteren Sinnbildung unterzogen, um so Geschichte zu bleiben. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ist uns zugänglich, sondern nur die je nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen vergangener Ereignisse. Erst durch unsere Zuschreibung werden die Dinge zu dem, was sie für uns sind. Geschichte wird nicht rekonstruiert, sondern unausweichlich und notwendigerweise konstruiert. Das verbreitete Bewusstsein, die Dinge nur ‚nachzuzeichnen‘ oder zu ‚rekonstruieren‘ suggeriert eine Kenntnis des Ursprünglichen, die es in der vorausgesetzten Art und Weise nicht gibt. Geschichte ist auch nicht einfach identisch mit Vergangenheit, vielmehr immer nur eine gegenwärtige Stellungnahme, wie man Vergangenes sehen könnte. Deshalb gibt es keine ‚Fakten‘ im ‚objektiven‘ Sinn, sondern innerhalb historischer Konstruktionen bauen Deutungen auf Deutungen auf. Es gilt: „es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte.“16 Das Vorgegebene
Zugleich gilt aber: Der Bezug auf das Geschehene wird damit keinesfalls aufgegeben, sondern die Bedingungen seiner Realisierung werden reflektiert. Konstruktion meint nicht etwas Willkürliches oder aus sich selbst Begründbares, sondern ist an Methoden und Realitätsvorgaben gebunden. Die Sachgehalte von Quellen müssen in einen 13 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte,
130–146. 14 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, Stuttgart 2001, 29. 15 Vgl. dazu J. KOCKA, Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: W. J. Mommsen/J. Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, 469–475.
16 J. G. DROYSEN, Historik, 69. Über geschichtliche Sachverhalte urteilt Droysen, ebd., zutreffend: „Sie sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen, nicht an sich und objektiv, sondern in unserer Betrachtung und durch sie. Wir müssen sie sozusagen transponieren.“
20 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhang gebracht werden und innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses diskutier- und rezipierbar bleiben17. Alle menschlichen Aussagen sind immer eingebunden in vorgegebene allgemeine Wirklichkeits- und Zeitvorstellungen18, ohne die Konstruktion und Kommunikation nicht möglich sind. Jeder Mensch ist genetisch vor-konstruiert und ständig sozial-kulturell ko-konstruiert. Reflexion und Konstruktion sind immer nachfolgende Akte, die sich auf etwas Vorgegebenes beziehen, so dass jede Form von Selbstgewissheit nicht in sich selbst ruht, sondern jeweils den Bezug auf etwas Vorausliegendes benötigt, das es begründet und ermöglicht. Schon die Tatsache, dass die Frage nach Sinn möglich ist und Sinn gewonnen werden kann, verweist auf eine „unvordenkliche Wirklichkeit“19, die allem Sein vorausgeht und ihm den Wirklichkeitsstatus verleiht. Grundsätzlich gilt: Geschichte entsteht erst, nachdem das ihr zugrunde liegende Geschehen erfolgt ist und in den Status gegenwartsrelevanter Vergangenheit erhoben wurde, so dass notwendigerweise Geschichte nicht denselben Realitätsanspruch erheben kann wie die ihr zugrunde liegenden Ereignisse. Sprache und Wirklichkeit
Zu diesen erkenntnistheoretischen Einsichten kommen sprachphilosophische Überlegungen. Geschichte ist immer sprachlich gestaltete Vermittlung; Geschichte existiert 17 Mit diesen Überlegungen wird trotz des unaus-
weichlich konstruktiven Charakters der Geschichtsbildung die häufig zu beobachtende Selbstermächtigung der historischen Forschung gegenüber den zu erforschenden Gegenständen zurückgewiesen. Zur Kritik an postmodernen, radikal konstruktivistischen Beliebigkeitstheorien vgl. J. RÜSEN, Narrativität und Objektivität, in: ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln/Weimar 2002, 99–124; DERS., Kann gestern besser werden?, Berlin 2003, 11f: „Wenn die Geschichte in der bewegten Zeit unserer Gegenwart ständig zur Disposition steht, so werden wir, die Deutenden, von ihr also immer schon disponiert. Wir, die wir sie ‚konstruieren‘, sind als diese Konstrukteure vorab immer schon von ihr konstruiert worden“; G. DUX, Historisch-genetische Theorie der Kultur, Weilerswist 2000, 160: „Der blinde Fleck im logischen Absolutismus, wie wir ihn im postmodernen Verständnis der Konstruktivität und der ihm affinen Systemtheorie kennengelernt haben, besteht darin, die Konstruktivität nicht ihrerseits einem systemischen Bedingungszusammenhang unterworfen zu haben.“ 18 Diesen Aspekt beton L. Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, 44: „Gäbe es nicht die relative Stabilität des
kategorialen Apparats temporaler Grundmuster, so ließen sich verschiedene Geschichtsbilder historisch überhaupt nicht miteinander in Beziehung setzen. Erst die relative Konstanz temporaler Kategorien ermöglicht den historischen Abgleich inhaltlich differenter Geschichtsbilder.“ 19 Vgl. J. RÜSEN, Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, in: Konstruktion von Wirklichkeit, hg. v. J. Schröter/A. Eddelbüttel, Berlin 2004, (19–32) 31: „Was macht Sinn wirksam? Schon die Einprägung der Wirklichkeit in das historische Denken hinein ist ein Sinngeschehen, ein Geschehen, in dem historischer Sinn generiert wird. Ohne diese seine unvordenkliche Wirklichkeit könnte er das historische Denken nicht so in den mentalen Operationen des Geschichtsbewusstseins bestimmen, wie es zur Erfüllung seiner kulturellen Orientierungsfunktion notwendig ist. . . . Die Unvordenklichkeit dieses Sinnes als Element lebensweltlicher Wirklichkeit des menschlichen Leidens und Handelns – das schließt säkulares und religiöses Denken vorgängig zusammen. Die Religion gibt dieser Unvordenklichkeit eine eigene Sinnqualität. Ihr gegenüber hält sich das säkulare historische Denken zurück, aber letztlich schöpft es aus ähnlichen Sinnquellen.“
Das Entstehen von Geschichte 21
nur, insofern sie zur Sprache gebracht wird. Historische Nachrichten werden erst durch die semantisch organisierte Konstruktion des Historikers/Exegeten zu Geschichte. Dabei fungiert die Sprache nicht nur zur Bezeichnung des Gedachten und dadurch zur Wirklichkeit Erhobenen, sondern die Sprache bestimmt und prägt jene Wahrnehmungen, die zu Geschichte organisiert werden. Es gibt für Menschen keinen Weg von der Sprache zu einer unabhängigen außersprachlichen Wirklichkeit, denn Wirklichkeit ist für uns nur in und durch Sprache präsent. Geschichte ist somit nur als sprachlich vermittelte und gestaltete Erinnerung zugänglich. Sprache wiederum ist kulturell bedingt und unterliegt einem ständigen gesellschaftlichen Wandel, so dass es nicht verwundert, wenn historische Ereignisse zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kultur- und Wertekreisen abweichend konstruiert und bewertet werden. Die Sprache ist weitaus mehr als bloße Abbildung der Wirklichkeit, denn sie reguliert und prägt den Zugang zur Wirklichkeit und damit auch unser Bild von ihr. Zugleich ist Sprache aber auch nicht die Wirklichkeit, denn sie bildet sich wie im Verlauf der Menschheitsgeschichte insgesamt bei jedem Menschen im Rahmen seiner biologischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung erst heraus und wird von diesem Prozess entscheidend und jeweils unterschiedlich beeinflusst. Die ständige Veränderung der Sprache ist ohne die sie bedingenden verschiedenen sozialen Kontexte nicht erklärbar20, d. h. der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem muss beibehalten werden, wenn man die Realität nicht aufgeben will. Fakten und Fiktion
Geschichte ist somit immer ein selektives System, mit dem die Interpretierenden nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deuten21. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn verleihen soll. Historische Interpretation heißt, einen kohärenten Sinnzusammenhang zu schaffen; erst durch die Herstellung historischer Erzählzusammenhänge werden die Fakten das, was sie für uns sind22. Dabei müssen historische Nachrichten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich in der Darstellung/Erzählung von Geschichte notwendigerweise ‚Fakten‘ und ‚Fiktion‘23, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. In-
20 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, 50 f. 21 Vgl. E. CASSIRER, Versuch über den Menschen,
Hamburg 1996, 291: „Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis.“ 22 Vgl. CHR. LORENZ, Konstruktion der Vergangenheit, 17 ff. 23 ‚Fiktion‘ bezeichnet nicht einfach im umgangssprachlichen Sinn die Negation der Wirklichkeit,
sondern ist in einem funktional-kommunikativen Sinn gemeint und kommt damit der ursprünglichen Bedeutung von ‚fictio‘ nahe: Bildung, Gestaltung. Vgl. W. ISER, Der Akt des Lesens, München 31990, 88: „Wenn Fiktion nicht Wirklichkeit ist, so weniger deshalb, weil ihr die notwendigen Realitätsprädikate fehlen, sondern eher deshalb, weil sie Wirklichkeit so zu organisieren vermag, daß diese mitteilbar wird, weshalb sie das von ihr Organisierte selbst nicht sein
22 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
dem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefüllt werden müssen, fließen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der Gegenwart zu etwas Neuem zusammen24. Durch die Interpretation wird dem Geschehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte25. Es gibt nur potentielle Fakten, denn es bedarf der Erfahrung und der Deutung, um das Sinnpotential eines Geschehens zu erfassen26. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen werden und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das Verständnis der Fakten27. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, ermöglicht die unumgängliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse. Die figurative Ebene ist für die historische Arbeit unerlässlich, denn sie entfaltet den präfigurierenden Plan der Interpretation, der die gegenwärtige Auffassung von der Vergangenheit bestimmt. Damit ist der 2. Teil der Überlegungen erreicht: Der notwendig und unausweichlich konstruktive Charakter von Geschichte ist immer Teil einer Sinnbildung.
1.2
Geschichte als Sinnbildung
Menschliches Sein und Handeln zeichnet sich durch Sinn aus28. Es lässt sich keine menschliche Lebensform bestimmen, „ohne auf Sinn zu rekurrieren. Es macht Sinn, Sinn als Grundform menschlichen Daseins zu verstehen.“29 Schon die kulturanthrokann. Versteht man Fiktion als Kommunikationsstruktur, dann muß im Zuge ihrer Betrachtung die alte an sie gerichtete Frage durch eine andere ersetzt werden: Nicht was sie bedeutet, sondern was sie bewirkt, gilt es nun in den Blick zu rücken. Erst daraus ergibt sich ein Zugang zur Funktion der Fiktion, die sich in der Vermittlung von Subjekt und Wirklichkeit erfüllt.“ 24 Cicero, Orator 2, 54 (der Historiker Antipater wird lobend herausgestellt, „die anderen erwiesen sich als Leute, die Geschichte nicht wirkungsvoll gestalten, sondern nur erzählen konnten“); Lk 1, 1–4; Plutarch, Alexander 1, 1(oute ga`r ıstorı´aß gra´fomen alla` bı´ouß = „denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder“) zeigen deutlich, dass auch antike Autoren ein klares Bewusstsein von diesen Zusammenhängen hatten (vgl. ferner Thucydides, Historiae I 22, 1; Lukian, Historia 51; Quintilian, Institutio Oratoria VIII 3, 70). 25 Vgl. die problem- und forschungsgeschichtlich orientierten Überlegungen bei H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, 16ff; ferner M. MOXTER, Erzählung und Ereignis, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, (67–88)
80: „Schon aufgrund ihrer zeitlichen Distanz ist die Erzählung gegenüber dem Ereignis überschüssig.“ 26 Dieser konstruktive Zug des Erkennens trifft auch für die Naturwissenschaften zu. Konstruktivität und Kontextualität bestimmen die Fabrikation von Erkenntnis, die Naturwissenschaften sind immer eine interpretierte Rationalität, die zunehmend in den Sog externer politischer und ökonomischer Interessen gerät; vgl. dazu K. KNORR-CETINA, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt 1991. 27 Vgl. H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 87: „Nicht die reine Faktizität konstituiert also eine ‚historische Tatsache‘, sondern ihre Bedeutsamkeit, die sich erst nach und nach einstellt und die einem Ereignis, das sonst ohne viel Aufhebens in der Vergangenheit versunken wäre, eine besondere Qualität verleiht. Nicht zu seiner Zeit, sondern erst nach seiner Zeit wird aus einer bloßen Tatsache eine historische Tatsache.“ 28 Vgl. dazu grundlegend A. SCHÜTZ, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Tübingen 1974. 29 G. DUX, Wie der Sinn in die Welt kam und was aus ihm wurde, in: K. E. Müller/J. Rüsen (Hg.), His-
Geschichte als Sinnbildung 23
pologische Unabweisbarkeit von Transzendenzvollzügen des Menschen mit sich selbst und seiner soziokulturellen Lebenswelt hat notwendigerweise Sinnbildungen zur Folge30. Sinnbildung ist nicht etwas Eigenmächtiges, sondern unausweichlich, notwendig und natürlich. Zudem wird der Mensch immer schon in Sinnwelten hineingeboren31, Sinn ist unabwendbar, die menschliche Lebenswelt muss sinnhaft gedacht und erschlossen werden, denn nur so ist Leben und Handeln in ihr möglich32. Jede Religion ist als Sinnform ein solcher Erschließungsvorgang, somit auch das frühe Christentum und die in ihm entwickelten Theologien. Konkret vollzieht sich dieser Erschließungsvorgang als historische Sinnbildung. Historischer Sinn konstituiert sich aus den „drei Komponenten Erfahrung, Deutung und Orientierung.“33 Aus der Faktizität eines Ereignisses lässt sich noch nicht seine Sinnhaftigkeit ableiten; es bedarf der eigenen Erfahrung, dass ein Ereignis Sinnpotential enthält. Sinn und Identität
Sinnbildung ist immer mit Identitätsangeboten verbunden34; Sinnbildung gelingt nur, wenn sie überzeugende Identitätsangebote macht. Menschen gewinnen Identität vor allem dadurch, dass sie ihrem Leben eine dauerhafte Orientierung geben, die die vielfältigen aktuellen Wünsche und Absichten in einen stabilen, kohärenten und intersubjektiv vertretbaren Zusammenhang bringt. Identität wird in einem ständigen Prozess, im steten Wechselspiel zwischen positiver Bestimmung des Selbst und Differenzerfahrungen gebildet35. Identitäten entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern vorhandene Identitäten werden aufgenommen, transformiert und einem Neuen zugeführt, das als Identitätssteigerung empfunden wird. Deshalb kann Identität nie statisch aufgefasst werden, sie ist Teil eines ständigen Umbildungsprozesses; „als Einheit und Selbigkeit des Subjekts“ ist Identität „nur als Synthesis und Relationierung des Differenten und Heterogenen denkbar.“36 Die Unterschiedenheit zur torische Sinnbildung, Reinbek 1997, (195–217) 195. 30 Vgl. dazu A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II, Frankfurt 31994, 139–200. Sie gehen von der unbestreitbaren Alltagserfahrung aus, dass die Welt jede individuelle Existenz notwendigerweise immer überschreitet und deshalb die Existenz ihrerseits ohne Transzendenzen nicht lebbar ist: Wir leben in einer Welt, die vor uns war und nach uns sein wird. Die Wirklichkeit entzieht sich zum allergrößten Teil unserem Zugriff und das Dasein des Anderen mit seiner bleibenden Fremdheit ruft die Frage nach unserem Selbst hervor. 31 Vgl. TH. LUCKMANN, Religion – Gesellschaft – Transzendenz, in: H.-J. Höhn (Hg.), Krise der Immanenz, Frankfurt 1996, (112–127) 114: „Sinntraditionen transzendieren die Nur-Natürlichkeit des Neugeborenen.“
32 Vgl. J. RÜSEN, Was heißt: Sinn der Geschichte, in:
K. E. Müller/J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung, Reinbek 1997, (17–47) 38. 33 Vgl. a. a. O., 36. 34 Vgl. TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991, 93, wonach die Weltansicht als Sinnmatrix den Rahmen bildet, in dem menschliche Organismen Identität ausbilden und dabei ihre biologische Natur transzendieren. 35 Zum Begriff der Identität vgl. B. ESTEL, Art. Identität, HRWG III, Stuttgart 1993, 193–210; J. STRAUB (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein, Frankfurt 1998; A. ASSMANN/H. FRIESE (Hg.), Identitäten, Frankfurt 21999. 36 J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz, in: J. Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, (15–44) 39 f.
24 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Umwelt, die Erfahrungen an eigene und fremdgesetzte Grenzen zu stoßen, sowie die positive Selbstwahrnehmung bestimmen gleichermaßen die Identitätsbildungsprozesse. Auch kollektive Identitäten bilden sich aus der Bearbeitung von Differenzerfahrungen und Gemeinsamkeitsgefühl. Dabei spielen Symbole eine entscheidende Rolle, denn erst mit ihrer Hilfe können kollektive Identitäten hergestellt und erhalten werden. Sinnwelten müssen sich im profanen Wirklichkeitsbereich artikulieren können und ihre Inhalte kommunizierbar halten. Dies vollzieht sich zu einem erheblichen Teil durch Symbole, deren lebensweltliche Funktion darin besteht, eine Brücke „von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen“37 zu schlagen. Speziell bei der Bearbeitung der ‚großen Transzendenzen‘38 wie Krankheiten, Krisen und Tod kommt Symbolen eine grundlegende Funktion zu, denn sie gehören einer anderen Wirklichkeitsebene als ihre Träger an und können die Verbindung mit dieser Ebene leisten. Symbole sind eine zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung. Identitätsbildung ist somit immer eingebunden in einen komplexen Prozess der Interaktion zwischen dem einzelnen und/oder kollektiven Subjekt, seiner Differenz- und Grenzerfahrungen, seinen positiven Selbstzuschreibungen, seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die jeweiligen Bestimmungen von Identitäten vollziehen sich notwendigerweise durch Sinnwelten, die als soziale Konstruktionen Deutungsmuster bereitstellen, um die Wirklichkeit sinnhaft zu erfahren39. Sinnwelten sind zu Zeichen objektivierte und damit kommunizierbare Vorstellungen von Wirklichkeit. Sinnwelten legitimieren soziale Strukturen, Institutionen, Rollen u. a.m., d. h. sie erklären und begründen Sachverhalte40. Zudem integrieren Sinnwelten jene Rollen zu einem sinnvollen Ganzen, in denen Einzelpersonen oder Gruppen agieren. Sie stiften synchrone Kohärenz und stellen zugleich eine diachrone Verortung, indem sie den einzelnen und/ oder die Gruppe in einen übergreifenden Geschichts- und damit Sinnzusammenhang einordnen. Religion bildet die symbolische Sinnwelt schlechthin41, denn weitaus mehr als das Recht, philosophische Entwürfe oder politische Ideologien erhebt sie den Anspruch, die eine Wirklichkeit zu repräsentieren, die alle anderen Wirklichkeiten übersteigt: Gott bzw. das Heilige. Als umfassende, dem Menschen jeweils vorgegebene Wirklichkeit vermag die Religion eine Sinnwelt zu bieten, die vor allem mit Hilfe von Symbolen den einzelnen wie die Gruppe in die Gesamtheit des Kosmos einordnet, die Phänomene des Lebens deutet, Handlungsanweisungen bietet und schließlich über den Tod hinaus Perspektiven eröffnet42. Wenn sich Geschichte als 37 A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II, 195. 38 Vgl. dazu a. a. O., 161–177. 39 Zum Begriff der Sinnwelten vgl. P. L. BERGER/TH. LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 172000, 98 ff. 40 Vgl. a. a. O., 66.
41 Vgl. TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, 108. 42 Vgl. P. L. BERGER, Zur Dialektik von Religion und
Gesellschaft, Frankfurt 1988, 32: „Sie (sc. die Religion) gibt den zerbrechlichen Wirklichkeiten der sozialen Welt das Fundament eines heiligen realissimum, welches per definitionem jenseits der Zufälligkeiten menschlichen Sinnens und Trachtens liegt.“
Verstehen durch Erzählen 25
Sinn- und Identitätsbildung etabliert, stellt sich die Frage nach dem Modus dieses Vorganges.
1.3
Verstehen durch Erzählen
Ein historisches Ereignis ist an sich noch nicht sinnträchtig und identitätsbildend, sondern sein Sinnpotential muss erst erschlossen und aufrechterhalten werden. Es bedarf der Überführung ungeregelter Kontingenz in „eine geregelte, bedeutsame, intelligible Kontingenz.“43 Dies leistet die Erzählung als grundlegende narrative Sinnbildungsleistung44, denn sie baut jene Sinnstruktur auf, die eine Bewältigung historischer Kontingenz ermöglicht45. Sie ist die Form, in der sich das Innerste artikulieren kann und zugleich das Äußere eine Gestalt findet. Die Erzählung konstituiert Zeit und verleiht dem Einmaligen Dauer, wodurch Rezeption und Traditionsbildung überhaupt erst ermöglicht werden. Die Erzählung relationiert in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht, „sie plausibilisiert ex post facto, was mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit so kommen mußte.“46 Eine Erzählung stiftet Einsicht, indem sie neue Zusammenhänge schafft und den Sinn des Geschehens hervortreten lässt. Die Verarbeitung religiöser Erfahrungen vollzieht sich in zweifacher Weise, nämlich in/durch Erzählungen und Rituale(n)47. Religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen lösen Sinnbildungsprozesse aus, die in Erzählungen und Rituale48 und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein. Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, die ungeregelte Kontingenz von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen. 43 P. RICŒUR, Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen 1985, 14. 44 Vorausgesetzt wird ein weiter Erzählbegriff, der nicht auf bestimmte literarische Gattungen fixiert ist. Ausgehend von der grundlegenden Einsicht, dass Erfahrung von Zeit narrativ bearbeitet werden muss, liegt es nahe, „die Erzählung als eine bedeutungsoder sinnhafte bzw. Bedeutung oder Sinn stiftende Sprachform aufzufassen. Dies soll heißen: Schon die narrative Form menschlicher Selbst- und Weltthematisierungen verleiht Widerfahrnissen und Handlungen Sinn und Bedeutung – unabhängig vom jeweiligen Inhalt der erzählerischen Präsentation“ (J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit [s. o. 1.1] 51f); zu einem weiten Erzählbegriff vgl. auch R. BARTHES, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt 1988, 102 ff.
45 Vgl. J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz (s. o. 1.2), 26f; D. FULDA, Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, in: F. Jaeger/B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften I, Stuttgart 2004, 251–265. 46 J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz (s. o. 1.2), 30. 47 Vgl. TH. LUCKMANN, Religion-Gesellschaft-Transzendenz (s. o. 1.2), 120. 48 Vgl. A. ASSMANN, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar 1999, 15: „Als Handlungen, die auf Wiederholung angelegt sind, konstituieren Riten Dauer, indem sie das Identische im Wandel hervorheben. Sie tilgen Zeit nicht, sondern konstituieren sie, indem sie Kontinuitäten schaffen.“
26 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Funktionen der Erzählung
Die erste und grundlegende Funktion der Erzählung besteht darin, durch Temporalisierung Wirklichkeit zu konstituieren49. Erzählungen geben der Wirklichkeit eine besondere qualifizierte Ordnung, indem sie die Kommunikation dieser Wirklichkeiten überhaupt erst möglich machen50. Eine weitere Funktion von Erzählungen besteht in der Wissensbildung und Wissensvermittlung. Erzählungen berichten, beschreiben und erklären Geschehnisse, vermehren das Wissen und bilden ein Weltbild, an dem sich Menschen orientieren können. Durch Relationierung setzen Erzählungen in Beziehung und stellen kausale Verknüpfungen her, die das Verstehen ermöglichen51. Oppositionen werden aufgebrochen und Beziehungen neu bestimmt, so zwischen dem Absoluten und dem Endlichen, dem Zeitlichen und Ewigen, dem Leben und dem Tod. Ein besonderes Leistungsmerkmal von Erzählungen ist die Bildung, Präsentation und Stabilisierung von Identität. Erzählungen stiften und verbürgen einen Sinnzusammenhang, der durch Identifikationen zur Identitätsbildung führt. Durch Erzählungen werden Erinnerungen hervorgerufen und transportiert, ohne die es keine dauerhafte Identität geben kann. Insbesondere in Erzählungen bearbeitete kollektive Erfahrungen rufen bei den Subjekten Identifikation hervor, die in Handlungs- und Lebensorientierungen übergehen. Die Orientierungsbildung gehört zu den grundlegenden praktischen Funktionen von Erzählungen. Durch Erzählungen werden Handlungsmöglichkeiten eröffnet oder verschlossen, sie strukturieren den Handlungsraum von Menschen. Erzählungen haben deshalb auch immer eine normative Dimension, sie sollen ethische Orientierungsleistungen bringen. Die Vermittlung von Werten und Normen, das Angebot oder die Revision von Standpunkten gehören zu den weiteren Funktionen von Erzählungen. Indem Erfahrungen und Erwartungen, Werte und Orientierungen durch Erzählungen vermittelt werden, bildet sich ein ethisches und pädagogisches Bewusstsein heraus. Wenn die Angebote von Erzählungen aufgegriffen und geteilt werden, schaffen sie die Basis für übereinstimmende Urteile und eine gemeinsame Welt, die durch soziales Handeln hergestellt wird. Erzählungen erfüllen soziokulturelle Verbindungsfunktionen und legen die Basis für ein gemeinsames Handeln in der Gegenwart und eine vergleichbare Zukunftsperspektive. Zugleich liefern Erzählungen die Basis für Traditionsbildungen, deren Teil sie selbst sind, indem sie Kontinuität herstellen und sicherstellen, dass Informationen, Deutungsleistungen, Verhaltensformen und Werte durch die Zeit hindurch weitergegeben werden. 49 Vgl. A. ASSMANN, Zeit und Tradition, 4: „Durch Zeitkonstruktionen werden Sinnhorizonte entworfen“. 50 Vgl. J. STRAUB, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie einer historischer Sinnbildung, in: J. Straub (Hg.), Er-
zählung, Identität und historisches Bewußtsein, Frankfurt 1998, (81–169) 124 ff. 51 Vgl. dazu K. J. GERGEN, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein, in: J. Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, a. a. O., 170–202.
Verstehen durch Erzählen 27
Erzählung und Erzählungen im frühen Christentum
Der grundsätzlich konstruktive Charakter historischer Sinnbildung ist bei den ntl. Autoren offenkundig: Sie errichten Sinnwelten, die vor allem mit Hilfe von Erzähleinheiten, Schlüsselbegriffen und Symbolen den einzelnen wie die Gruppe in die Gesamtheit des Kosmos einordnen, die Phänomene des Lebens deuten, Handlungsanweisungen bieten und schließlich über den Tod hinaus Perspektiven eröffnen. Erzählen bezieht sich immer auf Erinnerungen, um so Zeiterfahrungen zu deuten. Die Erinnerung ist der maßgebliche Bezug auf die Erfahrung von Zeit. Die Jesus-Christus-Erzählungen der ntl. Schriften sind selbst Ausdruck eines Erinnerungsprozesses und sie bilden ein Geschichtsbewusstsein, indem sie die Sinnhaftigkeit des Handelns Gottes mit Jesus von Nazareth für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft proklamieren. Durch Erzählen wird bei allen Autoren ein innerer Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektiven hergestellt, so dass in der Rezeption das Geschehen bewahrt werden kann. Ereignisse werden präsentiert und geformt und so zu narrativen Sinnbildungsleistungen. Die Konstruktion von Zeit- und Sachzusammenhängen ist unabdingbar an narrative Akte gebunden. All diese Funktionen der Erzählung machen deutlich, dass eine Unterscheidung zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen nicht trägt. Weil das erinnernde Erzählen immer auf das Verstehen und Handeln der Menschen in der Gegenwart orientiert ist, fließen notwendigerweise in jeder Erzählung fiktionale und nicht-fiktionale Elemente zusammen. Die Alternative ‚historischer Jesus‘ – ‚Christus des Glaubens‘ verbietet sich daher schon erzähltheoretisch, denn einen Zugang zu Jesus von Nazareth kann es nicht jenseits seiner Bedeutung für die Gegenwart geben. Erst die Erzählung eröffnet Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht Transformationsleistungen, wie sie in allen ntl. Schriften vorliegen. Dies gilt sowohl für die mündliche als auch schriftliche Erzählung, die innerhalb des frühen Christentums nicht als Gegensätze aufgefasst werden dürfen, sondern über längere Zeit nebeneinander bestanden und sich gegenseitig befruchteten. Zugleich setzte die mit Paulus nachweislich beginnende und mit den Evangelien sich weiter profilierende Schriftlichkeit der Erzählung neue Akzente. Das Medium der Schrift entlastet von der (emotionalen) Unmittelbarkeit der Kommunikation und schafft somit eine Distanz zwischen den Inhalten von Geschichte und der Kommunikation von und durch Geschichte. Diese Distanz ermöglicht Denk-, Interpretations- und Transformationsleistungen, erlaubt Verfremdungseffekte, die alle für das Beschreiben, Erfassen, Transportieren und Rezeptieren von Ereignissen unentbehrlich sind. Die Schriftlichkeit entlastet das Gedächtnis, sie fixiert Ereignisse und entflechtet sie aus unmittelbaren Handlungsvorgängen, wodurch der nötige Freiraum für Objektivierungsleistungen und Interpretationen entsteht. Indem die Erzähler zu Autoren werden und die Leser/Hörer die Möglichkeit kritischer Rezeption erhalten, eröffnet sich die Möglichkeit, durch Erklärungsarrangements, begriffliche Fixierungen und moralische Appelle normative Deutungen zu etablieren.
28 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Nachzeitigkeit als Prae
Wir besitzen keine Aufzeichnungen von Jesus oder von unmittelbaren Zeugen seines Auftretens, sondern nur Zeugnisse etwas späterer Zeit52. Dies ist keineswegs ein Mangel, denn die Nachzeitigkeit53 des Erinnerns bedeutet keinen Erkenntnisverlust, weil die Bedeutung eines Geschehens sich grundsätzlich erst im Rückblick vollkommen erschließt. Das Vergangene existiert immer nur als gegenwärtige Aneignung und wird im Kontext gegenwärtiger Identität immer wieder wahrgenommen und erschlossen. Nur innerhalb eines solchen anhaltenden Prozesses gibt es überhaupt Erkennen des relevant Vergangenen und nur so wird Vergangenes kommunizierbar und erschließt sich in seiner Bedeutung. Die Distanz der Nachzeitigkeit schafft den Raum für neue Denk- und Transformationsleistungen, um die Metaphorik herauszubilden, die den Gehalt eines Ereignisses trägt und Verstehen ermöglicht. Dabei wird sich zeigen, wie kreativ und vielfältig, treffend und bleibend die nachträglichen Erzählungen der Jesus-Christus-Geschichte im Neuen Testament sind. Fazit
Was bedeuten diese grundlegenden Überlegungen zum Entstehen von Geschichte, zum historischen Erkennen als Sinnbildungsleistung und zur Erzählung als primäre Erfassungs-, Darstellungs- und Kommunikationsform geschichtlicher Ereignisse für eine Theologie des Neuen Testaments? 1) Die Theologie insgesamt und damit auch die Theologie des Neuen Testaments befindet sich keineswegs in einem erkenntnistheoretischen Minus, sondern alles Erkennen ist perspektivische und standortgebundene Konstruktion. Jede Wissenschaft hat ihren eigenen Gegenstand; bei der Theologie insgesamt ist es Gott als tragender und letzter Grund allen Seins, bei der Theologie des Neuen Testaments sind es die Zeugnisse des Neuen Testaments über das Handeln dieses Gottes in Jesus Christus. 2) Die Theologie des Neuen Testaments hat wie alle anderen Wissenschaften teil an der vorgängigen Sinnhaftigkeit allen Seins, die wissenschaftliches Fragen und Erkennen als Sinnbildungsleistungen überhaupt erst ermöglicht. 3) Die Sinn-Kategorie ist in besonderer Weise geeignet, die Arbeit der ntl. Autoren zu erfassen, zu interpretieren und in ihrer gegenwärtigen Bedeutsamkeit darzustellen. 4) Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar; sie wurden von den ntl. Autoren in unterschiedlicher Weise erbracht, in-
52 Jesus von Nazareth befindet sich dabei in guter Gesellschaft, denn auch von Sokrates gibt es keine schriftlichen Überlieferungen; für Dio Chrysostomus, Or 55, 8f, ist dies kein Mangel, sondern Ausweis der überragenden Persönlichkeit des Sokrates.
53 E. REINMUTH, Neutestamentliche Historik, ThLZ.F
8, Leipzig 2003, 47–55, gebraucht den Begriff ‚Nachträglichkeit‘.
Verstehen durch Erzählen 29
dem sie die Jesus-Christus-Geschichte aus ihrer je eigenen Perspektive und in ihrer je eigenen Art für ihre Gemeinde erzählten. 5) Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments ist es, diese Sinnbildungsleistungen zu erfassen und in ihren theologischen, literarischen und religionsgeschichtlichen Dimensionen darzustellen, um so eine sachgemäße Rezeption in der Gegenwart zu ermöglichen.
2
Der Aufbau: Geschichte und Sinn
G. STRECKER (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 1975 (wichtige Aufsatzsammlung); L. GOPPELT, Theologie, 52–62; W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I, 21–53; H. HÜBNER, Biblische Theologie I, 13–36; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 1–39; U. WILCKENS, Theologie I, 1–66; F. HAHN, Theologie I, 1–28; C. BREYTENBACH/J. FREY (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007.
Mit der Bestimmung der Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments verbindet sich die Frage nach ihrer Durchführung: Welcher Ausgangspunkt wird gewählt? Wie verhalten sich die theologische und die religionswissenschaftliche Sicht zueinander? Ist eine Beschränkung auf den Kanon möglich und sinnvoll? In welcher Weise wird die Frage nach Vielfalt und Einheit ntl. Theologie aufgenommen? Diese notwendigen Fragen zur internen Struktur einer Theologie des Neuen Testaments werden im Folgenden behandelt und münden in einen eigenen Ansatz: Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung.
2.1
Das Phänomen des Anfangs
Der Zugang zu einem Thema ist immer eine heuristische Setzung; jedem Anfang wohnt die Verheißung inne, den Weg zu definieren, der den Hörern und Lesern gewiesen wird. Dies gilt für die ntl. Schriften ebenso wie für Theologien des Neuen Testaments. Das Modell der Diskontinuität
Rudolf Bultmann (1884–1976) beginnt seine Theologie mit einem Programmsatz: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst. Denn die Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert.“1 Bultmann zieht damit die Konsequenz aus der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh., deren widersprüchliche Ergebnisse bereits von Martin Kähler (1835–1912) mit der Unterscheidung zwischen dem ‚soge1
R. BULTMANN, Theologie, 1 f.
Das Phänomen des Anfangs 31
nannten historischen Jesus und dem geschichtlichen, biblischen Christus‘ überwunden werden sollten. Kähler unterscheidet einerseits zwischen ‚Jesus‘ und ‚Christus‘, andererseits zwischen ‚historisch‘ und ‚geschichtlich‘. Unter ‚Jesus‘ versteht er den Mann aus Nazareth, unter ‚Christus‘ den von der Kirche verkündigten Heiland. Mit ‚historisch‘ bezeichnet er die reinen Fakten der Vergangenheit, mit ‚geschichtlich‘ das, was bleibende Bedeutung besitzt. Seine Grundthese lautet: Jesus Christus ist für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern; nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Kähler hält es historisch nicht für möglich und dogmatisch für verfehlt, den historischen Jesus zum Ausgangspunkt des Glaubens zu machen. „Der Glaube hängt gewiß nicht an einem christologischen Dogma. Allein ebenso wenig darf dann der Glaube abhängen von den unsicheren Feststellungen über ein angebliches zuverlässiges Jesusbild, das mit den Mitteln der spät entwickelten geschichtlichen Forschung herausgequält wird.“2 Bultmann konnte diese gleichermaßen exegetische, dogmatische und erkenntnistheoretische Position bestens mit dem historischen Skeptizismus der von ihm selbst wesentlich bestimmten formgeschichtlichen Forschung kombinieren. Wir haben keine Aufzeichnungen von Jesu Hand, vielmehr kennen wir ihn nur aus den Evangelien, die nicht Biographien, sondern Glaubenszeugnisse sind. Sie enthalten viel sekundäres, umgeformtes Gut, das zu einem erheblichen Teil erst nachösterlich in den Gemeinden entstanden ist. Es gilt radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewande kennen; es ist nicht möglich, wirklich hinter das nachösterliche Kerygma zurückzukommen. „Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren.“3 Die Verkündigung Jesu ist somit eine der Voraussetzungen ntl. Theologie neben anderen. Weitere Faktoren können genauso wichtig sein, etwa die Ostererlebnisse der Jünger, der Messiasglaube des Judentums und die Mythen der heidnischen Umwelt. Bultmann sieht wie Kähler in den Bemühungen um den historischen Jesus ein unlösbares und unfruchtbares Unternehmen; wie Kähler ist Bultmann der Meinung, dass der Glaube nicht auf unsicheren historischen Vermutungen gegründet werden
2 M. KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, München 3 1961 (= 1892), 49. 4 3 R. BULTMANN, Jesus, Hamburg 1970 (= 1926), 10. Es mag verwundern, dass Bultmann dennoch ein Jesus-Buch schreiben konnte. Sein Ausgangspunkt war: Was über den historischen Jesus ermittelt werden kann, ist für den Glauben nicht von Bedeutung, denn dieser Jesus von Nazareth war ein jüdischer
Prophet. Ein Prophet, der mit seinen Forderungen und Anschauungen im Rahmen des Judentums steht. Deshalb gehört die Geschichte Jesu für Bultmann in die Geschichte des Judentums, nicht des Christentums; vgl. R. BULTMANN, Das Urchristentum, München 41976 (= 1949), wo die Verkündigung Jesu unter der Rubrik ‚Das Judentum‘ verhandelt wird.
32 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
darf. Deshalb muss sich die ntl. Theologie von der bereits bei Paulus und Johannes vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und der nachösterlichen Christusverkündigung, dem Kerygma, leiten lassen4. Das Modell der Kontinuität
Zwar ist es nicht möglich, im neuzeitlichen Sinn eine Biographie Jesu zu schreiben, dennoch gibt es zwingende Gründe, eine Theologie des Neuen Testaments mit einer Darstellung der Verkündigung des vorösterlichen Jesus von Nazareth beginnen zu lassen: 1) Zuallererst sind es die Quellen selbst, die eine Beschränkung auf die nachösterliche Verkündigung verbieten. Jeder Vers der Evangelien zeigt, dass ihre Autoren den Ursprung des Christentums nicht im Kerygma, sondern im Auftreten des Jesus von Nazareth sehen. Im Vergleich mit anderen Bewegungen ist der durchgehende Bezug auf die Person Jesu auffallend; in einem sehr hohen Maß dient die Jesusüberlieferung überhaupt nur dazu, die Person Jesu herauszustellen. Ebenso verweist die nachösterliche Christusverkündigung auf Schritt und Tritt über sich selbst zurück. Sie bezieht sich durchgängig auf ein historisches Ereignis und ist in ihrem Kern (1 Kor 15, 3b.4a: „gestorben . . . und begraben“) die Deutung eines historischen Geschehens. 2) Aus erzähltheoretischer Sicht ist eine Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Kerygma ebenfalls nicht durchführbar (s. o. 1.3). Auch R. Bultmann konnte eine Verbindung zwischen beidem nicht gänzlich leugnen, reduzierte aber die Bedeutsamkeit des Jesus von Nazareth für das Kerygma auf das ‚Daß‘ seines Gekommenseins5. Eine solche Minimierung auf einen völlig abstrakten Kern macht eine Rezeption unmöglich6. Das bloße ‚Daß‘ eines Gekommenseins ist in seiner Unanschaulichkeit weder vermittel- noch rezipierbar; es kann nicht erzählt, allenfalls konstatiert werden! Die Vielfalt nachösterlicher Jesus-Christus-Erzählungen lässt sich ohne eine Verbindung zum Reichtum der vorösterlichen Erzählwelt nicht erklären. 3) Schließlich lässt sich aus sinntheoretischer Sicht zeigen, dass eine Alternative ‚historischer Jesus – Kerygma‘ nicht möglich ist und deshalb aufgegeben werden sollte. Bereits die Verkündigung des Jesus von Nazareth kann in umfassender Weise als Sinnbildung verstanden werden. Jesus interpretierte das gegenwärtige Heils- und
4 Dem Ansatz Bultmanns fühlen sich in besonderer Weise verpflichtet H. CONZELMANN, Theologie, 1–8; G. STRECKER, Theologie, 1–9. 5 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 419, in Bezug auf das Johannesevangelium: „Johannes stellt also in seinem Evangelium nur das Daß der Offenbarung dar, ohne ihr Was zu veranschaulichen.“ Faktisch vertritt Bultmann damit eine Substitutionstheorie; vgl. DERS., Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exe-
getica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, (445–469) 468: „Wenn es nun so ist, daß das Kerygma Jesus als den Christus, als das eschatologische Ereignis verkündigt, wenn es beansprucht, daß in ihm Christus präsent ist, so hat es sich an die Stelle des historischen Jesus gesetzt; es vertritt ihn.“ 6 Vgl. H. BLUMENBERG, Matthäuspassion, Frankfurt 4 1993, 221, der in Bezug auf das Kerygma formuliert: „Die Reduktion auf dessen harten unartikulierten Kern zerstört die Möglichkeit seiner Rezeption.“
Das Phänomen des Anfangs 33
Gerichtshandeln Gottes neu und stellte es in eine einzigartige Verbindung zu seiner Person. Jesu Selbstverständnis kann nicht von dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch einzelner Titel abhängig gemacht werden, sondern sein Auftreten und sein Anspruch lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluss zu, das er selbst seiner Person eine einzigartige Würde im Endzeithandeln Gottes zuschrieb. Jesu Sinnbildung stellt den Ausgangspunkt und die Grundlage jener Sinnbildungen dar, die wahrscheinlich schon vor Ostern einsetzten und sich nach Ostern unter veränderten Verstehensbedingungen fortsetzten7. Einen historisch und theologisch tiefgreifenden Bruch zwischen einem angeblich unmessianischen Selbstverständnis Jesu und dem christologisch gefüllten Kerygma hat es nie gegeben!8 Dem Modell der Kontinuität sind mit unterschiedlicher Begründung vor allem J. Jeremias, L. Goppelt, W. Thüsing, P. Stuhlmacher, U. Wilckens und F. Hahn verpflichtet. Jeremias arbeitet mit dem Modell ‚Ruf Jesu – Antwort der Gemeinde‘; Goppelt wählt den Terminus des ntl. ‚Erfüllungsgeschehens‘ zu seinem hermeneutischen Ausgangspunkt; Thüsing entwickelt ein hochkomplexes System der ‚Rückfrage nach Jesus‘, das in der Theozentrik Jesu den Ausgangspunkt und den inneren Kern aller ntl. Theologie erblickt; Stuhlmacher arbeitet im Rahmen einer ‚Biblischen Theologie‘ die Traditionsund Bekenntniskontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament heraus; Wilckens sieht in der Wirklichkeit des einen Gottes die Einheit der (biblischen) Theologie und Hahn schließlich wählt den Offenbarungsbegriff zur Kennzeichnung der Kontinuität des Handelns Gottes (s. u. 2.3).
Ostern markiert weder den Anfang noch eine völlig neue Qualität von Sinnbildungen innerhalb der mit Jesus von Nazareth einsetzenden neuen Geschichte Gottes, denn Jesu einzigartiges Verhältnis zu Gott ist vor und nach Ostern gleichermaßen die Basis aller Aussagen (s. u. 4)9. Zweifellos ist eine Unterscheidung zwischen vor7 Diese sinnbildende Dynamik des Anfangs spricht gegen die These von J. SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: C. Breytenbach/J. Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), 155, ein Entwurf des Wirkens Jesu könne nicht die Grundlage für eine ntl. Theologie bilden, da Jesus innerhalb einer Theologie des Neuen Testaments nur aus der Perspektive der Glaubenszeugnisse von Bedeutung ist, jedoch nicht unabhängig davon. 8 Die These eines solchen Bruches ist das eigentliche Fundament der Thesen BULTMANNS; vgl. DERS., Theologie, 33: „Daß das Leben Jesu ein unmessianisches war, ist bald nicht mehr verständlich gewesen – wenigstens in den Kreisen des hellenistischen Christentums, in denen die Synopt. ihre Gestaltung
gefunden haben.“ Der maßgebliche Vertreter eines unmesssianischen Lebens Jesu an der Wende vom 19. zum 20. Jh. war W. WREDE (vgl. DERS., Das Messiasgeheimnis [s. u. 8.2, 227 u. ö.]), der allerdings später seine Meinung zumindest partiell revidierte. In einem Brief an Adolf v. Harnack aus dem Jahr 1905 heisst es: „Ich bin geneigter als früher zu glauben, daß Jesus selbst sich zum Messias ausersehen betrachtet hat“ (Unveröffentlichte Briefe William Wredes zur Problematisierung des messianischen Selbstverständnisses Jesu, hg. v. H. Rollmann/W. Zager, ZNThG 8 (2001), (274–322) 317. 9 Treffend F. HAHN, Theologie I, 20: „Ausgangspunkt bei der Frage nach der Zusammengehörigkeit der vorösterlichen Tradition und des nachösterlichen Kerygmas muß sein, daß mit Jesu Wirken die Gottesherrschaft bereits anbricht. Daher geht es
34 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
und nachösterlich sachgemäß, wenn damit die unterschiedlichen Zeitebenen, Sachanforderungen und Theologiekonzepte zum Ausdruck gebracht werden sollen. Sie rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer grundlegenden Diskontinuität, denn das Wirken und die Wirkungen Jesu stehen am Anfang der Theologie des Neuen Testaments und sind zugleich ihr Kontinuum.
2.2
Theologie und Religionswissenschaft
W. WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2.1), 81–154; J. SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, BThZ 16 (1999), 3–20; H. RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 189, Stuttgart 2000; G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (s. o. 1), 17–44; I. U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001), 4–20; A. FELDTKELLER, Theologie und Religion, Leipzig 2002; R. V. BENDEMANN, „Theologie des Neuen Testaments“ oder „Religionsgeschichte des Frühchristentums“?, VuF 48 (2003), 3–28.
William Wrede (1859–1906) bestimmte in seiner Programmschrift von 1897 die Aufgabe des historisch orientierten Exegeten so: „Ein reines, uninteressiertes Erkenntnisinteresse, das jedes sich wirklich aufdrängende Ergebnis annimmt, muß ihn leiten.“10 Er darf sich weder am Kanonbegriff noch einer anderen dogmatischen Konstruktion orientieren. Gegenstand seiner Arbeit muss die gesamte frühchristliche Literatur sein, die als Zeugnis einer gelebten Religion zu lesen ist. Deshalb lautet der für die Sache passende Name: „urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie.“11 In der gegenwärtigen Diskussion gewinnt die Position von Wrede im Kontext neuzeitlicher Theologiekritik, Toleranzbewusstseins und Methodenpluralismus wieder an Bedeutung12. H. Räisänen knüpft ausdrücklich an Wrede an und postuliert unter Aufgabe der Kanonsgrenzen eine religionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums, die „nüchterne Informationen vom Charakter, Hintergrund, und der Entstehung der Frühgeschichte des Christentums“13 liefern soll. Es geht dabei um eine ausschließlich historische Arbeit, philosophisch-theologische Fragen werden ausdrücklich erst in einem zweiten Arbeitsgang erörtert. Als oberstes Ziel einer solchen Darstellung gilt die Fairness, sowohl gegenüber den ntl. Autoren als auch den konkurrierenden religiösen Systemen (Judentum, Stoizismus, Kulte der hellenistischen Welt, Mysterienreligionen). Bewusst soll nicht aus einer kirchlichen Innen-, sondern allein aus einer wissenschaftlischon in vorösterlicher Zeit um die Gegenwart des Heils und dessen endgültige Zukunft.“ 10 W. WREDE, Aufgabe und Methode, 84. 11 W. WREDE, a. a. O., 153 f.
12 Vgl. dazu die Besprechung der Arbeiten von Räisänen und Theißen bei A. LINDEMANN, Zur Religion des Urchristentums, ThR 67 (2002), 238–261. 13 H. RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie?, 75.
Theologie und Religionswissenschaft 35
chen Außenperspektive an das Frühchristentum herangetreten werden, um seine Denkwelt und seine Interessen zu erheben. Der Exeget darf den religiösen Standpunkt seines Gegenstandes gerade nicht übernehmen, denn sonst agiert er als Prediger und nicht als Wissenschaftler14. Auch G. Theißen orientiert sich ausdrücklich am Programm von W. Wrede, das sechs Vorzüge aufzuweisen hat15: 1) Die Distanzierung gegenüber dem normativen Anspruch religiöser Texte; 2) die Überschreitung der Kanonsgrenzen; 3) die Emanzipation von Kategorien wie ‚Orthodoxie‘ und ‚Häresie‘; 4) die Anerkennung der Pluralität und Widersprüchlichkeit theologischer Entwürfe im Urchristentum; 5) die Erklärung theologischer Gedanken aus ihrem realen Lebenskontext heraus; 6) die Offenheit gegenüber der Religionsgeschichte. Theißen vertritt ausdrücklich eine Außenperspektive, er will den Zugang zum Neuen Testament für säkularisierte Zeitgenossen offen halten. Deshalb schreibt er keine Theologie im konfessorischen Sinn, sondern eine Theorie der urchristlichen Religion, die auf allgemeinen religionswissenschaftlichen Kategorien beruht. Ausgangspunkt ist dabei die These: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“16 Dieser semiotische Ansatz betrachtet Religion als ein kulturelles Zeichensystem, das sich in Mythos, Ritus und Ethos ausdrückt. Mythen erläutern in narrativer Form, was Welt und Leben grundlegend bestimmt (s. u. 4.6). Riten sind Verhaltensmuster, mit denen Menschen ihre alltäglichen Handlungen durchbrechen, um die im Mythos ausgesagte andere Wirklichkeit darzustellen. Zu jeder religiösen Zeichensprache gehört schließlich das Ethos; sowohl im Judentum als auch im Christentum organisiert sich das gesamte Verhalten durch seine Beziehung auf die Gebote Gottes. Auf dieser Grundlage zeichnet Theißen den Umformungsprozess des frühen Christentums von einer innerjüdischen hin zu einer eigenständigen Bewegung nach, der sich in Kontinuität und Diskontinuität zum jüdischen Zeichensystem vollzog. Bietet eine religionswissenschaftliche Betrachtungsweise eine neutrale Außenperspektive, die unvoreingenommen und ohne ideologische Fesseln ihre Gegenstände analysiert? Diese Frage muss aus mehreren Gründen eindeutig negativ beantwortet werden: 1) Die geschichts- und identitätstheoretischen Überlegungen haben gezeigt, dass es nicht möglich ist, eine von der eigenen Lebensgeschichte abstrahierende, ‚neutrale‘ Position einzunehmen (s. o. 1.1). Das Wertfreiheits- und Neutralitätspostulat, das z. B. häufig von Religionswissenschaftlern gegen Theologen vorgebracht wird, ist ein ideologisches Instrument, um andere Positionen unter Verdacht zu stellen. Es gibt kein positionelles Niemandsland; weder methodisch noch lebensgeschichtlich ist es möglich, die eigene Geschichte mit all ihren Wertungen auszublenden. 2) Ein zentrales Element der eigenen Lebensgeschichte ist die Frage nach und das Ver14 Vgl. H. RÄISÄNEN, a. a. O., 72ff. 15 Vgl. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Chris-
ten,17–19.
16 G. THEISSEN, a. a. O., 19.
36 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
hältnis zu Gott. Wer nicht an Gott glaubt, bringt diese Vorgabe notwendigerweise und selbstverständlich ebenso in seine Arbeit ein wie der, der an Gott glaubt. Die Forderung, die Welt aus der Welt ohne Gott zu erklären, ist keineswegs ein ‚Objektivitätskriterium‘, sondern ihrem Wesen nach ein lebensgeschichtlich bedingtes Wollen, ein Willensakt, eine Setzung17. Die Nicht-Existenz Gottes ist ebenso eine Vermutung wie seine Existenz ! Das Wollen und die Setzungen anderer sind kein hinreichender Grund, dass der Theologe bei seiner theologischen und religionsgeschichtlichen Arbeit den Gottesgedanken ausblendet. Alle historische Arbeit ist unausweichlich in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang eingefügt, so dass die Frage nach Objektivität und Parteilichkeit gerade nicht als Gegensatz aufgefasst werden muss. „Parteilichkeit und Objektivität verschränken sich . . . im Spannungsfeld von Theoriebildung und Quellenexegese. Das eine ohne das andere ist für die Forschung umsonst.“18 Um Geschichte schreiben zu können, bedarf der Theologe/Religionswissenschaftler einer Theorie der Geschichte, die lebensgeschichtlich erworbene religiöse, kulturelle und politische Wertungen weder ausschließen soll noch kann. 3) Religiöse Bewegungen und ihre Texte lassen sich nur adäquat erfassen, wenn man in ein Verhältnis zu ihnen tritt. Jeder Interpret steht in einem solchen Verhältnis, das gerade nicht mit der ideologischen Unterstellung von Innen- und Außenperspektive erfasst werden kann. Vielmehr verdankt es sich sowohl der jeweiligen Lebensgeschichte des Interpreten als auch den methodischen Vorentscheidungen und Fragestellungen, mit denen er an die Texte herantritt. Es geht nicht um Neutralität, die der eine beansprucht und der andere angeblich nicht erbringen kann, sondern allein um eine den Texten angemessene Fragestellung und Methodik. Wenn religiöse Texte die Wahrheitsfrage thematisieren, dann ist ein Ausweichen als Zeichen angeblicher Neutralität überhaupt nicht möglich, weil jeder Interpret immer schon in einem Verhältnis zu den Texten und den in ihnen ausgesprochenen Positionen steht. 4) Die Kanonbildung und die mit ihr verbundene Selektion gilt vielfach als Ausweis des ideologischen Charakters des frühen Christentums. Ein Kanon ist jedoch historisch und theologisch kein Willkürakt, sondern ein natürlicher Faktor innerhalb der Identitätsbildung und Selbstdefinition einer religiösen Bewegung und als kulturelles Phänomen keineswegs auf das frühe Christentum beschränkt19. Weil Schriftlichkeit die Voraussetzung für das Überdauern einer Bewegung ist, kann eine Kanonbildung nicht als repressiver Akt aufgefasst werden, son-
17 Treffend A. SCHLATTER, Atheistische Methoden in
der Theologie, in: ders., Die Bibel verstehen, hg. v. W. Neuer, Gießen 2002, (131–148) 137: „Jedes Denken hat ein Wollen in sich, so daß in unserer Wissenschaft erscheint, was ‚wir wollen‘. Damit sagt natürlich keiner von uns, dass wir uns ein souveränes Setzungsvermögen, das von jeder Begründung und Rechtfertigung befreit sei, zuschreiben.“ 18 R. KOSELLECK, Standortbindung und Zeitlichkeit,
in: Theorie der Geschichte I, hg. von R. Koselleck/ W. J. Mommsen/J. Rüsen, München 1977, (17–46) 46. 19 Vgl. dazu die Überlegungen bei J. ASSMANN, Fünf Stufen auf dem Weg zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum, in: ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, 81–100.
Vielfalt und Einheit 37
dern stellt einen völlig natürlichen Vorgang dar. Nicht äußere (kirchliche) Entscheidungen, sondern primär innere Impulse führten zur Kanonbildung20. Darüber hinaus verkennt die Forderung einer Aufhebung der Kanonsgrenzen die sinnstiftende und normierende Funktion eines Kanons als Erinnerungsraum, den die Mitglieder einer Gruppe immer wieder betreten können, um Vergewisserung und Orientierung zu erlangen. Die Festlegung auf einen Kanon als historische Gegebenheit und konstitutive Größe einer religiösen Bewegung bedeutet keineswegs, dass der Kanonbegriff zum Schlüssel einer ntl. Theologie wird oder außerkanonische Schriften und religionswissenschaftliche Fragestellungen ausgeblendet werden; sie sind aber nicht die primäre Bezugsgröße der Interpretation und bestimmen auch nicht ihren Umfang21. Weil es keine Außen- und/oder Innenperspektive gibt und die Preisgabe des Gottesbegriffes nicht ein Gewinn an Neutralität oder Wissenschaftlichkeit, sondern nichts anderes als eine Setzung und/oder die Anpassung an die Ideologie anderer ist, muss, darf und braucht die theologische Betrachtungsweise nicht durch eine religionswissenschaftliche Fragestellung ersetzt werden. Theologie und Religionswissenschaft sind weder besser noch schlechter, neutraler oder ideologischer, sondern sie fragen und arbeiten anders. Diese Andersartigkeit liegt in ihrem Gegenstand begründet, denn die Religionswissenschaft handelt von den Erscheinungsformen der Religionen, die christliche Theologie von dem Gott, der sich in der Geschichte Israels und in Jesus Christus offenbart hat22.
2.3
Vielfalt und Einheit
R. BULTMANN, Theologie, 585–599; H. SCHLIER, Über Sinn und Aufgabe einer neutestamentlichen Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), 323– 344; G. STRECKER, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, in: ders. (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), 1–31; U. LUZ, Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie, in: Die Mitte des Neuen Testaments (FS E. Schweizer), hg. v. U. Luz/H. Weder, 20 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 62007, 388–403. 21 Eine Begrenzung des Stoffquantums müsste schon aus praktischen Gründen auch von denen vorgenommen werden, die eine Aufhebung der Kanonsgrenzen fordern. Die Kriterien dafür sind nicht leicht zu finden, denn religions- und kulturwissenschaftlich ist eine Begrenzung der Literatur auf den christlichen Bereich nicht zu begründen, es müssten der gesamte jüdische und griechisch-römische Bereich ebenfalls miteinbezogen werden. Deshalb muss jeder Autor/Leser/Exeget zwangsläufig für sich
selbst Grenzen des Kanons ziehen. Auch der von PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 1–8, strikt durchgeführten formgeschichtlichen Selektion haftet etwas Gewaltsames an! 22 Vgl. I. U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, 14: „Für die Theologie markiert Gott daher nicht ein Thema neben anderen, sondern den Horizont, in dem alle Phänomene des Lebens zu verstehen sind, wenn sie theologisch verstanden werden sollen.“
38 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
Göttingen 1983, 142–161; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 304–321; F. HAHN, Das Zeugnis des Neuen Testaments in seiner Vielfalt und Einheit, KuD 48 (2002), 240–260; TH. SÖDING, Einheit der Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons, QD 211, Freiburg 2005.
Zu den zentralen Problemen der Darstellung einer Theologie des Neuen Testaments zählt die Frage nach Vielfalt und Einheit. Unbestritten ist die historische und theologische Vielschichtigkeit der einzelnen ntl. Schriften. Die sich anschließende Sachfrage lautet: Gibt es eine darüber hinausgehende Einheit und wie lässt sie sich begründen/darstellen? Eine negative Antwort auf diese Frage gibt R. Bultmann; er votiert gegen eine ntl. ‚Dogmatik‘ und tritt für die Verschiedenheit der Entwürfe ein. „Es ist dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es eine christliche Normaldogmatik nicht geben kann, daß es nämlich nicht möglich ist, die theologische Aufgabe definitiv zu lösen, – die Aufgabe, die darin besteht, das aus dem Glauben erwachsende Verständnis von Gott und damit von Mensch und Welt zu entwickeln. Denn diese Aufgabe gestattet nur immer wiederholte Lösungen oder Lösungsversuche in den jeweiligen geschichtlichen Situationen.“23 Die Gegenposition wird in vielfacher Form vertreten, wobei es zwei Grundmuster gibt: 1) Die Einheit des Neuen Testaments liegt in der Konzentration auf eine Person, einen Grundgedanken oder ein besonders eingängiges Argumentationsmuster. Von besonderer Bedeutung ist die Argumentation M. Luthers, der Jesus Christus als die ‚Mitte der Schrift ‘ versteht: „Und daryn stymmen alle rechtschaffene heylige bucher uber eyns, das sie alle sampt Christum predigen und treyben, Auch ist das rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben, odder nit, Syntemal alle schrifft Christum zeyget Ro. 3 unnd Paulus nichts denn Christum wissen will. 1. Cor 2. Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret, Widerumb, was Christum predigt, das ist Apostolisch, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett.“24 Von diesem Ansatz her gelangt Luther zu einer christologisch orientierten immanenten Bibelkritik, bei der besonders positiv das Johannesevangelium, die Paulusbriefe und der erste Petrusbrief gewürdigt werden, negativ hingegen der Jakobusbrief, aber auch der Hebräer- und Judasbrief sowie die Johannesoffenbarung. Der Ansatz Luthers wird in Variationen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein vertreten25. E. Käsemann sieht in der Rechtfertigung des Gottlosen die Mitte der Schrift und aller christlichen Verkündigung. „Weil in ihr Jesu Botschaft und Werk als Botschaft und
23 R. BULTMANN, Theologie, 585. Allerdings vertritt Bultmann faktisch einen ‚Kanon im Kanon‘, indem er Paulus und Johannes massiv in das Zentrum seiner Theologie rückt. 24 WA DB 7, 384,25–32. 25 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick bis in die 70er Jahre bietet W. SCHRAGE, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testa-
ments, in der neueren Diskussion, in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich u. a., Tübingen 1976, 415–442; die neuere Diskussion referieren und dokumentieren P. BALLA, Challenges to New Testament Theology, WUNT 2.95, Tübingen 1997; F. HAHN, Theologie II, 6–22; CHR. ROWLAND/C. M. TUCKETT (Hg.), The Nature of New Testament Theology, Oxford 2006.
Vielfalt und Einheit 39
Werk des Gekreuzigten, seine Herrlichkeit und Herrschaft sich unverwechselbar von allen andern religiösen Aussagen abheben, muß sie als Kanon im Kanon betrachtet werden, ist sie das Kriterium der Prüfung der Geister auch gegenüber christlicher Predigt in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin.“26 Im Rahmen einer Biblischen Theologie erblickt P. Stuhlmacher in der Versöhnungsvorstellung die Mitte der Schrift: „Das von Jesus gelebte, von Paulus exemplarisch verkündigte und von der johanneischen Schule durchgeistigte eine apostolische Evangelium von der Versöhung (Versühnung) Gottes mit den Menschen durch seinen eingeborenen Sohn, den Christus Jesus, ist die Heilsbotschaft für die Welt schlechthin.“27 2) Die Frage nach Vielfalt und Einheit wird nicht durch Konzentration auf Schlüsselbegriffe reduziert, sondern als eigenständiger und notwendiger Bestandteil der Theologie des Neuen Testaments begriffen. Nach H. Schlier ist die Aufgabe der Theologie erst dann geleistet, „wenn es nun auch gelingt, die Einheit der verschiedenen ‚Theologien‘ sichtbar zu machen. Erst dann ist der Name und der in ihm waltende Begriff überhaupt sinnvoll. Diese Einheit, die eine letzte Widerspruchslosigkeit der verschiedenen theologischen Grundgedanken und Aussagen einschließt, ist, theologisch gesehen, eine Voraussetzung, die mit der Inspiration und Kanonizität des N. T. bzw. der Heiligen Schrift zusammenhängt.“28 Diese Anregungen aufnehmend rückt F. Hahn die Einheit des Neuen Testaments in den Mittelpunkt seiner Theologie. Weil eine urchristliche Theologiegeschichte nur die Vielfalt ntl. Entwürfe aufzeigen kann, bedarf es im Rahmen eines thematischen Arbeitsganges des Aufweises der inneren Einheit des Neuen Testaments29. Auf der Basis des alt- und neutestamentlichen Kanons kommt als übergeordnete Leitkategorie dafür nur der Offenbarungsgedanke infrage. „Die Orientierung am Offenbarungsgedanken hat Konsequenzen für den Aufbau: Es ist einzusetzen mit dem Offenbarungshandeln Gottes im alten Bund, es folgt das Offenbarungsgeschehen in der Person Jesu Christi und dann die soteriologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes in Christus. Die neutestamentliche Ethik ist dabei im Zusammenhang mit der Ekklesiologie zu behandeln.“30 Gegen die Annahme einer ‚Mitte‘ des Neuen Testaments ist einzuwenden, dass es sich dabei um eine unhistorische Abstraktion handelt, die den einzelnen Entwürfen
26 E. KÄSEMANN, Zusammenfassung, in: ders. (Hg.),
Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, (399–410) 405. 27 P. STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 320. 28 H. SCHLIER, Sinn und Aufgabe, 338 f. Die Einheit erblickt Schlier bereits in den alten Glaubensformeln; sie sollte anhand der großen Themen Gott, Gottes Herrschaft, Jesus Christus, Auferstehung, Geist, Kirche, Glaube entfaltet werden. 29 Vgl. auch U. WILCKENS, Theologie I, 53, der zwi-
schen einem historischen und systematischen Teil des Gesamtwerkes unterscheidet und zum zweiten Teil feststellt: „Dort gilt es, in der Vielfalt verschiedenen Traditionsguts und teilweise einander widersprechender theologischer Konzeptionen die übereinstimmenden Grundmotive zu finden, die der Bewegung des Christentums in seiner geradezu eruptiven Anfangszeit ihre immense Überzeugungsund Ausbreitungskraft gegeben haben.“ 30 F. HAHN, Zeugnis, 253.
40 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
in keiner Weise gerecht wird. Die Rechtfertigungslehre des Galater- und Römerbriefes oder die Versöhnungsvorstellung erfassen noch nicht einmal das Ganze der paulinischen Theologie! Wird Jesus Christus selbst als die ‚Mitte‘ bestimmt, dann ist eine solche Konzentration auf der höchsten Ebene wenig sinnvoll, weil sie für alles zutrifft und sich damit selbst aufhebt. Eine Biblische Theologie ist nicht möglich, weil 1) das Alte Testament von Jesus Christus schweigt, 2) die Auferstehung eines Gekreuzigten von den Toten als kontingentes Geschehen sich in keine antike Sinnbildung integrieren lässt (vgl. 1Kor 1, 23) und 3) das Alte Testament wohl der wichtigste, aber keinesfalls der einzige kulturelle/theologische Kontext ntl. Schriften ist31. Gilt die Einheit des Neuen Testaments als eine eigene vom Kanon geforderte Sachaufgabe, stellen sich theoretische und praktische Probleme: Wie verhält sich die Kanonbildung zum Selbstverständnis der einzelnen Schriften, die nun einer neuen, späteren und fremden Fragestellung unterworfen werden? In welchem Verhältnis steht die Darstellung von Vielfalt und Einheit: Ist die Einheit die Schnittmenge des Verschiedenen? Vollendet sich die Vielfalt in der Einheit? Ist die Einheit die Wiederholung der Vielfalt unter verändertem Vorzeichen32? Kanonisierung als Zeugnis von Vielfalt und Begrenzung
Eine Beantwortung dieser Fragen muss davon ausgehen, dass der Aspekt der Vielfalt sich konsequent aus dem hier verfolgten methodischen Ansatz und dem historischen Befund ergibt: Weil alle ntl. Autoren als Erzähler und Interpreten ihre eigene Geschichte und die aktuelle Situation ihrer Gemeinde in ihre Jesus-Christus-Geschichte mit einbringen, somit ihre je eigene Sinnbildung vornehmen, gibt es ein deutliches Prae der Vielfalt und kann es die neutestamentliche Theologie im Singular gar nicht geben33. Jede ntl. Schrift ist eine eigenständige Sprach-, Interpretations- und damit Sinnwelt, die aus sich selbst heraus verstanden werden will. Vielfalt ist nicht identisch mit grenzen- und konturloser Pluralität, sondern bezieht sich streng auf das Zeugnis der ntl. Schriften. Vielfalt gibt es im Neuen Testament nur auf einer klaren Grundlage: Die Erfahrungen mit Gottes endzeitlichem Heilshandeln an Jesus Christus in Kreuz und
31 Eine Übersicht zum Für und Wider einer Biblischen Theologie bieten CHR. DOHMEN/TH. SÖDING (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente, Paderborn 1995. 32 Hierin sehe ich das Problem der Darstellung von F. HAHN, der Vielfalt und Einheit gleich umfänglich behandelt, wodurch es zwangsläufig zu erheblichen Überschneidungen und Wiederholungen unter veränderten Vorzeichen kommt; vgl. z. B. zum Thema ‚Gesetz bei Paulus‘ DERS., Theologie I, 232–242; Theologie II, 348–355. 33 Anders F. HAHN, Theologie II, 2: „Die Darstellung der Vielfalt im Sinn einer Theologiegeschichte des
Urchristentums ist ein notwendiges und unerläßliches Teilstück, ist für sich genommen jedoch nur ein Fragment. Erst in der Verbindung mit dem Bemühen, die verschiedenen theologischen Entwürfe des Urchristentums aufeinander zu beziehen und nach deren Einheit zu fragen, kann von einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘ im strengen und eigentlichen Sinn gesprochen werden.“ Hahn nimmt mit dem Begriff der Einheit eine Abstraktion vor, die sich in den Texten so nicht findet und behauptet zugleich, damit den einzig möglichen Weg zu einer Theologie des Neuen Testaments im Singular beschreiten zu können.
Vielfalt und Einheit 41
Auferstehung. Diese Grundlage wird in den einzelnen Schriften notwendigerweise und unausweichlich in je eigener Weise bearbeitet, wobei nicht Gegensätzlichkeit, sondern Vielgestaltigkeit vorherrscht. Zudem fragt sich, ob der Begriff der Einheit überhaupt geeignet ist, die gestellte Sachfrage zu beantworten. Einheit ist ein statischer Totalitätsbegriff, der dazu neigt, einzuebnen und zu vereinheitlichen. Schließlich ist die Frage der Einheit den ntl. Autoren fremd, sie erscheint nicht in den Texten und die Geschichte des frühen Christentums ist alles andere als die Geschichte einer einheitlichen Bewegung! Der Kanon bildet den Endpunkt eines langen Prozesses der Kanonisierung34; Kanonisierung wiederum ist ein natürliches und notwendiges Element von Identitätsbildung und -sicherung. Innerhalb jeder Entwicklung ist es notwendig, „die Regelungen eines bestimmten Bereiches der gesellschaftlichen Sinnproduktion durch Eingrenzung und Festlegung des Gebotenen“35 zu bestimmen. Die Kanonisierung spricht keineswegs gegen eine Betonung der Vielfalt, denn sie ist selbst ein Zeugnis sachgemäßer Vielfalt! Der Prozess der Kanonisierung verdeutlicht, dass das Ursprungsgeschehen die Vielfalt seiner Interpretationen zugleich ermöglicht und begrenzt. Gleichzeitig bleibt es aber dabei: Die für den Prozess der Kanonisierung zentrale Frage nach Vielfalt und ihrer Begrenzung ist nicht die Frage der einzelnen ntl. Schriften ! Ein Kanon ist immer ein Ende, die Kanonisierung ein anhaltender Prozess, der mit den ntl. Schriften einsetzt, nicht aber identisch ist! Zudem begründen und repräsentieren die ntl. Schriften ihren Status aus sich selbst heraus und bedürfen dafür nicht einer späteren Kanonisierung; sie kamen in ihrer überwiegenden Zahl in den Kanon, weil sie diesen Status schon besaßen und nicht umgekehrt36. Schließlich: Eine Theologie des ntl. Kanons als eine notwendigerweise exegetische und kirchengeschichtliche Aufgabe ist etwas anderes als eine Theologie der ntl. Schriften/des Neuen Testaments. Die Anzahl und die Reihenfolge der Schriften im Kanon ist nicht das Werk der ntl. Autoren, sondern hier zeigt sich das Theologieverständnis anderer !37 Ihre
34 Zum Werden des Kanons vgl. TH. ZAHN, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig/Erlangen 1888.1892; J. LEIPOLDT, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig 1907.1908; H. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968; B. M. METZGER, Der Kanon des Neuen Testaments, Düsseldorf 1993. 35 TH. LUCKMANN, Kanon und Konversion, in: A./ J. Assmann (Hg.), Kanon und Zensur, München 1987, (38–46) 38. 36 Bei den Paulusbriefen ist dies offenkundig, wie z. B. 1Thess 2, 13; 2Kor 10, 10; Gal 1, 8f und die Deuteropaulinen zeigen. Aber auch die Evangelien (vgl. Mk 1, 1; Mt 1, 1–17; Lk 1, 1–4; Joh 1, 1–18), die Apostelgeschichte, die Johannesapokalypse und alle
großen Briefe legitimieren sich durch ihren Inhalt und Anspruch; anders J. SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: C. Breytenbach/J. Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), (135–158) 137f, der strikt zwischen dem historischen und kanonischen Status unterscheidet und den letzteren für entscheidend hält. 37 Völlig anders J. SCHRÖTER, a. a. O., 154: „Die historische und theologische Bedeutung des Kanons ist vielmehr erst dann zur Geltung gebracht, wenn der Kanon als theologiegeschichtliches Dokument gewürdigt und die in ihm befindlichen Schriften auf dieser Grundlage in ihrem kanonischen Zusammenhang ausgelegt werden.“
42 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
Sicht setzte sich mit guten Gründen durch, sie ist aber nicht die Perspektive der einzelnen ntl. Schriften. Als Interpretationshorizont und Identitätsstifter kann der Kanon erst von dem Zeitpunkt an gelten, zu dem er in seinem Grundbestand existierte: um 180 n. Chr. Deshalb ist der Kanon gegenüber den einzelnen Schriften eine sekundäre Meta-Ebene, die weder den besonderen historischen Standort noch das spezifische theologische Profil einer ntl. Schrift wirklich erfassen kann und auch nicht die entscheidende Frage beantwortet, welchen Beitrag ein Autor für die frühchristliche Identitätsbildung liefert. Als natürliches und historisch wie theologisch betrachtet überaus sachgemäßes Ergebnis eines jahrhundertlangen Formierungs- und Selektionsprozesses ist der ntl. Kanon eine geschichtliche Realität, die den Umfang des zu behandelnden Stoffes bestimmt.
2.4
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung
Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich der methodische Ansatz und der Aufbau dieser Theologie des Neuen Testaments. Der methodische Ansatz
Die Schriften des Neuen Testaments sind das Resultat einer umfassenden und vielschichtigen Sinnbildung. Weil religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen immer Sinnbildungsprozesse auslösen, die in Erzählungen und Rituale und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein, waren angesichts von Kreuz und Auferstehung Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Ein Erschließungsereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Erschließungsleistungen ! Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, das Einmalige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen, womit sie auch eine bedeutsame Denkleistung vollbrachten. Indem sie die Geschichte des Jesus Christus in bestimmter Weise erzählen und deuten, nehmen sie Zuschreibungen und Statusbestimmungen vor, sie schreiben Geschichte und konstruieren eine eigene neue religiöse Welt38. Dabei vermeiden alle Autoren des Neuen Testaments die historisch wie sachlich unangemessene Alternative zwischen einer Faktengeschichte des irdischen Jesus und einer davon abgelösten abstrakten Kerygma-Christologie. Vielmehr kommt bei ihnen die Geschichte des irdischen Jesus aus der Perspektive der durch den Auferstandenen geschaffenen gegenwärtigen Heilswirklichkeit in den Blick. 38 Diese Einsicht ist fundamental, denn: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukom-
men“ (M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 14 1977, 153).
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung 43
Die neue religiöse Welt ist immer auch Ausdruck der spezifischen historischen und kulturellen Situation, in der die ntl. Autoren lebten und wirkten. Sie waren eingebunden in vielfältige kulturelle und politische Kontexte, die durch ihre Herkunft, ihr aktuelles Wirkungsfeld, ihre Rezipienten und die religiös-philosophischen Debatten der Zeit bestimmt waren. Religionen existieren ebenso wenig wie Kulturen je individuell für sich, vielmehr sind sie immer in Relationen eingebunden. Dies gilt umso mehr für eine neue Bewegung wie das frühe Christentum, das um seiner Anschlussfähigkeit willen bewusst Relationen aufbauen musste. Anschlussfähigkeit ergibt sich nicht von selbst, sondern muss bewusst hergestellt werden. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit von Sinnbildungen und der Bildung neuer Identitäten. Die Herausbildung einer Identität vollzieht sich immer unter dem Einfluss eines kulturellen Umfeldes bzw. kultureller Umfelder. Dabei ist das ethnische Identitätsbewusstsein wesentlich durch objektivierbare Merkmale wie Sprache, Abstammung, Religion und daraus hervorgegangener Traditionen bestimmt. Traditionen wiederum sind Ausdruck einer kulturellen Formung durch Texte, Riten und Symbole39. Obwohl sich Identitätsbildung in der Regel innerhalb eines so geprägten Rahmens vollzieht, hat sie immer Prozesscharakter, ist fließend und an sich ändernde Situationen gebunden40. Wenn sich zudem Kulturräume überlagern, kann sich eine Identität nur erfolgreich ausbilden, wenn sie verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen und zu integrieren vermag. Eindeutigkeit und Durchlässigkeit sind gleichermaßen Voraussetzungen für gelungene kulturelle Neuformungen. Anschlussfähigkeit ließ sich innerhalb der komplexen kulturellen Vielschichtigkeit des Imperium Romanum für die frühchristliche Mission nur erreichen, weil sie in der Lage war, verschiedene kulturelle Traditionen in sich aufzunehmen und schöpferisch weiterzuentwickeln: das Alte Testament, das hellenistische Judentum und die griechisch-römische Kultur. Schließlich vollziehen sich Sinnbildungen immer in (wechselnden) politischen Kontexten, die in den einzelnen ntl. Schriften in sehr unterschiedlicher Weise zum Thema gemacht werden. Speziell der Kaiserkult als politische Religion (s. u. 9.1) konnte nicht unthematisiert bleiben. Der Umgang mit ihm reicht von offener Konfrontation und Auseinandersetzung (Offb/1Petr), über symbolische Überbietungen und/oder deutliche Anspielungen (Paulus/Markus/Lukas/Johannes/Kol/Eph) bis hin zum Schweigen (Hebr/Jak/ 1.2Tim/Tit/2Petr/Jud). Die Sinnbildungen der ntl. Autoren weisen eine hohe Leistungsfähigkeit auf, denn sie konnten sich nicht nur innerhalb einer wahrhaft multi-religiösen Umwelt behaupten, sondern sie sind bis heute in einer weltgeschichtlich einmaligen Rezeptionsgeschichte gegenwärtig. Da in der Antike Religion und Philosophie nie getrennt waren, müssen die ntl. Schriften auch als denkerische Leistungen und Zeugnisse gelesen 39 Vgl. dazu H. WELZER, Das soziale Gedächtnis, in: ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, 9–21.
40 Vgl. K.-H. KOHLE, Ethnizität und Tradition aus
ethnologischer Sicht, in: A. Assmann/H. Friese (Hg.), Identitäten (s. o. 1.2), 269–287.
44 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
und ernst genommen werden. In ihnen werden zentrale Fragen gelingenden Lebens behandelt, d. h. das denkerische Profil der einzelnen Entwürfe muss im Vergleich mit zeitgenössischen religiös-philosophischen Entwürfen erhoben werden. Die Orientierung an den ntl. Schriften/Autoren wirft die Frage auf, ob nicht von einer Theologie der ntl. Schriften gesprochen werden sollte. Einerseits ist die Ausrichtung an einzelnen Schriften/Autoren grundlegend, andererseits wird aber in einem entscheidenden Punkt davon abgewichen, indem die Verkündigung, das Wirken und das Geschick Jesu von Nazareth die Basis und den Ausgangspunkt der Darstellung bilden. Deshalb wird weiterhin von Theologie des Neuen Testaments gesprochen41, womit die aus den Schriften des Neuen Testaments erhebbaren theologischen Konzeptionen gemeint sind, die über die reine Anzahl der Schriften hinausgehen. Der Aufbau
Werden die einzelnen ntl. Schriften als Ausdruck von anschlussfähigen Sinn- und Identitätsbildungsprozessen verstanden, dann kommt einer Theologie des Neuen Testaments die Aufgabe zu, die Konstruktion dieser Sinnwelten umfassend zu erheben und darzustellen. Ausgangspunkt muss dabei Jesus von Nazareth sein, der mit seinem Wirken und seiner Verkündigung selbst eine Sinnbildung vornahm, die vor und nach Ostern weitere Sinnbildungen hervorrief und auf den sich alle ntl. Autoren grundlegend beziehen42. Den ersten Schwerpunkt bildet deshalb die Darstellung der Gedankenwelt Jesu; sie ist nach thematischen Fragestellungen gegliedert, die sich aus den Gewichtungen der Überlieferung ergeben. Es folgt eine primär chronologisch (und teilweise sachlich)43 angeordnete Entfaltung der Sinnwelten aller ntl. Schriften, von Paulus bis zur Offenbarung. Ziel ist es dabei, möglichst die gesamte Gedankenwelt der Autoren darzustellen. Dies soll durch Themenfelder erreicht werden, die 1) in 41 Faktisch war der Terminus Theologie des Neuen Testaments schon immer ein Sammelbegriff, unter dem sehr verschiedenartige Entwürfe subsumiert wurden. Zwei Beispiele, die sich leicht vermehren ließen: R. Bultmann setzt mit den Voraussetzungen einer Theologie des Neuen Testaments ein (Verkündigung Jesu), schließt dann thematische Überblicke an (Das Kerygma der Urgemeinde/Das Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus), um sich dann zwei Autoren/Schriftengruppen zuzuwenden (Paulus und Johannes), die gewissermaßen die Theologie des Neuen Testaments repräsentieren. Schließlich wird wiederum überblicksmäßig die Entwicklung zur Alten Kirche dargestellt. F. Hahn unterscheidet unter dem Obertitel ‚Theologie des Neuen Testaments‘ zwischen einer Theologiegeschichte des Urchristentums (Band I: Die Vielfalt des
Neuen Testaments) und einer thematischen Darstellung (Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments), wobei im 1. Band Autoren/Schriftengruppen im Vordergrund stehen, im 2. Band Themen, die jedoch vornehmlich anhand prominenter Autoren/Schriften entfaltet werden. 42 Die grundlegende Sachentscheidung beim Aufbau einer Theologie des Neuen Testaments liegt darin, ob (in der Regel nach einleitenden Kapiteln) mit Jesus von Nazareth (so L. Goppelt, W. Thüsing, P. Stuhlmacher, U. Wilckens, F. Hahn) oder Paulus (so R. Bultmann, H. Conzelmann, G. Strecker, H. Hübner, J. Gnilka) eingesetzt wird. 43 So ist es z. B. sinnvoll, die spät entstandenen Pastoralbriefe innerhalb der Deuteropaulinen und damit vor den zeitlich früher anzusetzenden Kirchenbriefen 1Petrus, Jakobus und Hebräer zu behandeln.
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung 45
allen Schriften zu finden sind, und die 2) die theologischen Strukturen in ihren Grundannahmen, ihrer Vielfalt und ihren gegenseitigen Vernetzungen erfassen können. Die Themenfelder sind: 1) Theologie : Welche Konsequenzen hat das Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus für das Gottesbild? Wie ist der Gott zu denken, der in Jesus Christus seinen Willen in Kontinuität und Diskontinuität zum ersten Bund kundgetan hat? 2) Christologie : Das besondere Gottesbewusstsein des Jesus von Nazareth erforderte im Kontext seines vollmächtigen Auftretens, seiner Wundertaten und seines Geschicks in Jerusalem die Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott, seines Wesens, seiner Funktionen und seiner Bedeutsamkeit innerhalb des mit ihm selbst einsetzenden endzeitlichen Prozesses. 3) Pneumatologie : Die neuen und nachhaltigen Geisterfahrungen der frühen Christen nötigten zu Reflexionen über die Anwesenheit und das Wirken des Göttlichen im Leben der Glaubenden. 4) Soteriologie : Von Anfang an wurde das Christusgeschehen als ein rettendes/erlösendes Ereignis verstanden; als Rettung vor dem Gericht, der Hölle/Unterwelt und dem immerwährenden Tod. Es musste im Kontext zahlreicher antiker Rettergestalten bestimmt werden, was wirklich rettet und wie sich die Rettung vollzieht. 5) Anthropologie : Damit verbindet sich die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen. Angesichts der Jesus-Christus-Geschichte stellte sich die Frage nach dem Menschen neu; der ‚neue Mensch‘ in Christus (2Kor 5, 17; Eph 2, 15) rückt in das Zentrum der Reflektion. 6) Ethik : Sinnbildungen sind immer mit Orientierungsleistungen verbunden, die in ethische Konzepte umgesetzt werden müssen. Nicht nur das Sein, sondern auch das Handeln hatte für die frühen Christen eine neue Gestalt gefunden. Sie standen vor der schwierigen Aufgabe, in Kontinuität zur jüdischen Ethik und im Kontext einer hoch reflektierten griechisch-römischen Ethik ein attraktives ethisches Programm zu entwickeln. 7) Ekklesiologie : Zu den prägenden Erfahrungen der Anfangszeit gehörte die neue Gemeinschaft im Glauben, die innerhalb der Ekklesiologie bedacht und in Formen/ Strukturen überführt werden musste. Es galt, die Unmittelbarkeit des Geistes und die notwendigen Ordnungsstrukturen in der sich dehnenden Zeit in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen. 8) Eschatologie : Jede Religion/Philosophie muss als Sinnbildung einen Entwurf temporaler Ordnung entwickeln. Für die frühen Christen gilt dies in besonderer Weise, denn Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mussten in ein neues Verhältnis gebracht werden, weil mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten ein vergangenheitliches Geschehen die Zukunft bestimmt und deshalb auch die Gegenwart prägt. Das frühe Christentum ließ die Eschatologie gerade nicht im Vollzug der Weltgeschichte aufgehen, sondern erarbeitete Zeitkonzepte, die – getragen vom allumfassenden Gottesgedanken – vom Ende her den Sinn entwerfen.
46 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
In einem abschließenden 9. Themenfeld (Theologiegeschichtliche Stellung ) wird versucht, eine Einordnung jeder ntl. Schrift innerhalb der frühchristlichen Sinnbildungsprozesse und der Geschichte des frühen Christentums vorzunehmen, indem vor allem ihr besonderes Profil herausgestellt wird. Die schematische Grundstruktur ergibt sich somit aus dem Befund der Schriften und der historischen Entwicklung selbst 44, zudem kommt ihr gleichermaßen eine strukturierende und erschließende Funktion zu. Sie ordnet den Stoff und die Fragestellungen und gewährleistet, dass nicht nur die gängigen theologischen/christologischen Themen der einzelnen Schriften dargestellt werden (z. B. ‚Messiasgeheimnis‘ bei Markus, Gesetz/ Gerechtigkeit bei Matthäus, Rechtfertigungslehre bei Paulus, Ämter bei den Pastoralbriefen), sondern die gesamte Breite und der ganze Reichtum der einzelnen Entwürfe erfasst wird. Zugleich ist dieses Raster so flexibel, dass die Schwerpunkte und Besonderheiten einzelner Schriften herausgearbeitet werden können. Auch die Erzählstruktur von Schriften, ihre besonderen theologischen Weichenstellungen, ihre Stellung im Kontext anderer Entwürfe und ihre spezifischen identitäts- und einheitsbildenden Elemente lassen sich im Rahmen dieses Schemas angemessen integrieren. Der je besondere Charakter eines ntl. Textes bleibt so gewahrt, ohne das Besondere für das Ganze zu halten und umgekehrt. Die Argumentationen in den Schriften des Neuen Testaments sind immer eingebettet in historische, theologie- und religionsgeschichtliche, kulturelle und politische Rahmenbedingungen. Deshalb ist es notwendig, die für das Verstehen der Texte unabdingbaren Kontexte darzustellen: die grundlegenden Weichenstellungen in der Geschichte des frühen Christentums, die kulturellen und denkerischen Herausforderungen, die politischen Wendepunkte und die unausweichlichen Konflikte. Dies sollen vier mit dem Stichwort Transformation versehene Abschnitte leisten, die jeweils vor der Behandlung der betreffenden Schriftengruppen die zentralen historischen/ theologiegeschichtlichen Veränderungen gegenüber der bisherigen Situation darstellen.
44 Es handelt sich nicht um eine Gliederung nach ‚dogmatischen‘, sondern nach thematischen Topoi; um eine an den Inhalten der Texte orientierte didaktisch-methodische Entscheidung. Gliederungen sind
immer heuristische Entscheidungen und danach zu beurteilen, inwiefern sie den Stoff erfassen und vermitteln können.
3.
Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
R. BULTMANN, Jesus, Hamburg 41970 (= 1926); G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart 91971 (= 1956); H. CONZELMANN, Art. Jesus Christus, RGG3 III, Tübingen 1959, 619–653; H. RISTOW/ K. MATTHIAE (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960; H. BRAUN, Jesus, Stuttgart 21969 (NA 1988); N. PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich?, Göttingen 1972; E. SCHIL3 LEBEECKX, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 1975; J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu (s. o. 1); L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978; T. HOLTZ, Jesus aus Nazaret, Berlin 41983; H. SCHÜRMANN, Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983; E. P. SANDERS, Jesus and Judaism, London 1985; CHR. BURCHARD, Jesus von Nazareth, in: Die Anfänge des Christentums, hg. v. J. Becker, Stuttgart 1987, 12–58; E. SCHWEIZER, Art. Jesus Christus, TRE XVI, Berlin 1987, 670–726; G. THEIS5 SEN, Der Schatten des Galiläers, München 1988; J. P. MEIER, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus I.II.III, New York 1991.1994. 2001; J. GNILKA, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte, HThK.S 3, Freiburg 1993; M. BORG, Jesus – der neue Mensch, Freiburg 1993; G. VERMES, Jesus der Jude, Neukirchen 1993; J.D. CROSSAN, Der historische Jesus, München 1994; B. CHILTON/C. A. EVANS (Hg.), Studying the Historical Jesus, NTTS 19, Leiden 1994; E.P. SANDERS, Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996; N. T. WRIGHT, Jesus and the Victory of God, Minneapolis 1996; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996; J. BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin 1996; D. FLUSSER, Jesus, Hamburg 1999 (NA); G. LÜDEMANN, Jesus nach 2000 Jahren, Lüneburg 2000; J. ROLOFF, Jesus, München 2000; W. STEGEMANN/B. J. MALINA/ G. THEISSEN (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002; G. THEISSEN, Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, Göttingen 2003; J. D. G. DUNN, Christianity in the Making I: Jesus Remembered, Grand Rapids 2003; J. D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen – hinter den Texten, Düsseldorf 2003; M. EBNER, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 22004; D. MARGUERAT, Der Mann aus Nazareth, Zürich 2004; K. BERGER, Jesus, München 2004; T. KOCH, Jesus von Nazareth, der Mensch Gottes, Tübingen 2004; G. THEISSEN, Die Jesusbewegung, NA Gütersloh 2004; L. SCHENKE (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004; J. SCHRÖTER, Jesus von Nazareth, Leipzig 2006; T. ONUKI, Jesus. Geschichte und Gegenwart, BThSt 82, Neukirchen 2006; CHR. NIEMAND, Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007.
Jesus von Nazareth ist die Basis und der Ausgangspunkt aller neutestamentlichen Theologie (s. o. 2.1). Wer aber war dieser galiläische Wanderprediger und Heiler? Was verkündigte er und wie verstand er sich selbst? Welche methodischen und hermeneutischen Aspekte müssen bei der Gewinnung eines plausiblen Jesusbildes bedacht werden? Um diese Fragen zu beantworten, leiten methodologische und hermeneutische Überlegungen die Darstellung der Grundzüge der Verkündigung und des Lebens Jesu ein.
48 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.1
Die Frage nach Jesus
A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung I.II, Gütersloh 31977 (= 1913); E. KÄSEDas Problem des historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 187–214; R. BULTMANN, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (= 1960), 445– 469; E. FUCHS, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1960; J. M. ROBINSON, Kerygma und historischer Jesus, Zürich 21967; R. SLENCZKA, Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi, FSÖTh 18, Göttingen 1967; M. BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus, Gütersloh 1984; C. A. EVANS, Life of Jesus Research. An annotated Bibliography, NTTS 24, Leiden 1996; P. MÜLLER, Trends in der Jesusforschung, ZNT 1 (1998), 2–16; M. LABAHN/A. SCHMIDT (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001; J. SCHRÖTER, Jesus und die Anfänge der Christologie, BThSt 47, Neukirchen 2001; J. SCHRÖTER/R. BRUCKER (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin 2002.
MANN,
Die historische Frage nach Jesus ist ein Kind der Aufklärung1. Für die ältere Zeit war es selbstverständlich, dass die Evangelien zuverlässige Kunde über Jesus vermitteln. Vor der Aufklärung beschränkte sich die neutestamentliche Evangelienforschung im Wesentlichen darauf, die vier Evangelien zu harmonisieren. Praktisch war die neutestamentliche Exegese eine Hilfsdisziplin der Dogmatik. Stationen der Forschung
Erst am Ende des 18. Jh. brach die Erkenntnis auf, dass der vorösterliche Jesus und der von den Evangelien (und auch den Kirchen) verkündete Christus nicht derselbe sein könnten. Von besonderer Bedeutung in dieser Entwicklung war Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), von dem Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1774–78 posthum sieben Fragmente veröffentlichte, ohne die Identität des Verfassers preiszugeben. Von nachhaltiger Wirkung war das 1778 publizierte 7. Fragment: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“2. Reimarus unterscheidet hier zwischen dem Anliegen Jesu und dem seiner Jünger: Jesus war ein jüdischer politischer Messias, der ein weltliches Reich aufrichten und die Juden von der Fremdherrschaft erlösen wollte. Die Jünger standen nach der Kreuzigung vor der Vernichtung ihrer Träume, sie stahlen den Leichnam Jesu und erfanden die Botschaft von seiner Auferstehung. Für Reimarus war somit der Jesus der Geschichte mit dem Christus der Verkündigung nicht identisch; Geschichte und Dogma sind zweierlei: „allein, ich finde große UrsaDie ältere Forschung wird von A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, dargeboten; zu der mit R. Bultmann verbundenen Entwicklung vgl. H. ZAHRNT, Es begann mit Jesus von Nazareth, Stuttgart 31969; W. G. KÜMMEL, 40 Jahre Jesusforschung (1950–1990), Königstein/Bonn 1994; eine kritische Darstellung der neueren amerikanischen Forschung 1
bietet N.T. Wright, Jesus (s. o. 3), 28–82. Relevante Texte der Debatte finden sich in: M. BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus. 2 Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778.
Die Frage nach Jesus 49
che, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern.“3 David Friedrich Strauss (1808–1874) veröffentlichte 1835/36 sein Aufsehen erregendes ‚Leben Jesu‘, das eine Flut von Widerlegungsversuchen hervorrief, seinem Verfasser lebenslange gesellschaftliche Ächtung bescherte, hinter dessen Grundthese von der mythischen Ausgestaltung der Jesusüberlieferung die Forschung aber nicht mehr zurück kann. „Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“4 . Die Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil in den Mythos verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und der damit verbundene Wahrheitsanspruch auseinanderklaffen. Strauss hoffte, die dadurch entstandene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christlichen Glaubens aus der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug. Eine trügerische Hoffnung, denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes Defizit gegenüber: Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklichkeit behauptet werden. Der projektive Charakter der Leben-Jesu-Bilder des 19. Jh. wurde in der ‚Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‘ von Albert Schweitzer (1875–1965) aufgedeckt. Schweitzer zeigte, dass jedes der liberalen Jesusbilder genau die Persönlichkeitsstruktur aufwies, die in den Augen ihres Verfassers als höchstes anzustrebendes, ethisches Ideal galt. M. Kähler und R. Bultmann ziehen aus der Vielfalt der Jesusbilder und den exegetischen Schwierigkeiten, ein sachgemäßes Jesusbild zu entwerfen, in unterschiedlicher Weise den Schluss, allein den kerygmatischen Christus bzw. das nachösterliche Kerygma als theologisch relevant anzusehen (s. o. 2.1). M. Kähler betont, Jesus Christus sei für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern, nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Für R. Bultmann gilt es, radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewand kennen und es nicht möglich sei, wirklich hinter das Kerygma zurückzukommen. Bultmann folgt Kähler in der Anschauung, der Glaube könne sich nicht an scheinbar historische Fakten binden. Historische Forschung unterliegt notwendigerweise einem ständigen Wandel, so dass sich auch die Ergebnisse verän3
A. a. O., 7 f.
4 D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Erster Band, Tübingen 1835, V.
50 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
dern müssen. Für den Glauben würde das bedeuten, dass er gewissermaßen den sich ständig ändernden Ergebnissen der Exegeten angepasst werden müsste. Eine neue Runde in der historischen Frage nach Jesus leitete 1954 Ernst Käsemann (1906–1998) ein. Er konstatiert: „Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und der in Variation des Kerygmas.“5 Zwar war man weit davon entfernt, ein Leben Jesu rekonstruieren zu können, aber man erkannte, dass zwischen der Verkündigung Jesu und der frühen Gemeinde nicht so radikal getrennt werden konnte, wie Bultmann dies tat. Käsemann stellte bei seiner Rekonstruktion das sogenannte Differenzkriterium in den Mittelpunkt, wonach wir einigermaßen festen historischen Boden unter den Füßen haben, wo sich eine bestimmte Jesustradition weder aus dem Judentum noch aus dem frühen Christentum ableiten lässt. Als einflussreiche Jesusbücher aus dieser Forschungsphase sind die Werke von Günther Bornkamm (1905– 1990) und Herbert Braun (1903–1991) zu nennen. Die neuere Jesusforschung in Amerika (‚third quest‘)6 ist in sich uneinheitlich, deutlich stehen aber die Forderung nach Einbeziehung aller Quellen (außerkanonische Überlieferung, Archäologie, postulierte ‚Quellen‘7) und eine veränderte Wertung von Quellen (Qumran-Schriften, Nag-Hammadi-Funde mit dem Thomasevangelium) im Mittelpunkt der Diskussion8. So gelten die Qumranfunde als ein Zeugnis für die Vielschichtigkeit des Judentums im 1. Jh. n.Chr.9; diese Vielschichtigkeit ermöglicht es, auch Jesus von Nazareth konsequent im Rahmen des Judentums seiner Zeit zu interpretieren (z. B. G. Vermes, E. P. Sanders). Das von E. Käsemann so hoch geschätzte Differenzkriterium wird einer scharfen Kritik unterzogen, Jesus gilt als be-
E. KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, 213. 6 Der Terminus ‚third quest‘ geht von einer forschungsgeschichtlichen Dreiteilung aus: 1) Die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh. mit ihren Reaktionen im frühen 20. Jh.; 2) die ‚neue‘ Frage nach Jesus ab der Mitte des 20. Jh.; 3) die ‚dritte‘ Fragerunde ab Beginn der 80er des 20. Jh. Sinnvollerweise sind fünf Epochen der Jesusforschung zu unterscheiden: 1) Aufklärung (Reimarus/Strauss); 2) Liberale Jesusforschung (H.-J. Holtzmann); 3) Destruktion des liberalen Jesusbildes (J. Weiss/W. Wrede/A. Schweitzer/R. Bultmann); 4) die ‚neue‘ Frage nach dem historischen Jeusus (E. Käsemann/E. Fuchs/ G. Bornkamm/G. Ebeling/H. Braun); 5) die neuere (überwiegend) nordamerikanische Jesusforschung (‚third quest‘); vgl. auch G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 22–29. 7 Zu nennen ist hier bes. das sogen. ‚Geheime Markusevangelium‘ (ein angeblicher Brief von Cle5
mens von Alexandrien mit zwei Zitaten aus einem unbekannten ‚Markusevangelium‘), das 1958 der Religionshistoriker M. SMITH gefunden haben will. Vom Fund existieren lediglich Fotos, die keine überzeugende Beweiskraft haben. Von einer Fälschung geht aus: ST. C. CARLSON, The Gospel Hoax. Morton Smith‘s Invention of Secret Mark, Waco Texas 2005. Für die Authentizität bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den synoptischen Evangelien und einer Datierung ins 2. Jh. votieren zuletzt: H.-J. KLAUCK, Apokryphe Evangelien, Stuttgart 2002, 48–52; E. RAU, Das geheime Markusevangelium. Ein Schriftfund voller Rätsel, Neukirchen 2003. 8 Vgl. als Übersicht D. S. DU TOIT, Redefining Jesus: Current Trends in Jesus Research, in: M. Labahn/ A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 82–124. 9 Vgl. hier C. A. EVANS, The New Quest for Jesus and the New Research on the Dead See Scrolls, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 163–183.
Die Frage nach Jesus 51
sonderer Jude innerhalb des Judentums10. Eine radikale Neubewertung erfährt teilweise das Thomas-Evangelium, das von einigen Exegeten als ältestes Zeugnis von Jesusüberlieferungen angesehen und nicht in die Mitte des 2. Jh., sondern um 50 n.Chr. datiert wird (J. D. Crossan). Eine solche Interpretation des Thomasevangeliums führt zu einem veränderten Jesusbild, bei dem nicht mehr die futurische Eschatologie im Mittelpunkt steht. Jesus ist nicht (mehr) der Verkünder des kommenden Reiches Gottes, sondern ein gesellschaftlich unangepasster, geisterfüllter, charismatischer Weisheitslehrer und Erneuerer (M.J. Borg). Allerdings sprechen die konsequente Entkontextualisierung der Worte Jesu, die sekundäre Stilisierung überkommener Formen und die gänzliche Abkopplung von der Geschichte Israels deutlich für eine spätere Datierung des Thomasevangeliums11. In Teilen der nordamerikanischen Jesusforschung war und ist deutlich die Tendenz zu spüren, tatsächliche oder postulierte außerkanonische Überlieferungen in den Rang von Vor- oder Nebenformen der synoptischen und johanneischen Jesusüberlieferung zu erheben (H. Köster/J. M. Robinson12; J. D. Crossan, B. L. Mack13). Das Ziel solcher Konstruktion liegt zweifellos darin, die Deutungsmacht der kanonischen Evangelien zu brechen und ein alternatives Jesusbild zu etablieren. Dabei dienen häufig die Lust am Sensationellen (Jesus und die Frauen; gleichgeschlechtliche Liebe, Jesus als Prototyp alternativen Lebens, undogmatische Anfänge des Christentums), die bloße Vermutung und das unbewiesene Postulat als Stimulans für eine bewusst öffentlichkeitswirksam geführte Debatte14. Historischer Kritik halten solche Konstruktionen nicht stand, denn weder die Existenz eines ‚geheimen Markusevangeliums‘ oder einer ‚SemeiaQuelle‘15 lassen sich wahrscheinlich machen und das Thomasevangelium gehört in das 2. Jh.!
Schließlich ist die neue Frage nach Jesus durch eine starke Einbeziehung sozialgeschichtlicher und kultur-hermeneutischer Fragestellungen16 sowie ein Zurücktreten 10 Vgl. T. HOLMN, The Jewishness of Jesus in the
‚Third Quest‘, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 143–162. 11 Vgl. dazu J. SCHRÖTER/H.-G. BETHGE, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), in: H.-M. Schenke/ H.-G. Bethge/U. U. Kaiser (Hg.), Nag Hammadi Deutsch I, GCS N.F. 8, Berlin 2001, 151–181. Für den zentralen Bereich der Soteriologie plädiert jetzt mit überzeugenden Argumenten auch für eine Spätdatierung: E. E. POPKES, Die Umdeutung des Todes Jesu im koptischen Thomasevangelium, in: J. Frey/ J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 513– 543. 12 Vgl. hierzu als Programmschrift H. Köster/ J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt
des Frühen Christentums, Tübingen 1971. Die aktuelle Entwicklung skizziert J. Schröter, Jesus im frühen Christentum. Zur neueren Diskussion über kanonisch und apokryph gewordene Jesusüberlieferungen, VuF 51 (2006), 25–41. 13 Vgl. B. L. MACK, Wer schrieb das Neue Testament? Die Erfindung des christlichen Mythos, München 2000. 14 Vgl. dazu R. HEILIGENTHAL, Der verfälschte Jesus, Darmstadt 1997. 15 Vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 527–529. 16 Vgl. dazu als Überblick die Beiträge deutscher und anglo-amerikanischer Exegeten/Exegetinnen in: W. STEGEMANN/B. J. MALINA/G. THEISSEN (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3). Eine Kombination von sozialgeschichtlichen und archäologischen Fragestel-
52 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
genuin theologischer Themen gekennzeichnet. Nach der Funktion der radikalen Liebes- und Versöhnungsethik Jesu innerhalb der damaligen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten wird ebenso gefragt wie nach der besonderen Form des Judentums in Galiläa oder nach Übereinstimmungen zwischen der Jesusbewegung und der Kynikerbewegung in Syrien/Palästina17.
3.1.1
Jesus in seinen Deutungen
Unübersehbar sind auch die neuen Jesus-Bilder Spiegel ihrer Zeit; der Jesus der Postmoderne erfüllt alle politischen und kulturellen Hoffnungen seiner Interpreten/Interpretinnen: Er überwindet geschlechtsspezifische, religiöse, kulturelle und politische Spaltungen, wird so zum Sozialreformer und universalen Versöhner. Deutlich in den Hintergrund treten alle nicht zeitgemäßen Aspekte des Wirkens Jesu: seine Wundertätigkeit, seine Gerichtspredigt mit ihren dunklen Visionen und sein Scheitern an den gesellschaftlichen/politischen Verhältnissen der Zeit. Er ist vor allem das, was auch wir sind und sein wollen: Mensch, Freund und Vorbild. Auf dem Hintergrund der vorangegangenen geschichtstheoretischen Überlegungen (s. o. 1) überrascht dies nicht, denn jedes Jesus-Bild ist unausweichlich eine Konstruktion der Exegeten in ihrer Zeit. Methodisch zweifelhaft wird dann aber ein Grundzug, der nach wie vor die neuere amerikanische Jesusforschung und die europäische Exegese bestimmt: den ‚historischen‘, ‚wirklichen‘ Jesus hinter den uns vorliegenden Quellen zu finden18. Jesusforschung wird dabei weitgehend als ein reduktives Verfahren verstanden, mit dem Ziel, hinter der Vielfalt der Deutungen die tatsächlich geschehene Geschichte aufzuspüren. Auch das vermehrte Wissen über das antike Judentum, die vertieften Einblicke in die historischen und sozialen Kontexte Galiläas im 1. Jh. und eine reflektierte Methodik können die Perspektivität und Relativität historischer Erkenntnis nicht überwinden. Erst in der narrativen Darstellung der Zusammenhänge gewinnt ein Geschehen historische Qualität (s. o. 1); Tatsachen oder Ereignisse der Vergangenheit werden nur zum Bestandteil von Geschichte, wenn sie durch Prozesse historischer Sinnbildung angeeignet werden können. Die Personen und die Ereignisse müssen in Beziehung zueinander gesetzt werden, Anfang und Ende eines historischen Verlaufs muss bestimmbar sein. Die Voraussetzungen jeweils gegenwärtigen Erkennens und der jeweilige Quellenbefund gehen von Beginn der historischen Darlungen bieten J.D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen – hinter den Texten (s. o. 3). 17 Vgl. F.G. DOWNING, The Jewish Cynic Jesus, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 184–214.
18 Als ein Beispiel vgl. J. M. ROBINSON, Der wahre Jesus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q, ZNT 1 (1998), 17–26, der sich exklusiv auf die (von ihm) rekonstruierte Logienquelle beschränkt und beruft.
Die Frage nach Jesus 53
stellung an eine unlösliche Verbindung ein. Dies gilt für die Evangelisten als Autoren einer Jesus-Christus-Geschichte ebenso wie für Exegeten, die ihre Jesus-ChristusGeschichte schreiben. Die notwendige narrative Präsentation eines Geschehens negiert keineswegs die Rationalitätsansprüche der Historiographie, sondern ist ihre Voraussetzung. Jesus von Nazareth kann deshalb nicht anders als in seinen literarischen Kontexten erfasst werden. Die Frage nach Authentizität und Fakten auf der Basis eines kritischen Quellenbefundes bleibt, kann aber nicht hinter oder jenseits der narrativen Präsentation und damit des immer auch fiktionalen Charakters der Jesus-ChristusGeschichte in den uns vorliegenden Evangelien beantwortet werden. Es kann keine Reproduktion von Quellen oder Rekonstruktion vorgegebener historischer Zusammenhänge, keine Rück-Frage nach Jesus geben, sondern nur eine den Verstehensbedingungen und dem Überlieferungsbefund gleichermaßen verpflichtete, methodisch geleitete Konstruktion des Wirkens Jesu 19. Deshalb können Jesusdarstellungen nicht länger eine Suche nach der Welt hinter den Texten sein20. Es ist nicht möglich, eine historisch und theologisch verantwortbare Jesuserzählung an den narrativen Darstellungen der Evangelien vorbei zu entwerfen, weil bereits sie die frühesten Zeugnisse einer Figuration des Wirkens Jesu sind. Konsequenzen
Aus diesen Überlegungen ergeben sich mehrere Konsequenzen: 1) Wenn die narrative Präsentation überhaupt erst Geschichte ermöglicht, es ohne Erzählung keine Erinnerung an Jesus geben kann, dann kann zwischen der Erzähl- und der Wortüberlieferung nicht mehr schematisch eine Alternative aufgebaut werden, wonach die Wortüberlieferung Anspruch auf Authentizität besitze, die Erzählüberlieferung hingegen sekundär hinzugetreten sei21. Beide Formen haben zunächst denselben Anspruch auf Authentizität, denn sie überliefern, was als charakteristisch und damit erinnernswert von Jesus erzählt und schließlich aufgezeichnet wurde. Nicht die Gattung, sondern erst die Einzelanalyse kann darüber entscheiden, welches Ereignis oder welches Wort für Jesus in Anspruch genommen werden kann. Die narrativen Kontexte der Wort- und Gleichnisüberlieferung müssen innerhalb der Jesusdarstellung ernst genommen werden. 2) Die Frage nach Jesus kann nicht auf den ‚histori19 J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 130, favorisiert die Kategorie der ‚Erinnerung‘: „The Synoptic Tradition provides evidence not so much for what Jesus did or said in itself, but for what Jesus was remembered as doing or saying by his first disciples, or as we might say, for the impact of what he did and said on his first disciples.“ Der bloße Begriff der ‚Erinnerung‘ ist jedoch nicht hinreichend, denn Erinnerungen sind immer mit Deutungen gefüllte Konstruktionen vergangenen Geschehens unter gegenwärtigen Bedingungen.
20 Dies betont J. SCHRÖTER, Die Frage nach dem his-
torischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: The Sayings Source Q and the Historical Jesus, hg. v. A. Lindemann, BEThL CLVIII, Leuven 2001, 207–254. 21 So urteilt R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 81970, 49, über die Schul- und Streitgespräche: „Jedenfalls – das muß noch einmal betont werden – haben im allgemeinen die Worte eine Situation erzeugt, nicht umgekehrt.“
54 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
schen‘ Jesus als den ‚wirklichen‘ Jesus reduziert werden22, denn wenn uns Jesus nur in seiner narrativen Präsentation und damit in seiner Bedeutsamkeit zugänglich ist, kann nicht einfach zwischen einer ‚rein‘ historischen und einer theologischen Fragestellung unterschieden werden23. Es gibt die historische Frage nach Jesus, nicht aber den ‚historischen‘ Jesus! Weil Jesus von Nazareth niemals jenseits seiner Bedeutung für den Glauben zugänglich war und ist, muss auch für den vorösterlichen Jesus die Frage nach seinem Sendungsbewusstsein und der theologischen Bedeutung seines Wirkens gestellt werden24. 3) Jedes Jesus-Bild muss die unterschiedlichen Wahrnehmungen erklären, die Jesus von Nazareth vor und nach Ostern auslöste und die verschiedenen Anknüpfungen an ihn plausibel machen. Die Geschichte des frühen Christentums zeichnet sich von Anfang an durch eine hohe Anschlussfähigkeit sowohl gegenüber dem hellenistischen Judentum als auch gegenüber dem genuin griechisch-römischen Kulturraum aus. Eine nachhaltige Anschlussfähigkeit ist nicht einfach identisch mit Anpassung, sondern gewinnt ihre Kraft aus dem Ursprungsgeschehen, d. h. die Entstehung der Christologie und die verschiedenen Entwicklungen in der Geschichte des frühen Christentums bis hin zur beschneidungsfreien Völkermission werden aus geschichtstheoretischer Sicht auch Anhaltspunkte im Wirken und in der Verkündigung des Jesus von Nazareth haben. Jesu einzigartiger vorösterlicher Anspruch, eine schon sehr früh ausdifferenzierte Christologie und eine innerhalb der Weltgeschichte singuläre Ausbreitungsgeschichte einer neuen Religion lassen sich nur überzeugend erklären, wenn die Kraft des Anfangs so stark und mannigfaltig war, dass sie eine Vielfältigkeit der Interpretationen aus sich heraussetzen konnte.
3.1.2
Kriterien der Frage nach Jesus
W.G. KÜMMEL, Dreissig Jahre Jesusforschung (1950–1980), BBB 60, Königstein/Bonn 1985, 2– 32; K. KERTELGE (Hg.), Rückfrage nach Jesus, Freiburg 21977; F. HAHN, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus, 11–77; E. SCHILLEBEECKX, Jesus (s. o. 3), 70–89; D. LÜHRMANN, Die Frage nach Kriterien für ursprüngliche Jesusworte, in: J. Dupont (Hg.), Jsus aux origenes de la christologie, BEThL XL, Leuven 1989, 59–72; J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. u. 3.6), 8–94; G. THEISSEN/D. WINTER, Die Krite22 So definiert in der Tradition R. Bultmanns z. B. G. EBELING, Historischer Jesus und Christologie, in: ders., Wort und Glaube, Tübingen 31967, (300–318) 303: „‚Historisch‘ meint also die sachgemäße Methode zur Erkenntnis geschichtlicher Wirklichkeit. ‚Historischer Jesus‘ ist darum eigentlich eine Abkürzung für: Jesus, wie er bei strenger historischer Methode zur Erkenntnis kommt, entgegen den etwaigen Veränderungen und Übermalungen, die er im JesusBild der Tradition erfahren hat. Der ‚historische Je-
sus‘ meint darum soviel wie: der wahre, der wirkliche Jesus.“ 23 Gegen eine deutliche Tendenz innerhalb der amerikanischen Jesus-Forschung, die historische gegen die theologische Frage auszuspielen; vgl. E.P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 333f; J. P. MEIER, Jesus I (s. o. 3), 21–31. 24 Vgl. J. FREY, Der historische Jesus und der Christus des Glaubens, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus (s. o. 3.1), 297 ff.
Die Frage nach Jesus 55
rienfrage in der Jesusforschung, Fribourg/Göttingen 1997; J.P. MEIER, A Marginal Jew I (s. o. 3), 167–195; ST. PORTER, The Criteria for Authenticy in Historical-Jesus Research, JSNT.S 191, Sheffield 2000; I. BROER, Die Bedeutung der historischen Rückfrage nach Jesus und die Frage nach deren Methodik, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 19– 41; A. SCRIBA, Echtheitskriterien der Jesus-Forschung. Kritische Revision und konstruktiver Neuansatz, Hamburg 2007.
Trotz zahlreicher abweichender Meinungen in Einzelfragen ist sich die Exegese darin einig, dass die Frage nach Jesus von Nazareth historisch möglich und theologisch geboten ist. Wie aber soll sie sich vollziehen; mit Hilfe welcher Kriterien ist es möglich, aus dem breiten Strom der Überlieferung Worte Jesu herauszufiltern, sie von späteren Interpretationen und Aktualisierungen zu unterscheiden, ohne dabei die oben genannten Grundüberlegungen zu vernachlässigen? Zur Beantwortung dieser Fragen muss zunächst zwischen Basiskriterien und Materialkriterien unterschieden werden. Basiskriterien
Das entscheidende Basiskriterium ist die ‚Gesamtplausibilität ‘, wonach eine Rekonstruktion der Verkündigung Jesu sowohl im Kontext des Judentums als auch des entstehenden Christentums plausibel sein muss25. Die ‚Kontextplausibilität ‘ geht davon aus, dass eine Alternative Jesus – Judentum historisch wie theologisch verfehlt ist. Jesus kann nicht vom Judentum abgehoben werden, sondern er muss innerhalb des Judentums, genauer: im Kontext seiner galiläischen Welt verstanden werden. Die Einbindung Jesu in die Sprach- und Handlungsmuster seiner Umwelt schließt zudem eine kritische Stellung Jesu innerhalb des Judentums keineswegs aus, denn das Judentum war zu dieser Zeit keine homogene Einheit, sondern umfasste vielfältige, sich teilweise widersprechende Strömungen. Zugleich muss erklärt werden, wie aus der Verkündigung Jesu das frühe Christentum entstehen konnte. Neben der Kontextplausibilität ist die ‚Wirkungsplausibilität ‘ das zweite entscheidende Kriterium, denn historisch kann nur ein Jesusbild sein, dass sowohl die Verkündigung Jesu im Rahmen des Judentums seiner Zeit als auch die Entwicklung von Jesus zum Urchristentum verständlich macht26. Die Botschaft Jesu ist in Galiläa entstanden und mit Galiläa verbunden, ohne jedoch auf die sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten Galiläas reduziert werden zu können; sie hat politische Dimensionen, obwohl sie in ihrem Kern nicht politisch ist27.
25 Vgl. zu den Plausibilitätskriterien G. THEISSEN/
D. WINTER, Kriterienfrage, 175–214. 26 Vgl. G. THEISSEN/D. WINTER, Kriterienfrage, 217: „Was wir von Jesus insgesamt wissen, muß ihn als Individualität innerhalb des zeitgenössischen jüdischen Kontextes erkennbar machen und mit der
christlichen (kanonischen und nicht-kanonischen) Wirkungsgeschichte vereinbar sein.“ 27 Methodisch bilden daher sozialgeschichtliche und politische Fragestellungen nicht den alleinigen Konstruktionshorizont (so in vielen amerikanischen oder amerikanisch beeinflussten Studien), sondern
56 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Dies zeigt deutlich die Rezeptionsgeschichte, denn Jesu Verkündigung vom Reich Gottes wurde – abgelöst von seinem konkreten historischen und geographischen Ort – innerhalb sehr kurzer Zeit im gesamtem Mittelmeerraum aufgenommen. Dies war nur möglich, weil Jesu Verkündigung über ihre religiösen und sozial-politischen Inhalte hinaus auch eine ideengeschichtliche Qualität hatte und hat: Der eine Gott, der in neuer und überraschender Weise in der Liebe den Menschen nahe kommt und eine neue Gemeinschaft der Menschen jenseits von Herrschaft und Gewalt schaffen will. Die beiden Basiskriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität nehmen die geschichtstheoretische Einsicht auf, dass nachhaltige historische Entwicklungen über Anschlussfähigkeit verfügen müssen. Diese Anschlussfähigkeit vollzieht sich immer innerhalb existierender kultureller Kontexte und setzt neue Entwicklungen in Gang. Materialkriterien
Als materiale Kriterien für die Erhebung authentischer Jesusworte können gelten: 1) Die Mehrfachbezeugung. Die Rückführung eines Wortes auf Jesus ist dann plausibel, wenn dieses Wort in verschiedenen Überlieferungssträngen aufbewahrt wurde (z. B. Jesu Stellung zur Ehescheidung in Mk, Q, Paulus). Zur Mehrfachbezeugung gehört auch die gegenseitige Bestätigung von Wort- und Tatüberlieferung. Wenn Jesu Worte und sein Verhalten in die gleiche Richtung gehen, sich wechselseitig erläutern, dann liegt ein starkes Argument für Authentizität vor (z. B. Jesu Verhalten gegenüber Zöllnern und Sündern). 2) Differenz- bzw. Unähnlichkeitskriterium. R. Bultmann formuliert dieses klassische Kriterium so: „Wo der Gegensatz zur jüdischen Moral und Frömmigkeit und die spezifisch eschatologische Stimmung, die das Charakteristikum der Verkündigung Jesu bilden, zum Ausdruck kommt, und wo sich andererseits keine spezifisch christlichen Züge finden, darf man am ehesten urteilen, ein echtes Gleichnis Jesu zu besitzen.“28 Das Differenzkriterium steht mit anderen Kriterien in Spannung (z. B. der Kontextplausibilität), und man kann hier von einer Wortlastigkeit sprechen, weil der Erzählüberlieferung zu wenig historischer Eigenwert zuerkannt wird. Dennoch ist der dem Differenzkriterium zugrunde liegende Gedanke ernst zu nehmen: Es können solche Aussagen von Jesus hergeleitet werden, die sich weder aus den Voraussetzungen und Interessen des Judentums, noch aus denen der christlichen Gemeinde erklären lassen. 3) Das Kohärenzkriterium. Dieses Kriterium beruht auf dem Postulat, dass sich die Verkündigung Jesu im Ganzen als kohärent erweisen muss. Es müssen Jesus somit diejenigen Teile der Überlieferung abgesprochen werden, die nicht in dieses Gesamtbild passen. Auch dieses Kriterium ist widersprüchlich, denn es setzt immer schon ein bestimmtes Bild der Verkündi-
sie werden dort behandelt, wo die Texte es fordern; für Galiläa als spezifischem Lebensraum Jesu s. u. 3.4.5/3.8.1; für die politischen Dimensionen der Verkündigung Jesu s.u. 3.4.1.
28 R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition (s. o. 3.1.1), 322. Zur Geschichte des Differenzkriteriums vgl. G. THEISSEN/D. WINTER, Kriterienfrage, 28–174.
Die Frage nach Jesus 57
gung Jesu voraus, das sich dann selbst bestätigt. Dennoch ist auch hier der Grundgedanke zutreffend. Was sachlich mit jenen Stoffen übereinstimmt, die mit Hilfe eines anderen Kriteriums als echt erwiesen wurden, kann als ursprünglich gelten. 4) Das Wachstumskriterium. Dem Wachstumskriterium liegt die Überlegung zugrunde, dass ursprüngliches Jesusgut im Verlauf der Überlieferung durch sekundäre Texteinheiten angereichert wurde, die wiederum literarkritisch abgetragen werden können. Die literarkritische Analyse ermöglicht es hier, das Jesuslogion als Ausgangspunkt der Überlieferung zurückzugewinnen (vgl. Mt 5,33–37). 5) Das Anstößigkeitskriterium. Dieses Kriterium geht von der Überlegung aus, dass Worte oder Taten Jesu, die sowohl im jüdischen Umfeld als auch im Urchristentum als anstößig gesehen werden mussten, auf Jesus zurückzuführen sind. So gehört z. B. die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer zum historischen Grundbestand des Lebens Jesu, denn sie wurde vom Urchristentum in ihrer Bedeutung minimiert. Jesus lässt zudem unmoralische Helden in seinen Gleichnissen auftreten, so z. B. den ungerechten Haushalter (Lk 16,1b–7). Schließlich agiert Jesus selbst als unmoralischer Held und pflegt geselligen Verkehr mit Zöllnern und Sündern. Jedes Jesus-Bild ist notwendigerweise und unausweichlich eine Konstruktion, die aber nicht willkürlich, sondern auf der Basis der Überlieferung anhand von Kriterien vollzogen wird29. Jedes Einzelkriterium verfolgt eine bestimmte Frageabsicht und ist für sich widersprüchlich. In ihrer Gesamtheit sind die Kriterien jedoch aussagekräftig, denn sie ergänzen sich im Zusammenspiel. Ein Gesamtbild baut immer auf den Ergebnissen von Einzelanalysen auf, zugleich beeinflusst das gewonnene Gesamtbild stets auch die Einzelanalysen. Dieser Zirkel ist sachgemäß, weil so Einseitigkeiten verhindert werden. Der vorausgesetzte und zugleich immer wieder gewonnene Gesamtsinn des Wirkens Jesu und die zahlreichen Einzelaspekte seines Wirkens interpretieren und ergänzen sich gegenseitig. Über die genannten Kriterien hinaus ist die Überlieferungsdichte von grundlegender Bedeutung; je umfassender bestimmte Redeformen (z. B. Gleichnisse), Perspektiven (Reich Gottes, Gericht), Taten (z. B. Heilungen) und Handlungen (z. B. Konflikte mit Pharisäern; Gemeinschaft mit ‚Unreinen‘) dominieren, um so wahrscheinlicher bilden sie das Zentrum des Auftretens Jesu. Die Überlieferungsdichte lässt die Grundstrukturen des Wirkens Jesu deutlich vor Augen treten30 und zeigt, wie Jesus vor und 29 A. SCRIBA, Echtheitskriterien, 107–114, postuliert in Verbindung mit der Plausibilität und Wirkungsgeschichte das Kriterium der ‚Datenauswertung‘: „Zu diesen Daten gehören vornehmlich die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, Jesu Verzicht auf die Taufe während seines eigenen Wirkens, das Datum der Hinrichtung Jesu, die Modalitäten und Charakteristika der Ostervisionen und die Voraussetzungen
für die Wiederaufnahme der Taufe im frühen Christentum“ (a. a. O., 240). 30 F. HAHN, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, 40–51, spricht von ‚Komponenten‘, W. THÜSING, Neutestamentliche Theologie I, 57–71, von ‚Strukturkomponenten‘ des Wirkens Jesu, zu denen besonders die Konflikte Jesu, die Basileia-Verkündigung und der Nachfolgeruf gehören.
58 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
nach Ostern wahrgenommen wurde. Kein historisch plausibles Jesus-Bild kann an den Hauptlinien der narrativen Präsentation Jesu und damit an der Überlieferungsdichte vorbei entworfen werden! Basiskriterien: Gesamtplausibilität
Kontextplausibilität
Judentum Materialkriterien:
3.2
Wirkungsplausibilität
Jesus
Urchristentum
Mehrfachbezeugung Unähnlichkeit Kohärenz Wachstum Anstößigkeit
Der Anfang: Johannes der Täufer
J. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, Neukirchen 1972; O. BÖCHER, Johannes der Täufer, TRE 17, Berlin 1988, 172–181; ST. V. DOBBELER, Das Gericht und das Erbarmen Gottes, BBB 70, Frankfurt 1988; J. ERNST, Johannes der Täufer, BZNW 53, Berlin 1989; K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes, PaThSt 19, Paderborn 1991; R. L. WEBB, John the Baptizer and Prophet, JSNT.S 62, Sheffield 1991; H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 1993, 292–313; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 19–233; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 184–198; U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, Leipzig 2002; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 339–382; L. SCHENKE, Jesus und Johannes der Täufer, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 84–105.
Mit keiner Gestalt Israels sah sich Jesus so eng verbunden wie mit Johannes dem Täufer. Bereits von ihren Zeitgenossen wurden beide miteinander verglichen (Mt 11,18fpar; vgl. Mk 2,18par; 6,14–16par) und in der frühchristlichen Überlieferung werden zahlreiche Verbindungen zwischen ihnen und auch ihren Schülern angedeutet (vgl. Mk 2,18; Lk 1,5ff; 11,2; Joh 1,35–51; 3,22ff; 4,1–3; 10,40–42; Apg 19,1– 7). Wer Jesus von Nazareth verstehen will, muss Johannes den Täufer kennen lernen.
Der Anfang: Johannes der Täufer 59
3.2.1
Johannes der Täufer als historische Gestalt
Das Neue Testament und Josephus (37/38 – um 100 n.Chr.) sind die beiden wichtigsten Quellen über Johannes d. T., die mit ihren Darstellungen jeweils eigene Ziele verfolgen. Die ntl. Nachrichten sind von der Auseinandersetzung mit der Täuferbewegung bestimmt und deutlich bestrebt, Johannes d. T. unterzuordnen, ihn zum eschatologischen Vorläufer und zum Zeugen des Messias Jesus von Nazareth zu degradieren (vgl. Mk 1,7f; Lk 3,16par; Joh 1,6–8.15.19ff). Josephus (Ant 18,116–119) stellt den Täufer für seine römisch-griechische Leserschaft als einen Tugendlehrer dar, der von Herodes Antipas getötet wurde, „obwohl er ein vortrefflicher Mann war und die Juden dazu aufforderte, Tugend und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu üben und zur Taufe zu kommen. Dann werde Gott die Taufe angenehm sein, weil sie nicht zur Abbitte für Sünden, sondern zur Reinigung des Leibes ausgeführt werde, denn die Seele sei schon vorher durch (ein Leben) in Gerechtigkeit gereinigt“ (Ant 18,117)31. Josephus schweigt über die Beziehung zwischen Johannes und Jesus, er unterdrückt die Gerichtsbotschaft des Täufers und stellt dessen Taufe als bloße rituelle Reinigung des Körpers ohne einen Bezug zur Sündenvergebung dar. Zugleich zeigt der Bericht des Josephus aber auch, dass im antiken Judentum der Täufer als unabhängige und selbständige Gestalt wahrgenommen wurde. Biographisches und Geographisches
Das Geburtsjahr des Täufers ist unbekannt, er dürfte in den letzten Jahren vor dem Tod Herodes d. Gr. (4 v.Chr.) geboren sein32. Johannes entstammte wahrscheinlich einer einfachen priesterlichen Familie (vgl. Lk 1,5), und dieser priesterliche Hintergrund war für sein Selbstverständnis und Handeln von großer Bedeutung33. Die Wirksamkeit Johannes d. T. begann nach Lk 3,1 im 15. Jahr des Tiberius, d. h. im Jahr 28; die Dauer seines Wirkens ist unbekannt. Er trat nach Mk 1,4f „in der Wüste“ auf (vgl. Q 7,2434: „Nachdem sie aber weggegangen waren, begann Jesus zu der Volksmenge über Johannes zu sagen: Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen“) und taufte im Jordan. In Frage kommt für diese Ortsangabe der Unterlauf 31 Zur Analyse des Textes vgl. K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 266– 274; ST. MASON, Flavius Josephus und das Neue Testament, Göttingen 2000, 230–245. 32 Nach Lk 1,36 war der Täufer nur sechs Monate älter als Jesus; historisch ist dies eher unwahrscheinlich, denn diese Tradition will Jesus bewusst nahe an den Täufer heranrücken; vgl. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 17. 33 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 304: „Diese her-
kunftmäßige, priesterliche Mittlerqualität des Johannes war sicherlich die entscheidende Komponente seiner aktiven Rolle beim Taufen, die ihn als rituellen Stellvertreter Gottes zum Täufer und die durch ihn vollzogene Taufe zum wirksamen Sakrament gemacht hat.“ 34 Das Sigel Q benennt die für die Logienquelle vermutete Textgestalt nach der lukanischen Reihenfolge; Grundlage ist in der Regel: P. HOFFMANN/CHR. HEIL (Hg.), Die Spruchquelle Q (s. u. 8.1).
60 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
des Jordans, wo es Stellen gibt, die sich durch Zugänglichkeit, fließendes Wasser und Wüste bis direkt an den Fluss heran auszeichnen. Wahrscheinlich lag die Taufstelle östlich des Jordans gegenüber Jericho35, denn Johannes verband mit dem Ort ein theologisches Programm: Das Geschehen der Urzeit wiederholt sich in der Endzeit; Israel befindet sich wiederum vor dem Einzug in das verheißene Land, der nun vom Täufer neu und anders ermöglicht wird36. Für ein Wirken des Täufers östlich des Jordans spricht auch die Tradition, dass er (wahrscheinlich um 29 n.Chr.) durch den Tetrarchen von Peräa Herodes Antipas hingerichtet wurde (vgl. Mk 6,17–29; Jos, Ant 18,118f)37. Zum Auftreten in der Wüste passen schließlich die Nachrichten über das Auftreten und die Lebensweise des Täufers in Mk 1,6 (vgl. Q 7,25)38. Seine Kleidung war aus Kamelhaaren gefertigt (vgl. Elia nach 1Kön 19,13.19; 2Kön 1,8LXX; 2,8.13f); sie bestand aus demselben Material, aus dem die Beduinen ihre Mäntel und Zelte herstellten. Der Ledergurt ist ebenfalls ein beduinisches Requisit, ein langer Riemen aus Gazellenleder, den die Beduinen zum Schutz um den bloßen Leib geschlungen trugen. Die Heuschrecken und der wilde Honig gehören zu der kargen Nahrung der Beduinen, so dass der Täufer schon von seinen Zeitgenossen asketisch gedeutet wurde (vgl. Mk 2,18; Q 7,33f). Kleidung, Nahrung und Auftreten des Täufers sind kulturfern und signalisieren eine Existenz außerhalb des von Israel in Besitz genommenen Landes. Mit dieser gesamten Existenzweise bekundet Johannes den Ernst der Gerichtssituation, in der er seine Zeitgenossen sieht. Der Grundbestand der Verkündigung des Täufers lässt sich relativ sicher ermitteln; sie ist Gerichts- und Bußpredigt und ganz von einer eschatologischen Naherwartung bestimmt. 35 Vgl. dazu H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran,
Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 294 ff. Nach Joh 1,28 taufte Johannes „in Bethanien jenseits des Jordans" und nach Joh 3,23 „in Ainon nahe bei Salim". Diese joh. Sondertraditionen lassen sich jedoch nicht überzeugend lokalisieren; vgl. hier J. ERNST, Wo Johannes taufte, in: Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann), hg. v. B. Kollmann/W. Reinbold/A. Steudel, BZNW 97, Berlin 1999, 350–363. 36 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 296f: „Denn Johannes hatte als Ort seines öffentlichen Auftretens genau jene Stelle gegenüber Jericho gewählt, wo einst Josua das Volk Israel durch den Jordan hindurch in das Heilige Land hineingeführt hatte (Jos 4,13.19). Die Wahl des Ostufers des Jordans als Wirkungsstätte entsprach dabei der einstigen Situation Israels vor dem Durchschreiten des Flusses.“ 37 Während die Anekdote in Mk 6,17–29 die Ver-
wandtschaftsverhältnisse der Herodianer als Grund angibt, nennt Josephus politische Gründe: Johannes war so erfolgreich, dass ihm alles Volk zulief und Herodes Antipas diesen erfolgreichen Konkurrenten und Kritiker aus dem Weg schaffen ließ; zur Diskussion der Probleme vgl. U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 76–93. 38 Eine Darstellung aller relevanten Interpretationsmodelle bietet E.-M. BECKER, „Kamelhaare . . . und wilder Honig“, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), hg. v. R. Gebauer/ M. Meiser, MThSt 76, Marburg 2003, 13–28; eigene Akzente setzt H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 298, der den Kamelhaarmantel als vornehme Kleidung interpretiert und meint: „In Olivenöl gesottene Heuschrecken schmecken ähnlich wie Pommes frites. Ebenso wie Wildbienenhonig sind sie eine Leckerei.“
Der Anfang: Johannes der Täufer 61
Kommender Zorn und Feuergericht
Im Zentrum der Verkündigung des Täufers steht Gottes unmittelbar bevorstehendes Gerichtshandeln (Q 3,7–9): „Schlangenbrut! Wer hat euch in Aussicht gestellt, dass ihr dem kommenden Zorngericht entkommt? Bringt darum Frucht, die der Umkehr entspricht, und bildet euch nicht ein, bei euch sagen zu können: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken. Aber schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird daher herausgehauen und ins Feuer geworfen.“ Johannes lebte offenbar in der Gewissheit, dass der ‚kommende Zorn‘ unmittelbar ganz Israel bedroht. Die Metapher der ‚Schlangenbrut‘ dient als Unheilsandrohung, denn Schlangen werden zertreten oder erschlagen. Auch der Rekurs auf Abraham ist nicht mehr möglich und die bedrohliche Gerichtsnähe wird mit der Zeitangabe (vdv = „schon“) zugespitzt und durch das Bildwort von der Axt und dem Baum konkretisiert. Alles zusammen macht die Ausweglosigkeit der Situation deutlich. Nirgends begründet der Täufer, warum Gott zürnt; er konfrontiert Israel in aggressiver Selbstverständlichkeit mit seiner Gerichtsbotschaft. Damit steht Johannes in prophetischer Tradition (vgl. Am 5,18–20; 7,8; 8,2; Hos 1,6.9; Jes 6,11; 22,14; Jer 1,14)39, die er bewusst aufnimmt und verschärft, denn die Gerichtskatastrophe kommt nicht irgendwann, sondern steht unmittelbar bevor: Wenn die Axt schon angesetzt ist, muss nur noch die Person kommen, die fällen soll. Die Trennung von Spreu und Weizen durch Worfeln hat schon begonnen, danach wird die Spreu verbrannt (Q 3,17). Auffallend ist, dass bei dem schmalen Überlieferungsbestand gleich dreimal das Feuermotiv als Metapher für das Gericht40 in verschiedener Konnotation begegnet (vgl. Q 3,9.16b.17). Es dürfte für den Täufer charakteristisch gewesen sein, auch wenn es nur in Q und nicht bei Josephus, Markus und Johannes erscheint. Die entscheidende theologische Weichenstellung des Täufers liegt allerdings nicht in der Schärfe und Dringlichkeit des Vernichtungsgerichts41, sondern in der ausweglosen Situation der Angeredeten. Weil Gericht und Heil immer zugleich Bestandteil des Handelns Gottes sind42, ist Gottes Heilshandeln stets auch sein Gerichtshandeln. Die her39 Zu den prophetischen Traditionen bei Johannes vgl. M. TILLY, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten, BWANT 17, Stuttgart 1994. 40 Vgl. Gen 19,24; Ex 9,24; Lev 10,2; Num 11,1; Joel 3,3; Mal 3,19; Jes 66,15f u. ö. Mit seiner Gerichtsandrohung variiert der Täufer die prophetische Tradition vom „Tag Jahwes" (vgl. Am 5,20; Jes 13,3.6.9.13; Ez 7,3.7.8.19; 30,3; Hab 3,12; Joel 2,2; Zeph 1,15.18; Mal 3,2 u. ö.). Zu den Traditionen der Täuferverkündigung vgl. F. LANG, Erwägungen zur eschatologischen Verkündigung Johannes des Täufers, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS
H. Conzelmann), hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975, 459–473. 41 Zur Typologie von Gerichtsvorstellungen vgl. E. BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen. Eine Problemstudie, in: ders., Studien zur Geschichte und Theologie des Urchristentums, SBAB.NT 15, Stuttgart 1993, 289–338; M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s.u. 3.8), 364–369. 42 Dies betont z.R. M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s.u. 3.8), 367f: „Der Richter handelt als Retter und umgekehrt; das Richten und das Retten
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kömmliche Stellung der Gruppen innerhalb dieses Geschehens (hier die auserwählten Gerechten, dort die Abtrünnigen und/oder Heiden) verschiebt sich allerdings grundlegend. Der Täufer teilt nicht die im antiken Judentum allgemein verbreitete Auffassung, wonach auf die Einsicht in die eigene Schuld und das Bekenntnis der Buße die Vergebung Gottes folgt, der an seinen Bund mit den Vätern trotz des wiederholten Versagens Israels festhält (vgl. z. B. Neh 9; Tob 13,1–5; PsSal 17,5; LibAnt 9,4; TestLev 15,4). Die bisher offene Möglichkeit der Wiederholung der Buße aufgrund der Erwählung Israels steht nicht mehr zur Verfügung! Die trügerische Hoffnung, Gott werde um des Bundes willen Israel wohl züchtigen, nicht aber ganz verwerfen, denn Gott könne sich nicht untreu werden, wird vom Täufer zerstört. Neu und besonders provokativ war schließlich, dass Johannes die Flucht zu Abraham und den damit verbundenen Verheißungen versperrte. Die von Johannes geforderte Umkehr orientiert sich nicht am Gesetz und am Tempel, sondern sie erfolgt in der Taufe43. Dabei geht es nicht nur um eine sittliche Besserung, sondern die Wendung ba´ptisma metanoı´aß eiß afesin amartiw˜n (Mk 1,4: „Taufe zur Vergebung der Sünden“) beinhaltet eine anthropologische Prämisse: Das gesamte vorfindliche Israel ist ein Unheilskollektiv und dem Unheilsgericht verfallen. Die von Johannes verkündete Umkehr verlangt von Israel das Bekenntnis, dass Gott mit seinem Zorn im Recht ist. Dieses Bekenntnis ist nach Auffassung des Johannes die letzte Möglichkeit, die Gott Israel einräumt, um dem kommenden Unheil zu entgehen. Gott wird in Kürze seinen Willen universal durchsetzen und es ist die Stellung zur Botschaft des Täufers, die über Heil oder Unheil im Endgeschehen entscheidet. Die Taufe des Johannes als eschatologisches Bußsakrament ist der Ausdruck der geforderten Umkehr und sie verbürgt als eine Art Versiegelung das Heil. Damit ist Johannes der Täufer nicht einfach nur ein Vorläufer des kommenden Richters, sondern er ist zugleich Mittler des Heils, denn seine Taufe ermöglicht es, im kommenden Gericht auf der Heilsseite zu stehen. Wer der kommende Richter sein wird, lässt sich den Texten nicht mehr mit Sicherheit entnehmen. Der kommende Stärkere
Der Verweis auf einen kommenden Stärkeren ist ein weiteres zentrales Element der Verkündigung des Täufers (Q 3,16b–17): „Ich taufe euch mit/in Wasser, der nach mir kommt, ist jedoch stärker als ich. Ich bin nicht würdig, ihm seine Sandalen zu tragen. Er selbst wird euch mit/in [heiligem Geist und]44 Feuer taufen. Seine Schaufel ist in Gottes sind ‚Korrelate‘ ein und desselben Handelns Gottes.“ 43 Vgl. hier H. MERKLEIN, Die Umkehrpredigt bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 109–126. 44 Die Worte pneu´mati agı´w kaı´ sind mit großer
Wahrscheinlichkeit eine christliche Interpretation; dafür spricht der Gegensatz von Wasser- und Geisttaufe, der auch sonst benutzt wird, um zwischen Johannestaufe und christlicher Taufe zu unterscheiden (vgl. Joh 1,33; Apg 19,1–7); vgl. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 34.
Der Anfang: Johannes der Täufer 63
seiner Hand, und er wird seinen Dreschplatz säubern und den Weizen in seine Scheune einsammeln, die Spreu aber wird er in einem Feuer verbrennen, das nicht erlischt.“ Wer ist der Starke, der nach dem Täufer unmittelbar das Feuergericht vollziehen wird? In der Forschung schwankt man zwischen einer messianischen Gestalt und Gott selbst. Für eine Identifizierung des Stärkeren mit Gott können folgende Argumente angeführt werden: 1) Nur Gott kann ein neues endzeitliches Handeln jenseits aller überlieferten jüdischen Heilserwartungen vollziehen und Sünden vergeben. 2) In Q 3,17 beziehen sich die Possessivpronomina („seine Tenne“, „seine Scheune“) auf Gott; o iscuro´ß („der Starke“) ist ein der LXX geläufiger Gottesname, was der Stärkere tut, ist traditionell Gottes Werk (vgl. Jes 27,12f; Jer 13,24; 15,7; Mal 3,19). 3) In Lk 1,15f wird gesagt, dass der Sohn des Zacharias ‚groß sein wird vor dem Herrn‘ und „dass er viele Kinder Israels hinwenden wird zu dem Herrn, ihrem Gott“45. Diesen Argumenten stehen andere gegenüber, die auf eine von Gott zu unterscheidende Mittlergestalt verweisen: 1) Die Beziehung des Täufers zu einem anderen, der „stärker" ist und eine noch wirkungsvollere Taufe bringt, ist eine Verhältnisbestimmung, die beide Gestalten einem Bereich mit nur graduellem Unterschied zuordnet. 2) Der Anthropomorphismus vom „Tragen der Schuhe" (Q 3,16b) bzw. vom „Lösen der Schuhriemen" (Mk 1,7b) ist als Bild für Gott unpassend. 3) Die Frage des Täufers an Jesus: „Bist du der Kommende“ (Q 7,19) setzt eine auf Erden wirkende Mittlergestalt voraus. 4) Wäre Gott der Kommende, dann müsste sich der Täufer nicht so stark abgrenzen, denn Gott war selbstverständlich „der Stärkere“. Eine solche von Gott zu unterscheidende Mittlergestalt könnten der Menschensohn (vgl. Dan 7,13f; äthHen 37–71)46, der davidische Messias (vgl. PsSal 17; Achtzehngebet Ben 14) oder eine messianische Mittlergestalt ohne geläufigen Titel sein47. Eine Entscheidung ist schwer zu treffen, aber der vom Täufer erhobene Anspruch lässt keinen Platz für eine weitere Mittlergestalt, sondern verweist auf Gott selbst als den in Kürze Handelnden48. Der Täufer proklamiert eine Neukonstitution Israels jenseits von Erwählung, Bund, Tempel und Tora, die nur von Gott im Gericht ratifiziert werden kann. Im Kontext von Mal 3 verstand sich Johannes als Gottes endzeitlicher Bevollmächtigter, der als Erster andere Menschen taufte49; er lebte in dem Bewusstsein, 45 Vgl. F. HAHN, Theologie I, 50. 46 Für den Menschensohn plädiert J. BECKER, Jesus
von Nazareth (s. o. 3), 54–56. 47 So G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o.
3), 196: „Da das von Jesus angesagte Heil als dem Täufer überlegen dargestellt wird und zugleich sachlich und zeitlich an dessen Person gebunden wird (vgl. auch Mt 11,12/Lk 16,16; Mt 11,16–19par.), kann man vermuten, dass Jesus sich mit der vom Täufer angesagten Mittlergestalt identifiziert hat.“ 48 So u. a. J. ERNST, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 305; H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes
der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 299; U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 34. 49 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 302: „Tatsächlich hatte bis zum Auftreten des Johannes weder im Judentum noch in dessen Umwelt irgend jemand andere Menschen getauft. Zwar gab es eine Fülle kultischer Reinigungsriten bis zum Untertauchen des ganzen Körpers; doch vollzog jeder solche Reinigungsriten ganz eigenständig, ohne die Mitwirkung eines Taufenden.“
64 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
die endzeitliche, allein Gott zukommende Sündenvergebung bereits jetzt sakramental zu bewirken.
3.2.2
Jesus und Johannes der Täufer
Das Verhältnis zwischen Jesus und dem Täufer berührt die Ebenen der Biographie, der Lehre und der Wirkungsgeschichte. Biographische Berührungen
Die grundlegende biographische Kontinuität ist das historische Faktum der Taufe Jesu durch Johannes d. T. (vgl. Mk 1,9–11par). Damit verbindet sich die Frage, ob dies ein punktuelles Ereignis war oder Jesus über längere Zeit als Mitglied der Täuferbewegung angehörte. Deutlich ist zunächst, dass Jesus durch die Taufe die Perspektive des Täufers bejahte und übernahm: Gottes richtendes Eingreifen steht unmittelbar bevor. Israel kann sich nicht mehr auf seine heilsgeschichtlichen Prärogative berufen und ist in seiner Gesamtheit dem Gericht verfallen. Innerhalb der Gerichtsbotschaft besteht zweifellos die größte Kontinuität zwischen dem Täufer und Jesus50, beide stehen außerhalb der sonstigen Gruppenbildungen in Israel und gehören zur prophetischen Tradition. Zugleich gibt es deutliche Unterschiede in der Außenwahrnehmung und Selbstdarstellung: Josephus weiß offenbar nichts von einer Verbindung zwischen dem Täufer und Jesus und Q 7,33f verweist auf markante Differenzen: „Denn Johannes kam, er aß nicht und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern.“51 Bei aller Hochschätzung gegenüber dem Täufer (vgl. Q 7,26: „Doch was seid ihr herausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, und mehr als einen Propheten“), grenzt sich Jesus zugleich deutlich ab, denn ‚der Kleinste im Königreich Gottes ist größer als Johannes‘ (Q 7,28; vgl. Q 16,16). Die Überlieferung verweist auf eine geistige Verwurzelung Jesu im Täuferkreis, beide bewegten sich in einem vergleichbaren religiös-sozialen Milieu und Jesus wurde als Parallelgestalt zum Täufer wahrgenommen (vgl. Mk 6,14–16par; 8,28). Zugleich gibt es keine überzeugenden Indizien für eine längere Mitgliedschaft Jesu im Täuferkreis52. Man wird Jesus deshalb als einen Täuferschüler für kurze Zeit verstehen müssen53. 50 Vgl. J. BECKER, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 56 f.
53 Vgl. J. P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 129.
51 Zur Analyse vgl. K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“
Die Täuferanfrage in Q 7,18f halte ich mit vielen anderen für nachösterlich; zur Begründung vgl. z. B. K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 116–126.
des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 68–83. 52 Dies betont nachdrücklich K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 110– 112.
Der Anfang: Johannes der Täufer 65
Kontinuität und Diskontinuität in der Lehre
Eine entschiedene Theozentrik verbindet die Verkündigung des Täufers und Jesu: Es geht ihnen um den hereinbrechenden Gott, der auf neue Art und Weise handelt. Die Unheilsbotschaft ist dabei die entscheidende lehrmäßige Brücke; auch für Jesus ist Israel als Ganzes dem Vernichtungsgericht verfallen, der Rückgriff auf die heilsgeschichtliche Erwählung fruchtet nicht mehr (vgl. Lk 13,1–5). Unterschiedlich bestimmen der Täufer und Jesus jedoch die neue Zuwendung Gottes. Bei Johannes ist die Taufe eschatologisches Bußsakrament und rettet vor dem Unheil; insofern muss auch beim Täufer von einer Heilsbotschaft gesprochen werden. Jesus setzt andere Akzente, er tauft nicht und löst den Bußgedanken von der Taufe. Er misst der Grundgewissheit des Täufers einen anderen Platz bei, denn bei ihm dominiert nicht die Unheils-, sondern die Heilsbotschaft. Jesus teilt mit dem Täufer eine akute Naherwartung, sieht aber im Hereinbrechen des Reiches Gottes in Verbindung mit seiner Person einen Vorrang des Heilshandelns Gottes, so dass bei ihm neben die futurische eine präsentische Eschatologie tritt (s. u. 3.4.2). Der Täufer erwartete den „Stärkeren“, womit er Gott selbst meinte. Jesus sprach hingegen vom zukünftigen Menschensohn, mit dem er sich identifizierte und den er auf Erden bereits repräsentierte (s. u. 3.9.2). Während der Täufer demonstrativ asketisch auftrat und in der Wüste wirkte, durchzog Jesus die besiedelten Gebiete Galiläas und begab sich auch nach Jerusalem. Auffällig ist schließlich, dass Jesus sich in besonderer Weise Randgruppen zuwandte und vor allem als Gleichniserzähler und Wundertäter im Gedächtnis blieb. Wirkungsgeschichtliche Berührungen
Johannes d. T. sammelte bereits zu Lebzeiten Jünger um sich, als Kennzeichen dieser Gruppe galten Fastenbräuche (vgl. Mk 2,18par: „Und die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer fasteten“) und eigene Gebete (Lk 5,33; 11,1). Nach Ostern entwickelte sich eine Konkurrenz zwischen den Johannesjüngern und der sich bildenden christlichen Gemeinde, denn zwischen beiden Bewegungen gab es einen personalen Austausch (vgl. Joh 1,35–51; 3,22; 4,1); sie ähnelten sich und wurden von Zeitgenossen verglichen. Aus dem völlig eigenständig auftretenden Täufer wird nun der „Vorläufer" und „Wegbereiter" für Jesus (vgl. Mk 1,2fpar). Der vierte Evangelist annullierte schließlich die Selbständigkeit des Täufers ganz und machte aus ihm den bloßen Zeugen für Jesus als Sohn Gottes (Joh 1,23.27–34.36; 3,27–30). Die Christen erkannten in Jesus von Nazareth den gekreuzigten und auferstandenen Messias, den von Johannes verheißenen Messias, und übernahmen von ihm die Taufpraxis. Zugleich grenzten sie sich von der Johannestaufe durch ihre Geisterfahrung ab, während Johannes nur mit Wasser taufte, tauften sie mit Wasser und Geist (vgl. Mk 1,8par; Apg 19,1–7). Dennoch existierte die Johannesbewegung über einen langen Zeitraum und wirkte über den palästinisch-syrischen Raum hinaus auch in Kleinasien, worauf Apg 18,24–19,7 hinweist.
66 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Jesu Eigenständigkeit
Was begründete die Eigenständigkeit Jesu gegenüber seinem Lehrer? Welches Ereignis brachte ihn zu der Gewissheit, dass Gottes endgültiges Eingreifen schon begonnen hat – nicht zum hereinbrechenden Unheil, sondern in neuer Weise zum Heil? Wahrscheinlich führte ein visionäres Erleben Jesu zu der Einsicht, dass Gott zuerst zum Heil gegenwärtig ist (s. u. 3.3.2/3.4). Ein Nachklang dieser Vision dürfte in Lk 10,18 vorliegen: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“54. Das mythische Böse ist schon besiegt, der Satan aus dem Zentrum der Wirklichkeit entfernt. Deshalb trat Jesus als Wundercharismatiker mit einer Heilsbotschaft für die Armen und Marginalisierten auf. Die in seiner Gegenwart von Gott und ihm selbst bewirkten Wunder überzeugten ihn davon, dass schon jetzt die Heilszeit begonnen hatte, der Satan besiegt war und er von Gott als entscheidende Gestalt im Endgeschehen ausersehen war.
3.3
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich
J. JEREMIAS, Abba, in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 15–67; J. BECKER, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H. Conzelmann), hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975, 105–126; H. MERKLEIN, Die Einzigkeit Gottes als die sachliche Grundlage der Botschaft Jesu, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 103, Tübingen 1998, 154–173.
Für Jesus von Nazareth ist das gesamte Leben und die Wirklichkeit insgesamt ein Gottesgeschehen, eine theozentrische Grundperspektive prägt seine Sicht der Welt. Gott erscheint weder als weltfernes Gegenüber noch als ein kultisch Domestizierter, sondern er ist neu, überraschend und machtvoll unmittelbar gegenwärtig. Diese Erfahrung einer neuen Gottesnähe und die Formulierung eines neuen Gottesbildes sind die prägenden Elemente der Sinnbildung Jesu. 3.3.1
Der eine Gott in der Verkündigung Jesu
Die Einzigkeit Gottes bildet die sachliche Grundlage des Denkens und der Verkündigung Jesu. Das Grundbekenntnis Israels zur Einzigkeit Jahwes (vgl. Dtn 6,4; Ex 34,13; Hos 13,4) wurde von Deutero-Jesaja zum grundlegenden theologischen Kon54 Die Überwindung des Satans galt als ein Zeichen der anbrechenden Heilszeit; vgl. AssMos 10,1. Zur Auslegung von Lk 10,18 s. u. 3.6.2; die Kompositionsabfolge ‚Auftreten des Täufers – Taufe Jesu –
Versuchung‘ in Q, Mk, Mt und Lk bestätigt einen Zusammenhang zwischen der Verbindung zum Täufer, der Erkenntnis der Entmachtung des Satans und dem öffentlichen Auftreten Jesu.
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich 67
zept erhoben55. Jahwe, der ‚König Jakobs‘ geht mit den Göttern der Heiden ins Gericht und erweist ihre Nichtigkeit (vgl. Jes 41,21–29; 43,10 u. ö.). Positiv zeigt sich die Einzigkeit Jahwes in seiner totalen und exklusiven Kompetenz für Schöpfung, Geschichte und Heil. Der Spruch an Kyros fasst dies zusammen: „Ich bin der Herr, und sonst niemand; außer mir gibt es keinen Gott. Ich habe dich zum Kampf gerüstet ohne dass du mich kanntest, damit man vom Osten bis zum Westen erkenne, dass es außer mir keinen Gott gibt. Ich bin der Herr, und sonst niemand. Ich erschaffe das Licht und erschaffe das Dunkel, ich bewirke das Heil und bewirke das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt“ (Jes 45,5–7). Weil Jahwe der einzige ist, muss sich sein Königreich als befreiende Tat an seinem Volk erweisen: „Ich bin Jahwe, ich, und außer mir gibt es keinen Retter. . . . Ich allein bin Gott; auch künftig werde ich es sein“ (Jes 43,11–13). Schon jetzt kann Deutero-Jesaja die baldige Rettung seines Volkes mit dem Ruf ankündigen: „Dein Gott ist König“ (Jes 52,7). In der weiteren prophetisch-apokalyptischen Tradition wird die Einzigkeit Gottes als Motiv durchgehend vorausgesetzt. Den sachlichen Zusammenhang von Gottesherrschaft und Einzigkeit Jahwes formuliert prägnant Sach 14,9: „Dann wird der Herr König sein über die ganze Erde. An jenem Tag wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige.“ Die Einzigkeit Gottes und seine Herrschaft über Israel gehören unmittelbar zusammen, Jahwe erweist sich in der Durchsetzung seiner Herrschaft als der einzige Gott und sein Name wird als der einzige gepriesen werden. Der eine Gott in der Jesustradition
Explizit erscheint die Einzigkeit Gottes in der Jesustradition nur an vier Stellen; in der Erzählung der Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1–12), in der Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12,28–34) in der Perikope vom reichen jungen Mann (Mk 10,17–27) und in Mt 23,9, wo Jesus sagt: „Und niemanden auf Erden sollt ihr euren Vater nennen; denn einer ist euer Vater, der im Himmel“56. Mk 2,1–12 ist in seiner vorliegenden Form eine Bildung der vormarkinischen Gemeinde, die aber Jesu Anspruch sachlich zutreffend wiedergibt, Sünden vergeben zu können (Mk 2,5b). Er tritt an die Stelle des einen Gottes (vgl. Mk 2,7: „Was redet er so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer der eine Gott“) und handelt aus einem einzigartigen Gottesbewusstsein heraus57. Auch die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe unter Aufnahme von Dtn 6,5 und Lev 19,18 geht auf Jesus zurück (s. u. 3.5.3). Sie ist in der jüdischen Tradition zwar vorbereitet, kommt aber dort explizit nicht vor. Die gesamte Botschaft und das gesamte Handeln Jesu sind von der Verbindung von 55 Vgl. M. ALBANI, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient, ABG 1, Leipzig 2000. 56 Mk 10,18 und Mt 23,9 können in ihrer paräneti-
schen Ausrichtung nicht für Jesus in Anspruch genommen werden; zur Begründung vgl. H. MERKLEIN, Einzigkeit Gottes (s. o. 3.3), 155. 57 Vgl. zur Analyse O. HOFIUS, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 38–56.
68 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Gottes- und Nächstenliebe geprägt. Die grundlegende Bedeutung der Einzigkeit Gottes für die Verkündigung Jesu zeigt sich aber auch dort, wo nicht explizit von dem ‚einen Gott‘ gesprochen wird. Wenn Jesus im Vaterunser bittet: „Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme“ (Lk 11,2), dann ist deutlich, dass die Heiligung des Namens Gottes letztlich auf die Anerkennung seiner Einzigkeit und damit das Kommen der Gottesherrschaft auf die Durchsetzung der Einzigkeit Gottes zielt. Mit der Verheißung und Ansage der kommenden Gottesherrschaft proklamiert Jesus die eschatologische Offenbarung der Einzigkeit Gottes. Die Vorstellung der Gottesherrschaft wird bei Jesus vom Gedanken der Einzigkeit Gottes getragen. Wahrscheinlich ist diese Verbindung der Grund dafür, warum Jesus den Begriff der Gottesherrschaft in analogieloser Weise zum Zentrum seiner Botschaft macht und andere Heilsvorstellungen diesem Begriff subsumiert58. Die Rede von Gott als ,,Vater/Abba`'
Terminologisch auffällig für Jesus ist die Bezeichnung und Anrede Gottes als „Vater“. Dies ist kein Novum, denn sowohl im griechisch-römischen Kulturraum59 als auch im Judentum60 findet sich diese Anrede für Gott. Bemerkenswert ist allerdings die Häufigkeit, denn das Wort patv´r („Vater“) für Gott begegnet im Munde Jesu ca. 170mal in den Evangelien. Obwohl ein Großteil dieser Belege nicht als authentische Rede Jesu gewertet werden kann, zeigt die darin sichtbare Wirkungsgeschichte, dass „Vater“ die für Jesus typische Gottesbezeichnung war. Bemerkenswert ist auch die konkrete Form der Vateranrede Jesu mit aB˜aˆ, die in der urchristlichen Überlieferung als so charakteristisch angesehen wurde, dass selbst in den griechischen Texten mit abba´ das aramäische Wort beibehalten wurde (vgl. Gal 4,6: „Weil ihr jetzt aber Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft Abba, Vater!“; Röm 8,15: „Der Geist, den ihr empfangen habt, ist nicht ein Geist der Knechtschaft, so dass ihr euch aufs neue fürchten müsstet; sondern ihr habt den Geist der Sohnschaft empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater!“; ferner Mk 14,36: „Und er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“). Abba ist keine analogielose Gottesanrede61 und kann auch nicht ein besonderes Sohnesbewusstsein Jesu begründen62. 58 Vgl. H. MERKLEIN, Einzigkeit Gottes (s. o. 3.3), 155–160. 59 Zeus wird sehr häufig als ‚Vater‘ angeredet; vgl. u. a. Hom, Il XXIV 308; Hes, Theog 47–49; Dio Chrys, Or 1,39f; 2,75; 12,74f (Zeus als Vater, König, Beschützer und Retter aller Menschen); 36,31.35.36. 60 Vgl. z. B. Dtn 32,6; Jes 63,16; 64,7; Jer 3,4; Sir 23,1.4; 51,10; Weish 14,3; 3Makk 5,7; 6,3.8; 7,6. 61 Zur sprachlichen Analyse von aB˜aˆ vgl. G. SCHELBERT, Abba, Vater!, FZPhTh 40 (1993), 259–281; 41 (1994), 526–531: aB˜aˆ ist Äquivalent für den norma-
len Begriff ‚Vater‘ und wurde in Angleichung an aM˜a˚ ‚Mutter‘ gebildet. Vgl. zu patv´r in jüdischen Gebeten Weish 6,3.8; Weish 14,3; Sir 23,1a.4aLXX. 62 Gegen J. JEREMIAS, Theologie I, 73: „Die völlige Neuheit und Einmaligkeit der Gottesanrede ’Abba in Jesu Gebeten zeigt, daß sie das Herzstück des Gottesverhältnisses Jesu ausdrückt. Er hat mit Gott geredet wie ein Kind mit seinem Vater: vertrauensvoll und geborgen und zugleich ehrerbietig und bereit zum Gehorsam.“
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich 69
Jesus bewegt sich innerhalb jüdischer Sprachmöglichkeiten, wobei gerade die Einfachheit und nicht die Exklusivität der Anrede ‚Vater‘ die Nähe zu Gott anzeigt, in der Jesus sich befindet und in die er seine Hörer mit aufnehmen will. Nicht ein neues Wesen Gottes oder auch nur ein neuer, bisher verborgener Zug am Wesen Gottes wird offenbart. Wohl aber setzt Jesu Gottesanrede in ihrer Einfachheit und Offenheit ein neues, veränderndes Handeln Gottes am Menschen voraus. Das Unheilskollektiv Israel wird aus seiner Unheilsgeschichte und Schuldvergangenheit herausgerissen und Jesus spricht ihm das eschatologische Heil zu. Weil dieses erwählende und neuschaffende Handeln Gottes im Wirken Jesu schon geschieht, stehen diejenigen, die sich diesem Geschehen anvertrauen, bereits jetzt in einem unmittelbaren Gottesverhältnis jenseits von Tempel, Opfer und zentraler Inhalte der Tora und dürfen wie selbstverständlich diesen handelnden Gott wie Jesus „Abba“ nennen. Jesus verkündet keinen neuen Gott, wohl aber erschließt sich der Gott Israels in dem von Jesus proklamierten eschatologischen Geschehen der Gottesherrschaft in neuer Weise als „Vater“. Im Vaterunser verbindet sich die Anrede Gottes als „Vater/Abba" sogleich mit der Bitte um die Heiligung des Namens und das Kommen der Herrschaft des Vaters (Lk 11,2par). Gottes neuschaffendes Handeln soll sich durchsetzen und zum Ziel kommen, so dass alle den Namen des einen Vaters bekennen und somit sein Herr- und Königsein anerkennen. Die Wir-Bitten (Lk 11,3.4) des Vaterunsers fallen aus diesem eschatologischen Bezug nicht heraus, sondern applizieren nur das in den beiden ersten Bitten angesprochene Handeln Gottes auf die Existenz der davon Betroffenen. Die Bitte um die Vergebung der Schuld (Lk 11,4a; vgl. auch Mk 11,25; Mt 6,14) unterstreicht das menschliche Angewiesensein auf das jetzt geschehende, die Schuld tilgende Erwählungshandeln Gottes und versichert sich dessen in der Bereitschaft, selbst Schuld zu vergeben. Die Schlussbitte (Lk 11,4b: „Und führe uns nicht in Versuchung“) bringt zum Ausdruck, dass der Beter das neue Gottesverhältnis nicht in eigener Kraft durchhalten kann, sondern nur, wenn Gott ihn durch alle Versuchung hält und ihn in der Anfechtung bewahrt. Auch die Brot-Bitte (Lk 11,3par) ist zutiefst eschatologisch geprägt, denn der Beter bittet nur um das notwendige Brot für heute, d. h. er erwartet eine andere Zukunft, die über die irdische Vor-sorge hinausgeht. Es ist die eschatologische Zukunft, die in der vorangehenden Bitte angesprochen wurde. Die Sorge für morgen ist unnötig; nicht nur, weil die eventuell morgen kommende Gottesherrschaft die Vorsorge von heute als voreilig ausweisen könnte, sondern weil das Geschehen der Gottesherrschaft die Gewissheit gibt, dass der Vater das jeweils heute Nötige geben wird, bis er dieses Geschehen zum Ziel gebracht hat. Deshalb mündet die Spruchgruppe vom Bitten (Q 11,9–13) und vom Nicht-sorgen in Q (Lk 12,22b–31/Mt 6,25–33) in den Hinweis, dass „euer Vater weiß, dass ihr dies (alles) braucht"; Lk 12,30bpar), und dann mit der Mahnung schließt: „Vielmehr sucht seine (= des Vaters!) Königsherrschaft, und dies (alles) wird euch dazugegeben" (Lk 12,31par). Der Rückgriff auf weisheitliche Motive aus dem Bereich der Schöpfungs-
70 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
wirklichkeit zur Veranschaulichung der Sorge des Vaters (vgl. „die Vögel des Himmels" und „die Lilien (des Feldes)“ in Lk 12,24.27f /Mt 6,26.28–30; ferner Lk 12,6f/ Mt 10,29–31), zeigt, dass Jesus das Alltägliche in einem neuen eschatologischen Licht sieht. Das erwählende Handeln Gottes gibt ihm die Gewissheit, dass sein Vater weiß und gibt, was zum Leben notwendig ist (Lk 12,30bpar; vgl. auch Mt 6,8). Die Eschatologie Jesu ist der sachgemäße Ort seiner Rede vom Vater, so dass die Theozentrik eschatologisch strukturiert ist! Die eschatologische Perspektive prägt bei Jesus das Gottesbild, man kann von einer „Koinzidenz von ‚Aufblick‘ und ‚Ausblick‘, von Theo-logie und Eschato-logie“63, von einem gegenseitigen Durchdringen von Aufblicken zum Vater und Ausblicken auf die kommende Basileia bei Jesus sprechen. Jesus verkündet den einen Gott als den eschatologisch handelnden Vater, dessen Herrschaft er als bereits gegenwärtiges Geschehen erfährt.
3.3.2
Das neue Gottesbild
Jesus hat ein neues, aber keineswegs unjüdisches Gottesbild gebracht. Es stand allerdings in Spannung zu den herrschenden Gottesbildern im Judentum, denn Jesus ließ (wie der Täufer) zentrale Elemente der Gottesvorstellung seiner Zeit außer Acht und wertete andere Traditionen neu. Auffällig ist zunächst, worauf sich Jesus nicht beruft64: Der für das Judentum seiner Zeit zentrale Bundesgedanke65 wird ebenso wenig aufgegriffen wie die Exodus- und Landtradition, die Geschichte Israels kommt nur ansatzweise in den Blick. Die Erzväter- und Zionstradition erscheint auffälligerweise im Kontext des Verhältnisses Israels zu den Heiden und wird entschieden abgewandelt (s. u. 3.8.3). Obwohl sich Jesus zu Israel gesandt weiß, nimmt er die geläufige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf und kann Heiden zum Vorbild des Glaubens erklären (vgl. Q 7,1–10). Auch die religiöse Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ gilt nicht mehr (vgl. Mk 7,15). Mit der Tempelreinigung (vgl. Mk 11,15– 18par) übte Jesus scharfe Kritik am herrschenden Tempelkult, die ihn in einen tödlich endenden Konflikt mit der jüdischen Obrigkeit und den Römern brachte (s. u. 3.10.1). Der Tempel gehört für ihn zu dem, was zerstört werden wird (vgl. Mk 14,58). Auch die seit der Mitte des 2. Jh. v.Chr. im jüdischen Leben dominierende Tora steht nicht im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu, sondern das als nah geglaubte und erfahrene Reich Gottes (s. u. 3.4). Q 16,16 hebt ausdrücklich die Zeit des Gesetzes und der Propheten und die Zeit des Reiches Gottes voneinander ab, so dass
63 H. SCHÜRMANN, Das „eigentümlich Jesuanische“
im Gebet Jesu. Jesu Beten als Schlüssel für das Verständnis seiner Verkündigung, in: ders., Jesus. Gestalt und Geheimnis, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994, (45–63) 47.
64 Vgl. J. BECKER, Das Gottesbild Jesu (s. o. 3.3),
109 f. 65 Vgl. E. GRÄSSER, Jesus und das Heil Gottes, in:
ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, (181–200) 194–198.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 71
Jesu eschatologische Perspektive die von ihm vorgenommene Neubewertung der Tora begründet. Die Tora wird nicht überwunden oder aufgehoben, sondern in eine neue theozentrisch-eschatologische Perspektive gerückt: „Im Horizont der BasileiaVerkündigung, in der Gottes Zukunft als lebenschenkendes, heilvolles Geschehen bereits sichtbar wird (Mt 11,5f/Lk 7,22f), müssen sich die Weisungen der Tora und ihre Auslegung danach beurteilen lassen, inwieweit sie dem von Jesus verkündeten und gelebten Inhalt der Gottesherrschaft entsprechen, deren einziges Kriterium der sich im Liebesgebot zentrierende Wille Gottes ist (Mk 12,28–34par; Mt 5,43–48par; 9,13; 12,7; 23,23; vgl. 7,12).“66 Es dominiert nicht die Vergangenheit, sondern die Erfahrung der Gegenwart und der Ausblick auf die Zukunft Gottes. Sie zeigt einen Gott, der das Verlorene sucht (vgl. Lk 15,1–10.11–32) und sich der Menschen erbarmt (vgl. Mt 18,23–27); einen Gott, dessen Wille es ist, die Kranken und nicht die Gesunden zu retten, den Sündern Vergebung zu gewähren und den Armen und Bedrückten das Heil zu bringen. Das Bild des gütigen und vergebenden Gottes findet sich auch in der jüdischen Tradition67, Jesus stellt es jedoch in neuer Weise in die Mitte seiner Verkündigung und formt es aus seiner eschatologischen Perspektive.
3.4
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes
N. PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich? (s. o. 3), 52–119; O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, OBO 58, Freiburg CH/Göttingen 1984; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, SBS 111, Stuttgart 1983; H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft, BThSt 20, Neukirchen 1993; H. MERKEL, Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, hg. M. Hengel/A. M. Schwemer, WUNT 55, Tübingen 1991, 119–161; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 237–506; M. WOLTER, „Was heisset nu Gottes reich?“, ZNW 86 (1995), 5–19; M. DE JONGE, Jesus‘ rle in the final breakthrough of God's kingdom, in: H. Cancik/H. Lichtenberger/P. Schäfer (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion. FS M. Hengel III: Frühes Christentum, Tübingen 1996, 265–286; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 221–253; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3),100–121; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 198–474; B. J. MALINA, The Social Gospel of Jesus, Minneapolis 2001; G. VANONI/B. HEININGER, Das Reich Gottes, NEB.Th 4, Würzburg 2002; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 383–487; R. A. HORSLEY, Jesus and Empire, Minneapolis 2003; L. SCHENKE, Die Botschaft vom
66 D. SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft, in: Christlicher Glaube und religiöse Bildung (FS F. Kriechbaum), hg. v. H. Deuser/ G. Schmalenberg, GSTR 11, Gießen 1995, (75–109) 107. 67 Für die griechische Tradition vgl. Plut, Mor 1075E, wo der Kritik der Stoiker an den Epikureern
zugestimmt wird: „Denn die Gottheit müsse nicht nur als unsterblich und glückselig begriffen werden, sondern auch als menschenfreundlich, fürsorglich und helfend (ou ga`r aha´naton kai` maka´rion mo´non alla` kai` fila´nhrwpon kvdemoniko`n kai` wfe´limon). Dies trifft zu.“
72 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
kommenden „Reich Gottes“, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 106–147; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 189–213.
Religiöse Rede hat immer eine symbolische Dimension, weil die Wirklichkeit Gottes für Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist. Symbole sind über sich selbst hinausweisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen68, die eine andere Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann. Sie repräsentieren sowohl die göttliche als auch die menschliche Welt und partizipieren zugleich an ihnen69. Symbole müssen so ausgewählt werden, dass sie einerseits für die Hörer/Leser rezipierbar sind, andererseits das zu Symbolisierende sachgemäß wiedergeben. Bei Jesus von Nazareth ist das zentrale religiöse Symbol das Reich/die Herrschaft Gottes, er verkündigte das Kommen des einen Gottes in seinem Reich.
3.4.1
Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben
Symbole sind als sprachliche Zeichen immer eingebunden in die Enzyklopädie eines Kulturkreises, speziell in seine Sprache. Um ein Symbol verstehen zu können, muss die Enzyklopädie des Begriffes abgeschritten werden. Bei ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ ist dies die Vorstellung von Gott als König im Alten Testament70, im antiken Juden68 Zur umfänglichen Symboldiskussion vgl.
G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 4 1997; M. MEYER-BLANCK, Vom Symbol zum Zeichen, Hannover 1995. Symbole (gr. su´mbolon = Zeichen, Sinnbild/sumba´llein = zusammenwerfen, verbinden, vergleichen) haben stets Verweischarakter und eine Brückenfunktion, deshalb sind sie immer auch interpretationsbedürftig und offen für eine metaphorische Auslegung. Metaphorische Rede (gr. metafora´ = Übertragung/metafore´w = übertragen) ist „eine Stilfigur, in der vermittels eines sprachlichen Bildes, d. h. in übertragenem Sinn, auf einen Sachverhalt Bezug genommen wird“ (PH. LÖSER, Art. Metapher, RGG4 5, Tübingen 2002, 1165), d. h. das bewusste Sprachspiel von Ähnlichem mit Unähnlichem. Auch die Metapher vollbringt eine Transferleistung, ihre Bildhaftigkeit zwingt dazu, die Bedeutung aus dem jeweiligen Kontext zu erarbeiten. Metaphorischer Rede eignet immer ein kreatives Element, es wird etwas neu geschaffen oder erschlossen, ein neuer Zusammenhang gebildet, eine neue Ordnung etabliert. Symbol und metaphorische Rede/Metapher sind in der unabgeschlossenen Polyvalenz der Bildersprache nur schwer zu trennen; die Metapher ist zuallererst eine Sprachform, beim Symbol wird etwas Vorhan-
denes/Konkretes mit einer neuen Bedeutung aufgeladen. „Bei Metaphern ist unsere Aufmerksamkeit mehr auf Wörter gerichtet, auf semantische Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten sprachlicher Elemente. Bei Symbolen ist unsere Aufmerksamkeit auf die dargestellte Empirie gerichtet“ (G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, 73). Metaphern müssen gesprochen/gelesen werden und beziehen sich auf die Gegenwart, Symbole hingegen verbinden Vergangenheit und Zukunft und haben Resultatcharakter. 69 Vgl. P. TILLICH, Systematische Theologie I, Stuttgart 51977, 280: „Von Gott als dem Lebendigen müssen wir in symbolischen Begriffen reden. Jedes wahre Symbol partizipiert jedoch an der Wirklichkeit, die es symbolisiert.“ 70 Vgl. dazu W. H. SCHMIDT, Königtum Gottes in Ugarit und Israel, BZAW 80, Berlin 21966; J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen, FRLANT 141, Göttingen 1987; H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, FRLANT 148, Göttingen 1989; ST. SCHREIBER, Gesalbter und König, BZNW 105, Berlin 2000, 41–142 (Gott als König im AT und antiken Judentum).
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 73
tum71 und im Hellenismus72. Dazu gehören ein weites Sprachfeld (Gott als König und verbale Formulierungen von Herrschen), Assoziationen verwandter Art (z. B. Gott als Herr und Richter), königliche Attribute und Insignien (z. B. Palast, Thron, Hofstaat, Herrlichkeit), königliche Metaphorik (z. B. der König als Hirte) und typische königliche Aufgaben (den Frieden gewähren, die Feinde richten). Ausgangspunkt dieser Vorstellungen ist die in der Antike unmittelbare Erfahrung der uneingeschränkten Herrschaft und Allmacht von Königen, deren Machtfülle sich als Symbol für Gott anbot. Religiöse Dimensionen
Der im Tempel (vgl. Jes 6,1ff; Ps 47,9; 99,1f: „Der Herr ward König; es zittern die Völker; er thront auf den Cheruben; es wankt die Erde; groß ist der Herr in Zion“) bzw. der auf dem Zion thronende Jahwe (vgl. Ps 46; 48; 84; 87)73 ist König über alle Völker (vgl. Ps 47; 93; 96–99). Nach dem Exil vollzieht sich eine Eschatologisierung der mit der Herrschaft Jahwes verbundenen Traditionen, die deutlich mit Deuterojesaja einsetzt. Der König Israels wird sich seines Volkes in einer neuen Weise annehmen (vgl. Jes 41,21; 43,15; 44,6). Er beherrscht die Völker und lenkt die Könige (vgl. Jes 41,2f; 43,14f; 45,1), regiert die Geschichte und Schöpfung (40,3f; 41,4; 43,3). Damit verbindet sich eine unausweichliche Spannung zwischen gegenwärtiger und erwarteter Gottesherrschaft, von der auch Jesu Verkündigung geprägt ist. Das futurische Element dominiert in der Apokalyptik, wo Gott in einem endzeitlichen Kampf seine Feinde unterwerfen wird. Die Vorstellung eines Endkampfes zwischen zwei Machtblöcken findet sich in vielfältigen Variationen, wobei vor allem Beliar/Belial als Feind Gottes auftritt (vgl. TestDan 5,10b–13: „Und er selbst (Gott) wird gegen Beliar Krieg führen / und siegreiche Rache über seine Feinde geben. . . . Und er wird ewigen Frieden denen geben, die ihn anrufen. Und die Heiligen werden in Eden ausruhen, / und über das neue Jerusalem werden sich die Gerechten freuen . . . Und Jerusalem wird nicht länger Verwüstung erdulden, noch Israel in Gefangenschaft bleiben, denn der Herr wird in ihrer Mitte sein, und der Heilige Israels wird über ihnen König sein“;
71 Vgl. hier den Sammelband M. HENGEL/A. M.
SCHWEMER (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1991. 72 Die Königsmetaphorik ist im gesamten Hellenismus in verschiedenen Motivkomplexen weit verbreitet; in seinen Überlegungen zum wahren Herrscher sagt Dio Chrys, Or 1,39f: ‚Denn Zeus hat als einziger unter den Göttern die Beinamen ‚Vater‘ und ‚König‘ (patv`r kai` basileu´ß), ‚Polieus‘, ‚Philios‘, ‚Hetaireios‘ und ‚Homognios‘, ferner ‚Hikesios‘, ‚Pliyxios‘ und ‚Xenios‘ und zahllose andere Beina-
men, die alle etwas Gutes bedeuten und Urheber von Gutem sind. ‚König‘ heißt er wegen seiner Herrschaft und Macht (basileu`ß me`n kata` tv`n arcv`n kai` tv`n du´namin wnomasme´noß), ‚Vater‘ vermutlich wegen seiner Fürsorge und Milde“ (patv`r de` oımai dia´ te tv`n kvdemonı´an kai` to` pra˜ on); vgl. ferner Dio Chrys, Or 2,73–78; Epict, Diss III 22,63. Grundlegend ist dabei die Vorstellung, dass die göttliche Herrschaft im Kosmos als Vorbild für das wahre Königtum auf Erden anzusehen ist. 73 Das Zion-Motiv betont J. BECKER, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 105 ff.
74 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
vgl. ferner Joel 3; Zeph 3,15; Sach 14,9; Jes 24,21–23; Dan 2,24–45; 2 Makk 1,7–8; 1QM; Sib I 65–86; III 46–62. 716–723. 767–784). Bemerkenswert ist PsSal 17 (um 50 v.Chr.), wo Gott Israels König für immer ist (PsSal 17,1.3.46), zugleich aber der erwartete Messias als Repräsentant dieses Königtums erscheint (PsSal 17,32.34). Er wird als Herrscher Jerusalem und das Land Israel von den Völkern reinigen (PsSal 17,21.22.28.30), das heilige Volk sammeln (PsSal 17,26) und die Heidenvölker werden zur Fron nach Israel kommen und ihre Tribute abliefern (PsSal 17,30f). Das Reich Gottes für Israel ist hier wie in zahlreichen anderen Texten (vgl. z. B. Dan 2,44; 7,9–25; Ob 15–21) in Opposition zu den Heiden gedacht. Nach der um die Zeitenwende entstandenen Assumptio Mosis wird Gott in der Endzeit seiner Herrschaft über die gesamte Schöpfung antreten „und dann wird der Teufel nicht mehr sein“ (AssMos 10,1) und „der höchste Gott, der allein ewig ist, wird sich erheben, und er wird offen hervortreten, um die Heiden zu strafen, und alle Götzenbilder wird er vernichten“ (AssMos 10,7). In liturgischen Texten wie den Sabbatliedern aus Qumran dominiert eine präsentische Perspektive74. Diese Preisungen Gottes als des ewigen himmlischen Königs konzentrieren ihr beschreibendes Lob auf das himmlische unbegrenzte Königtum Gottes. Der irdische Kult partizipiert am himmlischen, indem man den himmlischen lobend beschreibt und somit Schöpfung und Geschichte weitgehend hinter sich lässt75. Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist das Bittgebet in äthHen 84,2–3a: „Gepriesen seiest du, Herr (und) König, groß und mächtig in deiner Größe, Herr der ganzen Schöpfung des Himmels, König der Könige und Gott der ganzen Welt. Deine Gottheit, Königsherrschaft und Majestät währen für immer und alle Zeit und deine Herrschaft durch alle Geschlechter: Und alle Himmel sind dein Thron in Ewigkeit und die ganze Erde der Schemel deiner Füße für immer und alle Zeit. Denn du hast (alles) geschaffen und du regierst über alles, und schlechterdings nichts ist dir zu schwer“. Auch protorabbinische Grundtexte jüdischen Glaubens, wie das Achtzehnbittengebet (11. Segensformel: „Bring wiederum unsere Richter wie vordem und unsere Ratsherrn wie zu Anfang, und sei König über uns eilends, du allein“)76 und das Qaddisch-Gebet („Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit“)77 zeigen, dass die Bitte um das Kommen und die Gegenwart des Reiches Gottes ein Kernstück jüdischer Hoffnung z.Zt. Jesu war.
74 Vgl. dazu A. M. SCHWEMER, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, in: M. Hengel/A. M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, 45–118. 75 Vgl. 4Q401 14i: „Denn du wirst geehrt von den Häuptern der Herrschaftsbereiche in allen Himmeln der Königsherrschaft deiner Herrlichkeit, um zu lo-
ben deine Herrlichkeit wunderbar unter den Göttlichen der Erkenntnis und die Preiswürdigkeit deiner Königsherrschaft unter den Heiligen der Heiligen“ (Übers.: A. M. Schwemer, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, 81). 76 Zitiert nach BILLERBECK IV/1, 212. 77 Zitiert nach M. PHILONENKO, Das Vaterunser, Tübingen 2002, 25.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 75
Politische Dimensionen
Jesu Botschaft vom Reich Gottes vollzog sich innerhalb bestehender politischer Königreiche. Vornehmlich lebte und wirkte Jesus im Klein-Königreich des Herodes Antipas (4 v.Chr.–39 n.Chr.), der über Galiläa und Peräa herrschte78. Herodes Antipas war wie sein Vater Herodes d. Gr. ein nach Rom orientierter hellenistischer Herrscher, der zugleich seine jüdische Identität hervorhob. Wie bei Herodes d. Gr. gewann die kulturelle Gesinnung und der politische Herrschaftsanspruch auch bei Herodes Antipas zuallererst in baulichen Maßnamen Gestalt79, wobei die Urbanisierung mit einer Romanisierung und einer Kommerzialisierung zuungunsten der einfachen Landbevölkerung einherging. Er baute Sepphoris um und gründete um 19 n.Chr. als neue Hauptstadt von Galiläa Tiberias (benannt nach dem Kaiser Tiberius), das ganz nach hellenistischem Vorbild gebaut wurde80. Die Heirat von Herodes Antipas mit Herodias, die zuvor mit einem seiner Halbbrüder verheiratet war, wurde von Johannes d. T. angeprangert (vgl. Lk 3,19–20; Mk 6,14–29). Diese politisch-kulturelle Kritik hatte die Hinrichtung des Täufers zur Folge (s. o. 3.2.1). Offenbar fürchtete Herodes Antipas den Täufer ebenso wie Jesus (vgl. Lk 13,31–32) als Führer messianischer Bewegungen, die zu Beginn des 1. Jh. n.Chr. in Palästina nichts Außergewöhnliches waren81, so dass Herodes Antipas hier möglicherweise eine Gefahr für seine Regierung sah. Galiläa war insgesamt von tiefen strukturellen Spannungen durchzogen82, von Spannungen zwischen Juden und Heiden, Stadt und Land, Reichen und Armen, Herrschern und Beherrschten83. Wenn Jesus in diesem Kontext eine schon jetzt be78 Vgl. die Darstellung bei P. SCHÄFER, Geschichte
der Juden in der Antike, Neukirchen 1983, 95–133. 79 Vgl. dazu J. L. REED, Archaeology and the Galilean Jesus, Harrisburg 2002; J. D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben (s. o. 3), 73–91. 80 Einen Überblick vermittelt: S. FORTNER, Tiberias – eine Stadt zu Ehren des Kaisers, in: G. Fassbeck u. a. (Hg.), Leben am See Gennesaret, Mainz 2003, 86– 92. 81 Dazu ist nach wie vor lesenswert: R. MEYER, Der Prophet aus Galiläa, Leipzig 1940; vgl. ferner R. A. HORSLEY/J. S. HANSON, Bandits, Prophets and Messiahs. Popular Movements in the Time of Jesus, Harrisburg 1999; J. D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben (s. o. 3), 170–221 (Formen des aktiven und passiven Widerstandes gegen die Römer); umfassende Darstellung nun bei CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Prophetisch-messianische Provokateure der Pax Romana. Jesus von Nazareth und andere Störenfriede im Konflikt mit dem Römischen Reich, NTOA 56, Fribourg/Göttingen 2005, 245–275. Jos, Ant 17,271–272, berichtet aus der Folgezeit nach dem Tod Herodes d. Gr.: „Ferner sammelte ein gewisser Judas, der Sohn des Anführers Ezechias, der eine
große Macht besaß und von Herodes nur mit Mühe niedergehalten worden war, bei Sepphoris, einer Stadt in Galiläa, eine Schar verkommener Menschen, griff damit den Königspalast an, bemächtigte sich der dort vorhandenen Waffen, teilte sie unter den Seinen aus, raubte auch das dort aufbewahrte Geld und verbreitete allseitig Schrecken, indem er jeden, der ihm in die Hände fiel, ausplünderte und fortschleppte; er strebte sogar nach der Königsherrschaft (zvlw´sei basileı´ou) und glaubte, sie nicht so sehr durch Tapferkeit, als vielmehr durch zügellose Zerstörungssucht erringen zu können“; zu weiteren Texten s.u. 3.6.1. 82 Vgl. hier G. THEISSEN, Die Jesusbewegung (s. o. 3), 131–241; R. A. HORSLEY, Archaeology, History and Society in Galilee, Harrisburg 1996. 83 Ein schönes Beispiel ist Jos, Vita, 374–384, wo von den Konflikten zwischen der Landbevölkerung und den überwiegend römerfreundlichen Einwohnern von Sepphoris und Tiberias bericht wird; die Landbevölkerung wollte beide Städte und ihre Bewohner auslöschen: „Sie hassten nämlich die Tiberienser genauso wie die Sepphoriten.“
76 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
ginnende Wende aller Dinge verkündigte, dann fand er Zuhörer, die eine große Sehnsucht nach dieser neuen Herrschaft Gottes hatten; einer Herrschaft Gottes, die nicht mit imperialen Machtattributen wie Bauten arbeitete, nicht auf Unterdrückung zielte und nicht politisch-kulturell korrumpierte. Noch war die von Jesus verkündete Gottesherrschaft in der Gegenwart verborgen, aber sie erhob bereits jetzt den Anspruch, am Ende über alles zu triumphieren. Der von Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes vertretene Herrschaftsanspruch konnte auf Dauer nicht unpolitisch bleiben, ohne jedoch politisch konzipiert zu sein84. Die Verfremdung
Von großer theologischer und hermeneutischer Bedeutung ist die Beobachtung, dass Jesus mit ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ ein Leitwort für seine Verkündigung wählt85, das einerseits in ein reichhaltiges Motivfeld eingebettet ist, andererseits aber in keinem anderen theologischen Entwurf eine vergleichbare Schlüsselstellung innehat. Jesus nimmt so die verbreitete Enzyklopädie der Herrschaft und des Königtums Gottes auf, zugleich fügt er aber durch die singuläre Konzentration 86 auf das Abstraktum tWkl˙mˆ/basileı´a neue Elemente in die Vorstellung von Gott als König und Herrscher ein87. Zudem verfremdet Jesus die zeitgenössische Enzyklopädie, indem er nicht von Gott als König spricht, sondern sich auf ein ganz bestimmtes Vorstellungsfeld mit einem ein-
84 Anders R. A. HORSLEY, Jesus and Empire (s. o. 3.4), 98, der ausdrücklich von „Jesus’ prophetic condemnation of Roman imperial rule“ spricht und sich dafür auf Texte wie Mk 12,17; 1,24; 3,22–27; 5,1–20 beruft. Horsley folgert aus der ‚political revolution‘ auch eine ‚social revolution‘: „In the confidence that the Roman imperial order stood under the judgement of God’s imminent kingdom, Jesus launched a mission of social renewal among subject peoples“ (a. a. O., 105). In der Gesamtheit gibt die Jesus-Überlieferung keinen Anlass für die offenbar gewünschte These, Jesus als Kämpfer gegen den römischen (und damit auch amerikanischen) Imperialismus zu sehen; vgl. die abgewogenen Überlegungen bei S. FREYNE, Jesus. A Jewish Galilean (s.u. 3.8.1), 136–149, der die sozialen Spannungen (vor allem die mit den Städtegründungen verbundenen ökonomischen Veränderungen) in Galiläa beschreibt, ohne sie zum Schlüssel seiner Interpretation zu machen. Vgl. auch CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Prophetisch-messianische Provokateure der Pax Romana, 305f, der zutreffend darauf hinweist, dass sowohl der Täufer als auch Jesus nicht auf eine Veränderung der äußeren politischen Verhältnisse hinarbeiteten und nur unter dieser Voraussetzung erklärt werden kann, warum die
Römer – anders als bei den messianischen Propheten – die jeweiligen Anhänger unbehelligt ließen. Jesus war in seinen Wirkungen keineswegs unpolitisch, aber die (heute Aufmerksamkeit heischende) Kategorie des Politischen ist nicht geeignet, Jesu Intentionen und seinen Selbstanspruch zu erfassen, d. h. sie ist historisch wie hermeneutisch nicht hinreichend. 85 T. ONUKI, Jesus (s. o. 3), 44ff, ordnet Jesu Rede vom ‚Reich Gottes‘ in ein umfangreiches mythologisches Netzwerk von Bildern ein, in denen Jesus lebte und dachte. 86 Vgl. O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, 444: „Nirgends in der frühjüdischen Literatur steht die Herrschaft Gottes jedoch so im Zentrum der Verkündigung wie bei Jesus. Entsprechend finden sich bei Jesus auch viel mehr Präzisierungen des Symbols.“ 87 Eine der ältesten Belege für das Abstraktnomen „Gottesherrschaft" ist Ob 21: „Befreier ziehen auf den Berg Zion, um Gericht zu halten über das Bergland von Esau. Und der Herr wird herrschen als König.“
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 77
zigen Leitwort konzentriert. Diese Verfremdung ist die produktive Voraussetzung für eine partielle Neudefinition des Wesens Gottes, die Jesus in seiner Verkündigung und seinem Handeln vornimmt.
3.4.2
Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes
Jesus rechnete wie alle Juden um ihn mit dem realen Handeln Gottes in der Geschichte. Wie Johannes der Täufer lebte er in einer intensiven Naherwartung und verstand das Reich Gottes als eine geschichtlich-kosmische Größe, deren Sachgehalt und Zeit-/Raumstruktur er in vielfältiger Weise beschreibt. Für das zeitliche Verständnis des Reiches Gottes gibt das Verhältnis zum Täufer erste Hinweise. Johannes der Täufer und das Reich Gottes
Jesus brachte den Täufer und das Reich Gottes ausdrücklich miteinander in Verbindung88. Aus Q 16,16 („Das Gesetz und die Propheten sind bis Johannes. Von da an leidet die Königsherrschaft Gottes Gewalt, und Gewalttäter rauben sie“)89 lässt sich nicht eindeutig herauslesen, ob Johannes an das Ende des Gesetzes und der Propheten oder an den Anfang des Reiches Gottes gehört oder aber das Bindeglied zwischen beiden darstellt. Die Zeitbestimmung me´cri („bis") korrespondiert mit apo` to´te („von da an/ab“); beide Zeitangaben markieren eine Abfolge, denn sie sind inhaltlich voneinander abgehoben. All dies spricht für eine exklusive Deutung, wonach der Täufer nicht in das Reich Gottes hineingehört90. Wäre dies der Fall, dann hätte der Täufer die Reich-Gottes-Predigt Jesu in irgendeiner Form vorwegnehmen oder vertreten müssen. „Aber hier liegt gerade der tiefste Unterschied zwischen beiden.“91 Die Zeit nach Johannes weist eine neue Qualität auf, wobei der Täufer aus der Sicht Jesu auf der Nahtstelle zwischen beiden Epochen steht. In dieselbe Richtung weist Q 7,28, wo Jesus über den Täufer sagt: „Ich sage euch: Unter den von Frauen Geborenen ist keiner größer als Johannes aufgetreten. Doch ist der Kleinste im Königreich Gottes größer als er“. Der Täufer gehört hier nicht zum Reich Gottes, so dass er als das Ende der einen Epoche den Übergang zum Reich Gottes als einer völlig neuen Epoche markiert. Es ist umstritten, ob Q 7,28 auf Jesus zurückgeht, oder sich dem Interesse der nachösterlichen Gemeinde verdankt, den Täufer und Jesus deutlich voneinander ab-
88 Vgl. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 27–36. 89 Für die Zurückführung auf Jesus sprechen der provokante Anspruch von Q 16,16 und der dunkle Sinn von V. 16b; zur Begründung vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 90.
90 Vgl. in diesem Sinn die Argumentation bei H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 85 ff. 91 J. BECKER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 76.
78 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
zugrenzen. Für eine zumindest sachliche Zurückführung auf Jesus können die Kontinuität zu Q 16,16 und das sich hier wiederum aussprechende gesteigerte eschatologische Bewusstsein angeführt werden. Zudem finden sich in diesem Vers drei Aussagen über das Reich Gottes, die sich in das Gesamtbild einfügen: 1) Der Vergleich zwischen dem Täufer und dem ‚Kleinsten‘92 im Reich Gottes zeigt die Andersartigkeit und Neuheit des Reiches Gottes, das nicht mit Irdischem („von Frauen Geborenen“) zu vergleichen ist; 2) das Reich Gottes hat auch eine räumliche Dimension93, und 3) es besitzt bereits eine präsentische Dimension (estı´n), denn nur dann ist der Vergleich sinnvoll. Auch Q 7,18f.22f und Mk 2,18f zeigen, dass Jesus die gegenwärtige eschatologische Heilszeit des Reiches Gottes dem Wirken des Täufers und seiner Jünger gegenüberstellte. Dennoch wäre es verfehlt, den Täufer aus der Sicht Jesu zum Vorläufer oder Ankündiger zu degradieren. Jesus schätzte den Täufer über alle Maßen und wies ihm einen einzigartigen Platz zu (vgl. Q 7,26). Das Auftreten des Täufers ist ein Wendepunkt in der Geschichte Gottes mit Israel: Johannes steht auf der Schwelle zum Reich Gottes. Das zukünftige Reich Gottes
Worte über das zukünftige Reich Gottes/die kommende Gottesherrschaft finden sich in fast allen Überlieferungssträngen, sie führen in das Zentrum der Verkündigung Jesu: 1) Die zweite Vaterunser -Bitte „Dein Reich komme“ (Q 11,2: elhe´tw v basileı´a sou) zielt auf das Offenbarwerden von Gottes Heiligkeit, Herrlichkeit und Herrschaft94. Sie hat einerseits eine nahe Parallele in der zweiten Bitte des Qaddisch-Gebetes („Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit“), andererseits verweisen die Kürze/Schlichtheit und die Rede vom Kommen des Gottesreiches auf jesuanisches Profil95. Charakteristisch ist die Verbindung zwischen Theozentrik und Eschatologie, bemerkenswert ferner, wie unbestimmt und damit zugleich offen für Erweiterungen und Verfremdungen Jesus formuliert. 2) Die Erwartung der Völkerwallfahrt nach Jerusalem/auf den Zion (vgl. Jes 2,2ff; Mich 4,1ff; Jes 43,1ff; Bar 4,36ff u. ö.) wird in Q 13,29.28 aufgegriffen: „Und viele werden von Osten und Westen kommen und sich zum Mahl niederlegen mit Abraham und Isaak und Jakob im Königreich Gottes, ihr aber werdet in die äußerste Fins-
92 D.h. jeder, der in das Reich Gottes eingeht; mikro´teroß ist ein Komparativ mit superlativischer Bedeutung; vgl. H. SCHÜRMANN, Lk I (s.u. 8.4), 418; F. BOVON, Lk II (s.u. 8.4) I, 378 A 50. 93 U. LUZ, Mt III (s.u. 8.3), 176, wertet en tU˜ basileı´a als Indiz für Gemeindebildung. Dagegen ist einzu-
wenden, dass in der Antike generell Reich/Herrschaft nicht ohne einen räumlichen Aspekt gedacht wurden. 94 Zur Analyse vgl. M. PHILONENKO, Das Vaterunser (s. o. 3.4.1), 51–68; U. Luz, Mt I (s.u. 8.3), 432–458. 95 Vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 447.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 79
ternis hinausgeworfen werden; dort wird Heulen und Zähneklappern sein.“96 Das Erwählungsbewusstsein Israels wird mit diesem Drohwort einer scharfen Kritik unterzogen; seinem Ausschluss vom eschatologischen Gastmahl mit den Patriarchen korrrespondiert die Aufnahme der Heiden aus Osten und Westen. Damit verbindet sich eine universalistische Tendenz in der Basileia-Verkündigung Jesu. 3) Eine unerfüllte Prophetie ist das Abendmahlswort Mk 14,25: „Amen sage ich euch: Ich werde vom Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, an dem ich es neu trinken werde im Reich Gottes.“ Wahrscheinlich hoffte Jesus, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt. Eine nachösterliche Entstehung dieses Wortes ist unwahrscheinlich, denn nicht Jesus, sondern das zukünftige Reich Gottes steht im Zentrum. Auch das Feigenbaumgleichnis in Lk 13,6–9 lässt die gespannte Erwartung Jesu deutlich erkennen. Dem unfruchtbaren Feigenbaum wird noch ein Jahr Gnadenfrist geschenkt vor dem Umhauen, d. h. dem Gericht. 4) Anspruch auf Authentizität haben auch jene Worte, in denen das zukünftige Reich Gottes als eine Gegenwelt angekündigt wird. Angesichts der Randstellung von Kindern in der antiken Gesellschaft musste Mk 10,15 provozierend wirken: „Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.“ Jesu Wort über die Reichen in Mk 10,23 („Da blickte Jesus um sich und spricht zu seinen Jüngern: Wie schwer kommen die Begüterten ins Reich Gottes“; vgl. Mk 10,25) zielt ebenso auf eine neue Wirklichkeit wie die provokante Aussage in Mt 21,31c: „Die Zöllner und Dirnen kommen vor euch ins Reich Gottes.“ Es gilt: „Die Ersten werden die Letzten sein“ (Mk 10,31), und: „Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 14,11). Die ‚Letzten‘ sind die Armen, denen die Gottesherrschaft gehört, die Weinenden, die Trost finden werden, und die Hungrigen, die satt werden sollen (Lk 6,20f). Auch der Makarismus im Kontext der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,15: „Als aber einer von denen, die zu Tische lagen, das hörte, sagte der zu ihm: Selig, wer im Reich Gottes Brot essen wird“) und die rigorosen Forderungen in Mk 9,42–48 (V. 47: „Und wenn dein Auge dich zu Fall bringt, reiß es aus. Es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes einzugehen, als mit beiden Augen in die Hölle geworfen zu werden“) lassen das zukünftige Reich Gottes als eine neue Welt erscheinen97.
96 Zur Zurückführung auf Jesus vgl. H. MERKLEIN,
Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 118; U. Luz, Mt II (s.u. 8.3), 14. 97 Terminworte wie Mk 9,1; 13,30; Mt 10,23 dürften nachösterlichen Urprungs sein; sie verheißen die
Ankunft des Reiches Gottes (oder: des Menschensohns) noch zu Lebzeiten der Zuhörenden und trösten sie angesichts der Verzögerung des Kommens des Reiches Gottes.
80 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Das gegenwärtige Reich Gottes
Ein singulärer Zug der Verkündigung Jesu besteht darin, dass für ihn das kommende und nahe Reich Gottes bereits gegenwärtig ist98. Er spricht allerdings nicht von der allgemeinen Präsenz Gottes (im Tempel), sondern von der vorweggenommen Gegenwart des Zukünftigen. Die konkrete Bestimmung dieser Gegenwart zeigt wieder den für Jesus charakteristischen Verfremdungseffekt: 1) In den ursprünglichen Seligpreisungen spricht Jesus denen gegenwärtig das Reich Gottes zu, die sich selbst als Ausgeschlossene begreifen müssen: „Selig ihr Armen, denn euer ist das Königreich Gottes. Selig ihr Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig ihr Trauernden, denn ihr werdet getröstet werden“ (Q 6,20f)99. Dem leibhaftig Armen, Rechtlosen, Unterdrückten ist die eigenmächtige Gestaltung seines Lebens verwehrt, er kann nur auf Barmherzigkeit und Hilfe von außen hoffen. In dieser Situation des unbedingten Angewiesenseins gewährt Jesus Anteil am Reich Gottes. Damit offenbart sich ein Stück des Wesens des Reiches Gottes: Es ist Gottes Reichtum, seine schenkende Güte, seine Annahme des Menschen. Wo Gottes Herrschaft Raum gewinnt, dort ist allein Gott der Geber und der Mensch der Empfangende. Angesichts des Reiches Gottes kann sich der Mensch nur als Angenommener und Beschenkter verstehen. Nicht das Haben, der Besitz, befähigt den Menschen zur Offenheit gegenüber dem Reich Gottes, sondern die Erkenntnis des Angewiesenseins auf Gottes Hilfe. Wie die Armen befinden sich die Trauernden und Hungernden in einer Distanz zum Leben. Den Trauernden wurde durch den Tod eines geliebten Menschen auch ein Stück des eigenen Lebens genommen. Die Klage ist der sinnfällige Protest gegen diesen Lebensentzug. Das Leben der Hungernden ist in unmittelbarer Weise durch den Hunger bedroht. Leben artikuliert sich für sie in dem elementaren Verlangen nach Lebensmitteln. Jesus preist beide Gruppen selig und lässt sie teilhaben am Leben in der Gegenwart der Gottesherrschaft. 2) Die Gegenwart des Reiches Gottes wird offenbar in der Entmachtung des Teufels und dem Zurückdrängen des Bösen. Die Dämonenaustreibungen und Heilungen, die Bitte im Vaterunser um die Erlösung vom Bösen (Mt 6,13b), die Vision Jesu in Lk
98 Vgl. D. FLUSSER, Jesus (s. o. 3), 96: Jesus „ist der
einzige uns bekannte antike Jude, der nicht nur verkündet hat, daß man am Rande der Endzeit steht, sondern gleichzeitig, dass die neue Zeit des Heils schon begonnen hat.“ 99 Auf Jesus gehen die Seligpreisungen der Armen (Mt 5,3/Lk 6,20b), der Hungernden (Mt 5,6/Lk 6,21a) und der Trauernden (Mt 5,4/Lk 6, 21b) zurück. Dies ergibt sich nicht nur aus den Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas, sondern alle drei Makarismen sind durch die griechische p-Alliteration gekennzeichnet und heben sich dadurch von den anderen Makarismen ab; vgl. G. STRECKER, Die
Bergpredigt, Göttingen 1984, 30; H. WEDER, Die ‚Rede der Reden‘, Zürich 1985, 40 f. Formgeschichtliche Parallelen zur Redeform des Makarismus finden sich sowohl im Alten Testament (Jes 32,20; Dtn 33,29; Ps 127,2 u. ö.) als auch im antiken Judentum (Sap 3,13; AssMos 10,8; äthHen 58,2; 99,10); pagane Parallelen sind aufgelistet in: NEUER WETTSTEIN I/1.2. Ein Beispiel: Hes, Op 825, schließt um 700 v.Chr. sein epochales Werk über das Leben der Menschen mit der Sentenz: „Glücklich und gesegnet ist, wer all dies weiß, im Tun beherzigt, schuldlos gegen die Götter bleibt, auf den Vogelflug achtet und Übertretungen meidet.“
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 81
10,18, der Vorwurf, Jesus stehe mit den bösen Geistern in Verbindung (vgl. Q 11,14– 15.17–19) und die in Mk 3,27/Lk 11,21f vorausgesetzte Entmachtung des Satans verdeutlichen den Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen als zentralen Inhalt der Lehre und des Handelns Jesu (s. u. 3.5.2). 3) Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesreiches werden Menschen von den sie unterjochenden Mächten des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt; die Heilungen Jesu zeugen vom gegenwärtigen Anbruch des Reiches Gottes. Programmatisch formuliert Q 11,20: „Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon zu euch gelangt“100. Auch der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f und Q 10,23f weist in dieselbe Richtung (s. u. 3.5.2); Jesus sah die Gegenwart als die Zeit der Heilswende an. 4) Die Wachstumsgleichnisse zeugen vom verborgenen Beginn der Gottesherrschaft. Sowohl beim Gleichnis von der ‚selbst wachsenden Saat‘ (Mk 4,26–29) als auch im Doppelgleichnis vom ‚Senfkorn‘ und ‚Sauerteig‘ (Q 13,18 f.20f) geht es um die Pointe, dass aus kleinen Anfängen etwas Großes entsteht. Das Entscheidende, die Aussaat, ist schon geschehen; die Senfstaude wächst schon und der Teig wird schon durchsäuert. 5) Auch im Stürmerspruch Q 16,16 ist die Gottesherrschaft unabhängig von der Gesamtinterpretation des Verses in jedem Fall eine gegenwärtige Größe. Sie ist seit den Tagen Johannes d. T. präsent und kann in der Gegenwart „erobert“ werden. 6) Die Fastenfrage in Mk 2,18–22 zielt ebenfalls auf die erfüllte Gegenwart. Weil jetzt der Bräutigam da ist, können die Jünger – im Unterschied zu den Anhängern des Täufers – nicht fasten. 7) Auf die Frage, wann das Gottesreich komme, antwortet Jesus nach Lk 17,20f: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann, man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch (ento`ß umw˜n).“ Die Übersetzung, die Bedeutung und die Zurückführung von ento`ß umw˜n auf Jesus sind umstritten101. Es kann in einem spirituellen Sinne verstanden werden, etwa „das Reich Gottes ist innerlich in euch“ (vgl. ThEv 3: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch und außerhalb von euch“). Möglich ist auch eine räumliche Deutung: „in eurer Mitte“ (vgl. ThEv 113: „Vielmehr ist das Königreich des Vaters ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht“). Neben der spirituellen und lokalen gibt es noch eine dynamische Deutung im Sinn von: die Gottesherrschaft ‚ist in eurer Verfügung‘ oder ‚in eurem Erfahrungsbereich‘, d. h. „die Gottesherrschaft ist in euren Erfahrungsbereich eingetreten“102. Diese Deutung ver-
100 Die Verbindung von Eschatologie und Wundertätigkeit bei Jesus ist in dieser Form religionsgeschichtlich singulär; vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (s.u. 3.6), 277.
101 Vgl. dazu ausführlich H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4.), 34–41. 102 So H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 39.
82 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
bindet sich mit den anderen Logien (bes. Q 11,20), denn hier spricht sich die Gewissheit der Gegenwart des Reiches in besonderer Weise aus! Das gegenwärtig zukünftige Gottesreich
Wie verhalten sich die Aussagen über das zukünftige und gegenwärtige Gottesreich zueinander? Einen Hinweis liefert Mk 1,15, wo der Evangelist am Anfang seines Evangeliums Jesu Botschaft so zusammenfasst: „Erfüllt ist die Zeit, und nahe herbeigekommen ist die Gottesherrschaft. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15)103. Weil die Gottesherrschaft kommt, ist die Zeit erfüllt, d. h. zwischen den präsentisch-eschatologischen Aussagen und den futurisch-eschatologischen Aussagen darf keine Alternative aufgebaut werden. Alle Texte zeigen, dass Jesus ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ nicht in erster Linie im Sinne eines Territoriums, sondern dynamischfunktional versteht: Gottes Zukunft nähert sich sichtbar der Gegenwart, Gott herrscht und Mächte wie Menschen stehen unter seiner Herrschaft. Die Gegenwart wird als Gegenwart Jesu als Endzeit qualifiziert, weil sich nun das Endheil unaufhaltsam und unwiderstehlich durchsetzt, bis die uneingeschränkte, keinen Widerspruch des Bösen mehr duldende Alleinherrschaft Gottes die alles bestimmende Größe in Schöpfung und Geschichte ist. Futurische Worte kündigen das Hereinbrechen der neuen Welt an und Anbruchsworte versichern zugleich: Sie beginnt verborgen schon jetzt. Im Gebet zu Gott und letztlich in Gott selbst werden Gegenwart und Zukunft verbunden: die Fürsorge des Vaters in der Gegenwart mit dem Kommen seiner Königsherrschaft in der Zukunft. Für Jesu Zeitverständnis verläuft die entscheidende Trennungslinie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, wobei die Gegenwart und die Zukunft eine kontinuierliche Einheit bilden, weil die Zukunft als ankommende Gottesherrschaft die Gegenwart bereits eingeholt hat 104. Die Gottesherrschaft hat keine Vergangenheit und sie hat ihre eigene Zeit: die gegenwärtige Zukunft.
3.4.3
Das Reich Gottes in Gleichnissen
J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984; E. LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, Göttingen 7 1978; E. JÜNGEL, Paulus und Jesus, HUTh 2, Tübingen 61986; R. W. FUNK, Parables and Presence, Philadelphia 1982; W. HARNISCH, Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung, Darmstadt 1982; 103 In seiner jetzigen Sprachgestalt geht der Vers überwiegend auf Markus zurück; dennoch kann er als sachgemäße Zusammenfassung der Verkündigung Jesu genommen werden; vgl. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 56–58. 104 H. WEDER betont sehr stark die Gegenwart als die einzige der Gottesherrschaft angemessene Zeitstufe, um so Jesus von apokalyptischen Vorstellungen abzusetzen: „Die besprochenen Jesuslogien von der
Gottesherrschaft haben gezeigt, daß das Verständnis der Gegenwart der springende Punkt der eschatologischen Verkündigung Jesu ist. Dies ist festzuhalten gegenüber allen Versuchen, Jesus in den Rahmen des zeitgenössischen apokalyptischen Denkens zu bannen und dann das Verständnis der Zukunft zum entscheidenden Anliegen Jesu zu machen“; DERS., Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 49.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 83
DERS., Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 42001; H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, FRLANT 120, Göttingen 41990; E. RAU, Reden in Vollmacht, FRLANT 149, Göttingen 1990; CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, WUNT 78, Tübingen 1995; K. ERLEMANN, Gleichnisauslegung, Tübingen 1999.
Die Bedeutung der Gleichnisse für das Verständnis der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu ergibt sich zunächst aus dem Überlieferungsbefund. Alle Quellen (Q, Mk, Mt/ Lk-Sondergut, ThEv) bezeugen den elementaren Zusammenhang, dass bei Jesus das Reich Gottes in der Sprachform des Gleichnisses eine besondere Auslegung erfährt105. Gleichnisse als Erschließungstexte
Gleichnisse sind bei Jesus eine bevorzugte Sprachform, weil sie in besonderer Weise das Wesen des Reiches Gottes zu erschließen vermögen. Es gelingt Jesus, die Gleichnisse von ihrem inneren Erzählgeflecht her so auszurichten, dass sie im Horizont der nahenden Gottesherrschaft selbst die Nähe zu ihr herzustellen. Er richtet mit ihnen in der Wirklichkeit der menschlichen Lebenswelt die Wirklichkeit der Gottesherrschaft auf. Dies verdeutlichen die Kontrastgleichnisse, die einzigen Gleichnisse106, bei denen die Sachhälfte „Gottesreich“ in den verschiedenen Evangelien übereinstimmend überliefert wird (vgl. Mk 4,3–8.26–29.30–32; Q 13,18 f.20f)107. Beim Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–8) steht die Wirkung der Botschaft Jesu im Mittelpunkt; sie wird nicht von allen gehört und geteilt, wo sie aber aufgenommen wird, verfehlt sie ihre Wirkung nicht108. Das Gleichnis von der selbst wachsenden Saat (Mk 4,26–29) verweist auf das sichere und vom Handeln des Menschen unabhängige Kommen des Reiches Gottes. So wie die Saat von selbst aufgeht, Frucht bringt und die Ernte kommt, so dass der Mensch nichts dazu tun kann und muss, ihm unerwartete Zeit geschenkt wird, so kommt auch das Reich Gottes von selbst (Mk 4,28: automa´tv)109. Diese in der Gegenwart von Gott geschenkte Zeit gilt es zu nutzen! Im Gleichnis vom Senfkorn beschreibt Jesus Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes. Dem unscheinbaren Anfang, seiner noch verhüllten Wirklichkeit in Gleichnissen und Wun-
105 Zur Gleichnisforschung vgl. K. ERLEMANN, Gleich-
nisauslegung, 11–52. 106 Zur Formenlehre vgl. U. SCHNELLE, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 62005, 112–117. Ich verwende Gleichnis im umgangssprachlichen Sinn als Sammelbegriff und unterscheide bei den Einzeltexten zwischen Gleichnis und Parabel: Gleichnisse erzählen vertraute Vorgänge, übliche Erfahrungen, alltägliche Szenen; die jedem zugängliche und von jedem erfahrene Welt, ihre Gesetzmäßigkeit und Ordnung kommt zur Sprache. Parabeln interessieren sich hingegen für den besonde-
ren Einzelfall; nicht das Übliche, sondern das Besondere ist im Blick. 107 In Mk 4,3–8 fehlt der ausdrückliche Bezug auf die basileı´a; er wird aber von Inhalt und Kontext her nahegelegt. 108 Zur Auslegung vgl. H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 108–111. 109 Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30.36–43), das bei Mt den Platz von Mk 4,26–29 einnimmt, ist möglicherweise nachösterlich; vgl. dazu U. LUZ, Mt II (s.u. 8.3), 322 f.
84 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
dern wird eine großartige Zukunft der Basileia in der Herrlichkeit Gottes entsprechen. Der Sauerteig veranschaulicht das unaufhaltsame Voranschreiten des Reiches Gottes aus kleinsten Anfängen heraus. In den Kontrastgleichnissen ist der Schluss der herausgehobene Punkt, an dem erreicht ist, was eigentlich beabsichtigt war: der große Baum, in dem die Vögel nisten; die Durchsäuerung des Teigs, die Scheidung von Unkraut und Weizen und die überreiche Ernte. Vom Schluss wird der Anfang in bewusstem Kontrast abgehoben, der aber nun seinerseits in einem besonderen Licht erscheint: Das eigentlich Überraschende für die Hörer ist der Anfang und nicht das Ende. Eine so ungeheure Sache wie das Gottesreich wird mit einer Winzigkeit wie dem Senfkornsamen110, dem Durcheinander im Weizenfeld und ein wenig Sauerteig verglichen. Hier liegt eine bewusste Verfremdung vor, denn einen solchen Vergleich für das Gottesreich hätte niemand erwartet. Speziell das Bild von Sauerteig ist besonders befremdlich, denn es ist in der Tradition nicht vorgegeben111. Diese Verfremdung ist Verweigerung und Erschließung zugleich. Jesus spricht nicht „von“ oder „über“ etwas, sondern wählt ein Bild. Das Bild gibt keine Auskunft darüber, wie das Gottesreich jetzt ist und wie lange es bis zu seinem endgültigen Erscheinen dauert. Das Bild verweist vielmehr auf eine Überraschung, auf etwas völlig Unerwartetes, und gerade dadurch erschließt es wiederum das Neue des Gottesreiches. Die Kontrastgleichnisse verweigern ein begriffliches Verstehen von Jesu Wirken. Sie lassen es nicht zu, Jesus in einen apokalyptischen Zeitplan einzuzeichnen, und sie machen eine direkte, ungebrochene, sichtbare, berechenbare und einleuchtende Kontinuität zwischen seinem Wirken und dem Eschaton unmöglich. Dennoch erschließen die Gleichnisse Jesu Sendung, denn sie lassen teilhaben an der grenzenlosen Hoffnung und an der unendlichen Gewissheit, die Jesus auszeichnete. Sie lassen die hoffnungslose Gegenwart unter der Perspektive einer total anderen Zukunft verstehen und vermitteln so Hoffnung auf das Reich Gottes, ohne ihm sein Geheimnis zu nehmen. Der unendliche Wert der Gottesherrschaft kommt in den Parabeln vom Schatz im Acker (Mt 13,44) und der Perle (Mt 13,45f) zur Sprache, wo das Verhalten des Finders im Mittelpunkt steht. Er hätte jeweils sehr verschiedene Möglichkeiten gehabt, wählt aber die sachgemäße aus: Er setzt zielstrebig alles dafür ein, um das Himmelreich zu erwerben112. „Wer die Gottesherrschaft findet, findet sich selbst als einen, der mit dem ganzen Dasein auf jenen Fund reagiert.“113 Mit seinen Gleichnissen und 110 Es ist unklar, ob Senf z.Zt. Jesu angebaut wurde oder als eine Art Unkraut ohnehin fast überall wuchs; vgl. dazu CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, 85–88. Sollte es eine Art Unkraut gewesen sein, dann käme ein wichtiger Aspekt hinzu: „Die Metapher des Senfkornglaubens evoziert offenbar doch die Assoziation des Vorgangs massenhafter, unglaublicher und unwiderstehlicher Ver-
breitung“ (a. a. O., 92). 111 Vgl. dazu CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie
und Therapie, 93. 112 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse, 108; anders H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 140, der die Selbstverständlichkeit des Verhaltens betont. 113 H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 140.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 85
Parabeln ermöglicht Jesus das Finden der Gottesherrschaft. Der Einsatz für sie wird aber nicht gefordert, sondern ergibt sich aus ihrer Anziehungskraft, ihrem Wert und ihrer Verheißung. Wer sich dennoch der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes verweigert, wird von Jesus im Gleichnis vom Fischnetz gewarnt (Mt 13,47–50): Im Gericht findet eine Scheidung zwischen Bösen und Gerechten statt, d. h. die Hörer des Gleichnisses haben es jetzt in der Hand, zu welcher Gruppe sie gehören werden. In den Gleichnissen bringt Jesus Gott nicht nur zur Sprache, sondern er bringt Gott den Menschen so nahe, dass sie sich von seiner Güte ergreifen und verwandeln lassen. Die Wahrheit des Geforderten und Erzählten verbürgt dabei der Erzähler selbst. Von dem Neuen und Überraschenden des Reiches Gottes reden auch viele andere Gleichnisse und Parabeln Jesu, in denen zumeist der Begriff ‚Reich Gottes‘ explizit fehlt, die aber dennoch Unerhörtes über das Reich Gottes aussagen.
3.4.4
Das Reich Gottes und die Verlorenen
Anders als beim Täufer kommt bei Jesus von Nazareth das Heils handeln Gottes in umfassender und neuer Weise zur Sprache. Programmatisch kommt Jesu Selbstverständnis in Mk 2,17c zum Ausdruck: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“114 Das Begriffspaar dı´kaioi – amartwloı´ ist auch sonst der Verkündigung Jesu nicht fremd (vgl. Lk 15,7; 18,9–13) und dürfte das Ziel seiner Sendung präzis beschreiben: Seine Botschaft der nahenden Gottesherrschaft galt ganz Israel und somit auch den keineswegs nur ironisch so genannten Gerechten. Vor allem den Sündern musste Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, denn der Mensch kann durch Gottes Güte und Vergebung in eine neue Beziehung zu Gott treten; Gott nimmt den zur Umkehr bereiten Sünder an. Vom Suchen Gottes nach den Verlorenen und ihrer Rückkehr zu Gott erzählt Jesus in eindrucksvollen Parabeln. In der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) interpretiert Jesus gleichermaßen den Menschen und Gott115. Im Zentrum steht der Vater, der in gerechter Liebe für seine Söhne sorgt. Beiden gewährt er durch das Erbe das zum Leben Notwendige. Das verschwenderische Leben des jüngeren Sohnes beantwortet er nicht mit dem Entzug seiner Liebe, sondern mit der Tat der voraussetzungslosen Annahme, bevor der Sohn das Eingeständnis seiner Schuld machen kann. Auch dem älteren Sohn gegenüber bekundet er trotz der Vorwürfe seine andauernde Liebe und Gemeinschaft (V. 31). In dem antithetisch entfalteten Verhalten der Brüder offenbaren sich zwei
114 Mk 2,15–17 stellt eine selbständige Texteinheit dar, die älteste Traditionen wiedergibt; vgl. zur Rekonstruktion H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 199–201.
115 Zur umfassenden Interpretation vgl. W. PÖHLMANN,
Der Verlorene Sohn und das Haus, WUNT 68, Tübingen 1993.
86 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
mögliche menschliche Reaktionen auf die Erfahrung und Zusage des Angenommenseins. Erst durch die Krise hindurch gelangt der jüngere Sohn zu der Einsicht, dass ein Leben fern vom Vater nicht möglich ist. Mit der Erkenntnis des eigenen Fehlverhaltens (V. 18.21: vÇmarton = „ich habe gesündigt“) verbindet sich die Erwartung der gerechten Bestrafung. Neu und überraschend ist dann für den jüngeren Sohn die Größe und Weite des liebenden Angenommenseins durch den Vater. Der ältere Bruder hingegen versteht sich nicht als grundlos Angenommener, sondern sieht sein Verhältnis zum Vater in einer Arbeit-Lohn-Relation. Nur wer arbeitet und Gesetze erfüllt, darf feiern. Dadurch verfängt sich der ältere Sohn in einem Geflecht von Leistung und Gegenleistung, das den Blick auf das Angewiesensein des Menschen versperrt. Radikale Vergebung als Ausdruck andauernder Liebe kann es in seinen Augen für ihn nicht geben. An der Gestalt des älteren Bruders wird deutlich: Selbst wenn sich der Mensch der Liebe Gottes verweigert, so lebt er dennoch von ihr. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf dominiert der Gedanke der Freude über das Finden des Verlorenen116. Sowohl die Gegenüberstellung von 1 und 99 als auch das ungewöhnliche Verhalten des Hirten, die 99 Schafe allein zurückzulassen, dienen dazu, den Schmerz über den Verlust und die Freude über das Wiederfinden zum Ausdruck zu bringen. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf ist auf Zustimmung aus; so wie der Hirte würde sich jeder verhalten117. Im Gleichnis von der verlorenen Drachme überrascht das intensive Suchen der Frau. Unwillkürlich vollzieht der Hörer die sich im Gleichnis ereignende Dynamik mit und kann in die Freude über das Wiederfinden einstimmen. Auch in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16)118 bringt Jesus die Existenz des Menschen coram Deo zur Sprache. Bewegung kommt in die Erzählung durch die ungewöhnliche Anordnung des Gutsherrn, mit der Auszahlung bei den zuletzt Eingestellten zu beginnen (V. 8b). Die Ersten bewältigen die durch das atypische Verhalten des Gutsherren hervorgehobene Krise zunächst durch die Hoffnung auf einen entsprechenden Zuschlag. Als sich diese Erwartung nicht erfüllt, werfen sie dem Gutsherrn eine ungerechte Behandlung vor (V. 11f). Der Gutsherr reagiert auf ihre – durchaus verständliche (V. 12!) – moralische Empörung mit dem Hinweis, dass er den Arbeitsvertrag eingehalten habe und in seinem Verhalten gegenüber den Letzten frei sei. In der Antithetik von Gutsherrn und Ersten offenbaren sich zwei Seinsweisen: die Ordnung des Lohnes und die Ordnung der Güte. Das Denken der Ersten ist bestimmt von dem gerechten Verhältnis von Arbeit und Lohn. Wer mehr als andere arbeitet, darf auch mehr Lohn beanspruchen. Nach diesem Grundsatz fechten die Ersten die Lohnauszahlung an. Der Gutsherr freilich kann auf die eingehaltene Abmachung verweisen, so dass nun plötzlich die Kläger zu Beklagten wer116 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 72; J. JEREMIAS, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 135. 117 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 71.
118 Vgl. hierzu M. PETZOLDT, Gleichnisse Jesu und
christliche Dogmatik, Berlin 1983, 51–56.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 87
den. Ihr Denken in der Kausalität von Arbeit und Lohn gibt ihnen nicht das Recht, die Letzten und den Gutsherrn zu kritisieren. Der Gutsherr ist frei in seiner unerwarteten, alle Dimensionen sprengenden Güte, die niemandem Unrecht tut, zugleich aber viele unerwartet beschenkt. Diese Güte unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung, wie das monoton wiederholte Arbeitsangebot über den gesamten Tag hinweg zeigt. Jede Zeit erscheint als die rechte Zeit, das Angebot zu ergreifen. Dies können die Ersten nicht begreifen, denn sie verstehen ihre Einstellung nicht als gütige Annahme, sondern als eine selbstverständliche und leistungsbezogene Abmachung. Der Gutsherr dagegen gewährt allen und zu jeder Zeit eine Existenzgrundlage. Seine Freiheit ist nicht begrenzt, seine Güte nicht berechnend. Damit bringt Jesus durch die Parabel Gott als den zur Sprache, der den Menschen annimmt und ihm das Notwendige zum Leben gibt. Der Mensch wiederum lernt sich als ein Angenommener zu verstehen, dessen Existenz sich nicht aus der eigenen Leistung, sondern aus der Güte Gottes definiert. Gottes voraussetzungslose Vergebung illustriert Jesus in der Parabel vom Schalksknecht (Mt 18,23–30.31.32–34.35) in geradezu anstößiger Weise119. Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Schuldnerverhältnis, das deutlich hyperbolische Züge aufweist. Die geschuldete Geldsumme (100 Millionen Denare)120 ist unvorstellbar hoch, wodurch die Stellung und das Verhalten des Herrn und des Knechtes in einem besonderen Licht erscheinen. Eigentümliches wird vom Herrn berichtet, der über das Angebot seines Knechtes weit hinausgeht, Erbarmen hat und ihm alle Schulden erlässt. Als unvorstellbar muss auf diesem Hintergrund das in V. 28–30 geschilderte Verhalten des Knechtes erscheinen. Obwohl ihm selbst gerade grenzenlose Barmherzigkeit widerfuhr, handelt er wegen eines lächerlich kleinen Betrages an einem Mitknecht unbarmherzig. Der Mensch erscheint in der Parabel vor Gott als ein Schuldner, dessen Schuld so unvorstellbar groß ist, dass er sie sogar mit dem Verkauf seiner eigenen Existenz nicht begleichen kann. In seiner Not wendet sich der Mensch zu Gott hin und bittet ihn um Geduld. Gott gesteht dem Menschen nicht nur einen Aufschub zu, sondern vergibt ihm ohne jede Vorbedingung seine unermessliche Schuld. In diesem unerwarteten, ja unbegreiflichen Akt der Annahme des Menschen erweist Gott seine Liebe und Barmherzigkeit. Er gewährt dem Menschen nicht einfach nur Zeit, um sich aus seiner prekären Situation zu befreien, denn dies wäre ein völlig aussichtsloser Versuch. Vielmehr schenkt Gott durch die Vergebung dem Menschen das Leben neu. Gott kommt dem Menschen zuvor, indem er ihn unverdient begnadigt. Jesu Gleichnisse/Parabeln weisen über sich hinaus, sie wollen den Hörer zu der Einsicht drängen, dass es in den Gleichnissen um nichts anderes als um sein eigenes Le119 Die von Jesus erzählte Parabel dürfte nur V. 23b–
30 umfasst haben; ausführliche Analyse und Begründung bei A. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der
synoptischen Evangelien, StANT 24, München 1970, 90 ff. 120 Vgl. J. JEREMIAS, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 208.
88 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
ben geht. Dem Hörer werden Identifikationsmöglichkeiten geboten, er wird zu Grundentscheidungen geführt, um sein Leben zu ergreifen und zu verändern. Die Gleichnisreden wollen die unmittelbare heilsame Nähe der Gottesherrschaft herstellen, damit aus Verlorenen Gerettete werden. Wort und Tat
Jesu Botschaft von der voraussetzungslosen Annahme des Menschen durch Gott wird durch seine Praxis der Hinwendung zu Sündern und Zöllnern verdeutlicht. Dieses Verhalten brachte ihm offensichtlich bald den Ruf ein, ein Freund der Zöllner und Sünder, ein Fresser und Säufer zu sein (vgl. Q 7,33f). Für Jesus sind Sünder und Zöllner nicht für immer Verlorene, sondern in Jesu Verkündigung und Verhalten findet ein Wiederfinden statt, das Anlass zur Freude ist. Die Sünden der Vergangenheit haben ihre trennende und belastende Funktion verloren, ohne dass vom Menschen eine Vorleistung erbracht wird. Vielmehr lebt der Sünder von der Vergebung Gottes, seiner grundlosen Annahme121. Deshalb bedeutet die Ankunft des Gottesreiches die Gegenwart der Liebe Gottes. Der verborgene Anfang des Gottesreiches geschieht in Gestalt überwältigender, schrankenloser Liebe Gottes zu den Menschen, die sie nötig haben und will in Gestalt ebensolcher Liebe unter den Menschen wirksam werden. Dies sind nicht nur die Zöllner und Sünder, sondern auch die Armen, die Frauen, die Kranken, die Samaritaner und die Kinder. Wenn Jesus Gottes radikalen Heilsentschluss für den Menschen nicht nur verkündigte, sondern auch praktizierte, stellt sich die Frage, ob er auch Menschen die Vergebung Gottes direkt zusprach. Sowohl die Begegnung mit der Sünderin (Lk 7,36–50) als auch die Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12) weisen auf eine direkte, personale Sündenvergebung Jesu hin. Beide Texte gehen zwar in ihrer jetzigen literarischen Gestalt nicht auf Jesus zurück, aber sie enthalten alte Traditionen (Lk 7,37.38.47; Mk 2,5b.10?), die einen Zuspruch der Sündenvergebung Gottes bzw. eine unmittelbare Sündenvergebung durch Jesus möglich erscheinen lassen. Eine derartige Praxis Jesu würde seiner Botschaft von der voraussetzungslosen Parteinahme Gottes für den Menschen entsprechen. Jesus nimmt für sich in Anspruch, was eigentlich Gott vorbehalten schien122. Offensichtlich gibt es bei Jesus eine Parteilichkeit im Namen Gottes zugunsten der Armen 123, eine gleichermaßen religiöse wie sozial-politische Setzung. In der ersten 121 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 191. 122 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 201–203; O. HOFIUS, Vergebungszuspruch und Vollmachtsfrage, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 57–69 (68: „Die Erzählung Mk 2,1–12 setzt deutlich eine Handlungseinheit zwischen Gott und Jesus vor-
aus“). Anders I. BROER, Jesus und das Gesetz, in: ders. (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Neukirchen 1992, 61–104, der Mk 2,1–12 ausschließlich innerhalb eines jüdischen Vorstellungsrahmens sieht und zudem als nachösterlich beurteilt. 123 Diesen Aspekt betonen L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (s. o. 3), 29–53.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 89
Seligpreisung wird denen, die nichts haben und nur deswegen neben den Hungrigen und den Weinenden stehen können, bedingungslos das Gottesreich zugesprochen (Q 6,20). Reichtum kann von Gott trennen; dies verdeutlichen das Drohwort Mk 10,25 und die Geschichte vom Reichen und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31), bei der bezeichnenderweise nur der Arme einen Namen hat. Es wird nicht gesagt, dass der Reiche unbarmherzig war oder zu wenig Almosen gespendet hat, sondern Reichtum auf der Welt bringt himmlische Qual als Ausgleich mit sich. Zum Bruch mit der Welt, den Nachfolge als Dienst an der Verkündigung des Gottesreichs fordert, gehört auch der Besitzverzicht, wie die Erzählung vom reichen Jüngling zeigt (Mk 10,17–23). Den Frauen wusste sich Jesus besonders verbunden, denn sie wurden vor allem durch das Ritualgesetz benachteiligt: Frauen waren durch Menstruation und Geburt häufig unrein, nicht kultfähig, von der Rezitation des Bekenntnisses befreit, nicht zum Torastudium zugelassen und nicht rechtsfähig124. Auch gegenüber den Samaritanern, die nicht den Status von Volljuden besaßen und religiös diskriminiert wurden, hatte Jesus keinerlei Berührungsängste; ebenso wenig mit Kindern, er stellt beide sogar als Vorbild hin (vgl. Mk 10,14f; Lk 10,25–37). Jesus kannte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes auch auf die religiös und sozial Deklassierten. Religionsgesetzliche Ordnungen, die im Namen Gottes diese Ausgrenzungen begründeten, wurden von Jesus übergangen. Seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern, Sündern und Frauen demonstrieren eindrücklich die neue Wirklichkeit des Reiches Gottes.
3.4.5
Reich Gottes und Mahlgemeinschaften
Weil Mahlzeiten im antiken Judentum immer auch einen sakralen Charakter hatten und Gott im Lobpreis gedanklich als eigentlicher Gastgeber anwesend war, dienten die Mahlgemeinschaften sowohl der Wahrung jüdischer Identität als auch der öffentlichen Abgrenzung gegenüber Heiden oder religiös Indifferenten (vgl. z. B. Jub 22,16: „Du aber, mein Sohn Jakob, gedenke meiner Worte und halte die Gebote deines Vaters Abraham! Trenne dich von den Völkern! Iss nicht mit ihnen! Handle nicht nach ihrem Tun und sei nicht ihr Genosse! Denn ihr Werk ist Unreinheit, und all ihre Wege sind Befleckung, Greuel und Unreinheit“; vgl. auch 3Makk 3,4; 4Makk 1,35; 5,16ff; 1QS 6,20f; Jos, Bell 2,137–139.143f). Speisevorschriften bildeten im 1. Jh. n.Chr. das Zentrum jüdischen Gesetzesverständnisses125; sowohl bei den Pharisäern
124 Zur rechtlichen Situation der Frau im Judentum vgl. G. MAYER, Die jüdische Frau in der hellenistischrömischen Antike, Stuttgart 1987. 125 Vgl. den umfassenden Nachweis bei CHR. HEIL, Die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus, BBB
96, Weinheim 1994, 23–123. Auch die Konflikte um Speisevorschriften innerhalb des frühen Christentums (vgl. Apg 11,3; Gal 2,12–15) zeigen, dass hier ein entscheidender Streitpunkt lag.
90 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
als auch den Therapeuten und Essenern stand die Idee der kultischen Reinheit im Mittelpunkt des Denkens126. Auf diesem Hintergrund stellten die von Jesus praktizierten Mahlgemeinschaften einen Angriff auf die atl. Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ dar (vgl. Lev 10,10: „Ihr sollt unterscheiden zwischen dem, was heilig ist, und dem, was nicht heilig ist, zwischen dem, was unrein, und dem, was rein ist“)127. Jesu Teilnahme an Gastmählern hat in der Überlieferung vielfältige Spuren hinterlassen (vgl. Q 7,33f; Q 10,7; Q 13,29.28; Lk 14,15–24/Mt 22,1–10; Mk 1,31; 2,15ff; 2,18ff; 3,20; 7,lff; 14,3ff; Lk 8,1–3; 10,8.38ff; 13,26; 14,1.7–14; 15,1f.11–32; 19,1–10). Sie zeugen davon, dass es zum Besonderen Jesu gehört haben muss, Gastmähler zu feiern, sie mit spezifischem Sinn zu versehen und dabei kulturelle Regeln zu durchbrechen. Die Parabel vom großen Gastmahl (Lk 14,15–24/Mt 22,1–10)128 zeigt, wie Jesus zeitgenössische Vorstellungen aufnahm und verfremdete. Im antiken Judentum war die Vorstellung weit verbreitet, dass am Ende der Tage Gott für die Gerechten und Geretteten ein Heilsmahl in unermesslicher Fülle zubereiten wird (vgl. Jes 25,6; PsSal 5,8ff). Von Gottes endzeitlichem Freudenmahl spricht auch Jesus, doch er weiß Überraschendes zu berichten: Das Fest findet statt, aber die Gäste werden andere sein als man dachte. Die zuerst eingeladenen Gäste haben ihre Chance verpasst, denn sie erkannten den gegenwärtigen Kairos des Gottesreiches nicht129. Stattdessen nehmen Menschen „von der Straße“ (Lk 14,23) an dem Fest teil, d. h. Arme und andere Randsiedler der Gesellschaft. Damit stellt Jesus antike Ehrvorstellungen auf den Kopf, denn Gott gewährt gerade denen seine Ehre, die eigentlich davon ausgeschlossen sind130. Ähnlich provokativ ist der Ausblick auf das eschatologische Freudenmahl in Q 13,29.28; nicht die Erwählten, sondern die Heiden werden es mit Abraham, Isaak und Jakob halten. Eine Umkehrung der Verhältnisse ist eingetreten, wie sie die Seligpreisung der Armen in Q 6,20 und Q 13,30 verdeutlichen: „Es werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“. Die Mahlpraxis Jesu konnte deshalb nicht ohne Reaktion bleiben. So erhoben die Schriftgelehrten unter den Pharisäern nach Mk 2,16 die aus ihrer Sicht diskreditie-
126 Vgl. B. KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, GTA 43, Göttingen 1990, 234 ff. 127 In ntl. Zeit versuchten die Pharisäer diese Unterscheidung für alle Lebensbereiche verbindlich zu machen; vgl. dazu J. NEUSNER, Die pharisäischen rechtlichen Überlieferungen, in: ders., Das pharisäische und talmudische Judentum, TSAJ 4, Tübingen 1984, (43–51) 51, der zu Recht die ‚Gesetzlichkeit‘ der Pharisäer als „eine Sache der Speisevorschriften“ bezeichnet. 128 Eine Q-Form lässt sich nicht mehr überzeugend
rekonstruieren; vgl. dazu U. Luz, Mt III (s.u. 8.3), 232–238. 129 Diesen Aspekt hebt H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern (s. o. 3.4.3), 187, hervor: „Jetzt sollen sie kommen“. 130 Vgl. dazu S.C. BARTCHY, Der historische Jesus und die Umkehr der Ehre am Tisch, in: W. Stegemann/ B.J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3), (224–229) 229: „Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung, war für Jesus Ehre kein begrenzt vorhandenes Gut. Gott sorgt für das unbegrenzte Vorhandensein von Ehre.“
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 91
rende Frage, ob Jesus mit Zöllnern131 und Sündern esse (vgl. Q 7,34; Lk 15,1). Jesus antwortet mit seiner Sendung zu den Sündern (Mk 2,17c); vor allem den Sündern muss Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, damit sie zu Gott zurückkehren. Jesus hat also betont und absichtsvoll diejenigen am Mahl teilnehmen lassen, die das offizielle Judentum seiner Tage lieber ausgrenzte. Gott der Schöpfer übernimmt selbst in den Gastmählern die endzeitliche Fürsorge für seine Geschöpfe und ist den Sündern gegenüber der Barmherzige. Der kreatürliche Aspekt ist bei den Gastmählern nicht zu übersehen, Gott spricht die Menschen in der bereits wirkenden Gottesherrschaft in ihrer Geschöpflichkeit an und gewährt ihnen auf die Bitte „Unser Brot für den Tag gib uns heute“ (Q 11,3) das zum Leben Notwendige (vgl. Q 12,22b– 31). Die Gastmähler veranschaulichen, wie sich die Dynamik des Gottesreiches von selbst durchsetzt und Menschen in sich aufnimmt. Die Mahlgemeinschaften sind wie die Gleichnisreden und die Wundertaten ganz und ungeteilt Ereignisse der ankommenden Gottesherrschaft. Im antiken Judentum gibt es für diese sich wiederholenden Gastmähler mit kultisch Unreinen als Ausdruck und Vollzug der ankommenden Gottesherrschaft keine Parallelen. Die offene Mahlpraxis Jesu mit ihrem Heilscharakter (Mk 2,19a) gehört in das Zentrum des Wirkens Jesu132, wie nicht zuletzt die Wirkungsgeschichte des Mahlmotives zeigt (vgl. 1Kor 11,17–34; Mk 6,30–44; 8,1–10; 14,22–25; Joh 2,1–11; 21,1–14; Apg 2,42–47). Das Reich Gottes als Gottes neue Wirklichkeit
Gottes Kommen und Handeln in seinem Reich ist die Basis, die Mitte und der Horizont des Wirkens Jesu. Mit der Rede vom Reich/der Herrschaft Gottes nimmt Jesus nicht nur eine Zeitdiagnose, sondern eine umfassende Sinnbildung vor, deren Ausgangspunkt die Erfahrung und die Einsicht war, dass Gott in neuer Weise zum Heil der Menschen unterwegs ist und das Böse zurückgedrängt wird133. Auffällig ist zunächst, was bei Jesu Rede über Gottes Herrschaft/Reich fehlt: Nationale Bedürfnisse werden nicht angesprochen, und die rituelle Trennung von Heiden und Juden spielt keine Rolle mehr. Nicht das Opfer im Tempel, sondern Mahlgemeinschaften in galiläischen Dörfern sind Zeichen der anbrechenden neuen Wirklichkeit Gottes. Jesus
131 Zu den Zöllnern vgl. F. HERRENBRÜCK, Wer waren die Zöllner?, ZNW 72 (1981), (178–194) 194: „Die neutestamentlichen Zöllner sind sehr wahrscheinlich als hellenistische Kleinpächter anzusehen und deshalb weder römische Großsteuerpächter (publicani) noch deren Angestellte (portitores). Sie waren gewöhnlich reich und gehörten der gehobenen Mittelschicht bzw. der Oberschicht an.“ 132 Vgl. B. KOLLMANN, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, 235 ff.
133 Alle angeführten Aussagen über die Realität des Reiches Gottes lassen eine exklusive Bindung an die Person Jesu erkennen und sprechen gegen die These von G. THEISSEN, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, in: ders., Jesus als historische Gestalt, FRLANT 2002, Göttignen 2003, 255–281, wonach nicht nur Jesus, sondern auch die Jünger bereits vorösterlich Repräsentanten des Reiches Gottes gewesen sein sollen.
92 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
setzt innerhalb Israels keine Grenzen: Er stellt die Randsiedler Israels, die Armen, die benachteiligten Frauen, Kinder, Zöllner, Huren in die Mitte, er integriert Kranke, Unreine, Aussätzige, Besessene und schließt offensichtlich auch Samaritaner ins Gottesvolk ein. Grundlegende religiöse, politische, soziale und kulturelle Identitätsmerkmale seiner Gesellschaft werden von Jesus einfach außer Acht gelassen. Der Anfang des Gottesreiches wird in der Liebe Gottes zu den Disqualifizierten sichtbar und bedeutet: überwältigende Vergebung von Schuld, Vaterliebe, Einladung an die Armen, Erhörung der Gebete, Lohn aus Güte und Freude. Davon erzählt Jesus in seinen Gleichnissen und Parabeln. Ihre eigentümliche Leistung besteht darin, dass sie den Hörer gleichsam in ihre erzählte Welt hineinholen, so dass er sich mit seiner Welt unversehens in der Geschichte selbst vorfindet und dabei sich und seine Zeit neu verstehen lernt. So schaffen sie Nähe zum Ungewöhnlichen der Botschaft Jesu und damit zu der unerwartet nahenden und bereits gegenwärtigen Gottesherrschaft mitten in der Alltagswelt. Das Reich Gottes ist für Jesus keineswegs nur eine Idee, sondern eine sehr konkrete, weltumstürzende Wirklichkeit, als deren Anfang er sich selbst verstand134. Durchgängig wird vorausgesetzt, dass das Kommen des Reiches Gottes eine Realität ist, wobei Jesu Aussagen teilweise von befremdlicher Konkretheit sind. Den Boten wird eingeschärft, niemanden auf dem Weg zu grüßen (Q 10,4). Wer um die Bedeutung des Grußes im Orient weiß, kann ermessen, wie befremdlich dieser Befehl ist. Die Nachfolger dürfen von ihren Familien nicht mehr Abschied nehmen, ja, den eigenen Vater nicht mehr begraben (vgl. Q 9,59f). Solche Sätze wären nicht denkbar, wenn das Reich Gottes nicht als etwas ganz Konkretes, als ein wirklich von Gott gebrachtes Ende gedacht wäre, das bereits jetzt menschliche Bindungen aufhebt. In Galiläa war die Großfamilie der Ort sozialer Identität135, d. h. Jesus verlässt auch hier mit seinen Nachfolgern die gewohnte Denk- und Sozialstruktur. Die Herrschaft Gottes entwickelt sogar eine eigene Dynamik; Jesus spricht von ihr als selbst handelndes Subjekt: „sie ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1,15), „sie ist da“ (Lk 11,20), „sie kommt“ (Lk 11,2), „sie ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Offenbar ist für Jesus die Gottesherrschaft ein eigenes, den Menschen zwar erfassendes, aber nicht von ihm bestimmbares oder auszulösendes Geschehen und hat ihre eigene Kraft (vgl. Mk 4,26–29)136.
134 Vgl. dazu H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der
Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 145–164. 135 Vgl. H. MOXNES, Putting Jesus in His Place. A Radical Vision of Household and Kingdom, Louisville 2003. 136 Alle Beobachtungen weisen darauf hin, dass ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ bei Jesus in einem escha-
tologischen Kontext verstanden werden muss, so dass eine ‚un-eschatologische‘ und damit primär ethisch-politische Jesus-Interpretation, wie sie teilweise in der neueren amerikanischen Exegese vertreten wird (vgl. z. B. M.J. BORG, Jesus [s. o. 3], 33ff; B. L. MACK, Wer schrieb das Neue Testament? [s. o. 3.1], 62), schlicht am Textbefund scheitert.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 93
Die Interpretation des Reich-Gottes-Begriffes ist in der Forschung durch einen Antagonismus zwischen einem ethisch individualistisch-präsentischen und einem apokalyptisch kosmisch-futurischen Verständnis bestimmt gewesen. Klassische Vertreter einer ethischen Interpretation sind Albrecht Ritschl (1822–1889) und Adolf von Harnack (1851–1930). In seinem 1875 veröffentlichten „Unterricht in der christlichen Religion“ stellt Ritschl in § 5 fest: „Das Reich Gottes ist das von Gott gewährleistete höchste Gut der durch seine Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde; allein es ist als das höchste Gut nur gemeint, indem es zugleich als das sittliche Ideal gilt, zu dessen Verwirklichung die Glieder der Gemeinde durch eine bestimmte gegenseitige Handlungsweise sich unter einander verbinden.“137 A. v. Harnack stützte sich für sein Gottesreichverständnis vor allem auf die Gleichnisse Jesu; an ihnen wird sichtbar, was das Gottesreich ist: „Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß – aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft. Alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung.“138 Demgegenüber steht die Interpretation von Johannes Weiss (1863–1914), der 1892 sein Buch „Die Predigt Jesu vom Reich Gottes“ veröffentlichte. Reich Gottes bedeutet demnach bei Jesus weder sittliches Ideal noch innere religiöse Gewissheit, sondern Gott führt das Ende der Welt und eine neue Welt ohne menschliches Zutun herbei. Der Anbruch des Reiches Gottes steht als kosmische Katastrophe unmittelbar bevor. „Die Wirksamkeit Jesu ist beherrscht durch das starke und unbeirrte Gefühl, dass die messianische Zeit ganz nahe bevorsteht. Ja er hat sogar Momente prophetischen Tiefblicks, in welchen er das jenem entgegenstehende Reich des Satans bereits im Wesentlichen als besiegt und gebrochen erkennt und dann spricht er in kühnem Glauben von einem bereits wirklichen Angebrochensein des Reiches Gottes.“139 Albert Schweitzer verschärfte diese Position: Das Reich Gottes „liegt jenseits der ethischen Grenze zwischen Gut und Böse; es wird herbeigeführt durch eine kosmische Katastrophe, durch welche das Böse total überwunden wird. Damit werden die sittlichen Maßstäbe aufgehoben. Das Reich Gottes ist eine übersittliche Größe.“140
Beide Interpretationsmodelle sehen Richtiges: Zweifellos ist die Perspektive Jesu auf das kommende, unmittelbar bevorstehende Reich Gottes ausgerichtet, in dem Gott selbst seine neue Wirklichkeit schafft. Das Kommen des Reiches Gottes bedeutet das Kommen einer real neuen Welt. Zugleich entfaltet das Reich Gottes eine ungeahnte neue ethische Energie, die den Menschen zu einem neuen Handeln öffnet. Weil das Reich Gottes für Gottes Herrschaft in Gegenwart und Zukunft, Gottes Nähe, Gottes Liebe, Got-
137 A. RITSCHL, Unterricht in der christlichen Reli-
gion, Bonn 61903, 2. 138 A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, Gütersloh 1977 (= 1900), 43. 139 J. WEISS, Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, Göttingen 1892, 61.
140 A. SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu, in: ders., Ausgewählte Werke Bd. 5, Berlin 1971 (= 1901), 232.
94 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
tes Parteinahme, Gottes Gerechtigkeit, Gottes Wille, Gottes Sieg über das Böse und Gottes Güte steht, bestimmt es alle Bereiche der Verkündigung und des Handelns Jesu und seiner Nachfolger.
3.5
Ethik im Horizont des Reiches Gottes
H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, fzb 34, Würzburg 31984; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments I, HThK.S 1, Freiburg 1986, 31–155; S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1986, 18–83; W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 21989, 23–122; J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils. Eine Untersuchung zu den ethischen Radikalismen Jesu, Regensburg 1991; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 311–355.
Es ist in der Forschung umstritten, ob man von einer Ethik Jesu sprechen kann. Wird der Ethik-Begriff in eine reflexive, theoretische Diskursebene eingebettet und Ethik immer als ein Element eines Theorieunternehmens bestimmt, so wird man bei Jesus nicht von Ethik, sondern von moralischen Aussagen/Stellungnahmen, von ‚morality‘ sprechen müssen141. Andererseits gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass Jesus weitaus mehr als ein Vertreter eines kontextuellen Ethos ist142: 1) Viele seiner ethischen Aussagen haben einen prinzipiellen Charakter und lassen sich gerade nicht auf einmalige Stellungnahmen reduzieren. 2) Die ethischen Aussagen Jesu weisen deutlich eine Struktur und innere Gewichtung auf, bei der das Liebesgebot Mitte und Zentrum zugleich ist. 3) Schließlich können Jesu (teilweise radikale) Aussagen zu ethischen Fragestellungen in sein Gesamtwirken integriert werden. Deshalb ist es sinnvoll, auch weiterhin von einer Ethik Jesu zu sprechen.
3.5.1
Schöpfung, Eschatologie und Ethik
Jesu Ethik orientiert sich am Willen Gottes, der angesichts des kommenden Reiches Gottes und der damit verbundenen Entmachtung des Bösen wieder in seiner ursprünglichen, d. h. schöpfungsgemäßen Bedeutung zur Geltung gebracht wird. Protologie und Eschatologie bilden bei Jesus eine vom Gottesgedanken getragene Einheit. Im Hori141 Vgl. in diesem Sinn W. A. MEEKS, The Origins of
Christian Morality, New Haven/London 1993, 4; W. STEGEMANN, Kontingenz und Kontextualität der moralischen Aussagen Jesu, in: W. Stegemann/ B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3), (167–184) 167: „Jesus hat – nach meiner Meinung – keine Ethik formuliert und war auch kein Tugendlehrer. Seine Äußerungen zu be-
stimmten Werten und Überzeugungen seiner Gesellschaft und Kultur gehen vielmehr auf kontingente Problemstellungen zurück und machen nicht den Eindruck, dass sie das Ergebnis systematischer Reflexion sind oder eine Theorie des rechten Lebens oder des angemessenen Verhaltens sein wollen.“ 142 Zu möglichen Unterscheidungen zwischen Ethik und Ethos s.u. 6.6.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 95
zont des Reiches Gottes geht es um die Proklamation und Durchsetzung des ursprünglichen Willens Gottes 143. Weisheitliches Schöpfungsdenken und radikale Ethik angesichts des gegenwärtig kommenden Reiches schließen sich bei Jesus nicht aus, sondern ergänzen sich in seiner theozentrischen Perspektive. Der Wille des Schöpfers
Überschwänglich kann Jesus die Schöpfergüte Gottes preisen, der die Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt (Mt 5,45) und ohne dessen Willen kein Haar vom Haupt fällt (Mt 10,29–31). Gott sorgt für die Vögel und die Lilien, um wieviel mehr wird er für die Menschen da sein (Mt 6,25–33)144. Dieser weisheitliche Gedanke (vgl. Sir 30,23b–31,2) führt nun aber bei Jesus gerade nicht zur Befürwortung der Sorglosigkeit als einer Lebensmaxime, sondern erfährt in Mt 6,33 eine spezifische Begründung: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles andere hinzugetan“145. In der Ausrichtung auf das Reich Gottes erfüllt sich das Leben der Jünger. In der eschatologischen Prägung weisheitlichen Denkens offenbart sich ein Charakteristikum der Verkündigung Jesu146. Der menschlichen Aktivität wird ein neues Ziel gegeben: Sie soll nicht der eigenen Existenz gelten, sondern dem Reich Gottes. In der Hinwendung auf Gottes Reich und damit auf Gott den Schöpfer erfährt das menschliche Leben seine schöpfungsgemäße Bestimmung. Seiner Geschöpflichkeit entspricht der Mensch vor allem durch das Befolgen des ursprünglichen Schöpferwillens. Die Unauflöslichkeit der Ehe wird in Mk 10,2–9 von Jesus mit dem ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes begründet. Es entspricht dem Willen Gottes und damit zugleich der Geschöpflichkeit des Menschen, dass Mann und Frau ein Leben lang einander anhangen (Mk 10,9: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“). Die Möglichkeit der Scheidung wird von Jesus hingegen als eine Konzession des Mose an die sklvrokardı´a („Hartherzigkeit“) der Menschen gewertet, die sich letztlich gegen den Menschen richtet. Indem Jesus die Scheidung verwirft, wertet er nicht nur die Stellung der Frau in der jüdischen Gesellschaft auf, sondern er stellt sich über die Autorität des Mose und nimmt für sich in Anspruch, den auf das Wohl des Menschen gerichteten ursprünglichen Willen Gottes 143 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus, NZSTh 24 (1982), (3–20) 12. 144 Der auf Jesus zurückgehende Grundbestand dieses Textes umfasst (ohne redaktionelle Zusätze) V. 25 f.28–33; vgl. zur Begründung U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 471–476 (ohne V. 25d.e; 32a); J. GNILKA;, Mt I (s.u. 8.3), 252. Eine eindringende Analyse und Interpretation bietet H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip, 174–183. 145 In Mt 6,33 ist kai` tv`n dikaiosu´nvn autou˜ matthäischer Zusatz; vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s.u. 8.3), 152.
146 Zu diesem Problemkreis vgl. M. EBNER, Jesus –
ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess, HBS 15, Würzburg 1998; D. ZELLER, Jesu weisheitliche Ethik, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 193–215. Zeller führt als Beispiele weisheitlicher Ethik bei Jesus an: Mk 5,42; 6,25b; 8,35.36f; 10,21; Mt 5,33–37.39b–40.44f; 6,7a.8b.19– 21.24.26.28b–30.31–32b; 7,7.9–11; 10,29.31b; Lk 6,24.31.36–37; 16,25; 17,3b–4; 18,2–5.
96 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
wieder zu Gehör zu bringen. Zugleich setzt er damit die Scheidungsmöglichkeit nach Dtn 24,1–4 außer Kraft! Mk 10,2–9 geht in seiner vorliegenden literarischen Form zwar nicht auf Jesus zurück, dürfte aber sachlich seine Position wiedergeben147. Dies bestätigt 1Kor 7,10f (ohne die von Paulus eingefügte Parenthese V. 11a), wo Paulus die Unauflöslichkeit der Ehe auf das Wort des Kyrios zurückführt. Die Ausnahmeregelungen in Mt 5,32 (parekto`ß lo´gou porneı´aß) und Mt 19,9 (mv` epi` porneı´a ) sind matthäisch148.
Auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen auch die Jesusworte in Mk 2,27 und 3,4: Der Sabbat soll als Schöpfungswerk dem Leben dienen und an dieser Maxime hat sich das Handeln des Menschen zu orientieren. Wie die Heilungen (s. u. 3.6.3) und die torakritischen Worte (s. u. 3.8.2) haben die ethischen Aussagen Jesu eine schöpfungstheologische Dimension. Weil Schöpfung gottgewolltes Leben bedeutet, Gott gleichermaßen Geber und Erhalter des Lebens ist, muss sich der Mensch seines Ursprungs bei Gott stets bewusst sein und zugleich dem lebenserhaltenden Willen Gottes folgen. Die staatlichen Ordnungen sieht Jesus ebenfalls im göttlichen Willen begründet, wenn der Staat seinen Aufgaben nachkommt und sich zugleich auf sie beschränkt. Dieses Thema wird exemplarisch in Mk 12,13–17 behandelt149, wobei V. 17 Jesu Position markiert: „Was des Kaisers ist, gebt dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott!“ Die Fragesteller wollten Jesus offenbar auf einem zentralen Feld der damaligen politischen Ethik zu einer Äußerung in die eine oder die andere Richtung provozieren. Die Frage war so gewählt, dass nach ihrer Meinung jede Antwort Jesus nur zum Nachteil gereichen konnte. Bejahte er ausdrücklich das Steuerzahlen an die Römer, so hätte man ihn als römerfreundlich und Feind seines eigenen Volkes hinstellen können. Verneinte Jesus hingegen die Steuern, so hätten ihn die Fragesteller als Aufrührer denunzieren können. Bedenkt man die durchgängige Verflechtung von religiösem und politischem Leben in der gesamten Antike, so ist eine kritische Komponente in V. 17a nicht zu überhören. Jesus bestreitet zwar nicht das Recht und die Macht des Staates, aber er reduziert die Bedeutung des Staates auf eine rein funktionale Ebene. Dem Kaiser sind Steuern zu zahlen, aber eben nicht mehr! Jede ideologische oder religiöse Überhöhung des Staates wird durch diese rein funktionale Bestimmung durch Jesus unmöglich gemacht. Schließlich bringt V. 17b eine weitere Relativierung des Kaisers. Hier liegt die Pointe der Antwort Jesu: Der Gehorsam gegenüber Gott ist allen anderen Dingen vor- und übergeordnet. Allein der Gehorsam gegenüber Gott bestimmt, was dem Kaiser zukommt und was nicht. Dem Kaiser gebührt die Steuer, die 147 Vgl. zur Analyse J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.5), 96–148. 148 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 77. 149 Markinische Redaktion lässt sich nur in V. 13
nachweisen, so dass es durchaus möglich ist, das gesamte Apophthegma im Leben Jesu zu verankern; zur Analyse vgl. zuletzt ST. SCHREIBER, Caesar oder Gott (Mk 12,17)?, BZ 48 (2004), 65–85.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 97
er zur Ausübung seiner staatlichen Macht braucht, ihm gebührt aber nicht religiöse Verehrung. Dem Kaiser gehört die Münze, aber der Mensch gehört Gott. Angesichts des Anspruches Gottes auf den Menschen kann der Kaiser und damit der Staat nur ein begrenztes Recht haben. Jesu Antwort stellt somit einen Mittelweg dar: Er ist kein antirömischer Revolutionär150, der das Recht und die Existenz dieses Staates grundsätzlich bestreitet. Er weist dem Staat auf rein funktionaler Ebene sein Recht zu, macht aber zugleich deutlich, dass das Recht des Staates in dem Recht Gottes auf den ganzen Menschen seine Begrenzung findet.
3.5.2
Die ethischen Radikalismen Jesu
Der von Jesus verkündigte Gotteswille will menschliches Zusammenleben ermöglichen und Störungen durch ein neues, unerwartetes Verhalten überwinden. In den Antithesen der Bergpredigt artikuliert sich unüberhörbar Gottes unbedingter Wille. Der Evangelist Matthäus fand in seinem Sondergut die 1., 2. und 4. Antithese vor und schuf auf dieser Basis eine Reihe von 6 Antithesen151. Durch pa´lin in Mt 5,33a setzt Matthäus die erste Dreierreihe von der zweiten ab. Handeln die ersten drei Antithesen vom Verhältnis zum Mitchristen (Zorn gegenüber dem Bruder, Ehebrechen, Ehescheidung), so die 4.–6. Antithese vom Verhältnis zum Nichtchristen (Schwören, Wiedervergeltung, Feindesliebe). Der traditionsgeschichtlich älteste Bestand der 1., 2. und 4. Antithese umfasst Mt 5,21–22a (vkou´sate . . . estai tU˜ krı´sei), Mt 5,27–28a.b (vkou´sate . . . emoı´ceusen autv´n), Mt 5,33–34a (vkou´sate . . . mv` omo´sai oÇlwß) und dürfte der Verkündigung Jesu zuzuordnen sein. Im Verlauf der Tradierung wurde dieses älteste Spruchgut durch Beispiele und Erläuterungen angereichert. Auch die vom Evangelisten gebildeten Antithesen enthalten alte Traditionen, wobei allerdings nur die Forderung nach Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b–40/Lk 6,29), das absolute agapa˜te tou`ß echrou`ß umw˜n in Mt 5,44a/Lk 6,27a und die schöpfungstheologische Begründung in Mt 5,45/Lk 6,35 auf Jesus zurückgehen dürften.
In der 1. Antithese stellt Jesus dem atl. Verbot des Tötens (Ex 20,15; Dtn 5,18) sein eigenes Recht gegenüber: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten! Wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen“ (Mt 5,21–22a). Schon der Zorn gegenüber dem Bruder lässt den Menschen dem Gericht verfallen. Jesus legt das atl. Gebot damit nicht aus, sondern er überbietet es. Gefordert ist die radikale Zuwen150 Deutet schon Mk 12,17 eine gewisse Distanz zu den Zeloten an, so dürfte Mt 26,52 als Kritik an den Zeloten zu verstehen sein („Stecke dein Schwert in die Scheide, denn alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen“). Schließ-
lich sind Jesu Anweisungen in der Bergpredigt mit der Gewalt der Zeloten unvereinbar; zur Sache vgl. M. HENGEL, War Jesus Revolutionär?, Stuttgart 1970. 151 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 64–67.
98 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
dung des Menschen zum Menschen. Andernfalls folgt unabwendbar die Gerichtsverfallenheit. Inhaltlich ist die Verwerfung des Zorns im Judentum nicht neu (vgl. 1QS 6,25–27)152. Überraschenderweise überbietet aber die Verwerfung des Zorns bei Jesus die Tora und qualifiziert sie damit als unzureichend. Der Gotteswille wird von Jesus so ausgelegt, dass er dem Menschen ständig gilt und auch unwillkürliche Regungen umgreift. Allein schon die Frage, ob es auch berechtigten Zorn gibt, wäre der Versuch der Eingrenzung des Gotteswillens. In der 2. Antithese setzt Jesus dem atl. Verbot des Ehebruches (Ex 20,14; Dtn 5,17) die These entgegen, dass schon der begehrliche Blick wie ein Ehebruch zu werten sei: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen“ (Mt 5,27f). Das Verwerfliche ist nicht der Blick, sondern die dahinter stehende Absicht, das Begehren. Mit epihumı´a („Begehren“) bezeichnet Jesus das Verlangen des Menschen, sich fremde Güter anzueignen153. Der Mensch verspricht sich davon eine Steigerung seines Lebensgefühles, einen Gewinn an Lust und Sinn. Jesus unterbindet dieses Streben, weil es eine zerstörende Kraft entfaltet. Die Heiligkeit der Ehe wird gebrochen und Menschen ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung entrissen. Auch das Schwurverbot Jesu in der 4. Antithese zielt auf die Ganzheit menschlicher Existenz (Mt 5,33–34a: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht falsch schwören, du sollst aber dem Herrn deine Eide halten. Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt“). Durch den Schwur, der die Wahrheit beschworener Aussagen dokumentiert, sind die unbeschworenen Aussagen von der Wahrheit ausgenommen. Faktisch dient damit der Schwur der Duldung der Lüge. Ein Teilbereich des Lebens, in dem der Wille Gottes – Wahrhaftigkeit – gilt, ist von einem anderen abgetrennt, wo er nicht gilt. Diese Trennung soll durch das Gebot Jesu aufgehoben werden. Der Gotteswille gilt für den Menschen in allen Lebensbereichen. Jesus fordert den Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b.40/Lk 6,29)154. Dabei geht es keineswegs um ein rein passives Verhalten, das ins Erleiden führt. Die provokative Aufforderung Jesu, auch die andere Wange hinzuhalten und mit dem Mantel auch das Untergewand zu geben, verlangt im Gegenteil vom Jünger höchste Aktivität, denn er soll die Grundhaltung der Liebe in scheinbar aussichtslosen Situationen praktizieren. Jesus lebt und fordert ein ungewöhnliches, nicht berechenbares und zweckfreies Verhalten, das gerade dadurch produktiv ist. Das Gebot der Feindesliebe ist in seiner uneingeschränkten Form (Mt 5,44a/Lk
152 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s. o. 3.5), 261 Anm. 306; U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 338 f. 153 Vgl. H. WEDER, Die ‚Rede der Reden‘ (s. o. 3.4.2), 114.
154 Zur Analyse vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 385f; G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 86 f. Matthäus fügt in V. 39b tv`n dexia´n hinzu.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 99
6,27a: agapa˜te tou`ß echrou`ß umw˜n [„liebet eure Feinde“]) ohne Analogie. Zwar gibt es sowohl im jüdischen als auch im hellenistischen Bereich enge Parallelen, die aber jeweils unterschiedliche Motivationen erkennen lassen und nicht wirklich mit der jesuanischen Anordnung übereinstimmen155. Jesus macht die Liebe grenzenlos; eine Eingrenzung ist nicht mehr möglich, auch nicht auf den Nächsten. Am Extrembeispiel des Feindes zeigt Jesus, wie weit die Liebe geht. Sie kennt keine Grenzen, sie gilt allen Menschen. Gottes radikale, uneingeschränkte Liebe drängt in den Alltag des Menschen hinein, dem zugemutet wird, mit der Feindesliebe an der Liebe Gottes zu partizipieren. Eine Begründung für die Feindesliebe lässt sich nicht aus der vorfindlichen Wirklichkeit ableiten, sondern ein solch ungewöhnliches Verhalten kann nur aus dem Handeln Gottes heraus seine Bedeutung und Verbindlichkeit erhalten. Weil der Schöpfer selbst in seiner Güte gegenüber Guten und Bösen das Freund-FeindSchema sprengt (Mt 5,45), kann der Mensch die Grenzen zwischen Freund und Feind überschreiten, werden Menschen entfeindet156. Mit dieser Konzeption unmittelbar verbunden ist ein neues Herrschaftsideal, das Jesus gegenüber den Jüngern in Mk 10,42b–44 formuliert157: „Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Großen gebrauchen ihre Macht gegen sie. Unter euch aber ist es nicht so. Sondern wer ein Großer werden will unter euch, soll euer Diener sein und wer unter euch der Erste sein will, soll der Knecht aller sein.“ Die antike Herrscherpraxis wird hier einer radikalen Kritik unterzogen, denn nicht Unterdrückung und Ausbeutung, sondern Dienen und Fürsorge kennzeichnen den wahren Herrscher158. Einen weiteren ethischen Radikalismus Jesu stellt das Verbot des Richtens in Mt 7,1 dar („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“)159. Jesus verbietet alles Urtei-
155 Parallelen finden sich in der jüdisch-hellenistischen Literatur, vor allem aber im Bereich der griechisch-römischen Philosophie. Bereits Pythagoras wird folgender Ausspruch zugeschrieben: „Man gehe so miteinander um, dass man sich die Freunde nicht zu Feinden, wohl aber die Feinde zu Freunden macht“ (Diog L 8,23); vgl. ferner Plato, Resp 334b–3; ders., Crito 49b-c; Sen, Ira II 32,1–33,1; III 42,3–43,2; ders., Ep 120,9–10; Mus 10; Epic, Diss I 25,28–31; II 10,13 f.22–24; III 20,9–12; 22,54–56; IV 5,24; ders., Ench 42; Plut, Mor 143f–144a; 218a; 462c-d; 799c; weitere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/1.2 zu Mt 5,44. 156 Treffend F. BOVON, Lk I (s.u. 8.4), 319f: „Im Akt der Feindesliebe handelt der Christ für die Zukunft seiner Gegner. . . In der Haltung der Christen entdeckt der Feind ein Gegenüber, wo er einen Gegner erwartete. Wenn er diese neue Situation anerkennt, darf man eine neue Einstellung zu sich selbst, zu sei-
nen Mitmenschen und zu Gott erhoffen.“ 157 In der vorliegenden Form geht der Text nicht auf Jesus zurück, als geschlossene Einheit dürfte Mk 10,42–44 aber eine längere Traditionsgeschichte durchlaufen haben; vgl. J. GNILKA, Mk II (s.u. 8.2), 99 f. Wenn in der Jesusbewegung über die gerechte Herrschaft debattiert wurde, dann dürfte am Ausgangspunkt ein Impuls der Verkündigung Jesu gestanden haben, zumal sich der Aspekt des Dienens in die Tendenzen der Gesamtverkündigung Jesu bestens einfügt. 158 Sachlich entspricht diese Position der Vision, die Dio Chrysostomus von der idealen Herrschaft entwirft; vgl. ders., Or 1–3. 159 Die jesuanische Herkunft von Mt 7,1 ist unumstritten; vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 148f; U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 488.
100 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
len, weil in jedem menschlichen Urteilen der Keim für ein Verurteilen steckt. Mit dem Passivum divinum krihv˜te in Mt 7,1b verweist Jesus als Begründung auf das Endgericht. Weil das göttliche Gericht unmittelbar bevorsteht, soll sich der Mensch bereits jetzt danach richten und auf jegliches Urteilen verzichten, denn dies hat notwendigerweise die eigene Verurteilung im Gericht zur Folge. Ein ethischer Radikalismus ist auch die Reichtumskritik Jesu, wie sie sich in der Seligpreisung der Armen (Q 6,20), dem Aufruf zum Nicht-Sorgen (Mt 6,25–33) oder in Mk 10,25 ausspricht160: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt!“ Während die Reichen vom Reich Gottes ausgeschlossen sind, wird es den Armen zugesprochen; eine paradoxere und schärfere Kritik des Reichtums als Hindernis auf dem Weg in das Reich Gottes ist kaum vorstellbar161! Der scharfe Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und der Welt wird auch in Q 9,59f sichtbar162: „Ein anderer aber sagte ihm: Herr, gestatte mir, zuvor fortzugehen und meinen Vater zu begraben. Er aber sagte ihm: Folge mir und lass die Toten ihre Toten begraben.“ Die Beerdigung der Eltern galt in der gesamten Antike als heilige Pflicht, so dass hier ein Frontalangriff Jesu auf Gesetz, Sitte und Frömmigkeit vorliegt163, der mit dem Ethos der neuen familia dei (vgl. Q 14,26; Mk 10,29) und der Heimatlosigkeit des Menschensohnes in Verbindung steht (Q 9,57f). Als ethische Radikalismen können auch das Ehescheidungsverbot (s. o. 3.5.1), das Fastenverbot in Mk 2,18–20 und die Tempelkritik in Mk 11,15–19 (s. u. 3.10.1) angesehen werden. Die grenzüberschreitenden ethischen Radikalismen Jesu sind drastische Aufforderungen, die von Gott nicht gewollte Entzweiung zwischen Menschen zu überwinden und dem Willen des Schöpfers wieder Geltung zu verschaffen. Ihrem Wesen nach unbegrenzt und nur im Horizont des nahenden Gottesreiches verstehbar164, fordern 160 Zur Analyse aller relevanten Texte vgl. J. SAUER,
Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.5), 277– 343. 161 Reichtumskritik findet sich überall in der Antike; vgl. z. B. Dio Chrys, Or 4,91. Allerdings bleibt die Radikalität der Aussagen Jesu bestehen, denn er vermeidet Sublimierungen, wie sie z. B. der römische Millionär Seneca vornimmt: „Der kürzeste Weg zum Reichtum ist die Verachtung des Reichtums“ (Ep 62,3). 162 Vgl. dazu M. HENGEL, Nachfolge und Charisma, BZNW 34, Berlin 1968, 9–17. 163 Nach E. P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 267, ist dies der einzige Fall, wo Jesus eine Übertretung von Toravorschriften fordert. 164 Den Aspekt der zeitlichen und sachlichen Bedingtheit der ethischen Radikalismen betont
A. SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis (s. o. 3.4.5), 229, im Hinblick auf das Offenbarwerden des Reiches Gottes: „Als Buße auf das Reich Gottes hin ist auch die Ethik der Bergpredigt Interimsethik.“ Es gilt: „Jede ethische Norm Jesu, möge sie auch noch so vollendet sein, führt also nur bis an die Grenze des Reiches Gottes, während jeglicher Pfad verschwindet, sobald man sich auf dem neuen Boden bewegt. Dort braucht man keinen“ (a. a. O., 232). Dies bedeutet nach Schweitzer jedoch keineswegs, dass Jesu Ethik für das Handeln der Menschen in der Welt (bis zum Anbrechen des Reiches Gottes) inhaltlich aufzugeben sei, denn nur die Naherwartung als Begründung der Ethik Jesu kann nicht übernommen werden. Das ‚Interim‘ bezieht sich also auf die Begründung und nicht auf den Inhalt!
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 101
die Radikalismen ein Verhalten, das sich ausschließlich von Gott bestimmt weiß165. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, radikal und endgültig proklamiert. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht, leitet ihn nicht aus dem Alten Testament ab, das damit im Lichte des Reiches Gottes überboten, zugleich aber auch vertieft und ausgeweitet wird. Erst im Willen Gottes erreicht somit der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung. An das endgültige Wort Gottes darf er sich halten, von diesem Wort her gilt es zu leben und zu handeln. Indem der Mensch sich ganz auf Gott ausrichtet und damit von sich selbst löst, kann er sich von der Liebe bestimmen lassen, um das Wohl des anderen zu suchen. Auch im Versagen gegenüber dem Willen Gottes und der drohenden Gerichtsverfallenheit ist der Mensch ausschließlich auf Gott angewiesen, denn allein in der Umkehr kann er seinem gerechten Urteil entgehen. Der Radikalität der Forderung Jesu entspricht somit die Totalität des Angewiesenseins des Menschen auf Gott166. Die Frage der Erfüllbarkeit der ethischen Radikalismen stellt sich bei Jesus nicht, denn sie würde zu einer von ihm nicht gewollten Negierung der Entscheidungsfreiheit und damit zu einer Gesetzlichkeit und Funktionalisierung führen. Die Radikalismen sind bewusste Verfremdungen und haben als exemplarische Worte Appellcharakter, sich angesichts des nahenden Gottesreiches ganz auf den Willen Gottes einzulassen und gerade dadurch Menschsein zu ermöglichen.
3.5.3
Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu
Als Geschöpf ist der Mensch dem Willen Gottes verpflichtet. Damit muss er sich nicht einem willkürlichen Despoten unterordnen, sondern Gottes Wille ist von seiner Liebe umgriffen, die in seinem Schöpferhandeln Gestalt gewinnt. Das Liebesgebot in seiner dreifachen Form als Gebot der Nächstenliebe (vgl. Mt 5,43), der Feindesliebe (Mt 5,44) und als Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34) bildet die Mitte und das Zentrum der Ethik Jesu. Das Doppelgebot der Liebe
In Mk 12,28–34 wird dem Schriftgelehrten auf seine Frage „Welches ist das erste von allen Geboten?" von Jesus geantwortet: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der eine Gott, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von deinem ganzen Herzen und von deiner ganzen Seele und von deiner ganzen Vernunft und von deiner ganzen Kraft. Das zweite ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als dieses“ (V. 30.31). In seiner vorliegenden li165 Vgl. H. WEDER, Die ‚Rede der Reden‘ (s. o. 3.4.2),
154. 166 Vgl. J. ECKERT, Wesen und Funktion der Radika-
lismen in der Botschaft Jesu, MThZ 24 (1973), (301– 325) 319.
102 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
terarischen Gestalt geht das Doppelgebot der Liebe nicht auf Jesus zurück, denn die Häufung der Vernunftbegriffe, die ausgeprägte anthropologische Differenzierung, die ausdrückliche Überordnung des Liebesgebotes über die Opfer in V. 33, die starke Betonung des Monotheismus und die vom hebräischen Text und der LXX abweichende Hinzufügung von dia´noia lassen darauf schließen, dass literarisch eine Tradition des hellenistischen Judenchristentums vorliegt. Deshalb wurde vielfach das Doppelgebot der Liebe nicht als Proprium der Verkündigung Jesu angesehen167. Andererseits gibt es aber auch Hinweise, dass das Doppelgebot der Liebe sachlich doch auf Jesus von Nazareth zurückzuführen ist168: 1) Die Zusammenstellung von Dtn 6,5 und Lev 19,18 ist zwar in der jüdischen Tradition vorbereitet169, findet sich dort aber ebenso wenig wie die Nummerierung der beiden Gebote170. 2) Der Text enthält keinerlei christologische Aussagen, die starke Betonung des Monotheismus schließt sie sogar aus171. 3) Sowohl die Kontext- als auch die Wirkungsplausibilität sprechen für eine sachliche Zurückführung des Doppelgebotes auf Jesus. Es ist einerseits in die Traditionen des Judentums eingebunden und kann deshalb dem Juden Jesus von Nazareth zugeordnet werden, andererseits lässt es ein besonderes Profil erkennen; das Doppelgebot der Liebe könnte sehr gut eine Besonderheit der Verkündigung Jesu sein, die seinen Anspruch dokumentiert172. Zumal die Entschränkung des ‚Nächsten‘ über die nationale Perspektive von Lev 19,18 hinaus das Gebot der Feindesliebe illustriert. Die starke Wirkungsgeschichte (vgl. Mk 12,28–34par; Gal 5,14; Röm 13,8– 10; Joh 13,34f) spricht ebenfalls dafür, dass beim Doppelgebot ein Impuls Jesu am Anfang stand. 4) Der Sachgehalt des Doppelgebotes findet sich nicht nur in der Wort-, sondern auch in der Erzählüberlieferung. Die Liebe gegenüber dem Fremden illustriert die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37)173, mit 167 Vgl. G. BORNKAMM, Das Doppelgebot der Liebe, in:
171 Vgl. G. THEISSEN, Das Doppelgebot der Liebe 69:
ders., Geschichte und Glaube I, München 1968, 37– 45; CHR. BURCHARD, Das doppelte Liebesgebot in der frühchristlichen Überlieferung, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, WUNT 107, Tübingen 1998, 3–26 (= 1970); M. EBERSOHN, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition, MThSt 37, Marburg 1993. 168 Vgl. dazu vor allem G. THEISSEN, Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus, in: ders., Jesus als historische Gestalt (s. o. 3) 57–72. 169 Vgl. nur Arist 131; Philo, SpecLeg 2,63.95; 4,147; TIss 5,2; 7,6; TSeb 5,3; TJos 11,1). Zahlreiche weitere Belege bieten K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu I (s.u. 3.8), 99–136; A. NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum, WUNT 15, Tübingen 1974, 224–246.389–416; BILLERBECK I, 357–359; III, 306; O. WISCHMEYER, Das Gebot der Nächstenliebe bei Paulus, BZ 30 (1986), (153–187) 162 ff. 170 Vgl. M. HENGEL, Jesus und die Tora (s.u. 3.7), 170.
„Das mk Doppelgebot der Liebe kann keine urchristliche Schöpfung sein, da sein Monotheismus die Verehrung Jesu als Herrn neben Gott ausschließt und das positive Bild vom Schriftgelehrten in eine Zeit vor die grundsätzlichen Spannungen zwischen Christen und Juden weist.“ Theißen vermutet, dass Jesus das Doppelgebot von Johannes d. T. übernommen habe. 172 M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./ A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu (s.u. 3.9), 75, sieht in der Formulierung des Doppelgebotes „jenseits von Mose und allen Profeten“ einen Hinweis auf Jesu messianischen Anspruch. 173 Zur Auslegung vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu (s. o. 3.4.3), 275–296; PH. F. ESLER, Jesus und die Reduzierung von Gruppenkonflikten, in: W. Stegemann/B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3), 197–211.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 103
der die Frage beantwortet wird, wer mein Nächster ist. Es geht um die Reichweite und Grenze der Liebesverpflichtung. Jesus erzählt die Geschichte aus der Perspektive des unter die Räuber Gefallenen. Am Beispiel des religiös und politisch diskriminierten Samaritaners illustriert er die Grenzenlosigkeit der Verpflichtung zur Liebe, die ihr Ende nicht am Zumutbaren und Üblichen findet. Bewusst werden die beiden lieblosen Juden und der barmherzige Samaritaner kontrastiert; ein Verfremdungseffekt, der verdeutlichen soll, dass sich Nächstenliebe nicht an Konventionen und Vorurteile hält, sondern es wagt, sich darüber hinwegzusetzen und in souveräner Freiheit jene Hindernisse zu übersteigen, die sonst die Wege zueinander versperren. Die Liebe gegenüber den Sündern veranschaulicht die Erzählung von der Sünderin in Lk 7,36–50174. Die von Jesus gewährte Gemeinschaft mit Gott orientiert sich nicht an religiösen Schranken, sondern an den Bedürfnissen der Menschen, die aufrichtig Vergebung suchen. Ethik der Liebe
Inhaltlich ist die Liebesforderung die Mitte der Ethik Jesu. Das Liebesgebot ist radikal, es lässt keine Einschränkung mehr zu und entspricht darin der uneingeschränkten Schöpfergüte. Jesu Liebesforderung ist konkret, denn in den Texten dominieren konkrete Beispiele: Segnen, Gutes tun, sich versöhnen, vergeben, den Bruder nicht „Dummkopf“ nennen, den Armen das Geschuldete zurückerstatten und sein Vermögen verschenken; nicht richten, nicht nur den Splitter im Auge des Bruders sehen. Jesus geht es keineswegs um eine neue Gesinnung, denn sowohl die Konkretheit der Forderungen als auch ihr radikaler, zugespitzter Charakter sollten jeden Zweifel darüber zerstören, dass sie tatsächlich ernst gemeint waren. Gerade in ihrer Radikalität ist Jesu Liebesforderung exemplarisch. Seine Worte sind exemplarische Sätze, seine Erzählungen sind exemplarische Geschichten und seine Taten sind exemplarische Handlungen, die ihre Kraft in verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Weise freisetzen. Sie können nicht eins zu eins umgesetzt werden, denn es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie spontan ist und als ein den ganzen Menschen umfassendes Geschehen sich immer wieder in jeder Situation neu realisiert. In diesem Sinn sind Jesu Forderungen nicht Vorschriften, sondern viel mehr als das: Sie sind exemplarische Hinweise, sie greifen Musterbeispiele heraus, die man um ihrer Anschaulichkeit willen leicht behalten kann und die zeigen, wie das von Jesus gemeinte Verhalten aussehen könnte. Der Geltungsbereich von Jesu Forderungen geht weit über das hinaus, was in den Texten angesprochen wird. Zugleich schließt aber der Gehorsam gegen-
174 Die vorliegende Erzählung geht nicht auf Jesus zurück, wohl aber darf eine Grundform mit einem stabilen narrativen Schema für Jesus in Anspruch genommen werden: „a) Jesus wird zu einem Mahl eingeladen, b) eine Frau kommt hinzu und salbt Je-
sus, c) diese Geste löst eine negative Reaktion aus, d) Jesus verteidigt die angeklagte Frau und e) anerkennt ihr Handeln als lobenswert“; F. BOVON, Lk I (s.u. 8.4), 387 f.
104 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
über seinen Forderungen immer das Moment der eigenen Freiheit mit ein, um herauszufinden, was Liebe in neuer Situation konkret bedeutet. Die von Jesus postulierten Entgrenzungen führen keineswegs in Grenzenlosigkeit, sondern orientieren sich aktiv an der Liebe, deren Gestalt nie beliebig sein kann.
3.6
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes
R. PESCH, Jesu ureigene Taten?, Freiburg 1970; W. SCHMITHALS, Wunder und Glaube, BSt 59, Neukirchen 1970; O. BÖCHER, Christus Exorcista, BWANT 96, Stuttgart 1972; G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten, Gütersloh 1974; G. PETZKE, Die historische Frage nach den Wundern Jesu, NTS 22 (1976) 180–204; K. KERTELGE, Die Wunder Jesu in der neueren Exegese, Theologische Berichte 5 (1976), 71–105; O. BETZ/W. GRIMM, Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu (ANTI 2), Frankfurt, 1977; R. KRATZ, Rettungswunder, Frankfurt 1979; A. SUHL (Hg.), Der Wunderbegriff im Neuen Testament (WdF 295), Darmstadt 1980; M. SMITH, Jesus der Magier, München 1981; H. WEDER, Wunder Jesu und Wundergeschichten, VuF 29 (1984) 25–49; L.E HOGAN, Healing in the Second Temple Period, NTOA 21, Fribourg/Göttingen 1992; M. WOLTER, Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen, in: K. Berger/F. Vouga/ M. Wolter/D. Zeller (Hg.), Studien und Texte zur Formgeschichte, TANZ 7, Tübingen/Basel 1992, 135–175; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 509–1038; G. H. TWELFTREE, Jesus the Exorcist, WUNT 2.54, Tübingen 1993; D. TRUNK, Der messianische Heiler, HBS 3, Freiburg 1994; W. KAHL, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting, FRLANT 163, Göttingen 1994; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 256–283; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter, FRLANT 170, Göttingen 1996; DERS., Neutestamentliche Wundergeschichten, Stuttgart 2002; M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, WUNT 2.144, Tübingen 2002; K.-W. NIEBUHR, Jesu Heilungen und Exorzismen, in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr, WUNT 162, Tübingen 2003, 99–112; L. SCHENKE, Jesus als Wundertäter, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 148–163; M. LABAHN/B.J. PEERBOLTE (Hg.), Wonders never Cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and its Religious Environment, LNTS 288, London 2006.
Jesus von Nazareth wurde zuallererst als Heiler wahrgenommen und sein HeilungsCharisma begründete den Erfolg seines Wirkens. Sowohl die Synoptiker als auch das Johannesevangelium stellen das erfolgreiche exorzistische und therapeutische Handeln Jesu in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen175. Alle Kriterien der Frage nach Jesus 175 Zu erwähnen ist auch das Zeugnis des Josephus,
Ant 18,63f, das in seinem Kern historisch sein dürfte (vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus [s. o. 3], 74–82) und Jesus auch als Wundertäter erwähnt: „. . . Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Menschen . . .“;
bemerkenswert ist ferner, „dass die innerjüdische Wirkungsgeschichte aufs engste mit Jesu Wundern verknüpft ist – enger jedenfalls als jedwege Verkündigungsaussage Jesu!“ (M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, 424).
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 105
(s. o. 3.1.2) lassen nur den Schluss zu, dass Jesus vor allem in den Dörfern rund um den See Genezareth als einflussreicher Heiler auftrat, von der überwiegend armen Bevölkerung verehrt wurde und Nachfolger um sich scharte.
3.6.1
Das kulturgeschichtliche Umfeld
Wunderheiler sind (nicht nur) in der Antike ein allgemeines kulturgeschichtliches Phänomen. Das Auftreten Jesu vollzieht sich im Kontext von jüdischen und hellenistischen Wundermännern176. In den Qumrantexten finden sich im Zusammenhang einer ausgeprägten Geisterlehre deutliche Hinweise auf magisch-pharmakologische Praktiken und auf Beschwörungsriten zur Dämonenabwehr177. „Da sich die auf Dämonenaustreibungen hindeutenden Befunde aus Qumran der Herkunft nach als überwiegend nicht-essenisch erwiesen, sind die dort implizierten Heilpraktiken über die Qumrangemeinde hinaus für weitere Teile des zeitgenössischen Judentums repräsentativ.“178 In der frührabbinischen Überlieferung sind Choni der Kreiszieher und Rabbi Chanina ben Dosa von besonderer Bedeutung. Choni (1. Jh. v.Chr.) bewirkte durch das Ziehen eines magischen Kreises Regenwunder und wird sowohl in der rabbinischen Überlieferung als auch bei Josephus (Ant 14,22–24) erwähnt179. Chanina ben Dosa trat wie Jesus im 1. Jh. der Zeitenwende in Galiläa auf und wirkte offenbar vor allem als Wunderheiler (speziell als Gesundbeter), aber auch zahlreiche andere Wundertaten werden ihm zugeschrieben (Fernheilungen, Macht über Dämonen)180. Zudem überliefert das Mischnatraktat Aboth drei Aussprüche Chanina ben Dosas, die ihn „as a warm-hearted lover of men, a true Chasid“181 darstellen. Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass die beiden bedeutendsten jüdischen Wundertäter des 1. Jh. in Galiläa auftraten. Die klimatischen und kulturellen Besonderheiten dieses Landes begünstigten offenbar die außerordentlichen Ereignisse, die in seinen Grenzen geschahen. Als eine eigenständige Erscheinung sind die jüdischen Zeichenpropheten des 1. Jh. n.Chr. zu werten182. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des jüdischen
176 Vgl. hierzu die Darstellung bei B. KOLLMANN, Jesus
und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 61–118 (Hellenismus); 118–173 (antikes Judentum). 177 Zu nennen ist vor allem 4Q 510,4f: „und ich, der Weise, proklamiere die Majestät seiner Schönheit, um in Furcht und Schrecken zu versetzen alle Geister der Zerstörungsengel und die Geister der Bastarde, die Dämonen, Lilith . . .“(zitiert nach B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter [s. o. 3.6], 136). 178 B. KOLLMANN, a. a. O., 137. 179 Vgl. hierzu M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s. o. 3.6), 290–337.
180 Ausführliche Darstellung und Analyse aller wichtigen Texte bei M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s. o. 3.6), 337–378. Becker, a. a. O., 377, wertet z.R. die Texte, in denen Chanina als ‚Sohn Gottes‘ bezeichnet wird, als Reflex auf christliche Traditionen. 181 G. VERMES, Hanina ben Dosa, in: ders., Post-Biblical Jewish Studies, SJLA 8, Leiden 1975, (178–214) 197. 182 Vgl. P. BARNETT, The Jewish Sign Prophets – A. D. 40–47. Their Intentions and Origin, NTS 27 (1981) 679–697.
106 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Krieges traten nach Josephus in Palästina immer wieder Zeichenpropheten auf, die durch Endzeitwunder ihre (politischen) Ansprüche legitimieren wollten. Ein Prophet aus Samaria verhieß um 35 n.Chr. seinen Anhängern, dass er die verschollenen Tempelgeräte auf dem Garizim finden werde (Jos, Ant 18,85–87). Daraufhin ergriffen die Samaritaner die Waffen, um auf den heiligen Berg zu ziehen. Kurz nach 44 n.Chr. kündigte Theudas die Spaltung des Jordans an (Ant 20,97–99), was eine Wiederholung des von Josua und Elia überlieferten Jordanwunders gewesen wäre (vgl. Jos 3; 2Kön 2,8). Der Prokurator Fadus ließ Theudas enthaupten und tötete zahlreiche seiner Anhänger. Unter dem Prokurator Felix (52–60 n.Chr.) trat ein anonymer Prophet auf, der Wunder und Zeichen in der Wüste und damit einen neuen Exodus ankündigte (Ant 20,167–168; Bell 2,259). Ein aus Ägypten stammender Prophet führte seine Anhänger zum Ölberg und verhieß, dass die Mauern Jerusalems auf seinen Befehl hin zusammenbrechen würden (Ant 20,168–172; Bell 2,261–263; vgl. Apg 21,38). Wiederum griffen die Römer ein und töteten zahlreiche seiner Anhänger. Kennzeichnend für die Zeichenpropheten ist eine Kombination aus eschatologischen und politisch-sozialen Motiven: Die Wunder des Anfangs wiederholen sich in der Endzeit und sind als Beglaubigungszeichen die Initialzündung für weitere Ereignisse in der einsetzenden Heilszeit, zu denen auch die Befreiung des Hauses Israel von den Römern zählte. Jesus wurde von Gegnern nach Apg 5,36 als ein solcher Zeichenprophet verstanden und der Prozess der Römer gegen Jesus zeigt, dass sie Jesus von Nazareth dieser Kategorie zuordneten (s. u. 3.10.1). Aus dem weiten Feld hellenistischer Wunderheiler/Wundertäter ist der neupythagoräische Wanderphilosoph Apollonius von Tyana von besonderer Bedeutung (gest. um 96/97 n.Chr.), dessen Biographie Anfang des 3. Jh. von Philostrat niedergeschrieben wurde183. Hinter zahlreichen legendären Ausschmückungen wird eine Gestalt sichtbar, die in abgeklärter philosophischer Souveränität über zahlreiche Fertigkeiten in allen damaligen Wissenschaftsgebieten verfügt, Demonstrations-, aber auch Heilungswunder vollbringt, Menschen vor vielfältigen Gefahren rettet und mit den Herrschenden der Zeit immer wieder in Konflikt gerät. Auffallend ist, dass sich nicht nur zu fast allen Heilungen und Wundern Jesu bei Apollonius Vergleichbares findet184, sondern auch ihr Anfang (wunderbare Geburt) und ihr Ende (Auferstehung und Erscheinungen) Parallelen bieten, so dass Jesus von Nazareth und Apollonius von Tyana durchaus als Parallelgestalten angesehen werden können185.
183 Vgl. hierzu E. KOSKENNIEMI, Apollonius von Tyana in der neutestamentlichen Exegese, WUNT 2.61, Tübingen 1994. 184 Eine Auflistung der vergleichbaren Texte findet sich bei G. PETZKE, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament, SCHNT 1, Leiden 1970, 124–134; vgl. auch die umfangreiche Ma-
terialsammlung in: G. LUCK, Magie und andere Geheimlehren in der Antike, Stuttgart 1990. 185 An einer Stelle ist christlicher Einfluss auf die Apollonius-Überlieferung offensichtlich, denn die Erzählung über die Wiederbelebung einer jungen Frau in Rom (Philostr, Vit Ap IV 45) dürfte sich Lk 7,11–17 verdanken.
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 107
3.6.2
Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu
Die Exorzismen bilden das Zentrum des heilenden Wirkens Jesu186. Sie finden sich in allen Überlieferungsschichten, in der Logien- und der Erzähltradition, lassen zumeist kein nachösterliches Interesse erkennen und können in das Gesamtwirken Jesu eingeordnet werden187. Zudem zeigt die Beelzebul-Kontroverse188, dass wahrscheinlich schon zu Jesu Lebzeiten eine Kontroverse über die Herkunft seiner heilenden Fähigkeiten ausbrach: „Er hat den Beelzebul, und: Durch den Fürsten der Dämonen treibt er die Dämonen aus“ (Mk 3,22b). Jesus antwortet auf diesen Vorwurf mit einem Weisheitswort, wonach das Reich des Satans keinen Bestand haben kann, wenn es in sich gespalten ist. Sein eigenes erfolgreiches exorzistisches Wirken weist jedoch auf etwas ganz anderes hin: „Niemand kann aber in das Haus des Starken eindringen und seine Habe rauben, wenn er nicht zuvor den Starken gefesselt hat; dann erst wird er sein Haus ausrauben“ (Mk 3,27; vgl. Mt 9,34). Die grundsätzliche Entmachtung des Satans und die dadurch ermöglichte Wiederherstellung schöpfungsgemäßen Lebens war offensichtlich das Zentrum der Wirklichkeitserfahrung Jesu, die durch die Exorzismen zugleich hergerufen und bestätigt wurde. Darauf weisen neben Mk 3,27 vor allem die Vision Jesu in Lk 10,18 („Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“)189, die Verbindung zwischen den Exorzismen und dem hereinbrechenden Reich Gottes in Q 11,20 und die Bitte im Vaterunser um die Befreiung vom Bösen (Mt 6,13b) hin. Der Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen war der zentrale Inhalt der Lehre und des Handelns Jesu190. Er teilt damit Überzeugungen im antiken Judentum, wonach die Entmachtung des Teufels und seiner Dämonen ein Kennzeichen der hereinbrechenden Endzeit ist (vgl. AssMos 10,1: „Und dann wird seine [sc. Gottes] Herrschaft über seine
186 Darüber besteht in der gegenwärtigen Forschung
Konsens; vgl. nur D. TRUNK, Der messianische Heiler (s. o. 3.6), 428f; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 306 f. 187 Eine Analyse aller Texte findet sich bei B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 174–215. 188 Zur ausführlichen Analyse vgl. D. TRUNK, Der messianische Heiler (s. o. 3.6), 40–93. 189 Die Bedeutung von Lk 10,18 ist in der Exegese umstritten; speziell S. VOLLENWEIDER, „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18), ZNW 79 (1988), 187–203; H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 43 („Jesus bringt nicht die Basileia, sondern die Basileia bringt Jesus mit sich. Deshalb ist Jesus nicht ein Faktor im Kampf um die eschatologische Wende, vielmehr stellt sein Leben die Feier dieser Wende dar“), bestreiten, dass die Kampfmetaphorik für Jesu Verkündigung und
Wirken typisch sei. Gegen eine solche prinzipielle Argumentation sprechen nicht nur zahlreiche Einzeltexte (so macht z. B. die Bitte um die Befreiung vom Bösen in Mt 6,13b nur Sinn, wenn das Böse noch Macht auszuüben vermag), sondern vor allem der dynamische Reich-Gottes-Begriff, der die grundsätzliche, nicht aber die bereits gänzlich erfolgte Vernichtung des Satans voraussetzt. Zur Bedeutung von Lk 10,18 vgl. u. a. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 68–72; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 211–233; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 191–195; M. THEOBALD, „Ich sah den Satan aus dem Himmel stürzen“. Überlieferungskritische Beobachtungen zu Lk 10,18–20, BZ 49 (2005), 174–190; T. ONUKI, Jesus (s. o. 3), 48 f. 190 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus (s. o. 3.5), 15.
108 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweg genommen sein“; ferner TDan 5,10–13;TLev 18,12; Jes 24,21f; Jub 10,1.5; 1QS 3,24f; 4,20–22; 1QM 1,10 u. ö.). Die eigentliche Opposition zum Kommen des Reiches Gottes ist bei Jesus die Herrschaft des Satans. Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesreiches191 werden Menschen nun von den sie unterjochenden Mächten des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt (vgl. Q 7,22f). Speziell die Exorzismen zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse (vgl. Lk 13,16: „Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan seit 18 Jahren in seinen Banden hält, sollte am Sabbat nicht von ihrer Fessel befreit werden dürfen?“)192. Die Erzählung von der Rückkehr eines unreinen Geistes (Q 11,24–26) zeigt, wie sehr Jesus innerhalb geläufiger exorzistischer Anschauungen lebte. Im Exorzismus ereignet sich ein Kampfgeschehen. Jesus überwindet mit gebräuchlichen Techniken (Bedrohung des Dämons, Namenserfragung, Ausfahrwort, Rückkehrverbot) vor allem Krankheitsgeister und befreit u. a. von Epilepsie (Mk 1,23–28; 9,14– 29) und Manie (Mk 5,1–20)193. Auf die enge Verbindung zwischen Exorzismen und Heilungen/Therapien verweist Lk 13,32b: „Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen“. In den Therapien findet kein Kampf statt, sondern im Mittelpunkt steht die Übertragung heilender Kraft auf den Kranken194. Krankheit erscheint hier als ein Mangel an Lebenskraft, als Schwäche bis hin zur Todesnähe, der mit einer positiven Gegenkraft begegnet wird. Die Übertragung dieser Gegenkraft kann in verschiedener Weise stattfinden: In Mk 5,25–34 (Heilung einer blutflüssigen Frau) wird die heilende Kraft ohne Wissen Jesu aktiviert. In Mk 1,29–31 (Heilung der Schwiegermutter des Petrus) hat eine Berührung heilende Wirkung und beim Aussätzigen (Mk 1,40–45) vollbringen eine Berührung und ein wunderwirkendes Wort die Heilung. Heilpraktiken (z. B. Speichel, wunderwirkendes Wort) werden in Mk 7,31–37 (Heilung eines Taubstummen) und Mk 8,22–26 (Blindenheilung) geschildert. Bei der Heilung des blinden Barthimäus (Mk 10,46–52) steht das Glaubensmotiv im Mittelpunkt. Fernhei191 Vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschich-
ten (s. o. 3.6), 277: „Jesus versteht seine Wunder selbst als Ereignisse, die auf etwas Nie-Dagewesenes hinzielen.“ 192 Lk 13,11–13 ist eine Exorzismuserzählung (V. 11: „. . .eine Frau hatte seit 18 Jahren einen Geist, der sie krank machte. . .“), die sekundär zu einer Sabbatheilung wurde (vgl. V. 14). 193 CHR. STRECKER, Jesus und die Besessenen, in: W. Stegemann/B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3), 53–63, wendet sich
z.R. gegen psychologische Erklärungsmuster ntl. Krankheitsbilder, die Rationalisierungen und Pathologisierungen vornehmen, um sie so unserer Wirklichkeit einzuverleiben. Er bestimmt die Exorzismen Jesu als performative rituelle Akte, mit denen „die Identität des Besessenen neu konstituiert, die Platzordnung in der sozialen Arena neu geregelt und die kosmische Ordnung neu etabliert wird“ (a. a. O., 60). 194 Zur Analyse der Texte vgl. B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 215 ff.
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 109
lungen werden in Mk 7,24–30 (Syrophönizierin) und in Mt 8,5–10.13 (Hauptmann v. Kapernaum) geschildert; beide Überlieferungen dürften als ältesten Kern die Erinnerung an die Heilung eines heidnisches Kindes durch Jesus bewahrt haben. Nicht nur die Erzähl-, sondern auch die Wortüberlieferung bezeugt Jesu Wirken als Heiler. Der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f setzt es voraus: „Blinde sehen wieder, und Gelähmte gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören. Tote werden auferweckt, und Armen wird die Frohbotschaft verkündigt. Und selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt.“ Eine beachtliche Parallele besitzt dieser Text in 4Q 521, wo ebenfalls die göttlichen Taten des Gesalbten zur Errichtung des Endheils aufgezählt werden195: Die Befreiung der Gefangenen, die Aufhebung von Blindheit und die Aufrichtung der Niedergedrückten (vgl. Jes 42,7); weiter heißt es: „Gott wird die Kranken heilen, die Toten auferwecken und den Elenden frohe Botschaft verkündigen.“ Auch Q 10,23f („Selig die Augen, die sehen, was ihr seht . . . Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wünschten zu sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und hören, was ihr hört, und hörten es nicht") zeigt, dass die Gegenwart von Jesus als die Zeit der Heilswende angesehen wurde. Normenwunder begegnen in der Jesusüberlieferung im Zusammenhang der Sünden- und Sabbatproblematik und haben die Funktion196, eine neue Praxis zu begründen. In Mk 2,23–28; 3,1–6 nimmt Jesus den jüdischen Grundsatz auf, dass Notlagen die Suspendierung der Sabbatgebote erlauben, weitet ihn aber zugleich aus; in Mk 2,1–12 beansprucht er die nur Gott zustehende Vollmacht, Sünden zu vergeben. Alle drei Texte sind in ihrer vorliegenden Gestalt nachösterlich redigiert, die Kernlogien gehen aber auf Jesus zurück (Mk 2,10 f.27; 3,4f) und auch die Situierung in Konflikten mit den Pharisäern und Schriftgelehrten dürfte historisch zutreffend sein. Während die Exorzismen, Heilungen und Normenwunder sehr wahrscheinlich im Wirken Jesu verankert sind, stellen sich bei den sogen. Naturwundern (Geschenkwunder: Mk 6,30–44par; 8,1–10par; Rettungswunder: Mk 4,35–41; Epiphanien: Mk 6,45– 52par) zahlreiche überlieferungsgeschichtliche Fragen197. Bei den Speisungserzählungen sprechen der Bezug auf 2Kön 2,42–44, die eucharistischen Anklänge, die Doppeltraditionen und die Steigerung des Wunderhaften deutlich für nachösterlichen Ursprung. Die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen, die atl. Anklänge und die starken christologischen Motive lassen auch den Seewandel und die Sturmstillung als nachösterliche Bildungen erscheinen. Totenauferweckungen durch Jesus (vgl. Mk 5,22–24.35–43; Lk 7,11–17) werden einerseits von der frühen Tradition vorausgesetzt (vgl. Q 7,22f), andererseits dürften sie dennoch nachösterliche Bildungen sein, denn sie variieren Jesu Auferstehung.
195 Vgl. dazu J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus
197 Vgl. dazu die Argumentation bei B. KOLLMANN, Je-
Qumran, WUNT 2.104, Tübingen 1998, 343–389. 196 Zur Unterscheidung von Therapien und Normenwunder vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (s. o. 3.6), 94 ff.
sus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 271–280 (dort auch Analyse der hier nicht angeführten Texte).
110 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.6.3
Jesus von Nazareth als Heiler
Eine Wundertätigkeit Jesu im Sinn von wunderbaren Heilungen und Exorzismen ist historisch nicht bestreitbar198. Ihre theologische Interpretation muss drei Besonderheiten beachten: 1) Die Verbindung von Wunder und Eschatologie bei Jesus (vgl. Q 11,20) ist religionsgeschichtlich einzigartig, d. h. die Exorzismen und Heilungen sind eingebettet in eine eschatologisch-theozentrische Gesamtsicht. Mit der grundsätzlichen Entmachtung des Satans (vgl. Mk 3,27; Lk 10,18) gewinnt das Reich Gottes Raum. 2) Auch die Betonung des Glaubensmotivs in der ntl. Wunderüberlieferung ist singulär, es erscheint in der Wort- (Mk 11,22f) und Erzählüberlieferung (Mk 9,23f; 10,52a). Das unbedingte Vertrauen des Kranken zu Jesus und zu sich selbst gehören zusammen und entwickeln ungeahnte Kräfte. 3) Nicht nur die eschatologische Perspektive, sondern auch die schöpfungstheologische Dimension der Exorzismen und Heilungen verdeutlichen, dass die Wundertaten in den Gesamtzusammenhang des Wirkens Jesu gehören. Die Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft vollzieht sich in Gleichnissen, der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in der Ethik und Gesetzesauslegung Jesu und in seinen Exorzismen und Heilungen. Gerade sie haben eine schöpfungstheologische Dimension; sie zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse. In Jesu Heiltätigkeit zeigt sich ein ganzheitliches Menschenbild, denn der Mensch wird gleichermaßen als geistiges, seelisches, körperliches und soziales Wesen gesehen. Krankheiten hatten in der Antike in der Regel eine soziale Ausgrenzung zur Folge199, so dass Jesu Heilungen auch eine Reintegration in die Gemeinschaft gewähren. All dies unterscheidet Jesus von Nazareth von Magiern, denn seine Heilungen setzen eine personale Verbindung voraus, kommen mit minimalen Praktiken aus und zielen auf soziale Stabilität und Vertrauen/Glauben200. Für seine Heilungen nahm Jesus im Gegensatz zu anderen kein Geld (vgl. Mk 5,26) und unterschied nicht zwischen Arm und Reich (vgl. Q 7,3.8). Zudem lehnte er Demonstrationswunder ab (vgl. Mk 8,11fpar) und vollbrachte keine Strafwunder201.
198 Vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschich-
ten (s. o. 3.6), 274; H. WEDER, Wunder Jesu und Wundergeschichten (s. o. 3.6), 28; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 306f 199 So führten Besessenheit und Aussatz zum Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft; Blindheit oder Bewegungsstörungen hatten zumeist Erwerbsunfähigkeit und damit unausweichlich Verarmung und Bettelei zur Folge. 200 Gegen J.D. CROSSAN, Der historische Jesus (s. o. 3), 198–236, der Jesus als sozialrevolutionären Magier darstellt. M. SMITH, Jesus der Magier (s.o. 3.6),
240ff, meint, Jesus habe nicht nur magische Praktiken und Riten vollzogen, sondern auch magische Lehren verbreitet und über ein magisches Selbstverständnis verfügt; vgl. dazu J.-A. BÜHNER, Jesus und die antike Magie. Bemerkungen zu M. Smith, Jesus der Magier, EvTh 43 (1983) 156–175; M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s. o. 3.6), 425–430. 201 Mk 11,12–14.20f (die Verfluchung des Feigenbaums) dürfte nachösterlich sein; vgl. B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 275 f.
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos 111
Die Einsicht in den konstruktiven Charakter und damit auch die Relativität und den ständigen Wandel neuzeitlicher Weltbilder öffnen den Blick neu für Gottes schöpferisches Handeln in all seinen Dimensionen. Die Fixierung und Reduzierung auf die Frage nach der Faktizität von ‚Wundern‘ versperrte lange Zeit den Blick für die Mehrdimensionalität des heilenden Wirkens Jesu. Es ist vollständig eingebunden in sein gesamtes Wirken in Wort und Tat und macht Gottes heilendes Kommen in seinem Reich augenfällig und an Leib und Seele erfahrbar.
3.7
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos
E. BRANDENBURGER, Art. Gericht III, TRE 12 (1984), 469f; M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA 23, Münster 1990; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 58–99; H.-J. KLAUCK (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung, QD 150, Freiburg 1994; W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu, BZNW 82, Berlin 1996; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 320–368; CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS 23.653, Frankfurt 1999; M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 355–392.
Gottes endzeitliches Handeln vollzieht sich nach dem Zeugnis des Alten Testaments als richtendes Handeln zum Heil oder Unheil202. Die Gerichtsvorstellung gehörte zu den weltanschaulichen Grundbeständen des Alten Testaments/der Schriften des antiken Judentums203 und Johannes d. T. stellte den Unheilsaspekt in das Zentrum seiner uns überlieferten Botschaft (s. o. 3.2.1). So verwundert es nicht, dass sich unter den Jesus-Traditionen auch die Vorstellung findet, Gott wirke zum Unheil. Theologisch ist die Gerichtsvorstellung mit einer starken Betonung des Unheils ambivalent. Sie entspringt häufig den Allmachtsphantasien jener Gruppen, die sie als Ausgleich ihrer gegenwärtigen Erfolglosigkeit, Unfähigkeit oder Unterdrückung bildeten: Gott soll durch sein Unheilsgericht in der Zukunft die Gerechtigkeit wiederherstellen. Ein solcher Wunsch mag verständlich sein, eine Begründung für die erbetene Vernichtung von Leben durch Gott ist er nicht. Allerdings geht die Gerichtsvorstellung in einer solchen eher negativen Bestimmung nicht auf (s. u. 6.8.3). Positiv bringt sie zum Ausdruck, dass sich Gott nicht gleichgültig zum Leben eines Menschen und zur Geschichte insgesamt verhält. Würde das endzeitliche Handeln Gottes als Retten/Verurteilen durch Richten entfallen, dann blieben die Taten eines Men4
202 Vgl. B. JANOWSKI, Art. Gericht, RGG 3, Tübingen
2000, 733: „Gott ‚rettet‘, indem er ‚richtet‘, d. h. das Unrecht ahndet und das Böse nicht straffrei ausgehen lässt . . . Im Horizont der konnektiven Gerechtigkeit sind ‚Richten‘ und ‚Retten‘ Handlungskorrelate und das Gericht Gottes die theologische Antwort auf
die Frage nach der letztinstanzlichen Grundlage gerechten Lebens und Handelns.“ 203 Vgl. z. B. äthHen 50–56; eine Analyse relevanter Texte findet sich bei M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, 9–152.
112 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
schen unbeurteilt und mehrdeutig. Das Unrecht würde über das Recht triumphieren, das Böse bzw. Negative würde das letzte Wort behalten. Gerade als Schöpfer zeigt sich Gott in seinem richtenden Handeln für seine Schöpfung verantwortlich.
3.7.1
Jesus als Repräsentant des Gerichts Gottes
Wie der Täufer nimmt auch Jesus von Nazareth die geläufige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf, sondern sieht ganz Israel vom Unheil bedroht. Das Unheil über Israel
Jesu Heilsbotschaft richtet sich an ein Israel, das seine göttlichen Bundeszusagen verbraucht hat und dessen Erwählung zur Anklage wird. Das bezeugt das Doppelwort von den getöteten Galiläern und erschlagenen Jerusalemern (Lk 13,1–5): „. . . Meint ihr (etwa), sie seien vor allen Galiläern Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen! Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete, meint ihr (etwa), sie seien vor allen Bewohnern Jerusalems Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen!“ Jesus entschränkt bewusst zwei Einzelereignisse aus einem isolierten Tun-Ergehen-Zusammenhang und stellt die Ereignisse in einen theologischen Horizont. Die Geschehnisse werden so zu einem Menetekel für ganz Israel, über das ebenso unerwartet und schrecklich das Unheil kommen wird, wenn es nicht umkehrt. Umkehr bedeutet für Jesus Zuwendung zu seiner Botschaft, Umkehr ist Hinwendung zu ihm. Dieser besondere Anspruch wird auch in Q 11,31f sichtbar204: „Die Königin des Südens wird beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferweckt werden, und sie wird sie verurteilen . . . Die Männer von Ninive werden beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferstehen, und sie werden sie verurteilen . . .“ Jesus weist ‚diesem Geschlecht‘, d. h. ganz Israel als einheitlichem Gegenüber einen Schuldspruch im Gericht zu, es sei denn, sie kehren um und nehmen seine Botschaft an. Die Weherufe über die galiläischen Städte205 in Q 10,13–15 zeigen eine deutliche Verwandtschaft mit dem Königin des Südens/Ninive-Wort und sind nicht minder provokativ: „Wehe dir, Chorazim! Wehe dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, längst wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Doch Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen im Gericht als euch. Und du, Kapernaum, wirst du etwa zum Himmel erhöht werden? Zum Totenreich wirst du hinabstürzen.“ Den heidnischen Städten Sidon und Tyrus 204 Analyse bei M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (s. o. 3.7), 192–206; CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.7), 287–300.
205 Vgl. dazu CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung
Jesu (s. o. 3.7), 301–333.
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos 113
galten zahlreiche atl. Gerichtsworte (vgl. Jes 23,1–4.12; Jer 25,22; 47,4; Ez 27,8; 28,21f; Joel 4,4); Jesus knüpft daran an und verfremdet geläufige Vorstellungen: Das Unheil wendet sich nicht gegen die Heiden, sondern gegen Israel. Kriterium ist das Verhalten gegenüber Jesu Wundertaten, die das Hereinbrechen des Reiches Gottes und damit auch Jesu Anspruch bezeugen. Über Kapernaum als Hauptort des Wirkens Jesu ist unter diesen Aspekten das Urteil bereits gefällt. Ähnlich drohenden Charakter haben das Völkerwallfahrtslogion Q 13,29.28 und die Parabel vom großen Gastmahl Lk 14,15–24/Mt 22,1–10 (s. o. 3.4.5), in denen ebenfalls die geläufige Vorrangsstellung Israels verworfen wird. Schließlich macht die endzeitliche Richterfunktion der Zwölf in Q 22,28.30 deutlich, dass die Stellung zu Jesus über das Ergehen im Gericht entscheidet. Das Unheil über den Einzelnen
Der zweite große Bereich der Unheilsaussagen Jesu betrifft den einzelnen Menschen. Er steht im Hintergrund von Mt 7,1f („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet . . .“), denn das kommende Gericht durch Gott ist die Motivation für das geforderte Verhalten. Eine große Schärfe gewinnt das Gerichtsmotiv in Q 17,34f: „Ich sage euch, zwei Männer werden auf dem Acker sein; einer wird mitgenommen und einer wird zurückgelassen. Zwei Frauen werden an einer Mühle mahlen, eine wird mitgenommen und eine wird zurückgelassen.“ Jesu Aussagen sind apodiktisch und provozierend, das Unheilsgericht ist unberechenbar, jeden kann es treffen und es gibt keine Begründung für den doppelten Gerichtsausgang : Die einen werden gerettet, die anderen verworfen. Die überraschende Gefährlichkeit des Unheils ist auch Thema der Parabel vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–20)206. Der Bauer handelt aus seiner Perspektive vernünftig („Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen und dort all mein Getreide und meine Früchte sammeln. Dann will ich zu meiner Seele sagen: Seele, du hast viele Güter lagern auf viele Jahre. Ruhe dich aus, iss, trink, sei fröhlich!“), jedoch vergisst er bei seinen Selbstreflexionen Gott! Gott fordert im Schlusswort („Du Narr, diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern! Was du jedoch bereitet hast, wem wird es gehören?“) genau diese Relation ein – zum Gericht des Mannes; Gottvergessenheit führt zum Lebensverlust. In völlig anderer Weise wird das Unheilsgericht in der Parabel vom klugen Verwalter in Lk 16,1–8a zum Thema207. Die Erzählung weist Elemente eines Kriminalfalles und einer Komödie auf, der Erzähler verleitet die Hörer dazu, dem Schicksal des Verwalters und seinem energisch sich selbst rettenden Handeln zu folgen. In einer lebensbedrohlichen Situation unternimmt der Verwalter alles, um sich die Zukunft zu
206 Ausführliche Analyse bei B. HEININGER, Metaphorik, Erzählstruktur und szenisch-dramatische Gestaltung in den Sondergleichnissen bei Lukas, NTA 24, Münster 1991, 107–121.
207 Textabgrenzung und Interpretation bei H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s. o. 3.5), 135 f.
114 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
erhalten. Sein rechtlich unmoralisches Verhalten wird nicht bewertet. Vielmehr kommt für den Menschen alles auf die Erkenntnis an, dass angesichts der Botschaft Jesu und ihrer Folgen ein entschlossenes, schnelles und kluges Handeln gefordert ist, um so sein Leben ebenso wie der Verwalter vor dem Abgrund zu retten. Wie sehr es auf das Handeln des Menschen angesichts des nahenden Unheils ankommt, illustriert die Doppelparabel vom Hausbau in Q 6,47–49208. Wie der Hausbauer durch vorhersehende Planung eine Katastrophe verhindert, so kann man dem drohenden Unheil durch Klugheit entgehen, nämlich durch das Tun der Worte Jesu. Die Zeichen der Zeit zu erkennen wird auch in Q 17,26–28 gefordert. Jesus erinnert seine Zeitgenossen daran, wie das Geschlecht z. Zt. des Noah und wie die Zeitgenossen des Lot in Sodom und Gomorrha ganz plötzlich mit dem göttlichen Unheilsgericht bestraft wurden. Die Unausweichlichkeit und die Unerbittlichkeit des Unheils steht hier im Mittelpunkt, denn Noahs und Lots Rettung werden nicht beschrieben. Auffallend ist, dass vom unmoralischen Verhalten des Sintflutgeschlechts und der Bewohner von Sodom und Gomorrha nichts erwähnt wird. Israels Verlorenheit misst sich nicht an moralischen Werten, sondern an seinem Verhalten gegenüber Jesus. Dies steht auch im Gleichnis von den spielenden Kindern Q 7,31–34 im Mittelpunkt209: Die Ablehnung des Täufers und Jesu durch Israel wird unter Aufnahme volkstümlicher Motive210 in unaufdringlicher Schärfe herausgestellt. Die Pointe des Bildes (V. 32b: „Wir spielten euch mit der Flöte auf, und ihr habt nicht getanzt, wir stimmten Klagelieder an, und ihr habt nicht geweint“) besteht darin, dass die Angeredeten keinerlei Anstalten machten, auf die Aufforderungen und Angebote des Täufers und Jesu einzugehen. Sie greifen zu Vorwänden (V. 33f: „Denn Johannes kam, er aß und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“), um sich nicht der neuen Situation stellen zu müssen. Die Ablehnung des Menschensohnes führt unausweichlich zum Unheilsgericht. Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes
Alle bisherigen Texte haben deutlich gezeigt, dass Jesus das Verhalten gegenüber seiner Person und seiner Botschaft zum Kriterium im kommenden Gerichtsgeschehen erhob: Wer seine Botschaft annimmt, empfängt im Gericht das Heil; wer sie ablehnt, verfällt dem Unheil211. Nachdrücklich artikuliert sich dieser Anspruch in Q 12,8f: „Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Men-
208 Zur Zurückführung auf Jesus vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 536. 209 Vgl. dazu CHR. RINIKER Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.7), 361–391. 210 Im (weiteren) Hintergrund dürfte Aesops Fabel
(11) von den Fischen stehen, die auf das Flötenspiel des Fischers hin nicht tanzten. 211 Vgl. M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s. o. 3.7), 387.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 115
schensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden.“212 Innerhalb einer Gerichtsverhandlung ist es allein der Menschensohn, der als letzte Instanz belohnt oder bestraft, d. h. Jesus (s. u. 3.9.2) fungiert hier (wie in anderen Texten) keineswegs nur als Zeuge, sondern als Richter. In Jesu Unheilsbotschaft liegt eine unübersehbare personale Zuspitzung vor; das Unheil erfolgt dort, wo Jesus abgelehnt wird. Jesus nimmt für sich nicht nur in Anspruch, das Gericht Gottes anzukündigen oder durchzuführen, sondern er selbst ist das Gericht; an seiner Person entscheiden sich Heil und Unheil213. Jesus ignoriert die Sonderstellung Israels unter den Völkern, greift die Heils- und Erwählungsgewissheit scharf an und bindet die vorausgesetzte Schuld an die Haltung gegenüber seiner Person; Umkehr ist Hinwendung zu Jesus. Die Unheilsbotschaft erweist sich damit als ein grundlegender Bestandteil des gesamten Wirkens Jesu 214. Sie lässt sich nicht weltanschaulich eliminieren215, denn die Funktion der Unheilsansagen besteht darin, die Zeichen der Zeit zu erkennen, wachzurütteln und zur Entscheidung zu drängen: Das von Jesus repräsentierte Kommen des einen Gottes in seinem Reich kann nicht folgenlos bleiben, deshalb ist das Unheil die notwendige Negativseite seiner Heilsverkündigung. Wer den Heilscharakter der Basileia-Botschaft betont, darf den Unheilscharakter ihrer Ablehnung nicht verschweigen.
3.8
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten
K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu, WMANT 40, Neukirchen 1972; H. HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Göttingen 21986; M. HENGEL, Jesus und die Tora, ThBeitr 9 (1978), 152–172; U. LUZ, Jesus und die Tora, EvErz 34 (1982), 111–124; P. FIEDLER, Die Tora bei Jesus und in der Jesusüberlieferung, in: K. Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, QD 108, Freiburg 1986, 71–87; I. BROER (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992; D. KOSCH, Die eschatologische Tora des Menschensohnes, NTOA 12, Fribourg/Göttingen 1989; J. BECKER, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 337–387; I. BROER, Jesus und die Tora, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazareth – Spuren und Konturen (s. o. 3), 216–254.
Das Verhältnis Jesu zur Tora gehört nicht zufällig zu den umstrittensten Themen ntl. Theologie. Hier verbinden sich exegetische Einschätzungen mit politischen, kulturellen und religiösen Einstellungen (persönliches Verhältnis zum Judentum, Geschichte des Judentums im 20. Jh., christlich-jüdisches Gespräch) und führen zu hochemotio212 Analyse bei CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.7), 333–351; anders W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht (s. o. 3.7), 266–274 213 Vgl. M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (s. o. 3.7), 301f; CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.7), 457 ff. 214 Vgl. W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht (s. o. 3.7), 311–316: „Für den historischen Jesus ge-
hörten Herrschaft Gottes und Endgericht untrennbar zusammen “ (a. a. O., 316). 215 Klassisch A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums (s. o. 3.4.5), 41f, wonach Jesus die Vorstellungen vom Teufel und Gericht wohl mit seinen Zeitgenossen geteilt habe; dies sei aber nur die äußerliche, entbehrliche Schale, der Kern hingegen die Anschauung vom Reich Gottes.
116 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
nalen Positionen. Während in der älteren Exegese das Bedürfnis vorherrschte, Jesus dem Judentum gegenüberzustellen oder ihn zumindest innerhalb des Judentums herauszustellen216, dominiert in der neueren Exegese der Wunsch, Jesus möglichst nahtlos in die Vielgestaltigkeit des Judentums einzupassen217. Beide Strategien sind tendenziös, denn sie halten nicht die Spannung aus, Jesus innerhalb des Judentums zu interpretieren und zugleich aufzuzeigen, wie es zu den Konflikten Jesu mit jüdischen Gruppen/Autoritäten und zu seiner Wirkungsgeschichte innerhalb des sich formierenden frühen Christentums kam.
3.8.1
Gesetzestheologien im antiken Judentum
Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer Frage218. Allerdings gab es immer differente Auslegungen der Tora und damit auch verschiedene Gesetzestheologien219. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang die Herausbildung der Pharisäer, Sadduzäer und Essener im weiteren Kontext der makkabäischen Erhebung (vgl. 1Makk 2,15–28)220. Josephus sieht im Traditionsverständnis die Eigenart der Pharisäer 221 und zugleich den wichtigsten Unterschei-
216 Vgl. R. BULTMANN, Jesus (s. o. 3), 60 („Leicht ist
der Gehorsam, für den Jesus eintritt, deshalb, weil er den Menschen von der Abhängigkeit von einer formalen Autorität befreit“); E. KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus (s. o. 3), 206 („Er ist wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre“); G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 71 („Aber nicht minder deutlich ist, daß durch Jesu Wort und Verhalten der Wahn der unveräußerlichen, gleichsam einklagbaren Privilegien Israels und seiner Väter gleichsam in der Wurzel angegriffen und erschüttert ist“); L. GOPPELT, Theologie I, 148 („daß Jesus tatsächlich das Judentum von der Wurzel her durch Neues aufhebt“). 217 Vgl. z. B. E. P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 319: „In fact, we cannot say that a single one of the things known about Jesus is unique: neither his miracles, non-violence, eschatological hope or promise to the outcasts.“ Diese Position ist natürlich nicht neu, sondern bereits am Beginn der historischkritischen Methode stellte H. S. REIMARUS fest, dass Jesus gerade nicht gekommen sei, um gegenüber dem Judentum neue Lehren zu bringen: „Uebrigens war er ein gebohrner Jude und wollte es auch bleiben: er bezeuget er sey nicht kommen das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfuellen“ (Von dem Zwecke
Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778, 19f). Vgl. ferner A. SCHWEITZER, Geschichte der paulinischen Forschung, Tübingen 1911, VIII: „Ist die am Schlusse meiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung entwickelte Auffassung richtig, so ragt die Lehre Jesu in keiner Anschauung aus der jüdischen in eine nichtjüdische Welt hinein, sondern stellt nur eine tief ethische und vollendete Fassung der zeitgenössischen Apokalyptik dar.“ 218 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Tora vgl. F. CRÜSEMANN, Die Tora, Gütersloh 1992; zum Judentum z.Zt. Jesu vgl. den Überblick bei J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 255–311. 219 Einen Überblick vermittelt H. LICHTENBERGER, Das Tora-Verständnis im Judentum zur Zeit des Paulus, in: J. D. G. Dunn (Hg.), Paul and the Mosaic Law, WUNT 89, Tübingen 1996, 7–23. 220 Vgl. hierzu die kritische Bestandsaufnahme bei G. STEMBERGER, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991; immer noch lesenswert ist: G. BAUMBACH, Jesus von Nazareth im Lichte der jüdischen Gruppenbildung, Berlin 1971. 221 Zur Geschichte und den grundlegenden theologischen Anschauungen der Pharisäer vgl. R. DEINES, Art. Pharisäer, TBLNT II, 1455–1468.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 117
dungspunkt zu den Sadduzäern: „Jetzt möchte ich nur deutlich machen, daß die Pharisäer dem Volk Bestimmungen (no´mima) aus der Nachfolge der Väter (ek pate´rwn diadocv˜ß) weitergegeben haben, die nicht in den Gesetzen des Mose aufgeschrieben sind, und deswegen verwerfen sie die Gruppe der Sadduzäer, die sagt, daß man sich nur an jene Bestimmungen halten soll, die geschrieben sind, die aus der Überlieferung der Väter aber nicht beachten soll“ (Ant 13,297). Inhalt der Paradosis dürften in neutestamentlicher Zeit Reinheitsvorschriften (vgl. Mk 7,1–8.14–23; Röm 14,14), Regelungen des Zehnten (vgl. Mt 23,23) und besondere Formen von Gelübden (vgl. Mk 7,9–13) gewesen sein. Nach Jos, Vita 191, standen die Pharisäer hinsichtlich der väterlichen Gesetze in dem Ruf, „sich von den anderen durch genaue Kenntnis zu unterscheiden“ (tw˜n allwn akribeı´a diafe´rein). Sie waren frommer als die anderen „und beachteten die Gesetze gewissenhafter“ (kai` tou`ß no´mouß akribe´steran afvgeı˜shai)222. Ziel der pharisäischen Bewegung war die Heiligung des Alltags durch eine umfassende Gesetzesbeobachtung, wobei der Einhaltung der rituellen Reinheitsvorschriften auch außerhalb des Tempels eine besondere Bedeutung zukam. Deshalb wurde die Tora teilweise fortgeschrieben, um den vielfältigen Alltagssituationen gerecht zu werden (vgl. z. B. Arist 139ff; Jos, Ant 4,198; Mk 2,23f; 7,4). Bedeutsam war die Abspaltung einer radikalen Richtung innerhalb der Pharisäer, die sich selbst im Anschluss an Pinhas (Num 25) und Elia (1Kön 19,9f) Zeloten (oı zvlwtaı´ = „die Eiferer“) nannten. Diese Gruppe bildete sich 6 n.Chr. unter Führung des Galiläers Judas von Gamala und des Pharisäers Zadduk (vgl. Jos, Ant 18,3ff). Die Zeloten zeichneten sich durch eine Verschärfung des ersten Dekaloggebotes, strenge Sabbatpraxis und eine rigorose Einhaltung der Reinheitsgebote aus223. Sie strebten eine radikale Theokratie an und lehnten die römische Herrschaft über das jüdische Volk aus religiösen Gründen ab. Über das Toraverständnis der Sadduzäer lassen sich nur vage Aussagen machen; sie lehnten die Sondertraditionen der Pharisäer ebenso ab wie die Auferstehung von den Toten und Engellehren (vgl. Mk 12,18–27; Apg 23,6–8). Die Konzentration auf die schriftliche Tora schloss bei ihnen eine strengere Haltung bei Rechtsfragen als bei den Pharisäern mit ein (vgl. Jos, Ant 18,294; 20,199)224. Die Essener vertraten vor allem nach dem Zeugnis der in Qumran gefundenen Schriften ebenfalls ein sehr strenges Toraverständnis225 und nahmen für sich ein besonderes Wissen um die wahre Auslegung und Bedeutung der Tora in Anspruch: „Aber mit denen, die an den Geboten Gottes festhielten, die von ihnen übrig waren, hat Gott seinen Bund für Israel aufgerichtet für immer, um ihnen verborgene Dinge zu offenbaren, worin ganz Israel in die Irre gegangen war: seine heiligen Sabbate und seine herrlichen Festzei-
222 Josephus, Bell 1,110; vgl. ferner Bell 2,162; Ant 17,41. 223 Zum Gesetzesverständnis der Zeloten vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, AGSU 1, Leiden 21976, 154– 234.
224 Vgl. dazu insgesamt O. SCHWANKL, Die Sadduzäer-
frage (Mk 12,18–27par), BBB 66, Bonn 1987. 225 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johan-
nes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2.1), 279 ff.
118 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
ten, seine gerechten Zeugnisse und die Wege seiner Wahrheit und die Wünsche seines Willens – die der Mensch erfüllen muss, damit er durch sie lebe – hat er ihnen aufgetan“ (CD III 12–16; vgl. VI 3–11). Diese besonderen Einsichten betrafen vor allem Kalender- und Sabbatfragen, hinzu kamen zahlreiche Einzelvorschriften für das Leben in der Gemeinschaft. Zudem lassen gerade die in Qumran aufgefundenen Texte erkennen, dass die Tora und ihre Auslegung keine abgeschlossenen Größen waren226; so gibt z. B. die Tempelrolle Pentateuchtexte nicht nur in sprachlich stilisierter Form und neuer Anordnung wieder, sondern sie enthält auch neue Gebote ohne Anhalt am Pentateuch. Während die Essener strikt alles Heil an das Dasein im Heiligen Land banden, stellte sich für das hellenistische Judentum in der Diaspora die Situation völlig anders dar. Im Kontext der allgegenwärtigen hellenistischen Kultur musste sich das Judentum öffnen, um seine Identität wahren zu können. Die Tora erfuhr innerhalb dieser Entwicklung gleichzeitig eine Universalisierung und Ethisierung, indem sie zur Schöpferweisheit und Lebensordnung wurde227. Der Mensch entspricht der Tora als dem universalen Sittengesetz, weil seine Befolgung zu einem Leben in Vernunft, Harmonie und Frieden mit Gott, den Menschen und sich selbst führt. So wird die Tora in ihrer Konzentration auf wenige Gebote zu einer Form der Tugendlehre, die in hellenistischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden kann. Bedeutsam ist das Gesetzesverständnis Philos, bei dem die Sinai-Tora, die Schöpfungstora und das Naturgesetz zu einer Einheit verschmelzen228. Auf den atl. Schöpfergott gehen nach Philo sowohl die fu´siß als Weltprinzip als auch die Tora zurück, so dass beide zusammengedacht werden müssen. Weil Weltschöpfung und Gesetzgebung „im Anfang“ zusammenfallen, ist das Naturgesetz ebenso göttlichen Ursprungs wie die Tora: „Dieser Anfang ist höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetz als auch das Gesetz mit der Welt in Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird“ (Op 3). Die schriftliche Sinaitora ist ihrem Wesen nach viel älter, denn sowohl Mose als das ‚lebende Gesetz‘229 als auch die Vorstellung von no´moß agrafoß („ungeschriebenes Gesetz“; vgl. Abr 3–6) erlauben es Philo, über den Gedanken einer protologischen Schöpfungstora die zeitliche und damit auch
226 Darauf verweist K. MÜLLER, Beobachtungen zum Verhältnis von Tora und Halacha in frühjüdischen Quellen, in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz (s. o. 3. 8), 105–134. 227 Umfassende Darstellung bei A. NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum (s.o. 3.5.3), 219ff; R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum, ARGU 10, Frankfurt 2000. 228 Vgl. dazu R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von
Alexandrien und Flavius Josephus, ARGU 11, Frankfurt 2001. 229 Vgl. Philo, VitMos I 162: „Vielleicht aber war er, da er auch zum Gesetzgeber bestimmt war, schon lange vorher in seiner Persönlichkeit als das mit Seele und Vernunft begabte Gesetz geschaffen worden, die ihn, ohne dass er davon wußte, später zum Gesetzgeber ausersah.“
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 119
sachliche Kontinuität des Handelns Gottes zu betonen. Durchgängig interpretiert Philo die Einzelgesetze als Ausformungen der Zehn Gebote, die wiederum mit dem Naturgesetz verwoben sind. Über den Gedanken der Sittlichkeit vollzieht Philo durch die Ethisierung des Naturgesetzes und der Einzelgesetze der Tora einen großen Synthetisierungsversuch von jüdischem und griechisch-hellenistischem Denken. Ein weiteres Beispiel für die Vielgestaltigkeit jüdischen Gesetzesverständnisses sind die bei Philo erwähnten Allegoristen (Migr 89–93). Sie gaben den Gesetzen einen symbolischen Sinn und vernachlässigen die wortwörtliche Befolgung. Im Rahmen der Kritik an dieser Position erwähnt Philo auch die Beschneidung, die von den Allegoristen offenbar nur noch als symbolischer Akt aufgefasst wurde: „Auch weil die Beschneidung darauf hinweist, dass wir alle Lust und Begierde aus uns ‚herausschneiden‘ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen, als ob der Nus aus sich heraus Eigenes zu zeugen verstände, dürfen wir nicht das über sie gegebene Gesetz aufheben“ (Migr 92)230. In der jüdischen Apokalyptik fungiert die Tora vor allem als Gottes Gerichtsnorm; ein radikaler Gesetzesgehorsam verbindet sich mit der Hoffnung auf Gottes zukünftiges Heil, das den gegenwärtigen Verhängniszustand ablösen wird231. Bedeutsam ist schließlich der geographisch/klimatische Raum des Wirkens Jesu, denn Konstruktion von Wirklichkeit vollzieht sich immer in geographischen und sozialen Räumen, die unausweichlich das Denken mitbestimmen232. Jesus trat fast ausschließlich um den See Genezareth233 herum auf, den ein mediterranes Klima auszeichnet und der eine Lebensart ermöglichte, die vor allem im Gegenüber zu den gebirgigen Regionen Israels als leicht und angenehm zu bezeichnen ist. Galiläa war z.Zt. Jesu keineswegs unjüdisch, hatte aber zweifellos ein eigenes kulturelles und religiöses Profil234. Es ist kaum vorstellbar, dass Jesus die (im Neuen Testament nicht erwähnten) hellenistisch geprägten Städte Sepphoris235 und Tiberias nicht kannte, 230 Obwohl Philo die Position der Allegoristen nicht teilt, steht er ihr inhaltlich nicht sehr fern, wie Quaest in Ex II 2 zeigt: „Proselyt ist nicht der an der Vorhaut Beschnittene, sondern der (Beschnittene) an den Lüsten und Begierden und anderen Leidenschaften der Seele. Denn in Ägypten war das hebräische Volk nicht beschnitten (ou perite´hvto) und lebte, obwohl bedrängt mit vielen Bedrängnissen der bei den Einheimischen gegenüber Fremden üblichen Grausamkeit, doch in Beharrlichkeit und Standhaftigkeit . . . ." 231 Vgl. hierzu H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik, SUNT 23, Göttingen 1999. 232 Vgl. H. MOXNES, The Construction of Galilee as a Place for the Historical Jesus, BTB 31 (2001), 26– 37.64–77. 233 Vgl. G. FASSBECK u. a. (Hg.), Leben am See Genne-
saret, Mainz 2003. 234 Einführungen und Übersichten bieten: W. BÖSEN,
Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Freiburg 1985; E. M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, ZNT 1 (1998), 27–39; S. FREYNE, Jesus, a Jewish Galilean, London 2005; R. HOPPE, Galiläa – Geschichte, Kultur, Religion, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazareth (s. o. 3), 42–58; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 77–102. Man wird damit rechnen können, dass Jesus die griechische Sprache (zumindest passiv) nutzen konnte; vgl. ST. PORTER, Jesus and the Use of Greek in Galilee, in: B. Chilton/C.A. Evans (Hg.), Studying the Historical Jesus (s. o. 3), 123– 154. 235 Eine persönliche Anmerkung: Wer einmal von Nazareth in das ca. 6km entfernte Sepphoris gewandert ist, kann sich beim besten Willen nicht vorstel-
120 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
zumal städtisches Milieu in Q 12,58f vorausgesetzt ist (vgl. auch Mt 6,2.5.16; Mk 7,6; Lk 13,15; Lk 19,11ff)236. Das Zusammentreffen und Zusammenleben mit Nichtjuden gehörte in Galiläa sicherlich zum Alltag, und anders als in Jerusalem dürften die Probleme der rituellen Reinheit großzügiger gehandhabt worden sein. Zudem fehlten mit der geringen Präsenz von Pharisäern die motivierenden Kontrollinstanzen. Wenn Jesus den Hauptmann von Kapernaum als Glaubensvorbild für Israel hinstellt (Mt 8,10b/Lk 7,9b), dann illustriert er dadurch seine über den bloßen Kontakt hinausgehende positive theologische Bewertung einzelner Heiden. Jesu Offenheit gegenüber Nichtjuden und seine Distanz gegenüber einer diskriminierenden Torapraxis dürfte auch mit seinem galiläischen Wirkraum zusammenhängen.
3.8.2
Jesu Stellung zur Tora
Wie zeichnet sich Jesus von Nazareth in diese Vielgestaltigkeit jüdischer Gesetzestheologie ein? Ein zentraler Text zur Beantwortung dieser Fragen sind die Antithesen der Bergpredigt (s. o. 3.5.2). Die antithetischen Formulierungen sind innerhalb des antiken Judentums in dieser Form neu, es gibt dafür keine exakten Parallelen237. Das entscheidende theologische Problem ist, wer/was mit dieser Redeform in welchem Sinn interpretiert/kritisiert wird. Die Passivform erre´hv („es wurde gesagt“) dürfte sich auf das Sprechen Gottes in der Schrift beziehen, die „Antithesenformeln stellen also das Wort Jesu der Bibel selbst gegenüber.“238 Damit befindet sich Jesus selbst innerhalb der unabgeschlossenen Torainterpretation des Judentums, zumal die Antithesen mit Ausnahme des absoluten Gebotes der Feindesliebe nichts formulieren, was nicht auch (mehr oder weniger) Parallelen im Judentum hat239. Entscheidend ist aber der mit dem emphatischen „ich aber sage euch“ verbundene Anspruch: Jesus leitet seine Autorität nicht aus der Schrift ab, sondern sie liegt in dem, was er sagt. „Die Bibel wird durch die Antithesen nicht ausgelegt, sondern weitergeführt und überboten.“240 Verständlich wird dieser Anspruch nur auf dem Hintergrund von Jesu Gottesreichbotschaft: Mit dem Anbruch des Gottesreiches setzt sich eine neue Realität durch. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, endgültig, radikal proklamiert241. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht; er leitet
len, dass Jesus dort nicht gewesen sein soll. 236 Vgl. E.M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, 32: „Somit erscheint es sinnvoll anzunehmen, daß Jesu galiläische Wirksamkeit kaum Sepphoris und Tiberias ausgelassen haben wird.“ 237 Vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 327 f. 238 U. LUZ, a. a. O., 330. 239 Die Einbettung der Antithesen in jüdisches Denken betonen D. SÄNGER, Schriftauslegung im Hori-
zont der Gottesherrschaft, (s. o. 3.4), 79–102; K.W. NIEBUHR, Die Antithesen des Matthäus. Jesus als Toralehrer und die frühjüdische weisheitliche Torarezeption, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), hg. v. Chr. Kähler u. a., Leipzig 1999, 175–200. 240 U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 331. 241 M. HENGEL, Jesus und die Tora (s. o. 3.8), 171, bezeichnet Jesus als Bringer einer ganz neuen Tora, „der einerseits aus der traditionellen Tora heraus,
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 121
ihn nicht aus dem Alten Testament ab, sondern der von Jesus im Anbruch des Gottesreiches proklamierte Gotteswille ist die letzte Autorität. Jesus hebt damit nicht die Tora auf, er denkt und argumentiert aber auch nicht von der Tora her, was einer faktischen Relativierung der Tora entspricht. Rein und unrein
Ähnliches lässt sich für Jesus in seiner Haltung zu rituellen Fragen feststellen. Schon das Jesuswort „ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder“ (Mk 2,17) zeigt, dass Jesus die Gerechtigkeit, und damit den Anspruch des Gesetzes, zwar nicht bestreitet, aber dem Gesetz nicht die Macht zuschreibt, gegenwärtig den Zugang zu Gott zu bestimmen. Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit, aber Gott liebt nicht nur die Gerechten. Gottes Liebe, die Jesus in der Ankunft des Gottesreiches verkündigt, überbietet die früher Israel geschenkte Liebe in Gestalt der Tora. Eine Berührung mit einem Aussätzigen, die in Mk 1,41 beiläufig berichtet wird, verunreinigt in höchstem Maße. Ähnliches gilt für die Heilung der Blutflüssigen (Mk 5,25– 34) oder der Begegnung mit der Syrophönizierin (Mk 7,24–30). Jesus hatte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes zu allen Menschen, insbesondere auch den religiös Deklassierten, darauf hin, dass religionsgesetzliche Ordnungen, die in Israel im Namen Gottes galten, obsolet wurden. Auch Mk 7,15 ist in diesem Kontext zu verstehen; hier verbinden sich die für Jesus charakteristische schöpfungstheologische Argumentation mit seiner eschatologischen Grundperspektive. Von Beginn der Schöpfung an bestand die Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ nicht, sondern erst in Gen 7,2 erfolgt unvermittelt die Trennung von reinen und unreinen Tieren. Die Reinheitsvorschriften als Legitimation religiöser Ab- und Ausgrenzung haben für Jesus ihre Bedeutung verloren, weil für ihn die Unreinheit aus einer anderen Quelle kommt: „Nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineinkommt, kann ihn verunreinigen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen“ (Mk 7,15). Für die Authentizität242 von Mk 7,15 sprechen die Form des antithetischen Parallelismus, die Möglichkeit der Rückübersetzung, die isolierte Stellung im unmittelbaren Kontext, die Varianten in Mk 7,18b.20, die Aufnahme von Mk 7,15 in Röm 14,14 als Herren-
zugleich aber auch in einem gewissen Gegensatz zu ihr und erst recht zu ihrer zeitgenössischen Auslegung, als der Erfüller von Gesetz und Propheten den wahren, ursprünglichen Gotteswillen für die anbrechende Gottesherrschaft entfaltet.“ 242 Exemplarische Analysen mit unterschiedlicher Argumentation, aber mit dem Votum der Authentizität, finden sich bei W. G. KÜMMEL, Äußere und in-
nere Reinheit des Menschen bei Jesus, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte II, hg. v. E. Grässer/ O. Merk, Marburg 1978, 117–129; J.-W. TAEGER, Der grundsätzliche oder ungrundsätzliche Unterschied, in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz (s. o. 3.8), (13–35) 23–34; G. THEISSEN, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen, in: ders., Jesus als historische Gestalt (s. o. 3), 73–89.
122 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
wort und schließlich die unableitbare Neuheit243. Ist schon die konkrete Stoßrichtung dieses Wortes nicht mehr sicher auszumachen, so sind sein Sinn und seine Bedeutung heftig umstritten. Der ursprüngliche Sinn von Mk 7,15 dürfte im Gegensatz zum markinischen Verständnis kaum auf den rituellen Bereich einzuschränken sein, denn ta` ek tou˜ anhrw´pou ekporeuo´mena („was aus dem Menschen herauskommt“) in V. 15b lässt eine derartige Engführung schwerlich zu. Damit können nicht nur rituell verunreinigende Speisen gemeint sein, sondern Jesus umschreibt mit diesen Worten, dass alles aus dem Menschen Kommende, Gedanken wie Taten, ihn vor Gott unrein machen kann244. Jesus lässt den Gedanken der Unreinheit vor Gott formal zwar nicht fallen, aber er verneint, dass eine solche Unreinheit in irgendeiner Form von außen auf den Menschen zukommen kann. Dies bedeutet eine faktische Relativierung der Reinheitsgesetze Lev 11–15. Jesus stellt sich damit auch in einen Gegensatz zu den Pharisäern, Sadduzäern und Qumran-Essenern, für die kultisch-rituelle Normen trotz einer z. T. unterschiedlichen Praxis von essentieller Bedeutung waren, denn sie fungierten nicht nur als sichtbares Unterscheidungsmerkmal zu den Heiden und den religiös Gleichgültigen des eigenen Volkes, sondern waren Ausdruck ihres Toragehorsams und der immerwährenden Gültigkeit des durch Mose überlieferten Gotteswortes245. Mk 7,15 ist also in einem exklusiven Sinn zu verstehen246 und hat eine die Tora faktisch relativierende Bedeutung, keinesfalls handelt es sich nur um eine Vorordnung des Liebesgebotes gegenüber den Reinheitsvorschriften247. Bereits Paulus verstand dieses Jesuswort in einem torakritischen Sinn (Röm 14,14)248, und auch bei Jesus selbst finden sich Parallelen. Neben seinem Umgang mit kultisch Unreinen, seiner Pharisäerkritik (vgl. Lk 11,39–41; Mt 23,25) und den Sabbatheilungen ist hier vor allem Q 10,7 zu nennen, wo Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede aufträgt, alles zu essen und zu trinken, was man ihnen vorsetzt. So wie angesichts
243 Eine wirkliche Parallele zu Mk 7,15 gibt es m.E. nicht; nahe kommt Philo, Op 119. 244 Vgl. W. G. KÜMMEL, Äußere und innere Reinheit, 122. 245 Vgl. für die Pharisäer J. NEUSNER, Die pharisäischen rechtlichen Überlieferungen (s. o. 3.4.5), 43– 51; zur Position der Sadduzäer vgl. E. SCHÜRER, Geschichte des jüdischen Volkes II, Leipzig 41907, 482f; für Qumran vgl. H.-W. KUHN, Jesus vor dem Hintergrund der Qumrangemeinde, in: Grenzgänge (FS D. Aschoff), hg. v. F. Siegert, Münster 2002, (50–60) 53: „Der Gegensatz zwischen dem rigorosen Toraverständnis, wie es in den Qumrantexten entgegentritt, und Jesu Verhalten gegenüber der Tora, insbesondere hinsichtlich des Sabbat und der Fragen von rein und unrein, ist unübersehbar.“ 246 Vgl. M. HENGEL, Jesus und die Tora (s. o. 3.8), 164, zu Mk 7,15: „Wir stoßen hier auf einen grund-
sätzlichen Bruch Jesu mit dem palästinensischen Judentum seiner Zeit, der dann in der frühesten Gemeinde weiterwirkt und zu erbitterten Auseinandersetzungen führt.“ 247 So aber z. B. U. LUZ, Jesus und die Pharisäer, Jud 38 (1982), (229–246), 242f; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 96; CHR. BURCHARD, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 47. 248 H. RÄISÄNEN, Jesus and the Food Laws, JNST 16 (1982), (79–100) 89ff, sieht hinter Mk 7,15 nicht den irdischen Jesus, sondern „an ‚emancipated‘ Jewish Christian group engaged in Gentile mission“ (90); ähnlich die Argumentation bei E. P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 266 f. Beide können wohl einige Argumente gegen die Authentizität von Mk 7,15 nennen, andererseits die Hauptargumente für die Ursprünglichkeit von Mk 7,15 nicht entkräften.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 123
des kommenden Reiches Gottes die Gegenwart keine Zeit des Fastens ist (vgl. Mk 2,18b.19a; Mt 11,18f/Lk 7,33f), so haben auch die Speisegesetze ihre Bedeutung für das Verhältnis des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander verloren. Die vom Schöpfer gewollte Reinheit des Menschen lässt sich nicht instrumentalisieren, vielmehr betrifft sie die ganze Existenz des Menschen. Die Geschöpflichkeit des Menschen kommt nicht in der religiösen bzw. sozialen Separation zum Ziel, sondern in der wahrhaftigen Annahme des vom Schöpfer geschenkten Lebens. Der Sabbat
In dieselbe Richtung weisen die Sabbatheilungen, die ebenfalls auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen; so das Jesuswort Mk 2,27, wonach der Sabbat um des Menschen willen, nicht aber der Mensch um des Sabbats willen geschaffen wurde249. In Mk 2,27 verweist insbesondere ege´neto („es ist geschaffen“) auf den Schöpferwillen Gottes zurück. Die Sabbatheiligung dient dem Menschen, indem sie ihn von der Geschäftigkeit des Alltags und damit auch von sich selbst wegreißt, um Zeit für die alles entscheidende Gottesbeziehung zu schaffen. Bereits in der priesterlichen Schöpfungsgeschichte erscheint der 7. Tag als von Gott qualifizierte Zeit, die dem Menschen hilft, sich in Zeit und Geschichte zu orientieren (Gen 2,2f). Diese dienende Funktion des Sabbats ging in der Geschichte des nachexilischen Judentums teilweise verloren250. Zwar wurde der Sabbat zum Zentrum des Toraverständnisses, zugleich aber verschob sich die Qualifizierung der Zeit zu einem statischen Gegenüber von Sabbat und Mensch. In einigen Bereichen der Sabbathalacha musste sich der Mensch dem Sabbat und seinen Anforderungen unterordnen. So heißt es in CD 11,16f innerhalb einer Sabbathalacha: „Einen lebendigen Menschen, der in ein Wasserloch fällt oder sonst in einen Ort, soll niemand heraufholen mit einer Leiter oder einem Strick oder einem (anderen) Gegenstand“ (vgl. ferner Jub 2,25–33; 50,6ff; CD 10,14–12,22; Philo, VitMos II 22). Jesus durchbricht diese Umkehrungen und demonstriert durch seine Sabbatheilungen die ursprüngliche Bedeutung dieses Tages: Er verhilft zum Leben (vgl. Lk 13,10–17) und ermöglicht dem Menschen, seiner eigentlichen Bestimmung nachzukommen: dem Schöpfer zu begegnen. Auch in Mk 3,4 geht es Jesus um den ursprünglichen Gotteswillen in Bezug auf den Sabbat („Ist
249 Zur Analyse von Mk 2,23–28 vgl. L. DOERING,
Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 409–432. Auf Jesus führen Mk 2,27 u. a. zurück: E. LOHSE, Jesu Worte über den Sabbat, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen 21973, (62–72) 68; J. ROLOFF, Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 2 1973, 52ff; H.-W. KUHN, Ältere Sammlungen im Markusevangelium (s.u. 8.2), 75; J. GNILKA, Mk I (s.u. 8.2), 123; D. LÜHRMANN, Markus (s.u. 8.2), 64f;
H. HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition (s.o. 3.8), 121; V. HAMPEL, Menschensohn und historischer Jesus (s.u. 3.9.2), 199ff; L. DOERING, Schabbat, 423 f. 250 Vgl. hierzu E. LOHSE, Art. sa´bbaton, ThWNT 7, Stuttgart 1964 (1–31) 5f; die Vielschichtigkeit jüdischer Sabbathalacha (Elephantine, Jubiläenbuch, Qumran, Diaspora, Josephus, Pharisäer, Sadduzäer, frühe Tannaiten) betont L. DOERING, Schabbat, 23– 536.
124 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, ein Leben zu retten oder zu töten?“)251. Der Sabbat soll dem Guten dienen, und dies besteht in der Erhaltung und Rettung des Lebens. Gott will dem Menschen in einem umfassenden Sinn Heil schaffen, und dieser radikalen Hinwendung zu den Menschen ist auch der Sabbat unterzuordnen. Das Gute zu unterlassen, stellt aus der Sicht Jesu keine neutrale Haltung dar, sondern es bedeutet, das Böse zu tun, zu töten. Gottes Ja zum Menschen, seine Sorge um und für ihn, steht über den Geboten. Eine Auslegung der Gebote Gottes, die das nicht berücksichtigt, verfehlt den Sinn der göttlichen Willenskundgebung. Deshalb kann der Sabbat durch das Tun des Guten nicht entweiht werden. Das Zurücktreten des Verzehntungsgebotes (vgl. Lev 27,30) in Mt 23,23a-c weist in dieselbe Richtung: Der Zehnte war speziell für die galiläische Unter- und Mittelschicht eine schwer zu tragende wirtschaftliche Belastung, so dass Jesus hier eine deutlich andere Position einnimmt als die Pharisäer (vgl. Lk 18,12)252. Dezentrierung der Tora
Für die Beurteilung der Stellung Jesu zur Tora sind drei Beobachtungen ausschlaggebend: 1) Die Tora und ihre strittigen Auslegungen sind nicht das Zentrum des Wirkens und der Verkündigung Jesu253. Die neue Wirklichkeit des Kommens Gottes in seinem Reich bestimmt auch sein Verhältnis zur Tora (vgl. Q 16,16); im Auftreten Jesu bricht das wahrhaft Neue an (Mk 2,21f: „Niemand flickt einen neuen Lappen auf ein altes Kleid, sonst reißt das Flickstück heraus, das neue vom alten, und der Riss wird schlimmer. Und niemand füllt einen neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der Wein die Schläuche zerreißen, und der Wein kommt um samt den Schläuchen“). 2) Innerhalb der Stellungnahmen Jesu zur Tora und ihrer Auslegung dürfte die Unterscheidung zwischen einer Toraverschärfung im ethischen Bereich und einer Toraentschärfung bei rituellen Fragen zutreffend sein254. 3) Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Jesus die Tora aufheben oder einer grundsätzlichen Kritik unterziehen wollte. Zugleich muss aber noch einmal unterstrichen werden, dass er nicht von der Tora, sondern vom Reich Gottes her denkt. Weil sich Gottes end- und urzeitlicher Wille entsprechen 255, verbinden sich bei Jesus Eschatologie und Protologie und führen zu einer Dezentrierung der Tora. Diese Dezentrierung ist nicht einfach mit einer Ablehnung oder Abschaffung gleichzusetzen, aber für Jesus war die Liebe Gottes in seinem Reich und nicht mehr das Geschenk der Tora die offene Tür, durch die jeder zu Gott kommen 251 Zur Analyse von Mk 3,1–6 vgl. L. DOERING, Schab-
bat, 441–457. Mk 3,4 halten u. a. für jesuanisch: H. HÜBNER, Gesetz in der synoptischen Tradition, 129; J. ROLOFF, Kerygma, 63f; J. GNILKA, Mk I (s.u. 8.2), 126; E. LOHSE, Jesu Worte, 67; L. DOERING, Schabbat, 423 ff. 252 Die Verzehntung gehört zum Kern der protorabbinischen Überlieferung; vgl. J. NEUSNER, Die phari-
säischen rechtlichen Überlieferungen (s. o. 3.4.5), 47. 253 Vgl. J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 353; D. SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 105. 254 Vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 321–332. 255 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus (s. o. 3.5.2), 11 ff.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 125
konnte. Eine solche Interpretation des Gesetzes bei Jesus verbleibt innerhalb des Judentums, erklärt die Konflikte mit anderen jüdischen Gruppen (vgl. Mk 2,1–3,6; 12,13–17; Lk 7,36–50; 8,9–14; Mt 23,23) und lässt verstehen, warum wahrscheinlich schon sehr früh innerhalb des sich formierenden frühen Christentums Gesetzeskritik mit Berufung auf Jesus formuliert wurde.
3.8.3
Jesus, Israel und die Heiden
Ein mehrschichtiger Befund zeigt sich auch im Verhältnis Jesu zu Israel und den Heiden. Jesus wusste sich grundsätzlich zu Israel gesandt (vgl. Mk 7,27), er sah sich vom Gott Israels beauftragt, seinem Volk das Gottesreich zu verkünden. Der Zwölferkreis
Sichtbarer Ausdruck dafür ist die Einsetzung des Zwölferkreises. Für die Historizität des Zwölferkreises spricht vor allem, dass die nachösterliche Gemeinde kaum zu der Aussage gekommen wäre, Judas als ein Mitglied des engsten Jüngerkreises habe Jesus verraten (vgl. Mk 14,10.43par), wenn dies nicht geschichtliche Tatsache wäre256. Der Zwölferkreis wird in der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,5 genannt, wonach Christus „dem Kephas erschien, dann den Zwölfen.“ Die ‚Zwölf‘ sind hier eine feste Institution, obwohl Judas nicht mehr dazugehört und Petrus eigens erwähnt wird. Außerdem hat der Zwölferkreis nachösterlich keine erkennbare geschichtliche Rolle mehr gespielt; viel wichtiger werden die durch eine Erscheinung des Auferstandenen berufenen Apostel; erst in späterer Zeit, bei Markus, Matthäus und Lukas und in der Johannesoffenbarung findet sich die Identifizierung der Zwölf mit den Aposteln. Der Zwölferkreis dürfte in die vorösterliche Zeit zurückreichen und seine Bedeutung erschließt sich vor allem aus Q 22,28.30: „Ihr, die ihr mir gefolgt seid, werdet auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“ Der Zwölferkreis hatte offenbar die Funktion, das Zwölfstämmevolk Israel zu repräsentieren. Wiederum verbinden sich bei Jesus Proto- und Eschatologie, denn das Volk Israel zur Zeit Jesu war nicht das Zwölfstämmevolk, d. h. der Zwölferkreis repräsentierte das ganze Volk Israel in seiner ursprünglichen und zugleich eschatologischen Gestalt. Der Zwölferkreis ist als Vorwegnahme der eschatologischen Ganzheit Israels zu verstehen, gleichsam in Analogie zum Gottesreich, das in Jesus jetzt schon verborgen anfängt. Der Zwölferkreis entspricht somit dem Gegenwartsaspekt des Gottesreichs, er signalisiert bereits den Anfang der von Gott zu schaffenden Ganzheit Israels. In diesem Sinn kann man sagen: Jesu Perspektive war das eschatologische Israel und er verstand seine Sendung als Auftakt zu seiner Neuschöpfung durch Gott. 256 Vgl. dazu B. RIGAUX, Die „Zwölf“ in Geschichte
und Kerygma, in: H. Ristow/K. Matthiae (Hg.), Der
historische Jesus und der kerygmatische Christus (s. o. 3), 468–486.
126 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Israel und die Heiden
Inhaltlich steckt in Jesu Auslegung des Anfangs des Gottesreiches als schrankenloser Liebe Gottes gerade zu den Benachteiligten und Deklassierten auch die Tendenz, die Grenzen Israels auszuweiten. Menschen, die aus jüdischer Perspektive gesehen Randfiguren Israels sind, werden integriert. So wird der Zöllner Zachäus auch als ein Sohn Abrahams bezeichnet (Lk 19,9) und die Samaritaner werden von Jesus mit den Juden gleichgestellt (vgl. Lk 10,30ff)257. Ein Zeichen für Jesu Offenheit sind auch die gelegentlichen positiven Kontakte mit Heiden: Die Überlieferungen vom Hauptmann von Kapernaum und von der syrophönizischen Frau (Mt 8,5–10.13; Mk 7,24–30) haben einen authentischen Kern258 und bezeugen eine punktuelle Offenheit Jesu gegenüber Heiden. Sie zeigt sich auch in der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24) und in dem prophetischen Drohwort Q 13,29.28. Die Parabel vom Gastmahl illustriert, dass Gott seinen Heilswillen in unerwarteter Weise vollziehen kann, denn die ursprünglich Geladenen werden nicht am großen Fest teilnehmen. In ähnlicher Weise greift Jesus das Motiv der Völkerwallfahrt259 auf, es dient gerade nicht zur Bestätigung der Verheißungen an Israel, sondern die Reihenfolge kehrt sich um. Das Motiv des endzeitlichen Gottesvolkes wurde im antiken Judentum im wesentlichen in zweifacher Weise thematisiert: Die Erweiterung des Gottesvolkes konnte für die Endzeit erwartet werden, wenn die Völker nach Jerusalem/zum Zion strömen, um den wahren Gott anzubeten (vgl. äthHen 90; TestXII). Auf der anderen Seite gab es starke Strömungen, die eine strikte Abgrenzung bis hin zur Bekämpfung der Heiden forderten (Qumran, PsSal)260. Auffallend ist nun, dass Jesus das erste Motiv umkehrt und das zweite gar nicht erwähnt. In der jüdischen Überlieferung ist die Opposition Israels gegen die Heiden fest mit dem Gedanken der Gottesherrschaft verbunden, so dass Jesus diese Vorstellung bekannt gewesen sein muss. Anders als z. B. die Zeloten thematisiert er sie aber nicht, denn er sah in der politischen und ökonomischen Notlage seines Volkes, die er nach dem Zeugnis der Seligpreisungen keineswegs übersehen hat, nur die Außenseite eines viel tiefer gehenden Problems. Wie Johannes der Täufer dürfte Jesus von der Prämisse ausgegangen sein, dass Israel, so wie es sich vorfindet, vom Gericht Gottes bedroht ist und von sich aus kein Anrecht mehr besitzt, frühere Heilszusagen Gottes für sich in Anspruch zu nehmen (vgl. Mt 3,7–10; Lk 13,3.5). Jesus nahm diesen Gedanken offensichtlich so ernst, dass er es vermied, mit Hilfe der traditionellen Opposition von Israel und Heiden ein Heilsrecht Israels vorzuschreiben
257 In Spannung dazu steht Mt 10,5b („Geht nicht auf den Weg zu den Heiden, und in eine Stadt der Samaritaner geht nicht hinein“); Jesu Offenheit zumindest gegenüber den Samaritanern (vgl. Lk 9,51– 56; 10,30–35; 17,11–19; Joh 4) spricht für die Vermutung, dass dieses Logion nicht auf Jesus, sondern auf QMt zurückgeht; vgl. U. LUZ, Mt II (s.u. 8.3), 90.
258 Gründe nennt G. THEISSEN, Lokalkolorit und Zeit-
geschichte in den Evangelien, NTOA 8, Fribourg/ Göttingen 1989, 63–84.237 f. 259 Vgl. hierzu J. JEREMIAS, Jesu Verheißung für die Völker, Stuttgart 1956, 47–62. 260 Analyse der relevanten Texte bei W. KRAUS, Das Volk Gottes (s.u. 6.7), 45–95.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 127
und das eschatologische Heil einfach als Befreiung aus der Knechtschaft der Heiden zu beschreiben. Er legt die Gegenwart des Heils als Besiegung des Satans aus, der als Ankläger Israels und der Heiden erscheint. Die Einzigkeit Gottes erweist sich als Besiegung Satans, in dessen Knechtschaft sich Israel und die Heiden gleichermaßen befinden (vgl. Mk 3,27; Lk 11,20). Unter dieser Prämisse war es für ihn sinnlos, in herkömmlicher Weise von den Heiden als den Opponenten der Gottesherrschaft zu sprechen. Wenn Jesus am Gedanken der Wiederherstellung der politischen Selbständigkeit des Volkes Israel völlig uninteressiert war, dann zeigt sich darin nicht ein Desinteresse an politischen Fragen überhaupt, wohl aber ein bestimmtes Israelverständnis: Die Wiederherstellung der politischen Souveränität des Volkes und des davidischen Königtums als politische und vor allem religiöse Frage entsprach nicht seiner Sicht des endzeitlichen Handelns Gottes. Dem entspricht wiederum, dass Jesus sich für die Rechtsordnung seines Volkes nur wenig interessierte. In diesem Kontext ist es wiederum bemerkenswert, welche weiteren Themen jüdischen Selbstverständnisses Jesus nicht aufgreift. Er spricht nicht von der Erwählung Israels, beruft sich nie auf das Verdienst der Patriarchen und thematisiert auch nicht die Exodus- und Landtradition. Zumindest gegenüber dem aktuellen Tempelkult in Jerusalem, wenn nicht sogar gegenüber dem Tempelkult überhaupt, war Jesus sehr kritisch eingestellt (s. u. 3.10.1). Man kann sagen: Obwohl Jesus sich zum Volk Israel gesandt wusste, ist für ihn die theologische Beschäftigung mit dem geschichtlichen Grund der Erwählung Israels und ihrer Verwirklichung in Politik und Recht der Gegenwart kein Thema. Die punktuelle Offenheit gegenüber Heiden, die Umkehrung eschatologischer Erwartungen und die Distanz zu Grundüberzeugungen des antiken Judentums ändern nichts daran, dass Jesus sich grundsätzlich an Israel gesandt wusste. Er war aber zweifellos ein besonderer Jude mit einem außergewöhnlichen Anspruch, einer überraschenden Offenheit und einer neuen Sicht des gegenwärtigen und zukünftigen Handelns Gottes an den Menschen 261. Jesus strebte nicht eine Erneuerung, sondern eine Neuausrichtung der jüdischen Religion an. Zwar kann sich die spätere Heidenmission des frühen Christentums nicht direkt auf Jesus berufen, aber sie entspricht dem jesuanischen Gedanken der schrankenlosen Liebe Gottes, verlängert und vertieft ihn auf eine Weise, die starke Impulse Jesu aufnimmt und zugleich über ihn weit hinausgeht.
261 Zur vielfältigen Bestimmung des Judeseins Jesu in der neueren Forschung vgl. T. HOLMN, The Jewishness of Jesus in the third quest, in: M. Labahn/ A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q (s. o. 3.1), 143– 162, der feststellt: „‚Jewishness‘ has become a fluid
concept. Fluidity of concepts inevitably leads to confusion. Confusion, again, is a favourable soil for conclusions not based on coherent thinking, but rather on preconceptions lurking in the mind of every scholar“ (a. a. O., 156).
128 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.9
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet
Die Bindung der Gottesherrschaft an seine Person, die Praxis der Sündenvergebung, die Wunder, der in den Antithesen erhobene Anspruch und die Unheilsbotschaft verdeutlichen jenseits exegetischer Einzelurteile den einzigartigen Anspruch Jesu. Wenn hier „mehr ist als Salomo/mehr als Jona“ (vgl. Q 11,31f) und die Augenzeugen selig gepriesen werden (vgl. Q 10,23f), dann stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu. Sie kann nur beantwortet werden, wenn die Jesusüberlieferung mit den drei Haupttypen messianischer Erwartung des antiken Judentums konfrontiert wird262: der Erwartung eines endzeitlichen Propheten, der Erwartung eines himmlischen Menschensohnes und der Erwartung eines religiös-politischen Messias263.
3.9.1
Jesus als endzeitlicher Prophet
F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. u. 4), 351–404; F. SCHNIDER, Jesus der Prophet, OBO 2, Fribourg/Göttingen 1973; U.B. MÜLLER, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, in: ders., Christologie und Apokalyptik, ABG 12, Leipzig 2003 (= 1977), 11–41; M. TRAUTMANN, Zeichenhafte Handlungen Jesu, Würzburg 1980; M. E. BORING, The Continuing Voice of Jesus, Louisville 1991; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 73–88; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 145–319; M. ÖHLER, Jesus as Prophet: Remarks on Terminology, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001, 125–142; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 655–666.
Ebenso wie Johannes d. T. (vgl. Mk 11,32; Mt 14,4; Lk 1,76) wurde Jesus von Nazareth als Prophet wahrgenommen (vgl. Lk 7,16: „Und Furcht ergriff alle und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns auferstanden und Gott hat sein Volk besucht“). Der Einfluss der Elia-Tradition (vgl. Mal 3,23) ist besonders in Mk 6,15f („Einige sprachen: Er ist Elia, andere: Er ist Prophet, einer von den Propheten) und Mk 8,27f („Für wen halten mich die Leute? . . . Für Johannes den Täu262 Einen Überblick bietet H. LICHTENBERGER, Messia-
nische Erwartungen und messianische Gestalten in der Zeit des Zweiten Tempels, in: E. Stegemann (Hg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Neukirchen 1993, 9–20. 263 Ein direktes „Sohn Gottes“-Bewusstsein ist bei Jesus nicht nachzuweisen. Zentrale Texte wie Mk 1,11; 9,7; 15,39 (s. u. 8.2.2) oder Stellen, an denen Jesus sich als „der Sohn“ (absolut) bezeichnet (Lk 10,22par; Mk 13,32), dürften kaum vorösterlich sein. Die Rede von „eurem Vater“ erklärt sich aus
dem Anredecharakter der entsprechenden Logien (Lk 12,30 par; 6,36 par; 12,32; Mk 11,25 par; Mt 6,8; 18,35; 23,9). Aus der Gottesanrede „Abba“ kann ebenfalls kein spezifisches Sohnesbewusstsein Jesu erschlossen werden (s. o. 3.3.1). Zur Analyse vgl. F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.u. 4), 280– 346. Zur ‚Sohn Davids‘-Vorstellung vgl. M. KARRER, Von David zu Christus, in: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, hg. v. W. Dietrich/H. Herkommer, Freiburg(CH)/Stuttgart 2003, 327–365.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 129
fer, andere für Elia, wieder andere für einen der Propheten“) greifbar. Eine gemeinantike Volksweisheit264 wird Jesus in Mk 6,4 in den Mund gelegt: Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterland. In Lk 7,39 heißt es: „Wenn dieser ein Prophet ist, würde er erkennen, wer und was für eine Frau sie ist, die ihn berührt, denn sie ist eine Sünderin.“ Prophetische Beglaubigungszeichen (vgl. Mk 8,11; Mt 12,38f; Lk 11,16.30) werden von Jesus verlangt und in Mk 14,65 wird er verspottet, indem man ihm den Kopf verhüllt, ihn schlägt und ihn auffordert: Prophezeie, wer dich geschlagen hat. Ob Jesus sich im Anschluss an Jes 61,1 als eschatologischer Prophet verstand (vgl. Q 7,22), lässt sich nicht mehr entscheiden. Auf jeden Fall bediente er sich prophetischer Redeformen (vgl. die Drohworte Q 10,13–15; 11,31f), er hatte Visionen (Lk l0,18) und nahm wie die atl. Propheten Symbolhandlungen vor (Jüngerberufungen, Mahlzeiten mit rituell Unreinen, Austreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel, das letzte Mahl mit den Jüngern und in einem weiteren Sinn auch Jesu Wunder). Wie bei vielen atl. Propheten lässt sich bei Jesus eine tiefe Identität von Leben und Botschaft entdecken: Das Leben des Propheten steht ganz im Dienste seiner Botschaft und wird zu ihrem Ausdruck. Auch religionsgeschichtliche Parallelen wie die jüdischen Zeichenpropheten (s. o. 3.6.1) und die Erwartung eines eschatologischen Propheten wie Mose (Dtn 18,15.18) in Qumran (vgl. 1QS IX 9–11; 4Q175)265 lassen es möglich erscheinen, dass Jesus sich als endzeitlicher Prophet verstand. Andererseits lehnt Jesus die Kategorie des Prophetischen in zwei Logien als unzureichend ab (Q 11,32: „mehr als Jona ist hier“; Lk 16,16: „das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes“, danach kommt etwas Neues) und es gibt kein (relativ unumstrittenes) authentisches Wort, in dem Jesus sich ausdrücklich als Prophet bezeichnet, zumal die atl. Botenkategorie seinem Anspruch in keiner Weise gerecht wird. Auch die Anklänge in Mk 9,7 auf Dtn 18,15 können nicht für Jesus in Anspruch genommen werden, sondern verdanken sich markinischer Christologie (s. u. 8.2.2). Fazit: Jesu Selbstverständnis, Verkündigung und Verhalten sprengen die Dimension des Prophetischen 266.
264 Vgl. z. B. Plut, Mor 604d; Dio Chrys, Or 47,6. 265 Zu den prophetisch-messianischen Traditionen
in Qumran vgl. J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 312–417. 266 Vgl. M. HENGEL, Nachfolge und Charisma (s. o. 3.6.2), 74; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 664–666. Anders G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 85, wonach ‚Prophet‘ „die Beschreibung zu sein scheint, die Jesus selbst vorgezogen hat“; E. P. SANDERS, Sohn Gottes (s. o. 3), 381: „Er war ein Prophet, und zwar ein eschatologischer Prophet“; N. T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 163: „Rather, I suggest
that Jesus was seen as, and saw himself as, a prophet; not a particular one necessarily, as though there were an individual set of shoes ready-made into which he was consciously stepping, but a prophet like the prophets of old, coming to Israel with a word from her covenant god, warning her of the imminent and fearful consequences of the direction she was traveling, urging and summoning her to a new and different way“; S. FREYNE, Jesus (s. o. 3.8.1), 168 u. ö., wonach Jesaja und Daniel den Hintergrund des Selbstverständnisses Jesu bilden.
130 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.9.2
Jesus als Menschensohn
PH. VIELHAUER, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, TB 31, München 1965, 55–91; H. E. TÖDT, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 51984; F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. o. 4), 13–53; J. JEREMIAS, Die älteste Schicht der Menschensohnlogien, ZNW 58 (1967) 159–172; C. COLPE, Art. o uıo`ß tou˜ anhrw´pou, ThWNT 8, Stuttgart 1969, 403–481; L. GOPPELT, Theologie I, 116–253; A. J. B. HIGGINS, The Son of Man in the Teaching of Jesus, MSSNTS 39, Cambridge 1980; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 152–164; M. MÜLLER, Der Ausdruck Menschensohn in den Evangelien, AThD 17, Leiden 1984; V. HAMPEL, Menschensohn und historischer Jesus, Neukirchen 1990; J.J. COLLINS, The Son of Man in First-Century Judaism, NTS 38 (1992) 448–466; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 107–125; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 144–174; A. VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘ des Menschensohnproblems, Freiburg 1994; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 470–480; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 249–275; M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament (s. u. 4), 287–306; M. KREPLIN, Das Selbstverständnis Jesu, WUNT 2.141, Tübingen 2001, 88–133; C.M. TUCKETT, The Son of Man and Daniel 7: Q and Jesus, in: A. Lindemann, (Hg.), The sayings source Q and the historical Jesus (s. u. 8.1), 371–394; U. WILCKENS, Theologie II, 28–53.
Die häufigste Selbstbezeichnung Jesu ist o uıo`ß tou˜ anhrw´pou („der Sohn des Menschen“)267, sie findet sich in doppelt determinierter Form 82mal im Neuen Testament (Mk: 14mal; Mt: 30mal; Lk 25mal; Joh 13mal)268 und mit Ausnahme von Joh 12,34 in den Evangelien immer im Mund Jesu269. Diese Wendung ist eine für griechische Ohren sehr ungewöhnliche Übersetzung des aramäischen af}n(a) rb bzw. des hebräischen ¥da vB, die einen vornehmlich generischen Sinn aufweisen270: der Mensch als Angehöriger/ein Mensch als Repräsentant des Menschengeschlechtes. Die Bedeutung dieser Wendung erklärt sich aus einer komplexen jüdischen Vorgeschichte. Ausgangspunkt ist als Grundtext Dan 7,13f, wo es innerhalb einer Vision heißt: „und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich (wß uıo`ß anhrw´pou = einer, wie ein Menschensohn; ein menschenähnlicher), und gelangte bis zu den Hochbetagten, und er wurde vor ihn geführt. Ihm wurde Macht verliehen und Ehre und Reich, dass die Völker aller Nationen und Zungen ihm dienten. Seine Macht ist eine ewige Macht, die niemals vergeht, und nimmer wird sein Reich zerstört.“ Der Menschensohn ist hier wahrscheinlich eine hervorgehobene Engelgestalt, die Gottes endzeitliches Gericht verkündet271. Zu einem zentralen Titel innerhalb der jüdischen 267 Zur kontroversen Forschungsgeschichte vgl. W.G. KÜMMEL, Jesusforschung (s. o. 3.1), 340–374. 268 Vgl. ferner EvTh Log 86; Apg 7,56; Apk 1,13; in der LXX findet sich uıo`ß anhrw´pou nur undeterminiert. 269 Vgl. M. MÜLLER, Art. Menschensohn im Neuen Testament, RGG4 5, Tübingen 2002, 1098–1100.
270 Vgl. dazu C. COLPE, Art. o uıo`ß tou˜ anhrw´pou, 405 f. 271 Zur Bedeutung von af}n(a) rb vgl. bes. K. KOCH,
Das Reich der Heiligen und des Menschensohns. Ein Kapitel politischer Theologie, in: ders., Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn. Studien zum Danielbuch, Neukirchen 1995, (140–172) 157–160.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 131
Messianologie wurde der Ausdruck „Menschensohn“ nicht, es finden sich lediglich zwei wirkungsgeschichtliche Aktualisierungen in äthHen 37–71 (sog. ‚Bilderreden‘) und 4Esr 13. Diese beiden Textkomplexe sind in sich nicht einheitlich, so dass man nur von einer inhomogenen Menschensohn-Tradition sprechen kann272. Die Bilderreden des äthiopischen Henochbuches wurden in der Mitte des 1. Jhs. v.Chr. redigiert und enthalten vielschichtige Menschensohn-Aussagen. Der Menschensohn ist in engelgleicher Gestalt vor allem universaler Richter (äthHen 46,4ff), der die Gerechten zur Endzeitgemeinde sammelt (45,3f; 47,4; 48,1–7 u. ö.). Wie er selbst sind die Gerechten die Erwählten, er ist „der Stab, damit sie sich auf ihn stützen und nicht fallen“ (48,4). 4Esr 13 stammt aus dem Ende des 1. Jh. n.Chr. und schildert innerhalb einer Sturmvision das Auftreten (13,3: „Ich sah, und siehe, der Sturm führte aus dem Herzen des Meeres etwas wie die Gestalt eines Menschen hervor“) und die endzeitlichen Funktionen dieser Gestalt: Er wird auf dem Berg Zion die herbeiströmenden Völker richten und das Volk Israel sammeln. Er nimmt damit die Funktionen wahr, die nach PsSal 17,26–28 dem davidischen Messias zugeschrieben werden. Die Unterschiede zwischen Dan 7 und äthHen/4Esr weisen darauf hin, dass es z.Zt. Jesu wahrscheinlich verschiedenen Ausprägungen der Menschensohn-Vorstellung gab, die eher eine Funktion als eine feste Person bezeichnete273. Deutlich ist in jedem Fall, dass es sich um eine himmlische, menschenähnliche Gestalt mit Richter-, Herrscher- und Retterfunktion handelt.
Eine Bildung der zentralen ntl. Menschensohn-Aussagen in späterer nachösterlicher Zeit ist sehr unwahrscheinlich, denn sie eigneten sich nicht für die Mission, und Paulus nahm sie wahrscheinlich bewusst in seine Verkündigung nicht auf. Warum sollten die späteren Gemeinden einen im Griechischen eher unverständlichen und am Wort anhrwpoß („Mensch“) orientierten Begriff zur christologischen Leitkategorie erhoben haben?274 Wahrscheinlich erfolgte die Übersetzung des aramäischen af}n(a) rb in das griechische o uıo`ß tou˜ anhrw´pou schon früh und dürfte einen Sprachgebrauch Jesu aufnehmen. Neben der Wirkungsplausibilität und der Mehrfachbezeugung in allen Traditionssträngen spricht auch das Fehlen des Menschensohn-Begriffes in Bekenntnisaussagen über Jesus dafür, dass er den Ausdruck ‚Menschensohn‘ benutzte.
272 Vgl. zur Analyse K. MÜLLER, Menschensohn und Messias, in: ders., Studien zur frühjüdischen Apokalyptik, SBA.NT 11, Freiburg 1991, 279–322. 273 Vgl. hierzu J.J. COLLINS, The Scepter and the Star. The Messiahs of the Dead Sea Scrolls and Other Ancient Literature, in: The Anchor Bible Reference Library, New York 1995, 173–194, wonach die Texte für nicht fest fixierte Menschensohnvorstellungen in apokalyptischen Kreisen vor und neben dem Neuen Testament sprechen, die ihn als an der eschatologischen Vernichtung der Feinde Gottes beteiligten Messias betrachten.
274 Diese Frage können all jene nicht beantworten,
die alle Menschensohnworte als Gemeindebildung ansehen; so z. B. PH. VIELHAUER, Gottesreich, 90f; H. CONZELMANN, Theologie, 105–111; A. VÖGTLE, ‚Gretchenfrage‘, 175. Für eine Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn plädieren z. B. H. E. TÖDT, Menschensohn, 298–316; J. ROLOFF, Jesus (s. o. 3), 118f; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 154–164; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 476f; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 252f; zur Forschungsgeschichte vgl. A. VÖGTLE, ‚Gretchenfrage‘, 22–81 (Authentizitätshypothesen). 82– 144 (nachösterliche Entstehung).
132 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Die Worte Jesu über den Menschensohn lassen sich in drei Gruppen aufteilen, die sich teilweise überschneiden und ergänzen. Der gegenwärtig wirkende Menschensohn
Die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn enthalten sehr verschiedene Konnotationen. Es gibt Worte, in denen der Menschensohntitel im Zusammenhang mit Jesu Vollmacht erscheint (Mk 2,10par: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben, spricht er zu dem Gelähmten“; Mk 2,28par: „So ist der Menschensohn auch Herr über den Sabbat“), in anderen Worten ist von der Sendung Jesu im Ganzen die Rede (Mk 10,45: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“; Lk 19,10: „Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“). Retrospektiv, aber sachlich sicher zutreffend wird Jesu Umgang mit Diskriminierten in Q 7,34 formuliert: „Der Menschensohn kam, aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“. Schließlich scheint mit dem Menschensohntitel der Gedanke der Niedrigkeit, Verborgenheit und Ungeborgenheit Jesu verbunden zu sein (Q 9,58: „Und Jesus sagte ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wohin er seinen Kopf legen kann“). Auf einen Gerichtskontext verweisen Q 11,30 („Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Menschensohn für diese Generation sein“) und Q 12,8f („Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden“; vgl. Mk 8,38). Der letzte Text wirft besondere Fragen auf275: Meint Jesus hier mit dem Menschensohn eine andere Gestalt als sich selbst? Allein die Möglichkeit einer solchen Interpretation verweist nicht automatisch auf die nachösterliche Gemeinde. Ebenso könnte Jesus selbst dieses Wort im Kontext der Passion gesprochen haben. Isoliert man das Wort, dann kann mit dem künftigen MenschenRichter ein anderer als Jesus gemeint sein276. Kommt jedoch der Anspruch Jesu in 275 Q 12,8 spielt nach A. VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘,
9, eine „Schlüsselrolle“ für die Menschensohnfrage beim irdischen Jesus. Die mt. Parallele (10,32) zu Lk 12,8 lautet pa˜ß oun oÇstiß omologv´sei en emoi` emproshen tw˜n anhrw´pwn, omologv´sw kagw` en autw˜ emproshen tou˜ patro´ß mou tou˜ en [toı˜ß] ouranoı˜ß und enthält den Begriff Menschensohn nicht; auch die Parallele Q 12,10 spricht nur im Passiv von der gerichtlichen Vergebung (afehv´setai), weshalb hier im Sinne des Passivum divinum wohl Gott selbst der Sanktionierende ist. Daher hat sich vor allem P. HOFFMANN für eine lukanisch-redaktionelle Ablei-
tung ausgesprochen: DERS., Der Menschensohn in Lukas 12.8, NTS 44 (1998), 357–379. Jedoch ist die mt. Bearbeitung des Logions sprachlich deutlich zu greifen und die Einfügung in den mt. Kontext begünstigte nicht die Übernahme des Menschensohnbegriffs (vgl. A. VÖGTLE, a. a. O., 17f), so dass mit J. SCHRÖTER, Erinnerung (s.u. 8.1), 362–365, und C. M. TUCKETT, Q 12,8 Once Again – „Son of Man“ or „I“?, in: J.M. Asgeirsson/K. de Troyer/M.W. Meyer (Hg.), From Quest to Q (s.u. 8.1), 171–188, am Menschensohn in Q 12,8 festzuhalten ist. 276 So z. B. R. BULTMANN, Theologie, 30.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 133
seiner Gesamtheit in den Blick, dann ist es mehr als unwahrscheinlich, dass er sich als Vorläufer oder Bote einer anderen eschatologischen Gestalt verstanden haben soll277. Während Q 12,10 (Das Reden wider den heiligen Geist) sicher und Mk 2,10; 10,45a; Lk 19,10 (als Variante von Mk 2,17; Lk 5,32) möglicherweise nachösterlich sind, bezeugen die anderen authentischen Worte, dass Jesus sein Wirken mit der Menschensohn-Gestalt im alltagssprachlichen Sinn (‚meine Person‘) gedeutet hat. Der leidende Menschensohn
Die Worte vom leidenden Menschensohn liegen in den drei Leidensweissagungen (Mk 8,31par; 9,31par; 10,33f) und in Worten über die Auslieferung/Dahingabe des Menschensohnes vor (Mk 14,21par: „Denn der Menschensohn geht wohl dahin, wie über ihn geschrieben steht, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird“; Mk 14,41: „Der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert“; vgl. ferner Lk 17,25; 24,7). Mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Worte vom leidenden und auferstehenden Menschensohn nachösterliche Bildungen, denn sie fehlen in der Logienquelle und lassen deutlich nachösterliche christologische Reflektionen erkennen278. Der kommende Menschensohn
Während die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn der alltagssprachlichen Tradition verbunden sind, stehen die Worte vom kommenden Menschensohn in Verbindung mit visionssprachlichen Traditionen. So kündigt Jesus in Mk 14,62 sein zukünftiges Richten an: „Da sprach Jesus: Ich bin es, und ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels.“ In einen Gerichts- und Parusiekontext gehören auch Q 12,40 („Seid auch ihr bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr nicht damit rechnet“), Q 17,24 („Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht und bis zum Westen leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag sein“), 17,26.30 („Wie es geschah in den Tagen Noahs, so wird es auch am Tag des Menschensohnes sein . . . so wird es auch an dem Tag sein, an dem der Menschensohn offenbar wird“), Mt 10,23b („Amen, ich sage euch: Ihr werdet nicht vollständig durch die Städte Israels hindurchkommen, bis der Menschensohn kommt“), Mt 19,28 („. . .wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, [werdet auch ihr] auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten“) und die bereits besprochene Tradition vom Bekennen und Verleugnen in Q 12,8f/Mk 8,38.
277 Vgl. CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.8) 348; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 253. 278 Vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 479. Anders z. B. P. STUHLMACHER, Theologie
I, 120f, der eine Urform von Mk 9,31 und Mk 10,45 als authentisches Wort Jesu über den leidenden Menschensohn ansieht.
134 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Die Worte vom kommenden Menschensohn sind schwer zu beurteilen, denn einerseits scheint Jesus sein gegenwärtiges und zukünftiges Richterhandeln mit dem Begriff des Menschensohnes verbunden zu haben (Q 12,8f), andererseits nimmt der wiederkommende und richtende Menschensohn eine zentrale Stellung innerhalb der christologischen Konzeption der Logienquelle ein (s. u. 8.1.2), so dass mit einer starken nachösterlichen Gestaltung gerechnet werden muss. Während Lk 18,8b und Mt 24,30 nachösterliche Bildungen sind und auch die angeführten Q-Logien literarisch nach Ostern ihre vorliegende Gestalt fanden, wird man für Jesus annehmen dürfen, dass er sein gegenwärtiges und zukünftiges Geschick grundlegend mit der Menschensohngestalt verband279. Jesus nahm den Ausdruck „Menschensohn“ auf, weil er kein zentraler Begriff in der jüdischen Apokalyptik war und sich als offener und nicht fest definierter Ausdruck besonders eignete, um sein Wirken zu charakterisieren. Züge des vorösterlichen Wirkens Jesu zeigen vor allem die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn, wobei Q 7,33f und Q 9,58 hervorzuheben sind. Man wird den Ausdruck „Menschensohn“ hier nicht generisch, sondern wahrscheinlich sogar titular verstehen müssen. Auffällig ist an diesen beiden Worten, dass die Macht des Menschensohnes gerade nicht offenbar, sondern eher verhüllt ist. Dieses Nebeneinander von verhüllender und offenbarender Redeweise hat eine Strukturparallele in Jesu Rede vom Reich Gottes: So wie das Reich Gottes eine sich offenbarende und reale, aber zugleich verborgene Größe ist, so zeigt sich das gegenwärtige Wirken des Menschensohnes nicht in seiner Macht, sondern in seinem verborgenen Wirken.
3.9.3
Jesus als Messias
F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. u. 4), 133–225.466–472; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 115–143; F. HAHN, Art. Cristo´ß, EWNT 3 (1983) 1148–1153; M. KARRER, Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels, FRLANT 151, Göttingen 1990; D. ZELLER, Art. Messias/Christus, NBL III (1995), 782–786; M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 1– 80; J. FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 273–336.
Von den 531 Belegen für Cristo´ß („Christus“) bzw. LIvsou˜ß Cristo´ß („Jesus Christus“) finden sich allein 270 bei Paulus. Bedeutsam ist, dass Cristo´ß an den ältesten Bekenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15) haftet, und sich damit Aussagen über Tod und Auferstehung Jesu verbinden, die das gesamte Heilsgeschehen 279 Vgl. auch J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o.
3), 759–761.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 135
umfassen. Bei Paulus ist LIvsou˜ß Cristo´ß ein Titelname. Der Apostel weiß, dass Cristo´ß ursprünglich ein Appellativ und LIvsou˜ß das eigentliche nomen proprium ist, denn er spricht nie von einem ku´rioß Cristo´ß. Cristo´ß ist somit in der Verbindung mit LIvsou˜ß als Cognomen aufzufassen, bei dem die titulare Bedeutung durchaus mitschwingen kann. Zugleich verschmilzt der Titel so mit der Person Jesu und ihrem spezifischen Geschick, dass er bald zum Beinamen zu Jesus wird und die Christen danach benannt werden (Apg 11,26). Ausgangspunkt und Voraussetzung der Entwicklung messianischer Vorstellungen sind im Alten Testament Königssalbung und Dynastiezusage (vgl. 1Sam 2,4a; 5,3; 1Kön 1,32–40; 11; 2Sam 7; Ps 89; 132)280. Daraus bildeten sich vielschichtige Traditionen im antiken Judentum, speziell um die Zeitenwende herum besaßen die messianischen Hoffnungen eine vielfältige Gestalt281. Die Vorstellung von einem politisch-königlichen Messias (vgl. PsSal 17; 18; syrBar 72,2), der die Heiden aus dem Land treiben und Gerechtigkeit wiederherstellen soll, findet sich ebenso wie prophetisch (vgl. CD 2,12; 11Q Melch) und priesterlich -königlich geprägte Anschauungen (vgl. 1QS 9,9–11; 1QSa 2,11ff; CD 12,23; 14,19; 19,10f; 20,1). Von der großen Variationsmöglichkeit und Vernetzungskraft jüdischer Eschatologie zeugen auch die Verbindung von Menschensohnund Messiasvorstellungen (vgl. äthHen 48,10; 52,4; 4Esr 12,32; 13) und messianische Gestalten, die ohne den Messias-Begriff auftraten (messianische Propheten)282.
Cristo´ß ist Bestandteil der ältesten ntl. Überlieferungen, ob Jesus selbst den Cristo´ßTitel für sich in Anspruch nahm oder zumindest bewusst messianische Erwartungen auslöste, muss eine Analyse der synoptischen Tradition klären. Der Befund ist überraschend schmal und vieldeutig. Bei Markus finden sich 7 Belege, Matthäus ist bei seinen 18 Belegen im Wesentlichen von Markus abhängig und im lukanischen Doppelwerk verbindet sich vor allem durch die Aufnahme von Jes 61,1f eine ausgeprägte Geistchristologie mit Cristo´ß (s. u. 8.4.2/8.4.3). Schlüsselstellen sind Mk 8,29 („Petrus antwortet ihm: Du bist der Christus!“) und Mk 14,61f („Da fragte ihn der Hohepriester noch einmal, und er sagte zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Da sprach Jesus: Ich bin es . . .“). Beide Texte sind vollständig in die markinische Christologie eingebunden und geben kaum exakt historisches Geschehen wieder. Dennoch spricht viel dafür, dass Jesus durch seine Verkündigung und sein Verhalten messianische Erwartungen ausgelöst hat. Mk 8,27–30 könnten belegen, dass an Jesus politisch-messianische Erwartungen herangetragen wurden. Die messiani280 Vgl. E.-J. WASCHKE, Der Gesalbte, BZAW 306, Berlin 2001. 281 Vgl. hier zuletzt G. OEGEMA, Der Gesalbte und sein Volk, Göttingen 1994; ST. SCHREIBER, Gesalbter und König (s. o. 3.4.1), 145–534; W. HORBURY, Jewish Messianism and the Cult of Christ, London 1998; zu
den komplexen Gesalbten-Vorstellungen in Qumran vgl. J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 23 ff. 282 Eine Auflistung aller aufrührerischen Gestalten findet sich bei J.D. CROSSAN, Der historische Jesus (s. o. 3), 585 f.
136 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
schen Ovationen beim Einzug in Jerusalem (vgl. Mk 11,8–10), die Tempelreinigung und vor allem die Kreuzesinschrift (s. u. 3.10.1) legen darüber hinaus die Annahme nahe, dass Jesus bewusst messianische Erwartungen schürte. Die Kreuzesinschrift o basileu`ß tw˜n LIoudaı´wn („Der König der Juden“) dürfte weder von Juden noch Christen stammen und belegen, dass die Römer Jesus von Nazareth als Messiasprätendent hinrichteten283. Dann muss die Frage nach Jesu Königtum/Messianität im Prozess eine entscheidende Rolle gespielt haben284, ohne dass entscheidbar ist, ob Jesus aktiv den Messiastitel für sich beanspruchte. Auch die schnelle und umfassende Ausbreitung von Cristo´ß in den ältesten nachösterlichen Traditionen lässt sich am besten verstehen, wenn eine Verbindung mit dem Wirken und Geschick Jesu besteht. Wie auch immer einzelne Texte beurteilt werden, der Gesamtbefund lässt nur einen historischen Schluss zu: Das Leben Jesu war nicht unmessianisch!285 Jesu Selbstanspruch, Repräsentant des gegenwärtigen und kommenden Gottesreiches zu sein, seine Freiheit gegenüber der Tora, seine souveränen Jüngerberufungen, seine Gewissheit, die entscheidende Gestalt in Gottes Gerichtshandeln und der gegenwärtige sowie kommende, von Gott inthronisierte Menschensohn zu sein, lassen nur den Schluss zu, dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde. Zugleich aber fällt auf, dass sich dieser Anspruch auch in einer merkwürdig verhüllten Weise zeigt: Er äußert sich nicht in vorgegebenen, dogmatisch klaren Kategorien, sondern in zuweilen fast paradoxen Erzählungen und Worten. Jesus vermittelt Erfahrungen des Gottesreiches, aber er verweigert sich jeder Zeichenforderung und jedem direkten Autoritätsbeweis. Er verlangt für seine Botschaft höchste Verbindlichkeit und bindet Heil und Unheil an seine Person, zugleich verfremdet und überbietet er sämtliche bekannten Spielarten messianischer Autorität. Entscheidend ist nicht ein Wissen über Jesus, sondern die Konfrontation mit ihm und seiner Botschaft, sich ganz auf die neue Wirklichkeit Gottes einzulassen.
3.10 Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang J. BLINZLER, Der Prozeß Jesu, Regensburg 41969; P. WINTER, On the Trial of Jesus, SJ 1, Berlin 1961; A.N. SHERWIN-WHITE, Roman Society and Roman Law in the New Testament, Oxford 1963; D. DORMEYER, Die Passion Jesu als Verhaltensmodell, NTA 11, Münster 1974; A. STROBEL, Die Stunde der Wahrheit, WUNT 21, Tübingen 1980; M. LIMBECK (Hg.), Redaktion und Theologie 283 Vgl. M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, 50. 284 Vgl. J. FREY, Der historische Jesus und der Chris-
tus der Evangelien, 304ff; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 262 ff. 285 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 28: „Daran, daß
das Leben und Wirken Jesu, gemessen am traditionellen Messiasgedanken, kein messianisches war, läßt im übrigen die synoptische Tradition keinen Zweifel“.
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 137
des Passionsberichtes nach den Synoptikern, Darmstadt 1981; O. BETZ, Probleme des Prozesses Jesu, ANRW. II 25.1, Berlin 1982, 565–647; K. KERTELGE (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, QD 112, Freiburg 1988; R.E. BROWN, The Death of the Messiah I.II, New York 1993/94; W. REINBOLD, Der älteste Bericht über den Tod Jesu, BZNW 69, Berlin 1994; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 540–611; P. EGGER, Crucifixus sub Pontio Pilato, NTA 32, Münster 1997; W. BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazareth, Freiburg 1999; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 765–824; G. VERMES, Die Passion, Darmstadt 2005; W. REINBOLD, Der Prozess Jesu, Göttingen 2006.
Am Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit zog Jesus mit seinen Jüngern und weiteren Begleitern im Jahr 30 zum Passafest nach Jerusalem286. Er tat dies in Kontinuität zu seiner bisherigen Reich-Gottes-Verkündigung und zweifellos nicht ohne Absicht, denn sowohl seine bisherige spektakuläre Wirksamkeit in Galiläa als auch der Einzug in Jerusalem (Mk 11,1–11par) lassen eine Zuspitzung der Ereignisse erwarten.
3.10.1 Verhaftung, Prozess und Kreuzigung Jesus entzog sich den Ovationen beim Einzug in Jerusalem nicht, d. h. er akzeptierte die damit verbundenen messianischen Erwartungen (Mk 11,9fpar). Da der Einzug auch Elemente eines Herrscherzeremoniells enthielt, konnte er politisch interpretiert werden. In zeitlicher Nähe und sachlicher Kontinuität zum Einzug steht die Tempelreinigung (Mk 11,15–18par)287. Die Tempelreinigung
Jesus findet im Tempelbezirk Verkäufer von Opfertieren und Geldwechsler vor, die ursprünglich zur Aufrechterhaltung eines geordneten Kultbetriebes dienten. Nicht jedes herbeigebrachte Tier konnte von Priestern einzeln geprüft werden, und auch die Geldwechsler übten eine Dienstleistung aus, denn nach Ex 30,11–16 musste jeder männliche Jude ab 20 Jahren eine Doppeldrachme als Tempelsteuer entrichten. Das Ausmaß der Tempelreinigung lässt sich in ihren Einzelheiten nicht mehr genau rekonstruieren, aber Jesus scheint mit Gewalt gegen (einige) Tierverkäufer und Geldwechsler vorgegangen zu sein. Damit verbindet sich ein Drohwort gegen den Tempel, das den Kern von Mk 13,2 bildet: „Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen 286 Zum chronologischen Rahmen des Auftretens Jesu vgl. G. THEISSEN/A: MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 147–155. 287 Vgl. dazu M. SABBE, The Cleaning of the Temple and the Temple Logion, in: ders., Studia Neotestamentica, Leuven 1991, 331–354; TH. SÖDING, Die Tempelaktion Jesu, TThZ 101 (1992), 36–64; E. STEGEMANN, Zur Tempelreinigung im Johannesevange-
lium, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), hg. v. E. Blum u. a., Neukirchen 1990, 503–516; J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.1.2), 426–459; K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu, FRLANT 184, Göttingen 1999, 233–249; J. DNA, Jesu Stellung zum Tempel, WUNT 2.119, Tübingen 2000, 300–333; W. REINBOLD, Der Prozess Jesu (s. o. 3.10), 130–137.
138 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
bleiben, der nicht herausgebrochen wird.“288 Tempelreinigung und Tempelwort zielten nicht auf eine Wiederherstellung eines gottgefälligen Tempelkultes, wie sie in der Geschichte des Judentums immer wieder gefordert wurde289. Vielmehr war Jesus der Meinung, dass mit der Gegenwart und dem Kommen des Reiches Gottes der Jerusalemer Tempel seine Funktion als Ort der Sühne für die Sünden verloren hat. Weil die Herrschaft des Bösen zu Ende geht, bedarf es keiner Opfer mehr290. Verhaftung und Verhör
Welche Rolle spielten jüdische Instanzen in dem Verfahren gegen Jesus? Wahrscheinlich wurde Jesu Aktion gegen den Tempel als Infragestellung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung interpretiert und damit insbesondere von den Sadduzäern zum Anklagegrund instrumentalisiert291. Nicht ‚die Juden‘, sondern die Sadduzäer scheinen die treibende Kraft bei der Verhaftung Jesu gewesen zu sein (vgl. Mk 14,1.43.53.60; 15,11; Jos, Ant 18,64: „. . . und obwohl ihn auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes Pilatus zum Kreuzestod verurteilte . . .“)292. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Überlieferung bei Josephus, die zeigt, dass Prophetie gegen den Tempel und die Stadt Jerusalem offenbar eine Beteiligung der jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit an der grundsätzlich Römern zustehenden Rechtsfindung verlangten293. Der Text bestätigt die Existenz eines etablierten Instanzenwe288 Vgl. zur Begründung K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu, 76–92 (Mk 14,58 ist eine nachösterliche Variante von Mk 13,2*). 289 Vgl. K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu, 244: „zeichenhafte Verunmöglichung und Aufhebung des Jerusalemer Kultbetriebes“. 290 Vgl. J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.1.2) , 455–459. 291 Vgl. E.P. SANDERS, Sohn Gottes (s. o. 3), 380: „Ich nehme also an, daß Jesu symbolische Aktion, die Tische der Geldwechsler im Tempel umzustürzen, Hand in Hand mit einem Ausspruch über die bevorstehende Zerstörung des Tempels ging und in dieser Kombination von den Behörden als prophetische Drohung aufgefaßt wurde“; anders J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 407ff, der die Tempelreinigung für unhistorisch hält. 292 Vgl. H. RITT, „Wer war schuld am Tod Jesu?“, BZ 31 (1987), 165–175. 293 Jos, Bell 6,300–305: „Furchtbarer aber als diese Dinge war folgendes: Vier Jahre vor dem Krieg, als die Stadt noch im höchsten Maße Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum und begann un-
vermittelt zu rufen: ‚Eine Stimme vom Aufgang, eine Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über Bräutigam und Braut, eine Stimme über das ganze Volk!‘ So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sonder stieß beharrlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe und führten ihn zu dem Landpfleger, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: ‚Wehe dir, Jerusalem!‘ Als aber Albinus – denn das war der Landpfleger – fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen und ließ nicht ab, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei und ihn laufen ließ.“
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 139
ges. Von führenden Männern der jüdischen Selbstverwaltung wird ein offizielles Verfahren gegen den Propheten Jesus Ben Ananias angestrengt. Er wird zunächst von Mitgliedern des Synhedriums verhört und dann dem Prokurator übergeben. Die Geißelung ging in der Regel der Vollstreckung eines Todesurteils voraus, d. h. die jüdischen Instanzen dürften einen Kapitalprozess angestrengt haben, die letztgültige Entscheidung lautete allerdings in diesem Fall auf Freispruch. Ein ähnlicher Ablauf ist für den Prozess gegen Jesus von Nazareth zu vermuten. Die Tempelreinigung brachte Jesus offensichtlich den Vorwurf ein, die öffentliche Ordnung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht anzugreifen294. Er stellte mit seiner Aktion gegen den Tempel aus der Sicht der Sadduzäer den Kultbetrieb in Frage. Vergehen gegen den Tempel gehörten zu den „durchaus seltenen Fällen, welche die römische Rechtsfindung in der Provinz Judäa bewogen, auf dem Wege einer Ausnahmeregelung die jüdische Kapitalgerichtsbarkeit an der eigenen ‚cognitio‘ zu beteiligen.“295 Vornehmlich die Sadduzäer dürften Jesu Verhaftung angestrengt und das Verhör vor dem Hohen Rat betrieben haben. Jesus wurde dann dem römischen Statthalter übergeben, der eine eigene Untersuchung durchführte und verantwortlich für das Todesurteil ist. Der Prozess und die Kreuzigung
Die Kapitalgerichtsbarkeit stand in Judäa allein dem römischen Prokurator zu296. Bei dem ersten Prokurator Coponius (6–9 n.Chr.) vermerkt Josephus ausdrücklich, er habe mit uneingeschränkter Vollmacht regiert und vom Kaiser auch das Recht erhalten, die Todesstrafe zu verhängen297. Nach dem Verhör vor dem Hohen Rat wurde Jesus zum Prätorium gebracht, dem Amtshaus des Pilatus298. Warum wurde Jesus nach einem kurzen Prozess verurteilt? Die Römer ließen sich mit Sicherheit von jüdischen Instanzen dazu nicht ohne Grund drängen, und der Hinweis auf innerjüdische Lehrstreitigkeiten reicht ebenfalls nicht aus, um das Eingreifen der Römer zu erklären. Der triumphale Einzug in Jerusalem, die Tempelaktion, Mk 15,2fpar („Bist du der König der Juden? Er aber antworte ihm: Du sagst es!“) und die Kreuzesinschrift (Mk 15,26par: „Der König der Juden“ = o basileu`ß tw˜n LIoudaı´wn) lassen ver-
294 Zum Tempel vgl. J. MAIER, Beobachtungen zum
297 Vgl. Jos, Bell 2,117; Ant 18,2.
Konfliktpotential in neutestamentlichen Aussagen über den Tempel, in: Jesus und das jüdische Gesetz, hrsg. v. I. Broer, Stuttgart 1992, 173–213. 295 K. MÜLLER, Möglichkeit und Vollzug jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit im Prozess gegen Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Der Prozess gegen Jesus (s. o. 3.10), (41–83) 82 f. 296 Vgl. hier bes. K. MÜLLER, Kapitalgerichtsbarkeit, 44–58 (dort die Auseinandersetzung mit anderen Thesen).
298 Zu Pilatus vgl. zuletzt K. ST. KRIEGER, Pontius Pila-
tus – ein Judenfeind? Zur Problematik einer Pilatusbiographie, BN 78 (1995), 63–83. Er betont, dass alle Quellen über Pilatus tendenziös berichten und Vorsicht geboten ist gegenüber der geläufigen Darstellung, Pilatus sei ein besonders charakterloser Mensch gewesen.
140 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
muten, dass die Römer offenbar Jesus für einen (religiös-politischen) Aufrührer hielten, der die gespannte Situation an einem Passafest für sich ausnutzen könnte. Die Brisanz dieses Vorwurfes illustrierte Josephus. In den Wirren nach dem Tod Herodes d. Gr. strebten sowohl ein gewisser Judas299 als auch ein gewisser Simon300, Knecht Herodes d. Gr., die Königswürde an. Sie plünderten und brandschatzten mit ihren Truppen, wurden dann aber von den Römern vernichtend geschlagen. Danach griff ein gewisser Athronges301 nach der Krone. Er führte den Königstitel und kämpfte sowohl gegen die Römer als auch gegen die Familie Herodes d. Gr. Auch er wurde von den Römern und ihren Verbündeten besiegt302. Josephus charakterisiert diese unruhige Zeit in einem Summarium: „Und so war Judäa voll von Räuberbanden; und wo immer sich eine Gruppe von Anführern zusammentat, wählten sie einen König, der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. Sie fügten zwar wenigen Römern einen unerheblichen Schaden zu, bereiteten aber ihrem eigenen Volk ein großes Blutbad.“303 Josephus berichtet dann, der römische Statthalter Varus habe weitere Aufstände brutal niedergeschlagen und einmal 2000 Juden kreuzigen lassen304. Hinter den von Josephus als ‚Räuberbande‘ bezeichneten Gruppen standen messianische und soziale Hoffnungen, die sich auf eine Befreiung von der Römerherrschaft und eine gerechtere Ordnung richteten. Nach PsSal 17,21 ff wird der von Gott dem auserwählten Volk gesandte König und Gesalbte nicht nur die Heiden vertreiben, sondern auch über sein Volk in Gerechtigkeit herrschen.
Pilatus ließ Jesus geißeln und zur Kreuzigung abführen. Die Kreuzigung war die bevorzugte römische Todesstrafe für Sklaven und Aufständische, eine besonders grausame und entehrende Strafe305. Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Freitag, den 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem als Aufrührer von den Römern gekreuzigt306.
299 Vgl. Jos, Ant 17,272.
305 Grundlegend sind hier M. HENGEL, Mors turpissi-
300 Vgl. Jos, Ant 17,273 ff.
ma crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die „Torheit“ des „Wortes vom Kreuz“, in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich/W. Pöhlmann/P. Stuhlmacher, Tübingen 1976, 125–184; H.W. KUHN, Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit, ANRW. II 25/1, Berlin 1982, 648–793. 306 Dieses Datum setzt sich immer mehr als Konsens durch; vgl. zuletzt R. RIESNER, Die Frühzeit des Apostels Paulus (s.u. 5), 31–52; G. VERMES, Die Passion (s. o. 3.10), 138.
301 Vgl. Jos, Ant 17,278 ff. 302 Vgl. zur Analyse der wichtigsten Texte M. HENGEL,
Die Zeloten (s. o. 3.8.1), 261–277.329ff; P. EGGER, „Crucifixus sub Pontio Pilato“ (s. o. 3.10), 72 ff. 303 Jos, Ant 17,285. 304 Vgl. Jos, Ant 17,295; vgl. auch Ant 20,502, wo von der Kreuzigung der beiden Söhne des Zelotengründers Judas, Simon und Jakob, um 46 n.Chr. durch den Prokurator Tiberius Alexander berichtet wird.
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 141
3.10.2 Jesu Verständnis seines Todes Auffällig ist, dass Jesus sich trotz der absehbaren Gefahr nicht aus Jerusalem abgesetzt hat. Nach den synoptischen Passionsdarstellungen hätte er dazu noch reichlich Gelegenheit gehabt. Die Möglichkeit einer Verhaftung konnte Jesus nicht völlig unvorbereitet getroffen haben, denn er kannte die angespannte politische Situation in Jerusalem, hatte den Tod von Johannes d. Täufer vor Augen und wurde von seinem eigenen Landesherrn Herodes Antipas gewarnt (Lk 13,31)307. Wenn er trotzdem in Jerusalem blieb und sich bewusst provozierend verhielt, dann spricht alles dafür, dass Jesus seinen Tod als Möglichkeit kommen sah und jedenfalls nichts tat, um diesem Schicksal zu entgehen. Fragt man nach dem Sinn eines solchen Verhaltens, dann ist neben einigen Logien der synoptischen Tradition vor allem die Abendmahlsüberlieferung zu bedenken308. Verschiedene Logien könnten ein Wissen Jesu um seinen Tod voraussetzen; so z. B. Lk 12,49.50 („Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! Aber ich muss mich mit einer Taufe taufen lassen, und wie ist mir bange, bis sie vollzogen ist“), Lk 13,31f (Jesus antwortet auf Warnungen vor Herodes Antipas: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen, heute und morgen, und am dritten Tag werde ich vollendet“), Mk 14,7 (Jesus in der Salbungsgeschichte von Bethanien: „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch“; vgl. Mk 2,19). All diese Texte sind nicht eindeutig, denn ihre vor- oder nachösterliche Entstehung ist ebenso unsicher wie der Bezug auf Jesu Tod. Aussagekräftiger ist hingegen die Abendmahlsüberlieferung mit damit verbundenen Einzellogien. Das Abendmahl
Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern muss im Kontext seiner vorhergehenden Mahlpraxis und damit auch seiner Gottesreichverkündigung gesehen werden (s. o. 3.4.5). Die Nähe des Reiches Gottes gewinnt in den Mahlzeiten mit gesellschaftlichen und rituellen Außenseitern konkrete Gestalt, „denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und retten, was verloren ist“ (Lk 19,10). Jesu letztes Mahl, obwohl nur mit den Jüngern gehalten, weist wie Jesu Mahlzeiten mit Zöllnern und Sündern zuvor auf die Gemeinschaftsmahlzeit im Gottesreich voraus, deren gewisses Unterpfand es zugleich ist. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der eschatologische Ausblick in Mk 14,25: „Amen ich sage euch: ich werde sicherlich 307 Vgl. S. FREYNE, Jesus (s. o. 3.8.1), 165: „Jesus cannot have been unaware of the consequences of his symbolic action for his own future.“ 308 N. T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 651f, sieht in der durch Jesus proklamierten Verheißung der Rückkehr Jahwes zum Berg Zion das Zentrum des Selbst-
verständnisses Jesu und den Anlass seiner Reise nach Jerusalem einschließlich der Tempelaktion. Dagegen spricht allerdings deutlich, dass Siw´n („Zion“) in der Verkündigung Jesu überhaupt nicht überliefert ist (Siw´n nur in Mt 21,5 und Joh 12,15).
142 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
von dem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, wo ich es von neuem trinken werde im Gottesreich.“309 Der eschatologische Ausblick weist voraus auf die Mahlzeit im Gottesreich. Eine Mahlzeit ist in jüdischen Texten verbreitetes Bild für die eschatologische Gemeinschaft in Gottes neuer Welt (vgl. Jes 25,6–12). Durch den eschatologischen Ausblick wird das Abendmahl zum Vorzeichen dieser Herrlichkeitsmahlzeit. Inhaltlich verdeutlicht Mk 14,25 zweierlei: 1) Jesus rechnete wenigstens unmittelbar vor seiner Verhaftung mit seinem Tod und nahm von seinen Jüngern bewusst Abschied. 2) Der Gedanke an seinen Tod führte Jesus keineswegs zu einer Aufgabe seiner Hoffnung auf das Reich Gottes. Der Zeitpunkt seines Kommens bleibt zwar durch das unbestimmte „an jenem Tag“ in der Schwebe, aber die gewisse Hoffnung auf das Kommen der Gottesherrschaft hält sich ungebrochen durch. Mk 14,25 lässt sich darüber hinaus als Todesprophetie verstehen: Jesus trinkt zum letzten Mal, bevor er am Mahl im Reich Gottes teilnimmt. Möglicherweise hofft er aber auch, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt. Historisch sehr wahrscheinlich ist ein letztes Mahl Jesu mit seinen Jüngern unmittelbar vor seiner Verhaftung (vgl. 1Kor 11,23c). Er tat dies wie bei den vorhergehenden Mahlgemeinschaften in der Gewissheit der Gegenwart Gottes und in der Erwartung des Reiches Gottes. Ob dieses Mahl ein Passamahl war, lässt sich nicht mehr ausmachen310. Dagegen spricht: a) Paulus (bzw. seine Tradition) als ältester literarischer Zeuge weiß davon nichts (vgl. das Passa-Motiv in 1Kor 5,7!); b) Mk 14,12 ist offensichtlich sekundär (ebenso Lk 22,15). c) Jesus wurde wahrscheinlich an einem 14. Nisan hingerichtet (vgl. Joh 18,28; 19,14; auch 1Kor 5,7), das Passafest beginnt aber mit dem 15. Nisan. Dafür spricht: Der Ablauf des letzten Mahles kann im Rahmen einer Passafeier verstanden werden (speziell Lukas!). Wahrscheinlich ist anzunehmen: Jesus feierte das letzte Mahl im Zusammenhang mit einem Passafest; zugleich gilt aber, dass der theologische Ertrag dieses historisch nicht zu lösenden Problems gering ist. Das letzte Mahl erhielt seinen besonderen Charakter durch das Bewusstsein Jesu, dass er sterben wird. Jesus verband seinen bevorstehenden Tod offenbar mit der Erwartung, das Reich Gottes werde nun umfassend anbrechen (Mk 14,25). Dieses Sterben konnte von Jesus nicht losgelöst gedacht werden von seiner einzigartigen Gottesbeziehung und seiner ausgeprägten Gottesgewissheit, die sich vor allem in seiner 309 Für den vorösterlichen Ursprung von Mk 14,25
spricht vor allem, dass nicht Jesus und sein Geschick, sondern das Reich Gottes im Mittelpunkt steht; vgl. H. MERKLEIN, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, (157–180) 170–
174, der z.R. Mk 14,25 zum hermeneutischen Schlüssel für die Abendmahlsfrage erklärt. 310 Positiv votiert J. JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41967, 25–30; dagegen mit guten Gründen B. KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (s. o. 3.4.5), 158–161.
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 143
Reich-Gottes-Verkündigung und seinen Wundern zeigten. Jesu Hoheitsbewusstsein forderte geradezu eine Deutung des bevorstehenden Geschehens! Diese Deutung konnte nicht in einfacher Kontinuität zu den Mahlfeiern des Irdischen stehen, denn mit dem bevorstehenden Tod stellte sich für Jesus umfassend die Frage nach dem Sinn seiner Sendung. Seiner Person kam dabei eine zentrale Bedeutung zu, da bereits die Gegenwart des Reiches Gottes und die Wunder ursächlich von ihr abhingen (vgl. Lk 11,20). Entsprechend forderte das bevorstehende Geschehen eine Deutung im Hinblick auf die Person Jesu, die nur er selbst geben konnte311. Wahrscheinlich verstand Jesus seinen Tod in Aufnahme von Jes 53 als Selbsthingabe für die ‚Vielen‘ (vgl. Mk 10,45b)312; der Tod steht damit in Kontinuität zum Leben des irdischen Jesus, der ‚für andere‘ eintrat und lebte. Diese Selbsthingabe formuliert Jesus im Verlauf des letzten Mahles gleichnishaft mit Deuteworten (vgl. Mk 14,22.24): tou˜to´ estin to` sw˜ma´ mou („dies ist mein Leib“) und tou˜to´ estin to` aıma´ mou . . . upe`r pollw˜n („dies ist mein Blut . . . für die Vielen“)313. Diese Deuteworte orientieren sich nicht an dem, was eigentlich im Passamahl im Vordergrund stand, und sie gewinnen durch die Gesten eine weitere Dimension: Das gemeinsame Trinken aus dem einen Becher könnte darauf hinweisen, dass Jesus angesichts seines Todes die von ihm gestiftete Gemeinschaft über seinen Tod hinaus fortgesetzt wissen wollte. Jesus feierte somit das letzte Mahl in dem Bewusstsein, mit seinem Tod werde Gottes Reich und damit auch das Gericht hereinbrechen. Er gibt sein Leben, damit die ‚Vielen‘ in diesem Endgeschehen Rettung erlangen werden. Die Erwartung des mit seinem Sterben sich umfassend enthüllenden Reiches Gottes erfüllte sich für Jesus nicht (vgl. Mk 15,34). Gott handelte an ihm durch die Auferweckung von den Toten in unerwarteter Weise, zugleich aber auch in Kontinuität: Jesu Tod ist und bleibt rettendes Geschehen für die ‚Vielen‘. Nachösterlich wurde das letzte Mahl zum Erfüllungs- und Erinnerungszeichen des Gekommenen, durch das sich dieser in der Kraft des Heiligen Geistes als lebendiges und gegenwartsmächtiges Subjekt seines Gedächtnisses, als Stifter eines neuen Bundes und als kommender Herr von Menschheit und Welt erweist. Diese Grundstruktur prägt trotz unterschiedlicher Ausformungen alle Abendmahlsüberlieferungen. 311 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, Jesu Tod im Licht seines Basileia-Verständnisses, in: ders., Gottes Reich – Jesu Geschick (s. o. 3), 185–245. 312 Zu Mk 10,45b vgl. J. ROLOFF, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk. X. 45 und Lk. XXII. 27), in: ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche, Göttingen 1990, 117–143. 313 Eine überzeugende genaue Rekonstruktion der Worte und Gesten beim Abendmahl ist kaum möglich; die scharfsinnigste Analyse der Abendmahlsüberlieferung legte H. MERKLEIN, Erwägungen zur
Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, 158–174, vor; vgl. ferner mit unterschiedlichen Akzentuierungen J. JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, 132–195; H. SCHÜRMANN, Der Einsetzungsbericht Lk 22,19–20; NTA 4, Münster 1955; H. PATSCH, Abendmahl und historischer Jesus, München 1972; B. KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (s. o. 3.4.5), 153–189; J. SCHRÖTER, Das Abendmahl, SBS 210, Stuttgart 2006, 25–134.
144 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Wenn Jesus bewusst nach Jerusalem ging, den Folgen seiner bewussten Provokationen nicht auswich und beim letzten Mahl seinen bevorstehenden Tod deutete, dann ist eine Schlussfolgerung unausweichlich: Jesus hoffte und erwartete, dass mit seinem Auftreten in Jerusalem das Reich Gottes umfassend anbrechen werde. Somit steht sein Ende in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seinem vorangegangenen Wirken. Jesu dienende Pro-Existenz 314 für Gott, sein Reich und die Menschen umfasst und charakterisiert gleichermaßen sein Leben und Sterben.
314 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, „Pro-Existenz“ als christologischer Grundbegriff, in: ders., Jesus. Gestalt
und Geheimnis, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994, 286–315.
4.
Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie
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Die Verkündigung, das Leben und das Geschick des Jesus von Nazareth bilden die Grundlage für die neue Erfahrungs- und Denkwelt der ersten Christen. Mit der Ent-
146 Die Entstehung der Christologie
stehung einer Christologie als begrifflicher und erzählerischer Entfaltung der Heilsbedeutung des Jesus von Nazareth als Messias, Kyrios und Gottessohn vollzieht sich eine erste Transformation. Nicht mehr Jesus selbst verkündigt, sondern er wird verkündigt. Was Jesus einst sagte und wie Jesus nach Kreuz und Auferstehung erfahren und gedacht wird, fließen nun ineinander und bilden etwas Neues: Jesus selbst wird zum Gegenstand des Glaubens und zum Inhalt des Bekenntnisses. Wie lässt sich der Übergang von der Verkündigung Jesu zur Verkündigung von/ über Jesus beschreiben? Zwei grundsätzliche Denkmodelle sind möglich: 1) Das Modell der Diskontinuität : A. von Harnack unterschied scharf zwischen dem einfachen Evangelium Jesu, in das allein der Vater gehört, und der maßgeblich von Paulus bestimmten späteren christologischen Entwicklung. „Das Evangelium ist in den Merkmalen, die wir in den Vorlesungen angegeben haben, erschöpft, und nichts Fremdes soll sich eindrängen: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott.“1 Auch R. Bultmann votiert für das Modell der Diskontinuität, wählt aber eine psychologische Erklärung: „Jesus hat mit dem Hereinbrechen der Basileia gerechnet; das ist nicht passiert. Die Urgemeinde hat mit dem Erscheinen des Menschensohnes gerechnet; das ist nicht passiert. Allein die dadurch entstandene Verlegenheit war das agens für die Entwicklung der Christologie und der Grund für den Rückfall in das apokalyptische Zeitverständnis.“2 2) Das Modell der Kontinuität wird von J. Jeremias vertreten, „die vor- und nachösterliche Botschaft gehören unauflöslich zusammen, keine von beiden darf isoliert werden. Sie dürfen aber auch nicht nivelliert werden. Vielmehr verhalten sie sich zueinander wie Ruf und Antwort.“3 Nach L. Goppelt „vertritt Jesus eine Christologie als verhülltes Selbstzeugnis; die Apostel entfalten sie als offenes Bekenntnis und daher als dieses Bekenntnis explizierende Lehre.“4 Umfassend versucht W. Thüsing die Ganzheit ntl. Theologie zu begründen, „weil Jesus auch als der Irdische schon ‚der Sohn‘ ist (wenn er auch erst von Ostern her im Vollsinn als solcher erkannt werden kann), weil die theologische Grundstruktur des ‚Evangeliums‘ also schon deshalb nicht erst von Ostern an besteht; weil die inhaltlichen Strukturen der eschatologisch-theologischen Botschaft des Christentums durch das Jesuanische geprägt sind: Die Ganzheit der ‚nachösterlichen Transformation‘ ist durch die Ganzheit des Jesuanischen (der ‚jesuanischen Strukturkomponenten‘) vorgeprägt.“5 Für F. Hahn ist die Identität des Irdischen mit dem Auferstandenen „das Fundament für
A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums (s. o. 3.4.5), 89 f. Treffend formulierte auch der französische Kirchenhistoriker A. LOISY, Evangelium und Kirche, München 1904, 112f: „Jesus hatte das Reich angekündigt, und dafür ist die Kirche gekommen.“ Loisy meinte diese Feststellung nicht ironisch oder abwertend, sondern ging davon aus, dass die ursprüngliche Form des Evangeliums nicht erhalten werden konnte; die Kontinuität zum Anfang war 1
nur durch die Diskontinuität (der Kirche) zu erreichen. 2 Protokoll der Tagung „Alter Marburger“ v. 21.– 25.10.1957, 7 (UB Marburg). 3 J. JEREMIAS, Theologie, 295. 4 L. GOPPELT, Theologie, 342. 5 W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien I, 247; zu den ‚jesuanischen Strukturkomponenten‘ vgl. a. a. O., 70 f.
Jesu vorösterlicher Anspruch 147
alle christologischen Aussagen. Jede isolierte theologische Wertung der vorösterlichen Geschichte Jesu widerspricht dem Gesamtzeugnis des Neuen Testamentes.“6 Beide Entwicklungen sind in sich teilweise überlagernder Form möglich: Die nachösterliche Christologie könnte ein wirklich neues Element sein, das keinen oder nur wenig Anhalt am vorösterlichen Jesus hat; sie könnte aber auch eine folgerichtige Fortschreibung des vorösterlichen Anspruchs Jesu unter der veränderten Perspektive der Osterereignisse sein. Zur Klärung dieser Frage müssen die entscheidenden Faktoren für die Ausbildung der frühen Christologie bedacht werden.
4.1.
Jesu vorösterlicher Anspruch
Die vorangegangenen Analysen (s. o. 3) haben gezeigt, dass Jesu Auftreten mit seinen charismatischen, prophetischen, weisheitlichen und messianischen Dimensionen schon unter religionsgeschichtlichen Aspekten als singulär anzusehen ist. Es gibt keine Gestalt der Antike, die einen vergleichbaren Anspruch gestellt und eine vergleichbare Wirkung erzielt hätte wie Jesus von Nazareth 7. Wenn Jesus das Aufrichten der Königsherrschaft Gottes exklusiv an seine Person band, so dass sein Tun als Anbruch der Gottesherrschaft erscheint, dann musste er notwendigerweise in die Nähe Gottes gerückt und mit Gott zusammengedacht werden. Wenn er seine Person zum Kriterium des eschatologischen Gerichtes erhob (Q 12,8fpar), als Wundertäter auftrat und wie Gott Sünden vergab, sich über Mose stellte und mit der Berufung der 12 Jünger die eschatologische Restitution Israels in neuer Form anstrebte, dann ist die eschatologische Qualität des vorösterlichen Jesus der Grund, warum nach Ostern eine explizite Christologie ausgebildet wurde. Jesus erhob bereits vorösterlich einen einzigartigen Anspruch, der durch die Auferstehung nachösterlich verändert, aber zugleich noch verstärkt wurde. Die Entstehung der frühen Christologie liegt aber nicht nur im personalen Anspruch Jesu begründet, sondern auch in seinen Lehrinhalten; es kann von einer wirkungsgeschichtlichen Plausibilität in personaler und sachlicher Hinsicht gesprochen werden. Dafür sprechen die Kontinuitätslinien zwischen dem Handeln bzw. der Verkündigung Jesu und dem frühen Christentum8: 1) Jesus band den Willen Gottes nicht
F. HAHN, Theologie I, 125. Unter religionswissenschaftlicher Perspektive kommen als Vergleichsgestalten nur Pythagoras (ca. 570–480 v.Chr.) und Apollonius von Tyana (gest. um 98 n.Chr.) infrage. Pythagoras war offenbar eine charismatische Gestalt, die auf allen Gebieten der damaligen Wissenschaft zuhause war und der sich niemand entziehen konnte; zum historischen Pythagoras vgl. CHR. RIEDWEG, Pythagoras. Leben – Lehre – 6 7
Nachwirkung, München 2002. Apollonius trat als Wanderphilosoph in der Tradition des Pythagoras und als Wundertäter mit politischem Einfluss auf; um 200 n.Chr. verfasste Philostrat das maßgebliche Werk über Apollonius; vgl. dazu E. KOSKENNIEMI, Apollonios von Tynana in der neutestamentlichen Exegese (s.o. 3.6.1). 8 Vgl. dazu U. LUZ, Das ‚Auseinandergehen der Wege‘. Über die Trennung des Christentums vom
148 Die Entstehung der Christologie
an rituelle Vollzüge, sondern betonte die Ethik der Gottes- und Nächstenliebe. Von hier aus konnte im frühen Christentum eine Liebesethik entwickelt werden, die nicht unmittelbar mit der Tora verbunden war. Jesu Wirken wurde in seiner Gesamtheit als heilsame Regelung gestörter Beziehungen des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander wahrgenommen und interpretiert. 2) Gottes grenzenlose Liebe eröffnet Perspektiven, die über die Erwählung Israels hinausgehen. Obwohl Jesus sich prinzipiell nur an Israel gesandt wusste, ermöglichten seine zeichenhaften Hinwendungen zu Heiden den frühen Christen, ihre Botschaft über Israel hinauszutragen. 3) Jesus erkannte dem Tempel offenbar nur eine geringe Bedeutung zu, so dass für die frühen Christen die lokale Gottesverehrung an einem einzigen Ort keine besondere Rolle spielte. Jesus interpretierte die Grundpfeiler des Judentums seiner Zeit offenbar in einer Weise, die für eine Transformation hin zum Universalismus offen war.
4.2
Die Erscheinungen des Auferstandenen
Die Erscheinungen des Auferstandenen als ein zentraler Teil des Ostergeschehens waren offenbar die Initialzündung für die grundlegende Erkenntnis der frühen Christen: Der schmachvoll am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth ist kein Verbrecher, sondern er ist auferweckt worden von den Toten und gehört bleibend auf die Seite Gottes. Aus der hervorragenden Qualität Jesu vor Ostern wurde so Jesu unüberbietbare Qualität nach Ostern. Ein Vergleich der Ostererzählungen der Evangelien mit 1Kor 15,3b–5 zeigt, dass drei Elemente das Grundgerüst aller Ostererzählungen ausmachen: 1. eine Grabeserzählung (1Kor 15,4: „Und er wurde begraben“); 2. Ein Erscheinungsbericht (1Kor 15,5a: „Und dass er erschienen ist dem Kephas“); 3. Eine Gruppenerscheinung vor Jüngern (1Kor 15,5b–7)9. Wie die Evangelien (vgl. Mk 16,1–8par; Joh 20,1–10.11–15) setzt auch Paulus das leere Grab voraus10. Er erwähnt es nicht ausdrücklich, aber die Logik des Begrabenseins und der Auferstehung Jesu in 1Kor 15,4 (und auch des Mitbegrabenwerdens in Röm 6,4) verweist auf das leere Grab, denn die jüdische Anthropologie geht von einer leiblichen Auferstehung aus11. Hinzu kommt ein grundsätzliches Argument: Die Auferstehungsbotschaft hätte in Jerusalem nicht so erfolgreich verkündigt werden können, wenn der Leichnam Jesu in einem Massengrab oder einem ungeöffneten Privatgrab verblieben wäre 12. Es dürfte weder den Gegnern noch der Anhängerschaft entgangen sein, wo Judentum, in: Antijudaismus – christliche Erblast, hg. v. W. Dietrich/M. George/U. Luz, Stuttgart 1999, 56–73. 9 Zur umfangreichen Literatur zum Ostergeschehen s. u. 6.2.2. 10 Anders R. BULTMANN, Theologie, 48: „Legende sind die Geschichten vom leeren Grab, von denen
Paulus noch nichts weiß.“ 11 Vgl. zuletzt die Argumentation bei M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung, WUNT 135, Tübingen 2001, (119–183) 139 ff. 12 Vgl. P. ALTHAUS, Die Wahrheit des christlichen Os-
Die Erscheinungen des Auferstandenen 149
Jesus beigesetzt wurde13. Der Erfolg der Osterbotschaft in Jerusalem ist gerade historisch ohne ein leeres Grab nicht denkbar. Der Fund eines Gekreuzigten im Nordosten des heutigen Jerusalem aus der Zeit Jesu zeigt14, dass die Leiche eines Hingerichteten an seine Angehörigen oder andere Nahestehende ausgeliefert und von ihnen bestattet werden konnte. Das leere Grab allein bleibt allerdings zweideutig, seine Bedeutung erschließt sich erst von den Erscheinungen des Auferstandenen her15. Ausgangspunkt der Erscheinungsüberlieferungen 16 ist die Protepiphanie Jesu vor Petrus (vgl. 1Kor 15,5a; Lk 24,34), denn sie begründete die hervorgehobene Stellung des Petrus im frühen Christentum17. Das Johannesevangelium geht von einer Ersterscheinung vor Maria Magdalena aus (Joh 20,11–18), erst danach erscheint Jesus den Jüngern (Joh 20,19–23). Bei Markus werden Erscheinungen Jesu in Galiläa angekündigt (Mk 16,7), ohne erzählt oder überliefert zu werden. Bei Matthäus erscheint Jesus zunächst Maria Magdalena und der anderen Maria (vgl. Mt 28,9.10), bei Lukas den Emmausjüngern (Lk 24,13ff). Die Berichte lassen noch erkennen, dass Jesus wahrscheinlich zunächst Petrus und Maria Magdalena bzw. mehreren Frauen erschien. Offensichtlich verfolgen die Erscheinungsberichte keine apologetische Tendenz18, denn obwohl Frauen nach jüdischem Recht nicht voll zeugnisfähig waren, spielen sie in fast allen Erscheinungsberichten der Evangelien eine wichtige Rolle. Jesus ist nach den Erscheinungen vor Einzelpersonen verschiedenen Gruppen von Jüngern erschienen, seien es die Zwölf oder aber mehr als 500 Brüder, von denen 1Kor 15,6 spricht. Auf diese Gruppenerscheinungen folgten wiederum Einzelerscheinungen, so vor Jakobus und Paulus (vgl. 1Kor 15,7.8). Auf der Grundlage dieser Überlegungen lassen sich die erkennbaren geschichtlichen Daten schnell zusammentragen: Die Jünger waren bei der Inhaftierung Jesu geflohen, wahrscheinlich nach Galiläa. Nur einige Frauen wagten es, der Kreuzigung von ferne zuzusehen und später nach dem Grab zu sehen. Begraben wurde Jesus von Joseph von Arimathäa, der ein Sympathisant Jesu aus vornehmer Jerusalemer Familie war (vgl. Mk 15,43; Joh 19,38). Die ersten Erscheinungen Jesu ereigneten sich in Galiläa (vgl. Mk 16,7; 1Kor 15,6?), möglicherweise gab es auch Erscheinungen in Je-
terglaubens, Gütersloh 1940, 25: „In Jerusalem, am Orte der Hinrichtung und des Grabes Jesu, wird nicht lange nach seinem Tode verkündigt, er sei auferweckt. Dieser Tatbestand fordert, daß man im Kreise der ersten Gemeinde ein zuverlässiges Zeugnis dafür hatte, daß das Grab leer gefunden ist.“ 13 Anders G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu (s. u. 6.2.2), 66, der ohne Begründung behauptet: „Da sich weder die Jünger noch die nächsten Familienangehörigen um Jesu Leichnam gekümmert haben, ist kaum denkbar, daß sie über den Verbleib des Leichnams informiert sein konnten, um später wenigstens seine Knochen zu bestatten.“
c 14 Vgl. H.-W. KUHN, Der Gekreuzigte von Giv at hat-Mivtar. Bilanz einer Entdeckung, in: C. Andresen/G. Klein (Hg.), Theologia Crucis – Signum Crucis (FS E. Dinkler), Tübingen 1979, 303–334. 15 Vgl. I.U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube (s. u. 6.2.2.1), 394 f. Allerdings ist gegen Dalferth daran festzuhalten, dass es auch theologisch nicht gleichgültig ist, ob das Grab leer oder voll ist. 16 Zur Analyse der Texte vgl. U. WILCKENS, Auferstehung, Gütersloh 21977, 15–61. 17 Vgl. H. V. CAMPENHAUSEN, Der Ablauf der Osterereignisse (s. u. 6.2.2.1), 15. 18 Vgl. a. a. O., 41.
150 Die Entstehung der Christologie
rusalem (vgl. Lk 24,34; Joh 20). Wahrscheinlich sammelte Petrus Mitglieder des Zwölferkreises und andere Jünger bzw. Jüngerinnen, denen Jesus dann erschien. Es folgten besondere Einzelerscheinungen (Jakobus, Paulus), mit denen diese besondere Epoche abgeschlossen wurde. Mit den Auferstehungserscheinungen verband sich sehr früh die Überlieferung vom leeren Grab, das in der Nähe seiner Hinrichtungsstätte gelegene Grab wurde so im Licht der Ostererscheinungen zu einem Zeugnis der Auferstehung. Welchen Charakter hatten die Erscheinungen? Theologisch ist bedeutsam, dass sie ein Element der Verkündigung der Auferstehung Jesu sind, d. h. sie können nicht von der einen Basisaussage abgelöst werden: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Religions- und traditionsgeschichtlich handelt es sich um Visionen im Kontext apokalyptischer Vorstellungen, nach denen Gott in der Endzeit wenigen Auserwählten Einblick in sein Handeln gewährt19. Der Realitätsgehalt der Erscheinungen kann aufgrund der spärlichen Überlieferungssituation nicht psychologisch erfasst werden, und auch eine Interpretation der Erscheinungen als rein subjektive Glaubenserfahrungen ist nicht hinreichend20, denn so wird der besondere Status der Erscheinungen als Glaubensgrundlage minimiert. „Andererseits müssen die Visionen von solcher Art gewesen sein, dass sie es ermöglichten bzw. sogar dazu nötigten, sie im Sinne der Aufererweckungsaussage zu deuten.“21 Wie die Auferstehung selbst sind auch die Erscheinungen als ein von Gott kommendes Transzendenzgeschehen zu begreifen, das bei den Jüngern und Jüngerinnen Transzendenzerfahrungen auslöste (s. u. 6.2.2). Transzendenzerfahrungen können in zweifacher Art verarbeitet und rekonstruiert werden: „Erzählungen, in welchen die Erfahrungen von Transzendenz kommunikativ gestaltet und zur Wiedererzählung bereitgestellt werden, und Rituale, in welche solche Erfahrungen kommemoriert werden und mit welchen die transzendente Wirklichkeit beschworen wird.“22 Dies leisten sowohl die Formel- als auch die Erzähltraditionen, in denen notwendigerweise in unterschiedlichen zeitbedingten Formen diese Transzendenzerfahrungen aufgearbeitet und zum intersubjektiven Diskurs in den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden. Taufe, Herrenmahl und Gottesdienste waren rituelle Orte, an denen die Erfahrungen erneuert und verfestigt wurden.
19 Vgl. U. WILCKENS, Der Ursprung der Überlieferung der Erscheinungen des Auferstandenen, in: P. Hoffmann (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, Darmstadt 1988, 139– 193. 20 Vgl. in diesem Sinn z. B. I. BROER, „Der Herr ist wahrhaft auferstanden“ (Lk 24,34). Auferstehung Jesu und historisch-kritische Methode. Erwägungen
zur Entstehung des Osterglaubens, in: Auferstehung Jesu – Auferstehung der Christen, hg. v. L. Oberlinner, QD 105, Freiburg 1986, 39–62. 21 H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther (s. u. 4.6), 282. 22 TH. LUCKMANN, Religion – Gesellschaft – Transzendenz, in: H.-J. Höhn (Hg.), Krise der Immanenz (s. o. 1.2), 120 f.
Erfahrungen des Geistes 151
Ostern wurde so zur Basisgeschichte der neuen Bewegung23. An den Texten lässt sich ablesen, was die Ereignisse auslöste und welche Bedeutungen ihnen zugeschrieben wurden. Historisch und theologisch höchst bedeutsam ist die Beobachtung, dass Paulus als authentischer Erscheinungszeuge seine Transzendenzerfahrung sehr restriktiv schildert und auf die entscheidende theologische Erkenntnis hin auslegt: Der Gekreuzigte ist auferstanden! Die Erscheinungen des Auferstandenen als Transzendenzerfahrungen eigener Art begründen die Gewissheit, dass Gott durch seinen schöpferischen Geist (vgl. Röm 1,3b–4a) an Jesus Christus handelte und ihn zur maßgeblichen Gestalt der Endzeit eingesetzt hat.
4.3
Erfahrungen des Geistes
Neben den Erscheinungen des Auferstandenen ist das Wirken des Geistes die zweite Erfahrungsdimension, die auf die Ausbildung der frühen Christologie einwirkte. Während die Erscheinungen streng begrenzt waren, ist das Wirken des Geistes keinen Beschränkungen unterworfen. Religionsgeschichtlich gehören Gott und der Geist schon immer zusammen. Im griechisch-römischen Kulturraum vollzieht sich das Wirken der Gottheiten vor allem nach der Lehre der Stoiker in der Sphäre des Geistes24. Im antiken Judentum ist die Vorstellung von großer Bedeutung, dass in der Endzeit der Geist Gottes ausgegossen wird (vgl. Ez 36,25–29; Jes 32,15–18; Joel 3,1– 5LXX; 1QS 4,18–23 u. ö.). Der Messias wurde als geistbegabte Gestalt vorgestellt und Tempel-/Einwohnungsmetaphorik verbanden sich mit dem Geist25. Im frühen Christentum dürften spontane Geisterfahrungen den Ausgangspunkt der Entwicklung markieren: ‚Gott hat uns den Geist gegeben‘ (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 1,12.14; 2Kor 1,22; 5,5; Röm 5,5; 11,8). Der Empfang des Geistes ist auch an äußeren Phänomenen erkennbar (vgl. Gal 3,2; Apg 8,18), speziell an wunderbaren Heilungen (1Kor 12,9.28.30), ekstatischer Glossolalie (Apg 2,4.11; 4,31 u. ö.) und prophetischem Reden (vgl. 1Kor 12; 14; Apg 10; 19). In legendenhafter Ausschmückung, im Kern aber historisch sicherlich zuverlässig, beschreibt die Apostelgeschichte das Wirken des Geistes in den frühesten Gemeinden. Der Heilige Geist erscheint als die von Jesus versprochene „Kraft aus der Höhe“ (Lk 24,49; Apg 1,5.8), die den Jüngern zu Pfingsten (Apg 2,4) verliehen wird. Der Geist wird allen zuteil, die die Predigt der Apostel annehmen und sich taufen lassen (vgl. Apg 2,38). Nach frühester Überlieferung war schon das Wirken Jesu seit der Taufe durch den Heiligen Geist geprägt (vgl. Mk 1,9–11; Apg 10,37). Es ist der Geist Gottes, der die Auferstehung Jesu bewirkt
23 Vgl. R. V. BENDEMANN, Die Auferstehung von den Toten als ‚basic story‘, GuL 15 (2000), 148–162. 24 Vgl. dazu die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2, hg. v. U. Schnelle u. Mitarb. v. M. Labahn/M. Lang, Berlin
2001, 226–234. 25 Vgl. dazu grundlegend F.W. HORN, Das Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 61 ff.
152 Die Entstehung der Christologie
(Röm 1,3b–4a; Röm 6,4; 8,11; 1Petr 3,18; 1Tim 3,16), und nun die neue Seins- und Wirkweise des Auferstandenen bestimmt (2Kor 3,17: „Der Herr aber ist der Geist“; vgl. 1Kor 15,45). Das Wirken des Geistes trennt im Taufgeschehen die Glaubenden von der Macht der Sünde und bestimmt von nun an ihr neues Sein (vgl. 1Kor 12,13; 6,19; Röm 5,5). Paulus als ältester literarischer Zeuge teilt die Auffassung von den wahrnehmbaren Zeichen des eschatologischen Geistempfanges (vgl. z. B. 1Thess 1,5; Gal 3,2–5; 1Kor 12,7ff). Er selbst nimmt Erfahrungen des Geistes für sich in Anspruch (vgl. 1Kor 14,18; 2Kor 12,12) und mahnt die Gemeinden, den Geist nicht zu dämpfen (vgl. 1Thess 5,19). Die ältesten christlichen Aussagen über das Wirken des Geistes Gottes sprechen die Überzeugung aus, dass die jüdische Hoffnung auf das inspirierende und lebenspendende Pneuma für die Endzeit jetzt ihre Erfüllung gefunden hat. Im Wirken des Geistes Gottes erkannten die frühen Christen die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten.
4.4
Die christologische Lektüre der Schrift
Das Auftreten Jesu in Israel verweist die frühen Christen auf die Schriften Israels. Aus den Schriften nimmt die Christologie ihre Sprache, wie 1Kor 15,3f bezeugt; das Postulat „gemäß den Schriften“ (kata` ta`ß grafa´ß) ist ein grundlegendes theologisches Signal. Die frühen Christen leben in und aus den Schriften Israels. Die Lektüre vollzieht sich allerdings unter veränderten Verstehensbedingungen, denn nun lesen die Judenchristen ihre Schrift (vornehmlich in der Gestalt der Septuaginta26) neu aus der Perspektive des Christusgeschehens. Die Relecture der Schriften vollzieht sich in einer zweifachen Bewegung: Die Schriften werden zum Bezugsrahmen der Christologie und die Christologie gibt den Schriften eine neue Bestimmtheit27. Die christologische Relecture der Schrift führt im frühen Christentum zu verschiedenen Modellen, um die Kontinuität des Verheißungshandelns Gottes in der Geschichte aufzuzeigen. Durch Gottes Heilshandeln an Jesus von Nazareth in Kreuz und Auferstehung war für die ersten Christen deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Geschehen und dem Heilshandeln Gottes mit Israel geben muss. In den Figuren der Typologie (Vorabbildung), der Verheißung und der Erfüllung sowie in den exegetischen Methoden der Allegorese und des Midrasch, in Zitatkombina-
26 Vgl. als Einführung E. WÜRTHWEIN, Der Text des
Alten Testaments, Stuttgart 51988, 58–90; ferner R. HANHART, Die Bedeutung der Septuaginta in neutestamentlicher Zeit, ZThK 81 (1984), 395–416; M. HENGEL/A.M. SCHWEMER (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, WUNT 72,
Tübingen 1994; M. TILLY, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005. 27 Einen Überblick vermittelt ST. MOYISE, The Old Testament in the New. An Introduction, London/ New York 2001.
Die christologische Lektüre der Schrift 153
tionen, Zitatvariationen und Anspielungen sind Modelle zu sehen, um diese grundlegende Überzeugung auszudrücken. In den unbestritten echten Paulusbriefen finden sich 89 Zitate aus dem Alten Testament28, wobei die Verteilung der Zitate über die einzelnen Briefe auffällig ist: Im ältesten (1Thess) und in den beiden jüngsten (Phil, Phil) Briefen fehlen Zitate, hingegen finden sich die meisten Zitate in den Schriften, in denen der Apostel aktuelle Probleme bzw. Konflikte bearbeiten muss (Korintherbriefe, Gal und vor allem Röm!). Theologisch ist für Paulus die Schrift Zeuge des Evangeliums, denn die Verheißungen Gottes (vgl. epaggelı´a in Gal 3 und Röm 4) erfahren im Evangelium von Jesus Christus ihre Bestätigung (vgl. 2Kor 1,20; Röm 15,8). In der Logienquelle finden sich 5 Zitate mit Einleitung, wobei die Konzentration auf die Versuchungsgeschichte auffallend ist (vgl. Q 4,4.8.10f.12; ferner Q 7,27)29. Markus platziert Zitate an zentralen Stellen seines Evangeliums (vgl. Mk 1,2f; 4,12; 11,9; 12,10.36; 14,27); sie bestätigen das Heilsgeschehen, ohne ein zentrales Element der Christologie zu sein30. Auffälligerweise findet sich bei Markus erstmals in einem Nebensatz die Wendung „aber die Schriften sollen erfüllt werden“ (Mk 14,49). Bei Matthäus sind die Erfüllungszitate ein grundlegender Bestandteil der Christologie (vgl. mit jeweils redaktioneller Einführung Mt 1,23; 2,6.15.18.23; 4,15f; 8,17; 12,18–21; (13,14f); 13,35; 21,5; 27,9f; vgl. ferner Mt 26,54.56)31. Sie legen nach dem Deutungsmodell ‚Verheißung – Erfüllung‘ umfassend dar, wie einzelne Begebenheiten aus dem Leben Jesu, seine Taten und Worte sowie die Passion den Schriften entsprechen, sie bejahen und erfüllen. Die Einführungsformeln zeigen Gemeinsamkeiten, es folgt auf den Erfüllungsgedanken der Verweis auf die Schriftstelle, wobei auch der Name des Propheten (Jesaja, Jeremia) genannt werden kann. Das Leitverb plvro´w steht in der Regel im Passiv, um so auf das Handeln Gottes zu verweisen. Dadurch wird das Hauptanliegen matthäischer Christologie zum Ausdruck gebracht: Die Geschichte Jesu ist die Geschichte Gottes. Bei Lukas steht die Vorstellung im Mittelpunkt, dass im Auftreten Jesu die prophetischen Verheißungen der Schrift erfüllt sind (vgl. Lk 1,70; 4,21; 18,31; 24,44; Apg 3,21)32. Auf die Zeit des Gesetzes und der Propheten folgt die gegenwärtige Verkündigung des Reiches Gottes (Lk 16,16). Die Zeit des Heils im Auftreten Jesus setzt sich fort in der universalen Evangeliumsverkündigung der Kirche (vgl. Apg 10,34f). Ei-
28 Vgl. D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums, BHTh 69, Tübingen 1986, 21–23; zu den einzelnen Zitaten vgl. neben D.-A. Koch bes. H. HÜBNER u. Mitarb. v. A. LABAHN/M. LABAHN, Vetus Testamentum in Novo II: Corpus Paulinum, Göttingen 1995. 29 Vgl. hier D.C. ALLISON, The Intertextual Jesus. Scripture in Q, Harrisburg (PA) 2000. 30 Zu Markus vgl. ST. MOYISE, The Old Testament in the New, 21–33; J. MARCUS, Way of the Lord, Lon-
don/Edinburgh 2005. 31 Vgl. zur Analyse bes. G. STRECKER, Weg der Ge-
rechtigkeit (s. u. 8.3), 49–84; W. ROTHFUCHS, Die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums, BWANT 88, Stuttgart 1969, U. LUZ, Mt I (s. u. 8.3), 189–199. Zum Schriftgebrauch des Mt insgesamt vgl. M.J.J. MENKEN, Matthew‘s Bible. The Old Testament Text of the Evangelist, BEThL 173, Leuven 2004. 32 Vgl. hier ST. MOYISE, The Old Testament in the New, 45–62.
154 Die Entstehung der Christologie
nen Schritt weiter geht Johannes, bei dem Jesus zum verborgenen Subjekt der Schrift wird (Joh 5,46: „Denn wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr auch mir glauben, denn über mich hat jener geschrieben“). Identifizier- und abgrenzbare Zitate aus dem Alten Testament33 finden sich in Joh 1,23; 1,51; 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,13.15.27.38.40; 13,18; 15,25; 16,22; 19,24.28.36.37; 20,28; vgl. ferner Joh 3,13; 6,45; 7,18.38.42; 17,12. Auffällig sind die unterschiedlichen Einleitungsformeln in den beiden Hauptteilen des Evangeliums. Während sich im ersten Teil des Evangeliums fünfmal das Partizip gegramme´non in Verbindung mit estı´n (vgl. Joh 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,14) findet, sprechen die neuen Einleitungsformeln im zweiten Hauptteil des Evangeliums (ab Joh 12,38) ausdrücklich von der Erfüllung des Gotteswillens in der Passion Jesu Christi. Die Schriften verweisen hier nicht nur auf Jesus, sondern Christus bezeugt sich selbst in ihnen. Damit ist ein grundlegender Perspektivenwechsel vollzogen, die Christologie empfängt nicht nur Impulse aus den Schriften, sondern prägt diese inhaltlich. Im Rahmen der temporären und sachlichen Priorität des Christusgeschehens weist Johannes der Schrift einen außerordentlichen Rang zu: Als Christuszeuge kommentiert und vertieft sie die wahre Erkenntnis des Gottessohnes. Einige Einzeltexte nehmen in der frühchristlichen AT-Rezeption eine besondere Stellung ein. Paulus setzt mit Gen 15,6 und Hab 2,4b faktisch alle anderen Texte des Alten Testaments außer Kraft. Bei der interpretierenden Aufnahme von Hab 2,4bLXX in Gal 3,11 und Röm 1,17 bindet der Apostel die Treue Gottes nicht an den aus der Tora lebenden Gerechten, sondern an den Glauben an Jesus Christus als Rechtfertigungsgeschehen. Der chronologische Abstand zwischen Gen 15,6 und Gen 17 hat bei Paulus theologische Qualität. Gilt die Beschneidung aus jüdischer Sicht als umfassender Treueerweis Abrahams gegenüber den Geboten Gottes, so trennt Paulus die Beschneidung von der Glaubensgerechtigkeit. Die Glaubensgerechtigkeit ging der Beschneidung voran, so dass die Beschneidung lediglich als eine nachträgliche Anerkennung und Bestätigung der Glaubensgerechtigkeit verstanden werden kann. Eine Schlüsselstellung nahm Ps 110,1LXX bei der Herausbildung der frühen Christologie ein34: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich dir
33 Vgl. dazu G. REIM, Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, MSSNTS 22, Cambridge 1974; B. G. SCHUCHARD, Scripture within Scripture, SBL.DS 133, Atlanta 1992; A. OBERMANN, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium, WUNT 2.83, Tübingen 1996; W. KRAUS, Johannes und das Alte Testament, ZNW 88 (1997), 1–23; H. HÜBNER u. Mitarb. v. A. LABAHN/M. LABAHN, Vetus Testamentum in Novo
I.2: Evangelium Johannis, Göttingen 2003; M. LAJesus und die Autorität der Schrift, in: M. Labahn/K. Scholtissek/A. Strotmann (Hg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 185–206. 34 Vgl. M. HENGEL, Psalm 110 und die Erhöhung des Auferstandenen zur Rechten Gottes, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/ H. Paulsen, Göttingen 1991, 43–74. Zur Rezeption BAHN,
Religionsgeschichtliche Kontexte 155
deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege.“ Hier fanden die frühen Christen den maßgeblichen Schriftbeleg für Jesu himmlische Würde und Funktion: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus (vgl. 1Kor 15,25; Röm 8,34; Mk 12,36; 14,62; Mt 22,44; 26,64; Lk 20,42; 22,69; Apg 2,34; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12). In diesem Kontext übertrugen die ersten Christen schon sehr früh die für Gott geläufige Anrede ‚Herr‘ auf Jesus (vgl. die Aufnahme von Joel 3,5LXX in Röm 10,12f; ferner 1Kor 1,31; 2,16; 10,26; 2Kor 10,17) und brachten damit seine einzigartige Autorität in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck35. Bei der Ausformung der Sohnes-Christologie (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a; Mk 1,11; 9,7) dürfte Ps 2,7 („Kundtun will ich den Beschluss des Herrn; er sprach zu mir: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“; vgl. ferner 2Sam 7,11f.14) eine zentrale Bedeutung eingenommen haben. Als intertextuelles Phänomen leistet die christologische Relecture der Schrift zweierlei: Sie stellt die atl. Referenztexte in einen neuen Sinnhorizont und legitimiert zugleich die eigene theologische Position der ntl. Autoren. Dabei bildet nicht das Eigengewicht der Schrift, sondern Gottes endzeitliches Heilshandeln in Jesus Christus die sachliche Mitte ihres Denkens. Zentrale Inhalte jüdischer Theologie (Tora, Erwählung) werden neu bedacht und der Schrifttext in einen produktiven intertextuellen Interpretationsprozess hineingenommen.
4.5
Religionsgeschichtliche Kontexte
Die Entwicklung der frühen Christologie vollzog sich in Kontinuität zu jüdischen Basissätzen, die wichtige Verstehenskategorien lieferten: Gott ist einer, er ist der Schöpfer, der Herr und der Erhalter der Welt. Traditionen des antiken Judentums36 ermöglichten es auch, am Monotheismus festzuhalten, zugleich aber Jesus von Nazareth als Cristo´ß, ku´rioß und uıo`ß tou˜ heou˜ zu bezeichnen. Für das frühe Christentum war es ein naheliegender Vorgang, vornehmlich in der jüdischen Tradition verankerte Hoheitstitel (s. o. 3.9/s. u. 4.6) auf Jesus zu übertragen. Nach jüdischer Vorstellung gibt es nur einen Gott, aber er ist nicht allein. Zahlreiche himmlische Mittlergestalten wie die Weisheit (vgl. Prov 2,1–6; 8,22–31; Sap 6,12–11,1), der Logos oder die Namen Gottes haben ihre Heimat in unmittelbarer Nähe zu Gott37. Biblische Patriarchen wie Heder Psalmen vgl. insgesamt St. MOYISE/M. J. J. MENKEN (Hg.), The Psalms in the New Testament, London/ New York 2004. 35 Vgl. dazu M. DE JONGE, Christologie im Kontext (s. o. 4), 177 f. 36 Vgl. dazu L. W. HURTADO, One God, One Lord, Edinburgh 21998, 17–92; W. HORBURY, Jewish Messianism and Early Christology, in: R. Longenecker
(Hg.), Contours of Christology (s. o. 4), (3–24) 23, stellt heraus, „that early Christian conceptions of a crucified but spiritual and glorious Messiah are best interpreted by Jewish representations of the Messiah as a glorious king embodying a superhuman spirit.“ 37 Vgl. exemplarisch Sap 9,9–11; Philo, Conf 146 f. Zur Analyse der frühen Weisheitstraditionen im Neuen Testament vgl. H. V. LIPS, Weisheitliche Tradi-
156 Die Entstehung der Christologie
noch (vgl. Gen 5,18–24)38 oder Mose und Erzengel wie Michael39 umgeben Gott und wirken nun in seinem Auftrag. Sie bezeugen die Weltzugewandtheit Gottes, zeigen, dass Gottes Macht überall präsent ist und alles seiner Kontrolle unterliegt. Als Teilhaber an der himmlischen Welt sind sie Gott untergeordnet, sie gefährden in keiner Form den Glauben an den einen Gott. Als geschaffene und untergebene Kräfte traten sie in keine Konkurrenz zu Gott, als göttliche Attribute beschreiben sie in der Sprache menschlicher Hierarchie die Aktivitäten Gottes für die Welt und in der Welt. Zugleich sind aber gravierende Unterschiede offenkundig40: 1) Die personifizierten göttlichen Attribute waren keine gleichwertigen Personen mit eigenständigen Handlungsfeldern. 2) Sie wurden nicht kultisch verehrt. 3) Innerhalb der Vielfalt jüdischer Vorstellungen war es undenkbar, dass ein gerade schmachvoll Verstorbener in gottgleicher Art verehrt wurde. Das Judentum bildet auch bei der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten den religionsgeschichtlichen Rahmen und Hintergrund, hier formte sich diese Vorstellung im Rahmen der Apokalyptik im 3./2. Jh. v.Chr. aus41. Der einzig unbestrittene Auferstehungstext im AT ist Dan 12,2f: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten.“ Als zweiter zentraler Text ist Jes 26,19 zu nennen: „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird wachen und jubeln. Denn der Tau, den du sendest, ist ein Tau des Lichts; die Erde gibt die Toten heraus.“ Die in beiden Texten vorausgesetzte Auferstehungshoffnung hat eine Vorgeschichte im AT, zu verweisen ist auf Jes 26 und Ez 37,1–14. Im 2./1. Jh. v.Chr. bezeugen zahlreiche Texte die Auferstehungshoffnung: SapSal 3,1–8; äthHen 46,6; 48,9f; 51,1; 91,10; 93,3f; 104,2; PsSal 3,10–12; LAB 19,12f; 2Makk 7,9; TestBen 10,6–10. Von besonderer Bedeutung ist, dass es auch bei den Essenern den Glauben an eine Auferwe-
tionen im Neuen Testament, WMANT 64, Neukirchen 1990, 267–280 (er betont zutreffend, dass von einer expliziten ‚Weisheitschristologie‘ nicht gesprochen werden kann); zu den Bezügen zur Weisheit in der Christologie der Logienquelle s. u. 8.1.2. 38 Als Text vgl. z. B. äthHen 61. 39 Vgl. z. B. Dan 10,13–21; äthHen 20,5; 71,3; 90,21. Zur möglichen Bedeutung von Engelvorstellungen für die Entstehung der frühen Christologie vgl. CHR. ROWLAND, The Open Heaven, London 1982; J. E. FOSSUM, The Name of God and the Angel of the Lord, WUNT 36, Tübingen 1985; L. T. STUCKENBRUCK, Angel Veneration and Christology, WUNT 2.70, Tübingen 1995. S. VOLLENWEIDER, Zwischen Monotheismus und Engelchristologie, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen
2002, 3–27, sieht zwar deutlich die Grenzen einer angelologischen Interpretation (entlegene Einzeltexte bilden den Ausgangspunkt umfangreicher Konstruktionen, gewagte traditionsgeschichtliche Entwicklungslinien werden postuliert, Ausblendung der Sophia- und Logosvorstellung, im Neuen Testament werden Engelvorstellungen nur partiell und minimiert aufgenommen), will aber trotzdem die Angelologie als „praeparatio christologica“ verstehen. Er nennt fünf Bereiche, in denen eine Übertragung von Attributen Gottes auf Jesus Christus erfolgte: Name/ Titel, Schöpfung, Weltherrschaft, Heil, Verehrung. 40 Vgl. L. W. Hurtado, One God, One Lord, 93–124. 41 Vgl. dazu O. SCHWANKL, Die Sadduzäerfrage (s. o. 3.8.1), 173–274.
Religionsgeschichtliche Kontexte 157
ckung der Toten gegeben hat. In 4Q521 2 II,12 wird von Gott lobpreisend gesagt: „Dann wird er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen; Armen wird er frohe Botschaft verkünden . . .“ In der gleichen Handschrift findet sich in Fr. 7,6 folgender Text: „. . . der lebendig macht die Toten seines Volkes“42.
Auch genuin griechisch-hellenistische Vorstellungen dürften die Entstehung der frühen Christologie mit beeinflusst und ihre Rezeption erleichtert haben. Die Menschwerdung Gottes und die Gottwerdung eines Menschen ist keine jüdische, sondern eine griechische Vorstellung. Die Inkarnation von Göttern bzw. gottähnlichen Wesen (und die Vergöttlichung eines Menschen) als eine genuin griechische Anschauung verweist auf kulturgeschichtliche Vorgaben, die bei der Ausbildung43 und der Rezeption44 der frühen Christologie eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Ein anthropomorpher Polytheismus ist geradezu das Kennzeichen der griechischen Religion45 (klassisch Eur, Alc 1159: „Viele Gestalten kennt das Göttliche“ = pollai` morfai` tw˜n daimonı´wn). Göttliche Wesen in Menschengestalt stehen bereits im Zentrum des klassischen griechischen Denkens; Homer berichtet: „Durchwandern die Götter doch, Fremdlingen gleichend, die von weit her sind, in mancherlei Gestalt die Städte . . .“.46 Die Entstehung der Kultur wird auf das Eingreifen der Götter zurückgeführt, so schickt Zeus den Hermes, um die Menschen Recht und Scham zu lehren47; Hermes, 42 Übersetzung nach J. ZIMMERMANN, Messianische
Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 345.372. 43 Dies betont zu Recht D. ZELLER, Die Menschwerdung des Sohnes Gottes im Neuen Testament und die antike Religionsgeschichte, in: ders., Menschwerdung Gottes – Vergöttlichung des Menschen, NTOA 7, Fribourg/Göttingen 1988, 141–176. M. HENGEL, Der Sohn Gottes (s. o. 4), 65, baut in seiner Auseinandersetzung mit der religionsgeschichtlichen Schule und R. Bultmann falsche Alternativen auf, wenn er zu den griechischen Göttervorstellungen feststellt: „Dem Geheimnis der Entstehung der Christologie kommen wir mit alledem kaum näher.“ Es geht um die kulturellen Kontexte, in denen die frühen christologischen Aussagen entstehen und rezipiert werden konnten; dazu gehört auch der griechisch-hellenistische Bereich. 44 Die klassische traditionsgeschichtliche Fragestellung muss um rezeptionsgeschichtliche Aspekte erweitert werden; vgl. D. ZELLER, New Testament Christology in its Hellenistic Reception, NTS 46 (2001), (312–333), 332 f. 45 Vgl. W. BURKERT, Art. Griechische Religion, TRE 14, Berlin 1985, (235–252) 238 ff. Die Gründungslegende der griechischen Religion überliefert Herodot II 53,2: „Hesiod und Homer haben den Stammbaum der Götter in Griechenland geschaffen und ihnen ih-
re Beinamen gegeben, die Ämter und Ehren unter sie verteilt und ihre Gestalt geprägt.“ Zugleich findet sich aber in der Kritik der Anthropomorphismen der homerischen Götterwelt schon früh der Gedanke, dass es eigentlich nur ‚einen‘ Gott unter den Göttern geben könne; vgl. Xenophanes (ca. 570–475 v.Chr.) Fr. B 23: „Ein einziger Gott ist unter den Göttern und Menschen der Größte“ (eıß heo`ß en te heoı˜si kai` anhrw´poisi me´gistoß). 46 Hom, Od 17,485f (= NEUER WETTSTEIN II/2, hg. v. G. STRECKER/U. SCHNELLE u. Mitarb. v. G. SEELIG, Berlin 1996, 1232); Hom, Il 2,167–172; 5.121–132; 15.236– 238; vgl. ferner Hom, Od 7,199–210 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 55); Eur, Ba 1–4.43–54 (= NEUER WETTSTEIN II/1, hg. v. G. STRECKER/U. SCHNELLE u. Mitarb. v. G. SEELIG, Berlin 1996, 672f); Plat, Soph 216ab (= NEUER WETTSTEIN II/2, 1232); Diod S I 12,9–10 (= NEUER WETTSTEIN II/2, 1232f); Dio Chry, Or 30,27: „Solange nun das Leben noch neu gegründet war, besuchten uns die Götter in eigener Person und sandten aus eigener Mitte Führer, eine Art Statthalter, die sich um uns kümmern sollten, zum Beispiel Herakles, Dionysos, Perseus und all die anderen, die, wie man erzählt, als Söhne oder Nachfahren von Göttern unter uns weilten.“ 47 Vgl. Plat, Prot 322c-d (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 56).
158 Die Entstehung der Christologie
Herakles und Apollo nehmen als Boten der Götter Menschengestalt an bzw. wirken als Götter unter den Menschen48. Götter in Menschengestalt können sowohl einen irdischen als auch einen ewigen Ursprung haben; Plutarch weiß über die Herkunft des Apollo zu berichten: „. . . denn die uralte Sage versetzt Apollo nicht unter diejenigen Götter, die einen irdischen Ursprung haben und erst durch Verwandlung zur Unsterblichkeit gelangt sind, wie Herakles und Dionysos, welche ihrer Verdienste wegen das Sterbliche und dem Leiden Unterworfene ablegten, sondern Apollo ist einer der ewigen, nicht geborenen Götter.“49 Herakles vernichtete als Sohn Gottes und Retter in Gehorsam gegenüber Zeus Unrecht und Gesetzlosigkeit auf der Erde; wegen seiner Tugend (aretv´) verlieh ihm Zeus die Unsterblichkeit50. Mythische Gestalten des Anfangs wie Pythagoras oder berühmte Wundertäter wie Apollonius von Tyana51 erschienen als Götter in Menschengestalt, die ihre Macht zum Wohl der Menschen einsetzten. Empedokles reiste als unsterblicher Gott umher, beglückte und heilte die Menschen52. Der Heroenkult setzte sich im Herrscherkult fort, der schließlich in den römischen Kaiserkult überging53; in den großen Kulturleistungen und Siegen der Geschichte offenbaren sich Gottheiten in Menschengestalt54. Aufschlussreich sind Überlegungen Plutarchs zum Wesen der zahlreichen wirklichen oder angeblichen Götter: „Aus diesem Grunde tut man wohl am besten, wenn man alles, was von Typhon, Osiris und Isis erzählt wird, nicht für Begebenheiten einiger Götter oder Menschen, sondern gewisser großer Geister (daimo´nwn mega´lwn) hält, welche,
48 Vgl. nur Apg 14,11b–12, wo nach der Wundertat des Paulus in Lystra die Menge ruft: „Die Götter sind in Menschengestalt zu uns herabgestiegen. Und sie nannten den Barnabas Zeus, den Paulus aber Hermes, weil er der Wortführer war.“ 49 Plut, Pelop 16 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 57 f.). 50 Vgl. Isoc, Or 1,50; Epict, Diss II 16,44; Ench 15 (Diogenes und Herakles sind wegen ihres vorbildhaften Charakters Mitregenten der Götter „und heißen darum mit Recht göttlich“); Diod S IV 15,1; Dio Chrys, Or 1,84, wo über Herakles, den Sohn des Zeus, berichtet wird, dass er der Tyrannei ein Ende bereitet habe und jede gerechte Königsherrschaft schütze: „Und deshalb ist er der Retter der Welt und der Menschheit“ (kai` dia` tou˜to tv˜ß gv˜ß kai` tw˜n anhrw´pwn swtv˜ra eınai). Bemerkenswert aus den unzähligen Herakles-Traditionen ist ferner Dio Chrys, Or 8,28, wo es über Herakles und seine qualvollen Kämpfe heißt: „Jetzt aber, nach seinem Tode, verehren sie ihn mehr als alle anderen, halten ihn für einen Gott und sagen, er wohne mit Hebe zusammen. Zu ihm beten sie alle, ihr Leben möge nicht so qualvoll sein – zu ihm, der die größten Qua-
len ertrug.“ 51 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 59. 52 Vgl. Diog L 8,62: „Als ein unsterblicher Gott reise ich umher, nicht mehr sterblich, bei allem, wie es sich in meinem Fall gehört, mit Ehren ausgezeichnet, mit Binden umflochten und blühenden Kränzen. Von allen, deren blühende Städte ich besuche, von Männern wie von Frauen, werde ich verehrt. Und sie folgen mir zu Zehntausenden und fragen, wohin zum Gewinn der Pfad führe. Weissagungen verlangen die einen von mir, die anderen erbitten Auskunft bei Krankheiten aller Art, um ein heilbringendes Wort zu erfahren; werden sie doch schon lange von bohrenden Schmerzen gequält“ (zitiert nach J. MANSFELD [Hg.], Die Vorsokratiker II, Stuttgart 1986, 141). 53 Vgl. dazu H. FUNKE, Art. Götterbild, RAC 11, Stuttgart 1981, 659–828. Der ideale Herrscher glaubt „nicht nur an Götter, sondern auch an gute Zwischenwesen (daı´monaß) und Heroen (vÇrwaß); das sind die Seelen tüchtiger Männer, die die sterbliche Natur abgestreift haben“ (Dio Chrys, Or 3,54). 54 Vgl. W. BURKERT, Art. Griechische Religion, 247 f.
Religionsgeschichtliche Kontexte 159
wie auch Plato, Pythagoras, Xenokrates und Chrysipp mit den alten Theologen übereinstimmend behaupten, zwar stärker sind als Menschen und von Natur aus eine größere Macht besitzen als wir, aber auf der anderen Seite auch nicht eine ganz reine und unvermischte Gottheit, sondern so wie wir eine Seele und einen Körper haben, die Vergnügen und Schmerz empfinden können . . . Und Plato nennt diese Art von Dämonen Dolmetscher und Mittelpersonen zwischen den Göttern und Menschen (oÇ te Pla´twn ermvneutiko`n to` toiou˜ton onoma´zei ge´noß kai` diakoniko`n en me´sw hew˜n kai` anhrw´pwn), die die Wünsche und Gebete der Sterblichen vor die Gottheit tragen und von da Prophezeiungen und gute Gaben zurückbringen“ (Is et Os 361). Im Kontext eines sich ausbreitenden (paganen) Monotheismus bestimmt Plutarch Mittlerwesen, die den Kontakt zu den wahren Gottheiten halten und eine für die Menschen unabdingbare Funktion wahrnehmen55.
Die Vorstellung eines sowohl göttlichen als auch menschlichen Mittlerwesens56 war gerade für Griechen und Römer auf ihrem eigenen kulturellen Hintergrund rezipierbar57. Für Juden hingegen war der Gedanke unerträglich, dass Menschen wie der römische Kaiser Caligula sich anmaßten, als Götter zu gelten und verehrt zu werden58. Hier setzt die frühe Christologie sowohl gegenüber dem jüdischen als auch gegenüber dem griechisch-römischen Denken eigene Akzente, denn die Gottessohnschaft eines Gekreuzigten blieb in beiden Bereichen ein fremdartiger und anstößiger Gedanke (vgl. 1Kor 1,23). Die Herausbildung der frühen Christologie vollzog sich nicht in räumlich oder zeitlich abgrenzbaren Stufen, sondern innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums traten die verschiedenen christologischen Anschauungen nebeneinander und zum Teil miteinander 55 Vgl. ferner Plut, Is et Os 361: „Darauf wurden denn beide, Isis sowohl als Osiris, um ihrer Tugend willen aus der Zahl der guten Dämonen unter die Götter versetzt (ek daimo´nwn agahw˜n diL aretv˜ß eiß heou`ß metalabo´nteß), ebenso, wie nachmals Bacchus und Herkules; und nun werden sie mit Recht zugleich als Götter und Dämonen (aÇma kai` hew˜n kai` daimo´nwn) verehrt, da sie überall, vorzüglich aber auf und unter der Erde, eine große Macht besitzen.“ Zu den Gottes-/Göttervorstellungen bei Plutarch vgl. R. HIRSCH-LUIPOLD (Hg.), Gott und die Götter bei Plutarch, Berlin 2005. 56 Bei Sen, Herc F 447–50, heißt es über die umstrittene Herkunft des Herkules: „Lycus: Warum kränkst du Jupiter? Das sterbliche Geschlecht kann mit dem Himmel sich nicht vermählen. Amphityron: Gemeinsam ist dieser Ursprung mehreren Göttern“; Herkules/Herakles wird z. B. in Dio Chrys, Or 2,78; 66,23 als uıo`ß tou˜ Dio´ß („Sohn des Zeus“), in Or 31,16; 69,1 als vmı´heoß („Halbgott“), in Or 33,1 als
vÇrwß („Heros“) bezeichnet und in Or 33,45 unter die Götter gerechnet; vgl. ferner Or 33,47 (Herakles als Ahnherr von Tarsus). Herakles ist bei Dion von Prusa der Prototyp des Kynikers und des gerechten Herrschers; die zahlreichen Herakles-Traditionen in seinem Werk zeigen, wie selbstverständlich und verbreitet die Verehrung dieser Gestalt im 1. Jh. n.Chr. war. 57 Es geht dabei nicht um Ursachen oder Abhängigkeiten, sondern um Rezeptions- und Verstehenshorizonte! Umso unverständlicher ist es, dass L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), auf den gesamten griechisch-hellenistischen Bereich faktisch nicht eingeht. Auch Vertreter der sog. ‚new perspective‘ wie J. D. G. DUNN, The Theology of Paul (s. u. 6) oder N. T. WRIGHT, PAUL (s. u. 6) übergehen diesen gerade auch für Paulus zentralen Bereich einfach. 58 Vgl. Philo, Leg Gai 118 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 54f).
160 Die Entstehung der Christologie
verbunden auf. Es setzte ein theologischer Durchdringungs- und Versprachlichungsprozess ein, der die Identität Jesu als Irdischer und Auferweckter in seinem Verhältnis zu Gott näher zu bestimmen suchte. Sehr schnell wurden mit den verschiedenen Hoheitstiteln zentrale Kategorien antiken Denkens auf Jesus übertragen, um ihn als Ort und Medium der Selbstoffenbarung Gottes zu definieren. Es gab keine Entwicklung von einer ‚niedrigen‘ judenchristlichen Christologie hin zu einer hellenistisch synkretistischen ‚hohen‘ Christologie59. Vielmehr bot das hellenistische Judentum von Anfang an zentrale Vorstellungshilfen an, die bei der frühchristlichen Neufüllung von Mittlerwesen und Titeln von Bedeutung waren. Die zentralen christologischen Titel und die Vorstellung eines Mittlers zwischen Gott und Mensch waren zudem für eine eigenständige hellenistische Rezeption offen. Alle wesentlichen mit den Hoheitstiteln verbundenen christologischen Aussagen über Jesus bildeten sich schon geraume Zeit vor Paulus und wurden von ihm mit Traditionen aufgegriffen: Der auferweckte Jesus ist der Sohn Gottes (1Thess 1,10; Gal 1,16; Röm 1,4), ihm wurde der Name Gottes verliehen (Phil 2,9f). Er ist Gott gleich bzw. das Abbild Gottes (Phil 2,6; 2Kor 4,4) und Träger der Herrlichkeit Gottes (2Kor 4,6; Phil 3,21). Als präexistentes Wesen war er am göttlichen Schöpfungshandeln beteiligt (Phil 2,6; 1Kor 8,6), ihm gelten nun Wendungen und Zitate, die eigentlich auf Gott bezogen sind (vgl. 1Kor 1,31; 2,16; Röm 10,13). Sein Platz ist im Himmel (1Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20) zur Rechten Gottes (Röm 8,24), von dort aus herrscht er über das All (1Kor 15,27; Phil 3,21) und über die himmlischen Mächte (Phil 2,10). Von Gott gesandt, wirkt er gegenwärtig in der Gemeinde (Gal 4,4f; Röm 8,3), er ist der göttliche Bevollmächtigte bei dem mit seiner Parusie einsetzenden eschatologischen Gericht (1Thess 1,10; 1Kor 16,22; 2Kor 5,10). Diese Anschauungen lassen sich weder systematisieren noch auf ein geschlossenes Milieu zurückführen. Vielmehr ist zu vermuten, dass frühchristliche Gemeinden an verschiedenen Orten Urheber und Tradenten dieser Vorstellungen waren, denn es gab eine vielfältige Jesusrezeption im frühen Christentum. Die Verehrung Jesu neben Gott entstand aus den überwältigenden religiösen Erfahrungen der frühen Christen, wobei insbesondere die Erscheinungen des Auferstandenen und das gegenwärtige Wirken des Geistes zu nennen sind. Als ein weiterer wesentlicher Faktor innerhalb dieses Prozesses muss die Gottesdienstpraxis der frühen Gemeinden gelten. 1Kor 16,22 (‚Maranatha‘ = „unser Herr, komm!“) zeigt, dass die einzigartige Stellung und Bedeutung des erhöhten Christus von Anfang an die Gottesdienste bestimmte (vgl. auch 1Kor 12,3; 2Kor 12,8)60. Er ermöglichte den neuen Zugang zu 59 Von dieser Differenzierung sind die Arbeiten von W. KRAMER (Christos Kyrios Gottessohn [s. o. 4]) und F. Hahn tendenziell bestimmt; vgl. aber die vorsichtige Selbstkorrektur bei F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. o. 4), 446–448. 60 Zur Bedeutung der gottesdienstlichen Praxis für die Herausbildung der frühen Christologie vgl.
W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. 4), 158–167; M. HENGEL, Abba, Maranatha, Hosanna und die Anfänge der Christologie (s. o. 4), 154: „Bereits in der aramäischsprechenden Urgemeinde bringen die Akklamationen Abba und Maranatha elementare Gewissheiten zum Ausdruck.“
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 161
Gott, der im geistgewirkten Gebetsruf abba´ (‚Abba‘ = „Vater“: Gal 4,6; Röm 8,15; Mk 14,36) im Gottesdienst bekannt wird. In der liturgischen Praxis galt: „Rühmet Gott und den Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (Röm 15,6). Taufe, Herrenmahl und Akklamationen stehen in exklusiver Beziehung zum Namen Jesu, wobei die Vielfalt der Anschauungen auf die ihnen zugrunde liegende neuartige und umstürzende religiöse Erfahrung verweist. Neben die theologische Reflexion trat somit die gottesdienstliche Anrufung und rituelle Verehrung Jesu als ein weiterer Haftpunkt für die Herausbildung, Entfaltung und Verbreitung christologischer Vorstellungen.
4.6
Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos, Titel, Formeln und Traditionen
Das Wirken, das Geschick und das Weiter-Wirken Jesu Christi führte die Christusgläubigen zu der Einsicht, dass in ihm Gott selbst handelte und gegenwärtig bleibt. Mythos
Dies war nur in der Form des Mythos aussagbar (o mu˜hoß = Rede, Erzählung von Gott bzw. den Göttern), denn hier musste die Geschichte geöffnet werden für etwas, was rein geschichtlich nicht mehr darstellbar ist: Gott wurde Mensch in Jesus von Nazareth. Diese Verflechtung der göttlichen Welt mit der menschlichen Geschichte kann nur in der Form des Mythos formuliert und rezipiert werden. Der Mythos ist ein kulturelles Deutungssystem, das auf Sinngebung von Welt, Geschichte und Menschenleben zielt, zur Identitätsbildung führt und eine handlungsleitende Funktion gewinnt61. Medial werden Mythen zumeist als Erzählung präsentiert; sie erläutern in narrativer Form das, was Welt und Leben grundlegend bestimmt und stellen dabei die Symbole bereit, die für jede Aneignung unentbehrlich sind. Der Mythos öffnet das durch göttliches Wirken gewordene Seiende dem Verstehen und formuliert die verpflichtenden Implikationen für das Selbst- und Weltverständnis einer Gruppe. Der Mythos besitzt eine eigene Rationalität, die kategorial, nicht aber qualitativ von der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Rationalität unterschieden ist. Auch das naturwissenschaftliche Weltbild beruht auf axiomatischen Basissätzen, die die allgemeine Art und Weise definieren, mit der die Wirklichkeit betrachtet wird. Sie stellen den Rahmen dar, in dem sich alles wissenschaftliche Behaupten und Konstruieren vollzieht; sie sind das Bezugssystem, in dem alles gedeutet und verarbeit wird; sie bestimmen die Fragen, die man an das Wirkliche stellt und somit auch die Antworten, die gegeben werden. „Die von der Wissenschaft erfasste Wirklichkeit ist demnach nicht die Wirk61 Zum Mythosbegriff vgl. R. BARTHES, Mythen des Alltags, Frankfurt 232003 (= 1957); L. KOLAKOWSKI, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973;
K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos, München 1985; G. SELLIN, Art. Mythos, RGG4 5, Tübingen 2002, 1697–1699.
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lichkeit an sich, sondern sie ist stets eine auf bestimmte Weise gedeutete. Die Antworten, die sie uns gibt, hängen von unseren Fragen ab.“62 Auch der Mythos leistet Welterklärung, nur auf andere Art und Weise als das neuzeitliche naturwissenschaftliche Denken. Der Mythos ist ein Erfahrungssystem, ein Mittel von Erklärung und Ordnung. „Er erklärt allerdings nicht mit Hilfe von Naturgesetzen und geschichtlichen Regeln, sondern durch Archai, mögen sich diese nun auf den Bereich der Natur oder des Menschen beziehen.“63 Deshalb ist der Mythos nichts Defizitäres oder Unvernünftiges, das ‚entmythologisiert‘ und damit überwunden werden muss64. Vielmehr ist er ein unaufgebbares Element jeder Weltdeutung und damit auch des Glaubens, durch den menschliche Geschichte transparent wird für göttliches Handeln. Der Mythos erlaubt es, verschiedene Wirklichkeiten in Beziehung zueinander zu setzen und so verstehbar zu machen. Dabei ist der um sich selbst wissende Mythos alles andere als eine Verobjektivierung Gottes, denn er ist sich seiner eigentlichen Unsagbarkeit bewusst und verzichtet darauf, Gott für menschliche Zwecke und Menschen für angeblich göttliche Zwecke zu instrumentalisieren.
Mythen beschreiben das Handeln von Göttern in Erzählungen, im frühen Christentum ist dies das Handeln Gottes im und durch das Leben des Jesus von Nazareth. Im Zentrum des mythischen Redens im Neuen Testament steht die Vergottung des Jesus von Nazareth, die sehr früh in allen Bereichen des entstehenden Christentums einsetzte. Diese Mythisierung erfolgte nicht durch die Übernahme vorgegebener Konzepte, sondern auf der Basis jüdischer (Monotheismus) und griechisch-römischer Vorstellungen (Menschwerdung eines Gottes/Vergöttlichung eines Menschen) wurden Jesu vorösterlicher Anspruch und sein österliches Geschick so aufgenommen, dass ein eigenständiger und neuer Mythos entstand. Dabei wird die Geschichte durch den Mythos nicht aufgehoben, sondern in eine übergreifende Wirklichkeit integriert. Bereits 1Kor 15,3–5 verdeutlicht diesen für das frühe Christentum grundlegenden Sachverhalt (s. u. Formeltraditionen ), denn die von Paulus angeführten geschichtlichen Eckdaten („Christus starb . . . er wurde begraben . . . ist auferweckt worden . . . und erschien dem Kephas“) erhalten ihre sinnstiftende Funktion erst durch die Aussagen „für unsere Sünden“ und „gemäß der Schrift“65. In besonderer Weise werden die göttliche und menschliche Wirklichkeit in der neuen Literaturgattung Evangelium in Beziehung gesetzt. Sie ist literaturgeschichtlich an der antiken Biographie orientiert, zugleich aber mit das Geschichtliche transzendierenden Elementen durchzogen: Vom ‚Anfang‘ (vgl. Gen 1,1; Mk 1,1; Joh 1,1) konnte nur mythisch erzählt wer-
62 K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos, 252. 63 A. a. O., 257. 64 R. Bultmanns ‚Entmythologisierung‘ ging nicht nur von einer historischen, sondern auch von einer sachlichen Überlegenheit des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens aus; vgl. dazu R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, München
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1985 (= 1941); DERS., Jesus Christus und die Mythologie, Hamburg 1964. Zur Diskussion vgl. K. JASPERS/R. BULTMANN, Die Frage der Entmythologisierung, München 1981 (= 1953/54); B. JASPERT, Sackgassen im Streit mit R. Bultmann, St. Ottilien 1985. 65 Vgl. G. SELLIN, Art. Mythos, 1698.
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den und vor allem die christologischen Hoheitstitel bringen die Zugehörigkeit des in der Geschichte handelnden Jesus Christus zur himmlischen Welt zum Ausdruck. Die Evangelien werden so zu Grundbüchern einer neuen Religion, in deren Zentrum der Christusmythos stand: Die Geschichte des Gottessohnes Jesus von Nazareth, der für die Menschen eintrat und für ‚unsere Sünden‘ starb, damit wir leben können (vgl. 2Kor 8,9). Frühe Christologie
Als maßgeblicher früher Zeuge bestätigt Paulus, dass die frühe Christologie schon bald eine feste Sprache und Gestalt in Titeln, Formeln und Traditionen gewann. Nach 1Kor 15,1–3a66 teilt Paulus der Gemeinde mit, was er selbst zuvor empfing (vgl. 1Kor 15,3b–5). In 1Kor 11,2 lobt Paulus die Gemeinde, „weil ihr in allen (Dingen) meiner gedenkt und an den Überlieferungen festhaltet, wie ich sie euch übergeben habe.“ Die Abendmahlsparadosis empfing Paulus nach 1Kor 11,23a vom Herrn, und er gibt sie nun an die Gemeinde weiter (1Kor 11,23b–26). Wann und wo Paulus über sein Vor- und Spezialwissen hinaus im christlichen Glauben unterwiesen wurde, lässt sich nicht mehr sagen. Er empfing nach Apg 9,17.18 in Damaskus den Geist und ließ sich taufen, vielleicht war damit auch eine Unterweisung im christlichen Glauben verbunden. Ohne Zweifel erhielt Paulus schon sehr früh eine solche Katechese, denn er beginnt schon bald nach seiner Berufung zum Apostel mit eigenständiger Missionsarbeit (vgl. Gal 1,17). Form- und traditionsgeschichtlich lassen sich die frühen christologischen Anschauungen in verschiedene Kategorien einteilen, auch wenn geprägte Formeln sowie Wort- und Motivkombinationen über eine gewisse Variabilität verfügen, sich nicht immer exakt verorten lassen und die formgeschichtliche Klassifizierung teilweise unterschiedlich ausfällt67. Christologische Titel
Bereits die christologischen Titel sind Abbreviaturen des gesamten Heilsgeschehens, das sie jeweils unter spezieller Perspektive aktualisieren; sie sagen aus, wer und was Jesus von Nazareth für die glaubende Gemeinde ist68. Die zentrale Hoheitsbezeichnung Cristo´ß bzw. LIvsou˜ß Cristo´ß (s. o. 3.9.3) haftet bereits an den ältesten Bekenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15) und thematisiert das gesamte Heilsgeschehen. Schon bei Paulus verbinden sich Aussagen über die Kreuzigung (1Kor 1,21; 2,2; Gal 3,1.13), den Tod (Röm 5,6.8; 14,15; 15,3; 1Kor 8,11; Gal 2,19.21), die
66 Paulus greift mit paralamba´nein und paradido´nai in 1Kor 11,23a; 15,3a auf jüdische Traditionssprache zurück; vgl. H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther, KEK V, Göttingen 1969, 230. 67 Die formgeschichtlichen Probleme werden dis-
kutiert bei R. BRUCKER, ‚Christushymnus‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, FRLANT 176, Göttingen 1997, 1–22. 68 Zusammenfassende Darstellung bei L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 98–118.
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Auferweckung (Röm 6,9; 8,11; 10,7; 1Kor 15,12–17.20.23), die Präexistenz (1Kor 10,4; 11,3a.b) und die irdische Existenz Jesu (Röm 9,5; 2Kor 5,16) mit Cristo´ß. Von der auf das gesamte Heilsgeschehen bezogenen Grundaussage verzweigen sich die Cristo´ß-Aussagen dann in vielfältige Bereiche. So spricht Paulus vom pisteu´ein eiß Cristo´n (Gal 2,16: „glauben an Christus“; vgl. Gal 3,22; Phil 1,29), vom euagge´lion tou˜ Cristou˜ („Evangelium Christi“, vgl. 1Thess 3,2; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Röm 15,19; Phil 1,27) und versteht sich selbst als Apostel Christi (vgl. 1Thess 2,7; 2Kor 11,13: apo´stoloß Cristou˜). Auch in den Evangelien nimmt der Titelname LIvsou˜ß Cristo´ß eine zentrale Stellung ein, wie z. B. Mk 1,1; 8,29; 14,61; Mt 16,16 und die lukanische Geistchristologie (s. u. 8.4.3) deutlich zeigen. Der selbstverständliche Gebrauch von Cristo´ß auch bei überwiegend heidenchristlichen Gemeinden ist kein Zufall, denn die Adressaten konnten von ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund Cristo´ß im Kontext antiker Salbungsriten rezipieren. Die im gesamten Mittelmeerraum verbreiteten Salbungsriten zeugen von einem gemeinantiken Sprachgebrauch, wonach gilt: „wer/was gesalbt ist, ist heilig, Gott nah, Gott übergeben“69. Sowohl Judenchristen als auch Christen aus griechisch-römischer Tradition70 konnten Cristo´ß als Prädikat für die einzigartige Gottnähe und Heiligkeit Jesu verstehen, so dass Cristo´ß (bzw. LIvsou˜ß Cristo´ß) gerade bei Paulus als Titelname zum idealen Missionsbegriff wurde. Eine veränderte Perspektive verbindet sich mit dem ku´rioß-Titel71 (vgl. Ps 110,1LXX), der 719mal im Neuen Testament belegt ist. Indem die Glaubenden Jesus als ‚Herrn‘ bezeichnen, unterstellen sie sich der Autorität des in der Gemeinde gegenwärtig Erhöhten. Ku´rioß bringt Jesu einzigartige Würde und Funktion zum Ausdruck: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus. Der mit dem Kyrios-Titel verbundene Aspekt der Gegenwart des Erhöhten in der Gemeinde zeigt sich deutlich in der Akklamation und in der Abendmahlstradition als Haftpunkten der Überlieferung. Indem die Gemeinde akklamiert, erkennt sie Jesus als Kyrios an und bekennt sich zu ihm (vgl. 1Kor 12,3; Phil 2,6–11). Der Gott der Christen wirkt durch seinen Geist, so dass sie laut im Gottesdienst rufen (1Kor 12,3): ku´rioß LIvsou˜ß („Herr ist Jesus“), und nicht: ana´hema LIvsou˜ß („Verflucht sei Jesus“). Gehäuft erscheint ku´rioß in der Abendmahlsüberlieferung (vgl. 1Kor 11,20–23.26 ff.32; 16,22). Die Gemeinde versammelt sich in der machtvollen Gegenwart des Erhöhten, dessen heilvolle, aber auch strafende Kräfte (vgl. 1Kor 11,30) in der Abendmahlsfeier wirken. Neben die liturgische 69 M. KARRER, Der Gesalbte (s. o. 4), 211. 70 Der Begriff ‚Heidenchristen‘ ist missverständlich,
weil er suggeriert, Menschen aus griechisch-römischer Religiosität hätten vor ihrem Anschluss an die neue Bewegung der Christusgläubigen keine ernst zu nehmenden religiösen Bindungen gehabt. 71 Vgl. dazu W. KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn
(s. o. 4), 61–103.149–181; F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.o. 4), 67–132.461–466; J.A. FITZMYER, Art. ku´rioß, EWNT 2, Stuttgart 1981, 811–820; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 89–114; D.B. CAPES, Old Testament Yahweh Texts in Paul's Christology, WUNT 2.47, Tübingen 1992.
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Dimension des Kyrios-Titels tritt besonders bei Paulus eine ethische Komponente. Der Kyrios ist die entscheidende Instanz, von der aus alle Bereiche des täglichen Lebens bedacht werden (Röm 14,8: „Wenn wir leben, so leben wir dem Herrn, wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn. Wenn wir nun leben oder sterben, so sind wir des Herrn“). Bei Markus und Matthäus spielt der Kyrios-Titel nur eine untergeordnete Rolle, während Lukas nicht nur den Irdischen (Lk 7,13.19; 10,1.39.41 u. ö.) und Auferstandenen (Lk 24,3.34), sondern auch Jesus vor und bei der Geburt (Lk 1,43; 2,11) als ku´rioß bezeichnen kann. Schließlich verbindet sich mit dem Kyrios-Titel auch eine politische Konnotation: Er bringt die einzigartige Autorität des Erhöhten in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck72. Die im 1. Jh. zunehmende Verehrung römischer Kaiser verband sich (vornehmlich im Osten des Reiches) mit der Kyrios-Anrede (vgl. Apg 25,26; Suet, Dom 13,2), und auch innerhalb der Mysterienreligionen finden sich ku´rioß bzw. kurı´a-Akklamationen73. Der ku´rioß LIvsou˜ß Cristo´ß kreuzt in der frühchristlichen Missionsgeschichte den Weg vieler Herren und Herrinnen; gerade deshalb gilt es zu sichern, dass ihn dieses Prädikat nicht zu einem unter vielen macht. Der Titel uıo`ß (tou˜) heou˜ findet sich ca. 80mal im Neuen Testament, er steht vor allem in traditionsgeschichtlicher Kontinuität zu Ps 2,7 und verbindet sich mit verschiedenen christologischen Konzeptionen74. Paulus (15 Belege) übernahm ihn aus der Tradition (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a), wobei die besondere Platzierung von uıo´ß erkennen lässt, dass er diesem Titel eine hohe theologische Bedeutung zumaß. Der Sohnes-Titel bringt sowohl die enge Verbindung Jesu Christi mit dem Vater als auch seine Funktion als Heilsmittler zwischen Gott und den Menschen zum Ausdruck (vgl. 2Kor 1,19; Gal 1,16; 4,4.6; Röm 8,3). Bei Markus wird uıo`ß (tou˜) heou˜ zum zentralen christologischen Titel, der gleichermaßen Jesu himmlische und irdische Würde umfasst (s. u. 8.2.2). Auch Matthäus entfaltet eine ausgeprägte Sohn-Gottes-Christologie (s. u. 8.3.2), während bei Lukas der Titel nicht zentral ist. Von besonderer Bedeutung ist die textpragmatische Funktion der Hoheitstitel; sie erscheinen gehäuft in den Briefpräskripten und Evangeliumseröffnungen und gehören dort zu den metakommunikativen Signalen, durch die Kommunikation eröffnet und Sinnwelten definiert werden. Voraussetzung für das Gelingen einer schriftlichen Kommunikation ist ein gemeinsames Wirklichkeitsverständnis zwischen Autor und Ad-
72 Vgl. dazu M. DE JONGE, Christologie im Kontext
(s. o. 4), 177 f. 73 Vgl. z. B. Plut, Is et Os, 367, wo Isis v kurı´a tv˜ß gv˜ß („Herrin der Erde“) genannt wird; vgl. ferner NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 313–316; D. ZELLER, Art. Kyrios, DDD, Leiden 21999, 492–497. 74 Das relevante Material wird besprochen bei M. HENGEL, Der Sohn Gottes (s. o. 4), 35–39.67–89; vgl. ferner L. W. HURTADO, Art. „Son of God“, DPL
(1993), 900–906; A. LABAHN/M. LABAHN, Jesus als Sohn Gottes bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/ M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 97–120. Zu Qumran (vgl. neben 4QFlor I 11–13; 1QSa II 11 bes. 4Q 246) vgl. J. A. FITZMYER, The „Son of God" Document from Qumran, Bib 74 (1993), 153–174; J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 128– 170.
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ressaten. Diese Wirklichkeit mit ihren vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dimensionen wird durch die christologischen Titel benannt, zugleich auch vergegenwärtigt und als gemeinsames Glaubenswissen in Geltung gehalten75. Formeltraditionen
Als Glaubensformel (Pistisformel) werden jene frühen Texte bezeichnet, die in kurzer und prägnanter Form das in der Vergangenheit liegende christologische Heilsgeschehen formulieren76. Der zentrale Text ist die vorpaulinische Tradition 1Kor 15,3b–5, die deutlich eine Grundstruktur erkennen lässt, die durch die Nennung der Geschehnisse und ihrer Deutung gekennzeichnet ist77: oÇti Cristo`ß (dass Christus) ape´hanen (gestorben ist) upe`r tw˜n amartiw˜n vmw˜n (für unsere Sünden) kata` ta`ß grafa`ß (nach den Schriften) kai` oÇti eta´fv (und dass er begraben wurde) kai` oÇti egv´gertai (und er ist auferweckt worden) tU˜ vme´ra tU˜ trı´tU (am dritten Tag) kata` ta`ß grafa`ß (nach den Schriften) kai` oÇti wfhv Kvfa˜ eıta toı˜ß dw´deka (und er ist Kephas erschienen, dann den Zwölfen). Sprachliches Subjekt ist Cristo´ß; es geht um das Schicksal der entscheidenden Gestalt der Menschheit, die Individual- und Universalgeschichte in sich vereinigt. Dies ist möglich, weil Gott als das durchgängige sachliche Subjekt des Geschehens zu denken ist, sprachlich angezeigt durch die passiven Verbformen von ha´ptw und egeı´rw und das zweifache Interpretament kata` ta`ß grafa´ß. Die Reihung ‚gestorben – begraben‘ und ‚auferweckt – erschienen‘ benennt die Geschehnisse in ihrer zeitlichen und sachlichen Abfolge. Die Tempora der Verben haben Signalcharakter, denn die Aoristformen von apohnU´ skein und ha´ptw bezeichnen ein abgeschlossenes und vergangenes Geschehen, während das Perf. Pass. egv´gertai78 die fortdauernde Wirkung des
75 Vgl. U. SCHNELLE, Heilsgegenwart. Christologische Hoheitstitel bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/ M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 178–193. 76 Vgl. hierzu W. KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn (s. o. 4), 15–40. 77 Zur Interpretation dieses Textes vgl. H. CONZELMANN, Zur Analyse der Bekenntnisformel 1Kor 15,3– 5, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh 65, München 1974; 131–141; CHR. WOLFF, Der erste
Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig 2 2000, 354–370; G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. u. 6.2), 231–255; A. LINDEMANN, 1Kor (s. u. 6.3.2), 325–333; W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/4, Neukirchen 2001, 31–53; H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther (mit M. Gielen), ÖTK 7/3, Gütersloh 2005, 247–283. 78 Vgl. zu egeı´rein 1Thess 1,10; 2Kor 4,14; Röm 4,24b; 6,4; 7,4; 8,11b.
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Geschehens betont79. Christus ist von den Toten auferstanden, und die Auferstehung hat für den Gekreuzigten eine bleibende Wirkung. Das Passivum wfhv in V. 5 betont im Anschluss an atl. Theophanien, dass die Erscheinungen des Auferstandenen dem Willen Gottes entsprechen. Die Protepiphanie vor Kephas ist in der Tradition verankert (vgl. 1Kor 15,5; Lk 24,34), ebenso die Erscheinungen vor dem Jüngerkreis (vgl. Mk 16,7; Mt 28,16–20; Lk 24,36–53; Joh 20,19–29). Grundlage der Deutung ist das Schriftzeugnis; bei der upe´r-Wendung könnte an Jes 53,10–12; Ps 56,14; 116,8 gedacht sein, der ‚dritte Tag‘ lässt mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu (historische Erinnerung, Bezug auf Hos 6,2; Bedeutung des 3. Tages in der antiken Kulturgeschichte des Todes)80. Vergleichbare Anschauungen zu 1Kor 15,3b–5 finden sich in Lk 24,34, wo die passiven Verbformen Gott wiederum als alleiniges Subjekt des Geschehens erscheinen lassen: „Der Herr ist auferweckt worden und dem Simon erschienen“ (vge´rhv o ku´rioß kai` wfhv Sı´mwni). Geprägte Formulierungen zu Tod und Auferweckung Jesu liegen ferner vor in: 1Thess 4,14 („denn wenn wir glauben, dass Jesus starb und auferstand“ [oÇti LIvsou˜ß ape´hanen kai` ane´stv]), 1Kor 15,12.15; 2Kor 4,14; Gal 1,1; Röm 4,24; 8,34; 10,9b („und wenn du glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat“ [o heo`ß auto`n vgeiren ek nekrw˜n]); 14,9; Kol 2,12; 1Petr 1,21; Apg 3,15; 4,10. Die soteriologische Dimension des Christusgeschehens als ‚sterben für uns‘ betont die Sterbeformel, die sich in 1Thess 5,9f; 1Kor 1,13; 8,11; 2Kor 5,14; Röm 5,6.8; 14,15; 1Petr 2,21; 3,18; 1Joh 3,16 findet81. Die Dahingabeformel formuliert das Handeln Gottes am Sohn als Geschehen ‚für uns‘ (Gal 1,4; 2,20; Röm 4,25; 8,32; 1Tim 2,5f; Tit 2,14)82. Bemerkenswert ist die vorpaulinische Tradition Röm 1,3b–4a, die auch als Sohnesformel bezeichnet wird83. Hier wird Christus in seiner sarkischen Existenz als Davidssohn, in seiner pneumatischen Existenz aber als Gottessohn gesehen. Gottessohn ist er kraft seiner Auferstehung, die nach Röm 1,4a das pneu˜ma agiwsu´nvß („Geist der Heiligkeit“), also der Geist Gottes bewirkt. Erst durch die Auferstehung wird Jesus zum Gottessohn inthronisiert, wobei die Präexistenz und Gottessohnschaft des Irdischen nicht vorausgesetzt ist. Das Wirken des Sohnes steht auch im vorpaulinischen Missionskerygma 1Thess 1,9f im Mittelpunkt84. Die Heiden wandten sich von den Götzen ab und dem vor dem Gericht rettenden Sohn zu, „den er (Gott) von den Toten auferweckt hat“ (oÅn vgeiren ek tw˜n nekrw˜n). In geprägten Formulierungen wird auch die Sendung des
79 Vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER/F. REHKOPF, Grammatik
83 Zur Analyse vgl. E. SCHWEIZER, Röm 1,3f und der
des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 14 1975, § 342. 80 Alle Möglichkeiten erörtern CHR. WOLFF, 1Kor, 364–367; M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 42 f. 81 Vgl. dazu K. WENGST, Christologische Formeln und Lieder (s. o. 4), 78–86. 82 Vgl. hier W. POPKES, Christus traditus (s. o. 4), 131ff.
Gegensatz von Fleisch und Geist bei Paulus, in: ders., Neotestamentica, Zürich 1963, 180–189. 84 Vgl. die Analyse bei C. BUSSMANN, Themen der paulinischen Missionspredigt auf dem Hintergrund der spätjüdisch-hellenistischen Missionsliteratur, EHS.T 3, Bern/Frankfurt 1971, 38–56.
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Sohnes beschrieben, die sich in Gal 4,4; Röm 8,3 mit der Präexistenzvorstellung (Gal 4,4: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, gestellt unter das Gesetz“) verbindet. Hymnische Texte
Hymnen sind Loblieder auf Gott/Götter (vgl. Epict, Diss I 16,20f), die in unterschiedlicher Länge und Metrik abgefasst sein können85. Der wahrscheinlich älteste Hymnus im Neuen Testament und ein zentrales Zeugnis früher Christologie ist Phil 2,6– 11, wo es über Jesus Christus heißt: (6) oÅß en morfU˜ heou˜ upa´rcwn ouc arpagmo`n vgv´sato to` eınai ısa hew˜ , (7) alla` eauto`n eke´nwsen morfv`n dou´lou labw´n, en omoiw´mati anhrw´pwn geno´menoßk kai` scv´mati eurehei`ß wß anhrwpoß (8) etapeı´nwsen eauto`n geno´menoß upv´kooß me´cri hana´tou (hana´tou de` staurou˜). (9) dio` kai` o heo`ß auto`n uperu´ywsen kai` ecarı´sato autw˜ to` onoma to` upe`r pa˜n onoma, (10) ıÇna en tw˜ ono´mati LIvsou˜ pa˜n go´nu ka´myU epouranı´wn kai` epigeı´wn kai` katachonı´wn (11) kai` pa˜sa glw˜ssa exomologv´svtai oÇti ku´rioß LIvsou˜ß Cristo`ß eiß do´xan heou˜ patro´ß.
der, obwohl er in der Gestalt Gottes war, es nicht als einen Raub ansah, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst entäußerte und die Gestalt eines Knechtes annahm; den Menschen wurde er gleichgestaltig und er wurde der Gestalt nach wie ein Mensch gefunden. Er entäußerte sich selbst und war gehorsam bis zum Tod (Tod am Kreuz). Deshalb erhöhte ihn Gott über die Maßen und gab ihm den Namen über alle Namen, damit im Namen Jesu sich beugen alle Knie im Himmel und auf Erden und unter der Erde damit jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters.
Seit den Analysen von E. Lohmeyer86 gilt Phil 2,6–11 als vorpaulinische Tradition. Für Tradition sprechen die ntl. (uperuyou˜n = „über die Maßen erhöhen“, katacho´nioß = „unter der Erde“) und paulinischen (morfv´ = „Gestalt“, arpagmo´ß = „Raub“) Hapaxlegomena, die Häufung der Partizipial- und Relativkonstruktionen, der strophische Aufbau des Textes, die Unterbrechung des Gedankenganges innerhalb des Briefes und die kontextuellen Bindeglieder Phil 2,1–5.12–13. Zumeist wird V. 8c (hana´tou de` staurou˜ = „Tod am Kreuz“) als paulinische Redaktion angesehen, denn nur das Dass, nicht aber
85 Vgl. als pagane Hymnen z. B. die Sammlung ‚Homerische Hymnen‘; hg. v. A.Weiher, München 5 1986, wo Hymnen auf griechische Götter in verschiedener Länge zusammengefasst sind. 86 Vgl. E. LOHMEYER, Kyrios Jesus, SAH 4, Heidelberg
1928; zur neueren Forschungsgeschichte vgl. J. HABERMANN, Präexistenzaussagen im Neuen Testament (s. u. 12.2.1), 91–157. Für eine paulinische Verfasserschaft von Phil 2,6–11 plädiert R. BRUCKER, ‚Christushymnus‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, 304.319.
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die Art des Todes ist von Bedeutung. Die Gliederung der vorpaulinischen Texteinheit ist umstritten. E. Lohmeyer unterteilt die Tradition in sechs Strophen zu je drei Zeilen, die durch den Neueinsatz mit dio´ in V. 9 in zwei gleiche Teile zerfallen. Demgegenüber vertritt J. Jeremias87 eine Dreiteilung des Liedes zu je vier Zeilen (a: V. 6–7a, b: V. 7b–8, c: V. 9–11), wobei er vom Parallelismus membrorum als formgebendem Prinzip ausgeht. Alle anderen Rekonstruktionen müssen als Variationen der beiden grundlegenden Vorschläge von Lohmeyer und Jeremias betrachtet werden. Die metrisch-strophische Struktur von Phil 2,6–11 wird umstritten bleiben, deutlich ist jedoch der zweiteilige Aufbau des Textes mit V. 9 als Scharnier: V. 6–8.9.10.11. Formgeschichtlich wird der Text zumeist als ‚Hymnus‘ bezeichnet, andere Klassifizierungen sind ‚Enkomion‘88, ‚Epainos‘89 oder ‚Lehrgedicht‘90. Religionsgeschichtlich stellt der Hymnus keine Einheit dar; während der zweite Teil (V. 9–11) durch die atl. Zitatanspielung und liturgisches Formelgut auf jüdisches Denken hinweist, enthält der erste Teil (V. 6–7) starke begriffliche Parallelen zum hellenistischen religiös-philosophischen Schrifttum91. Seinen ‚Sitz im Leben‘ hat der Hymnus in der Gemeindeliturgie (vgl. Kol 3,16).
Schon vor Paulus weitete die christologische Reflexion den Statuswechsel von der Post- auf die Präexistenz aus. Diesem Vorgang liegt ein Gedanke zugrunde, der die Christologie zahlreicher Schriften im Neuen Testament bestimmt: Man kann nicht etwas werden, was man nicht schon immer war. Im Hymnus wird die Statustransformation nachdrücklich durch die Gegenüberstellung von morfv` heou˜ (V. 6: „Gestalt Gottes“) und morfv` dou´lou (V. 7: „Gestalt eines Knechtes“) betont. Jesus Christus verlässt seine gottgleiche Stellung und begibt sich in das denkbar krasseste Gegenteil. Dieser fundamentale Vorgang wird in seinen einzelnen Etappen im Hymnus weiter geschildert und bedacht. Jesus Christus entäußert sich selbst und nimmt einen machtlosen Status ein; nicht Herrschaft, sondern Ohnmacht und Erniedrigung kennzeichnen nun seinen Stand. Menschwerdung heißt Verzicht auf eigentlich zustehende Macht, sie bedeutet Demut und Gehorsam bis zum Tod92. V. 9 markiert die Wende im Geschehen, sprachlich angezeigt durch das neue Subjekt o heo´ß. Die Statuserhöhung Jesu Christi vollzieht sich in der Namensverleihung (V. 9b–10), der die Einsetzung und Anerkennung als Kosmokrator folgen (V. 10–11b). Kyrios-Akklamation und kosmosweite Proskynese des Kyrios entsprechen dem Willen Gottes, zu dessen Ehre sie erfolgen (V. 11c). Der neue Status Jesu Christi ist mehr als eine bloße Rückkehr in 87 Vgl. J. JEREMIAS, Zur Gedankenführung in den paulinischen Briefen (4. Der Christushymnus Phil 2,6–11), in: ders., Abba, Göttingen 1966, 274–276; DERS., Zu Philipper 2,7: eauto`n eke´nwsen, a. a. O., 308–313. 88 K. BERGER, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 345. 89 R. BRUCKER, ‚Christushymnus‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, 319 f.330 f. 90 N. WALTER, Der Philipperbrief, NTD 8/2, Göttin-
gen 1998, 56–62. 91 Vgl. dazu S. VOLLENWEIDER, Der ‚Raub‘ der Gott-
gleichheit: Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(-11), in: DERS., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 263– 284; DERS., Die Metamorphose des Gottessohnes, a. a. O., 285–306. 92 Zur paulinischen Interpretation des Hymnus Phil 2,6–11 s. u. 6.2.1.
170 Die Entstehung der Christologie
die präexistente Gott-Gleichheit93. Nur die Selbsterniedrigung im Weg zum Tod gewährte die Erhöhung zum Weltherrscher, d. h. sogar der Präexistente durchlief eine Transformation, um zu werden, was er sein sollte. Ein weiterer früher Christushymnus findet sich in Kol 1,15–20 (s. u. 10.1.2). Der traditionelle Hymnus beginnt in V. 15 mit einem plötzlichen Stilwechsel und gliedert sich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in zwei Strophen. Ist in der ersten Strophe (V. 15–18a) von der kosmologischen Bedeutung des Christusgeschehens die Rede, so steht in der zweiten Strophe (V. 18b–20) seine soteriologische Dimension im Mittelpunkt. Interpretamente des Autors des Kol liegen in V. 18a (tv˜ß ekklvsı´aß = „der Kirche“) und in V. 20 vor (dia` tou˜ aıÇmatoß tou˜ staurou˜ autou˜ = „durch das Blut seines Kreuzes“). Der Hinweis auf das Kreuzesgeschehen bindet die kosmischen Dimensionen des Christusgeschehens an das Kreuz und damit an die Geschichte. Parallelen zum Philipperbrief-Hymnus sind unverkennbar, hier wie dort wird das Traditionsstück durch Interpretamente mit dem Kontext verbunden. Religionsgeschichtlich knüpft der Hymnus an Vorstellungen des hellenistischen Judentums an, bei denen der Weisheit jene Prädikate zugelegt werden, die im Hymnus Christus gelten (Präexistenz, Schöpfungsmittler, universale Herrschaft)94. Weitere Traditionen
In den Bereich frühchristlicher Liturgie gehören Akklamationen, mit denen die Herrschaft Jesu Christi bezeugt wird (vgl. 1Kor 12,3; 16,22). Von herausragender Bedeutung ist die vorpaulinische eıß-Tradition 1Kor 8,695, die in kühner Weise die Geschichte Gottes mit der Geschichte Jesu Christi verbindet: „So gibt es für uns (nur) einen Gott, den Vater, aus dem alles ist und wir auf ihn hin; und einen Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.“ Der Text reflektiert das Verhältnis von Theo logie und Christologie im Horizont des Monotheismus; die eıß-Prädikation gilt dem Vater, zugleich aber auch dem Kyrios Jesus Christus. Dadurch erfolgt keine Aufspaltung des einen Gottes in zwei Götter, vielmehr wird der eine Kyrios in den Bereich des einen Gottes mit einbezogen. Christus gehört seinem Ursprung und seinem Wesen nach ganz auf die Seite Gottes. Zugleich bleibt der eine Kyrios dem einen Gott nicht nur in der Textabfolge nachgeordnet96, denn der Schöpfergott ist der Vater
93 Vgl. G. BORNKAMM, Zum Verständnis des ChristusHymnus Phil 2,6–11, in: ders., Studien zu Antike und Urchristentum, BEvTh 28, München 1970, (177–187) 183. 94 Vgl. hierzu den Nachweis bei E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK IX/2, Göttingen 21977, 85–103. 95 Zum Nachweis des vorpaulinischen Charakters und zur Bestimmung der zahlreichen religionsge-
schichtlichen Bezüge vgl. W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/2, Neukirchen 1995, 216–225; ferner D. ZELLER, Der eine Gott und der eine Herr Jesus Christus, in: Th. Söding (Hg.), Der lebendige Gott (FS W. Thüsing), NTA 31, Münster 1996, 34–49. 96 Treffend W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus III, 371: „Trotz der unvorstellbar engen Einheit mit sich selbst, in die
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 171
des Kyrios Jesus Christus. Die präpositionalen Näherbestimmungen in V. 6b und 6d entfalten den Gedanken der untergeordneten Parallelität. Zunächst werden Schöpfung und Heil durch identische Begriffe (ta` pa´nta – vmeı˜ß) auf Gott und den Kyrios bezogen, dann aber erfolgt durch die Präpositionen ek und dia´ eine grundlegende Differenzierung. Ihre Existenz verdankt die Welt dem einen Gott allein, nur er ist der Ursprung alles Seienden. Der Kyrios ist präexistenter Schöpfungsmittler, der eine Gott ließ ‚alles‘ durch den einen Herrn entstehen. Zu den von Paulus übermittelten Traditionen gehören Herrenworte 97. Er zitiert sie in 1Thess 4,15ff; 1Kor 7,10f; 9,14; 11,23ff, ohne jedoch in jedem Fall aus der synoptischen Tradition bekannte Jesusworte anzuführen. Vorpaulinische Tauftraditionen finden sich in 1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 1,21f; Gal 3,26–28; Röm 3,25; 4,25; 6,3f98, Abendmahlstraditionen in 1Kor 11,23b–25; 16,22. Eine ausgesprochene Bekenntnisformulierung findet sich in Röm 10,9a; traditionelle Topoi der Paränese liegen in 1Kor 5,10f; 6,9f; 2Kor 12,20f; Gal 5,19–23; Röm 1,29–31; 13,13 vor99. Die Entstehung der Christologie
Alle historischen, theologischen und religionsgeschichtlichen Beobachtungen sprechen für die These, dass die Entstehung der Christologie eine natürliche Folge des vorösterlichen Anspruches Jesu sowie der grundlegenden Erfahrungen der ersten Christen mit dem Auferstandenen und dem Heiligen Geist ist. Die Frage der Identität Jesu von Gott her brach bereits im Leben Jesu auf und spitzte sich angesichts seiner Bereitschaft zu, für seine Sendung und Botschaft zu sterben. Vor allem die Erscheinungen des Auferstandenen wurden von den ersten Christen als Bestätigung der Verkündigung Jesu durch Gott verstanden und forderten ein verstärktes Nachdenken über das Wesen Jesu Christi und seines Verhältnisses zu Gott, das zu einer Übertragung göttlicher Prädikate auf Jesus führte. Weil Jesus das von ihm verkündigte Gottesbild in einzigartiger Weise verkörperte, wurde er selbst in dieses Gottesbild aufgenommen. Das Kontinuitätsmodell als veränderte und verstärkte Bedeutsamkeit Jesu seit Ostern erklärt am besten die Entwicklung von Jesu vorösterlichem Anspruch hin zu seiner nachösterlichen Verehrung. Schon sehr früh finden sich innerhalb einer erstaunlichen Vielfalt Aussagen über die Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft und die umfas-
Gott den gekreuzigten Jesus durch seine Auferweckungstat hineingestellt hat, bleiben die spezifischen Relationen erhalten; mehr noch: Erst durch diese Relationen wird die Einheit grundlegend strukturiert und dadurch wiederum konstituiert. Nur ein Mittler, der in Einheit mit Gott lebt, kann ‚Mittler zur Gottunmittelbarkeit‘ sein.“ 97 Einen kritischen Forschungsüberblick mit umfassender Literaturverarbeitung bietet F. NEIRYNCK,
Paul and the Sayings of Jesus, in: ders., Evangelica II, BETL 99, Leuven 1991, 511–568. 98 Vgl. zur Analyse U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart, GTA 24, Göttingen 21986, 33– 88.175–215. 99 Vgl. hierzu G. STRECKER, Literaturgeschichte des Neuen Testaments (s. o. 4), 95–111; W. POPKES, Paränese und Neues Testament, SBS 168, Stuttgart 1996.
172 Die Entstehung der Christologie
sende Herrschaft Jesu Christi. Die frühen Christen fanden in den Schriften Israels und in den theologischen Modellen des antiken Judentums sowie der griechisch-römischen Religiosität maßgebliche Verstehens- und Interpretationshilfen für die Entwicklung der frühen Christologie. Die Übernahme christologischer Hoheitstitel bedeutete aber immer auch ihre Neucodierung! Was Jesus von Nazareth einst sagte und wie Jesus Christus nach Kreuz und Auferstehung erfahren und gedacht wurde, fließen nun ineinander und bilden etwas Neues: Jesus Christus selbst wird zum Gegenstand des Glaubens und zum Inhalt des Bekenntnisses. Nach Jesus wurde sachgemäß von und über Jesus erzählt, weil seine Person nicht ablösbar ist von seiner Verkündigung und seinen Taten. Jesus Christus wurde nicht als ‚zweiter‘ Gott verehrt, sondern in die Verehrung des ‚einen Gottes‘ (Röm 3,30: eıß heo´ß) mit einbezogen, d h. es dominiert ein exklusiver Monotheismus in binitarischer Gestalt. In Jesus begegnet Gott, Gott wird christologisch definiert. Über das Verhältnis von Gott zu Jesus Christus wurde nicht in ontologischen Kategorien nachgedacht, vielmehr war die Erfahrung des Handelns Gottes an Jesus und durch Jesus Ausgangspunkt der Überlegungen. Die Entstehung der Christologie aus der Verkündigung und dem Anspruch Jesu heraus ist ein natürlicher historischer und theologischer Prozess. Ausgehend von der Verkündigung und dem Wirken Jesu und neu inspiriert durch das Ostergeschehen entfalteten die frühen Christen eine umfangreiche Text-, Traditions- und Sinnpflege, um so die Überlieferungen in ihrem Bestand zu wahren, weiter zu formen und durch Deutungsanstrengungen ihren Sinn aus der Vergangenheit mit der Gegenwart zu vermitteln. Daraus entstanden die Schriften des Neuen Testaments, die bis heute die grundlegenden Dokumente des christlichen Glaubens sind.
5.
Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie Mission
M. HENGEL, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1973; W. SCHNEEMELCHER, Das Urchristentum, Stuttgart 1981; K.M. FISCHER, Das Urchristentum, KGE I/1, Berlin 1985; J. BECKER (Hg.), Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung, Stuttgart 1987; DERS., Das Urchristentum als gegliederte Epoche, SBS 155, Stuttgart 1993; U. LUZ, Unterwegs zur Einheit: Gemeinschaft der Kirche im neuen Testament, in: Chr. Link/U. Luz/L. Vischer, Sie aber hielten fest an der Gemeinschaft . . ., Zürich 1988, 43–183; L. SCHENKE, Die Urgemeinde. Geschichtliche und theologische Entwicklung, Stuttgart 1990; F. VOUGA, Geschichte des frühen Christentums, UTB 1733, Tübingen 1994; R. RIESNER, Die Frühzeit des Apostels Paulus, WUNT 71, Tübingen 1994; E. STEGEMANN/W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995; M. HENGEL/A. M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien, WUNT 108, Tübingen 1998; M. HENGEL/ C.K. BARRETT, Conflicts and Challenges in Early Christianity, Harrisburg PA 1999; W. KRAUS, Zwischen Jerusalem und Antiochia, SBS 179, Stuttgart 1999; P. BARNETT, Jesus and the Rise of Early Christianity, Downers Grove Il 1999; G. LÜDEMANN, Das Urchristentum, ThR 65 (2000), 121– 179.285–349; D. ZELLER, Die Entstehung des Christentums, in: ders., (Hg.), Christentum I, Stuttgart 2002, 15–222; E.J. SCHNABEL, Urchristliche Mission, Gießen 2002; U. SCHNELLE, Paulus (s. u. 6), 27–176; A.J.M. WEDDERBURN, A History of the First Christians, London/New York 2004.
Das Evangelium vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus wurde zunächst in und um Jerusalem herum verkündigt und war eine Variante jüdischer Identität neben anderen. Dies änderte sich mit Konflikten in der Urgemeinde, die zu einer eigenständigen Mission führender griechischsprachiger Angehöriger der Urgemeinde außerhalb von Jerusalem führte.
5.1
Die Hellenisten
Lukas schildert die Anfangszeit der Urgemeinde als Epoche der Einheit im Gebet, in der Eucharistie, in der Lehre, im Leben und im Handeln (vgl. nur Apg 2,34.44). Auch die Darstellungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Urgemeinde stehen unter dem Motiv der Einheit, wie die Summarien Apg 2,42–46; 4,32– 35 nachdrücklich zeigen1. Das anfängliche Bild der Einheit erhält in Apg 6,1–6 RisVgl. dazu H.-J. KLAUCK, Gütergemeinschaft in der Klassischen Antike, in Qumran und im Neuen Testa-
1
ment, RdQ 41 (1982), 47–79; G. THEISSEN, Urchristlicher Liebeskommunismus, in: T. Fornberg/D. Hell-
174 Frühe beschneidungsfreie Mission
se2, wo Lukas völlig unvermittelt zwei Leitungsgremien erwähnt: den Zwölfer- und Siebenerkreis. Beim Zwölferkreis handelt es sich wahrscheinlich um eine von Jesus selbst eingesetzte Gruppe, die symbolisch die Gesamtheit der Zwölf Stämme Israels repräsentiert (s. o. 3.8.3). Auch der Siebenerkreis war im frühen Christentum ein fester Begriff, da Philippus in Apg 21,8 „einer von den Sieben“ genannt wird3. Die Bildung des Siebenerkreises verbindet Lukas mit einem Konflikt innerhalb der Jerusalemer Gemeinde: Die Witwen der Hellenisten fühlten sich beim innergemeindlichen Bedarfsausgleich übersehen bzw. benachteiligt, was zu einem Konflikt zwischen den ‚Hellenisten‘ und ‚Hebräern‘ führte. Die Begriffe KEbraı˜oi („Hebräer“) und KEllvnistaı´ („Hellenisten/Griechen“) weisen darauf hin, dass der Konflikt vor allem sprachliche und kulturelle Ursachen hatte. Die KEbraı˜oi sind aramäisch sprechende, die KEllvnistaı´ hingegen aus der Diaspora stammende griechisch sprechende jüdische Jesusanhänger4. Wahrscheinlich führten die sprachlichen Unterschiede zur Ausbildung jeweils eigenständiger Gottesdienste und die liturgisch-kultische Trennung zog dann auch eine Trennung in der Diakonie nach sich, wie sie Apg 6,1ff schildert. Auffallend ist, dass der Siebenerkreis ausschließlich aus Männern mit griechischen Namen besteht, seine diakonische Aufgabe überhaupt nicht ausübt und Stephanus als herausragende Gestalt dieser Gruppe alles andere als ein Versorgungsorganisator ist. Er wird in Apg 6,8–15 als Pneumatiker und Charismatiker, vor allem aber als Exponent einer gesetzes- und tempelkritischen Richtung innerhalb der Urgemeinde dargestellt (vgl. Apg 6,13f). Wahrscheinlich wurde die erfolgreiche Missionstätigkeit des Stephanus innerhalb der hellenistischen Synagogen Jerusalems und vor allem seine Kritik am bestehenden Tempelkult als Provokation empfunden, die in einem Akt der Lynchjustiz mit der Steinigung des Stephanus endete (vgl. Apg 7,54–60)5. Bei dem Konflikt zwischen Hebräern und Hellenisten spielten offensichtlich auch unterschiedliche theologische Konzepte eine Rolle, die sich wiederum aus der Herkunft beider Gruppen erklären. Die griechischsprachigen Diasporajuden fühlten sich dem Tempel und einer strengen Toraauslegung nicht so verpflichtet wie die aramäisch sprechenden Mitglieder der Urgemeinde. Dies könnte erklären, warum nach der Steinigung des Stephanus nur die hellenistischen jüdischen Jesusanhänger, nicht aber die Apostel verfolgt wurden (vgl. Apg 8,1–3). Man wird vermuten dürfen, dass
holm (Hg.), Texts and Contexts (FS L. Hartmann), Oslo 1995, 689–712; F.W. HORN, Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde, EvTh 58 (1998), 370–383. 2 Vgl. hier M. HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus. Die ‚Hellenisten‘, die ‚Sieben‘ und Stephanus, ZThK 72 (1975), 151–206; G. THEISSEN, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung in der Urgemeinde?, in: H. Lichtenberger (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Bd. III, Tübingen 1996, 323–343; D.-A. KOCH, Crossing the Border:
The ‚Hellenists‘ and their way to the Gentiles, Neotest 39 (2005), 289–312. 3 Die Herkunft der Zahl Sieben könnte mit der Auslegung von Dtn 16,18 zusammenhängen, wonach in jeder Stadt sieben Männer regieren sollen; vgl. Jos, Ant 4,214.287. 4 Zum Nachweis vgl. M. HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus, 161 ff. 5 Vgl. G. THEISSEN, Hellenisten und Hebräer, 332– 336.
Antiochia 175
die Hellenisten vor allem in Samaria sowie in den hellenisierten Städten Galiläas, des syrisch-palästinischen Grenzlandes und der Küste missionierten (vgl. Apg 8,4–40). Auch nach Damaskus kamen die Hellenisten, wo der bekehrte Paulus in eine Gemeinde aufgenommen wurde (vgl. Apg 9,10ff). Wahrscheinlich wirkten die Hellenisten auch in Alexandria, denn der alexandrinische Missionar Apollos trat zu Beginn der 50er Jahre in Korinth auf (vgl. 1Kor 3,4ff; Apg 18,24–28); möglicherweise wurde sogar die Gemeinde in Rom von Hellenisten gegründet. Die Hellenisten entwickelten theologische und christologische Ansätze und Vorstellungen, die das sich formierende Christentum für eine Mission auch unter Menschen griechisch-römischer Religiosität öffneten. Sie waren wahrscheinlich die ersten, die spontane Gaben des Heiligen Geistes auch an Nichtjuden (vgl. Apg 2,9–11; 8,17.39; 10) theologisch bedachten. Schon früh wurden Jesusüberlieferungen von ihnen ins Griechische übertragen und damit die Jesusbotschaft für die griechischsprachige Welt geöffnet. Dabei konnten sie an universalistische Tendenzen und die Infrastruktur des hellenistischen Judentums anknüpfen, aber auch an Jesustraditionen, die eine Offenheit gegenüber Nichtjuden dokumentieren. Innerhalb des antiken Judentums gab es um die Zeitenwende in einem beachtlichen Umfang die Vorstellung einer endzeitlichen Hinwendung der Völker zu Jahwe (vgl. z. B. TLev 18,9; TJud 24,5–6; 25,3–5; TBen 9,2; 10,6–11; TAss 7,2–3; TNaph 8,3–4; 1Hen 90,33–38; Sir 44,19–23; PsSal 17,31; syrBar 68,1–8; 70,7–8; 4Esra 13,33–50; Jub 22,20–22)6. Zwar ist eine organisierte Heidenmission durch jüdische Gruppen nicht nachzuweisen, aber speziell im Diasporajudentum wurden die universalen Dimensionen des Jahweglaubens stark betont und es bestand eine Offenheit gegenüber nichtjüdischer Kultur. Die Überlieferung lässt noch deutlich erkennen, dass Jesus der Begegnung mit Nichtjuden nicht auswich (vgl. Mk 7,24–30; 7,31–34; Mt 8,5–10.13) und die heilsgeschichtliche Priorität Israels in einigen Logien infrage stellte (vgl. Q 13,29.28; 14,23).
5.2
Antiochia
Wohin sich die Hellenisten auf ihrer Flucht noch wandten, beschreibt Apg 11,19f: „Bei der Verfolgung, die wegen Stephanus entstanden war, kamen die Verfolgten bis nach Phönizien, Zypern und Antiochia; dort verkündigten sie das Wort nur den Juden. Einige aber von ihnen, die aus Zypern und Kyrene stammten, verkündigten, als sie nach Antiochia kamen, auch den Griechen das Evangelium von Jesus, dem Herrn.“ Das syrische Antiochia am Orontes war die drittgrößte Stadt des Imperium Romanum und bot für die frühe urchristliche Mission beste Voraussetzungen, denn hier sympathisierten zahlreiche Griechen mit der jüdischen Religion7. Aus Antiochia Vgl. dazu die Analysen bei W. KRAUS, Volk Gottes (s. u. 6.7), 12–110.
6
7 Vgl. Jos, Bell 7,45, die Juden „veranlassten ständig eine Menge Griechen, zu ihren Gottesdiensten
176 Frühe beschneidungsfreie Mission
stammte auch der zum Stephanuskreis gehörende Proselyt Nikolas (Apg 6,5), und in Antiochia ging man offentsichtlich dazu über, auch unter der griechischen Bevölkerung planmäßig und mit großem Erfolg das Evangelium zu verkünden8. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte gehörten Barnabas und Paulus nicht von Anfang an der antiochenischen Gemeinde an, sondern sie traten erst nach dem Beginn der beschneidungsfreien Mission dort in die Arbeit ein (vgl. Apg 11,22.25). Offenbar kam Paulus erst in Antiochia mit den Jerusalemer Hellenisten in Kontakt9. Die Mission der antiochenischen Gemeinde unter Juden und vor allem Menschen aus griechisch-römischer Tradition muss sehr erfolgreich gewesen sein, denn nach Apg 11,26 kam in Antiochia als Fremdbezeichnung der Begriff Cristianoı´ („Christianer“) für die Anhänger der neuen Lehre auf. Die Christen wurden somit Anfang der 40er Jahre erstmals als eigene Gruppe neben Juden und Heiden wahrgenommen. Sie galten nun zunehmend aus heidnischer Perspektive als eine nichtjüdische Bewegung und müssen ein erkennbares theologisches Profil und eine organisatorische Eigenstruktur gewonnen haben10. Die Bedeutung von Antiochia
Die herausgehobene Stellung von Antiochia in der urchristlichen Theologiegeschichte war immer der Anlass für weitreichende historische und theologische Schlussfolgerungen. Für die Religionsgeschichtliche Schule bildete Antiochia nicht nur das fehlende Glied zwischen der Urgemeinde und Paulus, diese Stadt war zugleich der Geburtsort des Christentums als einer synkretistischen Religion. Hier vollzog sich die für die Geschichte des frühen Christentums so einschneidende Entwicklung, „durch die aus dem zukünftigen Messias Jesus der als Kyrios seiner Gemeinde gegenwärtige Kultheros wurde.“11 Auch in der aktuellen Forschung gilt Antiochia teilweise als Mutterboden frühchristlicher, speziell paulinischer Theologie. Danach wurde Paulus hier nicht nur grundlegend in den christlichen Glauben eingeführt, sondern alle zentralen Anschauungen seiner Theologie entstanden bereits in Antiochia. „Was Paulus später an alter Tradition benutzt, entstammt im wesentlichen dem antioche-
zu kommen, und machten diese gewissermaßen zu einem Teil der ihren“; zu Antiochia vgl. M. HENGEL/ A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 274–299. 8 Für die Historizität dieser Nachrichten spricht, dass sie sich von der lukanischen Sicht unterscheiden; danach erfolgt die Missionierung Zyperns erst durch Paulus und Barnabas (vgl. Apg 13,4; 15,39). Nicht Petrus (vgl. Apg 10,1–11,18), sondern jene unbekannten christlichen Missionare leiten die entscheidende Epoche in der Geschichte des Urchristentums ein; zur Analyse von Apg 11,19–30 vgl. A. WEISER, Apg I (s. u. 8.4), 273–280. Freilich kann dies
nicht bedeuten, dass es vor Antiochia keine Verkündigung gegenüber griechischsprachigen Nichtjuden gab! Die Mission in Samaria, Damaskus, Arabien und Kilikien schloss sicherlich auch diese Gruppe ein; vgl. M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 300. 9 Vgl. J. WELLHAUSEN, Kritische Analyse der Apostelgeschichte, Berlin 1914, 21. 10 Vgl. A. V. HARNACK, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten I, Leipzig 41923, 425 f. 11 W. BOUSSET, Kyrios Christos (s. o. 4), 90.
Die Stellung des Paulus 177
nischen Gemeindewissen.“12 An den Texten verifizieren lassen sich diese weitreichenden historischen und theologischen Schlussfolgerungen nicht13: 1) Nach Apg 11,26 arbeiteten Barnabas und Paulus lediglich ein Jahr in Antiochia selbst zusammen14, und sie werden von Lukas als Lehrer der antiochenischen Gemeinde dargestellt. Lukas minimiert den direkten Aufenthalt des Paulus in Antiochia, der in seiner Länge im Vergleich mit den Gründungsaufenthalten des Apostels in Korinth (Apg 18,4: 1 1/2 Jahre) und Ephesus (Apg 19,10: über 2 Jahre) als normal angesehen werden muss. Zwar kehrte Paulus am Ende der ersten Missionsreise nach Antiochia zurück (vgl. Apg 14,28), doch dies ist im Vergleich mit den Reisestationen der späteren Missionsreisen ein üblicher Vorgang. 2) Paulus erwähnt Antiochia nur in Gal 2,11, während die Zeit zwischen dem 1. und 2. Jerusalembesuch und damit auch die Epoche der Anbindung an Antiochia von ihm faktisch verschwiegen wird. Die besondere Stellung der antiochenischen Gemeinde in der urchristlichen Theologiegeschichte und auch ihr Einfluss auf Paulus stehen dennoch außer Zweifel; Antiochia war ein Zentrum frühchristlicher Mission und eine bedeutsame Station für Paulus. Hier erfolgte der Übergang zu einer programmatischen beschneidungsfreien Mission unter Menschen griechisch-römischer Religiosität. Zugleich ist aber davor zu warnen, alle wesentlichen frühchristlichen Traditionen nach Antiochia zu verorten und die dortige Gemeinde „zum ‚Sammelbecken‘ für das Nichtwissen urchristlicher Zusammenhänge werden zu lassen.“15
5.3
Die Stellung des Paulus
Nach seiner Berufung zum Apostel beriet sich Paulus nach seiner Eigenaussage weder mit anderen Menschen, noch zog er hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor ihm Apostel waren, „sondern ich begab mich hinweg in die Arabia und kehrte wieder nach Damaskus zurück“ (Gal 1,17b)16. Über den Aufenthalt des Apostels in der Arabia liegen keine Informationen vor, aber es dürfte damit die steinige Wüstengegend südöstlich von Damaskus gemeint sein, die den nördlichen Teil des Nabatäerreiches bildete. Zum wirtschaftlichen Einflussbereich des Nabatäerreiches gehörte damals auch Damaskus (2Kor 11,32), wohin Paulus zurückkehrte und erstmals längere Zeit in einer christlichen Gemeinde mitarbeitete. Erst im dritten Jahr nach seiner Berufung zum Apostel (= 35 n.Chr.) besuchte Paulus die Jerusalemer Urgemeinde (Gal 12 J. BECKER, Paulus (s. u. 6), 109. 13 Zur Kritik am in der Literatur weit verbreiteten
‚Pan-Antiochenismus‘ vgl. auch M. HENGEL/ A. M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 432–438. 14 Vgl. J. WEISS, Das Urchristentum, Göttingen 1917, 149; G. LÜDEMANN, Das frühe Christentum nach
den Traditionen der Apostelgeschichte, Göttingen 1987, 144. 15 A. WECHSLER, Geschichtsbild und Apostelstreit, BZNW 62, Berlin 1991, 266. 16 Zu den Problemen der paulinischen Chronologie vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. u. 6), 29–40.
178 Frühe beschneidungsfreie Mission
1,18–20). Im Anschluss an den kurzen Jerusalemaufenthalt begab sich Paulus um 36/37 n.Chr. in die Gebiete von Syrien und Kilikien (Gal 1,21). Mit Syrien dürfte das Gebiet um Antiochia am Orontes und mit Kilikien das Gebiet um Tarsus gemeint sein. Paulus wirkte wahrscheinlich zunächst in Tarsus und im kilikischen Raum, aber der Charakter dieser Mission lässt sich weder aus den Paulusbriefen noch aus der Apostelgeschichte erhellen. Übermäßig erfolgreich dürfte diese ca. sechsjährige Tätigkeit17 nicht gewesen sein, denn Paulus schloss sich um 42 n.Chr. als ‚Juniorpartner‘ des Barnabas der antiochenischen Mission an. Die Personallegende Apg 4,36f und die Aufzählung Apg 13,1 lassen die (auch gegenüber Paulus) hervorgehobene Stellung des Barnabas erkennen; nach Gal 2,1.9 erscheint er als gleichberechtigter Gesprächspartner beim Apostelkonzil. Paulus akzeptierte Barnabas uneingeschränkt (vgl. 1Kor 9,6), widerstand ihm aber beim antiochenischen Zwischenfall (vgl. Gal 2,11–14). Die theologischen Anschauungen des Barnabas lassen sich nur indirekt erschließen, sicherlich war er aber neben Paulus ein exponierter Vertreter der beschneidungsfreien Mission von Nichtjuden18. Nach Beendigung ihrer Mission in Syrien und Teilen Kleinasiens kehrten Barnabas und Paulus nach Antiochia zurück, um dann nach Jerusalem zum Apostelkonzil gesandt zu werden (vgl. Apg 15,1f). Eine etwas andere Darstellung über den konkreten Anlass der Jerusalemreise gibt Paulus in Gal 2,2a: „Ich zog aber hinauf auf Grund einer Offenbarung . . .“ Er ordnet seine Präsenz beim Apostelkonzil also nicht mehr im Rahmen der antiochenischen Missionstätigkeit ein. Man kann vermuten, dass die Anbindung des Barnabas und Paulus an die antiochenische Gemeinde im Vorfeld des Apostelkonzils der lukanischen Geschichtsschau entspringt. Andererseits formuliert aber auch Paulus tendenziös, denn er will seine Unabhängigkeit von Jerusalem und anderen Gemeinden betonen. Zudem gibt er den konkreten Anlass für seine Teilnahme am Apostelkonzil selbst zu erkennen: mv´ pwß eiß keno`n tre´cw v edramon (Gal 2,2c: „damit ich nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre“). Toraobservante Judenchristen waren in die Heimatgemeinden des Apostels eingedrungen, sie beobachteten die dort gelebte Freiheit (von der Tora) und sind nun auf dem Apostelkonzil präsent, um die Beschneidung von Christen griechisch-römischer Religiosität zu fordern 17 Die Zeitdauer dieser Mission ist schwer einzuordnen; als Argumente für die genannten Zeiträume lassen sich anführen: 1) Lukas setzt mit Apg 12,1a („Um jene Zeit aber“) den Beginn des Wirkens von Barnabas und Paulus in Antiochia in eine zeitliche Beziehung zu der Verfolgung der Urgemeinde durch Agrippa I. (vgl. Apg 12,1b–17). Diese Verfolgung ereignete sich wahrscheinlich im Jahr 42 n.Chr. (vgl. R. RIESNER, Frühzeit des Apostels Paulus [s. o. 5], 105–110). 2) Die in Apg 11,28 erwähnte Hungersnot und die Unterstützung der Antiochener für Jerusalem (Apg 11,29) fallen in den Zeitraum zwischen 42
und 44 n.Chr. (vgl. R. Riesner, a. a. O., 111–121). Etwas anders M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 267–275, die mit drei bis vier Jahren Aufenthalt des Apostels in Kilikien rechnen (zwischen 36/37 u. 39/40 n.Chr.), bevor Paulus sich nach selbständiger und erfolgreicher Missionstätigkeit der antiochenischen Mission anschloss (ca. 39/40–48/49 n.Chr.). 18 Vgl. zu Barnabas bes. B. KOLLMANN, Joseph Barnabas, SBS 175, Stuttgart 1998; M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 324–334; M. ÖHLER, Barnabas, Leipzig 2006.
Die Stellung des Paulus 179
(Gal 2,4f). Paulus befürchtete offensichtlich, dass seine bisherige beschneidungsfreie (und damit aus jüdischer und streng judenchristlicher Sicht faktisch torafreie) Mission19 durch die Agitation dieser Gegner und ein von ihnen beeinflusstes Votum der Jerusalemer zunichte gemacht werden könnte. Dann wäre er seinem apostolischen Auftrag nicht nachgekommen, Gemeinden zu gründen (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,15– 18.23; 2Kor 1,14). Mehr noch: Der Apostel sah seinen Ruhm am Tag Christi, sein eschatologisches Heil in Gefahr, wenn er seine ureigenste Aufgabe verfehlen würde (vgl. Phil 2,16). Das Apostelkonzil ist mittelbar auch eine Folge bedeutender Veränderungen in der Geschichte der Urgemeinde. Im Rahmen der Verfolgungen durch Agrippa I. wurde im Jahr 42 n.Chr. nicht nur der Zebedaide Jakobus getötet (Apg 12,2), sondern Petrus verließ Jerusalem (Apg 12,17) und gab damit die Leitung der Urgemeinde auf. Der Herrenbruder Jakobus (vgl. Mk 6,3) trat offensichtlich an seine Stelle, wie ein Vergleich von Gal 1,18f mit 2,9; 1Kor 15,5 mit 15,7, aber auch die letzten Worte des Petrus in Apg 12,17b („Berichtet dies dem Jakobus und den Brüdern“) und Apg 15,13; 21,18 zeigen20. Während Petrus wahrscheinlich eine liberale Haltung in der Frage nach Aufnahme von Unbeschnittenen in die neue Bewegung einnahm (vgl. Apg 10,34–48; Gal 2,11.12) und sich später selbst der Mission an Menschen aus griechisch-römischer Religiosität öffnete (vgl. 1Kor 1,12; 9,5), müssen Jakobus und seine Gruppe (vgl. Gal 2,12a) als Repräsentanten eines strengen Judenchristentums gelten, das sich bewusst als Teil des Judentums verstand und die Aufnahme in die neue Bewegung an eine Torabeachtung band21. Er lehnte eine Tischgemeinschaft zwischen Judenchristen und Christen aus griechisch-römischer Tradition ab (Gal 2,12a) und wurde offenbar von den Pharisäern hoch geschätzt. Josephus berichtet, dass nach dem Martyrium des Jakobus im Jahr 62 n.Chr. die Pharisäer erbittert die Absetzung des verantwortlichen Hohenpriesters Ananus verlangten22. Es muss als sehr wahrscheinlich gelten, dass die Befürworter einer Beschneidung von Christen aus griechisch-römischer Tradition sich durch die theologische Haltung des Jakobus in ihrer Forderung zumindest bestärkt fühlen konnten.
Die auf dem Apostelkonzil im Jahr 48 n.Chr. verhandelten Sachprobleme beschäftigten Paulus innerhalb seiner selbständigen Missionstätigkeit in zunehmendem Maß und spiegeln sich auch in seinen zwischen 50–56 n.Chr. abgefassten Briefen wider: Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um zur auserwählten Gemeinde Gottes zu gehören und gleichzeitig die Kontinuität zum Gottesvolk des ersten Bundes zu wahren? Soll die Beschneidung als Zeichen des Bundes (vgl. Gen 17,11) und damit der
19 Eine prinzipiell ‚gesetzesfreie‘ Heidenmission hat Paulus nie betrieben, denn zentrale ethische Inhalte der Tora (z. B. der Dekalog) galten natürlich auch für Christen griechisch-römischer Religiosität (s. u. 6.5.3).
20 Vgl. dazu G. LÜDEMANN, Paulus, der Heidenapostel
II (s. u. 6), 73–84. 21 Vgl. dazu auch W. KRAUS, Zwischen Jerusalem
und Antiochia (s .o. 5), 134–139. 22 Vgl. Jos, Ant 20,199–203.
180 Frühe beschneidungsfreie Mission
Zugehörigkeit zum erwählten Volk Gottes23 auch für Christen aus griechisch-römischer Tradition generell verpflichtend sein? Muss ein Heide erst Jude werden, um Christ sein zu können? Wurde man aus jüdischer Perspektive nur durch Beschneidung und rituelles Tauchbad zum Proselyten und damit zum Glied des erwählten Gottesvolkes, dann lag aus streng judenchristlicher Sicht die Folgerung nahe, dass nur die Taufe auf den Namen Jesu Christi und die Beschneidung den neuen Heilsstatus vermitteln24. Die auf dem Apostelkonzil (und beim antiochenischen Konflikt) verhandelten Probleme fallen somit in eine Zeit, in der die Definition dessen, was auf ritueller und sozialer Ebene das Christentum ausmacht, noch nicht abgeschlossen und damit auch noch nicht festgelegt war. Weder die christlichen Identitätszeichen (‚identity markers‘) noch der daraus folgende Lebenswandel (‚life-style‘) waren wirklich geklärt. Konnten christliche Gemeinden aus griechisch-römischer Tradition in gleicher Weise anerkannt werden wie judenchristliche Gemeinden, die zu einem erheblichen Teil noch innerhalb des Synagogenverbandes lebten? Muss die für jüdisches Selbstverständnis konstitutive Einheit von Volks- und Religionsgemeinschaft aufgehoben werden? Was bewirkt Heiligung und Reinheit? Wodurch erlangen die an Jesus Glaubenden Anteil am Volk Gottes, wie werden sie Träger der Verheißungen des Bundes Gottes mit Israel? Inwieweit sollen jüdische Identitätszeichen wie Beschneidung, Tischgemeinschaft nur unter Volksgenossen und Sabbat auch für die sich bildenden Gemeinden aus griechisch-römischer Religiosität gelten? Schließt die durch den Christusglauben bereits erfolgte grundsätzliche Statusveränderung weitere Statusveränderungen mit ein? Lassen sich in gleicher Weise Regelungen für die Glaubenden aus Judentum und griechisch-römischer Tradition finden, oder müssen unterschiedliche Wege beschritten werden? Sind Taufe und Beschneidung für alle Christusgläubigen verbindliche Initiationsriten, oder ermöglicht schon/nur die Taufe die vollgültige Aufnahme in das Volk Gottes? Das Apostelkonzil gab keine allgemein akzeptierte Antwort auf diese Fragen25, so dass weitere Auseinandersetzungen geradezu unausweichlich waren. Die paulinische Theologie ist in diesen konfliktreichen Prozess der Selbstdefinition des frühen Christentums eingebunden und wesentlich aus ihm heraus zu erklären, zugleich stellt sie aber die maßgebliche Lösung der Probleme dar.
23 Vgl. hierzu O. BETZ, Art. Beschneidung II, TRE 5,
Berlin 1980, 716–722. 24 Einen vollgültigen Übertritt zum Judentum ohne Beschneidung hat es wahrscheinlich nie gegeben;
vgl. die Analyse der Texte bei W. KRAUS, Das Volk Gottes (s. u. 6.7), 96–107. 25 Vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. u. 6), 117–135.
6.
Paulus: Missionar und Denker
F. CHR. BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi I.II, Leipzig 21866/1867; W. WREDE, Paulus, in: Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, hg. v. K. H. Rengstorf, Darmstadt 21969, 1–97 (= 1904); A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 21954 (= 1906/1930); A. DEISSMANN, Paulus, Tübingen 21925; R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 187–353; G. BORNKAMM, Paulus, Stuttgart 51983; H. J. SCHOEPS, Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959; E. KÄSEMANN, Paulinische Perspektiven, Tübingen 21972; DERS., An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980; H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, 163–326; U. LUZ, Das Geschichtsverständnis des Paulus, BEvTh 49, München 1968; H. SCHLIER, Grundzüge einer paulinischen Theologie, Freiburg 1978; E.P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum, StUNT 17, Göttingen 1985 (= 1977); J. C. BEKER, Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Philadelphia 21984; G. LÜDEMANN, Paulus, der Heidenapostel I.II, FRLANT 123.130, Göttingen 1980.1983; U. SCHNELLE, Wandlungen im paulinischen Denken, SBS 137, Stuttgart 1989; J. BECKER, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989; K. KERTELGE, Grundthemen paulinischer Theologie, Freiburg 1991; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I, 221–392; H. HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments II: Die Theologie des Paulus, Göttingen 1993; E. P. SANDERS, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995; E. LOHSE, Paulus, München 1996; J. GNILKA, Paulus von Tarsus, HThK.S 6, Freiburg 1996; G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, 11–229; TH. SÖDING, Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie, WUNT 93, Tübingen 1997; J. D. G. DUNN, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Cambridge 1998; H. MERKLEIN, Art. Paulus, LThK 7, Freiburg 1998, 1498–1505; A. LINDEMANN, Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999; H. RÄISÄNEN, Art. Paul, in: Dictionary of Biblical Interpretation II, hg. v. J. H. Hayes, Nashville 1999, 247–253; CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus, FRLANT 185, Göttingen 1999; F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments I, 180–329; S. VOLLENWEIDER, Art. Paulus, RGG4 6, Tübingen 2003, 1035–1054; U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003; A. DETTWILER/J.-D. KAESTLI/D. MARGUERAT (Hg.), Paul, une thologie en construction, Genf 2004; E. REINMUTH, Paulus. Gott neu denken, Leipzig 2004; N.T. WRIGHT, Paul, Minneapolis 2005; O. WISCHMEYER (Hg.), Paulus, Tübingen 2006; M. WOLTER, Paulus, Neukirchen 2011.
Paulus war zweifellos der überragende Missionar und theologische Denker des frühen Christentums. Wer immer sich dieser vielschichtigen Persönlichkeit nähert und sich die Geschichte seines Wirkens vor Augen stellt, muss seine besondere historische Situation und die damit verbundenen theologischen Herausforderungen bedenken (s. o. 5.3). Die beschneidungsfreie Mission begann zwar schon vor Paulus, aber er wurde durch seine Erfolge zum Praktiker und dann auch unausweichlich zum Theoretiker dieser Entwicklung. Der große Erfolg seiner beschneidungsfreien Mission
182 Paulus: Missionar und Denker
stellte Paulus vor enorme Probleme, denn er musste als erster jene unausweichlichen Aporien zur Kenntnis nehmen, mit denen sich das formierende Christentum immer stärker konfrontiert sah. Er musste zusammen denken und in eine innere Stimmigkeit bringen, was nicht zu harmonisieren war: Gottes erster Bund bleibt gültig, aber nur der neue Bund rettet. Das erwählte Gottesvolk Israel muss sich zu Christus bekehren, um mit den glaubenden Menschen aus den Völkern das eine wahre Gottesvolk zu werden. Als homo religiosus war Paulus immer auch ein bedeutender Denker; auf seine Person trifft zu, was auch für andere gilt: Alle großen Denker im zeitlichen Umfeld des Neuen Testaments waren Theologen und umgekehrt (z. B. Cicero, Philo, Seneca, Epiktet, Plutarch, Dio Chrysostomus). Dies ist nicht verwunderlich, denn jedes bedeutende System der griechisch-römischen Philosophie gipfelt in einer Theologie1. Weil in der Antike Philosophie und Theologie zusammengehörten, durchdrangen sich philosophische und religiöse Themen und wurden keineswegs als Gegensätze im neuzeitlichen Sinn wahrgenommen. Zwar war Paulus zweifellos auch nach antiken Kategorien kein Philosoph, aber seine Theologie weist eine denkerische Kraft auf2. Sie zeigt sich vor allem in der Umsetzung von religiösen Erfahrungen und Überzeugungen, die Systemqualität gewinnen mussten, bevor sie eine solche Wirkungsgeschichte entwickeln konnten wie die Gedanken des Paulus. Um etablierte Deutesysteme abzulösen, müssen sich neue Denkmodelle und Überzeugungen im Kontext konkurrierender Systeme und der maßgeblichen kulturell-religiösen Diskurse behaupten und bewähren sowie über Anschlussfähigkeit, Plausibilität und überraschende Momente verfügen. All das trifft für Paulus zu und deshalb ist seine Theologie auch als bedeutende Denkleistung zu würdigen3. Der nachhaltige Erfolg des Christentums im Allgemeinen und der paulinischen Theologie im Besonderen hängt wesentlich auch damit zusammen, dass sie emotional und intellektuell attraktiv waren und plausible Antworten auf drängende Lebensfragen von Menschen gaben. Heilsgegenwart als Zentrum paulinischer Theologie
Paulus konnte angesichts der großen denkerischen Herausforderungen und der bewegten Geschichte des frühen Christentums nur bestehen, weil er eine unverrückbare
1 Einen Überblick vermittelt W. WEISCHEDEL, Der Gott der Philosophen I, München 21985, 39–69. 2 Zur Schulbildung des Paulus vgl. T. VEGGE, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, BZNW 134, Berlin 2006, 494: „Hinsichtlich Herkunft und Ausbildung wurde in dieser Untersuchung als wahrscheinlich angesehen, daß Paulus als Sohn eines römischen Bürgers in seiner Heimatstadt eine literarische Ausbildung in ihrer allgemeinen griechisch-hellenistischen Form erhielt, daß er bei
einem Redelehrer die Progymnasmata durchlief und daß er sich mit philosophischer Lehre und philosophischem Ethos vertraut gemacht hatte.“ 3 Es ist mehr als ein Zufall, dass in jüngster Zeit gerade Philosophen Paulus neu entdecken; vgl. J. TAUBES, Die Politische Theologie des Paulus, München 3 2003; A. BADIOU, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002; G. AGAMBEN, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt 2006.
Paulus: Missionar und Denker 183
theologische Erkenntnis zum Ausgangspunkt, zur Basis und zum Zentrum seines Denkens und Handelns machte: die endzeitliche Gegenwart des Heils Gottes in Jesus Christus . Der eifernde Pharisäer wurde von der Erfahrung und Einsicht überwältigt, dass Gott in dem gekreuzigten, auferstandenen und in Kürze vom Himmel wiederkommenden Jesus Christus seinen endgültigen Heilswillen für die ganze Welt aufgerichtet hat. Gott selbst führte die Wende der Zeiten herbei; er setzte eine neue Wirklichkeit, in der die Welt und die Situation des Menschen in der Welt in einem veränderten Licht erscheinen. Ein völlig unerwartetes, singuläres Geschehen veränderte das Denken und Leben des Paulus fundamental. Er wurde vor die Aufgabe gestellt, vom Christusgeschehen her die Welt- und Heilsgeschichte, seine eigene Rolle darin und Gottes vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Handeln neu zu interpretieren. Die paulinische Theologie ist somit gleichermaßen ein Erfassen des Neuen und eine Deutung des Vergangenen. Paulus entwarf ein endzeitliches Szenario, dessen Grundlage Gottes Heilswille, dessen Eckpunkte Auferstehung und Parusie Jesu Christi, dessen bestimmende Kraft der Heilige Geist, dessen gegenwärtiges Ziel die Teilhabe der Glaubenden am neuen Sein und dessen Endpunkt die Verwandlung in eine pneumatische Existenz bei Gott war. Seit der Auferweckung Jesu Christi wirkt der Geist Gottes wieder, die getauften Christen sind von der Sünde geschieden und leben in einer qualitativ neuen Beziehung zu Gott und dem Kyrios Jesus Christus. Die in Taufe und Geistgabe sichtbare Erwählung der Christen und ihre Berufung als Teilhaber am Evangelium haben bis in das Eschaton hinein Gültigkeit, gegenwärtige Heilserfahrung und zukünftige Heilshoffnung verschränken sich4. Nicht nur ein neues Seinsverständnis, sondern das neue Sein selbst hat im umfassenden Sinn bereits begonnen! Die Glaubenden haben somit Teil an einem universalen Transformationsprozess, der mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten einsetzte, sich im gegenwärtigen macht- und heilvollen Wirken des Geistes fortsetzt und in der Verwandlung der gesamten Schöpfung in die Herrlichkeit Gottes hinein enden wird5. Die paulinische Theologie ist insgesamt durch den Gedanken der Heilsgegenwart geprägt.
Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation (s. u. 6.4), 234: „Paul even describes the believers’ eschatological resurrection as a participation in Jesus’ resurrection.“ 5 Vgl. A. SCHWEITZER, Mystik, 118: „Das Eigentümliche der paulinischen Mystik besteht gerade darin, 4
daß das Sein in Christo nicht ein von dem Einzelnen durch eine besondere Anstrengung des Glaubens herbeigeführtes subjektives Erlebnis ist, sondern etwas, das sich an ihm, wie an andern, bei der Taufe ereignet.“
184 Paulus: Missionar und Denker
6.1
Theologie
W. THÜSING, Gott und Christus in der paulinischen Soteriologie, NTA 1, Münster 31986; CHR. DEMKE, „Ein Gott und viele Herren“. Die Verkündigung des einen Gottes in den Briefen des Paulus, EvTh 36 (1976), 473–484; E. GRÄSSER, „Ein einziger ist Gott“ (Röm 3,30). Zum christologischen Gottesverständnis bei Paulus, in: ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, 231–258; T. HOLTZ, Theo-logie und Christologie bei Paulus, in: ders., Geschichte und Theologie des Urchristentums, WUNT 57, Tübingen 1991, 189–204; P.-G. KLUMBIES, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992; M. RESE, Der eine und einzige Gott Israels bei Paulus, in: Und dennoch ist von Gott zu reden (FS H. Vorgrimler), hg. v. M. Lutz-Bachmann, Freiburg 1994, 85–106; W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. 4); U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 441–461; C. BREYTENBACH, Der einzige Gott – Vater der Barmherzigkeit, BThZ 22 (2005), 37–54; R. FELDMEIER, „Der das Nichtseiende ruft, daß es sei“. Gott bei Paulus, in: Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder II, hg. v. R.G. Kratz/H. Spieckermann, Tübingen 2006, 135–152.
Der jüdische Monotheismus ist die Basis des paulinischen Denkens, denn es gibt nur den einen, wahren, seienden und handelnden Gott Israels6. Damit steht Paulus in seiner Theo logie in Kontinuität zu jüdischen Basissätzen: Gott ist einer, er ist der Schöpfer, der Herr und der Vollender der Welt. Zugleich verändert die Christo logie fundamental die Theologie, Paulus verkündigt einen christologischen Monotheismus.
6.1.1
Der eine und wahre Schöpfergott
Zu den Grundüberzeugungen des jüdischen Glaubens gehört die Einzigkeit und Einzigartigkeit Gottes7; es gibt nur einen Gott, außer dem kein Gott ist (Dtn 6,4b: „Höre Israel, der Herr unser Gott, ist einer!“; vgl. ferner Jes 44,6; Jer 10,10; 2Kön 5,15; 19,19 u. ö.). In Arist 132 beginnt eine Belehrung über das Wesen Gottes mit der Feststellung, „dass nur ein Gott ist und seine Kraft durch alle Dinge offenbar wird, da jeder Platz voll seiner Macht ist.“ Im scharfen Kontrast zur antiken Vielgötterei betont Philo: „So wollen wir denn das erste und heiligste Gebot in uns befestigen; Einen für den höchsten Gott zu halten und zu verehren; die Lehre der Vielgötterei darf nicht einmal das Ohr des in Reinheit und ohne Falsch die Wahrheit suchenden Mannes 6 Bereits der sprachliche Befund signalisiert die Bedeutsamkeit des Themas, denn in den Protopaulinen erscheint o heo´ß 430mal; 1Thess: 36mal; 1Kor: 106mal; 2Kor: 79mal; Gal: 31mal; Röm: 153mal; Phil: 23mal; Phlm: 2mal. 7 Zur Herausbildung des Monotheismus innerhalb der israelitischen Religionsgeschichte vgl. M. ALBANI,
Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen (s. o. 3.3.1); W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. 4), 4–35. Der Monotheismus bestimmt auch wesentlich die Außenwahrnehmung des Judentums; Tacitus betont, „bei den Juden gibt es nur eine Erkenntnis im Geist, den Glauben an einen einzigen Gott“ (Hist V 5,4).
Theologie 185
berühren.“8 Für Paulus ist Gottes Einzigkeit gedankliches und praktisches Fundament seines Denkens. Zwar existieren zahlreiche sogenannte Götter im Himmel und auf Erden (vgl. 1Kor 8,5; 10,20), zugleich gilt aber: „So gibt es denn für uns nur einen Gott, den Vater“ (1Kor 8,6a). Die Christen in Thessalonich bekehrten sich von den Götzen zu dem einen, wahren Gott (1Thess 1,9f) und programmatisch schreibt Paulus der römischen Gemeinde: „Wenn denn Gott einer ist, der rechtfertigen wird die Beschnittenen aus Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben“ (Röm 3,30). Die Grundlage der Differenzierung zwischen Gott, dem Gesetz, Mose und den Engeln in Gal 3,19f ist der Glaubenssatz: „Gott aber ist einer“ (Gal 3,20: o de` heo`ß eıß estin). Die Erkenntnis der Einzigkeit Gottes hat für Paulus auch ethische Dimensionen, denn die Grundaussage im Streit um das Götzenopferfleisch lautet: „Wir wissen, dass es keinen Götzen in der Welt gibt und dass es keinen Gott gibt außer einem“ (1Kor 8,4). Gottes Gottheit zeigt sich zuerst in seinem Schöpferhandeln . Für Paulus ist die ganze Welt Gottes Schöpfung (1Kor 8,6; 10,26)9; der Schöpfergott der Genesis ist kein anderer als der an Jesus Christus und den Glaubenden Handelnde (2Kor 4,6). Gott ruft das Nichtseiende ins Sein10, er allein macht die Toten lebendig (Röm 4,17) und ist der ‚Vater‘ der Welt (1Kor 8,6; Phil 2,11). Nur über ihn kann gesagt werden: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge“ (Röm 11,36a). Vor der Welt und der Geschichte steht Gott, „der über allem ist“ (Röm 9,5) und von dem es heißt, er werde am Ende „alles in allem“ sein (1Kor 15,28). Alles ist und bleibt Schöpfung Gottes, selbst wenn Menschen ihrer Bestimmung entfliehen, indem sie Götzen verehren11. In seiner Schöpfung lässt sich Gott vernehmen (Röm 1,20.25), aber obwohl die Menschen von Gott wussten, „haben sie ihn nicht als Gott verherrlicht und ihm gedankt, sonder sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit, und es verfinsterte sich ihr unverständiges Herz“ (Röm 1,21). Immer wieder zieht es die Menschen zu den Mächten hin, die von Natur aus keine Götter sind (Gal 4,8). Trotz dieses Dranges des Menschen, sich selbst Götter zu schaffen oder an die Stelle Gottes zu treten, bleiben Welt und Mensch Gottes Schöpfung. Als Schöpfer ordnet Gott das menschliche Leben, indem er ihm ein politisches (Röm 13,1–7) und soziales (1Kor 7) Gefüge gibt. Die Glaubenden sind aufgerufen, den Willen Gottes zu erkennen und zu befolgen (1Thess 4,3; Röm 12,1). Als Herr der Geschichte lenkt er die Geschehnisse,
8 Philo, Decal 65; ferner Jos, Ant 3,91. Die antike Vielgötterei mit ihren zahllosen Götterbildern war natürlich auch für den heidnischen Philosophen Gegenstand des Spottes; vgl. Cic, Nat Deor I 81–84. 9 Zu Schöpfung und Kosmos bei Paulus vgl. G. BAUMBACH, Die Schöpfung in der Theologie des Paulus, Kairos 21 (1979), 196–205; H. SCHLIER, Grundzüge (s. o. 6), 55–63; J. BAUMGARTEN, Paulus
und die Apokalyptik (s. u. 6.8), 159–179; J. D. G. DUNN, The Theology of Paul (s. o. 6), 38–43. 10 Auch in der griechisch-römischen Tradition findet sich natürlich die Vorstellung, dass Gott der Vater und Schöpfer der Welt/des Alls ist; vgl. Plat, Tim 28c; Cic, Nat Deor I 30. 11 Vgl. J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 404 f.
186 Paulus: Missionar und Denker
er bestimmt die Heilszeit (Gal 4,4) und hat als Richter das letzte Wort über das Schicksal der Menschen (Röm 2,5ff; 3,5.19). Das endzeitliche Gericht müssen die Glaubenden nicht fürchten, denn der Apostel ist sich gewiss, „dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Herrscher, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Mächte, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein Geschöpf uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus, unserm Herrn ist“ (Röm 8,38f). Schöpfung und Menschheit haben nicht nur denselben Ursprung, sondern ihr Geschick wird auch in Zukunft miteinander verschränkt sein. Protologie und Eschatologie, Universal- und Individualgeschichte entsprechen sich bei Paulus, weil Gott der Anfang und das Ziel alles Seienden ist (vgl. Röm 8,18ff). Von Gott kommt alles her, durch ihn hat alles Bestand und auf ihn läuft alles zu. Der Schöpfergott erwies seine Lebensmacht in der Auferstehung Jesus Christi und wird sie auch den Glaubenden zuteil werden lassen: „Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten erweckt hat, in euch wohnt, dann wird der, welcher Christus von den Toten erweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt“ (Röm 8,11).
6.1.2
Der Vater Jesu Christi
Bei Paulus ersetzt die Christologie nicht die Theologie, sondern wer und was Jesus Christus ist, wird vom Handeln Gottes her beantwortet12. Gottes Handeln an und durch Jesus Christus ist die Basis der Christologie, zugleich aber auch das Zentrum der Gotteslehre, denn Gott ist so zu denken, wie er sich in Jesus Christus erschlossen hat. Gott sandte Jesus Christus (Gal 4,4f; Röm 8,3f), er hat ihn dahingegeben und auferweckt (Röm 4,25; 8,32). Durch Christus versöhnte Gott die Welt (2Kor 5,18f) und rechtfertigt die Glaubenden (Röm 5,1–11)13. Die Gemeinde wird aufgefordert, ihr Leben für Gott in Christus auszurichten (Röm 6,11). Gott gegenüber erwies sich Jesus Christus als gehorsam (Phil 2,8; Röm 5,19). Es ist geradezu das Kennzeichen des von Paulus verkündigten Gottes, dass er Jesus Christus von den Toten auferweckt hat (vgl. 1Thess 1,10; 4,14; 1Kor 15,12–19). Gott ist der Ursprung aller ca´riß (Röm 1,7; 3,24; 1Kor 15,10) und das Ziel der Erlösung (1Kor 15,20–29). Hinter dem Christusgeschehen steht ausschließlich und wirkungsmächtig der Heilswille Gottes. Zugleich ist aber das Handeln Gottes Ausdruck der einzigartigen Würde und Stellung Jesu Christi. Über das Verhältnis von Gott zu Jesus Christus dachte Paulus nicht in begrifflich-ontologischen Kategorien der späteren Lehrentwicklung nach, dennoch sind zwei Linien unverkennbar. Zum einen zeigt sich deutlich ein subordinatianischer 12 Vgl. W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einzigkeit und Einheit Gottes (s. o. 4), 200: „Jesus Christus ist nur von Gott her und auf Gott hin zu verstehen.“
13 Zu dia` Cristou˜ bei Paulus vgl. W. THÜSING, Gott
und Christus (s. o. 6.1), 164–237.
Theologie 187
Zug in der paulinischen Christologie. So setzt Paulus in 1Kor 11,3 eine Stufenfolge voraus14: „Das Haupt des Mannes ist Christus, das Haupt der Frau aber ist der Mann, das Haupt Christi aber ist Gott.“ Eine Unterordnung Christi zeigt sich auch in 1Kor 3,23 („Ihr gehört zu Christus, Christus aber gehört zu Gott“)15 und 1Kor 15,28 („Wenn ihm alles unterworfen sein wird, dann wird auch der Sohn sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei“). Speziell 1Kor 15,23–28 spricht von einer zeitlichen Begrenzung der Herrschaft Jesu Christi und signalisiert damit deutlich die Unterordnung des Sohnes unter den Vater. In Phil 2,8f ist der Gehorsam Christi gegenüber Gott Voraussetzung für seine Erhöhung zum Kyrios. Zugleich sind die paulinischen Formulierungen aber für eine ansatzweise Gleichsetzung von Gott und Christus offen. Seine Gebete richtet der Apostel sowohl an Gott (vgl. z. B. 1Thess 1,2f; Röm 8,15f; 15,30ff) als auch an Jesus Christus (2Kor 12,8). In Phil 2,6 wird der präexistente Jesus Christus isa hew˜ („Gott gleich“) genannt und in Röm 9,5 setzt Paulus den aus Israel stammenden Cristo`ß kata` sa´rka mit Gott gleich („Von den Vätern, von denen Christus dem Fleisch nach abstammt, der Gott ist über allem; gelobt sei er in Ewigkeit“)16. Die Mittlerschaft
Unter-, Neben- und Hinordnung Jesu Christi im Verhältnis zu Gott sind für Paulus offenbar keine Gegensätze: Die Linien treffen sich in der Kategorie der Mittlerschaft, denn Jesus Christus ist der Schöpfungs- und Heilsmittler . Die vorpaulinische Tradition 1Kor 8,617 entfaltet diesen Gedanken, indem sie in kühner Weise die Geschichte Gottes mit der Geschichte Jesu Christi verbindet: „So gibt es für uns (nur) einen Gott, den Vater, aus dem alles ist und wir auf ihn hin; und einen Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.“ Der Text bestimmt das Verhältnis von Theologie und Christologie im Horizont des Monotheismus, wobei die eıß-Prädikation nicht nur dem Vater, sondern auch dem Kyrios Jesus Christus zuerkannt wird. Der eine Gott wird damit nicht in zwei Götter aufgespalten, sondern die Einzigkeit Gottes erschließt sich nur durch das einzigartige Heilswerk Jesu Christi18. Christus verbleibt
14 Zur Analyse vgl. W. THÜSING, a. a. O., 20–29. 15 Vgl. a. a. O., 10–20. 16 Es handelt sich hierbei um die grammatisch naheliegendste und inhaltlich schwierigste Interpretation; vgl. H.-CHR. KAMMLER, Die Prädikation Jesu Christi als „Gott“ und die paulinische Christologie, ZNW 94 (2003), 164–180; zum Für und Wider vgl. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer II, EKK VI/2, Neukirchen 1980, 189. 17 Zur Interpretation vgl. neben den Kommentaren W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1), 225–232; O. HOFIUS, Christus als Schöpfungsmittler und Erlösungsmittler. Das Bekenntnis 1Kor 8,6 im Kontext
der paulinischen Theologie, in: U. Schnelle/Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 47–58. 18 Vgl. W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Chrsitus III, 374: „Die Einzigartigkeit des Kyrios ist spezifisch anders als die Einzigkeit Gottes – und doch ist die Einzigkeit Gottes (also theo-logisch, durch die Aufnahme des Gekreuzigten in die Mitte des Geheimnisses Gottes) konstituiert. Durch die Einzigkeit des Kyrios Jesus Christus, seines Sohnes, will Gott seine eigene Einzigkeit als des in Schöpfung und Neuer Schöpfung Handelnden verwirklichen.“
188 Paulus: Missionar und Denker
seinem Ursprung und seinem Wesen nach ganz auf der Seite Gottes, es gibt keine Konkurrenz zwischen dem einen Gott und dem einen Herrn. Dennoch wird der eine Kyrios dem einen Gott nachgordnet, weil allein der Schöpfergott der Vater des Kyrios Jesus Christus ist. Ihre Existenz verdankt die Welt dem einen Gott allein, nur er ist der Ursprung alles Seienden. Der Kyrios ist präexistenter Schöpfungsmittler, der eine Gott ließ ‚alles‘ durch den einen Herrn entstehen. Die gesamte Schöpfung ist nach dem Willen Gottes unauflöslich mit Jesus verbunden: „Darum hat Gott ihn auch über alles erhöht und ihm den Namen über alle Namen gegeben, damit vor dem Namen Jesu jedes Knie sich beugt, der himmlischen, irdischen und unterirdischen (Mächte), und jede Zunge bekennt: Herr ist Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters“ (Phil 2,9–11). Es entspricht dem Heilswillen Gottes für seine Schöpfung, dass Mächte, Gewalten und Menschen im Schöpfungsmittler Jesus Christus zugleich den Heilsmittler erkennen. Er steht am Anfang der Schöpfung und ist als Auferstandener Prototyp der Neuschöpfung. Als ‚Bild Gottes‘ (2Kor 4,4: eikw`n tou˜ heou˜) hat Jesus Christus teil am Wesen Gottes, im Sohn wird das wahre Wesen des Vaters offenbar. Christus nimmt die Glaubenden in einen geschichtlichen Prozess hinein, an dessen Endpunkt ihre eigene Verwandlung steht; sie sollen „dem Bild seines Sohnes gleichgestaltet werden, damit er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei“ (Röm 8,29). Die Aussagen über die Schöpfermittlerschaft Jesu Christi verdanken sich der Erfahrung seiner Heilsmittlerschaft, d. h. die Protologie zielt von vornherein auf die Soteriologie. Die Erlösung ist kein zufälliges Geschehen, sondern im Ursprung der Schöpfung bereits angelegt19. Das Verhältnis Jesu Christi zu Gott lässt sich im paulinischen Denken am sachgemäßesten als ‚Hinordnung ‘ bezeichnen20. Jesus Christus ist zugleich dem Vater untergeordnet und umfassend in sein Wesen und seine Stellung mit einbezogen. Diese Dynamik darf weder zur angeblichen Wahrung eines ‚reinen‘ Monotheismus noch zur ntl. Begründung ontologischer Kategorien der altkirchlichen Lehrbildung in die eine oder andere Richtung verschoben werden. Vielmehr ist sie die zutreffende Erfassung eines Sachverhaltes, der seinem Wesen nach in der nachösterlichen Sinnbildung nur paradox beschrieben werden konnte und keine einlinigen Lösungen zuließ: Der eine Gott hat sich in dem einen Menschen Jesus von Nazareth umfassend und endgültig offenbart, wobei mit ‚Offenbarung‘ ein Geschehen gemeint ist, das sich nicht erdenken, sondern nur erschließen lässt . Wie sind Kontinuität und Diskontinuität paulinischer Theo logie und Christo logie zum Judentum zu bestimmen? Zunächst kann von einer Kontinuität in mehrfacher 19 Vgl. O. HOFIUS, Christus als Schöpfungsmittler
und Erlösungsmittler, 56. 20 Vgl. W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1), 258: „Die paulinische Christozentrik ist von innen heraus ausgerichtet auf Gott, weil schon die Christo-
logie Pauli theozentrisch ist; und von hierher ist die Hinordnung der Christozentrik auf Gott genauso durchgängig gegeben wie die kurio´tvß und das Pneuma-Wirken Christi.“
Theologie 189
Hinsicht gesprochen werden: 1) Paulus wählt als Ausgangspunkt seiner Theologie nicht das Wirken des Jesus von Nazareth, sondern Gottes Handeln an ihm in Kreuz und Auferstehung, so dass schon von diesem Grundansatz her von einem Primat der Theo logie gesprochen werden kann. 2) Paulus behauptet eine Kontinuität im Handeln Gottes selbst. Die Präexistenzvorstellung (vgl. 1Kor 8,6; 10,4; Gal 4,4; Röm 8,3; Phil 2,6)21 zeigt ebenso wie die verheißungsgeschichtlichen Erwägungen in Gal 3,15–18 und Röm 4; 9–11, dass Paulus die Geschichte Gottes von Anfang an als Geschichte Jesu Christi begreift. Die Geschichte Israels wird und muss von Paulus konsequent von Jesus Christus her und auf ihn hin interpretiert werden22. Nur so kann er die Selbigkeit Gottes in seinem Handeln erweisen; nur auf diese Weise erscheint es ihm möglich, eine Aufspaltung des Gottesbegriffes und der Geschichte zu verhindern. Paulus konnte und wollte die Identität des Gottes Israels mit dem Vater Jesu Christi nicht infrage stellen. Ihm war es unmöglich, das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus von der Geschichte Israels zu lösen, denn es gibt nur eine Geschichte Gottes, die von Anfang an durch die Schöpfungs- und Heilsmittlerschaft Jesu Christi bestimmt wird. 3) Paulus knüpft traditionsgeschichtlich bei seiner Verhältnisbestimmung von Gott und Jesus Christus an Vorstellungen des antiken Judentums an (s. o. 4.5), sprengt sie aber zugleich, weil es nach jüdischer Auffassung unmöglich war, einen am Kreuz Verstorbenen in gottgleicher Art zu verehren. Während der Gottesgedanke die Kontinuität zum Judentum verbürgt, sprengt die Christologie jede Einheit und begründet die theologische und damit auch historische Diskontinuität zwischen dem sich herausbildenden frühen Christentum und dem Judentum 23. Der christologische Monotheismus des Paulus verändert und überschreitet fundamental jüdische Vorstellungen. Indem die Geschichte des gekreuzigten Jesus Christus von Anfang an als authentische Gottesgeschichte begriffen wird24, bildet sich ein neues Gottesbild und Gottesverständnis heraus: Gott ist so Gott, wie er sich in Jesus Christus offenbarte. Der gekreuzigte Gott des Paulus und der Gott des Alten Testaments sind jedoch nicht vereinbar. Das Alte Testament schweigt von Jesus Christus, auch wenn Paulus versucht, dieses Schweigen durch gewagte Exegesen zum Sprechen zu bringen.
21 Zur Präexistenzvorstellung bei Paulus vgl. J. HABERMANN,
Präexistenzaussagen im Neuen Testament (s. u. 12.2.1), 91–223; H. V. LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament (s. o. 4.5), 290–317; M. HENGEL, Präexistenz bei Paulus?, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift (FS O. Hofius), hg. v. Chr. Landmesser u. a., BZNW 86, Berlin 1997, 479– 517; TH. SÖDING, Gottes Sohn von Anfang an, in: Gottes ewiger Sohn, hg. v. R. Laufen, Paderborn 1997, 57–93. 22 Gegen P.-G. KLUMBIES, Die Rede von Gott (s. o. 6.1), 213: „Gott ist für Paulus nicht über sein Handeln in der Geschichte Israels zu definieren.“
23 Allerdings wird man kaum wie P.-G. KLUMBIES, a. a. O., 252, behaupten können, Paulus komme „unter der Hand zu einer prinzipiellen Neuformulierung des theo-logischen Gedankens.“ 24 Vgl. treffend O. HOFIUS, Christus als Schöpfungsmittler und Erlösungsmittler, 58: „Denn eines ist es, von Gottes ‚Weisheit‘ oder Gottes ‚Logos‘ zu reden und ihnen als den höchsten Kräften Gottes, mögen sie auch hypostasiert oder gar personifiziert gedacht sein, eine kosmologische und soteriologische Funktion zuzuschreiben, ein anderes aber, eben dieses von einem geschichtlichen Menschen auszusagen, der dazu noch am Kreuz hingerichtet worden ist!“
190 Paulus: Missionar und Denker
Wenn Gott sich im kontingenten Geschehen von Kreuz und Auferstehung letztgültig offenbarte, dann ist der Gedanke einer kontinuierlichen, an der Volkszugehörigkeit, dem Land, der Tora oder dem Bund orientierten Heils- und Erwählungsgeschichte nicht mehr tragfähig. Paulus will und kann diese Schlussfolgerung nicht ziehen, sondern versucht sie durch eine Neudefinition des Gottesvolkbegriffes zu umgehen (s. u. 6.7.1). Für Juden und strenge Judenchristen waren solche Versuche nicht akzeptabel, weil sie einer massiven Umdeutung ihrer eigenen Heilsgeschichte gleichkamen. Jüdischer Heilspartikularismus und frühchristlicher Heilsuniversalismus konnten nicht gleichzeitig gelten, weil beide Sinnwelten nicht kompatibel sind25! So ist schon bei Paulus trotz aller gegenseitigen Beteuerungen die Christologie der Sprengsatz, der die anfängliche Einheit zwischen den Christusgläubigen und dem Judentum aufhebt.
6.1.3
Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln
In seiner unhinterfragbaren Freiheit begegnet Gott den Menschen als Berufender und Erwählender, aber auch als Verwerfender26. Paulus deutet seine eigene Geschichte in diesen Kategorien, wenn er davon spricht, es habe Gott wohlgefallen, „der mich von meiner Mutter Leibe an ausgesondert und mich berufen hat durch seine Gnade, seinen Sohn in mir zu offenbaren“ (Gal 1,15f). Der Apostel weiß sich wie seine Gemeinden in die Erwählungsgeschichte Gottes miteinbezogen, die bereits mit Abraham begann, im Christusgeschehen ihr Ziel erreichte und in der Transformation der Glaubenden in das himmlische Sein bei der Parusie ihre Vollendung finden wird. In diesem Bewusstsein entfaltet Paulus bereits in seinem ersten Brief eine Erwählungstheologie: Die Thessalonicher dürfen ihre Berufung als endzeitliche Gnadenwahl Gottes verstehen (1Thess 1,4; 2,12; 5,24), weil sie sich von den nichtigen Götzen zum einen, wahren Gott hinwandten (1Thess 1,9). Die Gemeinde weiß: „Denn Gott hat uns nicht zum Zorn bestimmt, sondern zur Erlangung der Rettung“ (1Thess 5,9). An menschliche Maßstäbe ist Gott dabei nicht gebunden, denn er erwählt die aus menschlicher Perspektive Einfältigen, Schwachen und Unehrenhaften (1Kor 1,25ff). Nach seinem Willen rettet die Torheit der Kreuzespredigt, nicht menschliche
25 Anders N. ELLIOTT, Paul and the Politics of Empire, in: R. A. Horsley (Hg.), Paul and the Politics (s. u. 6.2.1), 19ff, der den Gegensatz zwischen einem christlichen Universalismus und einem jüdischen Partikularismus mit dem Argument bestreitet, dass bei Paulus der Universalismus aus dem jüdischen Erbe stamme. 26 Zur Analyse der Prädestinationsaussagen bei
Paulus vgl. U. LUZ, Das Geschichtsverständnis bei Paulus (s. o. 6), 227–264; G. MAIER, Mensch und freier Wille, WUNT 12, Tübingen 1971, 351–400; B. MAYER, Unter Gottes Heilsratschluß. Prädestinationsaussagen bei Paulus, FzB 15, Würzburg 1974; G. RÖHSER, Prädestination und Verstockung, TANZ 14, Tübingen 1994, 113–176.
Theologie 191
Weisheit (1Kor 1,18ff), und die Menschheit spaltet sich auf in jene, die gerettet werden und jene, die verloren gehen (2Kor 2,15f). Nicht zufällig kulminieren die paulinischen Gedanken zu Berufung und Verwerfung in Röm 9–11. Sie liegen hier in der Konsequenz des paulinischen Freiheitsbegriffes, der Israelproblematik und der Rechtfertigunslehre des Röm. Bereits die Überlegungen des Apostel zur endzeitlichen Bestimmung der Glaubenden und des Kosmos in Röm 8, 18ff laufen auf den Problemkomplex Prädestination zu. Es gilt: „Die er vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht“ (Röm 8,30). In Röm 9–11 vertritt Paulus eine doppelte Prädestination27. Gott beruft und verwirft, wen er will (vgl. Röm 9,16.18; vgl. ferner 2Kor 2,15). Sein auserwähltes Volk Israel wird geschlagen und wieder aufgerichtet, die Heiden bekommen Anteil am Heil, Gott vermag aber diesen neuen Zweig am Ölbaum auch wieder abzuschlagen (Röm 11,17–24). Damit kommt „zum Ausdruck, daß der Entschluß des Glaubens nicht wie andere Entschlüsse auf irgendwelche innerweltliche Motive zurückgeht, daß diese vielmehr angesichts der Begegnung des Kerygmas alle Motivationskraft verliert; d. h. zugleich, daß sich der Glaube nicht auf sich selbst berufen kann.“28 In dieser auf die glaubende Existenz des Einzelnen zentrierten Interpretation gehen die paulinischen Prädestinationsaussagen aber keinesfalls auf. Sie sind zuallererst theologische Sätze, die einen von Gott selbst in der Schrift geoffenbarten Sachverhalt mitteilen. Gott der Schöpfer kann in seiner unhinterfragbaren Freiheit nach seinem Willen erwählen und verwerfen. Der freie Wille ist somit für Paulus ausschließlich ein Prädikat Gottes. Der unendliche Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf begründet die spezifische Perspektive, von der aus Paulus den Menschen erfasst. Als Berufender tritt Gott dem Menschen entgegen, „Menschsein ist Berufensein und Angesprochensein durch Gott“29. Der Ruf Gottes begründet die christliche Existenz. Sie ist somit dem Menschen nicht verfügbar, vielmehr nur im Hören annehmbar. Das o kale´saß vma˜ß („der uns Berufende“) wird bei Paulus zu einem zentralen Gottesprädikat (vgl. 1Thess 2,12; 5,24; Gal 1,6; 5,8). Gott begegnet dem Menschen als berufendes Ich, dessen Willen sich in der Schrift kundtut30. Im Hinblick auf das Heil kann sich der Mensch deshalb immer nur als Empfangender und Beschenkter erfahren. Als Geschöpf ist er grundsätzlich nicht befähigt, Heil und Sinn zu entwerfen und zu verwirklichen. Will der Mensch sich selbst und seine Situation sachgemäß und realistisch verstehen und einschätzen, so muss er seine Geschöpflichkeit und damit seine Begrenztheit erkennen und ernst nehmen. Über Heil und Unheil entscheidet nicht das Geschöpf, sondern allein der Schöpfer. 27 So mit Nachdruck G. MAIER, Mensch und freier Wille, 356f; anders G. RÖHSER, Prädestination und Verstockung, 171 u. ö., wonach sich bei Paulus Gottes Wille und menschliche Entscheidung nicht ausschließen.
28 R. BULTMANN, Theologie, 331. 29 H. HÜBNER, Gottes Ich und Israel (s.u. 6.8.4) 31f. 30 Vgl. a. a. O., 31–35.
192 Paulus: Missionar und Denker
Welche Funktion haben die Prädestinationsaussagen im Gesamtgefüge des paulinischen Denkens? Sie sind dem Apostel innerhalb seines Weltbildes vorgegeben, werden aber von ihm in unterschiedlicher Intensität aktiviert. Einerseits setzt Paulus Rettung, Verwerfung und Gericht in einem weiten Rahmen immer voraus, andererseits begibt er sich nur in Röm 9–11 in die argumentativen Tiefen und Abgründe dieses Themenkomplexes. Die besondere Gesprächssituation des Römerbriefes erfordert es, im Kontext der exklusiven Rechtfertigungslehre und der Israelthematik ausführlich auf die Prädestination einzugehen. Paulus zielt auf die Wahrung der Freiheit Gottes, deshalb betont er nachdrücklich eine theologische Grunderkenntnis: Gottes Handeln ist unabhängig von menschlichen Taten oder Voraussetzungen, sein Wille unserem Wollen immer vorgängig. Gottes Erwählungsgnade ist seine Rechtfertigungsgnade! Exklusive Rechtfertigungslehre und Prädestinationaussagen wahren somit gleichermaßen die Freiheit Gottes und die Unverfügbarkeit des Heils31. Dieses Argumentationsziel und die Beobachtung, dass die Prädestinationsaussagen in Röm 9–11 bei Paulus als eine Funktion der exklusiven Rechtfertigungslehre und der Israelthematik erscheinen, sollten davor warnen, sie in eine festgefügte, statische Prädestinationslehre zu zwängen. Zugleich gilt es gegen Relativierungs- und Nivellierungstendenzen festzuhalten, dass Paulus eine doppelte Prädestination vertritt: Der freie Wille ist im Hinblick auf das Heil ein Prädikat Gottes und nicht des Menschen. Heil und Unheil sind gleichermaßen allein im unhinterfragbaren Ratschluss Gottes begründet (anders Jak 1,13–15!). Allerdings stehen beide nicht gleichrangig nebeneinander, sondern Gottes universaler Heilswille wurde im Evangelium von Jesus Christus offenbar32, während Gottes Nein als Geheimnis der menschlichen Kenntnis entzogen ist.
6.1.4
Gottes Offenbarung im Evangelium
Gottes Offenbarung vollzieht sich im euagge´lion („Evangelium“)33, das seinem Ursprung und seiner Autorität nach das euagge´lion tou˜ heou˜ ist („Evangelium Gottes“; vgl. 1Thess 2,2.8.9; 2Kor 11,7; Röm 1,1; 15,16). Deshalb umfasst euagge´lion weitaus 31 Vgl. U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 249,
schlossen hat, um sich aller zu erbarmen‘.“
wonach „die prädestinatianischen Aussagen für Paulus allein Aussagen über Gott, nicht Bestimmung über den Menschen und die Geschichte sein wollen.“ 32 Das Ja Gottes betont nachdrücklich M. THEOBALD, Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000, 276: „Eschatologisch überboten wird die Dialektik von Erwählung und Verwerfung, Berufung und Verhärtung in Röm 9–11 durch das Bekenntnis von 11,32 zu dem Gott, der ‚alle in den Ungehorsam einge-
33 Vgl. dazu G. STRECKER, Das Evangelium Jesu
Christi, in: ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 183–228; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 311–348; H. MERKLEIN, Zum Verständnis des paulinischen Begriffs „Evangelium“, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 279– 295; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 163– 181; D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge (s. o. 4.4), 322–353.
Theologie 193
mehr als eine ‚frohe Botschaft‘; es ist wirksame Heilsmitteilung, ein Glauben schaffendes Geschehen und eine Glauben wirkende Macht, die von Gott ausgeht und durch die Kraft des Geistes auf das Heil der Menschen zielt (vgl. 1Thess 1,5; 1Kor 4,20; Röm 1,16f). Das Evangelium erreichte Paulus nicht durch menschliche Vermittlung, es wurde ihm unmittelbar von Gott durch die Erscheinung Jesu Christi offenbart (vgl. Gal 1,11ff; 2Kor 4,1–6; Röm 1,1–5). Paulus darf und muss dem Evangelium dienen, es steht nicht zu seiner Disposition (vgl. Röm 15,16). Das Evangelium wird zwar durch das menschliche Wort des Apostels dargeboten, geht darin aber keineswegs auf, vielmehr begegnet es den Hörern als Wort Gottes (vgl. 1Thess 2,13; 2Kor 4,4–6; 5,20). Paulus steht unter dem Zwang der Evangeliumsverkündigung: „Wenn ich das Evangelium verkündige, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige!“ (1Kor 9,16). Für Paulus ist somit die Einsetzung des Evangeliums ein Heilserweis Gottes, der dem Glauben und der Heilserkenntnis der Gemeinde Jesu Christi vorangeht34. Als eschatologisches Geschehen muss das Evangelium weltweit verkündigt werden (vgl. 2Kor 10,16; Röm 10,15f unter Aufnahme von Jes 52,7LXX), denn es zielt auf die Rettung der Menschen und hat somit soteriologische Qualität (vgl. 2Kor 4,3f). Die Gemeinde in Korinth wurde „durch das Evangelium gezeugt“ (1Kor 4,15), und der Dienst am Evangelium eint Paulus mit seinen Gemeinden (vgl. 2Kor 8,18; Phlm 13). Paulus kämpft für das Evangelium (vgl. Gal 1,6ff; Phil 1,7; 2,22; 4,3) und erträgt alles, um nicht zum Hindernis für das Evangelium zu werden (1Kor 9,12). Ihm geht es allein um die rettende Teilhabe am Evangelium: „Alles tue ich um des Evangeliums willen, um sein Teilhaber zu werden“ (1Kor 9,23). Seinem Inhalt nach ist das Evangelium das euagge´lion tou˜ Cristou˜ („Evangelium Christi“; vgl. 1Thess 3,2; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Röm 15,19; Phil 1,27). Dieses Evangelium hat eine ganz bestimmte Gestalt und einen eindeutig bestimmbaren Inhalt; deshalb bekämpft Paulus all jene, die ein anderes Evangelium verkünden. Der Inhalt des Evangeliums (vgl. 1Thess 1,9f; 1Kor 15,3–5; 2Kor 4,4; Röm 1,3b–4a) lässt sich nach Paulus so beschreiben: Von Uranfang an wollte Gott die Welt in und durch Christus retten (vgl. 1Kor 2,7; Röm 16,25), diese Heilsabsicht ließ er durch die Propheten verkünden (vgl. Röm 1,2; 16,26) und von der Schrift bezeugen (vgl. 1Kor 15,3.4; Gal 3,8)35. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, der durch den Tod am Kreuz und seine Auferstehung das Heil der Welt und der Menschen bewirkte (vgl. Gal 4,4f; Röm 1,3f; 15,8; 2Kor 1,20). Bis zur Sendung des Sohnes Gottes lebten Juden und Heiden gleichermaßen in Unkenntnis des wahren Willens Gottes, jetzt wird er im Evangelium durch den berufenen Heidenapostel Paulus verkündigt. Im Evangelium fasst sich somit für Paulus der endgültige Heilswille Got34 Vgl. P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 315.
35 Vgl. dazu J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6),
169–173.
194 Paulus: Missionar und Denker
tes in Jesus Christus zusammen, es ist die Botschaft von dem gekreuzigten Gottessohn (vgl. 1Kor 1,17)36. Im Leiden und in der Auferstehung seines Sohnes bekundete Gott seinen Heilswillen und er betraute den Apostel mit seiner Verkündigung. Als direkte Anrede an die Menschen (2Kor 5,19: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“) ist das Evangelium wirksame Heilsmitteilung von Gott her; es gilt gleichermaßen den Juden und den Heiden, sofern beide Jesus Christus als Retter anerkennen. Zur Heilsmacht wird das Evangelium für jeden, der glaubt (vgl. Röm 1,16.17). Mit der Verkündigung des Evangeliums hängt für Paulus untrennbar das Gericht zusammen: „Gott wird das Verborgene der Menschen richten nach meinem Evangelium durch Christus Jesus“ (Röm 2,16). Weil das Evangelium Heilsbotschaft ist, kann seine Ablehnung nicht folgenlos bleiben, ebenso wie seine Annahme nicht folgenlos ist. Deshalb erscheint Jesus Christus im Evangelium nicht nur als Retter, sondern auch als Richter. Zugleich ist aber deutlich, dass für Paulus das Evangelium zuallererst eine du´namiß heou˜ („Macht Gottes“) ist, die jene rettet, die die Heilsbotschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus im Glauben annehmen. Die paulinischen Gemeinden rezipierten den euagge´lion-Begriff in einem bestimmten kulturgeschichtlichen Umfeld. Das Verb euaggelı´zeshai verweist auf einen überwiegend atl.-jüdischen Hintergrund37. Es erscheint sowohl in der LXX als auch in Schriften des antiken Judentums und muss mit ‚das eschatologische Heil ansagen‘ übersetzt werden. Auch im hellenistischen Schrifttum ist euaggelı´zeshai im religiösen Sinn belegt (vgl. Philostr, VitAp I 28; vgl. ferner Philo, LegGai 18.231). Das Substantiv euagge´lia wird in der LXX ohne erkennbare theologische Füllung gebraucht38, hingegen spielt es eine zentrale Rolle in der Herrscherverehrung . So wird in der Inschrift von Priene (9 v.Chr.) der Geburtstag des Augustus so glorifiziert: „Der Geburtstag des Gottes war aber für die Welt die erste der von ihm ausgehenden Freudenbotschaften (euaggelı´wn)“39. Josephus verbindet die Erhebung Vespasians zum Kaiser mit Opfern und dem euagge´lia-Begriff: „Schneller als der Flug des Gedankens verkündigten die Gerüchte die Botschaft vom neuen Herrscher über den Osten, und jede Stadt feierte die gute Nachricht (euagge´lia) und brachte zu seinen Gunsten Opfer dar.“40 Die Himmelfahrt der Drusilla und des Claudius als Auftakt ihrer Vergöttlichung wird von Seneca ironisch als ‚gute Nachricht‘ bezeichnet41. Innerhalb der zeitgenössischen Enzyklopädie war der Terminus euagge´lion/euagge´lia auch mit der 36 Vgl. H. MERKLEIN, Zum Verständnis des paulinischen Begriffs „Evangelium“, 291–293. 37 Die atl.-jüdische Vorgeschichte von euagge´lion bzw. euaggelı´zeshai wird dargestellt von P. STUHLMACHER, Das paulinische Evangelium I. Vorgeschichte, FRLANT 95, Göttingen 1968. 38 Der Singular euagge´lion findet sich nicht in der LXX, der Plural euagge´lia ist nur in 2Sam 4,10 be-
legt; vgl. ferner v euaggelı´a in 2Sam 18,20.22.25.27; 2Kön 7,9. Treffend G. FRIEDRICH, Art. euagge´lion, ThWNT 2, Stuttgart 1935, 722: „LXX ist nicht der Ursprungsort des nt.lichen euagge´lion.“ 39 Vgl. NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 6–9. 40 Vgl. Jos, Bell 4,618; ferner Bell 4,656 (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 9f). 41 Vgl. Sen, Apoco 1,3.
Theologie 195
Herrscherverehrung verbunden42 und hatte damit eine politisch-religiöse Konnotation. Die frühen Gemeinden nahmen mit dem Evangeliums-Begriff offenbar sehr bewusst Vorstellungen ihres kulturellen Umfeldes auf, zugleich unterschieden sie sich durch den Singular euagge´lion grundlegend von den euagge´lia der Umwelt. Auch der paulinische Gebrauch von euagge´lion lässt sich in diese Anknüpfungs- und Überbietungsstrategie einordnen: Die wahre und exklusive gute Nachricht ist die Botschaft von Kreuz und Auferstehung. Nicht das Erscheinen des Kaisers rettet, sondern der vom Himmel kommende Gottessohn (vgl. 1Thess 1,9f). Die Vielfalt der paulinischen Evangeliumsverkündigung sowie die sehr begrenzte gesetzeskritische Funktion von euagge´lion in Gal, Röm und Phil zeigen, dass das paulinische Evangelium keineswegs von Anfang an und grundsätzlich als ‚gesetzesfreies‘ Evangelium verstanden werden kann43. Die Gesetzesproblematik ist ein Nebenthema des Evangeliumsbegriffes. Vielmehr ist das von Gott ausgehende Evangelium in seinem Kern christologisch-soteriologisch und eschatologisch gefüllt44: Jesu Tod und Auferstehung ist das Heilsereignis schlechthin (vgl. 1Kor 15,3b–5), das Gegenwart und Zukunft aller Menschen bestimmt. Das Evangelium ist eine zum Heil rufende Kraft Gottes, die eine unter der Sünde versklavte Welt befreien und retten will. Gott bringt sich im Evangelium zur Sprache und definiert sich selbst durch das Evangelium als Liebender und Rettender. Das Evangelium ist die Präsenz des machtvollen Gottes, der die Menschen zum Glauben führen will.
6.1.5. Das neue Gottes-Bild Gott ist nicht unmittelbar, sondern nur in Bildern zugänglich. Die antike Welt war voller Gottes-Bilder verschiedenster Art (vgl. Apg 17,16). Weshalb wandten sich Juden und Menschen aus griechisch-römischer Religiosität in einer wahrhaft multireligiösen Gesellschaft gerade dem frühchristlichen Gottesbild zu? Ein wesentlicher Grund lag im Monotheismus, der bereits die Faszination des Judentums in der Antike begründete. Die Vielzahl der Götter und Götterdarstellungen in der griechisch-römischen Welt45 führte offenbar zu einem Verlust an Plausibilität, die Cicero mit der Bemerkung wiedergibt: „Es gibt für die Götter so viele Namen, wie es menschliche Sprachen gibt.“46 Weil die Menge der Götter gar nicht zu bestimmen ist, stellt sich 42 Vgl. G. STRECKER, Das Evangelium Jesu Christi, 188–192. 43 Gegen F. HAHN, Gibt es eine Entwicklung in den Aussagen über die Rechtfertigung bei Paulus?, EvTh 53 (1993), (342–366) 344, der behauptet: „Was das Evangelium seinem Inhalt und seiner Wirkung nach ist, wird mit Hilfe der Rechtfertigungsthematik ausgeführt.“
44 Vgl. G. STRECKER, Das Evangelium Jesu Christi, 225; H. MERKLEIN, Der paulinische Begriff „Evangelium“, 286. 45 Zur Frühzeit der griechischen Religion vgl. W. JAEGER, Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953. 46 Cic, Nat Deor I 84.
196 Paulus: Missionar und Denker
die Frage, welche Gottheiten eigentlich mit welchem Sinn verehrt werden müssen47. Der Philosoph fragt deshalb: „Wenn diejenigen, die wir traditionsgemäß verehren, tatsächlich Götter sind, warum sollten wir dann nicht auch Serapis und Isis in dieselbe Kategorie aufnehmen? Falls wir das tun, weshalb dann ausländische Gottheiten verschmähen? Also werden wir auch Stiere und Pferde, Ibisse, Falken, Nattern, Krokodile, Fische, Hunde, Wölfe, Katzen und noch viele andere Tiere zu den Göttern rechnen.“48 Die Absurdität der Argumentation ist offensichtlich: Die konventionellen Religionen und Kulte neutralisieren sich gegenseitig und können die religiösen Bedürfnisse der wirtschaftlich und intellektuell mobilen Schichten nicht mehr überzeugend befriedigen49. Der Mittelplatoniker Plutarch versucht dieser Gefahr mit dem Hinweis zu entgehen, dass die Gottheit bei den verschiedenen Völkern zwar jeweils anders genannt werde, dennoch für alle Menschen dieselbe sei. „So gibt es einen Logos, der den Kosmos ordnet, und eine Vorsehung, die dies leitet, und helfende Kräfte, die für alles eingeteilt sind; aber es gibt nach den Gesetzen bei den verschiedenen Völkern verschiedene Ehren und Bezeichnungen, und die einen gebrauchen undeutliche, die anderen klarere geheiligte Symbole, welche den Sinn auf das Göttliche lenken sollen. . . . Deshalb sollen wir aus der Philosophie den Logos entnehmen, der uns wie ein Mystagoge führt, so dass wir in frommer Weise alles durchdenken, was an Mythen erzählt und an Riten verrichtet wird.“50 Weil Gott unbeweglich und zeitlos ist, weder „früher noch später, noch zukünftig, noch vergangen, noch älter, noch jünger; sondern da er einer ist (allL eıß wn), hat er mit dem einen Jetzt das Immer erfüllt . . . So müssen ihn nun seine Verehrer grüßen und sagen: ‚Du bist‘, und beim Zeus, wie manche von den Alten sagen: ‚Du bist eines‘. Nicht vieles ist nämlich das Göttliche . . ., sondern eines muß das Seiende sein, wie seiend das eine.“51 Die zwei Quellen der Gotteserkenntnis52, nämlich 1) die dem Menschen eingeplanzte Idee des Göttlichen angesichts der Majestät des Kosmos und 2) die in alten Mythen und Bräuchen überlieferten Gottesvorstellungen haben an Plausibilität verloren. Je mehr die Anthropomorphie der griechischen Göttermythen skeptischer Kritik unterzogen wurde, desto mehr gewann der Eingottglaube, der Henotheismus und damit verbunden auch der exklusive Monotheismus notwendigerweise an Überzeugungskraft53. 47 Vgl. a. a. O., III 40–60 48 A. a. O., III 47. 49 Vgl. R. STARK, Der Aufstieg des Christentums, Weinheim 1997, 44 f. 50 Plut, Is et Os 67.68. 51 Plut, Delphi 20. 52 Vgl. Dio Chrys, Or 12. Die ‚Olympische Rede‘ des Dion von Prusa ist ein beindruckendes Beispiel für den Versuch, die griechische Religion und ihre Kulte neu zu beleben. Zeus wird als universaler, friedlicher und milder Gott gepriesen, der die Menschen als Vater und König beschützt und ihnen alles gewährt,
was sie zu einem gelingenden Leben benötigen. Text und Kommentar: H.-J. KLAUCK/B. BÄBLER, Dion von Prusa: Olympische Rede, Darmstadt 2000. 53 Zu beachten ist allerdings, dass schon in der greifbaren Anfangszeit griechischer Theologie die Kanonisierung des anthropomorphen Polytheismus eines Homer und Hesiod bei Herodot (Hist II 49–58) und der Skeptizismus/Atheismus eines Protagoras (geb. um 490 v.Chr.) nebeneinander standen: „Was nun die Götter anbelangt, so vermag ich nicht zu wissen: weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind, noch wie sie beschaffen sind hinsichtlich ihrer Er-
Theologie 197
Paulus steht fest in der Tradition des atl. Monotheismus und kann die Tendenzen in der griechisch-römischen Religionsgeschichte für sich nutzen54; dennoch mutet er seinen Hörern zu, eine neue Weltsicht, einen neuen Gott anzunehmen . Dieser Gott ist einer, aber nicht allein; er hat einen Namen, eine Geschichte und ein Gesicht: Jesus Christus . Das Gottes-Bild wird anschaulich, denn Jesus Christus ist das Bild Gottes (2Kor 4,4). Der von Paulus verkündigte Gott ist ein persönlicher Gott, der in der Geschichte handelt und sich um die Menschen kümmert. Er ist weder weltabgewandt noch weltimmanent, sondern in Jesus Christus weltzugewandt (vgl. Gal 4,4f; Röm 8,3). Nicht der universale Mythos, sondern das konkrete Handeln bestimmt das frühchristliche Gottesbild. Die offene oder verdeckte anthropomorphe Rede von den Göttern/dem Gott wird im frühen Christentum schon vor Paulus durch die wirkliche und bleibende Menschwerdung Gottes in Jesus Christus überwunden. Hier liegt der maßgebliche Unterschied zu den Gottesvorstellungen der drei führenden philosophischen Schulen z.Zt. des Paulus: dem Mittelplatonismus, der Stoa und dem Epikurismus (vgl. Apg 17,18). Die starke Betonung der absoluten Transzendenz und Andersartigkeit Gottes, sein kategoriales Geschiedensein von allem Menschlichen und damit sein Entschwinden in eine unnahbare Ferne sind charakteristisch für das Gottesbild des Mittelplatonismus, das bei Plutarch so formuliert wird55: „Was ist nun wirklich seiend? Das Ewige und Ungewordene und Unvergängliche, dem auch keine Zeit Veränderung bewirkt. . . . Daher geht es auch nicht an, von Seienden so etwas zu sagen wie ‚es war‘ oder ‚es wird sein‘. Denn das sind Abwandlungen und Veränderungen dessen, was nicht geartet ist, im Sein zu verharren . . . Aber der Gott hat das Sein, muss man sagen, und er ist nicht in irgendeiner Zeit, sondern in der Ewigkeit, der unbeweglichen, zeitlosen, unveränderlichen“ (Delphi 19.20). Die Stoa vertrat einen monistischen Pantheismus, wonach die Gottheit in allen Daseinsformen wirkt. Sie ist weltimmanent und allgegenwärtig, zugleich aber gerade deshalb nicht fassbar. Chrysipp (282–209 v.Chr.) lehrt, „die göttliche Kraft liege in der Vernunft und in der Seele und dem Geist der gesamten Natur, und erklärt weiter, die Welt selbst und die alles durchdringende Weltseele sei Gott.“56 Es existiert nichts über die Stofflichkeit alles Seienden hinaus, es gibt weder einen transzendenten Schöpfergott noch eine metaphysische Weltbegründung. Ein entgegengesetzter Gottesbegriff findet sich bei Epikur. Für ihn führen die Götter ein glückseliges, zeitenthobenes Leben, ohne sich um
scheinungen“ (D-K 80 B 4). Bei Diog L IX 51 schließt sich diesem Diktum eine schöne Begründung an: „Vieles steht dem Wissen hinderlich im Wege: Die Undeutlichkeit der Sachlage und die Kürze des Menschenlebens.“ 54 Vgl. zum paganen Monotheismus W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. 4), 35–43. 55 Das Prinzip der Unveränderlichkeit Gottes be-
herrscht bereits das Denken der Vorsokratiker (Xenophanes, Parmenides, Heraklit); vgl. dazu W. MAAS, Die Unveränderlichkeit Gottes, PThSt 1, München/ Paderborn 1974. 56 Cic, Nat Deor I 39; vgl. ferner Diog L 7,135 f.142. Ae¯tios sagt über Gott, „auch sei er ein Atemstrom, der durch die ganze Welt hindurch zieht und je nach der Materie, durch die er durchkommt, wechselnde Bezeichnungen annimmt“ (SVF 2,1027).
198 Paulus: Missionar und Denker
die Menschen zu kümmern. „Denn ein Gott tut nichts, ist in keine Geschäfte verwickelt, plagt sich mit keiner Arbeit, sondern freut sich seiner Weisheit und Tugend und verläßt sich darauf, stets in höchsten und vor allem in ewigen Wonnen zu leben.“57 Die Götter können als Unsterbliche weder leiden noch sich in Liebe der Welt zuwenden58. Sie sind den Niederungen des Lebens entrückt und haben mit den Menschen nichts gemein. Offenbar verloren um die Zeitenwende die traditionellen antiken Götterlehren an Überzeugungskraft, so dass ihre Existenz überhaupt in Frage gestellt wurde59. Die philosophische Kritik des Polytheismus und das Entschwinden der Götter/ Gottes in eine unnahbare Ferne bzw. ihr Verschwinden im unmittelbar Gegenwärtigen bereiteten somit dem christlichen Monotheismus mit den Weg. Während der Polytheismus keine personale Gottesbeziehung ermöglichte, vereinte der von Paulus verkündigte Gott zwei attraktive Grundprinzipien in sich: Er ist sowohl Herr der Geschichte als auch Herr des persönlichen Lebens . Beide Bereiche fielen in den frühchristlichen Gemeinden nicht nur im Denken, sondern auch in der religiösen Praxis zusammen. Die Christen lebten in dem Bewusstsein, zu jener Gruppe von Menschen zu gehören, die Gott auserwählt hatte, um der Welt seinen Heilswillen, aber auch sein Gerichtshandeln zu offenbaren. Sie waren davon überzeugt, dass Gott durch Jesus Christus zugleich der Geschichte und jedem einzelnen Leben, Sinn und Ziel verliehen hatte. Dieser Sinn umfasste sowohl das tägliche Leben als auch die Jenseitshoffnungen. Die frühchristliche Verkündigung wandte sich gleichermaßen dem Alltag der Glaubenden und grundsätzlichen Lebensfragen zu, wie z. B. dem Tod. Hier unterschied sich das werdende Christentum erheblich von den Vorstellungen seiner Umwelt. Der Gott der Christen war ein Gott des Lebens, der Verbindlichkeit forderte, aber auch Freiheit gewährte, bereits in der Gegenwart erfahrbar war und zugleich die Zukunft der Glaubenden verbürgte . Nicht das im Denken der Griechen eine zentrale Rolle spielende unberechenbare Schicksal60, sondern der in Jesus Christus offenbar gewordene Gott
57 Cic, Nat Deor I 51; vgl. ferner Epic, Men 123: „Denn Götter gibt es tatsächlich: unmittelbar einleuchtend ist deren Erkenntnis. Wofür sie jedoch die Masse hält, so geartet sind sie nicht.“ Alle wesentlichen Texte zur Theologie Epikurs finden sich in Epikur, Wege zum Glück, übers. u. hg. v. R. Nickel, Düsseldorf 2003. 58 Vgl. Cic, Nat Deor I 95.121; Diog L X 76.77. 59 Vgl. Cic, Nat Deor I 94: „Wenn nun niemand von ihnen (sc. den Philosophen, U.S.) die Wahrheit über das Wesen der Götter gesehen hat, steht zu befürchten, daß es dieses Wesen überhaupt nicht gibt“; vgl. ferner I 63: „Und haben nicht auch Diagoras mit dem Beinamen ‚der Atheist‘ und später Theodorus das Sein der Götter ganz offen geleugnet?“
60 Vgl. z. B. den bei Epict, Ench 53, überlieferten
Ausspruch des Kleanthes: „O Zeus, und du, allmächtiges Schicksal, führt mich zu jenem Ziel, das mir einst von euch bestimmt wurde. Ich werde folgen ohne Zaudern. Sträub ich mich, ein Frevler wär ich dann, ein Feigling und müsste euch doch folgen!“ Die Bedeutung des Schicksalsglaubens lässt sich an Grabinschriften besonders eindrücklich ablesen; vgl. I. PERES, Griechische Grabinschriften (s. u. 6.8.2), 34– 41; zu Theorie und Praxis des griechisch-römischen Schicksalsglaubens vgl. Ciceros Schriften ‚De Fato‘ und ‚De Divinatione‘.
Christologie 199
bestimmt das gegenwärtige und zukünftige Leben. Das frühe Christentum bot ein umfassendes und schlüssiges Konzept an, das die Jenseitshoffnungen der Antike aufnahm und zugleich dem Individuum eine überzeugende Lebensperspektive gab.
6.2
Christologie
(Vgl. auch die Literatur zu 4 und 6)
E. KÄSEMANN, Die Heilsbedeutung des Todes Jesu bei Paulus, in: ders., Paulinische Perspektiven, 61–107; K. KERTELGE, Das Verständnis des Todes Jesu bei Paulus, in: ders., Grundthemen (s. o. 6), 62–80; M. WOLTER, Rechtfertigung und zukünftiges Heil, BZNW 43, Berlin 1978; H. WEDER, Das Kreuz Jesu bei Paulus, FRLANT 125, Göttingen 1981; H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie bei Paulus, GTA 18, Göttingen 21984; W. THÜSING, Per Christum in Deum, NTA 1, Münster 3 1986; G. SELLIN, Der Streit um die Auferstehung der Toten, FRLANT 138, Göttingen 1986; M. DE JONGE, Christologie (s. o. 4), 99–110; C. BREYTENBACH, Versöhnung, WMANT 60, Neukirchen 1989; H. HÜBNER, Rechtfertigung und Sühne bei Paulus, in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, Göttingen 1995, 272–285; W. KRAUS, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe, WMANT 66, Neukirchen 1991; M.A. SEIFRID, Justification by Faith, NT.S 68, Leiden 1992; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner (s. u. 6.4); J. D. G. DUNN, Paul (s. o. 6), 163–292; TH. SÖDING (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre?, QD 180, Freiburg 1999; M. GAUKESBRINK, Die Sühnetradition bei Paulus, FzB 82,Würzburg 1999; U. SCHNELLE/TH. SÖDING/M. LABAHN (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000; ST. ALKIER, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus, WUNT 134, Tübingen 2001; TH. KNÖPPLER, Sühne im Neuen Testament, WMANT 88, Neukirchen 2001; S. VOLLENWEIDER, Horizonte neutestamentlicher Christologie (s. o. 4), 143–306; F. VOSS, Das Wort vom Kreuz und die menschliche Vernunft, FRLANT 199, Göttingen 2002; H.CHR. KAMMLER, Kreuz und Weisheit, WUNT 159, Tübingen 2003; L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 79–153; U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 463–543; N.T. WRIGHT, The Resurrection of the Son of God, Minneapolis 2003; C. BREYTENBACH, ‚Christus starb für uns‘. Zur Tradition und paulinischen Rezeption der sogenannten ‚Sterbeformeln‘, NTS 49 (2003), 447–475; H. BOERS, Christ in the Letters of Paul, BZNW 140, Berlin 2006; R. SCHWINDT, Gesichte der Herrlichkeit. Eine exegetisch-traditionsgeschichtliche Studie zur paulinischen und johanneischen Christologie, HBS 50, Freiburg 2007.
Anders als die Evangelien erzählt Paulus keine Jesus-Christus-Geschichte, sondern er wählt verschiedene christologische Leitmotive, greift Wort- und Vorstellungsfelder als Verkündigungsmetaphern auf, um das Christusgeschehen in all seinen Dimensionen zu entfalten. Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass Jesus Christus in seinem Geschick den Heilswillen Gottes für die Menschen abbildet: Er befreit aus der Versklavung der Sünde und des Todes und gewährt bereits in der Gegenwart wahres Leben.
200 Paulus: Missionar und Denker
6.2.1
Transformation und Partizipation
Ein Grundgedanke prägt die paulinische Christologie61: Gott hat den gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth in ein neues Sein überführt. Es ereignete sich ein Statuswechsel, Jesus von Nazareth verblieb nicht im Status des Todes und der Gottesferne, sondern Gott verlieh ihm den Status der Gottgleichheit. Diese umstürzende Erfahrung und Erkenntnis wurde Paulus bei Damaskus zuteil und er bedenkt in seinen Briefen den Übergang Jesu vom Tod zum Leben in vielfältiger Weise. Ausgangspunkt ist für ihn, wie schon für die frühchristliche Tradition, die Überzeugung, dass Gott Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt hat (1Thess 1,10; 2Kor 4,14; Röm 8,11 u. ö.). Gott und Jesus Christus werden entschieden zusammengedacht, der Sohn hat umfassend teil an der Gottheit des Vaters. Deshalb weitet die christologische Reflexion schon vor Paulus den Statuswechsel von der Post- auf die Präexistenz aus. Nur die Selbsterniedrigung im Weg zum Kreuz gewährte die Erhöhung zum Weltherrscher, d. h. sogar der Präexistente durchlief eine Transformation, um zu werden, was er sein sollte (vgl. Phil 2,6–11). Ziel der Transformation Jesu Christi ist die Partizipation der Glaubenden an diesem grundlegenden Geschehen62: „Ihr kennt das Gnadenwerk unseres Herrn Jesus Christus, dass er um euretwillen arm wurde, obwohl er reich war, damit ihr durch seine Armut reich würdet“ (2Kor 8,9). Gott hat den, „der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir zur Gerechtigkeit Gottes würden in ihm“ (2Kor 5,21). Ostern ist immer auch ein Handeln Gottes an den Jüngern und Aposteln, denn Gott hat ihnen kundgetan, dass der Gekreuzigte lebt. Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist somit für Paulus ein einmaliger Akt, dessen Wirkungen jedoch anhalten und die Welt grundlegend verändert haben. Der Gott der Auferstehung ist der, „der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein holt“ (Röm 4,17b). Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dass seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde über die Toten wie über die Lebenden“ (Röm 14,9). Die Kräfte der Auferstehung Jesu Christi wirken in der Gegenwart und rufen ihre eigene Gewissheit hervor: „Wir glauben aber, dass wir, wenn wir mit Christus gestorben sind, auch mit ihm leben werden“ (Röm 6,8; vgl. 2Kor 1,9; 5,15). Christus wurde preisgegeben „wegen unserer Verfehlungen und auferweckt wegen unserer Rechtfertigung“ (Röm 4,25). Der dem Tode nahe Paulus hofft, an den Kräften der Auferstehung Jesu teilzuhaben, um 61 Vgl. U. SCHNELLE, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie (s. u. 6.4), 58 ff. 62 Vgl. A. SCHWEITZER, Mystik (s. o. 6), 116: „Der ursprüngliche und zentrale Gedanke der Mystik Pauli ist also der, daß die Erwählten miteinander und mit
Jesu Christo an einer Leiblichkeit teilhaben, die in besonderer Weise der Wirkung von Sterbens- und Auferstehungskräften ausgesetzt ist und damit der Erlangung der Seinsweise der Auferstehung fähig wird, bevor noch die allgemeine Totenauferstehung statt hat.“
Christologie 201
selber zu der Auferstehung aus den Toten zu gelangen (Phil 3,10f). Mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten hat eine universale Dynamik eingesetzt, die sowohl das individuelle Schicksal der Glaubenden als das Geschick des gesamten Kosmos betrifft (vgl. Phil 3,20f). Der Christus-Weg zielt als Heils-Weg auf die Teilhabe der Glaubenden; als Urbild ermöglicht und eröffnet Jesus Christus durch seinen Übergang vom Tod zum Leben das Leben für die Menschen. Er leitet nach paulinischer Überzeugung eine neue Epoche ein, an deren Ende die universale Transformation steht, wenn „Gott alles in allem“ (1Kor 15,28) sein wird. Der Hymnus Phil 2,6–11 als Modellgeschichte
Die Grundgedanken der paulinischen Christologie sind bereits in komprimierter Form in der vorpaulinischen Modellgeschichte Phil 2,6–11 enthalten (s. o. 4.6). Der Hymnus zeigt, dass schon vor Paulus die christologische Reflexion den Statuswechsel von der Post- auf die Präexistenz ausweitete. Paulus nimmt die Christologie des Traditionsstückes auf und bettet sie in einen paränetischen Argumentationsgang ein, wie Phil 2,1–5 zeigt. Zu diesem Abschnitt bestehen sowohl kompositorische als auch terminologische Verbindungen. So erläutert die mit tapeinou˜n umschriebene Erniedrigung Christi in V. 8 die von der Gemeinde geforderte tapeinofrosu´nv (V. 3: „Demut, Bescheidenheit“). Der Gehorsam des Erniedrigten erscheint als Gegenbild zu Eigennutz und Streit, die in der Gemeinde überwunden werden sollen (V. 3). Schließlich verweist die zusammenfassende Formulierung über die Erniedrigung des Präexistenten (V. 7: eauto`n eke´nwsen) auf die grundlegende Anweisung in V. 4, wonach ein Christ nicht das Seine, sondern das dem anderen Dienende suchen soll. Auch zum nachfolgenden V. 12 besteht eine Verbindung; dort nimmt Paulus den Gedanken des Gehorsams Christi auf und begründet so die von der Gemeinde geforderte ethische Haltung. Die Gemeinde wird aufgefordert, innerhalb der Ethik nachzuvollziehen, was der Kyrios vorbildhaft im Heilsgeschehen der Menschwerdung, des Todes am Kreuz und der Inthronisation vollzog. Christus erscheint somit in Phil 2 zugleich als Urbild und Vorbild. Die Gemeinde kann und soll Christus in dem Bewusstsein nachfolgen, dass sie sich ebenso wie der Apostel noch nicht im Stand der Heilsvollendung befindet, sondern dem Tag der Wiederkunft Christi, des Gerichtes und der Auferstehung entgegengeht (Phil 3,12ff). Die Möglichkeit dazu eröffnet Gott, denn er ist es, der beides in den Glaubenden bewirkt: das Wollen und das Vollbringen (Phil 2,13). So wie Christus nicht auf das Seine sah und sich in den Tod am Kreuz begab, sollen auch die Christen nicht in Selbstsucht und Streit leben, sondern in Demut und Einigkeit. Die Transformation des Sohnes begründet die Partizipation der Glaubenden. Mit dem Zusatz „Tod am Kreuz“ in V. 8c fügt Paulus seine Kreuzestheologie ein63 und 63 Zur Begründung vgl. U. B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11/I, Leipzig 1993,105.
202 Paulus: Missionar und Denker
erdet damit das mythische Geschehen. Jesus Christus verzichtet nicht nur auf seine Gottgleichheit und sein Leben, sondern stirbt in der denkbar äußersten Schande64. Mit diesem Gedanken verbindet sich eine theologisch-politische Zuspitzung: Nun gelten Akklamation und Proskynese einem Gekreuzigten, d. h. Paulus betont in seiner römischen Gefangenschaft65 gegenüber einer kolonial-römisch geprägten Gemeinde66 mit Phil 2,6–11 die politischen Dimensionen des Christusgeschehens. Ein von den Römern Gekreuzigter erhält durch Gottes direktes Eingreifen einen unüberbietbaren Status, und allein ihm gebühren Proskynese und Exhomologese. Drei Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung: 1) Während Könige und Herrscher ihre Macht durch Gewalt und räuberischen Zugriff erlangten, erniedrigt sich Jesus Christus selbst und wird so zum wahren Herrscher. Er verkörpert damit das Gegenbild zum sich selbst erhöhenden Herrscher67. 2) Uneingeschränkte Huldigung und Anbetung gelten allein dem römischen Kaiser. Dio Cassius68 berichtet für das Jahr 66 n.Chr. vom Besuch des Großkönigs Tiridates, der in einem Triumphzug vom Euphrat nach Rom zog, um dort Nero zu huldigen: „Er kniete auf dem Boden nieder, kreuzte seine Arme, nannte Nero seinen Herrn und erzeigte ihm seine Huldigung. . . . Seine Rede lautete . . . Ich bin zu dir als meinem Gott gekommen, um dich wie Mithras anzubeten. Ich werde das sein, wozu du mich bestimmst; bist du doch mein Glück und Schicksal. Nero entgegnete ihm: Du hast wohl daran getan, persönlich hierher zu kommen, damit du von Angesicht zu Angesicht meine Gnade erfahren kannst.“ 3) Auch der Kyrios-Titel in Phil 2,11 und der Retter-Titel in Phil 3,20 enthalten anti-imperiale Konnotationen. In einer griechischen Inschrift aus der Zeit Neros findet sich die Formulierung: „Der Kyrios der ganzen Welt Nero“69, und die römischen Kaiser ließen sich besonders im Osten des Reiches als Retter preisen70. Diesem politisch-religiösen Anspruch setzt der Hymnus eine neue Wirklichkeit entgegen, die jegliche irdische Macht übersteigt und eine bessere Alternative aufzeigt. Ihr Bürgerrecht empfangen die Philipper nicht von römischen Behörden, sondern aus dem Himmel (Phil 3,20f), so dass Paulus konsequenterweise ihren Wandel nur in Phil 1,27 mit dem Verbum politeu´eshai („als Bürger seinen Lebenswandel führen“) bezeichnet. Der in Rom inhaftierte Paulus bietet seiner Gemeinde ein Gegenmodell : Ohnmacht und 64 Vgl. O. HOFIUS, Der Christushymnus Philipper
2,6–11, WUNT 17, Tübingen 1976, 63. 65 Der Philipperbrief wurde m.E. um 60 in Rom abgefasst; zur Begründung vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 152–155. 66 Vgl. hierzu P. PILHOFER, Philippi. Die erste christliche Gemeinde Europas, Bd. I, WUNT 87, Tübingen 1995. 67 Vgl. S. VOLLENWEIDER, Der ‚Raub‘ der Gottgleichheit (s. o. 4.6), 431. Sehr häufig wird in diesem Kontext Plut, De Alexandri Magni fortuna aut virtute, 1,8 330d, angeführt, wo Plutarch Alexander d. G. als
den exemplarischen Welträuber verteidigt: „Denn Alexander zog nicht räuberisch über Asien her, noch sann er darauf, es gleich wie Raubgut und Beute, wider alle Erwartung von der Tyche gewährt, an sich zu zerren und zu reißen . . . .“ 68 Dio Cass, Historiae Romanae, Epitome zu Buch 63. 69 Vgl. NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 249. 70 Vgl. dazu die Belege zu Joh 4,42 in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 239–256; vgl. ferner M. LABAHN, ‚Heiland der Welt‘ (s. u. 12.2.4), 149 ff.
Christologie 203
Herrschaft sind in Wahrheit völlig anders verteilt, als es der erste Blick nahe zu legen scheint. Die paulinische Theologie ist politisch, insofern sie als neue Sinnbildung das Leben der Bürger, ihre Lebensweise71 unmittelbar betrifft. Paulus führt mit Jesus Christus eine neue, unüberbietbare Autorität der Endzeit ein; er definiert Heilsbotschaft, Herrschaft, Rettung, Friede, Gnade und Gerechtigkeit neu und postuliert eine unaufhaltsame Verwandlung der Welt. Damit wirkt er auch politisch, aber er nimmt keine bewusst politische Position im neuzeitlichen Sinn ein72. Einzelne Paulus-Texte oder Begriffe wirkten faktisch antiimperial (z. B. Phil 2,6–11; der Kyrios- und Retter-Titel), was aber keinewegs identisch ist mit einer ‚anti-imperialen‘ Theologie des Paulus73. Es gibt 1) keine direkte anti-römische oder auch nur romkritische Äußerung bei Paulus; im Gegenteil, denn 2) Röm 13,1–7 als einzige direkte Aussage des Paulus zum Imperium Romanum fordert ausdrücklich dessen Anerkennung ein74; zumal 3) die baldige Ankunft des erhöhten Christus schon jetzt das Irdische in einem vergänglichen Licht erscheinen lässt (1Kor 7,29–31).
6.2.2
Kreuz und Auferstehung
Der letzte unmittelbare Zeuge der Transformation des Jesus von Nazareth vom Tod zum Leben ist Paulus. Ihm wurde bei Damaskus eine Ostererscheinung zuteil: „Zuallerletzt, gleichsam als einer Fehlgeburt, erschien er auch mir“ (1Kor 15,8). Gottes Größe offenbarte sich an ihm, dem Kleinen (lat. paulus = klein), dem Geringsten unter den Aposteln (1Kor 15,9: ela´cistoß = Superlativ von mikro´ß = klein). Die Erscheinung des Auferstandenen macht Paulus gewiss, dass Jesus nicht als gekreuzigter Verbrecher im Tod verblieb, sondern bleibend auf die Seite Gottes gehört (vgl. 1Thess 4,14; 2Kor 4,14; Röm 6,9; Phil 2,6–11 u. ö.). Die Auferstehung75 Jesu Christi von den 71 v politeı´a heißt u. a. ‚das Leben als Bürger‘, ‚die
73 Auf methodischer Ebene bemerkt S. VOLLENWEI-
Lebensweise‘; vgl. F. PASSOW, Handwörterbuch der Griechischen Sprache II/1, Leipzig 51852, 990. 72 Anders die im anglo-amerikanischen Bereich relevante ‚anti-imperiale‘ Paulus-Interpretation, wonach die paulinische Theologie insgesamt durch eine romkritische, ‚anti-imperiale‘ Ausrichtung geprägt sei; vgl. dazu die sehr unterschiedlichen Beiträge in: R.A. HORSLEY (Hg.), Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997; DERS. (Hg.), Paul and Politics. Ekklesia, Israel, Imperium, Interpretation. Essays in Honour of K. Stendahl, Harrisburg 2000; vgl. ferner J. D. CROSSAN/ J. L. REED, In Search of Paul: How Jesus’ Apostle Opposed Rome’s Empire with God’s Kingdom, San Francisco 2004; N. T. WRIGHT, Paul (s. o. 6), 59–79.
DER,
Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger/U. Mell, Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, (457–469) 468, treffend an: „Die Interpretation sollte sich mit Vorteil davor hüten, bei jedem potentiell politischen Schlagwort unter der Hand eine virtuelle Antithese zu bilden.“ 74 Relativierungen von Röm 13,1–7 werden vor allem in der nordamerikanischen Exegese vorgenommen; vgl. N. ELLIOTT, Romans 13.1–7 in the Context of Imperial Propaganda, in: R. A. Horsley, (Hg.) Paul and Empire, 184–204 (Röm 13 als taktische Anordnung); R. JEWETT, Romans, Minneapolis 2007, 789f (nicht römische oder griechische Götter, sondern der Vater Jesu Christi gewährt staatliche Autorität). 75 Zur Terminologie: Weil Gott im Neuen Testa-
204 Paulus: Missionar und Denker
Toten ist deshalb die sachliche Voraussetzung für die theologische Relevanz des Kreuzes, d. h. erst von der Auferstehung her erschließt sich die Person des Gekreuzigten. Deshalb wird zunächst das paulinische Verständnis der Auferstehung behandelt, bevor das Kreuz als historischer Ort, theologischer Topos und theologisches Symbol in den Blick kommt. Auferstehung
Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist der zentrale Inhalt der paulinischen Sinnbildung76. Er war nie uneingeschränkt glaubwürdig, bereits Lukas lässt die Epikureer und Stoiker spotten, als Paulus mit der Verkündigung des Auferstandenen in Athen auftritt (vgl. Apg 17,32). Die Menschen der Antike waren keineswegs so ‚naiv‘, einfach an ein Weiterleben nach dem Tod in der Unsterblichkeit der Seele oder eine leibliche Auferstehung von den Toten zu glauben, wie z. B. Texte der antiken Naturwissenschaft zeigen77. Wohl konnten Götter/Halbgötter wie Herakles/Herkules aus dem Totenreich zurückkehren78, aber die Auferstehung eines Gekreuzigten galt als ‚dummes Zeug‘ (1Kor 1,23). Die mangelnde Integration in die menschliche Erfahrungswelt erfordert beim Thema Auferstehung von den Toten eine erkundende Vorgehensweise, die in drei Schritten erfolgen soll: Zunächst wird gefragt, welchen Realitätsgehalt Paulus der Auferstehung Jesu Christi von den Toten zuschreibt, dann folgt eine Darstellung maßgeblicher Erklärungsmodelle, um schließlich ein eigenes Verstehensmodell vorzulegen.
ment durchgehend das Subjekt des Handelns an Jesus von Nazareth ist, wird teilweise von der Auferweckung Jesu Christi gesprochen, um so das passivische Element zu betonen. Andererseits hat sich der Terminus Auferstehung zur Bezeichnung des Gesamtgeschehens durchgesetzt. Er wird auch hier gebraucht, ohne eine aktive Beteiligung Jesu am Auferstehungsgeschehen zu beinhalten. 76 Aus der umfangreichen Literatur vgl. H. V. CAMPENHAUSEN, Der Ablauf der Osterereignisse und das leere Grab, SHAW.Ph 1952, Heidelberg 41977; H. GRASS, Ostergeschehen und Osterberichte, Göttingen 21961, 94ff; F. VIERING (Hg.), Die Bedeutung der Auferstehungsbotschaft für den Glauben an Jesus Christus, Berlin 1967; W. MARXSEN, Die Auferstehung Jesu von Nazareth, Gütersloh 1968; K. M. FI2 SCHER, Das Ostergeschehen, Göttingen 1980; P. HOFFMANN (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, Darmstadt 1988; P. HOFFMANN, Die historisch-kritische Osterdiskussion von H.S. Reimarus bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
in: ders. (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, 15–67; I. U. DALFERTH, Der auferweckte Gekreuzigte, Tübingen 1994; G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, Göttingen 1994, 50ff; I. U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube?, ZThK 95 (1998), 379–409; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 415–446 (Forschungsüberblick zu Ostern und seinen Deutungen). 77 Plin, Nat Hist II 26f, wonach auch für die Gottheit gilt: „sie kann Sterbliche nicht mit Unsterblichkeit beschenken und nicht Tote auferwecken“; VII 188: „Die gleichbleibende menschliche Eitelkeit dehnt sich sogar auf die Zukunft aus und erträumt sich selbst für die Zeit des Todes ein Leben, indem sie bald die Unsterblichkeit der Seele, bald eine Seelenwanderung und bald ein bewusstes Leben den Abgeschiedenen zuspricht, die Manen verehrt und den zum Gott macht, der auch nur ein Mensch zu sein aufgehört hat“. 78 Vgl. Sen, Herc F 612 f.
Christologie 205
I. Die Realität der Auferstehung für Paulus
Paulus lässt an der Bedeutung der Auferstehung als Fundament des Glaubens keinen Zweifel: „Wenn aber Christus nicht auferstanden ist, dann ist auch unsere Verkündigung leer und auch euer Glaube ist leer" (1Kor 15,14) und: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden . . . so sind wir die elendsten unter allen Menschen“ (1Kor 15,17.19b). Es gibt bei Paulus eine Unumkehrbarkeit von Auferstehung, Erscheinung, Kerygma und Glaube. Diese sachliche Reihenfolge entfaltet der Apostel literarisch in 1Kor 15. Obwohl er ein authentischer Zeuge der Auferstehung ist, verankert er auch hier seine Christologie in der Gemeindeüberlieferung (vgl. 1Kor 15,1–3a), um zu verdeutlichen, dass die Auferstehung Jesu Christi von den Toten die Grundlage des Glaubens aller Christen ist. Das Evangelium hat eine bestimmte Gestalt und nur in dieser erweist es sich für die Korinther als rettendes Evangelium, das es festzuhalten gilt: „Dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften und dass er begraben wurde und dass er auferweckt ist am dritten Tage nach den Schriften und dass er Kephas erschien, dann den Zwölfen“ (1Kor 15,3b–5). Weder Paulus noch die Korinther haben je ein eigenes Evangelium, sondern beide sind an das eine vorgegebene Evangelium gewiesen (s. o. 6.1.4). Inhalt des Evangeliums ist die Paradosis von Tod und Auferweckung Christi. Jesus Christus starb für unsere Sünden nach dem Willen Gottes, die Aussage von Begrabensein bestätigt die Wirklichkeit seines Todes. Dem ganzen Tod Jesu entspricht die ganze Auferweckung, die den Tod als letzten Feind Gottes, aber auch den Tod als Ende eines jeden Lebens überwand. Sowohl die Vorstellung des Begrabenseins als auch die sichtbaren Erscheinungen des Auferstandenen deuten darauf hin, dass Paulus und die Tradition Tod und Auferweckung Jesu als ein leibliches Geschehen79 in Raum und Zeit verstehen. Auch die Ausweitung der Zeugenliste (1Kor 15,6–9) durch Paulus dient dem Nachweis der leiblichen und damit nachprüfbaren Auferstehung Jesu Christi von den Toten80, viele von den 500 Brüdern leben noch und können befragt werden. R. Bultmann erfasst diese Textintention zutreffend, wenn er betont: „Ich kann den Text nur verstehen als den Versuch, die Auferstehung Christi als ein objektives historisches Faktum glaubhaft zu machen.“81 Bultmann fährt dann aber fort: „Und ich sehe nur, daß Paulus durch seine Apologetik in Widerspruch mit sich selbst gerät; denn mit einem objektiven historischen Faktum kann allerdings das nicht ausgesagt werden, was Paulus V. 20–22 von Tod und Auferstehung Jesu sagt.“82 Was von Paulus als geschichtliches Ereignis begriffen wurde, will Bultmann in den Bereich des Mythologischen schieben, um so die Glaubwürdigkeit des Evan-
79 Paulus steht hier in der Tradition jüdischer Anthropologie und Eschatologie; vgl. M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung (s.o. 4.2), 139–172.
80 Vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 369. 81 R. BULTMANN, Karl Barth, „Die Auferstehung der Toten“, in: ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 81980, (38–64) 54. 82 A. a. O., 54 f.
206 Paulus: Missionar und Denker
geliums in der Moderne zu wahren. Der einzige Auferstehungszeuge, von dem wir schriftliche Nachrichten besitzen, verstand die Auferstehung Jesu Christi von den Toten jedoch offenkundig als ein Ereignis innerhalb der Geschichte, das sein eigenes Leben völlig veränderte. Mit der Zitierung der Überlieferung V. 3b–5 und der Auffüllung der Zeugenliste verteidigt Paulus auch seine Autorität als Apostel83. Er führt die anerkannte Tradition bis zu seiner Person fort und verdeutlicht damit den Korinthern, dass er den Auferstandenen in gleicher Weise sah wie die anderen Zeugen bis hin zu Kephas. Paulus verknüpft auf diese Weise drei Problemkomplexe: a) die leibliche Auferstehung Jesu; b) sein Zeugnis für dieses Geschehen; und c) ein sich daraus ergebendes Verständnis der leiblichen Auferstehung der Toten. Für Paulus ist dieses Verständnis von Auferstehung keine Interpretationsfrage, sondern Bestandteil des Evangeliums. Nur wenn Jesus Christus leibhaftig und damit wirklich von den Toten auferstanden ist, können Christen auf Gottes endzeitliches Retterhandeln hoffen. Die korinthische und die paulinische Konzeption
Teile der korinthischen Gemeinde leugneten eine zukünftige Totenauferstehung, weil sie eine andere Anthropologie als Paulus vertraten84. Wahrscheinlich dachten sie dichotomisch, d. h. sie unterschieden zwischen der unsichtbaren Ich-Seele und dem sichtbaren Leib85. Im Gegensatz zu späteren gnostischen Anschauungen stellte für die Korinther der Leib nicht schon an sich eine negative Größe dar, vielmehr war er nach ihrer Überzeugung als irdisch-vergängliche Größe von der endzeitlichen Erlösung ausgeschlossen86. Eine Jenseitserwartung bestand nur für den höheren Teil des Menschen, seine geistbegabte Ich-Seele87. Als nicht heilsrelevante irdische Behausung konnten die Korinther den Leib für nebensächlich erklären, sowohl sexuelle Zügellosigkeit als auch Askese waren Ausdruck dieses Denkens (vgl. 1Kor 6,12–20; 7). Weil der Leib als vergänglich und sterblich, die Seele hingegen als unvergänglich begriffen wurde, lehnten die Korinther eine endzeitliche leibliche Auferstehung ab. Offensichtlich vollzog sich die Erlangung des Lebens für die Korinther nicht als Überwindung des Todes bei der Parusie des Herrn, sondern bei der Pneuma-Verleihung
83 Diesen Aspekt betont nachdrücklich P. V.D. OSTEN-SACKEN,
Die Apologie des paulinischen Apostolats in 1. Kor 15,1–11, in: ders., Evangelium und Tora. Aufsätze zu Paulus, TB 77, München 1987, 131–149. 84 Zu den in der Exegese erwogenen Gründen der Auferstehungsleugnung vgl. den Forschungsüberblick von G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. o. 6.2), 17–37. 85 Vgl. G. SELLIN, a. a. O., 30: „Die Korinther lehnten die Auferstehung der Toten überhaupt ab, weil sie den damit verbundenen Gedanken der Leiblichkeit des ewigen Heils nicht akzeptieren konnten.“
86 Vgl. Plut, Mor 1096: „Der Mensch besteht aus zweierlei, aus Leib und Seele, und die Seele hat von beiden den Vorrang“; bei Plut, Is et Os 78, wird als Ziel der geretteten Seelen genannt: „Wenn sie aber erst einmal erlöst in das unkörperhafte, unsichtbare, affektlose und heilig-reine Reich übergegangen sind, dann ist dieser Gott ihnen Führer und König, an dem sie die für Menschen unaussprechliche Schönheit ohne Sättigung schauen und begehren.“ 87 Vgl. H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie (s. o. 6.2), 192 f.
Christologie 207
der Taufe88; hier ereignete sich die grundlegende Verwandlung des Selbst. Die unverlierbare Pneumagabe war für sie bereits absolute Versicherung des Heils, weil sie nicht nur den Übergang in das neue Sein gewährte, sondern dieses neue Sein selbst schon war. Der Apostel teilte die Realistik einer solchen Geistvorstellung (vgl. 1Kor 5,5; 3,15f); im Gegensatz zur korinthischen Theologie kann sich aber nach Paulus der Mensch als Ich nicht von seinem Leib distanzieren. Leiblichkeit konstituiert Menschsein, der Leib ist vom gegenwärtigen und zukünftigen Heilshandeln Gottes nicht ausgenommen. Dies gilt bereits für Gottes Heilshandeln an Jesus von Nazareth, denn sowohl der Gekreuzigte als auch der Auferstandene haben einen Leib (vgl. 1Kor 10,16; 11,27; Phil 3,21). Die Taufe schenkt Verbindung mit dem gesamten Schicksal Jesu, sowohl mit dem leiblich Gekreuzigten als auch mit dem leiblich Auferstandenen. Deshalb greift Paulus bewusst erst in 1Kor 15,29 den fremdartig anmutenden Brauch der Vikariatstaufe auf89, weil sie gegen die Intention der Korinther zeigt, dass ein rein geistiges Verständnis der Auferstehung dem Wesen der Taufe nicht gerecht wird. Für Paulus gibt es keine Existenz ohne Leiblichkeit, so dass ein Nachdenken über die postmortale Existenz auch die Frage nach der Leiblichkeit dieser Existenz sein muss. Die Frage nach dem ‚Wie‘ der Auferstehung kann somit nur die Frage nach der Art des Auferstehungsleibes sein (vgl. 1Kor 15,35b). Paulus eröffnet die Diskussion in 1Kor 15,35ff90, nachdem er zuvor durch die Bezeichnung Christi als „Erstling der Entschlafenen“ (aparcv` tw˜n kekoimvme´nwn) in 1Kor 15,20 und die Schilderung der Endereignisse in 1Kor 15,23–28 eine unumkehrbare Zeitlinie aufgebaut hat, an deren Anfang einzig und allein die Auferweckung Jesu Christi von den Toten steht. In 1Kor 15,42–44 wertet Paulus das bisher Gesagte aus, indem er die Auferstehung des Gesäten interpretiert: So wie Vergängliches gesät wird und Unvergängliches aufersteht, so wird das sw˜ma yuciko´n („irdischer Leib“) gesät und das sw˜ma pneumatiko´n („geistlicher Leib“) auferstehen. Mit dieser Antithese91 ist die Frage nach dem ‚Wie‘ der Auferstehung beantwortet, indem einerseits als Grundbedingung der Auferstehung die Leiblichkeit erscheint, andererseits die aber als eine pneumatische bestimmt wird und somit scharf von der gegenwärtigen vergänglichen Welt zu trennen ist. In 88 Traditionen des hellenistischen Judentums erhellen diese Vorstellung; vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 214. 89 Zur älteren Auslegung vgl. M. RISSI, Die Taufe für die Toten, AThANT 42, Zürich 1962; aus der neueren Literatur vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 150–152; G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. o. 6.2), 277–284; CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4., 6), 392–397; F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 165–167; D. ZELLER, Gibt es religionsgeschichtliche Parallelen zur Taufe für die Toten (1Kor 15,29)?, ZNW 98 (2007), 68–76.
90 Zur Interpretation vgl. H. H. SCHADE, Apokalypti-
sche Christologie (s. o. 6.2), 204ff; CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 402ff; J. R. ASHER, Polarity and Change in 1 Corinthians 15, HUTh 42, Tübingen 2000, 91–145. 91 Die Antithese pneumatiko´ß – yuciko´ß findet sich erstmals bei Paulus; religionsgeschichtlich leitet sie sich wahrscheinlich aus der jüdischen Weisheitstheologie ab (vgl. Philo, Op 134–147; All I 31–42.88– 95; II 4–5); vgl. dazu R. A. HORSLEY, Pneumatikos vs Psychikos, HThR 69 (1976), 269–288; G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. o. 6.2), 90–175; F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 194–198.
208 Paulus: Missionar und Denker
V. 45–49 begründet Paulus seine These des Auferstehungsleibes als eines sw˜ma pneumatiko´n. Christus bewirkt als pneu˜ma zwopoiou˜n („lebendig machender Geist“) den pneumatischen Auferstehungsleib (V. 45), und er ist als Prototyp des neuen Seins zugleich dessen Urbild. Wie die irdische Beschaffenheit des prw˜toß anhrwpoß („ersten Menschen“) Adam das vergängliche Sein des Menschen verursacht und bestimmt, so wird die himmlische Beschaffenheit des deu´teroß anhrwpoß („zweiten Menschen“) das zukünftige unvergängliche Sein bewirken und bestimmen. Die Korinther schieden auf ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund die Leiblichkeit aus dem Bereich der Unsterblichkeit aus und sahen im Pneuma den eigentlichen Ort göttlichen Handelns. Paulus hingegen bezieht den Leib umfassend in Gottes Heilshandeln mit ein und kehrt die korinthische Reihenfolge um (1Kor 15,46): „Aber nicht das Pneumatische kommt zuerst, sondern das Psychische, danach erst das Pneumatische.“ Die wunderbare Schöpferkraft Gottes erweckte Jesus Christus von den Toten, und Gott wird auch das Subjekt der Auferweckung der verstorbenen und der Verwandlung der noch lebenden Korinther sein. Paulus versteht die leibliche Auferstehung Jesu Christi von den Toten als ein Handeln Gottes am Gekreuzigten, das die Endzeit einleitet und so zum Fundament einer neuen Welt- und Geschichtssicht wird. Die Auferstehung wird zum Gottesprädikat, es geht um den Gott, „der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein holt“ (Röm 4,17b; vgl. Röm 8,11). Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dass seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde über die Toten wie über die Lebenden“ (Röm 14,9). Die Kräfte der Auferstehung Jesu Christi wirken in der Gegenwart weiter und rufen ihre eigene Gewissheit hervor: „Wir glauben aber, dass wir, wenn wir mit Christus gestorben sind, auch mit ihm leben werden“ (Röm 6,8; vgl. 2Kor 1,9; 5,15). Darüber hinaus veränderte die Auferstehung Jesu Christi auch sichtbar sein eigenes Leben, so dass ihr Realitätsgehalt für Paulus nicht nur in einem neuen Urteil über das Handeln Gottes an Jesus von Nazareth besteht, sondern eine neue und erfahrbare Wirklichkeit zum Ausdruck bringt92. II. Auferstehung verstehen
Die Erfahrungen des Paulus bei Damaskus sind nicht die unseren, sein Welbild ist nicht jedermanns Sache93. Wie kann von der Auferstehung Jesu Christi von den To92 In der bis heute nachwirkenden Diskussion der 60er Jahre wird dieser Aspekt bewusst minimiert oder unterschlagen; vgl. z. B. W. MARXSEN, Die Auferstehung Jesu von Nazareth, Gütersloh 1968, 113, der die Beweisintention von 1Kor 15 verneint und feststellt: „Darum kann man sich auch nicht auf Paulus berufen, wenn man am Geschehen-Sein der
Auferstehung Jesu (wie man es gelegentlich ausdrückt) ‚festhalten‘ will.“ 93 Vgl. G. E. LESSING, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, Stuttgart 1976 (= 1777), 32: „Ein andres sind erfüllte Weissagungen, die ich selbst erlebe, ein andres erfüllte Weissagungen, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen erlebt haben.“
Christologie 209
ten unter den Bedingungen der Neuzeit gesprochen werden? Wie ist es möglich, die Wahrheit des Evangeliums von der Auferstehung Jesu Christi von den Toten in einer Zeit zu behaupten, wo der Wahrheitsanspruch exklusiv an die Rationalität (natur-) wissenschaftlicher Methodik gebunden ist? Welche Plausibilität besitzen die Argumente der Bestreiter und Befürworter der Wirklichkeit der Auferstehung? Drei Interpretationsmodelle sind in der Diskussion von Bedeutung: a) Projektionen der Jünger als Auslöser des Auferstehungsglaubens (subjektive Visionshypothese) : David Friedrich Strauss (1808–1874) führte Argumente gegen den Osterglauben an, die bis in die Gegenwart die Diskussion bestimmen94. Er unterscheidet strikt zwischen den Erscheinungstraditionen und der Überlieferung vom leeren Grab. Der historische Ursprung des Osterglaubens liegt seiner Meinung nach in Visionen der Jünger in Galiläa, weit weg vom Grab Jesu, das erst in einer sekundären Legende zum leeren Grab wurde. Die Erscheinungsberichte verweisen auf Visionen der Jünger, die durch frommen Enthusiasmus und die Belastungssituation hervorgerufen wurden. Strauss ist damit ein Vertreter der subjektiven Visionstheorie, wonach Visionen der Jünger aus der spezifischen historischen Situation heraus rational erklärbar sind95. Die Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil in den Mythos verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und der Wahrheitsanspruch des Auferstehungsglaubens auseinanderklaffen. Strauss hoffte, die dadurch entstandene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christlichen Glaubens aus der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug96. Eine trügerische Hoffnung, denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes Defizit gegenüber: Wenn die Jünger die Auslöser und das Subjekt des Auferstehungsglaubens sind, kann dieses Geschehen als psychologisch deutbares Ereignis in unsere Wirklichkeit integriert werden. Zugleich verliert es aber seinen Wahrheitsanspruch, denn Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklichkeit behauptet werden. Gegen eine Ableitung des Auferstehungsglaubens aus innerpsychischen Vorgängen sind auf verschiedenen Ebenen Einwände zu erheben: 1) Die historische Argument: Sowohl für D. F. Strauss als auch für G. Lüdemann sind die Überlieferungen vom leeren Grab späte apologetische Legenden. Lüdemann vermutet, dass auch die früheste Gemeinde den Ort des Grabes Jesu nicht kannte97. Ein historisch überaus
94 Vgl. G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, 208 u. ö., der in allen wesentlichen Argumenten D. F. Strauss folgt. Zur Kritik der geschichtstheoretischen und theologischen Defizite der Konstruktionen Lüdemanns vgl. I. U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube?, 381 ff. 95 Vgl. D. F. STRAUSS, Der alte und der neue Glaube, Stuttgart 1938 (= 1872), 49 f. 96 Vgl. D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bear-
beitet, 2. Band, Tübingen 1836, 735: „Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, dass als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesetzt wird.“ 97 Vgl. G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, 67; in der Neuauflage heißt es auf S. 134: „Das Grab Jesu war offenbar unbekannt.“
210 Paulus: Missionar und Denker
fragwürdiges Argument, denn Jesu Kreuzigung erregte in Jerusalem unzweifelhaft sehr viel Aufsehen. Deshalb dürfte es weder den Gegnern Jesu noch seinen Anhängern und Sympathisanten entgangen sein98, wo der Leichnam Jesu von Josef von Arimathäa (Mk 15,42–47) beigesetzt wurde (s. o. 4.2). Wenn kurz nach diesem Geschehen die Jünger in Jerusalem mit der Botschaft auftraten, Jesus sei von den Toten auferstanden, dann muss die Frage nach dem Grab von Anfang an eine zentrale Bedeutung gehabt haben. Ein volles Grab hätte die Verkündigung der Jünger leicht widerlegen können! 2) Das religionsgeschichtliche Argument: Es gibt keine zeitgenössischen religionsgeschichtlichen Parallelen für die Verknüpfung des Auferstehungsgedankens mit der Vorstellung, ein Verstorbener erscheine den mit ihm verbundenen Menschen99. Wenn die Erscheinungen ausschließlich als innerpsychische Phänomene aufgefasst werden, dann hätten andere Vorstellungsmuster näher gelegen, um Jesu besondere Stellung auszudrücken. Die eschatologischen Aussagen der frühen Christen sind in ihrer Kombination religionsgeschichtlich singulär. 3) Das methodologische Argument: Sowohl Strauss als auch Lüdemann präsentieren keineswegs eine ‚objektive‘ und historisch einsichtige Darstellung des Auferstehungsgeschehens, sondern notwendigerweise ihre eigene Geschichte mit Jesus von Nazareth. Bestimmend für ihre Argumentation ist die erkenntnistheoretisch unzutreffende Annahme, dass ihre Analyse der literarischen Verarbeitung eines Geschehens vollständig über dessen Realitätsgehalt entscheidet. Eine solche Analyse kann aber keine gesicherten Ergebnisse erbringen, denn sie bezieht sich ihrerseits nicht auf das Geschehen selbst, sondern immer schon auf Interpretamente, deren Bedeutsamkeit wiederum vom Wirklichkeits- und Geschichtsverständnis der Exegeten abhängt, die unabwendbar und eigentlich die Ergebnisse bestimmen. Die Entscheidung über den Wirklichkeitsund Wahrheitsgehalt des Auferstehungsgeschehens erfolgt immer innerhalb der weltanschaulichen Prämissen und der Lebensgeschichte der Interpreten, die das normierende Weltbild und die leitenden Interessen der Interpretation aus sich heraussetzen. Bei der subjektiven Visionshypothese bilden vor allem psychologische Vermutungen und daraus abgeleitete historistische Postulate die Basis der Argumentation, ohne dass ihre Vertreter die hermeneutischen Defizite dieses Ansatzes bedacht hätten100. b) Auferstehung ins Kerygma hinein. Im Anschluss an die (negativen) Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh. verzichtet R. Bultmann bewusst auf eine histori98 Die redaktionelle Notiz über die Jüngerflucht Mk 14,50 (vgl. das pa´nteß-Motiv in Mk 14,27.31.50) beinhaltet m.E. keineswegs, dass alle Sympathisanten Jesu Jerusalem verlassen haben. 99 Vgl. M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 35 f. 100 Zur Kritik an Strauss und der subjektiven Visionshypothese vgl. H. GRASS, Ostergeschehen und
Osterberichte, 233ff; zur Kritik an Lüdemann vgl. R. SLENCZKA, „Nonsense“ (Lk 24,11), KuD 40 (1994), 170–181; U. WILCKENS, Die Auferstehung Jesu: Historisches Zeugnis – Theologie – Glaubenserfahrung, PTh 85 (1996), 102–120; W. PANNENBERG, Die Auferstehung Jesu – Historie und Theologie, ZThK 91 (1994), 318–328.
Christologie 211
sche Erhellung des Osterglaubens: „Die Gemeinde mußte das Ärgernis des Kreuzes überwinden und hat es getan im Osterglauben. Wie sich diese Entscheidungstat im einzelnen vollzog, wie der Osterglaube bei den einzelnen Jüngern entstand, ist in der Überlieferung durch die Legende verdunkelt und sachlich von keiner Bedeutung.“101 Bultmann versteht Ostern als ein eschatologisches, d. h. alles Bisherige umstürzendes Ereignis; als eine von Gott neu herbeigeführte Welt und Zeit. Als eschatologisches Ereignis werde Ostern gerade missverstanden, wenn man es mit weltlichen Kriterien erklären will, denn die Auferstehung ist kein beglaubigendes Mirakel. Diese hermeneutische Grundentscheidung erblickt R. Bultmann bereits im Neuen Testament selbst, denn dort werde der Gekreuzigte nicht so verkündigt, „daß sich der Sinn des Kreuzes aus seinem historischen – durch historische Forschung zu reproduzierenden – Leben erschlösse; sondern er wird verkündigt als der Gekreuzigte, der zugleich der Auferstandene ist. Kreuz und Auferstehung gehören zu einer Einheit zusammen.“102 Wie aber verhalten sich Kreuz und Auferstehung genau zueinander? Die Auferstehung ist nichts anderes „als der Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes“103. Das einmal von Gott mit Jesus in Gang gesetzte eschatologische Geschehen vollzieht sich weiter im Wort und im Glauben. Deshalb gilt: Jesus ist „ins Kerygma auferstanden“104, sofern das Wort die Fortsetzung des eschatologischen Handelns Gottes an den Christen ist. Zu einem eschatologischen Ereignis gibt es nur dann einen Zugang, wenn man selbst in die Neue Welt einzieht, d. h. zur eschatologischen Existenz wird und im Glauben erkennt, „daß das Kreuz wirklich die ihm zugeschriebene kosmischeschatologische Bedeutung hat.“105 Zwei Anfragen sind an dieses ausdrücklich dem neuzeitlichen Denken verpflichtete Konzept zu richten: 1) Welcher Realitätsgehalt kommt in der Zuordnung von Kreuz und Auferstehung der Auferstehung zu? Wenn die Auferstehung ‚Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes‘ ist, dann handelt es sich dabei nicht um ein Realitätsurteil, sondern ein Reflexionsurteil eines Subjektes106, das seinen Verstehensstandort markiert. Es bleibt unklar, wie sich Bultmann Jesu Auferstehung ins Kerygma genau vorstellt. Die Wirklichkeit der Auferstehung und das Bekenntnis zu ihr werden bewusst nicht mehr unterschieden und so faktisch in eins gesetzt. Es handelt sich um eine elegante, zugleich aber bewusst unbestimmte und verschleiernde Formulierung107. Gerade dort, wo das grundlegende Verhältnis von Geschichte und
101 R. BULTMANN, Theologie, 47. 102 R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie,
BEvTh 96, München 1985 (= 1941), 57. 103 A. a. O., 58. 104 R. BULTMANN, Das Verhältnis der urhristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders. Exegetica, Tübingen 1967, 469. 105 R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, 58.
106 Vgl. dazu die scharfsinnigen Überlegungen von H.-G. GEYER, Die Auferstehung Jesu Christi. Ein Überblick über die Diskussion in der evangelischen Theologie, in: F. Viering (Hg.), Die Bedeutung der Auferstehung Jesu für den Glauben an Jesus Christus, Berlin 1967, 93 f. 107 Zur Kritik vgl. K. BARTH, Die Kirchliche Dogmatik III/2, Zürich 1948, 535 f.
212 Paulus: Missionar und Denker
Wahrheit zu klären wäre, „bleibt der Sinn jener Limesaussagen in unerschlossener Zweideutigkeit stecken.“108 2) Der Verzicht auf eine Analyse der geschichtlichen Dimensionen des Auferstehungsgeschehens ist nicht möglich, weil sowohl die ältesten Traditionen als auch Paulus das Auferstehungsgeschehen als ein an Orte und Zeiten gebundenes Ereignis verstehen. Zudem: Wenn die Auferstehungskräfte im Glauben weiterhin wirken, müssen sie auch einen geschichtlichen Ausgangspunkt haben. Wer sich den Fragen nach den geschichtlichen Dimensionen der Auferstehung Jesu Christi von den Toten nicht stellt, bleibt hinter dem Neuen Testament zurück109. c) Auferstehung als reales Geschehen. Als objektiven Ausdruck der Bekundungen des Auferstandenen versteht W. Pannenberg die Ostererscheinungen110. Er wendet sich gegen das reduktionistische Weltbild der Neuzeit, das dogmatisch Gott aus der Wirklichkeit ausschließt. „‚Historizität‘ muß nicht bedeuten, daß das als historisch tatsächlich Behauptete analog oder gleichartig mit sonst bekanntem Geschehen sei. Der Anspruch auf Historizität, der von der Behauptung der Tatsächlichkeit eines geschehenen Ereignisses untrennbar ist, beinhaltet nicht mehr als dessen Tatsächlichkeit (die Tatsächlichkeit eines zu bestimmter Zeit geschehenen Ereignisses). Die Frage seiner Gleichartigkeit mit anderem Geschehen mag für das kritische Urteil über das Recht solcher Behauptungen eine Rolle spielen, ist aber nicht Bedingung des mit der Behauptung verbundenen Wahrheitsanspruchs selber.“111 Wird die Möglichkeit göttlichen Handelns in Zeit und Geschichte offengehalten, dann ergeben sich auch gewichtige historische Argumente für die Glaubwürdigkeit der Ostererzählungen. Für Pannenberg ist die Grabestradition historisch gesehen ebenso urprünglich wie die Erscheinungstraditionen, aber sachlich von ihnen abhängig. Erst im Licht der Erscheinungen wird das leere Grab zum Zeugen der Auferstehung, ohne die Erscheinungen bleibt es mehrdeutig. Es gibt somit zwei sich gegenseitig bestätigende Zeugnisse für das Ostergeschehen, sie verbürgen die Objektivität des Ereignisses. „Und in der Tat hat zwar nicht die Nachricht von der Entdeckung des leeren Grabes für sich allein, wohl aber die Konvergenz einer unabhängig davon entstandenen, auf Galiläa zurückgehenden Erscheinungstradition mit der Jerusalemer Grabestradition erhebliches Gewicht für die historische Urteilsbildung. Für das historische Urteil hat – ganz allgemein gesprochen – die Konvergenz verschiedener Befunde große Bedeutung.“112 Pannenberg weicht der historischen Rückfrage und Begründung nicht aus und begibt sich damit notwendigerweise in den Bereich von lebensgeschichtlich und weltanschaulich geprägten Ermessensfragen. Die von ihm vorausgesetzte Beweis-
108 H.-G. GEYER, Die Auferstehung Jesu Christi, 96.
110 Vgl. W. PANNENBERG, Gründzüge der Christologie,
109 Die lebhafte Kontroverse um Kreuz und Aufer-
Gütersloh 51976, 93 ff.
stehung nach 1945 dokumentiert B. KLAPPERT (Hg.), Diskussion um Kreuz und Auferstehung, Wuppertal 9 1985.
111 W. PANNENBERG, Systematische Theologie II, Göt-
tingen 1991, 403. 112 W. PANNENBERG, Die Auferstehung Jesu, 327 f.
Christologie 213
kraft zweier Zeugnisse113 vermag allerdings die Last des Nachweises nicht zu tragen, denn Pannenberg verbleibt damit innerhalb der Denkschemata des neuzeitlichen Geschichtspositivismus114. III. Auferstehung als Transzendenzgeschehen
Die neuzeitliche Historisierung des Denkens und die damit verbundene Subsumierung des Wahrheitsbegriffes unter die rationale Methodik der herrschenden Wissenschaften veränderte fundamental die Wahrnehmung biblischer Texte und ihres Anspruchs. „Durch Historisierung rückt die Bibel in die abständig-vergangenen zeitlichen Kontexte ihrer Entstehung ein, und damit öffnet sich zwischen der Vergangenheit dieser Entstehung und der Gegenwart der Bedeutung des Entstandenen eine zeitliche Lücke, die – und das ist das Entscheidende – nicht mit den gleichen methodischen Mitteln der Kritik geschlossen werden kann.“115 Die forschungsgeschichtlichen Schlaglichter haben maßgebliche Strategien aufgezeigt, dieses Dilemma zu umgehen oder eine Brücke über den aufgerissenen Graben zu errichten. Als methodische Einsichten ergeben sich daraus: 1) Die Probleme können nicht dadurch gelöst werden, dass die Rückfrage nach der Auferstehung Jesu Christi von den Toten für historisch unmöglich oder theologisch illegitim erklärt wird116. In beiden Fällen weicht man der Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des Auferstehungsgeschehens aus; Glaube und Wirklichkeit werden auseinandergerissen. Die Auferstehung verbleibt auf dem Ruinenfeld vergangener Geschichte117, der Glaube verkommt zur bloßen Behauptung und löst sich selbst auf, wenn er die Verbindung zum Ursprungsgeschehen kappt. 2) Der notwendigen historischen Rückfrage müssen hermeneutische und geschichtstheoretische Überlegungen vorangehen, denn sie bestimmen die jeweilige Wirklichkeitskonstruktion und den damit verbundenen Wahrheitsbegriff. Unter diesen methodischen Voraussetzungen soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, Auferstehung als Transzendenzgeschehen verständlich zu machen.
113 Nicht nur die Zuordnung von Erscheinungen und leerem Grab, sondern auch der proleptische Zug im Vollmachtsanspruch des vorösterlichen Jesus und seine Auferweckung durch Gott bestätigen sich bei Pannenberg gegenseitig; vgl. DERS., Grundzüge der Christologie, 47 ff. 114 Vgl. zur Kritik an Pannenberg bes. E. REINMUTH, Historik und Exegese – zum Streit um die Auferstehung Jesu nach der Moderne, in: St. Alkier u. R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodenstreit, TANZ 23, Tübingen 1998, (1–20) 1–8. 115 J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, in: W. Küttler u. a. (Hg.), Geschichtsdiskurs 2, Frankfurt 1994, (344–377) 358.
116 So z. B. H. CONZELMANN, Theologie, 228, in der
Diktion der 50er und 60er Jahre: „Die Frage nach der Historizität der Auferstehung muß als irreführend aus der Theologie ausgeschieden werden. Wir haben andere Sorgen: Es muß so gepredigt werden, ‚dass das Kreuz nicht entleert werde‘ (1Kor 1,17).“ 117 So z. B. bei I. U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube? 385: „Das Kreuz, nicht die Auferstehung verankert den Glauben in der Geschichte. Nur nach dem Kreuz, nicht aber nach der Auferweckung kann daher historisch gefragt werden.“
214 Paulus: Missionar und Denker
Hermeneutische und geschichtstheoretische Überlegungen : Der Frage nach der Reichweite und der Leistungsfähigkeit historischen Erkennens (s. o. 1.1) muss beim Thema Auferstehung in besonderer Weise bedacht werden, denn es übersteigt unsere Wirklichkeitserfahrung. Historisches Erkennen vollzieht sich immer in einem Zeitabstand zum Geschehen, der Abständigkeit bedeutet und historisches Erkennen im Sinn einer umfassenden Feststellung dessen, was geschehen ist, verwehrt. Auch die Interpretationsbedürftigkeit historischen Geschehens hat unausweichlich die Relativität historischen Erkennens zur Folge. Erst in der Interpretation des erkennenden Subjekts wird Geschichte gebildet, Geschichte ist immer ein Interpretationsmodell. Dabei entscheidet die weltanschauliche Einstellung, d. h. das vom Historiker für sich selbst akzeptierte und maßgebliche Wirklichkeitsverständnis, seine religiöse oder a-religiöse Disposition notwendigerweise darüber, was als historisch gelten kann oder nicht118. Die herrschenden Weltbilder sind selbst einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen; kein Weltbild kann für sich eine Sonderstellung in der Geschichte beanspruchen, denn es unterliegt unausweichlich Veränderungen und Relativierungen. Deshalb ist der Hinweis auf die Differenzen zwischen dem gegenwärtigen und dem ntl. Weltbild kein hinreichendes Argument, um dessen defizitären Charakter zu erweisen, weil jede Generation sich innerhalb ihres Weltbildes artikulieren muss, ohne dass nachfolgende Generationen daraus einen absoluten Erkenntnisvorsprung ableiten können. Geschichte liegt nie offen zutage, sondern sie wird immer erst durch die Rückschau des erkennenden Subjekts konstruiert. Dieser Konstruktionsvorgang orientiert sich in der Neuzeit an Methoden als Kennzeichen wissenschaftlicher Rationalität, es gilt: „Ohne Methode keinen Sinn“119. Die Methodik entzaubert das Sinnpotential historischer Erinnerung und ebnet alles zu einer gleichförmigen Masse ein. Diese Entzauberung ist bei der Auferstehung mit dem Stichwort der Analogie verbunden. Historische Vorgänge lassen sich immer dann hinreichend beurteilen, wenn es zu ihnen Analogien gibt, wenn man sie in einen Kausalzusammenhang einordnen kann120. Dies ist bei der Auferstehung Jesu Christi von den Toten nicht der Fall, es handelt sich – historisch betrachtet – um ein singuläres Phänomen. Dann stellt sich sofort die Frage, ob ein solches einzigartiges Geschehen historisch glaubwürdig ist. 118 Treffend W. PANNENBERG, Systematische Theologie
120 Überaus einflussreich bis in die Gegenwart hin-
II, 405: „Zu welchem Urteil jemand im Hinblick auf die Historizität der Auferstehung Jesu kommt, hängt über die Prüfung der Einzelbefunde hinaus . . . davon ab, von welchem Wirklichkeitsverständnis der Urteilende sich leiten läßt und was er dementsprechend für grundsätzlich möglich oder aber schon vor aller Erwägung der Einzelbefunde für ausgeschlossen hält.“ 119 J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, 345.
ein ist hier E. TROELTSCH, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders., Zur religiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik, Ges. Schriften II, Tübingen 21922, 729–753, der historische Kritik, Analogie und Korrelation zu den Grundbegriffen des Historischen und damit Wirklichen erklärte.
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Kann etwas als historisch gelten, wenn es in der bisherigen Geschichte einzigartig ist? Die Beantwortung dieser Frage hängt von der jeweiligen Geschichtstheorie ab121, die ein Exeget vertritt. Anhänger nomologischer Konzeptionen werden alles für unhistorisch erklären, was außerhalb der von ihnen selbst festgelegten Gesetzmäßigkeiten liegt. Sieht man hingegen in Zeiterfahrungen das konstitutive Element von Geschichte, verändert sich der Wahrnehmungshorizont. „Das historische Denken rekurriert um dieser seiner Orientierungsfunktion willen auf Zeiterfahrungen, von denen im Schema des nomologischen Erklärens abgesehen wird: Erfahrungen von Veränderungen, die nicht der inneren Gesetzmäßigkeit des Sich-Verändernden entsprechen. Es handelt sich um Zeiterfahrungen, die gegenüber den nomologisch erkennbaren den Status der Kontingenz haben.“122 Für unsere Fragestellung bedeutet dies: Historisch lassen sich die Erscheinungen und das ihnen vorausliegende Auferstehungsgeschehen nicht erweisen, zugleich aber auch nicht ausschließen, wenn man die Erfahrungskategorie der Kontingenz in die Geschichtskonstruktion aufnimmt. Auferstehung als Transzendenzgeschehen : Wenn der Möglichkeit einer Auferstehung Jesu Christi von den Toten und anschließender Erscheinungen des Auferstandenen geschichtstheoretisch derselbe mögliche Realitätsgehalt zuerkannt werden muss wie anderen Ereignissen in der Vergangenheit, dann stellt sich die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug dieses Geschehens. Es kann der menschlichen Wirklichkeit nicht eingeordnet, wohl aber zugeordnet werden. Eine Einordnung ist nicht möglich, weil Auferstehung bei Paulus wie im gesamten Neuen Testament immer streng als exklusive Gottestat verstanden wird (vgl. 1Thess 4,14; 1Kor 6,14a; 15,4.15; Gal 1,1; Röm 4,24f; 6,9; 8,11; 10,9). Das eigentliche Subjekt der Auferstehung ist Gott, d. h. die Rede von der Auferstehung Jesu Christi ist zuallererst eine Aussage über Gott selbst123 und damit geläufiger empirischer Verifikation entzogen! Als schöpferisches Handeln Gottes an dem gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazaereth muss die Wirklichkeit der Auferstehung deshalb unterschieden werden von menschlichen Erfahrungen und Verarbeitungen dieser Wirklichkeit. Würde man beides in eins setzen, wäre die Frage nach der Realität dieses Geschehens nicht mehr zu beantworten und die Möglichkeit göttlichen Handelns vom menschlichen Bekenntnis abhängig. Wenn der Mensch die Möglichkeiten Gottes mit seinen eigenen gleichsetzt, redet er nicht mehr von Gott!
121 Vgl. dazu J. RÜSEN, Rekonstruktion der Vergan-
genheit, Göttingen 1986, 22–86. 122 A. a. O., 41. 4 123 Vgl. CHR. SCHWÖBEL, Art. Auferstehung 2, RGG I, Tübingen 1998, (924–926) 926: „Das Handeln Gottes ist der gemeinsame Bezugspunkt der Rede von der
Auferweckung des toten Jesus, des Glaubens der ersten Gemeinde, daß Jesus dadurch Anteil am Leben Gottes hat und sein Lebenszeugnis von Gott selbst bestätigt worden ist, und der Beauftragung, diese Botschaft an alle weiterzugeben.“
216 Paulus: Missionar und Denker
Auferstehung als Handeln Gottes an Jesus von Nazareth hebt allerdings die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug dieses Geschehens nicht auf. Der Hinweis darauf, dass Gott sich im Auferstehungsgeschehen selbst zur Sprache bringt und Gottes Handeln als solches nicht beschrieben, sondern nur bekannt werden könne124, muss wiederum nur als eine elegante Verschiebung der Probleme gelten. Wie soll etwas zur Grundlage meines Glaubens und damit auch meines Wirklichkeitsverständnisses werden, das nicht in einen Bezug zu meiner Wirklichkeit gesetzt werden kann? Diese notwendige Zuordnung leistet m.E. der Transzendenzgedanke. Auferstehung ist zunächst und grundlegend ein die normale Erfahrung überschreitendes (transcendere) Geschehen von Gott her. Es tritt aber nicht als die Transzendenz des absolut Heiligen oder des distanzierten Monotheismus in Erscheinung, sondern Gott überschreitet seine Unendlichkeit und begibt sich ohne Aufgabe seiner Freiheit in den Bereich des Geschöpflichen, den er selbst schuf und der auch sein eigen ist125. Innerhalb der Schöpfung ist der Mensch dasjenige Lebewesen, dessen Sein durchgängig von Transzendenzerfahrungen geprägt ist. Der Mensch lebt in einer Welt, die ihm letztlich entzogen ist, die vor ihm war und nach ihm sein wird126. Er kann die Welt erfahren, nicht aber mit ihr verschmelzen. Aus der Unterscheidung zwischen Ich-bezogenen und Ich-überschreitenden Erfahrungen ergeben sich nicht nur Differenz-, sondern auch Transzendenzerfahrungen. Jede Erfahrung verweist in ihrem Kern auf Abwesendes und Fremdartiges, die eine Miterfahrung von Transzendenz hervorrufen127. Zu den unsere Wirklichkeit übersteigenden Transzendenzen gehört (neben dem Schlaf und Krisen) vor allem der Tod128, dessen Realität unbezweifelbar, aber dennoch unerfahrbar ist. Der Tod als Grenzfall des Lebens ist nun der Ort, wo sich das von Gott ausgehende Transzendenzgeschehen der Auferstehung und die Transzendenzerfahrungen der ersten Zeugen treffen. Gottes schöpferisches Handeln an dem gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth ruft bei den ersten Zeugen und auch bei Paulus sinnerschließende Transzendenzerfahrungen eigener Art hervor. Die entscheidende Erfahrung und Einsicht lautet: In der Auferstehung Jesu Christi von den Toten hat Gott den Tod zum Ort seiner Liebe zu den Menschen gemacht. Diese besonderen Transzendenzerfahrungen lassen sich nicht in unsere Wirklichkeit einordnen, ihr aber zuordnen, denn unsere Wirklichkeit ist insgesamt von Transzendenzerfahrungen verschiedener Art durchzogen. Wenn man den Erfah-
124 So I. U. DALFERTH, Der auferweckte Gekreuzigte,
126 Ich folge hier Überlegungen von A. SCHÜTZ/
56.
TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II (s. o. 1.2), 139 ff. 127 TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, 167f, unterscheidet zwischen ‚kleinen‘ (Alltagserfahrungen) und ‚großen‘ Transzendenzen (vor allem: Schlaf, Tod). 128 Vgl. A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II, 173.
125 Vgl. hierzu P. TILLICH, Systematische Theologie I,
Stuttgart 51977, 303: „Gott ist der Welt immanent als ihr dauernder schöpferischer Grund, und er ist der Welt transzendent durch Freiheit. Beides, die unendliche göttliche Freiheit und die endliche menschliche Freiheit machen die Welt transzendent für Gott und Gott transzendent für die Welt.“
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rungsbegriff nicht naturwissenschaftlich verengt129, sind die Erfahrungen der frühen Zeugen keineswegs so kategorial von den ‚normalen‘ Erfahrungen geschieden, wie gemeinhin angenommen wird. Zumal die frühen Christen ihre besonderen Transzendenzerfahrungen in der Weise verarbeiteten, wie Transzendenzerfahrungen grundsätzlich konstruktiv verarbeitet werden müssen: durch Sinnbildung. Die Erscheinung bei Damaskus
Die Erscheinung des Auferstandenen (s. o. 4.2) ist auch bei Paulus als ein von Gott kommendes Transzendenzgeschehen zu verstehen. Dem Apostel eröffnete sich bei Damaskus (vgl. 1Kor 9,1; 15,8; 2Kor 4,6; Gal 1,12–16; Phil 3,4b–11; Apg 9,3–19a; 22,6–16; 26,12–18) eine neue Wertung des Christusgeschehens, ihm wurde ein vierfacher Erkenntnisgewinn zuteil130: 1) Die theologische Erkenntnis: Gott redet und handelt wieder; er offenbart am Ende der Zeit auf neue Art und Weise das Heil. Durch Gottes Eingreifen eröffnen sich in der Geschichte und für die Geschichte völlig neue Perspektiven. 2) Die christologische Erkenntnis: Der gekreuzigte und auferstandene Jesus von Nazareth gehört bleibend auf die Seite Gottes, im Himmel nimmt er den Platz der ‚second power‘ ein. Als „Herr“ (1Kor 9,1: ku´rioß), „Gesalbter“ (1Kor 15,8: Cristo´ß), „Sohn“ (Gal 1,16: uıo´ß) und „Bild Gottes“ (2Kor 4,4: eikw`n tou˜ heou˜) ist Jesus Christus dauernder Macht- und Offenbarungsträger Gottes; in seiner Hoheit und Gottesnähe zeigt sich seine einzigartige Würde. 3) Die soteriologische Erkenntnis: Der erhöhte Christus gewährt den Glaubenden bereits in der Gegenwart Anteil an seiner Herrschaft. Sie sind miteinbezogen in einen universalen Transformationsprozess, der mit Jesu Christi Auferstehung begann, sich im Geistwirken fortsetzt und in Kürze in Parusie und Gericht einmündet. 4) Die biographische Dimension: Gott hat Paulus auserwählt und berufen, den Völkern diese unerhört neue und gute Botschaft bekannt zu machen. Damit wird Paulus selbst zum Bestandteil des göttlichen Heilsplanes, denn durch ihn muss das Evangelium in die Welt getragen werden, um die Glaubenden zu retten. Über die Art und Weise der Vermittlung dieser Erkenntnisse sagen die Texte nur wenig aus. Zweifellos hatte Damaskus eine äußere (vgl. 1Kor 9,1; 15,8) und eine innere Dimension (vgl. Gal 1,16; 2Kor 4,6), möglicherweise verbunden mit einer Audition (vgl. kaleı˜n = „rufen“ in Gal 1,15). Jede weitere inhaltliche oder psychologische Deutung des Geschehens fehlt aber bei Paulus, so dass über diesen Textbefund hinaus keine weitergehenden Schlüsse gezogen werden sollten131. 129 Vgl. K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos (s. o. 4.6), 340: „Wer behauptet, die Wissenschaft habe die durchgängige und absolute Geltung von Naturgesetzen bewiesen, vertritt nicht die Wissenschaft, sondern eine dogmatische Metaphysik der Wissenschaft.“ 130 Zur Analyse der Texte und zum Verständnis von
Damaskus vgl. umfassend U. SCHNELLE, Vom Verfolger zum Verkündiger. Inhalt und Tragweite des Damskusgeschehens, in: Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt (FS A. Fuchs), hg. v. Chr. Niemand, Frankfurt 2002, 299–323. 131 Vgl. W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. u. 6.5), 160, der vor weitergehenden Interpretationen des Damas-
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Die überwältigende Erfahrung des auferstandenen Jesus Christus prägt von nun an umfassend das Leben des Apostels. Paulus werden von Gott neue Horizonte eröffnet: Das Urteil der Menschen über den gekreuzigten Jesus von Nazareth wurde von Gott aufgehoben, Jesus starb nicht als am Holz Verfluchter, sondern er ist Gottes Repräsentant, dauernder Träger der Herrlichkeit Gottes. Damaskus ist der grundlegende Ausgangspunkt der paulinischen Sinnbildung. Während er zuvor die Verkündigung über einen gekreuzigten Messias nur als Provokation verstehen konnte, führte ihn die Damaskuserfahrung zu der Einsicht, dass dem Kreuz unerwartetes Sinnpotential innewohnt. Aus der religiösen Gewissheit des Damaskusgeschehens heraus setzt Paulus eine universal angelegte Sinnbildung mit einzigartiger Wirkungsgeschichte in Gang, um so den Menschen des gesamten Erdkreises eine umfassende Daseinsorientierung zu ermöglichen. Das Kreuz
Für Paulus ist der Auferstandene bleibend der Gekreuzigte (2Kor 13,4: „Denn er wurde aus Schwachheit gekreuzigt, aber er lebt aus Gottes Kraft“). Die Heilsbedeutung der Auferstehung wirft ein neues Licht auf den Tod Jesu. Es gibt bei Paulus eine Wechselwirkung zwischen Tod und Auferstehung. Die Auferstehung begründet sachlich die Heilsbedeutung des Todes, zugleich gewinnt das Auferstehungskerygma in der paulinischen Hermeneutik des Kreuzes eine letzte Zuspitzung. Auch nach der Auferstehung bleibt Jesus der Gekreuzigte (Ptz. Perf. Pass. estaurwme´noß 1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1)132. „Der Auferstandene trägt die Nägelmale des Kreuzes.“133 Eine biographische Erfahrung gewinnt bei Paulus theologische Qualität. Er verfolgte die Jesusanhänger wegen ihrer Behauptung, ein Gekreuzigter sei der Messias. Diese Botschaft musste im Kontext von Dtn 21,22f als Blasphemie bekämpft werden. Paulus war davon überzeugt, dass der von der Tora angesprochene Fluch über dem Gekreuzigten liegt (Gal 3,13). Die Offenbarung bei Damaskus kehrte dieses theologische Koordinatensystem um. Paulus erkennt, dass der am Holz Verfluchte Gottes Sohn ist, d. h. im Licht der Auferstehung wird das Kreuz vom Ort des Fluches zum Ort des Heils. Deshalb kann Paulus den Korinthern zurufen: „Wir aber verkündigen Christus als Gekreuzigten, für Juden ein Anstoß, für Heiden eine Torheit“ (1Kor 1,23). In den Briefen des Paulus erscheint das Kreuz 1) als historischer Ort, 2) als argumentativ-theologischer Topos und 3) als theologisches Symbol . 1) Die Rede vom Kreuz ist bei Paulus immer theologisch gefüllt. Sie löst sich aber nicht von der Geschichte, sondern ihr Ausgangspunkt ist das Kreuz als Ort des Todes kusgeschehens warnt: „Alle psychologisierenden Hypothesen und alle Behauptungen, die über das aus den Quellen zu Erhebende hinausgehen, führen nur an den Tatsachen vorbei und vergessen die Ehrfurcht vor der geschichtlichen Wirklichkeit.“
132 Vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER/F. REHKOPF, Grammatik
des neutestamentlichen Griechisch (s. o. 4.6), §340: das Perfekt drückt „die Dauer des Vollendeten“ aus. 133 G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu im Neuen Testament (s. o. 4), 137.
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des Jesus von Nazareth. Mit der Wendung ska´ndalon tou˜ staurou˜ (1Kor 1,25; Gal 5,11: „Anstoß des Kreuzes“) nimmt der Apostel Bezug auf die konkrete, entehrende Hinrichtungsart der Kreuzigung, die einen Menschen als Verbrecher, nicht aber als Gottessohn ausweist. Einen Gekreuzigten als Gottessohn zu verehren, erschien den Juden als theologischer Anstoß134 und der griechisch-römischen Welt als Verrücktheit135. Mit der zentralen Stellung eines Gekreuzigten in der paulinischen Sinnwelt wird jede geläufige kulturelle Plausibilität auf den Kopf gestellt, indem nun das Kreuz als signum göttlicher Weisheit erscheint136. Paulus hält am Kreuz als dem historischen Ort der Liebe Gottes fest . Er sperrt sich gegen eine vollständige Kerygmatisierung des einmalig Geschichtlichen, Gottes überzeitliches Handeln weist sich für die Menschen als heilsam aus, weil es einen Ort und eine Zeit, einen Namen und eine Geschichte hat137. Die Konzentration auf den erhöhten und gegenwärtigen Kyrios Jesus Christus in der paulinischen Theologie hat ihre Grundlage in der Identität mit dem gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth. Der Glaube kann sich nicht ins Mythologische verflüchtigen, weil er durch das Kreuz geerdet ist, wie der paulinische Zusatz in Phil 2,8c (ha´natoß de` staurou˜ = „Tod am Kreuz“) deutlich macht. Die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Heils (vgl. Röm 6,10) ist unabdingbar für die Identität des christlichen Glaubens. Deshalb fragt Paulus die Korinther: „Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt?“ (1Kor 1,13a). Hätte Pilatus gewusst, wer dieser Jesus von Nazareth in Wahrheit ist, dann hätte er den „Herrn der Herrlichkeit“ (1Kor 2,8) nicht gekreuzigt138. Der Anstoß des Kreuzes wirkt weiter, Paulus wird um des Kreuzes willen verfolgt (vgl. Gal 5,11), seine Gegner hingegen weichen der Verfolgung aus und heben damit das Skandalon des Kreuzes auf (vgl. Gal 6,12; Phil 3,18). Nur als das einmalige Geschehen in der Vergangenheit wird das Kreuz zum eschatologischen, d. h. die Zeit überschreitenden Ereignis. Die Gegenwart des Kreuzes in der Verkündigung hat zur Voraussetzung, dass nur der Gekreuzigte der Auferstandene ist, so dass die Bedeutsamkeit des Kreuzes immer auch an seinen historischen Ort gebunden ist. 2) Als argumentativ-theologischer Topos erscheint das Kreuz bei Paulus in mehreren Sachzusammenhängen, wobei vor allem die Argumentation im 1Korintherbrief hervorzuheben ist. In Korinth geht es um die sachgemäße Bestimmung der Weisheit
134 Zur Übersetzung von ska´ndalon mit „Anstoß“ vgl. H.-W. KUHN, Jesus als Gekreuzigter in der frühchristlichen Verkündigung bis zur Mitte des 2. Jahrhundets, ZThK 72 (1975), (1–46) 36 f. 135 Vgl. Plinius, Ep X 96,8: „verworrener wüster Aberglaube“. 136 Es gibt jedoch mögliche kulturelle Anknüpfungslinien; so erscheint bei Plato der Gerechte als Entehrter: „Sie sagen aber so, dass der so gesinnte
Gerechte wird gefesselt, gegeißelt, gefoltert, geblendet werden an beiden Augen, und zuletzt, nachdem er alles mögliche Übel erduldet, wird er noch aufgeknüpft (anascinduleu´w = aufspießen, pfählen) werden und dann einsehen, dass man nicht muss gerecht sein, sondern scheinen wollen“ (Pol II 361c.362a). 137 Vgl. dazu H. WEDER, Kreuz Jesu (s. o. 6.2), 228 ff. 138 Zur Auslegung vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 55–57.
220 Paulus: Missionar und Denker
Gottes. Paulus versucht der nach gegenwärtiger Vollendung strebenden Gemeinde zu verdeutlichen, dass diese Weisheit sich dort offenbarte, wo der Mensch die Torheit vermutet (1Kor 1,18ff). Am Kreuz lässt sich Gottes Handlungsweise ablesen, der die Geringen und Verachteten erwählte (1Kor 1,26–29) und den Apostel zu einer vom Herrn bestimmten Existenz- und Denkweise führte (1Kor 2,2). Wenn Teile der korinthischen Gemeinde meinen, sich schon im Stand der Weltvollendung zu befinden (1Kor 4,8), dann verwechseln sie die Weisheit der Welt bzw. ihre Weisheit mit der Weisheit Gottes. Es gibt keine Weisheit und Herrlichkeit am Gekreuzigten vorbei (1Kor 2,6ff) und nur vom Gekreuzigten kann die Auferstehung ausgesagt werden. Deshalb gilt: „Denn das Wort vom Kreuz ist Torheit denen, die verloren gehen; uns aber, die gerettet werden, ist es Kraft Gottes“ (1Kor 1,18). Die Korinther blendeten das Kreuz nicht einfach aus139, sie neutralisierten es aber, indem sie den Tod Jesu als Durchgang zum wahren pneumatischen Sein verstanden, aus dem der Präexistente kam. Im Gegensatz zu Paulus verstanden die Korinther die Gabe des Geistes zuallererst als Überwindung der Begrenztheit des bisherigen kreatürlichen Seins, als Steigerung von Lebenskraft und Lebenserwartung140. Innerhalb ihres präsentischen und individualistischen Ansatzes wurden das Leiden und die Hamartiologie minimiert. Im Mittelpunkt stand die Potenzierung der Lebensmöglichkeiten durch eine Gottheit, die in ihrem Schicksal die Grenze des Todes überwand und nun die umfassende Gegenwart des Jenseits im Diesseits verbürgt. Die Korinther wollten ihrer geschöpflichen Begrenztheit entfliehen, nicht Niedrigkeit, sondern Hoheit und Herrschaft erschien ihnen als sachgemäße Präsentation des erlangten Heilsstandes. Demgegenüber sind die Apostel „Narren um Christi willen“ (1Kor 4,10). Sie geben ein anderes Exemplum, indem sie sich um der Gemeinde willen ständig in Schwachheit, Gefahr und Armut begeben (vgl. 1Kor 4,11ff). Damit repräsentieren sie den Typus des wahren Weisen, der sich in Unabhängigkeit von allem Äußerlichen allein seinem Auftrag und seiner Botschaft verpflichtet weiß. Dementsprechend wird auch die Gestalt der apostolischen Existenz durch den Gekreuzigten geprägt. In prägnanter Form zeigen dies die Peristasen-Kataloge, kaum zufällig finden sich alle vier Peristasen-Kataloge in den Korintherbriefen (vgl. 1Kor 4,11–13; 2Kor 4,7–12; 6,4– 10; 11,23–29)141. In den Peristasen-Katalogen verdichtet sich das Motiv der Bestimmtheit der gesamten Existenz des Apostels durch das Christusgeschehen als Gotteshan-
139 Vgl. TH. SÖDING, Das Geheimnis Gottes im Kreuz Jesu, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. o. 6), 71–92. 140 Vgl. F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 248, der zu Recht die Herkunft des korinthischen Enthusiasmus aus der Tauftheologie vertritt. 141 Zur Analyse vgl. E. GÜTTGEMANNS, Der leidende Apostel und sein Herr, FRLANT 90, Göttingen 1966,
94ff; M. EBNER, Leidenslisten und Apostelbrief, fzb 66, Würzburg 1991, 196ff; M. SCHIEFER-FERRARI, Die Sprache des Leids in den paulinischen Peristasenkatalogen, SBB 23, Stuttgart 1991, 201ff; G. HOTZE, Paradoxien bei Paulus, NTA 33, Münster 1997, 252– 287.
Christologie 221
deln für die Menschen in Hoheit und Niedrigkeit. Der Apostel trägt allzeit das Sterben Jesu an seinem Leibe, „damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe geoffenbart werde. Denn immer werden wir, die Lebenden, um Jesu willen in den Tod gegeben, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch geoffenbart werde. Daher wirkt sich der Tod an uns aus – das Leben aber an euch“ (2Kor 4,10b–12). Es gehört zum Wesen der apostolischen Existenz, dass sich ihre Teilhabe am Kreuzesgeschehen nicht in der rein worthaften Verkündigung desselben erschöpft, sondern der Apostel mit seiner ganzen Existenz daran teilhat. Die Existenz des Apostels ist die existentielle Verdeutlichung des Kerygmas, so dass der Apostel keinen anderen Weg als sein Herr gehen kann!
Für Paulus ist das Kreuz Christi das entscheidende theologische Kriterium, er argumentiert nicht über das Kreuz, sondern redet vom Kreuz her. Mehr noch: Das Kreuz Christi ist im Wort vom Kreuz präsent (1Kor 1,17.18)! Schon die Schrift bezeugt, dass die Weisheit Gottes ihren Inhalt nicht von der Weisheit der Welt bekommen kann (1Kor 1,19); beide sind strikt zu unterscheiden, denn sie verdanken sich nicht vergleichbaren Erkenntnisquellen. Nicht in den Höhen menschlicher Weisheit und Erkenntnis, sondern in den Tiefen des Leidens und des Todes hat sich der Vater Jesu Christi als ein menschenfreundlicher Gott erwiesen. Damit erscheint Gottes Handeln in Jesus Christus als ein paradoxes Geschehen, das dem menschlichen Tun und der menschlichen Weisheit zugleich vorausläuft und widerspricht142. 3) Das Kreuz ist in den angeführten Argumentationszusammenhängen immer auch ein Symbol . Weil es zuallererst ein historischer Ort bleibt, vermag das Kreuz gleichzeitig Faktum und Symbol zu sein143. Es hat Verweischarakter und präsentiert zugleich durch die Kraft des Geistes das Vergangene als Gegenwärtiges. Als Ort des einmaligen Transfers Jesu Christi in das neue Sein prägt das Kreuz auch die gegenwärtige Existenz der Christusgläubigen. Es benennt jeweils die Statusüberschreitung vom Tod zum Leben und gewinnt in einem zweifachen rituellen Kontext seine Aktualität: a) In der Taufe erfolgt die Einbeziehung in das Kreuzigungs- und Auferstehungsgeschehen, indem die Macht des Todes und der Sünde überwunden und der Status des neuen Seins verliehen werden. Das Pf. Pass. sunestau´rwmai („ich bin mitgekreuzigt“) in Gal 2,19 betont ebenso wie su´mfutoi gego´namen („wir sind zusammengewachsen mit“) in Röm 6,5 die in die Gegenwart hineinwirkende und sie neu bestimmende Realität und Kraft des einmaligen Mitgekreuzigtwerdens in der Taufe. b) Paulus entfaltet im Gal eine staurologisch begründete Kritik der Beschneidungsforderung der
142 Wie sehr die paulinische Kreuzestheologie dem geläufigen griechisch-hellenistischen Gottesbild widerspricht, zeigt z. B. Diog L 10,123, wo Epikur seine Schüler auffordert, sich eine zutreffende Vorstellung über Gott zu machen: „Erstens halte Gott für ein unvergängliches und glückseliges Wesen, entsprechend
der gemeinhin gültigen Gottesvorstellung, und dichte ihm nichts an, was entweder mit seiner Unvergänglichkeit unverträglich ist oder mit seiner Glückseligkeit nicht in Einklang steht . . .“ 143 Vgl. CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 262 f.
222 Paulus: Missionar und Denker
Judaisten. Als Initiationsritual konkurriert die Beschneidung mit der Taufe, und deshalb auch mit dem Kreuz. Die Beschneidung hält an der ethnischen Differenz zwischen den Juden und den übrigen Völkern fest, während das Kreuz die Umwertung aller bisherigen Werte symbolisiert und die Taufe ausdrücklich alle bisherigen Privilegien aufhebt (Gal 3,26–28). Das Kreuz symbolisiert Gottes überraschendes, menschliche Maßstäbe außer Kraft setzendes Handeln. Die Weisheit des Kreuzes verträgt sich nicht mit der Weisheit der Welt. Das Kreuz ist die radikale Infragestellung jeglicher menschlicher Selbstbehauptung und individualistischen Heilsstrebens, weil es in die Ohnmacht und nicht in die Macht, in die Klage und nicht in den Jubel, in die Schande und nicht in den Ruhm, in die Verlorenheit des Todes und nicht in die Glorie vollständig gegenwärtigen Heils führt. Diese Torheit des Kreuzes lässt sich weder ideologisch noch philosophisch vereinnahmen, sie entzieht sich jeder Instrumentalisierung, weil sie allein in Gottes Liebe gründet. Die Rede vom Kreuz ist ein Spezifikum paulinischer Theologie . Der Apostel entwickelte sie nicht aus der Gemeindeüberlieferung, sondern aus seiner Biographie: Bei Damaskus offenbarte ihm Gott die Wahrheit über den Gekreuzigten, der nicht im Tod blieb. Das Wort vom Kreuz benennt die grundlegenden Transformationsprozesse im Christusgeschehen und im Leben der Glaubenden und Getauften, so dass es direkt in das Zentrum des paulinischen Denkens führt144. Die paulinische Kreuzestheologie erscheint als fundamentale Gottes-, Welt- und Existenzdeutung; sie ist die Mitte und der Angelpunkt der paulinischen Sinnwelt . Sie lehrt, die Wirklichkeit von dem im Gekreuzigten offenbar werdenden Gott her zu verstehen und daran sein Denken und Handeln auszurichten. Menschliche Wertungen, Normen und Klassifizierungen erhalten vom Kreuz Christi her eine neue Deutung, denn Gottes Werte sind die Umwertung menschlicher Werte. Das Evangelium vom gekreuzigten Jesus Christus gewährt im Glauben Rettung, weil sich hier der Gott bekundet, der gerade in der Verlorenheit und Nichtigkeit Retter der Menschen sein will. Im Kreuz zeigt sich Gottes Liebe, die zu leiden und deshalb auch zu erneuern vermag.
6.2.3
Rettung und Befreiung durch Jesus Christus
Für Paulus ist der Gekreuzigte und Auferstandene die zentrale Gestalt der Endzeit, er bestimmt umfassend das Wirklichkeitsverständnis des Apostels, „um seinetwillen ist mir das alles zum Schaden geworden, und ich erachte es als Dreck, damit ich Christus erkenne“ (Phil 3,8). Welt, Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft werden von 144 Gegen H.-W. KUHN, Jesus als Gekreuzigter in der
frühchristlichen Verkündigung, 40, der die paulinischen Kreuzesaussagen ausschließlich in einem po-
lemischen Kontext verortet. 1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1 zeigen deutlich, dass die Rede vom Kreuz zur paulinischen Erstverkündigung gehörte.
Christologie 223
Paulus aus der Perspektive des Christusgeschehens betrachtet, schon jetzt gilt: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes“ (1Kor 3,22f). Die paulinische Sinnwelt ist von der Vorstellung geprägt, dass in der Endzeit Jesus Christus zuallererst als Retter und Befreier handelt; Retter vor dem kommenden Zorn Gottes und Befreier von der Macht des Todes 145. Allein der Sohn Gottes, Jesus Christus, rettet die Glaubenden im zukünftigen Gericht vor dem Zorn Gottes (vgl. 1Thess 1,10). Es entspricht dem Willen Gottes, dass die Glaubenden nicht Zorn, sondern Heil durch den Kyrios Jesus Christus erlangen (1Thess 5,9; Röm 5,9)146. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die auf Rettung der Glaubenden zielt (Röm 1,16). Paulus bittet für sein Volk Israel, dass es ebenfalls gerettet werde (Röm 10,1). Er selbst lebt in dem Bewusstsein, der Rettung näher zu sein als zu dem Zeitpunkt, als er und die Römer zum Glauben kamen (Röm 13,11). Weil Gott Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, dürfen die im Glauben Berufenen darauf hoffen, in der unmittelbar bevorstehenden Parusie gerettet zu werden (vgl. 1Thess 4,14; 5,10). Paulus betont vor allem innerhalb der Briefanfänge im Rahmen der Danksagung den Heilsstand der Gemeinden. Dem Anfang der Kommunikation kommt besondere Bedeutung zu, denn er installiert das neue gemeinsame Wirklichkeitsverständnis und entscheidet wesentlich über das angestrebte Einverständnis zwischen Apostel und Gemeinde147. Den Thessalonichern ruft Paulus die Erwählung (1Thess 1,4) als Vorausssetzung ihrer Rettung in Erinnerung (1Thess 1,10). Den Korinthern versichert er, dass Jesus Christus sie fest erhalten wird bis ans Ende, „dass ihr untadelig seid am Tag unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist Gott, durch den ihr berufen worden seid zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn“ (1Kor 1,8.9). Am ‚Tag des Herrn‘ werden die Korinther der Ruhm des Paulus sein (2Kor 1,14), allein diese Zuversicht tröstet ihn in den gegenwärtigen Leiden (2Kor 1,5). Paulus dankt Gott, „der uns allezeit den Sieg gibt in Jesus Christus und offenbart den Wohlgeruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten“ (2Kor 2,14). Allein im Glauben an den Gottessohn Jesus Christus eröffnet sich für den Menschen der Zugang zu Gott und damit die Rettung. Jenseits dieses Glaubens herrschen ‚der Gott dieses Äons‘ (2Kor 4,4) und der Unglaube, der in die Verlorenheit führt. Im Gal fehlt zwar eine Danksagung, Paulus erweitert jedoch die Grußformel in charakteristischer Weise: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden gab, damit er uns herausreiße aus
145 Vgl. hierzu grundlegend W. WREDE, Paulus (s. o. 6), 47–66; A. SCHWEITZER, Mystik des Apostels Paulus (s. o. 6), 54ff; ferner E. P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum (s. o. 6), 421–427; G. STRECKER, Theologie, 124–149.
146 Vgl. W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1), 203–206. 147 Vgl. ST. ALKIER, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus (s.o. 6.2) 91 ff.
224 Paulus: Missionar und Denker
dem gegenwärtigen bösen Äon entsprechend dem Willen unseres Gottes und Vaters“ (Gal 1,3.4). Überschwänglich lobt Paulus den Heilsstand der römischen Gemeinde (Röm 1,5 ff.11f; 15,14f), von deren Glaube die ganze Welt spricht (Röm 1,18). Auch gegenüber den Philippern äußert Paulus seine feste Zuversicht, dass Gott, „der bei euch ein gutes Werk angefangen hat, es vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu“ (Phil 1,6). Der Apostel und seine Gemeinden sind davon überzeugt, dass die in der Taufe sichtbare Erwählung der Christen und ihre Berufung als Teilhaber am Evangelium bis in das Eschaton hinein Gültigkeit haben. Im Christusgeschehen wurde der Tod als eschatologischer Gegenspieler Gottes entmachtet (vgl. 1Kor 15,55) und Jesus Christus erscheint als der Befreier von der Macht des Todes und der mit ihm verbundenen Mächte, der sa´rx („Fleisch“) und der amartı´a („Sünde“). Der Tod als letzter Feind wird am Ende der Zeiten Christus unterworfen werden (1Kor 15,26), dann vollzieht sich die Befreiung von der „Knechtschaft der Vergänglichkeit“ (Röm 8,21). Paulus entfaltet diesen Gedanken umfassend in der Adam-Christus-Typologie (Röm 5,12–21), die vom Gedanken zweier menschheitsbestimmender Gestalten geprägt ist: Adam und Christus. Wie durch den Fehltritt der einen Zentralgestalt der Tod in die Welt kam, wird durch die Gnadentat Gottes an Jesus Christus die Macht des Todes wieder aufgehoben. Zwar bleibt der Tod als biologische Realität bestehen, er verliert aber seine eschatologische Dimension als von Gott trennende Macht. Als je Einzelne bestimmen Adam und Christus das Schicksal der gesamten Menschheit, zugleich überbietet Jesus aber Adam, denn dessen Verhängnis wird durch die Gnadengabe der Endzeit aufgehoben. Auch die Vorstellung des ‚Loskaufes/Freikaufes‘ (apolu´trwsiß in 1Kor 1,30; Röm 3,24; 8,23; exagora´zw in Gal 3,13; 4,5; agora´zw in 1Kor 6,20; 7,23) bringt die Befreiungstat Jesu Christi prägnant zum Ausdruck: Jesus Christus nahm auf sich, was die Menschen in Unfreiheit hält; er zahlte ‚für uns‘ den Preis der Befreiung148 von den Mächten der Sünde und des Todes (s. u. 6.5.2). Die Folge der durch Christus erworbenen Freiheit ist die swtvrı´a („Rettung“). Im Gottesdienst ruft die Gemeinde Jesus Christus als ‚Retter‘ an, der als Kosmokrator den irdischen und vergänglichen Leib der Glaubenden verwandeln wird (Phil 3,20f). Bei der unmittelbar bevorstehenden Parusie des Kyrios ereignet sich die swtvrı´a (Röm 13,11), sie ist die Folge der Umkehr (2Kor 7,10) und Inhalt der christlichen Hoffnung (1Thess 5,8f). In der Verkündigung des Apostels ist sie bereits gegenwärtig (2Kor 6,2) und vollzieht sich in der Berufung der Glaubenden (vgl. 1Thess 2,16;
148 Zu den möglichen religionsgeschichtlichen Hintergründen (Sklavenloskauf) vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 82–86; G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 71–75;
D. F. TOLMIE, Salvation as Redemption, in: J. G. van der Watt, Salvation in the New Testament (s. u. 6.4), 247–269.
Christologie 225
1Kor 1,18; 15,2; 2Kor 2,15). Die Gemeinde darf in der Gewissheit leben, dass ihr Glaube und ihr Bekenntnis sie retten werden (Röm 10,9f). Gegenwärtige Heilserfahrung und zukünftige Heilsgewissheit verschränken sich: „Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet“ (Röm 8,24: tU˜ ga`r elpı´di esw´hvmen).
6.2.4
Jesu Christi stellvertretender Tod ,für uns’
Paulus bedient sich im Einzelnen verschiedener Interpretationsmuster, um die Heilsbedeutung des Todes Jesu zu beschreiben. Das dominierende Grundmodell ist der Gedanke der Stellvertretung 149, der Jesu Pro-Existenz prägnant zum Ausdruck bringt. Allerdings weist der Begriff der Stellvertretung keine semantische Eindeutigkeit auf, sondern bezeichnet ein Vorstellungsfeld, das christologische, soteriologische und auch ethische Motive umfasst. Mit Stellvertretung verbinden sich zu unterscheidende, aber nicht in jedem Fall zu trennende Phänomene. Speziell das Verhältnis ‚Sühne – Stellvertretung‘ ist bei Paulus ein Problem150, denn Paulus verwendet keinen exakten Begriff, der dem deutschen Wort Sühne entsprechen würde151. Zugleich verbinden sich aber mit der Stellvertretung Motive wie Sündenvergebung, Dahingabe, Leiden für andere, die Sühnevorstellungen als Interpretationshorizont nahelegen könnten. Auch sprachlich lässt die Rede vom Sterben Jesu ‚für‘ (apohnU´ skein upe´r) verschiedene Akzentuierungen zu, denn die Präposition upe´r mit Gen.152 kann im übertragenen Sinn „zum Vorteil“, „im Interesse von/zugunsten“, „wegen, um . . . willen“ oder „anstelle von/anstatt“ bedeuten153. Um unsachgemäße inhaltliche Präjudizierungen zu vermeiden, müssen die relevanten Texte einzeln analysiert werden, wobei mit den vorpaulinischen Traditionen einzusetzen ist. Dabei wird folgender Begriff von ‚Stellvertretung‘ vorausgesetzt: Stellvertretung meint, für andere und damit auch anstelle anderer eine Leistung zu vollbringen und dadurch eine heilvolle Wirkung zu erzielen .
149 Vgl. z. B. G. DELLING, Der Tod Jesu in der Verkündigung des Paulus, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, Berlin 1970, 336–346; C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, NTS 39 (1993), (59–79) 77f; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner (s. u. 6.4), 316. 150 Zur Forschungsgeschichte vgl. F. BIERINGER, Traditionsgeschichtlicher Ursprung und theologische Bedeutung der upe´r-Aussagen im Neuen Testament, in: The Four Gospels (FS F. Neirynck), hg. v. G. van Segbroeck u. a., Leuven 1992, 219–248. Die Problemgeschichte der neueren Diskussion findet sich bei J. FREY, Probleme der Deutung des Todes Jesu, in:
J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu (s. o. 6.2), 3–50; vgl. ferner J. CHR. JANOWSKI/B. JANOWSKI/P. LICHTENBERGER (Hg.), Stellvertretung I, Neukirchen 2006. 151 Vgl. dazu C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, 60 ff. 152 Die Stellvertetungsaussagen bei Paulus sind vornehmlich durch upe´r mit Gen. konstruiert (vgl. 1Thess 5,10; 1Kor 1,13; 15,3; 2Kor 5,14.15.21; Gal 1,4; 2,20; 3,13; Röm 5,6.8; 8,32; 14,15); dia´ in 1Kor 8,11; Röm 4,25. 153 Ursprünglich meint upe´r mit Gen. „über“ im lokalen Sinn; vgl. dazu F. PASSOW, Handwörterbuch der Griechischen Sprache II/2, Leipzig 51857, 2066 f.
226 Paulus: Missionar und Denker
In der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,3b bezieht sich die Stellvertretungsformulierung auf die Fortschaffung der Sünden der bekennenden Gemeinde (Cristo`ß ape´hanen upe`r tw˜n amartiw˜n vmw˜n = „Christus ist gestorben für unsere Sünden“)154. Weil Christus als ausdrückliches Subjekt des Geschehens genannt wird und von Opferkategorien nicht die Rede ist, sollte hier nicht von Sühne gesprochen werden. Die Selbsthingabe Jesu Christi (dido´nai upe`r tw˜n amartiw˜n = „gegeben für die Sünden“) in Gal 1,4 zielt auf die Befreiung der Menschen aus der Machtsphäre des gegenwärtigen bösen Äons155. Das apokalyptische Motivfeld spricht wiederum für eine Interpretation, die auf das Eintragen des (priesterschriftlichen) Sühnebegriffes verzichtet: Durch Jesu Christi stellvertretende Selbsthingabe erfolgte die Befreiung aus ‚unserem‘ durch die Sünden dokumentierten Verhaftetsein an den alten Äon. Die Dahingabeformel in Röm 4,25 dürfte von Jes 53,12LXX beeinflusst sein156, ohne dass die Sühnetheologie der Priesterschrift eingetragen werden darf157: Jesu Christi stellvertretende Hingabe bewirkt die Aufhebung der negativen Wirkungen ‚unserer‘ Übertretungen, so wie seine Auferstehung ‚unsere‘ Rechtfertigung ermöglicht. Auf paulinischer Ebene zeigt bereits 1Thess 5,10 die Grundkonzeption des Apostels: Jesu Tod upe´r ermöglicht die Neuschöpfung und Rettung des Menschen. Jesus Christus ist „für uns (upe`r vmw˜n) gestorben, damit wir, ob wir nun wachen oder schlafen, zugleich mit ihm leben.“ Der Stellvertretungsgedanke kann Jesu Tod auch in seinen ekklesiologischen (1Kor 1,13: „Ist etwa Paulus für euch gekreuzigt worden?“) und ethischen (Jesus ist für den schwachen Bruder gestorben; 1Kor 8,11: diL oÇn; Röm 14,15: upe`r ou) Dimensionen benennen, ohne auf den Sündenbegriff oder die Sühnevorstellung zurückzugreifen. Die Stellvertretungsvorstellung im strikten Sinn („anstelle von/anstatt“) findet sich in 2Kor 5,14b.15: „Einer starb für alle, folglich starben alle; und für alle starb er, damit diejenigen, die (durch ihn) leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie starb und auferstand“; Christus hat „sich selbst für mich (upe`r emou˜) dahingegeben“ aus Liebe (Gal 2,20), und es gilt nun: „Er, der seinen eigenen Sohn nicht geschont hat, sondern ihn für uns alle (upe`r vmw˜n pa´ntwn) dahingegeben hat, wie sollte er uns zusammen mit ihm nicht alles schenken“? (Röm 8,32). In Gal 3,13 expliziert Paulus die Stellvertretung mit der Vorstellung des Loskaufens aus der Sklaverei: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes losgekauft, indem er für uns (upe`r vmw˜n) zum Fluch wurde“158. Aus den Sklaven sind nun Söhne geworden (Gal 3,26–28; 4,4–6). Christus starb anstelle der Sünder, indem er, „der die Sünde nicht kannte, für uns (upe`r vmw˜n) zur Sünde wurde“ (2Kor 154 Zur Analyse vgl. zuletzt TH. KNÖPPLER, Sühne (s. o. 6.2), 127–129, der Jes 53,4 f.12LXX und 3Kg 16,18f im Hintergrund sieht. 155 Zur Analyse vgl. TH. KNÖPPLER, Sühne (s. o. 6.2), 129–131. 156 So z. B. TH. KNÖPPLER, a. a. O., 132; anders D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge (s. o. 4.4), 237 f.
157 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertetung und Sühne, 70. 158 Zur umfassenden Analyse von Gal 3,10–14 vgl. CHR. SCHLUEP, Der Ort des Glaubens (s. u. 6.4), 227– 307.
Christologie 227
5,21)159. Jesu Tod ist keine heroische Ersatzleistung (vgl. Röm 5,7: „Es stirbt kaum einer für einen Gerechten; für das Gute wagt es schon einer eher zu sterben“)160, sondern ein Sterben für die Gottlosen (Röm 5,6); ‚für uns‘, für die Sünder (Röm 5,8). Zur ‚Fortschaffung der Sünde‘ (peri` amartı´aß) sandte Gott seinen Sohn (Röm 8,3), der sich in den Machtbereich der Sünde begab, um sie zu überwinden. Traditionsgeschichtlich steht hier die Sendungschristologie im Hintergrund (vgl. Gal 4,4f; 1Joh 4,9; Joh 3,16f), so dass wohl eine allgemeine Sühnevorstellung, nicht aber der atl. Sühnopferkult mitzudenken ist161. Auch der Gedanke, dass Christi Sterben uns zugute kommt („im Interesse von/zugunsten“), indem es die Folgen der Sünde beseitigt, lässt Spielraum für die Eintragung einer Sühnevorstellung als heuristischer Kategorie. „Oft lassen sich beide Aspekte nur schwer voneinander trennen. Der stellvertretende Tod ist ein Sterben zugunsten der Verschonten, und der zugunsten der Menschen sterbende Christus nimmt das auf sich, was die Menschen treffen sollte, so dass sein sühnendes Sterben auch ein stellvertretendes Sterben ist.“162 Davon streng zu unterscheiden ist jedoch der traditionsgeschichtliche Hintergrund der ‚für-uns‘-Aussagen, die nichts mit der kultischen Darbringung eines Opfers zu tun haben163. Der Gedanke der kultischen Sühne bildet keineswegs den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der paulinischen upe´r-Aussagen164, denn Paulus verwendet gerade nicht das für die LXX-Leviticusübersetzung charakteristische exila´skeshai perı´ als terminus für das Sühnen der Sünde (vgl. Lev 5,6–10LXX)165. Vielmehr dürfte die griechische Vorstellung des stellvertretend sterbenden Gerechten, dessen Tod Tilgung/Fortschaffung der Sünde bewirkt, der Ausgangspunkt der Traditionsbildung sein166. Zumal diese Vorstellung bereits einen starken Einfluss auf die jüdische Märtyrertheologie hatte, wie sie z. B. in 2Makk 7,37f; 4Makk 6,27–29; 17,21f vorliegt. Im 159 Keineswegs ist amartı´a in 2Kor 5,21 im Sinn von ‚Sündopfer‘ zu verstehen; vgl. M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 122: „Während ein Sündopfer geschehene Sünde sühnt, tritt der Nicht-Sünder an die Stelle von Sünde überhaupt und entleert diese Macht.“ 160 In Röm 5,7 liegt deutlich der hellenistische Gedanke eines Sterbens zum Schutz einer Person, des Vaterlandes oder einer Tugend zugrunde; vgl. dazu die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 592– 597.715–725; NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 117– 119. 161 Mit C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, 71f; gegen P. STUHLMACHER, Theologie I, 291. 162 G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 74. 163 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 75; G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 59; ferner C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellver-
tetung und Sühne, 66, der zu Röm 3,25 treffend bemerkt: „Bis auf diese eine Stelle kommt Paulus ohne die Begriffe ‚Sühne‘ und ‚sühnen‘ aus, wenn er das Evangelium, das er verkündigt, den Gemeinden verdeutlicht.“ 164 Gegen U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK VI/1, Neukirchen 1978, 240, wonach „die kultische Sühne-Vorstellung durchweg der Horizont ist, unter dem der Tod Christi in seiner Heilsbedeutung im Neuen Testament gedacht wird.“ 165 Vgl. C. Breytenbach, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, 69. 166 Vgl. z. B. Sen, Ep 76,27: „Verlangt es die Sachlage, dass du für das Vaterland stirbst und die Rettung aller Bürger um den Preis deiner eigenen erkaufst, . . .“; ferner Sen, Ep 67,9; Cic, Fin 2,61; Tus 1,89; Jos, Bell 5,419; weitere Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 592–597.715–725. Zur Sache G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 59–64.
228 Paulus: Missionar und Denker
vorpaulinischen hellenistischen Judenchristentum167 beeinflusste darüber hinaus die Abendmahlstradition (1Kor 11,24b: tou˜to´ mou´ estin to` sw˜ma to` upe`r umw˜n = „dies ist mein Leib, der für euch“) unter begrenzter Aufnahme von Jes 53,11–12LXX168 die Herausbildung der Vorstellung des universalen Stellvertretungstodes des Gerechten, der den unauflöslichen Zusammenhang von Sünde und Tod durchbricht und so neues, wahres Leben ermöglicht. Speziell in den Sterbe- (vgl. 1Thess 5,10; 1Kor 1,13; 8,11; 15,3b; 2Kor 5,14f; Gal 2,21; Röm 5,6.8; 14,15) und Dahingabeformeln (vgl. Gal 1,4; 2,20; Röm 4,25; 8,32)169 verdichtet sich dieser Gedanke, Paulus nimmt ihn auf und betont die universalen Dimensionen des Geschehens: Der Gekreuzigte erlitt für die Menschen die Gewalt des Todes, um so die Verderben bringenden Mächte der Sünde und des Todes von ihnen zu nehmen.
6.2.5
Sühne
Die Sühnevorstellung im Tempel- und Opferkontext gehört nicht zu den zentralen paulinischen Theologumena170. Paulus greift sie nur einmal auf, allerdings an zentraler Stelle; in der Tradition171 Röm 3,25.26a heißt es über Jesus Christus: „Den Gott eingesetzt hat als ılastv´rion („Sühneort/Sühnemittel“) durch den Glauben kraft seines Blutes zum Erweis seiner Gerechtigkeit durch den Erlass der zuvor geschehenen Sünden in der Geduld Gottes.“ Die Bedeutungsbreite von ılastv´rion und die Probleme einer einlinigen traditionsgeschichtlichen Ableitung172 lassen es als sachgemäß erscheinen, ılastv´rion in Röm 3,25 im weiteren Sinn als ‚Sühnemittel‘ zu verstehen173. Gott selbst hat die Möglichkeit zur Sühne geschaffen, indem er Jesus Christus 167 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 205– 215. 168 Vgl. dazu G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 56–59. 169 Zur Analyse vgl. K. WENGST, Christologische Formeln (s. o. 4), 55–86. 170 Anders z. B. M. GAUKESBRINK, Sühnetradition (s. o. 6.2), 283: „Paulus formuliert und entfaltet seine Christologie, die biographisch auf das Damaskusgeschehen zurückgeht, theologisch mit der Sühneüberlieferung.“ 171 Zum Nachweis des vorpaulinischen Charakters von Röm 3,25.26a vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 68 f. 172 Ein Erklärungsmodell leitet ılastv´rion aus dem kultischen Ritual am großen Versöhnungstag ab (vgl. Lev 16; ferner Ez 43); so mit Unterschieden U. WILCKENS, Röm I (s. o. 6.2.4), 193; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 193f; W. KRAUS, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (s. o. 6.2), 150–157; M. GAUKESBRINK, Sühnetradition (s. o. 6.2), 229–245; TH. KNÖPP-
LER,
Sühne (s. o. 6.2), 113–117; C. BREYTENBACH, Art. Sühne, ThBLNT, Wuppertal/Neukirchen 2005, (1685–1691) 1691. Ein anderes Modell sieht Röm 3,25 auf dem Hintergrund von 4Makk 17,21f, wo dem Opfertod der Märtyrer Sühnekraft zugeschrieben wird; vgl. dazu E. LOHSE, Märtyrer und Gottesknecht, FRLANT 64, Göttingen 21963, 151f; J.W. VAN HENTEN, The Tradition-Historical Background of Romans 3,25: A Search for Pagan and Jewish Parallels, in: M. de Boer (Hg.), From Jesus to John (FS M. de Jonge), JSNT.S 84, Sheffield 1993, 101–128 (Analyse aller relevanten Texte mit dem Ergebnis: „that the traditional background of the formula probably consists of ideas concerning martyrdom“; a. a. O., 126); K. HAACKER, Der Brief an die Römer, ThHK 6, Leipzig 3 2006, 99 f. 173 Vgl. Vgl. H. LIETZMANN, An die Römer, HNT 8, Tübingen 51971, 49f; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 70f; G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 38–41.
Christologie 229
als Sühnemittel herausgestellt hat. Sowohl die Tradition als auch Paulus betonen die Theozentrik des Geschehens, Ausgangspunkt des Heils ist das Handeln Gottes. Hier zeigt sich eine Kontinuität in den Grundanschauungen der atl. Sühnevorstellung. Sie impliziert keineswegs ein sadistisches Bild Gottes, der für die Sünden der Menschen durch ein Opfer Genugtuung fordert. Vielmehr ist Sühne eine Setzung Gottes: „Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch für den Altar überlassen, damit es für eure Seelen Sühne schaffe. Denn das Blut ist es, das durch das Leben sühnt“ (Lev 17,11). Das alleinige Subjekt der Sühne ist Gott, der die Opfer einsetzte, um die Menschen rituell von der Sünde zu befreien, um so den Unheilszusammenhang zwischen sündiger Tat und ihren Folgen zu durchbrechen174. Zugleich sprengt bereits die vorpaulinische Tradition Röm 3,25.26a das atl. Sühneverständnis in mehrfacher Weise: Während im atl. Kult die Sühne des Opfers auf Israel beschränkt ist, gilt die Sündenvergebung universal. Der Sühnopferkult bedarf der jährlichen Wiederholung, Jesu Tod am Kreuz hingegen ist eschatologisches, endgültiges Geschehen. Was sich heilsgeschichtlich am Kreuz ereignet hat, realisiert sich für den einzelnen in der Taufe: Vergebung der früheren Sünden. Hier erst hat die Tradition ihre soteriologische Spitze, denn es geht ihr nicht nur einfach um die Proklamation des Christusgeschehens, sondern um dessen erfahrbare soteriologische Dimension: Sündenvergebung in der Taufe175. Gottes Heilshandeln in Jesus Christus kann in seiner Universalität nur geglaubt werden, wenn es in der Partikularität der eigenen Existenz erfahren wurde. Paulus nimmt die Grundaussagen der Tradition auf und erweitert sie mit dem Interpretament dia` tv˜ß pı´stewß („durch den Glauben“). Der Glaube als von Gott ermöglichte menschliche Haltung gewährt Anteil am Heilsgeschehen. Im Glauben erfährt der Mensch eine Neubestimmung, weil mit der Sündenvergebung der Taufe seine Gerechtmachung verbunden ist. Das daraus resultierende Gerechtsein wird schon in der Tradition nicht als Habitus verstanden, vielmehr als eine dem vorausgehenden göttlichen Handeln entsprechende Aufgabe. Vermag das Sühnopfermodell die theologischen Intentionen des Apostels adäquat auszudrücken? Ist speziell die Opfervorstellung geeignet, die Heilswirkung des Todes Jesu zu erfassen? Diese Fragen ergeben sich nicht nur aus neuzeitlichem Horizont, sondern vor allem aus den grundlegenden Unterschieden zwischen der atl. Sühnopfertheologie und Röm 3,25.26a176. Für den Sühnopferritus sind das Handaufstemmen des opfernden Menschen und der vom Priester zu vollziehende Blutritus konstitutiv (vgl. Lev 16,21f). Zudem erfolgt eine Identitätsübertragung auf das Tier, wodurch die Tötung des Tieres überhaupt erst zum Opfer wird. Diese grundlegenden
174 Vgl. dazu grundlegend B. JANOWSKI, Sühne als Heilsgeschehen, WMANT 55, Neukirchen 22000. 175 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 71.
176 Vgl. hierzu I. U. DALFERTH, Die soteriologische Relevanz der Kategorie des Opfers, JBTh 6 (1991), 173–194.
230 Paulus: Missionar und Denker
Elemente haben im Kreuzesgeschehen keine wirklichen Entsprechungen. Exklusiv und durchgehend hat das Kreuz Gott als Subjekt, er handelte zuvorkommend am Kreuz und bezieht den Menschen ohne jegliche Aktivität und Vorleistung in dieses Geschehen mit ein. Der Mensch muss nicht Kontakt mit den Heiligen aufnehmen, sondern Gott kommt in Jesus Christus zu den Menschen. Das Opfer steht für etwas anderes, es bedeutet und überträgt etwas, während am Kreuz Gott ganz bei sich selbst und beim Menschen ist. Der Philipperbrief-Hymnus (Phil 2,6–11) zeigt, dass – in Opferkategorien gedacht – von einem Selbstopfer Gottes gesprochen werden müsste. Dies tut Paulus aber nicht, weil das Kreuz die soteriologische Relevanz jeglichen Opferkultes aufgehoben hat. Der Opfergedanke ist somit strukturell für die paulinische Sinnwelt ungeeignet, und es dürfte kein Zufall sein, dass Paulus nur mit der Tradition Röm 3,25.26a einen Text aufnimmt, der in Sühne- und Opferkategorien denkt.
6.2.6
Versöhnung
Ein sehr leistungsstarkes christologisches Modell ist die Versöhnungsvorstellung. Das Substantiv katallagv´ („Versöhnung“: 2Kor 5,18.19; Röm 5,11; 11,15) und das Verbum katalla´ssein („versöhnen“: 1Kor 7,11; 2Kor 5,18; Röm 5,10) finden sich im Neuen Testament nur bei Paulus. Traditionsgeschichtlich dürfte sich diese Vorstellung aus der Sprache und Vorstellungswelt der hellenistischen Diplomatie herleiten177. Sowohl dialla´ssein als auch katalla´ssein bezeichnen in klassischen und hellenistischen Texten ein versöhnendes Handeln im politischen, gesellschaftlichen und familiären Bereich ohne eine religiöse oder kultische Komponente178. Semantisch muss zwischen katalla´ssein und ıla´skeshai, versöhnen und sühnen, differenziert werden, denn beide Begriffe entstammen verschiedenen Vorstellungsbereichen179. Während katalla´ssein den Vorgang zwischenmenschlicher Versöhnung beschreibt, bezeichnet ıla´skeshai einen Vorgang im sakralen Bereich. Allerdings besteht eine grundlegende Sachdifferenz zwischen dem postulierten hellenistischen Traditionshintergrund und der paulinischen Versöhnungsvorstellung: Es ist Gott selbst, der als 177 Vgl. dazu die Texte in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 450–455. 178 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 221: „Die paulinische katalla´ssein-Vorstellung und die alttestamentliche rpk-Tradition stehen in keinem traditionsgeschichtlichen Zusammenhang, der einer biblischen Theologie zugrunde gelegt werden könnte.; vgl. DERS., Art. Versöhnung, ThBLNT, Wuppertal/Neukirchen 2005, (1773–1780) 1777: „es handelt sich bei Versöhnungsterminologie nicht um eine religiöse Terminologie.“ Anders O. HOFIUS, Erwägun-
gen zur Gestalt und Herkunft des paulinischen Versöhnungsgedankens, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 1989, (1–14) 14: „Der paulinische Versöhnungsgedanke ist . . . entscheidend durch die Botschaft Deuterojesajas geprägt.“ 179 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 98f; C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne (s. o. 6.2.4), 60ff; auch P. STUHLMACHER, Theologie I, 320, gesteht jetzt zumindest eine semantische Differenzierung zu.
Christologie 231
schöpferisches Subjekt die Versöhnung gewährt; dies ist in jeder Hinsicht mehr als ein Versöhnungsangebot oder der Appell zur Versöhnung. Ausgangspunkt in 2Kor 5,18–21 ist die neue Wirklichkeit der Glaubenden und Getauften als kainv` ktı´siß en Cristw˜ (2Kor 5,17a: „Neue Schöpfung/Existenz in Christus“). Paulus lenkt den Blick auf Gott, der mit seinem Versöhnungshandeln eine Veränderung der Verhältnisse zu den Menschen ermöglichte. Die neue Beziehungsstruktur entfaltet Paulus mit der Versöhnungsvorstellung, die streng theozentrisch gedacht (V. 18a: ta` de` pa´nta ek tou˜ heou˜ = „alles aber ist aus Gott“) und christologisch (dia` Cristou˜ = „durch Christus“) begründet wird. Die Überwindung der Sünde als trennende Macht zwischen Gott und Mensch erfordert eine Initiative Gottes, denn nur er kann die Sünde beseitigen (V. 19). Innerhalb dieses Geschehens kommt dem paulinischen Apostolat eine besondere Rolle zu. Paulus benennt sie mit dem Verbum presbeu´ein (= „Gesandter/Botschafter sein“)180 in V. 20, das der hellenistischen Gesandtenterminologie zuzurechnen ist181. So wie der Gesandte eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen eines Versöhnungsvertrages spielt182, sind die Botschaft und das Amt des Apostels Teil des Versöhnungswerkes Gottes. Als berufener Apostel darf Paulus der Welt verkünden, dass Gott in Jesus Christus die Welt mit sich selbst versöhnte (V. 19). Damit schuf Gott selbst die Voraussetzung für das Amt des Paulus; der Welt nicht nur mitzuteilen, dass Versöhnung möglich ist, sondern an Christi statt zu bitten: „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (V. 20b). Als Ermöglichungsgrund dieser überraschenden Bitte führt Paulus in V. 21 die soteriologische Relevanz des Christusgeschehens an. Sünde und Gerechtigkeit werden von Gott in ein neues Verhältnis gebracht, indem Christus an unsere Stelle tritt, so dass er für uns zur Sünde und wir zur Gerechtigkeit Gottes in ihm werden. Die Parallelität der Satzglieder spricht dafür, amartı´a jeweils als ‚Sünde‘ und nicht als ‚Sühnopfer‘ zu verstehen183. Weil Christus in keiner Weise von dem Machtbereich der Sünde affiziert ist, vermag er stellvertretend für uns zur Sünde zu werden, um so unsere Eingliederung in seinen Machtbereich zu erwirken. Während Paulus in 2Kor 5 Versöhnung und Sühne nicht miteinander verbindet, führt Röm 5,1–11 die Argumentation über Gottes rechtfertigendes Handeln durch den Sühnetod Jesu in Röm 3,21ff weiter und setzt Rechtfertigung, Sühne und Versöhnung in Relation zueinander184. Die Rechtfertigung aus Glauben wird in Röm 5,1 als eine definitive, die Gegenwart des Christen bestimmende Wirklichkeit gesehen. Sie gewährt den Frieden von Gott her, der in der Gabe des Geistes Realität wurde 180 Hapaxlegomenon in den Protopaulinen; sonst nur noch Eph 6,20. 181 Vgl. dazu C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 65 f. 182 Vgl. Dio Chry, Or 38,17–18 (=NEUER WETTSTEIN II/ 1 [s. o. 4.5], 455). 183 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 136–
141; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner (s. o. 6.2), 314ff; anders P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 195; W. KRAUS, Der Tod Jesu als Sühnetod bei Paulus, ZNT 3 (1999), (20–30) 26, die einen sühnetheologischen Hintergrund sehen. 184 Zur Interpretation vgl. M. WOLTER, Rechtfertigung und zukünftiges Heil, BZNW 43, Berlin 1978.
232 Paulus: Missionar und Denker
(vgl. Röm 14,17). Als Getaufte stehen die Glaubenden in der Gnade Gottes und haben nun Zugang zu Gott (Röm 5,2). Diese Heilsgegenwart gibt der Gemeinde die Kraft, nicht nur die gegenwärtigen Bedrängnisse zu ertragen, sondern in der Geduld zu einer lebendigen Glaubenshoffnung zu gelangen. Die Existenz des Gerechtfertigten und Versöhnten ist damit gleichermaßen eine Existenz in der hlı˜yiß („Bedrängnis“), zugleich aber auch eine Existenz in der Hoffnung, die bestimmt wird von dem Blick auf das endzeitliche Handeln Gottes. Den Widersprüchlichkeiten des Lebens, den Anfechtungen der eigenen Existenz und des Glaubens, der Hoffnungslosigkeit und dem Zweifel sind die Glaubenden gerade nicht entnommen, sondern das Wesen des Glaubens zeigt sich darin, dass er die Bedrängnisse tragen und ertragen kann. Die Kraft dazu gewährt der heilige Geist, den die Glaubenden bei der Taufe erhielten, und der von dort an wirkungsmächtig das Leben der Christen bestimmt (Röm 5,5). Gottes Liebe offenbarte sich im Sterben Jesu ‚für uns‘, das Rechtfertigung des Sünders und Versöhnung mit Gott ermöglichte (Röm 5,6–8). In Röm 5,9 bezieht sich Paulus mit der Wendung en tw˜ aıÇmati autou˜ („durch sein Blut“) ausdrücklich auf Röm 3,25 zurück. Der Sühnetod des Sohnes bewirkt sowohl die Rechtfertigung als auch die Versöhnung (Röm 5,9.10). Rechtfertigung und Versöhnung benennen somit das neue Verhältnis der Menschen zu Gott, das durch die Vernichtung der Sündenmacht im Sühnetod Jesu Christi ermöglicht wurde. Durch ihn wurden die Gottlosen zu Gerechtfertigten und die Feinde Gottes zu Versöhnten. Sowohl 2Kor 5 als auch Röm 5 zeigen, dass Christi Sterben ‚für uns‘ die neue Relation zu Gott ermöglichte, die Paulus mit Versöhnung bezeichnet. Versöhnung ist bei Paulus 1) alleinige Tat Gottes 185; Gott allein ist Subjekt und Objekt der Versöhnung. Nicht die Menschen besänftigen, ermutigen oder versöhnen Gott durch irgendwelche Handlungen186, sondern die neue Beziehung zu Gott und das daraus resultierende neue Sein der Getauften, Gerechtfertigten und Versöhnten verdankt sich allein dem einmaligen und immerwährenden Handeln Gottes in Jesus Christus. 2) Die Versöhnung Gottes mit der Welt ist ein universales Friedens-Geschehen (2Kor 5,19; Röm 11,15). Sie ist weder auf Israel noch auf die Glaubenden beschränkt, vielmehr gilt sie ihrer Intention nach allen Menschen und der gesamten Schöpfung187. 3) Versöhnung vollzieht sich konkret in der Annahme der Versöhnungsbotschaft des Evangeliums. 4) Diese Annahme verändert den gesamten Menschen. Als ehemals Gott Entfremdeter hat er nun Zugang zu Gott und darf in der Kraft des Geistes leben188.
185 Treffend C. BREYTENBACH, Art. Versöhnung, 1779:
„Subjekt der Versöhnung ist Gott (2Kor 5,18f). Dies ist das theol. Novum gegenüber dem spärlich belegten ‚religiösen‘ Gebrauch in einigen wenigen hell.jüd. Texten, die die Gottheit lediglich als Objekt des versöhnenden Tuns der Menschen kennen.“ 186 Vgl. in diesem Sinn 2Makk 1,5; 7,33; 8,29; Jos, Ant 6,151; 7,153; Bell 5,415.
187 Diesen Aspekt betont E. KÄSEMANN, Erwägungen zum Stichwort Versöhnungslehre im Neuen Testament, in: Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), Tübingen 1964, 47–59. 188 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 116 f.
Christologie 233
6.2.7
Gerechtigkeit
In allen Hochkulturen und Religionen ist Gott ohne Gerechtigkeit nicht denkbar, ebensowenig jede Form von Philosophie, Recht und Religion. Diese fundamentalen Zusammenhänge bestimmen nicht nur zentrale Abschnitte des Alten Testaments, sondern auch das klassische Griechentum und den Hellenismus. Das kulturgeschichtliche Umfeld
Im Alten Testament verbinden sich mit hqds/dikaiosu´nv zentrale theologische Themen189. Elementar ist der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Recht, Gottes Gerechtigkeit ist ohne sein Eintreten für das Recht nicht vorstellbar: „Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden“ (Ps 103,6; vgl. Ps 11,7). In der Versammlung der Götter hält Jahwe Gericht über die anderen Götter und fordert: „Schafft Recht den Unterdrückten und Waisen, dem Elenden und Bedürftigen schafft Gerechtigkeit“ (Ps 82,3). Zu den grundlegenden Mahnungen gehört: „Ihr sollt beim Gericht nicht Unrecht tun . . . in Gerechtigkeit sollst du deine Nächsten richten“ (Lev 19,15). Insbesondere dem König obliegt die Aufgabe, seinem Volk Recht zu schaffen und der Bedrückung zu wehren (vgl. Jer 22,3; Ps 72,4; Spr 31,8f). Der Wirkungsbereich der Gerechtigkeit Gottes geht über das Rechtsleben hinaus, denn „wer keine falschen Eide schwört, der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils“ (Ps 24, 4f). Der Gedanke der Gerechtigkeit als segensreicher Gabe Gottes verbindet sich unmittelbar mit universalen Vorstellungen, Recht und Gerechtigkeit werden zu Elementen der Epiphanie Gottes (vgl. Ps 97,1–2.6). Auch Gottes Schöpfermacht und sein anhaltendes Eintreten für das Wohl der Schöpfung sind ein Ausdruck seiner Gerechtigkeit (vgl. Ps 33,4–6; 85,10–14), so dass Gerechtigkeit die heilvolle Weltordnung bezeichnet, die „kosmische, politische, religiöse, soziale und ethische Aspekte vereint.“190 Heil und Gerechtigkeit werden zu Synonymen des universalen Handelns Gottes, das die Völker miteinbezieht (vgl. z. B. Ps 98,2; Jes 45,8.21; 46,12f; 51,5–8). Monotheismus und Universalismus verbinden sich zu einer Geschichtssicht, in der Gottes Gerechtigkeit als Herrschaft, Gabe, Zuspruch, Macht und Rettung erscheint. Das antike Judentum ist von den tiefgreifenden Transformationen im Gefolge des babylonischen Exils geprägt. In das Zentrum der Religion treten das Erwählungsbewusstsein, die Hoffnung auf Gottes anhaltende Treue, die Tora als Heilsgabe Gottes und damit unmittelbar verbunden der Versuch, sich durch rituelle Abgrenzung von
189 Einen Überblick zu dieser Thematik vermitteln
J. SCHARBERT, Art. Gerechtigkeit, TRE 12, Berlin 1984, 404–411; H. SPIECKERMANN, Art. Rechtfertigung, TRE 28, Berlin 1997, 282–286. 190 H.H. SCHMID, Gerechtigkeit als Weltordnung,
BHTh 40, Tübingen 1968, 166. Kritisch zu dieser Konzeption z. B. F. CRÜSEMANN, Jahwes Gerechtigkeit im Alten Testament, EvTh 36 (1976), (427–450) 430 f.
234 Paulus: Missionar und Denker
den anderen Völkern neu zu definieren191. Die Selbstbindung Gottes an sein Volk findet in der Gabe der Tora ihren Ausdruck192, sie wird als Gnadengabe Gottes und als Urkunde seines Bundes verstanden (vgl. z. B. Sir 24; Jub 1,16–18). Die Tora ist weit mehr als Lebensordnung oder soziale Ordnung, denn ihre Beachtung bedeutet, in Gottes Herrschaft einzutreten, sie anzuerkennen und durchzusetzen. Toratreue als Beachtung und Respektierung des Willens Gottes ist deshalb die von Israel erwartete Antwort auf die Erwählung Gottes. Innerhalb dieses Gesamtkonzeptes ist Gerechtigkeit nicht das Resultat menschlicher Leistung, sondern Gottes Verheißung für die Menschen (vgl. Jub 22,15: „Und er erneuere seinen Bund mit dir, dass du ihm ein Volk bist zu seinem Erbteil in allen Ewigkeiten. Und er sei dir und deinem Samen Gott in Wahrheit und in Gerechtigkeit in allen Tagen der Erde“; vgl. äthHen 39,4–7; 48,1; 58,4). Speziell in Qumran verbindet sich ein vertieftes Sündenverständnis (vgl. 1QH 4,30; 1QS 11,9f) mit einem elitären Erwählungsbewusstsein und einem radikalisierten Toragehorsam (vgl. CD 20,19–21)193. Dem gnädigen Wirken der Gerechtigkeit Gottes in der Endzeit durch die Offenbarung seines Willens bei den Vorherbestimmten entspricht deren Buße ritueller und ethischer Vergehen. Dennoch bedürfen die Frommen des Erbarmens Gottes, die Gerechtigkeit Gottes ist seine Bundesund Gemeinschaftstreue, aus der die Gerechtigkeit des Menschen erwächst (vgl. 1QH 12,35–37; 1QH 1,26f; 3,21; 1QS 10,25; 11,11ff). In den Psalmen Salomos194 wird die Einsicht vermittelt, dass der Fromme durch Gottes Erbarmen Gerechtigkeit empfängt (vgl. PsSal 2,33f)195. Gott ist gerecht und er erbarmt sich derer, die sich seinem gerechten Urteil unterwerfen (PsSal 8,7). Richtschnur für Gottes Erbarmen ist das Gesetz, es liefert die Kriterien für Gottes gerechtes Urteil, in dem sich seine Gerechtigkeit zeigt. „Treu ist der Herr denen, die ihn lieben in Wahrheit, die seine Züchtigung aushalten, die in der Gerechtigkeit seiner Gebote wandeln, in dem Gesetz, das er uns auferlegte zu unserem Leben. Die Frommen des Herrn werden durch das (Gesetz) ewig leben, der Lustgarten des Herrn, die Bäume des Lebens (sind) seine Frommen“ (PsSal 14,1–3). Gerechte sind somit jene, die be191 Zum historischen Prozess vgl. J. MAIER, Zwischen
den Testamenten, NEB.AT EB 3, Würzburg 1990, 191–247; zu den theologischen Grundannahmen vgl. A. NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum,(s.o. 3.5.3), 99–329; zum Gesetzes- und Gerechtigkeitsverständnis vgl. M. LIMBECK, Die Ordnung des Heils, Düsseldorf 1971; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR. Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext, TANZ 34, Tübingen 2000, 109–165. 192 Zur Tora vgl. J. MAIER, Zwischen den Testamenten, 212 ff; ferner A. NISSEN, Gott und der Nächste, 330 ff. 193 Vgl. dazu O. BETZ, Rechtfertigung in Qumran, in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich/
W. Pöhlmann/ P. Stuhlmacher, Tübingen 1976, 17– 36; M. A. SEIFRID, Justification by Faith (s. o. 6.2), 81– 108. 194 Entstanden in der Mitte des 1. Jhs. v.Chr. in Palästina; vgl. J. SCHÜPPHAUS, Die Psalmen Salomos, ALGHJ VII, Leiden 1977, 137; S. HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos, JSHRZ IV/2, Gütersloh 1977, 59; M. WINNINGE, Sinners and the Righteous, CB.NT 26, Stockholm 1995, 12–16. 195 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit in den Psalmen Salomos und bei Paulus, in: H. Lichtenberger/ G.S. Oegema (Hg.), Jüdische Schriften in ihrem antik-jüdischen und urchristlichen Kontext, JSHRZ/ Studien 1, Gütersloh 2003, 365–375.
Christologie 235
reit sind, nach dem Gesetz zu leben und auf die Barmherzigkeit Gottes zu vertrauen. Der eigentliche Ermöglichungsgrund der Gerechtigkeit ist jedoch die Zugehörigkeit der Frommen zum erwählten Volk Gottes; das Erbarmen Gottes gegenüber den Frommen und die Leben spendende Gabe des Gesetzes sind Ausdruck und Folge der Erwählung Israels (vgl. PsSal 9,6.10; 10,4). Das Gegensatzpaar von Israel als den Gerechten und den Heiden bzw. den abtrünnigen Juden als Sünder ist die Basis des theologischen Denkens der Psalmen Salomos (vgl. PsSal 13,7–12)196. Das Gerechtsein des Frommen ist ein Statusbegriff, der ihn grundsätzlich von den Heiden unterscheidet. Zwar sündigen auch die Frommen, aber Gottes Treue und Barmherzigkeit wird durch unwissentliche Sünden keineswegs aufgehoben. Vielmehr reinigt Gott von den Sünden und treibt den reuigen Sünder so zu einem gerechten, am Gesetz orientierten Wandel (PsSal 3,6–8; 9,6.12; 10,3). Auch das klassische Griechentum und der Hellenismus sind zutiefst vom Nachdenken über die Gerechtigkeit geprägt197. Für Plato steht das Verhältnis von Gesetz und Gerechtigkeit im Mittelpunkt, denn die Gerechtigkeit ist die Norm der Gesetze . Im Mythos der Kulturentstehung sind Recht und Gesetz Voraussetzung dafür, dass alle Menschen an der Gerechtigkeit teilhaben198. Für den von Zeus unterwiesenen Gesetzgeber gilt, dass er „sein Augenmerk stets auf nichts anderes als vor allem auf die höchste Tugend richten wird, wenn er Gesetze erläßt. Diese besteht aber, wie Theognis sagt, in der Treue in Gefahren, die man auch vollkommene Gerechtigkeit nennen könnte“ (Leg I 630c). Die Gerechtigkeit steht an der Spitze der Kardinaltugenden (Resp 433d.e), denn ihr kommt als gleichermaßen sozialer und universaler Kategorie innerhalb der Ordnung der Seele und dementsprechend der Ordnung des Staates eine Schlüsselstellung zu. Aristoteles unterscheidet nicht zwischen Recht und Ethik, sondern die Gerechtigkeit als allgemeines Ordnungsprinzipg umfaßt beides (Eth Nic V 1130a: „Die Gerechtigkeit in diesem Sinn ist also nicht ein Teil der ethischen Werthaftigkeit, sondern die Werthaftigkeit in ihrem ganzen Umfang“)199. Inhaltlich definieren die Gesetze das Gerechte, denn: „Wer die Gesetze mißachtet, ist ungerecht, so hatten wir gesehen, wer sie achtet, ist gerecht. Das heißt also: alles Gesetzliche ist im weitesten Sinn etwas Gerechtes“ (Eth Nic V 1129b)200. Weil das Gesetzliche zugleich das Gerechte ist, folgt aus der Verletzung des Gesetzes die Ungerechtigkeit (vgl. Eth Nic V 1130b). Die Gerechtigkeit erwächst somit aus den Gesetzen und ist deren Wir-
196 Zur Bestimmung von ‚Sündern‘ und ‚Gerechten‘
in den Psalmen Salomos vgl. M. WINNINGE, Sinners and the Righteous, 125–136. 197 Einen Überblick vermitteln A. DIHLE, Art. Gerechtigkeit, RAC 10, Stuttgart 1978, 233–360; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR, 7–108. 198 Vgl. Prot 322c.d, wo geschildert wird, wie Hermes im Auftrag des Zeus Recht und Gesetz zu allen Menschen bringt.
199 Von großer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht in Eth Nic V 1134b–1135a: „Das Naturrecht hat überall dieselbe Kraft der Geltung und ist unabhängig von Zustimmung oder Nichtzustimmung.“ 200 Vgl. auch Plat, Symp 196b.c; Resp I 338d–339a; Gorg 489a.b; Polit 294d–295a; Leg X 889e–890a.
236 Paulus: Missionar und Denker
kung, denn das gerechte Handeln orientiert sich an den Gesetzen und schafft Gerechtigkeit. In der hellenistischen Philosophie verlagert sich der Gerechtigkeitsbegriff unter dem Eindruck einer weltweit expandierenden Kultur von der Polis auf das Individuum. Dabei werden Gerechtigkeit und Frömmigkeit teilweise zu Synonymen, ohne dass die Verbindung zum Nomos aufgehoben wird. Auch um die Zeitenwende herum bestimmt der grundlegende Zusammenhang zwischen Recht, Gerechtigkeit, Gesetzen und gelingendem Leben das Denken. Für Cicero existiert ein unverbrüchlicher Zusammenhang: „Ein Gesetz beinhaltet also die Unterscheidung von Gerechtem und Ungerechtem, es ist formuliert im Blick auf jene ursprüngliche und allen Dingen zugrundeliegende Natur, wonach sich die Gesetze der Menschen richten, die die Bösen bestrafen, die Guten verteidigen und schützen“ (Leg II 13). Gerechtigkeit ist die Tugend und wird aus Einsicht in das Wesen der Dinge befolgt (vgl. Leg I 48). Für Dion von Prusa, der als Philosoph und Rhetor die intellektuelle Elite seiner Zeit repräsentiert, gilt für die ideale Herrschaft, dass sie dem König von Zeus verliehen wurde. „Wer im Blick auf ihn nach seinem Recht und seiner Satzung das Volk gerecht und gut ordnet und regiert, wird eines guten Loses und eines glücklichen Endes teilhaftig“ (Dio Chrys, Or 1,45; vgl. 75,1). Das Gesetz gewährt sowohl der Gemeinschaft als auch dem Einzelnen die ihnen zustehende und sie schützende Gerechtigkeit (Or 75,6). Die göttliche Einheit von Gesetz und Gerechtigkeit umfasst Person und Institution, als ordnendes Weltprinzip kommt der Gerechtigkeit immer zugleich eine individuell-moralische und prinzipiell-universale Bedeutung zu. Diese Zusammenhänge ermöglichten es jüdisch-hellenistischen Denkern wie Philon von Alexandrien und Josephus, griechisches Gerechtigkeits- und Gesetzesdenken mit der jüdischen Überlieferung zu synthetisieren. Philon kombiniert die griechische Tugendlehre mit dem Dekalog, „denn jedes einzelne der zehn Gottesworte und sie alle zusammen leiten und ermahnen (uns) zu vernünftiger Einsicht, Gerechtigkeit, Gottesfurcht und dem Reigen der anderen Tugenden“ (Spec Leg IV 134). Die zahllosen jüdischen Einzelgebote können von Philon auf zwei Grundprinzipien zurückgeführt werden: „in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf Menschen das der Nächstenliebe und Gerechtigkeit“ (Spec Leg II 63; vgl. II 13.14). Die Tora unterliegt einer starken Ethisierung, die der griechisch-hellenistischen Konzentration auf den Gerechtigkeitsbegriff entspricht, ohne jedoch die universalen Aspekte aufzugeben201. Die Genese der paulinischen Rechtfertigungslehre
Der Gesamtzusammenhang Gesetz – Gerechtigkeit – Leben und damit die Gerechtigkeits- bzw. Rechtfertigungsthematik war Paulus vorgegeben. Zugleich musste er aber 201 Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Ale-
xandrien und Flavius Josephus (s. o. 3.8.1), 337 ff.
Christologie 237
neue Zuordnungen vornehmen, denn seine Christushermeneutik erforderte, die drei Schlüsselbegriffe Gesetz-Gerechtigkeit-Leben in das neue Koordinatensystem einzupassen. Lassen die Briefe eine durchgängige und in sich konsistente Rechtfertigungslehre erkennen oder müssen Differenzierungen eingeführt werden, um einem komplexen Befund gerecht zu werden? Der Befund zeigt, dass Gerechtigkeit/Rechtfertigung bei Paulus ein mehrschichtiges Phänomen ist, das ein Erklärungsmodell auf diachroner Ebene erfordert202: Innerhalb der paulinischen Theologie haftet Gerechtigkeit zuallererst an Tauftraditionen (1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 1,21f; Röm 3,25.26a; 6,3f; 4,25)203. Die rituelle Verankerung der Gerechtigkeitsthematik ist kein Zufall204, denn die Taufe ist der Ort, wo der grundlegende Statuswechsel der Christen vom Bereich der Sünde in den Bereich der Gerechtigkeit erfolgte. Die Tauftraditionen thematisieren aber nicht nur Gerechtigkeit, sondern entfalten eine in sich stimmige sakramental-ontologische Rechtfertigungslehre : In der Taufe als Ort der Partizipation am Christusgeschehen werden die Glaubenden effektiv durch die Kraft des Geistes von der Macht der Sünde getrennt und erlangen den Status der Gerechtigkeit, so dass sie im Horizont der Parusie Jesu Christi ein dem Willen Gottes entsprechendes Leben führen können. Diese Rechtfertigungslehre kann als inklusiv bezeichnet werden, weil sie ohne Ausschlusskriterien auf die Gerechtmachung des Einzelnen und seine Eingliederung in die Gemeinde zielt. Glaube, Geistgabe und Taufe konstituieren ein Gesamtereignis : In der Taufe gelangt der Glaubende in den Raum des pneumatischen Christus, konstituiert sich die persönliche Christusgemeinschaft und hat die Erlösung real begonnen, die sich in einem durch den Geist bestimmten Leben in Gerechtigkeit vollzieht205. Es ist deutlich, dass diese Rechtfertigungslehre im Kontext der Taufe sich organisch mit den tragenden Grundanschauungen der paulinischen Christologie verbindet: Transformation und Partizipation 206. Durch die Auferstehung von den Toten ist Jesus Christus in den Lebens- und Machtbereich Gottes übergegangen, und er gewährt in der Taufe durch die Gabe des Geistes den Glaubenden schon jetzt Anteil am neuen Sein. Die Glaubenden und Getauf202 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), passim; TH. SÖDING, Kriterium der Wahrheit?, in: ders. (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? (s. o. 6.2), (193–246) 211–213; U. WILCKENS, Theologie III, 131–136. 203 Vgl. G. DELLING, Die Taufe im Neuen Testament, Berlin 1963, 132; K. KERTELGE, „Rechtfertigung“ bei Paulus, NTA 3, Münster 21971, 228–249; E. LOHSE, Taufe und Rechtfertigung bei Paulus, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, 228–244; F. HAHN, Taufe und Rechtfertigung, in: J. Friedrich/W. Pöhlmann/P. Stuhlmacher (Hg.), Rechtfertigung (FS E. Käsemann), Tübingen 1976, (95–124) 104–117; U. LUZ, Art. Gerechtigkeit, EKL3 II, Göttingen 1997, 91: „Voraussetzung für die pln. Rechtfertigungslehre
war, daß die frühen Gemeinden die Taufe als Vorwegnahme von Gottes endzeitlichem Gericht und damit als reale Gerechtmachung verstanden (1Kor 6,11). . . . Die pln. Rechtfertigungslehre ist also keine Neuschöpfung, sondern sie wurzelt in der Taufinterpretation der Gemeinde“; U. WILCKENS, Theologie III, 132 f. 204 Vgl. CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 210. 205 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 100–103; H. UMBACH;, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 230–232. 206 Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation (s. u. 6.4), 122: „Justification is the result of the believers’ participation in Jesus’ resurrection life.“
238 Paulus: Missionar und Denker
ten leben als von der Sündenmacht Getrennte im vom Geist bestimmten Heilsraum des Christus, ihr neues Sein en Cristw˜ (= „in Christus“) ist umfassend bestimmt von den Lebenskräften des Auferstandenen. Als Statustransformationsritual bewirkt die Taufe nicht nur eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern der Getaufte und die Wirklichkeit selbst sind verändert207. Innerhalb dieser Konzeption hat das Gesetz weder negativ noch positiv eine Funktion, es ist kein Bestandteil der Begründungsstruktur der inklusiven Rechtfertigungslehre . Demgegenüber bestimmt die Nomologie die Argumentation der Rechtfertigungslehre des Galater-, Römer- und Philipperbriefes208. Diese Verschiebung resultiert nicht aus einem defizitären Charakter der inneren Logik der inklusiven Rechtfertigungslehre, sondern aus der aktuellen Gemeindesituation209. Die Beschneidungsforderung auch für Christen aus griechisch-römischer Tradition durch die galatischen Judaisten stellte nicht nur einen Bruch der Vereinbarungen des Apostelkonzils dar und die Erfolge der paulinischen Mission infrage, sondern sie richtete sich gegen den Grund-Satz der gesamten paulinischen Theologie: Ort des Lebens und der Gerechtigkeit ist allein Jesus Christus. Wenn das Gesetz Leben wirken könnte (so z. B. Sir 17,11LXX: „Er legte ihnen Erkenntnis vor und das Gesetz des Lebens ließ er sie erben“), dann wäre Christus umsonst gestorben. Es kann für Paulus nur eine heilsrelevante Gestalt der Endzeit geben: Jesus Christus. Wenn das Gesetz nicht mehr wie bisher als Adiaphoron angesehen wird (so 1Kor 9,20–22), sondern einen heilsrelevanten Status bekommt, dann muss seine Leistungsfähigkeit in das Zentrum der Argumentation gestellt werden. Paulus beurteilt sie negativ, denn „die Schrift hat alles unter die Sünde eingeschlossen, damit die Verheißung aus dem Glauben an Jesus Christus denen gegeben werde, die glauben“ (Gal 3,22; vgl. Röm
207 Vgl. aus kulturanthropologischer Perspektive C. GEERTZ, Dichte Beschreibung, Frankfurt 1987, 90: „Jemand, der beim Ritual in das von religiösen Vorstellungen bestimmte Bedeutungssystem ‚gesprungen‘ ist, . . . und nach Beendigung desselben wieder in die Welt des Common sense zurückkehrt, ist – mit Ausnahme der wenigen Fälle, wo die Erfahrung folgenlos bleibt – verändert. Und so wie der Betreffende verändert ist, ist auch die Welt des Common sense verändert, denn sie wird jetzt nur noch als Teil einer umfassenderen Wirklichkeit gesehen, die sie zurechtrückt und ergänzt.“ 208 Semantisch besteht hier ein klarer Zusammenhang, denn Paulus spricht nur dort ausführlich über Gerechtigkeit/Rechtfertigung, wo er auch über das Gesetz nachdenkt; vgl. dikaiosu´nv/dikaio´w 12mal im Gal; 49mal im Röm; 4mal im Phil; no´moß 32mal im Gal; 74mal im Röm; 3mal im Phil.
209 Historisch stellt die exklusive Rechtfertigungslehre des Galaterbriefes eine neue Antwort auf eine neue Situation dar. Insofern trifft die Feststellung von W. WREDE, Paulus (s. o. 6), 67, über die paulinische Rechtfertigungslehre grundsätzlich zu: „sie ist die Kampfeslehre des Paulus, nur aus seinem Lebenskampfe, seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum und Judenchristentum verständlich und nur für diese gedacht, – insofern dann freilich geschichtlich hochwichtig und für ihn selbst charakteristisch.“ Auch das berühmte Diktum ALBERT SCHWEITZERS, Mystik (s. o. 6), 220, sieht Richtiges: „Die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben ist also ein Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo bildet.“
Christologie 239
3,9.20). Es entspricht dem Willen Gottes, dass die Macht der Sünde stärker ist als das Vermögen des Gesetzes. Das Gesetz vermag die erwählungsgeschichtliche Sonderstellung Israels nicht mehr zu begründen, so dass auch die hamartiologische Differenzierung zwischen Juden und Heiden hinfällig ist, denn „aus Werken des Gesetzes wird niemand gerecht“ (Gal 2,16; vgl. Röm 3,21.28). Paulus weitet in Gal, Röm und Phil die Grundanschauungen der mit der Taufe verbundenen inklusiven Rechtfertigungslehre zu einer durch Universalismus und Antinomismus gekennzeichneten exklusiven Rechtfertigungslehre aus210. Auf soziologischer Ebene zielt sie auf die Gleichberechtigung der Christen aus den Völkern; sie sichert ihnen als Glaubende und Getaufte angesichts der judaistischen Infragestellung die uneingeschränkte Zugehörigkeit zum auserwählten Gottesvolk. Darüber hinaus wird die für die römische Gesellschaft grundlegende Kultur der Gegenseitigkeit (zwischen Menschen sowie Mensch und Göttern) grundlegend verändert, indem Paulus in radikaler Weise einen Anspruch auf Gottes Wohltaten verneint. Niemand ist vor Gott gerecht (Röm 3,23) und nur Gott allein ist gut (Röm 5,7). Zudem wird die unverdiente Gabe der göttlichen Gerechtigkeit durch einen Gekreuzigten und damit nicht mit Ehre versehenen Wohltäter übergeben. Weil niemand auf Grund seiner Rasse, seines Geschlechtes oder seines sozialen Standes einen Anspruch auf göttliche Wohltaten hat, führt Paulus eine Demokratisierung des Gnaden-Verständnisses durch. Theologisch negiert die exklusive Rechtfertigungslehre nicht nur jede soteriologische Funktion der Tora und reduziert ihre ethische Relevanz auf das Liebesgebot; sie entschränkt jegliches partikulare bzw. nationale Erwählungsbewusstsein und formuliert ein universales Gottesbild211: Jenseits von Rasse, Geschlecht und Nationalität schenkt Gott jedem Menschen im Glauben an Jesus Christus seine die Sündenmacht überwindende Gerechtigkeit. Dabei zeigt die Stellung von Gal 2,19; 3,26–28; Röm 3,25; 4,25; 6,3f, dass Paulus bewusst inklusive und exklusive Rechtfertigungslehre aufeinander bezieht. Er schützt so seine auf einer radikalisierten Anthropologie und einem universalisierten Gottesverständnis basierende exklusive Rechtfertigungslehre vor einer weltlosen Abstraktheit, indem er die Taufe als den Ort angibt, wo Gottes universales Heilshandeln in Jesus Christus in der Partikularität der eigenen Existenz erfahren werden kann. Gerechtigkeit Gottes
Diese grundlegenden Einsichten verdichten sich im theologischen Schlüsselbegriff des Römerbriefes: dikaiosu´nv heou˜ („Gerechtigkeit Gottes“). 210 Vgl. TH. SÖDING, Kriterium der Wahrheit?, 203: „Daß der Apostel die Theologie der Rechtfertigung von Anfang an in der Form des Galater- und Römerbriefes vertreten hat, muß bezweifelt werden“; vgl. ferner U. LUZ, Art. Gerechtigkeit, 91; U. WILCKENS, Theologie III, 131.
211 Vgl. A. BADIOU, Paulus. Die Begründung des Universalismus (s. o. 6), 143: „das Eine gibt es nur, wenn es für alle da ist. Der Monotheismus ist nur zu verstehen, insofern er die ganze Menschheit berücksichtigt. Ohne die Wendung an alle zerfällt das Eine und verschwindet.“
240 Paulus: Missionar und Denker
Die Bedeutung von dikaiosu´nv heou˜ ist in der neueren Forschung umstritten212. Während R. Bultmann und H. Conzelmann dikaiosu´nv heou˜ im anthropologischen Kontext als Gabe, d. h. als übereignete Glaubensgerechtigkeit verstehen (vgl. Phil 3,9)213, interpretieren E. Käsemann und P. Stuhlmacher dikaiosu´nv heou˜ als einen Paulus aus der jüdischen Apokalyptik vorgegebenen terminus technicus 214, der als Schlüsselbegriff der paulinischen Rechtfertigungslehre über deren Gesamtverständnis und letztlich über das Verständnis der paulinischen Theologie überhaupt entscheidet. Gegen Bultmann und Conzelmann wurde zu Recht eingewendet, dass eine primär am Individuum orientierte Interpretation von dikaiosu´nv heou˜ die universalen schöpfungs- und geschichtstheologischen Aspekte vernachlässigt. Aber auch gegen den Ansatz von Käsemann und Stuhlmacher sind gewichtige Einwände zu machen. Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit war Paulus zwar aus dem Alten Testament und den Schriften des antiken Judentums vorgegeben, jedoch ist dikaiosu´nv heou˜ kein aus der jüdischen Apokalyptik überkommener terminus technicus . Die Verbindung ‚Gerechtigkeit Gottes‘ findet sich in jüdischen Texten (vgl. Dtn 33,21; TestDan 6,10; 1QS 10,25; 11,12; 1QM 4,6), aber nicht als formelhafte Prägung215. Die Aussagen Qumrans über die Gerechtigkeit Gottes bieten eine Parallele zu Paulus, können aber nicht als Voraussetzung der Rechtfertigungslehre des Apostels gelten. In Qumran wurde auf der Basis eines radikalisierten Menschen- und Gottesbildes intensiv über Gerechtigkeit reflektiert, ohne dabei ‚Gerechtigkeit Gottes‘ als dominierenden terminus technicus für Gottes Recht schaffendes Handeln zu gebrauchen. Vielmehr ist gerade die Vielzahl von Formulierungen auffallend, mit denen in Qumran die menschliche und göttliche Gerechtigkeit beschrieben werden.
Der paulinische Textbefund zeigt, dass dikaiosu´nv heou˜ ein mehrdimensionaler Begriff ist. In 2Kor 5,21 dominiert der Gabecharakter von dikaiosu´nv heou˜, grammatisch liegt ein genitivus auctoris vor216. Die Glaubenden partizipieren am stellvertretenden Tod Jesu Christi und werden in der Taufe durch den Geist zu einer neuen Existenz ‚in Christus‘ überführt. Der Machtcharakter von dikaiosu´nv heou˜ wird in Röm 1,17 deutlich217, sprachlich angezeigt durch apokalu´ptetai218. Jetzt enthüllt sich Gottes endzeitlicher Heilswille, der im Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus für die Glaubenden machtvoll in Erscheinung tritt. In Röm 3,5 stehen sich im Rechtsstreit menschliche Ungerechtigkeit und Gottes Gerechtigkeit (genitivus subjecti212 Zur Forschungsgeschichte vgl. zuletzt M. A. SEIFRID,
Justification by Faith (s. o. 6.2), 1–75. 213 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 285; H. CONZELMANN, Theologie, 244. 214 Vgl. E. KÄSEMANN, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 61970, (181–193) 185; P. STUHLMACHER Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, FRLANT 87, Göttingen 2 1966, 73. 215 Vgl. zum Nachweis U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 93–96.217–219;
J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 388; M. A. SEIFRID, Justification by Faith (s. o. 6.2), 99–107. 216 Vgl. z. B. H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief, KEK VI, Göttingen 91924, 198. 217 Zur Exegese vgl. P. STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes, 78–84. 218 Treffend D. ZELLER, Der Brief an die Römer, RNT, Regensburg 1985, 43: „Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium schon jetzt (Präsens!) eschatologisch gültig angeboten.“
Christologie 241
vus ) gegenüber. Hier geht es nicht um die sich im Evangelium offenbarende Gerechtigkeit Gottes219, sondern um eine Eigenschaft Gottes, der im Gericht seine Gerechtigkeit durchsetzt und die Ungerechtigkeit der Menschen erweist. In Röm 3,21.22 erscheint dikaiosu´nv heou˜ zweimal, jedoch jeweils mit unterschiedlicher Konnotation. Als Offenbarungsbegriff ist dikaiosu´nv heou˜ in V. 21 zu lesen, Gott hat sich im Christusgeschehen als der Gerechtmachende gezeigt. In der Gerechtigkeit Gottes wird somit nicht etwas über Gott mitgeteilt, sondern in ihr vollzieht sich das Offenbarwerden Gottes. Diesen epochalen Vorgang bezeugen das Gesetz und die Propheten, das Gesetz bestätigt damit zugleich sein eigenes Ende als Quelle der Gerechtigkeit. In V. 22 bedenkt Paulus dikaiosu´nv heou˜ unter anthropologischem Aspekt. Der Glaube an Jesus Christus ist die Aneignungsform der Gerechtigkeit Gottes. Im Glauben ist Jesus die Gerechtigkeit Gottes für alle, die glauben. Erscheint die Gerechtigkeit Gottes in V. 21 als universale Macht Gottes, so dominiert in V. 22 der Charakter der Gabe. In Röm 3,25 greift Paulus geprägte Begrifflichkeit auf (s. o. 6.2.5), um die rituellen Erfahrungen der römischen Gemeinde mit seiner exklusiven Rechtfertigungslehre zu verbinden. Der genitivus subjectivus dikaiosu´nv heou˜ bezeichnet nicht einfach nur eine Eigenschaft Gottes, sondern meint die Gott eigene Gerechtigkeit, die sich universal im Kreuzesgeschehen manifestierte und sich im Erlass der früheren Sünden in der Taufe realisiert. Die universale Dimension von dikaiosu´nv heou˜ zeigt sich auch in Röm 10,3. Hier wird Israel vorgeworfen, nicht Gottes, sondern die eigene Gerechtigkeit gesucht zu haben. Das erwählte Volk verschließt sich dem in Jesus Christus geoffenbarten Willen Gottes und unterstellt sich nicht der dikaiosu´nv heou˜ (genitivus subjectivus )220. Stattdessen unternimmt Israel den aussichtslosen Versuch, mit Werken des Gesetzes gerecht werden zu wollen. Gottes Handeln gilt hier Völkern, so dass eine ausschließlich am Individuum orientierte, die kosmologische Dimension vernachlässigende Interpretation von dikaiosu´nv heou˜ dem paulinischen Textbefund nicht gerecht werden würde221. Zugleich lässt Phil 3,9 deutlich erkennen, dass eine Alternative zwischen der individuellen und kosmologischen Dimension von dikaiou´nv heou˜ ebenso verfehlt wäre. Paulus bezieht hier das rechtfertigende Handeln Gottes gänzlich auf die individuelle Existenz des Glaubenden (V. 9a: kai` eurehw˜ en autw˜ = Christus). Die Gerechtigkeit Gottes (genitivus auctoris) resultiert nicht aus dem Gesetz/der Tora, sondern wird durch den Glauben an Jesus Christus dem Menschen geschenkt. Dikaiosu´nv heou˜ ist somit je nach Kontext ein universal-forensischer Begriff (Röm 1,17; 3,5.21.25; 10,3) und eine Transfer- und Partizipialkategorie (2Kor 5,21; Röm 3,22; Phil 3,9). Gerechtigkeit Gottes benennt prägnant das Offenbarwerden sowie das Einbezogenwerden in und die Teilhabe der Glaubenden an Gottes rechtfertigendem Handeln in Jesus Christus. Die begrenzte Verwendung222, die in den überwie219 Vgl. D. ZELLER, Röm, 78 f.
221 Vgl. P. STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes, 93.
220 Vgl. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK
222 Den sieben expliziten dikaiosu´nv heou˜-Belegen (2Kor 5,21; Röm 1,17; 3,5; 3,21.22; 10,3; Phil 3,9)
VI/2, Neukirchen 1980, 220.
242 Paulus: Missionar und Denker
gend negativen Formulierungen sichtbar werdende Abgrenzungsfunktion223, die Konzentration auf den Römerbrief und die aus dem jeweiligen Kontext zu erhebende Bedeutungsvielfalt bezeugen deutlich, dass dikaiosu´nv heou˜ nicht der Schlüsselbegriff der gesamten paulinischen Theologie ist224. Paulus kann seine Theologie vollständig entfalten, ohne auf dikaiosu´nv heou˜ zurückzugreifen! Im Römerbrief fungiert ‚Gerechtigkeit Gottes‘ als theologischer Leitbegriff, weil Paulus im Gefolge der galatischen Krise und im Blick auf die Kollektenübergabe in Jerusalem seine Christologie theozentrisch profiliert, und die Gesetzesproblematik einer Lösung zuführen muss: Im Christusgeschehen erschien die von Gott ausgehende und im Glauben anzunehmende Gerechtigkeit Gottes, die allein den Menschen vor Gott rechtfertigt und somit dem Gesetz/der Tora jegliche soteriologische Bedeutung nimmt (vgl. Röm 6,14b). Der theologische Gehalt der Rechtfertigungslehre
Nimmt man die paulinischen Aussagen zu Gerechtigkeit und Rechtfertigung insgesamt in den Blick, dann zeigt sich ein Denken, das in all seinen historischen und theologischen Ausdifferenzierungen über seine Entstehungsbedingungen hinaus Systemqualität hat. Ausgangspunkt ist die innerhalb der Antike revolutionäre Einsicht, dass Gerechtigkeit wesenhaft kein Tat-, sondern ein Seinsbegriff ist. Für Aristoteles definiert sich Gerechtigkeit aus dem Handeln: „Es ist also richtig, zu sagen, daß ein Mensch gerecht wird, wenn er gerecht handelt, und besonnen, wenn er besonnen handelt.“225 Gerechtigkeit erscheint somit als die höchste menschliche Tugend, die durch das Tun gewonnen wird. Im antiken Judentum bestand unzweifelhaft die Grundüberzeugung, dass der Mensch als Sünder auf die Barmherzigkeit und Güte Gottes angewiesen ist. Die Bundesvorstellung als zentrale Ausdrucksform der Gottesbeziehung Israels basiert auf der vorgängigen Erwählung Gottes. Dennoch blieb die Heilsfrage mit der menschlichen Aktivität verbunden, insofern von Gott als dem gerechten Richter erwartet wurde, dass er sich der Gerechten (aus Israel) erbarmt und die Gesetzlosen bzw. Gesetzesbrecher bestraft (Psalmen Salomos/Qumran). Zwar kennt auch Paulus die grundlegende Differenz zwischen Israel als den Gerechten und den Heiden als Sündern (vgl. Röm 9,30), er macht sie aber nicht zur Grundlage seines Denksystems. Vielmehr bestimmt er das Verhältnis zwischen Gerechten und Sündern völlig neu: Zur Gruppe der Gerechten gehört niemand, zur Gruppe der Sünder gehören alle Menschen, Heiden wie Juden (vgl. Röm 1,16–3,20). Unter der Voraussetzung des Glaubens an Jesus Christus können dann stehen aus dem Bereich der Heilsbegriffe gegenüber: 120mal pneu˜ma, 61mal en Cristw˜ , 37mal en kurı´w, 91mal pı´stiß, 42mal pisteu´ein, 38mal dikaiosu´nv, 25mal dikaiou˜n, 27mal zwv´, 25mal elpı´ß. 223 Vgl. E. P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum (s. o. 6), 468. 224 Vgl. auch H. HÜBNER, Biblische Theologie I, 177:
„Dieser Begriff kommt allerdings in der Bedeutung, wie ihn Paulus im Röm verwendet, im übrigen Corpus Paulinum nicht vor. Gerechtigkeit Gottes ist also für Paulus der aus seiner theologischen Entwicklung erwachsene Begriff seiner Spättheologie.“ 225 Arist, Eth Nic II 1105b.
Christologie 243
Juden wie Heiden Gerechtigkeit erlangen. Das paulinische Status-Schema ist durch einen universalen Grundansatz gekennzeichnet: Alle Menschen sind ausweglos der Macht der Sünde untertan (vgl. Gal 3,22; Röm 3,9.20), d. h. der Status des Sünders kennzeichnet alle Menschen, auch wenn sie einer privilegierten Gruppe angehören und gerecht handeln. Gerechtigkeit kann nur durch den Transfer aus dem Herrschaftsbereich der Sünde in den Christus-Bereich hinein erlangt werden. Die tiefe Einsicht in die Macht der Sünde, das Bewusstsein des Angewiesenseins auf Gottes Barmherzigkeit, die Zugehörigkeit zum erwählten Volk und die Befolgung der Tora bilden in jüdischen Systemen notwendigerweise eine sich ergänzende Einheit. Gerechtigkeit wird radikal von Gott her verstanden, zugleich bleiben aber die religiösen Privilegien gegenüber den anderen Völkern bestehen. Paulus hingegen negiert jegliche religiöse Sonderstellung, denn seine Christushermeneutik lässt innerhalb des Sünden- und damit auch des Gerechtigkeitsbegriffes keinerlei Differenzierungen zu. Gerechtigkeit ist nun die Folge der neuen, durch Christus in der Taufe konstituierten Existenz. Gott gewährt eine Teilhabe an seiner Lebensmacht, indem er durch die Gabe des Geistes die Sünde vernichtet und die Existenz der Glaubenden und Getauften neu ausrichtet. Paulus vertritt einen Universalismus, der sich von der Nation, dem Land, dem Tempel und dem Gesetz als Regulativen des Gottesverhältnisses trennt. Damit verlässt er jüdisches Denken, das als national und partikular bezeichnet werden kann. Für Paulus ist Gerechtigkeit im strikten Sinn kein Tat-, sondern ein Seinsbegriff. Gottes Handeln ist jeglicher menschlicher Aktivität vorgängig, das neue Sein hat nicht Tat-, sondern Geschenkcharakter 226. Vor Gott ist der Mensch nicht die Summe seiner Taten, ist die Person unterscheidbar von ihren Werken. Kein Mensch kann aufgrund seiner Handlungen und Selbstentwürfe zureichend beurteilt werden. Nicht das Tun definiert das Menschsein, sondern allein das Verhältnis zu Gott. Der Mensch vor Gott ist ein anderer als vor sich selbst! Die Rechtfertigungslehre verbindet sich mit grundlegenden ekklesiologischen, ethischen und anthropologischen Einsichten, zuallererst und ursprünglich ist sie aber ein soteriologisches Modell mit einem identitätstheoretischen Kern: Das Subjekt weiß sich unmittelbar auf Gottes vorgängiges Tun gegründet, es konstituiert sich aus seiner Beziehung zu Gott und versteht sich als von Gott anerkannt, gehalten und erhalten. Damit ist die Rechtfertigungslehre auch die christliche Symbolisierung einer unantastbaren Menschenwürde jedes Individuums227. Bei der paulinischen Rechtfertigungslehre handelt es sich nicht nur um eine religiöse Erkenntnis, sondern auch um eine denkerische Leistung, die in ihrer bleiben226 Treffend H. WEDER, Gesetz und Sünde, in: ders.,
Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992, (323– 346) 340: „Es geht um die Frage, ob meine Wahrheit etwas ist, das zu vernehmen, wahrzunehmen, zu hören und zu glauben ist, oder aber etwas, das sich erst in dem herausstellt, was ich aus mir selbst mache.“
227 Deshalb sind die christlichen Wurzeln der Menschenrechte kein Zufall; vgl. dazu G. NOLTE/H.L. SCHREIBER (Hg.), „Der Mensch und seine Rechte“. Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2004.
244 Paulus: Missionar und Denker
den Qualität nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Gerechtigkeit als Schlüsselbegriff aller religiösen, philosophischen und politischen Systeme kann in ihrer Totalität nur empfangen und nicht hergestellt werden. Jeder menschliche Versuch, Gerechtigkeit im umfassenden Sinn zu realisieren, endete unausweichlich und folgerichtig in totalitären Systemen. Die paulinische Einsicht des Geschenkcharakters der Gerechtigkeit verwehrt hingegen von vornherein derartige Versuche und beschreibt deshalb eine Grundbedingung menschlicher Freiheit.
6.3
Pneumatologie
H. GUNKEL, Die Wirkungen des Heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus, Göttingen 31909; E. KÄSEMANN, Geist und Buchstabe, in: ders., Paulinische Perspektiven (s. o. 6), 237–285; E. Schweizer, Art. pneu˜ma, ThWNT VI, Stuttgart 1965, 413–436; I. HERMANN, Kyrios und Pneuma. Studien zur Christologie der paulinischen Hauptbriefe, StANT 2, Müchen 1961; J. S. VOS, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur paulinischen Pneumatologie, Assen 1973; G. D. FEE, God‘s Empowering Presence. The Holy Spirit in the Letters of Paul, Peabody MA 41999; P. V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie (s. u. 6.4); F. W. HORN, Das Angeld des Geistes, FRLANT 154, Göttingen 1992; DERS., Wandel im Geist, KuD 38 (1992), 149–170; S. VOLLENWEIDER, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden, ZThK 93 (1996), 163–192; F. W. HORN, Kyrios und Pneuma bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (s. o. 6.2), 59–75; M. CHRISTOPH, Pneuma und das neue Sein der Glaubenden, EHS 813, Frankfurt 2005; CHR. LANDMESSER, Der Geist und die christliche Existenz, in: U.H.J. Körtner/A. Klein (Hg.), Die Wirklichkeit des Geistes, Neukirchen 2006, 129–152.
Für Paulus sind die Einsicht und die Erfahrung grundlegend, dass mit und seit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten der Geist Gottes wieder wirkt. Die Gegenwart des Heils zeigt sich im gegenwärtigen Wirken des Geistes228. Das Pneuma fungiert bei Paulus als Inbegriff für den neuen Status des Glaubenden als geistbestimmte Existenz .
6.3.1
Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens
Die Struktur des paulinischen Denkens erschließt sich aus der internen Vernetzung der Pneumatologie mit der Theologie, Christologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik und Eschatologie229. Die integrative Kraft der Pneumatologie ermöglicht es 228 Vgl. P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus, Diss.
theol., Göttingen 1996, 180: „Die Wirkung des Geistes Gottes in der Welt setzt für Paulus nach dem Ende der Prophetie in Israel wieder ein mit dem Tod und der Auferweckung Jesu Christi.“
229 Zur integrierenden und organisierenden Funktion der Pneumatologie vgl. auch H. SCHLIER, Grundzüge paulinischer Theologie (s. o. 6), 179–194; F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 385–431; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 413–441.
Pneumatologie 245
Paulus überhaupt erst, seiner Interpretation der Jesus-Christus-Geschichte Systemqualität zu verleihen. Für die Theologie gilt: Gottes Wirklichkeit in der Welt ist Geistwirklichkeit. Im zuerst immer von Gott ausgehenden pneu˜ma (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 1,12.14; 2Kor 1,21; 5,5; Gal 4,6; Röm 5,5) erweist sich die Leben spendende Macht des Schöpfers230. Der Geist Gottes bewirkt nicht nur die Auferstehung Jesu (vgl. Röm 1,3b–4a), sondern er ist zugleich die neue Seins- und Wirkungsweise des Auferstandenen, seine dynamische und wirkungsmächtige Gegenwart (vgl. 2Kor 3,17; 1Kor 15,45). Durch das Wirken des Geistes Gottes werden die Glaubenden von den Mächten der Sünde und des Todes befreit (vgl. Röm 8,1–11). Die Christen haben einen Geist empfangen, dessen Ursprung bei Gott (vgl. 1Kor 2,12; 6,19) und Christus liegt (Röm 8,9), so dass der Geist als Subjekt höherer Ordnung nun die bestimmende Kraft christlicher Existenz ist . Das neue universale Wirken des Geistes ist für Paulus Grundlage seiner gesamten Theologie, denn das Handeln des Geistes Gottes an Jesus Christus und den Glaubenden ist das Kennzeichen der gegenwärtigen Heilszeit. Dabei bleibt die machtvolle Gottesgabe des Geistes in all ihren Wirkweisen mit ihrem Ursprung verbunden231. Innerhalb der Christologie ist das Auferstehungsgeschehen der Ausgangspunkt: Jesus Christus wurde durch den Geist Gottes von den Toten auferweckt (vgl. Röm 1,3b–4a; ferner Röm 6,4; 2Kor 13,4), und das Wirken des Geistes Gottes begründet Jesu Christi endzeitliche Sonderstellung. Aus der einzigartigen Beziehung zu Gott speist sich das Sein und das Wirken des Erhöhten als Pneuma. Der Geist ist auch eine christologische Bestimmung, denn Christus und der Geist entsprechen sich (vgl. 2Kor 3,17a: o de` ku´rioß to` pneu˜ma´ estin = „Der Herr aber ist der Geist“)232. Diese programmatische Aussage erläutert V. 16, wobei die Identifizierung233 von ku´rioß und pneu˜ma nicht als statische Gleichsetzung, sondern als Beschreibung der dynamischen Präsenz des erhöhten Herrn zu verstehen ist. Sogar dem Präexistenten kommt das Attribut des Pneumas zu (1Kor 10,4). Die Verbindung zwischen dem Geist und Christus ist so eng, dass es für Paulus unmöglich ist, das eine ohne das andere zu haben (vgl. Röm 8,9b: „Wenn aber einer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm“). Seit der Auferstehung steht Jesus Christus als Pneuma und im Pneuma mit den Seinen in Verbindung. Der erhöhte Christus wirkt als pneu˜ma zwopoiou˜n (1Kor 15,45)234 und verleiht den Seinen das sw˜ma pneumatiko´n (1Kor 15,44)235. Das Pneu-
230 Vgl. F. W. HORN, Kyrios und Pneuma (s. o. 6.3),
59. 231 Vgl. dazu grundlegend W. THÜSING, Per Christum in Deum (s. o. 6.2), 152–163. 232 Anders F. W. HORN, Kyrios und Pneuma (s. o. 6.3), 66 f. 233 So treffend I. HERMANN, Kyrios und Pneuma (s. o. 6.3), 48 ff. 234 Der Begriff pneu˜ma zwopoiou˜n begegnet nur im
Neuen Testament; vgl. F.W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 197f; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 261. 1Kor 15,46 zeigt, dass Paulus anti-enthusiastisch argumentiert und den Geistbegriff bewusst an den Erhöhten bindet. 235 Treffend formuliert J. S. VOS, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen (s. o. 6.3), 81: „Als eschatologischer Adam ist Christus sowohl in seiner Substanz als auch in seiner Funktion Pneuma. Als Pneuma er-
246 Paulus: Missionar und Denker
ma des Kyrios bewegt und gestaltet das Leben der Glaubenden (vgl. Phil 1,19). Sie werden Teil seines Leibes, die Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn ist eine Gemeinschaft im Geist (1Kor 6,17: „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm“). Durch den Empfang des Geistes Gottes (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 2,12; 2Kor 1,22; 11,4; Gal 3,2.14; Röm 5,5; 8,15) befinden sich die Glaubenden und Getauften bereits jetzt umfassend im Bereich der Christus-Communitas und damit im Heil . Weil Christus und die Seinen auf die Seite des Geistes gehören, unterliegen sie nicht dem Machtbereich des Fleisches, der Sünde und des Todes. Dem noch ausstehenden Gericht können sie in dem Bewusstsein entgegengehen, dass die Geistgabe Unterpfand des noch Ausstehenden ist (vgl. 2Kor 1,22; 5,5), Zukunft und Gegenwart verschränken sich somit im rettenden Wirken des Geistes. Für die Anthropologie gilt: Die Glaubenden und Getauften erfahren durch die Gabe des Geistes Gottes bzw. Christi eine neue Bestimmung, denn der Geist schafft und erhält das neue Sein. Als Beginn der Christusgemeinschaft markiert der Empfang des Geistes in der Taufe (vgl. 1Kor 6,11; 10,4; 12,13; 2Kor 1,21f; Gal 4,6; Röm 8,14) den Beginn der Teilhabe am Heilsgeschehen. In der Taufe gelangt der Christ in den Raum des pneumatischen Christus, zugleich wirken der Erhöhte (vgl. Gal 2,20; 4,19; 2Kor 11,10; 13,5; Röm 8,10) und der Geist (vgl. 1Kor 3,16; 6,19; Röm 8,9.11) im Gläubigen. Die Korrespondenz-Aussagen benennen einen für Paulus fundamentalen Sachverhalt236: So wie der Glaubende im Geist Christus eingegliedert ist, so wohnt Christus in ihm als pneu˜ma. Die pneumatische Existenz erscheint als Folge und Wirkung des Taufgeschehens, das wiederum als Heilsgeschehen ein Geschehen in der Kraft des Geistes ist. Damit kennzeichnet Paulus einen grundlegenden anthropologischen Wandel, denn das Leben des Christen hat eine entscheidende Wende genommen: Als vom Geist Bestimmter lebt er in der Sphäre des Geistes und richtet sich auf das Wirken des Geistes aus (vgl. Röm 8,5– 11)237. Es gibt nur ein Leben nach ‚Maßgabe des Fleisches‘ (kata` sa´rka) oder nach ‚Maßgabe des Geistes‘ (kata` pneu˜ma). Der Geist hat auch eine noetische Funktion238, denn allein der Geist Gottes ermöglicht und gewährt die Einsicht in Gottes Heilsplan: „Wir haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der von Gott ist, damit wir das verstehen, was uns von Gott geschenkt wurde“ (1Kor 2,12). Das neue Sein vollzieht sich im Einklang mit dem Geist, der als Grund und Norm des neuen Handelns erscheint (vgl. Gal 5,25; ferner 1Kor 5,7; Röm 6,2.12; Phil schafft Christus die Seinen nach seinem Bilde, und das heißt: er verwandelt sie in seine pneumatische Wesensart.“ 236 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 120–122; S. VOLLENWEIDER, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden (s. o. 6.3), 169–172. 237 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 227 f.
238 Vgl. dazu als pagane Parallele Cic, Tusc 5,70, wo nach einer Aufzählung der Freuden des Weisen gesagt wird: „Wenn man dies in seinem Geist bedenkt und Tag und Nacht überlegt, entsteht jene vom Gott in Delphi geforderte Erkenntnis, dass der Geist sich selbst erkennen und sich mit dem göttlichen Geist verbunden fühlen soll und dadurch von unermesslicher Freude erfüllt wird.“
Pneumatologie 247
2,12f), d. h. auch die Ethik ist pneumatologisch fundiert. Die Christen sind in das vom Geist bestimmte Leben eingegangen, so sollen sie sich nun auch vom Geist leiten lassen. Der Geist ist die Kraft und das Prinzip des neuen Lebens, fassungslos fragt Paulus deshalb die Galater: „Habt ihr den Geist empfangen aufgrund von Werken des Gesetzes oder aus dem Hören der Glaubenspredigt?“ (Gal 3,2). Zugleich ist deutlich: Es gibt keinen neuen Wandel ohne ein neues Handeln! Der sich verschenkende Geist will ergriffen sein. Gerade weil der Geist den Glaubenden und Getauften in die Sphäre Gottes und den Bereich der Gemeinde eingliedert, befindet er sich nicht mehr im Vakuum eines herrschaftsfreien Raumes, sondern steht unter der Forderung des durch den Geist ermöglichten neuen Gehorsams239. Die ‚Neuheit des Lebens‘ (Röm 6,4) vollzieht sich in der ‚Neuheit des Geistes‘ (Röm 7,6). Schließlich verbürgt der Geist als arrabw´n („Angeld/Unterpfand“, vgl. 2Kor 1,22; 5,5) und aparcv´ („Erstlingsgabe“, vgl. Röm 8,23) innerhalb der Eschatologie die Gewissheit auf Gottes endzeitliche Treue. Er gewährt den Übergang in die postmortale pneumatische Existenzweise der Glaubenden (vgl. 1Kor 15, 44.45) und schenkt das ewige Leben (Gal 6,8: „Wer aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten“). Innerhalb dieses Geschehens tritt der Geist sogar der betenden Kreatur an die Seite und vertritt die Heiligen vor Gott (vgl. Röm 8,26f)240. Schließlich: Nicht nur die individuelle Existenz, sondern die gesamte Schöpfung wird durch Gott in ein neues Sein überführt. Schöpfung und Menschheit haben nicht nur denselben Ursprung, sondern ihr Geschick wird auch in Zukunft miteinander verschränkt sein. Protologie und Eschatologie, Universal- und Individualgeschichte entsprechen sich bei Paulus, weil Gott der Anfang und das Ziel alles Seienden ist (vgl. Röm 8,18ff)241. Von Gott kommt alles her, durch ihn hat alles Bestand und auf ihn läuft alles zu. Der in der Taufe verliehene und im Christen wohnende Geist Gottes erscheint als das Kontinuum göttlicher Lebensmacht . Was Gott an Christus vollzog, wird er durch den Geist auch den Glaubenden zuteil werden lassen (vgl. Röm 8,11).
6.3.2
Die Gaben des Geistes
Der Geist gewährt Gaben und wirkt aktuell in den Gemeinden. Alle Glaubenden und Getauften sind durch die grundlegenden Gaben des Geistes beschenkt. Es gehört zu den Wesensmerkmalen des Geistes, dass er Freiheit gewährt (s. u. 6.5.5) und schafft (2Kor 3,17b: „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“). Allein das Lebens-
239 Diesen Aspekt betont durchgängig E. KÄSEMANN
(vgl. z. B. DERS., An die Römer, HNT 8a, Tübingen 4 1980, 26: „Denn der Apostel kennt keine Gabe, die uns nicht fordernd in Verantwortung stellt, sich uns gegenüber also als Macht erweist und uns Raum zum Dienst schafft“).
240 Zur Auslegung vgl. F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 294–297. 241 Vgl. P. V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 (s. u. 6.4), 319 f.
248 Paulus: Missionar und Denker
prinzip des Geistes befreit die Glaubenden und Getauften von den versklavenden Mächten des Gesetzes, der Sünde und des Todes (Röm 8,2). Als nach dem Geist Gezeugte gehören die Christusgläubigen nicht in den Bereich der Knechtschaft, sondern der Freiheit (vgl. Gal 4,21–31). Das neue Verhältnis zu Gott und Jesus Christus durch die Gabe des Geistes begründet den Status der Sohnschaft (Röm 8,15: „Ihr habt nämlich nicht den Geist der Sklaverei empfangen, so dass ihr euch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, in dem wir rufen: Abba, Vater“). Als Söhne sind die Glaubenden sowohl im Leiden als auch in der Herrlichkeit Miterben (vgl. Röm 8,17; Gal 4,6f). Die Kraft der Liebe bestimmt nun das Leben der Christen, „denn die Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5b). Zu den Früchten des Geistes zählt zuallererst die Liebe (vgl. Gal 5,22); sie geht von Gott aus, gewinnt in Christus Gestalt und schenkt den Menschen Hoffnung (vgl. Röm 5,5a). Die Liebe ist der Grund der Hoffnung, weil Jesu Christi Geschick die Verkörperung der Liebe ist. Die Teilhabe an diesem Geschick macht die Christen gewiss, dass Gottes Lebensmacht über den Tod hinaus an ihnen wirksam bleibt, und lässt sie auf den Gott hoffen, „der die Toten auferweckt“ (2Kor 1,9). Ohne die Liebe sind alle Lebensäußerungen des Menschen nichtig, denn sie bleiben hinter der neuen Wirklichkeit Gottes zurück242. Die Liebe ist das Gegenteil von Individualismus und Egoismus, sie sucht nicht das Ihre, sondern offenbart ihr Wesen gerade im Ertragen des Bösen und im Tun des Guten. Nicht zufällig steht 1Kor 13 zwischen den von der Gefahr des Missbrauches der Charismen geprägten Kap. 12 und 14243. Paulus verdeutlicht, dass selbst die außergewöhnlichsten Charismen nichts nützen, wenn sie nicht von der Liebe durchströmt werden. Wenn die Charismen einmal vergehen und die Erkenntnis aufhört, bleibt die Liebe, die den Glauben und die Hoffnung überragt, weil sie der vollkommenste Ausdruck des Wesens Gottes ist. Die Liebe als erste und größte Gabe des Geistes bildet auch das Kriterium für die aktuellen Wirkungen des Geistes244. Weil Jesus Christus die Verkörperung der Liebe Gottes ist245, bindet Paulus die Frage nach der Geltung der Geistwirkungen an ein sachgemäßes Verstehen des Christus (vgl. 1Kor 12,1–3)246. Indem die Gemeinde sich 242 Treffend H. WEDER, Die Energie des Evangeliums,
ZThK (Beiheft 9), Tübingen 1995, 95, wonach die Liebe eine Wirklichkeit hat, „die nicht durch die Liebenden geschaffen wird, sondern die umgekehrt die Liebenden trägt.“ 243 Zur Stellung des Kapitels im Kontext und zur Analyse vgl. O. WISCHMEYER, Der höchste Weg, StNT 13, Gütersloh 1981; TH. SÖDING, Liebesgebot (s. u. 6.6), 127–146; F. VOSS, Das Wort vom Kreuz (s. o. 6.2), 239–271. 244 Zur Argumentation in 1Kor 12–14 vgl. ausführlich U. BROCKHAUS, Charisma und Amt (s. u. 6.7),
156–192; O. WISCHMEYER, Der höchste Weg, 27–38; CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 282–348; W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/3, Neukirchen 1999, 108ff; A. LINDEMANN, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/1, Tübingen 2000, 261–316. 245 Vgl. G. BORNKAMM, Der köstlichere Weg, in: ders., Das Ende des Gesetzes, BEvTh 16, München 1963, 110: „die aga´pv verhält sich zu der Mannigfaltigkeit der carı´smata wie der Christus zu den vielen Gliedern seines Leibes“. 246 Zu 1Kor 12,1–3 vgl. M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein (s. u. 6.6), 211–215.
Pneumatologie 249
im Gottesdienst durch die Akklamation Ku´rioß LIvsou˜ß zum Gekreuzigten und Auferstandenen bekennt, orientiert sie sich am Weg der Liebe des Jesus von Nazareth. Paulus ruft speziell den Korinthern diesen fundamentalen Sachverhalt in Erinnerung, wenn er auf den Ursprung des Geistes in und bei Gott verweist. Gott ist der letzte Urheber aller Wirkungen und der Geber aller Geistesgaben in ihren verschiedenen Wirkungen (vgl. 1Kor 12,6b: „Es ist ein und derselbe Gott, der alles in allem wirkt“; vgl. 1Kor 1,4; 7,7; 12,28–30), so dass eine anthropologische Vereinnahmung des Geistes dessen Wirkungen nicht potenziert, sondern zum Verstummen bringt. Die Einsicht in die Einheit und Unteilbarkeit des Geistes führt zu einem Handeln, das sich im Einklang mit dem schöpferischen Wirken des Geistes weiß. Den Geschenkcharakter und die Unverfügbarkeit des Geistwirkens betont Paulus auch mit dem synonymen Gebrauch von pneumatika´ und carı´smata in 1Kor 12,1 und 12,4; der Geist ist die Macht der Gnade, und das ca´risma erwächst aus der ca´riß (vgl. Röm 12,6). Die unauflösliche Bindung des Geistwirkens an die Liebe unterstreicht Paulus durch die Bestimmung der Gemeinde als sw˜ma Cristou˜ („Leib Christi“). Der Leib als von Christus geschaffener Daseinsraum verpflichtet die einzelnen Leiber zu einem Sein und Handeln, das allein der Liebe verpflichtet ist (s. u. 6.7.1/6.7.2)247. Deshalb müssen sich die Vielfalt der Wirkungen und die Einheit der Gemeinde entsprechen, denn beide haben den gleichen Ursprung: Gottes Liebe durch den Sohn in der Kraft des Geistes . Der Geist vollbringt, was der Gemeinde nützt und zu ihrem Aufbau führt, so dass nicht die individuelle Selbstdarstellung des Einzelnen, sondern nur der „Aufbau“ (oikodomv´) der gesamten Gemeinde dem Wirken des Geistes entspricht (vgl. 1Kor 14,3.5.26). Alle Charismen müssen sich an dem Grundsatz messen lassen: pa´nta pro`ß oikodomv`n gine´shw (1Kor 14,26: „Alles geschehe zum Aufbau“).
6.3.3
Vater, Sohn und Geist
Paulus vertritt keine in ontologischen Kategorien denkende und am Personbegriff fixierte Trinitätslehre 248. Allerdings finden sich Wendungen und Vorstellungen, die ansatzweise das Verhältnis von Vater, Sohn und Geist bestimmen. Ausgangspunkt ist ein theozentrischer Grundzug in der paulinischen Theologie: Von Gott kommt alles her und auf ihn läuft alles zu. Auch Christus und der Geist werden von Paulus klar unterschieden und abgestuft. Nur von Christus wird gesagt, dass er der Sohn Gottes ist (vgl. Gal 4,4; Röm 1,3) und für unsere Sünden starb, um das Heil zu erwerben (vgl. 1Kor 15,3ff; 2Kor 5,15; Röm 5,8)249. Auf der Grundlage dieser Vorordnung von
247 Vgl. M. PFEIFFER, a. a. O., 221 ff. 248 Vgl. dazu G. D. FEE, God‘s Empowering Presence
(s. o. 6.3), 829–842, zurückhaltender in der Analyse der triadischen Wendung 2Kor 13,13 (vgl. Gal 6,18;
Phil 2,1; Phlm 25) ist F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 415–417. 249 Treffend H. SCHLIER, Der Brief an die Galater, KEK VII, Göttingen 51971, 249: „Das Pneuma ist freilich
250 Paulus: Missionar und Denker
Theo logie und Christologie lässt sich die interne Vernetzung mit der Pneumatologie beschreiben: Der Geist bezeugt und repräsentiert das von Gott gewollte und im Christusgeschehen erwirkte Heil (Röm 8,9); er benennt, vergegenwärtigt und bestimmt machtvoll das neue Sein. Der Geist kommt von Gott her und ist in seinem Wirken auf Jesus Christus bezogen. Er führt als Kraft Gottes zum Glauben an Jesus Christus (vgl. 1Kor 2,4f), ermöglicht das Bekenntnis zum Kyrios (vgl. 1Kor 12,3) und vollzieht die Heiligung (vgl. 1Kor 6,11; Röm 15,16). Der Geist bezeugt den neuen Status der Sohnschaft (vgl. Gal 4,4ff), gießt die Liebe Gottes in die Herzen der Glaubenden (vgl. Röm 5,5) und bewirkt schließlich die Verwandlung zur endzeitlichen Doxa (vgl. 1Kor 15,44f; Röm 8,18ff). Die grundlegende Bezogenheit auf Gott und Jesus Christus schließt allerdings bei Paulus eine Eigenständigkeit des Geistes nicht aus. Mit den Kategorien der Unterordnung, Zuordnung oder Identität lässt sich die Beziehung zu Gott und Jesus Christus nicht hinreichend beschreiben, denn der Geist hat auch eine eigene personale Wirklichkeit (1Kor 12,11: „Dies alles wirkt aber der eine selbe Geist und teilt jedem das Seine zu, wie er will“). Der Geist erscheint bei Paulus nicht als eigenständige Person, wohl aber wird er personal gedacht. Der Geist führt zum Vater, denn er lehrt die Glaubenden, Abba zu sagen (vgl. Röm 8,15); er vertritt die Heiligen vor Gott (vgl. Röm 8,16.27)250 und erforscht sogar die Tiefen Gottes (vgl. 1Kor 2,10). Obwohl der Geist einzig als Potenz Gottes wirkt und in seinem Handeln auf Gott und den Kyrios ausgerichtet ist, kommt ihm eine personale Dimension zu. Im Hinblick auf die Glaubenden eröffnet der Geist Dimensionen, die die Vernunft nicht zu geben vermag und bewirkt insofern auch eine Selbstaufkärung und Veredelung der Vernunft. Die interne Vernetzung von Theo logie, Christologie und Pneumatologie bildet das Kraftfeld des paulinischen Denkens und lässt sich so beschreiben: Das Pneuma ist Gott und Christus zugeordnet, indem Christus durch Gottes Geist zu einem Leben spendenden Pneuma wird . Das Pneuma kommt aus Gott und verbindet die Glaubenden und Getauften durch Christus mit Gott. Somit verknüpft der Gedanke der rettenden göttlichen Lebensmacht die drei grundlegenden Bereiche des paulinischen Denkens.
6.4
Soteriologie
(Vgl. auch die Literatur zu 4/6/6.2/6.3)
G. THEISSEN, Soteriologische Symbolik in den paulinischen Schriften, KuD 20 (1974), 282–304; P. V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie, FRLANT 112, Göttingen 1975; G. HAUBECK, Loskauf durch Christus, Gießen 1985; D. ZELLER, Charis bei Philon und Paulus, nicht eine mit dem Dasein selbst gegebene, sondern die mit Christus über das Dasein gekommene Macht Christi selbst, ist Christus in der Macht seiner uns angehenden Gegenwart.“
250 Vgl. dazu F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o.
6.3), 418–422.
Soteriologie 251
SBS 142, Stuttgart 1990; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner. Paulus als Mittler im Heilsvorgang, TANZ 10, Tübingen 1993; U. SCHNELLE, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47 (2001), 58–75; D.G. POWERS, Salvation through Participation, Leiden 2001; J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace in it’s Graeco-Roman Context, WUNT 2.172, Tübingen 2003; CHR. SCHLUEP, Der Ort des Glaubens. Soteriologische Metaphern bei Paulus als Lebensregeln, Zürich 2005; J.G. VAN DER WATT (Hg.), Salvation in the New Testament. Perspectives on Soteriology, NT.S 121, Leiden 2005.
Gottes rettendes und erlösendes Handeln in Jesus Christus ist der Ausgangspunkt des paulinischen Denkens (s. o. 6.1/6.2/6.3), so dass es durchgängig soteriologisch ausgerichtet ist. In der Teilhabe an Gottes rettendem/erlösenden Handeln erfolgt die Rettung/Erlösung der Glaubenden. Die Rettung erfolgt ‚auf Hoffnung hin‘ (Röm 8,24) und gründet im pro nobis der Liebe Gottes zu den Menschen (Röm 8,31–39). Die noch ausstehende Vollendung des Heils schmälerte aber in keiner Weise die Überzeugung, dass der Transfer in das neue Sein bereits wirkungsmächtig begonnen hat, denn das bereits Geschehene und nicht das Ausstehende ist der entscheidende Inhalt des paulinischen Evangeliums. Paulus geht es um das Jetzt des Heils, denn: „Siehe, jetzt (nu˜n) ist die angehme Zeit, jetzt (nu˜n) ist der Tag der Rettung“ (2Kor 6,2b). Eine neue Zeit ist angebrochen, Paulus beschreibt und interpretiert diese Realität wiederum mit verschiedenen Metaphern: Die Gegenwart ist die Zeit der Gnade und der Rettung, die Teilhabe an Christus verändert Sein und Zeit.
6.4.1
Das neue Sein ,mit Christus‘ / ,in Christus‘
So wie Jesus Christus durch Auferstehung und Wiederkunft den Ausgangs- und Endpunkt des Heilsgeschehens markiert, bestimmt er auch umfassend das Leben der Glaubenden in der dazwischen liegenden Zeit. Der Gedanke der Teilhabe am Heil verbindet sich bei Paulus zuallererst mit den Vorstellungen des su`n Cristw˜ - („mit Christus“) und en Cristw˜ eınai („in Christus sein“). Mit Christus
Die Wendung su`n Cristw˜ bzw. die su´n-Komposita251 beschreiben vornehmlich den Eintritt in das Heil und den Übergang in die endgültige Christusgemeinschaft. In Röm 6 zeigt sich der partizipative Grundzug der paulinischen Theologie semantisch in der ungewöhnlichen Häufung von su´n (Röm 6,8) bzw. Komposita mit su´n (Röm 6,4.5.6.8). Der Wandel zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes hat bereits begonnen, nicht nur als veränderte Weltwahrnehmung, sondern im realen Sinn, denn 251 Vgl. hierzu P. SIBER, Mit Christus leben. Eine Stu-
die zur paulinischen Auferstehungshoffnung (s.u. 6.8).
252 Paulus: Missionar und Denker
in der Taufe wird der Glaubende in das somatische Geschick Jesu Christi miteinbezogen. In der Taufe sind gleichermaßen Jesu Tod und die Kräfte seiner Auferstehung präsent, so dass der Taufvollzug als ein sakramentales Nacherleben des gegenwärtigen Todes Jesu und ein Einbezogenwerden in die Auferstehungswirklichkeit verstanden werden muss. Die Kräfte der Auferstehung wirken auch im Herrenmahl, warnt Paulus die Korinther: „Wer isst und trinkt, zieht sich selbst durch sein Essen und Trinken das Strafurteil zu, wenn er nicht den Leib (des Herrn) unterscheidet. Deshalb gibt es unter euch so viele Schwache und Kranke, und viele sind schon entschlafen“ (1Kor 11,29.30). Die im Sakrament gegenwärtigen Kräfte können bei unwürdigem Verhalten das Gericht Gottes vollziehen. Die Auferstehungswirklichkeit durchdringt die gesamte Existenz der Glaubenden und bestimmt ihr neues Sein in Gegenwart und Zukunft. Jesus Christus ist für die Berufenen gestorben, damit sie mit ihm leben (1Thess 4,17: su`n kurı´w eso´meha; 5,10: su`n autw˜ zv´swmen). Gott wird an den Gliedern der Endzeitgemeinde ebenso handeln wie an Jesus Christus (vgl. 2Kor 4,14). Paulus sieht die Christen im Status der Sohnschaft (vgl. Gal 3,26; 4,6f; Röm 8,16), sie haben Christus angezogen (Gal 3,27; Röm 13,14), so dass Christus in ihnen Gestalt gewinnt (Gal 4,19). Als Erben der Verheißung (vgl. klvronomı´a in Gal 3,18; klvrono´moß in Gal 3,29; 4,1.7; Röm 4,13.14; ferner 1Kor 6,9.10; 15,50) haben sie bereits jetzt Teil an Gottes Heilswirken, sie befinden sich im Status der Kindschaft und der Freiheit (Gal 5,21). Die Glaubenden sind sowohl im Leiden als auch in der Herrlichkeit Miterben Christi (Röm 8,17: sugklvrono´moi Cristou˜), dazu bestimmt, dem Bild des Sohnes Gottes gleichgestaltet zu werden (Röm 8,29). Bis in die körperlichen Leiden hinein durchdringt die Auferstehungswirklichkeit die Existenz der Christen (vgl. 2Kor 4,10f; 6,9f). Am Ende seines Lebens sehnt sich Paulus nach der ungebrochenen und immerwährenden Gemeinschaft mit Christus (Phil 1,23: su`n Cristw˜ eınai). Er will gleichermaßen teilhaben an der Kraft der Auferstehung und den Leiden Christi, „um gleichgestaltet zu werden seinem Tod, damit ich zur Auferstehung von den Toten gelange“ (Phil 3,10f). Jesus Christus wird den gegenwärtigen nichtigen Leib dem Leib seiner Herrlichkeit gleichgestalten, denn er hat die Kraft (ene´rgeia) „dass er sich auch das All unterwerfen kann“ (Phil 3,21). Bereits jetzt sind die Christen in ein Kraftfeld eingespannt, das sie wirkungsmächtig über den Tod hinaus bestimmt. In Christus
Den Raum des neuen Lebens zwischen Heilsbeginn und Heilsvollendung bezeichnet Paulus mit eınai en Cristw˜ („in Christus sein“). Diese Wendung ist weitaus mehr als eine ‚Formel‘, sie hat als das Kontinuum seiner Theologie zu gelten252. Schon der äu252 Zu en Cristw ˜ vgl. A. DEISSMANN, Die neutesta-
mentliche Formel ‚in Christo Jesu‘, Marburg 1892; F. BÜCHSEL, ‚In Christus‘ bei Paulus, ZNW 42 (1949),
141–158; F. NEUGEBAUER, In Christus, Göttingen 1961; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 106–123.225–235; M. A. SEIFRID, Art.
Soteriologie 253
ßere Befund ist signifikant: In allen Paulusbriefen ist en Cristw˜ LIvsou˜ mit Nebenformen 64mal und die davon abgeleitete Wendung en kurı´w 37mal belegt253. Paulus ist nicht der Schöpfer der Wendung en Cristw˜ , wie die vorpaulinischen Tauftraditionen 1Kor 1,30; 2Kor 5,17 und Gal 3,26–28 zeigen254. Zugleich kann er aber als der eigentliche Träger dieser Vorstellung gelten, die bei ihm nicht nur zur prägnanten Kurzdefinition des Christseins wird, sondern als „ekklesiologische Wesensaussage“255 verstanden werden muss. In seiner Grundbedeutung ist en Cristw˜ lokal-seinshaft zu verstehen256: Durch die Taufe gelangt der Glaubende in den Raum des pneumatischen Christus und konstituiert sich die neue Existenz in der Verleihung des Geistes als Angeld auf die in der Gegenwart real beginnende und in der Zukunft sich vollendende Erlösung. Der Mensch wird aus seiner Selbstlokalisierung herausgerissen und und findet sein Selbst in der Christus-Beziehung. Das lokal-seinshafte Grundverständnis von en Cristw˜ dominiert in 1Thess 4,16; 1Kor 1,30; 15,18.22; 2Kor 5,17; Gal 2,17; 3,26–28; 5,6; Röm 3,24; 6,11.23; 8,1; 12,5. Die Vielfalt und die Vielschichtigkeit der en Cristw˜ -Aussagen sowie das Nebeneinander verschiedener Bedeutungsinhalte lassen sich aus dieser räumlichen Grundvorstellung ableiten257. Mit en Cristw˜ verbinden sich bei Paulus vertikale und horizontale Bereiche258: Aus der Gemeinschaft mit Christus (vgl. Gal 3,27) erwächst die neue communitas der Glaubenden und Getauften, die nun grundlegenden geschlechtlichen, rassischen und nationalen Alternativen enthoben sind (vgl. Gal 3,28; 1Kor 12,13). Somit erscheint en Cristw˜ als der Raum, in dem sich seinshafte Veränderungen vollziehen und gelebt werden. Die Getauften sind in allen Lebensäußerungen durch Christus bestimmt, und in ihrer Gemeinschaft gewinnt das neue Sein sichtbar Gestalt. Die Welt wird nicht nur für verändert erklärt, sondern sie hat sich wirklich verändert, weil die Auferstehungskräfte durch die Gabe des Geistes bereits in der Gegenwart wirken.
In Christ, in: Dictionary of Paul and his Letters, hg. v. G.F. Hawthorne/R.P. Martin, 433–436; J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament (s. u. 6.7), 86–99; L. KLEHN, Die Verwendung von en Cristw˜ bei Paulus, BN 74 (1994), 66–79; G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, 125–132; J. GNILKA, Paulus (s. o. 6), 255–260; CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 189–211. 253 Vgl. L. KLEHN, Verwendung, 68. 254 Vgl. ferner 2Kor 5,21b; Gal 2,17; 5,6; Röm 6,11; 3,24; 6,23; 8,1; 12,5. 255 H. HÜBNER, Die paulinische Rechtfertigungstheologie als ökumenisch-hermeneutisches Problem, in: Th. Söding (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? (s. o. 6.2), (76–105) 91.
256 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 109–117; M.A. SEIFRID, Art. In Christ, 433f; H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 220f; CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 191 f. 257 Vgl. A. OEPKE, Art. en, ThWNT II, Stuttgart 1935, 538: „Aus dieser lokalen Grundvorstellung läßt sich die gesamte Prägnanz der Formel en Cristw˜ LIvsou˜ und ihrer Parallelformen ableiten“; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 117– 122; L. KLEHN, Verwendung, 77. 258 CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 193ff, spricht von einer vertikalen und horizontalen Christuscommunitas.
254 Paulus: Missionar und Denker
6.4.2
Gnade und Rettung
Die Transformation des Sohnes und die Partizipation der Glaubenden an diesem Heilsgeschehen verändern die Wahrnehmung und das Verständnis der Zeit. Die Zeit unterliegt ebenfalls einem Transformationsprozess, denn „das Ende der Äonen ist gekommen“ (1Kor 10,11c). Eindrucksvoll markiert das paulinische nuni` de´ die eschatologische Wende der Zeiten259: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt als Erster der Entschlafenen“ (1Kor 15,20; vgl. 2Kor 6,2; 13,13; Röm 3,21; 6,22; 7,6). Die Glaubenden und Getauften sind jetzt/nun (nu˜n) Gerechtfertigte durch Jesu Christi Blut (Röm 5,9) und haben jetzt/nun (nu˜n) die Versöhnung empfangen (Röm 5,11). Paulus ist sich gewiss, „dass uns die Rettung jetzt näher ist als damals, als wir zum Glauben kamen“ (Röm 13,11b). Die Gegenwart und die Zukunft sind die Zeit der Gnade (ca´riß) und der Rettung (swtvrı´a). Gnade
Paulus gebraucht ca´riß durchgehend im Singular; schon dieser Sprachgebrauch signalisiert den Grundgedanken der paulinischen Gnadenlehre: Die Charis geht von Gott aus, verdichtet sich im Christusgeschehen und gilt den Glaubenden und Getauften . Weil Jesus Christus die Gnade Gottes personifiziert, kann Paulus die ca´riß Gottes und die ca´riß Christi parallelisieren (Röm 5,15), und Christus erscheint als Urheber der Gnade des Apostels und der Gemeinden (vgl. 2Kor 8,9; 12,9; Gal 1,16). Die Christen stehen bereits im Stand der Gnade (vgl. 1Kor 1,4; Röm 5,21), denn durch das Christusgeschehen wurde die Verstrickung der Menschen in eine vorgängige Unheilsgeschichte aufgehoben (vgl. Röm 5,15), die Gnade triumphiert über die Mächte des Todes und der Sünde260. Es gilt nun: „Wie die Sünde durch den Tod herrschte, so herrscht auch die Gnade durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21). All dies geschieht „um euretwillen, damit die Gnade durch möglichst viele Glaubende ihre größte Fülle erhält“ (2Kor 4,14f). Den Glaubenden und Getauften wurde der Geist geschenkt (vgl. 1Kor 2,12 Aor. Ptz. Pass. carishe´nta), so dass sie nun durch Gottes Gnade die neue Zeit erkennen. Im geschenkten Glauben (vgl. Röm 4,16; Phil 1,29) haben sie Anteil an Gottes Heilswirken. Die Versöhung Gottes mit den Menschen durch Jesus Christus realisiert sich in den Gaben der Gerechtigkeit und der Gnade (vgl. 2Kor 5,18–6,2; Röm 5,1–11). Die Kollekte für Jerusalem wird von Paulus als Ausdruck der Gnade Gottes, als ein Gnadenwerk verstanden, weil sie Ausdruck des Heilswillens Gottes ist (vgl. 1Kor 16,3; 2Kor 8,1.4.6.7.19; 9,8.14.15). Vorbild für diese ca´riß ist die Gnade Christi, denn er bewirkte durch seine
259 Vgl. U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 168 f. 260 Zum paulinischen Verständnis von ca´riß vgl.
R. BULTMANN, Theologie, 281–285.287–291; H. CONZELArt. ca´riß, ThWNT 9, Stuttgart 1973, 383–387;
MANN,
D. ZELLER, Charis (s. o. 6.4), 138–196; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 319–323; J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace (s. o. 6.4), 211 ff.
Soteriologie 255
Armut den Reichtum der Gemeinde (2Kor 8,9). Besonders die Ausführungen über die Kollekte in 2Kor 8/9 und Röm 15,25–28 zeigen, dass Paulus innerhalb seiner Gnadenlehre auch auf dem Hintergrund des zeitgenössischen Prinzips der Gegenseitigkeit argumentiert261: Reziprozität kann als ein Grundprinzip der hellenistischen Gesellschaft gelten, wonach die Wohltaten von Patronen (z. B. die römischen Kaiser) und der Dank/Gehorsam der Empfänger selbstverständlich zusammengehören. Der Austausch von Gütern und Leistungen zwischen Menschen von unterschiedlichem Rang und damit verbunden ein Netzwerk von Patronen und Klienten durchzieht das öffentliche und private Leben. Paulus bezeichnet die Kollekte ausdrücklich als ca´riß (vgl. 1Kor 16,3; 2Kor 8,4.7.19) und sagt über Makedonien und Achaia: „Es war ihr eigener Entschluss; zugleich stehen sie in deren Schuld. Denn wenn die Völker an deren geistlichen Gütern Anteil bekommen haben, dann sind sie auch verpflichtet, ihnen in materieller Hinsicht einen Dienst zu erweisen“ (Röm 15,27). Zugleich heißt es aber in Röm 3,24: „Umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade aufgrund der Erlösung in Christus Jesus.“ Das Prinzip der gegenseitigen Wohltaten und Verpflichtungen der hellenistischen Gesellschaft wird hier von Paulus mit dem dwrea´n („umsonst“) durchbrochen. Gottes Gnadenhandeln ist voraussetzungslos, aber nicht absichtslos; es orientiert sich nicht an Status-Schemata, sondern ist universal und nicht an gesellschaftliche oder kultische Vollzüge gebunden262. Auch der Aufenthalt des Apostels im Gefängnis kann als ca´riß bezeichnet werden, weil er die Evangeliumsverkündigung fördert (vgl. Phil 1,7). Die Gnade Gottes wird so zum eigentlichen Träger der Arbeit des Apostels (vgl. 2Kor 1,12) und der Gemeinden, denn auch die „Gnadengaben“ (carı´smata) verdanken sich der einen Gnade (Röm 12,6). Wenn Paulus zu Beginn und am Schluss seiner Briefe den Gnadenstand seiner Gemeinden betont (vgl. 1Thess 1,1; 5,28; 1Kor 1,3; 16,23; 2Kor 1,2; 13,13; Gal 1,3; 6,18; Röm 1,5; 16,20; Phil 1,2; 4,23; Phlm 1.3.25), dann folgt er damit nicht nur liturgischer Konvention, sondern benennt eine Realität: Sowohl der Apostel (vgl. 1Kor 3,10; Gal 1,15; 2,9; Röm 1,5; 12,3; 15,15) als auch die Gemeinde verdanken sich in Existenz und Fortbestand allein der Gnade Gottes. Paulus kontrastiert seine frühere Existenz mit der Berufung zum Apostel: „Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und seine mir zuteil gewordene Gnade war nicht umsonst; sondern weit mehr als alle habe ich mich bemüht; vielmehr nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir“ (1Kor 15,10). Auch in schwierigen Situationen trägt die Gnade, sie erweist ihre Stärke gerade im Durchstehen von Anfechtungen (vgl. 2Kor 12,9). Nicht die
261 Vgl. J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace (s. o. 6.4), 294–332. 262 Ein vergleichbarer universaler Ansatz findet sich aus philosophischer Perspektive bei Epict, Diss IV 1,102–110 (103f: „Und da willst du, der du alles und
dich selbst von einem anderen empfangen hast, auf ihn, den Geber, böse sein und Beschwerde gegen ihn führen, wenn er dir etwas wieder wegnimmt? Wer bist du und wozu bist du in die Welt gekommen? Hat nicht er dich das Licht sehen lassen?“
256 Paulus: Missionar und Denker
Gunsterweise des Kaisers263 gewähren und verändern das Leben der Menschen, sondern allein die gnadenhafte Zuwendung Gottes in Jesus Christus. Gnade ist kein Gefühl, Affekt oder eine Eigenschaft Gottes, sondern unerwartete, freie und machtvolle Tat. Sie ist Ausdruck der Liebe Gottes, „denn Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8)264. Paulus hofft inständig, auch Israel werde noch einmal an der Gnade Gottes teilhaben (vgl. Röm 11,1ff). Im Gal und Röm verbindet Paulus ca´riß-Aussagen mit der von der Nomologie bestimmten exklusiven Rechtfertigungslehre. Er wundert sich, wie schnell sich die Galater von der Gnade abwandten (Gal 1,6) und: „Ihr seid von Christus abgefallen, die ihr euch durch das Gesetz rechtfertigen lassen wollt, ihr seid aus der Gnade herausgefallen“ (Gal 5,4). Die überströmende Gnade erscheint als Macht, durch die eine unausweichliche Verurteilung des Menschen abgewendet wird (Röm 5,16). Die Christen sind der Sünde und dem Tod entronnen und befinden sich im objektiven Heilsstand der Gnade. Weil nicht das Gesetz, sondern allein das Christusgeschehen rettet, kann der Apostel den neuen Status der Christen in Röm 6,14 so bestimmen: „Ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.“ Allerdings lässt Röm 6 deutlich erkennen, dass auch die antinomistische Zuspitzung des paulinischen Gnadenbegriffes auf der Grundkonzeption der Teilhabe der Glaubenden an der Gnade Gottes im Taufgeschehen beruht (Röm 6,1: „Wollen wir in der Sünde verharren, damit die Gnade sich mehre?“). Paulus weist diese Logik seiner Gegner emphatisch ab und verweist auf das rettende Grunddatum christlicher Existenz: die Taufe. Die Grundkonzeption paulinischer Soteriologie ist nicht an einen negativen Gesetzesbegriff oder eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption gebunden265, sondern ergibt sich positiv aus der Logik von Transformation und Partizipation: Durch den Statuswechsel des Sohnes befinden sich auch die Glaubenden und Getauften in einem neuen Status: der Gnade266. Paulus signalisiert mit seinem extensiven Gebrauch von ca´riß (63mal bei Paulus, 155mal im NT), dass er die neue Zeit als Gnaden-Zeit versteht.
263 Vgl. die Auflistung des Materials bei P. G. WETTER,
Charis, UNT 5, Leipzig 1913, 6–19; H. CONZELMANN, Art. ca´riß, 365f; D. ZELLER, Charis (s. o. 6.4), 14–32; J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace (s. o. 6.4), 61 f.87–90.226 ff. Klassisch ist Neros Freiheitserklärung an die Griechen in Korinth 67 n.Chr. (vgl. NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 249f). 264 Zur inneren Verbindung von Liebes- und Gnadenvorstellung vgl. R. BULTMANN, Theologie, 291 f. 265 Anders z. B. R. BULTMANN, Theologie, 284, er setzt ca´riß und dikaiosu´nv (heou˜) faktisch gleich: „Die di-
kaiosu´nv hat also ihren Ursprung in Gottes ca´riß“. Ähnlich argumentieren H. CONZELMANN, Theologie, 236f; J. D. G. DUNN, Paul the Apostle (s. o. 6), 319– 323, die in der exklusiven Rechtfertigungslehre des Röm die Ausarbeitung der paulinischen Gnadenlehre sehen. 266 Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation (s. o. 6.4), 235: “The exegesis of the various passages in early Christian literature in this study has demonstrated that Paul’s essential conception of salvation is that of participationism.“
Soteriologie 257
Rettung
Mit swtvrı´a („Rettung“) greift Paulus eine zweite zentrale Metapher antiker Religiosität auf, um die neue Zeit zu interpretieren. Das Begriffsfeld swtv´r/swtvrı´a/sw´ zein weist in ntl. Zeit eine politisch-religiöse Konnotation auf: Der römische Kaiser ist der Retter der Welt, er garantiert nicht nur die politische Einheit des Reiches, sondern gewährt seinen Bürgern Wohlstand, Heil und Sinn267. Bei konkurrierenden religiösen Sinnentwürfen wie den Mysterienreligionen stand die Vorstellung der Rettung ebenfalls im Zentrum268. Angesichts des blind wütenden Schicksals und der Unausweichlichkeit des Leidens und des Todes hoffen die Mysten, am dramatischen Schicksal einer Gottheit zu partizipieren, die den Tod als Durchgang zu neuem Leben erfährt. Der Myste wird nach Vollzug der Riten des Kultes zu einem neuen, glücklichen und erfolgreichen Leben ‚wiedergeboren‘ (vgl. Apul, Met XI 16,2–4; 21,7), das bereits in der Gegenwart einsetzt. Die gesamte antike Philosophie um die Zeitenwende herum (Cicero, Seneca, Epiktet, Plutarch) hat das gelingende Leben als Bewältigung des Schicksals und der Affekte zum Thema. Es geht um die Möglichkeiten und Mittel zur Aufhellung des Seins und um Formen der Selbstsorge, die auf eine Realisierung des Selbst zielen. Auf diesem vielschichtigen Hintergrund muss die frühchristliche Botschaft von der Rettung der Glaubenden in Jesus Christus gelesen werden. Paulus überbietet alle konkurrierenden Verheißungen, denn das von ihm verkündigte Evangelium umfasst alle Seins- und Zeitbereiche und rettet vor dem berechtigten Zorn Gottes (vgl. Röm 1,16ff). Wer sich dieser Botschaft anvertraut, verliert die Angst vor den unberechenbaren Mächten der Zukunft. Gott hat die Christen nicht zum Zorn, sondern zur Rettung bestimmt (1Thess 5,9; Röm 5,9). Die Torheit der Kreuzespredigt rettet, denn am Kreuz verwandelte Gott die Weisheit der Welt zur Torheit (1Kor 1,18.21). Paulus verkündigt das Evangelium auf vielfältige Weise, um so zumindest einige zu retten (vgl. 1Kor 9,22; 10,33). Er bittet für die Rettung Israels (vgl. Röm 10,1; 11,14) und gelangt schließlich zu der prophetischen Einsicht, bei der Wiederkunft des Herrn werde ‚ganz Israel‘ gerettet (Röm 11,26). Das rettende Evangelium ist eine Macht Gottes (Röm 1,16) und jeder, der es mit dem Mund (öffentlich) bekennt, wird gerettet (Röm 10,9.13). Wie sehr Paulus die swtvrı´a als ein reales, dingliches Geschehen auffasst, zeigen 1Kor 3,15; 5,5; 7,16: Das Selbst der Getauften wird im Gerichtfeuer gerettet werden, auch wenn ihr Werk oder ihr Körper zugrunde gehen; die Heiligung des ungläubigen Partners schließt seine mögliche Rettung mit ein. Weil die Auferstehungskräfte in der Gegenwart und Zukunft wirken, ist Rettung weitaus mehr als ein neuer Bewusstseinsstand derer, die sich für gerettet halten; swtvrı´a ist ein Sein und Zeit veränderndes reales und zugleich universales Geschehen.
267 Vgl. dazu die Abschnitte 10.4.1/10.4.2/12.2.4 268 Vgl. TH. SÖDING, Das Geheimnis Gottes im Kreuz
Jesu, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. o. 6), (71–92) 79 f.
258 Paulus: Missionar und Denker
6.5
Anthropologie
H. LÜDEMANN, Die Anthropologie des Paulus und ihre Stellung innerhalb der Heilslehre, Kiel 1872; R. BULTMANN, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 198–209; W. GUTBROD, Die paulinische Anthropologie, BWANT IV/15, Stuttgart 1934; W. G. KÜMMEL, Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament. Zwei Studien, TB 53, München 1974 (= 1929/48); E. KÄSEMANN, Zur paulinischen Anthropologie, in: ders., Paulinische Perspektiven (s.o. 6), 9–60; R. SCROGGS, The last Adam. A Study in Pauline Anthropology, Oxford 1966; A. SAND, Der Begriff Fleisch in den paulinischen Hauptbriefen, Regensburg 1966; E. BRANDENBURGER, Fleisch und Geist, WMANT 29, Neukirchen 1968; R. JEWETT, Paul’s Anthropological Terms, AGJU 10, Leiden 1971; K.-A. BAUER, Leiblichkeit – das Ende aller Werke Gottes, StNT 4, Gütersloh 1971; U. WILCKENS, Christologie und Anthropologie im Zusamenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre, ZNW 67 (1976), 65–82; D. LÜHRMANN, Glaube im frühen Christentum, Gütersloh 1976; W. SCHMITHALS, Die theologische Anthropologie des Paulus, Stuttgart 1980; G. BARTH, Pistis in hellenistischer Religiosität, in: ders., Neutestamentliche Versuche und Beobachtungen, Waltrop 1996, 169–194; H.-J. ECKSTEIN, Der Begriff Syneidesis bei Paulus, WUNT 2.10, Tübingen 1983; G. THEISSEN, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, FRLANT 131, Göttingen 1983; A. V. DOBBELER, Glaube als Teilhabe, WUNT 2.22, Tübingen 1987; G. RÖHSER, Metaphorik und Personifikation der Sünde, WUNT 2.25, Tübingen 1987; S. JONES, „Freiheit“ in den Briefen des Apostels Paulus, GTA 34, Göttingen 1987; S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung, FRLANT 147, Göttingen 1989; U. MELL, Neue Schöpfung, BZNW 56, Berlin 1989; U. SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes, BThSt 18, Neukirchen 1991; T. LAATO, Paulus und das Judentum. Anthropologische Erwägungen, bo 1991; D. E. AUNE, Zwei Modelle der menschlichen Natur bei Paulus, ThQ 176 (1996), 28–39; J. FREY, Die paulinische Antithese von „Fleisch“ und „Geist“ und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999), 45–77; M. GIELEN, Grundzüge paulinischer Anthropologie im Lichte des eschatologischen Heilsgeschehens in Jesus Christus, JBTh 15 (2000), 117–148; J. BEUTLER (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD 190, Freiburg 2001; O. WISCHMEYER, Menschsein, NEB.Th 11, Würzburg 2003, 89–106; E. REINMUTH, Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen 2006, 185–243.
Paulus fragt intensiv danach, wer der Mensch ist und was ihn konstituiert, fördert und begrenzt. Bei seinen Zuschreibungen steht er in der Tradition des atl. Gottesund Schöpfungsglaubens, nimmt aber auch Traditionen hellenistischer Anthropologie auf und gelangt zu einer eigenständiger Interpretation des Menschen. Der Mensch kann nicht aus sich selbst heraus existieren, denn er findet sich immer schon in einem Spannungsfeld von Kräften vor, die ihn bestimmen. Als Geschöpf ist der Mensch nicht durch die Vernunft autonom269, sondern den in der Schöpfung herrschenden Mächten ausgesetzt: Gott und dem Bösen in der Gestalt der Sünde. 269 Anders Dio Chrys, Or 36,19, der die bis heute vorherrschende Auffassung vom Menschen so for-
muliert: „Was der Mensch ist: ein mit Vernunft begabtes sterbliches Wesen.“
Anthropologie 259
6.5.1
Der Leib und das Fleisch
Die Geschöpflichkeit des Menschen manifestiert sich bei Paulus in seiner Leiblichkeit270. Durch die Realität der Sünde ist sie immer auch gefährdete Leiblichkeit, so dass Paulus zwischen sw˜ma („Leib“) und sa´rx („Fleisch“) unterscheidet. Leib/Leiblichkeit
Der Schlüsselbegriff sw˜ma („Leib/Leiblichkeit“) ist bei Paulus zunächst eine neutrale Bezeichnung der Beschaffenheit des Menschen. Abraham hatte einen Leib, der schon abgestorben war (Röm 4,19). Bei der Verurteilung eines Unzüchtigen in Korinth ist Paulus zwar leiblich abwesend (1Kor 5,3: apw`n tw˜ sw´mati; vgl. auch 2Kor 10,10), durch den Geist aber anwesend. Paulus trägt die Malzeichen Jesu an seinem Leib (Gal 6,17), Wunden, die ihm bei seiner Missionstätigkeit z. B. durch Schläge zugefügt wurden (vgl. 2Kor 11,24f). In einer Ehe haben die Partner jeweils einen Anspruch auf den Körper des anderen (1Kor 7,4). Jungfrauen sollen um die Heiligkeit ihres Leibes besorgt sein (1Kor 7,34). Der Leib als Ort menschlicher Begierden und Schwächen muss gezähmt werden (1Kor 9,27). In einem negativ qualifizierenden Sinn gebraucht Paulus sw˜ma in Röm 6,6 (sw˜ma tv˜ß amartı´aß = „Sündenleib“) und Röm 7,24 (sw˜ma tou˜ hana´tou = „Leib des Todes“). Der Getaufte starb wirklich der Sünde (vgl. Röm 6,1ff), aber die Sünde ist nicht tot! Sie bleibt als Versuchung des Leibes weiterhin in der Welt. Deshalb fordert Paulus dazu auf, die Sünde nicht herrschen zu lassen im sw˜ma hnvto´n (Röm 6,12: „sterblichen Leib“; vgl. Röm 8,10 f.13). Auch die „Begierden“ (epihumı´ai) können für Paulus sowohl der sa´rx (Gal 5,16 f.24) als auch dem sw˜ma (Röm 6,12) entspringen. Dennoch dürfen sw˜ma und sa´rx nicht gleichgesetzt werden. In Röm 8,9 betont der Apostel ausdrücklich den in der Taufe vollzogenen Existenzwandel von der Sphäre der sa´rx in den Bereich des Geistes, so dass in Röm 8,10 f.13 nicht mehr von einem Bestimmtsein durch die sa´rx, sondern nur von einem Ausgesetztsein durch die sa´rx die Rede sein kann. Das sw˜ma ist nicht den fremden Mächten der sa´rx und der amartı´a verfallen271, aber es befindet sich ständig in der Gefahr, von ihnen beherrscht zu werden. Sw˜ma ist der Mensch selbst, die sa´rx hingegen eine fremde, ihn beanspruchende Macht. Positiv gebraucht Paulus sw˜ma als umfassenden Ausdruck des menschlichen Selbst272. Der Leib ist seinem Wesen nach weitaus mehr als essen und trinken (1Kor 6,13a), er definiert sich nicht aus seinen biologischen Funktionen, vielmehr gehört der Leib dem Herrn (1Kor 6,13b). Der Christ stellt seinen Leib auf Erden dem Herrn 270 Zur Forschungsgeschichte vgl. K.-A. BAUER, Leib-
lichkeit (s. o. 6.5), 13–64; R. JEWETT, Terms (s. o. 6.5), 201–250. 271 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 197f, der zu Röm 8,13 bemerkt, hier sei das sw˜ma einer fremden Macht verfallen, entsprächen sich pra´xeiß tou˜ sw´ma-
toß und zv˜n kata` sa´rka; zur Kritik vgl. K-A. BAUER, Leiblichkeit (s. o. 6.5), 168 f. 272 R. BULTMANN, Theologie, 195, formuliert prägnant: „. . . der Mensch hat nicht ein sw˜ma, sondern er ist sw˜ma“.
260 Paulus: Missionar und Denker
zur Verfügung „als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – euer geistiger Gottesdienst“ (Röm 12,1b). Gerade die Leiblichkeit erscheint als der Ort, an dem der Glaube als Gehorsam sichtbare Gestalt gewinnt. Als Wohnstätte des Heiligen Geistes untersteht der Leib nicht mehr der eigenen willkürlichen Verfügung (1Kor 6,19), weil Gott selbst den Leib als Ort seiner Verherrlichung bestimmte (1Kor 6,20b: „Verherrlicht Gott in eurem Leib“; vgl. ferner Phil 1,20). Wer den Leib dem Herrn entzieht, entzieht sich ihm ganz! Auch die postmortale Existenz gibt es für Paulus nicht ohne Leiblichkeit, so dass er auch die Auferstehungswirklichkeit leiblich denkt. So wie der Glaubende auf Erden mit Christus leiblich verbunden ist, so bewirkt der Auferstandene den Übergang des Menschen von der prä- in die postmortale Existenz. Gottes im Geist gegenwärtige Lebensmacht überwindet auch den Tod und schafft eine Leiblichkeit (sw˜ma pneumatiko´n), in der das prämortale menschliche Selbst und somit die personale Identität aufgenommen und in eine neue Qualität hineingeführt werden (vgl. 1Kor 15,42ff). Der gegenwärtige „Leib der Niedrigkeit“ (Phil 3,21: to` sw˜ma tv˜ß tapeinw´sewß) wird verwandelt und „dem Leib seiner Herrlichkeit“ (to` sw˜ma tv˜ß do´xvß autou˜) gleichgestaltet werden. Was sich an Christus als dem Erstling der Entschlafenen (1Kor 15,20) vollzog, wird auch den Glaubenden zuteil werden. Das sw˜ma ist für Paulus der Schnittpunkt zwischen der Vorfindlichkeit des Menschen in der Welt und dem Handeln Gottes am Menschen273. Gerade weil der Mensch einen Leib hat und Leib ist274, umfasst und bestimmt Gottes Heilstat in Jesus Christus den Leib und damit das konkrete Dasein und die Geschichte des Menschen. Fleisch/Fleischlichkeit
Wie sw˜ma kann Paulus auch sa´rx („Fleisch/Fleischlichkeit“) zunächst in einem neutralen Sinn als Bezeichnung der äußeren Beschaffenheit des Menschen gebrauchen. Krankheiten bezeichnet Paulus als „Schwäche des Fleisches“ (Gal 4,13) bzw. als „Pfahl im Fleisch“ (2Kor 12,7,). Die Beschneidung vollzieht sich „am Fleisch“, es gibt eine „Bedrängung im Fleisch“ (1Kor 7,28) und verschiedene Fleischesarten (1Kor 15,39). Im genealogischen Sinn steht sa´rx für die Zugehörigkeit zum Volk Israel in Gal 4,23.29; Röm 4,1; 9,3; 11,14.
273 Damit unterscheidet sich Paulus grundlegend von einem (platonisierenden) Leib-Seele-Dualismus, der um die Zeitenwende herum in vielfachen Variationen vertreten wurde; als Beispiel vgl. Plut, Mor 1001b.c: „dass, da zwei sind, aus denen die Welt besteht, Leib und Seele, das eine nicht Gott gezeugt hat, sondern, nachdem sich die Materie dargeboten hatte, er sie gestaltete und zusammenpasste, indem er mit eigenen Grenzen und Formen das Unendliche verband und begrenzte; die Seele aber ist, da sie an
Verstand und vernünftiger Überlegung und Harmonie Anteil erhalten hat, nicht nur ein Werk des Gottes, sondern auch ein Teil und nicht nur durch ihn, sondern auch von ihm her und aus ihm heraus entstanden.“ 274 So K.-A. BAUER, Leiblichkeit (s. o. 6.5), 185, in kritischer Weiterführung der oben angeführten Definition R. Bultmanns; sw˜ma umgreift bei Paulus sowohl das Personsein als auch die Körperlichkeit des Menschen.
Anthropologie 261
Eine ausgesprochen negative Konnotation erhält sa´rx dort, wo Paulus den aus sich selbst lebenden und auf sich vertrauenden Menschen dem Bereich des Fleisches zurechnet275. Die Korinther nennt er „fleischliche“ (sarkino´ß), unmündige Kinder in Christus (1Kor 3,1), die nach menschlicher Weise und damit fleischlich leben (1Kor 3,3). Das vom Reich Gottes ausgeschlossene Vergängliche bezeichnet Paulus mit sa`rx kai` aıma („Fleisch und Blut“: 1Kor 15,50; Gal 1,16; vgl. ferner 1Kor 5,5; 2Kor 4,11; Röm 6,19)276. Mehrfach spricht der Apostel von einem „Leben im Fleisch“ (vgl. 2Kor 10,3; Gal 2,20; Phil 1,22.24; Phlm 16), womit er negativ die Art und Weise menschlicher Existenz ausdrückt. Demgegenüber lebt Paulus zwar en sarkı´ („im Fleisch“), nicht aber kata` sa´rka („nach dem Fleisch“; vgl. 2Kor 10,3). Der sarkische Mensch ist gekennzeichnet durch Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit, er baut auf seine eigenen Fähigkeiten, macht seine Erkenntnis zum Maßstab des Vernünftigen und Wirklichen. Ein Leben kata` sa´rka heißt Leben ohne Zugang zu Gott und damit dem Irdisch-Vergänglichen verhaftet zu sein (vgl. Röm 7,14b). Hier wird sa´rx zum Inbegriff eines von Gott losgelösten und sich gegen Gott auflehnenden Lebens. Das eigentliche Subjekt des Lebens ist die Sünde, die Folge der Tod. Röm 7,5: „Denn als wir noch im Fleisch (en tU˜ sarkı´) waren, wirkten die durch das Gesetz geweckten sündigen Leidenschaften in unseren Gliedern, so dass wir dem Tod Frucht brachten“. Aus diesem verhängnisvollen Ineinander von Fleisch, Sünde und Tod kann allein Gott befreien. Diese Befreiung vollzog sich grundlegend in der Sendung des Sohnes en omoiw´mati sarko`ß amartı´aß (Röm 8,3: „in der Gleichgestalt des Sündenfleisches“). Jesus nahm die Existenzweise an, in der die Herrschaft der Sünde über die Menschen sich vollzieht. Tod und Auferstehung Jesu Christi entmachten somit die Sünde dort, wo sie wirksam ist: im Fleisch. Der Gegensatz sa´rx – pneu˜ma erscheint bei Paulus nicht als metaphysischer, sondern als geschichtlicher Dualismus. Weil es keine menschliche Existenz außerhalb des Fleisches gibt und das Handeln Gottes am Menschen sich im Fleisch vollzieht, erscheint das Fleisch als der Ort, wo der Mensch entweder in Selbstbezogenheit verharrt oder sich durch die Kraft des Geistes in den Dienst Gottes stellen lässt. Für Paulus ist der Glaubende in seiner irdischen Existenz gerade nicht dem Fleisch entnommen, aber der Geist hebt die natürliche Selbstbehauptung des Fleisches auf.
6.5.2
Sünde und Tod
Bereits im Sprachgebrauch zeigen sich die Besonderheiten des paulinischen Sündenverständnisses277. Charakteristisch für Paulus ist der Gebrauch von amartı´a im Singular (vgl. z. B. 1Kor 15,56; 2Kor 5,21; Gal 3,22; Röm 5,21; 6,12; 7,11 u. ö.), Plural275 Grundlegend ist nach wie vor R. BULTMANN, Theo-
277 Vgl. zum Sprachgebrauch G. RÖHSER, Metaphorik
logie, 232–239. 276 Vgl. CHR. WOLFF, 1 Kor (s. o. 4.6), 205.
(s. o. 6.5), 7 ff.
262 Paulus: Missionar und Denker
formen finden sich zumeist in traditionellen Formulierungen außerhalb des Römerbriefes (vgl. 1Thess 2,16; Gal 1,4; 1Kor 15,3.17). Im Römerbrief als dem Dokument eines intensiven Nachdenkens des Apostels über das Wesen der amartı´a dominiert eindeutig der Singular, nur an drei Stellen erscheint der Plural (Röm 4,7; 11,27: LXX-Zitate; Röm 7,5: bedingt durch ta` pahv´mata). Auffällig ist die Verteilung der Belege, amartı´a erscheint bei Paulus insgesamt 59mal (173mal im NT), wobei sich allein 48 Belege im Röm finden (1Thess: 1mal; 1Kor: 4mal; 2Kor: 3mal; Gal: 3mal; Phil und Phlm keine Belege). Während Israel im 1Thess um seiner Verfehlungen/Missetaten willen als verworfen gilt (1Thess 2,16)278, tritt im 1Kor der Grundgedanke der paulinischen Sündenlehre offen hervor: Christus ist „für unsere Sünden gestorben“ (1Kor 15,3b; vgl. 15,17), d. h. er überwand durch Kreuz und Auferstehung die Macht der Sünde. Eher beiläufig und ohne Systematik stellt 1Kor 15,56 fest, dass die Sünde der Stachel des Todes sei und durch das Gesetz ihre Kraft erlange279. Nach 2Kor 5,21 machte Gott den Nicht-Sünder Jesus Christus für uns zur Sünde, „damit wir werden zur Gerechtigkeit Gottes in ihm.“ Das artikellose amartı´a in 2Kor 11,7 ist im Sinn von ‚Fehler‘ zu verstehen („oder habe ich einen Fehler gemacht . . .“)280. Im Gal tritt bereits die für den Röm charakteristische Logik in Erscheinung: Auch die Juden stehen nach dem Willen der Schrift (und damit Gottes) unter der Macht der Sünde, der alles unterworfen ist, damit die Verheißungen den Glaubenden zugute kommen (Gal 3,22). Wenn die Galater sich beschneiden lassen wollen, bleiben sie hinter der befreienden Kraft des Todes Jesu „für unsere Sünden“ (Gal 1,4) zurück. Christus kann nicht Diener der Sündenmacht sein (Gal 2,17)281, denn durch ihn wurde deutlich, dass das Gesetz nicht von der Sünde befreien kann. Im Röm ist der Zusammenhang zwischen der ausführlichen Behandlung der Gerechtigkeits- und Gesetzesthematik und der Sündenlehre offenkundig. Wo Paulus umfassend seine Nomologie entfaltet und die hamartiologische Gleichstellung von Juden und Heiden behauptet (Röm 1,18–3,20), muss er auch das Wesen und die Funktion der Sünde bedenken. Von der Universalität und dem Verhängnischarakter der Sünde zeugt ihre Vorzeitigkeit . Seit Adams Sünde ist die Welt gekennzeichnet durch den vorgegebenen und alles bestimmenden Zusammenhang von Sünde und Tod (vgl. Röm 5,12; ferner 4Esr 3,7; 3,21; 7,118; syrBar 23,4). Die Sünde war vor dem Gesetz in der Welt (Röm 5,13; vgl. Röm 7,8b), das „Gesetz ist nur dazwischen hineingekommen“ (Röm 5,20: no´moß de` pareisv˜lhen). Auch das Faktizitätsurteil, Juden und Griechen seien gleichermaßen „unter der Sünde“ (Röm 3,9; vgl. Gal 3,22: upo` amartı´an), setzt die Vorzeitigkeit der 278 Zur Analyse vgl. H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 68–70. 279 Zur Auslegung von 1Kor 15,56 vgl. F. W. HORN, 1Korinther 15,56 – ein exegetischer Stachel, ZNW 82 (1991), 88–105; TH. SÖDING, „Die Kraft der Sünde ist das Gesetz“ (1Kor 15,56). Anmerkungen zum
Hintergrund und zur Pointe einer gesetzeskritischen Sentenz des Apostels Paulus, ZNW 83 (1992), 74–84. 280 Vgl. H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief (s. o. 6.2.7), 334. 281 Vgl. dazu H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 88–90.
Anthropologie 263
Sünde voraus. Die Sünde ist eine jeder menschlichen Existenz vorgängige Macht mit Verhängnischarakter . Letztlich bildet für Paulus die Realität der Sünde und des Sündigens den Ausgangspunkt seiner Argumentation. Der Mensch findet sich immer schon im Bereich der Sünde und des Todes vor und ist in eine von ihm nicht verursachte Unheilssituation verstrickt282. Indem er Glied der Menschheit ist, betrifft ihn die Macht der Sünde. Dennoch entlässt Paulus den Menschen nicht aus seiner Verantwortung. Der Tatcharakter der Sünde zeigt sich besonders in Röm 3,23, wo Paulus die vorherige weitgespannte Argumentation so zusammenfasst: „Alle haben sie gesündigt (pa´nteß ga`r vÇmarton) und entbehren der Gnade Gottes.“ Sowohl die Laster der Heiden (vgl. Röm 1,24–32) als auch der fundamentale Gegensatz von Orthodoxie und Orthopraxie bei den Juden (vgl. Röm 2,17–29) resultierten aus ihrem jeweiligen Tun bzw. Nicht-Tun. Es gilt: „Die ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verloren gehen, die im Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz gerichtet werden“ (Röm 2,12). Das Faktizitätsurteil „alle sind unter der Sünde“ in Röm 3,9 begründet Paulus in V. 10–18 mit einem umfassenden Schriftbeweis, dessen Zitate deutlich auf den Tatcharakter der Sünde zielen. Hier ist das Schuldigwerden vor Gott (vgl. Röm 3,19b) nicht Folge eines Verhängnisses, sondern Resultat eines Tuns. Geradezu programmatisch erscheint die Sünde als verantwortliche Tat in Röm 14,23: „Alles, was man nicht aus Glauben tut, ist Sünde“ (pa˜n de` oÅ ouk ek pı´stewß amartı´a estı´n). Die universale Herrschaft der Sünde ergibt sich somit aus ihrem Verhängnisund Tatcharakter283. Den geschehenen Sünden liegt die Sündenmacht voraus und zugrunde (vgl. Röm 5,12: „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt kam, und durch die Sünde der Tod, und so der Tod zu allen Menschen sich ausbreitete, denn alle haben gesündigt“)284. In Röm 7 entfaltet Paulus das für ihn zentrale Verhältnis von Sünde und Gesetz. Hier wird eindrücklich betont, dass die Sünde weitaus mehr als ein Defekt in der Lebensführung ist. Sie hat den Charakter einer unentrinnbaren Macht, der jeder Mensch jenseits des Glaubens unterworfen ist. Die Sünde vermag sich sogar in der Gestalt der Begierde des Gesetzes zu bemächtigen und dessen Intentionen als guter Lebenswille Gottes ins Gegenteil zu verkehren (Röm 7,7–13). Aus dieser Grundeinsicht ergibt sich die anthropologische Argumentation des Apostels in Röm 7,14–25a285, in der die unentrinnbare Verstricktheit des Ichs unter der Macht der Sünde entfaltet wird, 282 Vgl. H. WEDER, Gesetz und Sünde (s. o. 6.2.7),
362. 283 Vgl. G. RÖHSER, Metaphorik (s. o. 6.5), 118. 284 Vgl. H. UMBACH , a. a. O., 201 zu Röm 5,12: „Durch sündiges bzw. ungehorsames Tun des einen (Adam) kam v amartı´a in die Welt, d. h. zu allen Menschen (12d), und bestimmt seitdem generell deren Tun (vÇmarton) und Ergehen (ha´natoß).“
285 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse R. WEBER, Die Geschichte des Gesetzes und des Ich in Römer 7,7–8,4, NZSTh 29 (1987), 147–179; O. HOFIUS, Der Mensch im Schatten Adams, in: ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 104–154; H. LICHTENBERGER, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit, WUNT 164, Tübingen 2004; V. STOLLE, Luther und Paulus, ABG 10, Leipzig 2002, 210–232.
264 Paulus: Missionar und Denker
um so das Gesetz/die Tora von jeder Schuld an seinem widergöttlichen Wirken in der Welt freizusprechen. In V. 14 benennt Paulus einen generellen und in der Gegenwart geltenden Sachverhalt: Der Mensch als fleischliches Wesen ist der Sünde untertan. Die Universalität der Aussage unterstreicht das egw´ („ich“). Es handelt sich bei der 1. Pers. Sg. um ein literarisches Stilmittel, das Parallelen in den Klagepsalmen (vgl. Ps 22,7f) und der Qumran-Literatur hat (vgl. 1QH 1,21; 3,23f; 1QS 11,9ff)286. Sowohl die literarische Stilform der 1. Pers. Sg. als auch der generelle Charakter von Röm 7,14 und der Verweis auf Röm 8,1ff legen es nahe, in dem egw´ ein exemplarisches, generelles Ich zu sehen, das aus der Perspektive des Glaubens die Situation des Menschen jenseits des Glaubens darstellt287. Die Vorfindlichkeit des Menschen als Verkauftsein an die Sünde erläutert Paulus in Röm 7,15: Das Ich befindet sich in einem grundlegenden Zwiespalt, indem es nicht das tut, was es will, sondern was es hasst. Aus diesem Widerspruch schließt Paulus in Röm 7,16, dass das Gesetz/die Tora an sich gut sei, denn die Sünde bewirkt den Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen. Den Machtcharakter der Sünde unterstreicht der Apostel in Röm 7,17.20 mit der Metapher des Innewohnens der Sünde im Menschen. Dabei ist der Bezug auf Röm 8 unverkennbar, denn in Röm 8,9f sagt Paulus, dass der Geist Gottes/Christi bzw. Christus im Glaubenden wohnen. Die Sünde und Christus treten damit deutlich in Konkurrenz zueinander, der Mensch fungiert lediglich passiv als Wohnstätte von Mächten, die in ihm den Tod oder das Leben bewirken288. Herrscht die Sünde im Menschen, so richtet sie ihn zugrunde, während Christus bzw. der Geist dem Menschen das Leben schenkt (vgl. Röm 8,11). Die ganze Ausweglosigkeit der Situation des Menschen jenseits des Glaubens betont Paulus in Röm 7,18–20, wo er den Widerspruch zwischen Wollen und Tun noch einmal entfaltet. Dem Menschen steht wohl das Wollen des Guten zur Verfügung, nicht aber das Vollbringen, das durch die im Menschen wohnende Sünde verhindert wird. In Röm 7,21 zieht das Ich ein erstes Fazit und stellt eine Regelmäßigkeit fest: Das gute Wollen konkretisiert sich in einem bösen Tun. Hier meint no´moß nicht die atl. Tora, sondern bezeichnet eine Gesetzmäßigkeit289, die in V. 22f erläutert wird. Der Mensch kann
286 Vgl. dazu W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. o. 6.5), 127–
131; G. THEISSEN, Psychologische Aspekte (s. o. 6.5), 194–204. 287 Grundlegend wurde diese Einsicht erarbeitet von W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. o. 6.5), 74 ff. Ein Echo individueller Erfahrungen sieht in Röm 7 z. B. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte (s. o. 6.5), 204. Anders E. P. SANDERS, Paulus (s. o. 6), 128: „Mit anderen Worten, Röm. 7 beschreibt in Wahrheit überhaupt niemanden – ausgenommen vielleicht den Neurotiker. Warum steht dann dieses Kapitel da? Der Schrei der Angst ist vermutlich ein Schrei der theologischen Aporie.“
288 Vgl. G. RÖHSER, Metaphorik (s. o. 6.5), 119 ff. Röm 7 schildert keinen Konflikt im Menschen, sondern ein transpersonales Geschehen; gegen P. ALTHAUS, Paulus und Luther über den Menschen, Gütersloh 2 1951, 41–49, der Röm 7 als Konflikt innerhalb des Menschen verstehen will; ähnlich T. LAATO, Paulus und das Judentum (s. o. 6.5), 163: „Röm 7 umfaßt nichts, was nicht auf den Christen paßt, oder – zugespitzt formuliert – alles, was Röm 7 umfaßt, paßt nur auf den Christen.“ 289 Vgl. R. WEBER, Die Geschichte des Gesetzes, 159; O. HOFIUS, Der Mensch im Schatten Adams, 142.
Anthropologie 265
von sich aus nicht das Gute wählen und das Böse verwerfen, weil die in ihm wohnende und streitende Sünde ihn völlig beherrscht. Röm 7,23 beschreibt einen grundlegenden anthropologischen Sachverhalt: Der Mensch ist gespalten und von sich aus nicht in der Lage, seine Integrität wiederherzustellen. Nach der inneren Logik von Röm 7 kann ihn niemand aus dieser Situation retten. Paulus bleibt dabei aber nicht stehen, wie V. 25a zeigt290. Die Rettung des Menschen aus dieser ausweglosen Situation erschien in Jesus Christus, deshalb dankt Paulus Gott für die in Jesus Christus bewirkte und durch den Geist herbeigeführte Rettung aus dem Machtbereich der Sünde . Röm 8 erscheint als die sachgemäße Fortsetzung der paulinischen Argumentation in Röm 7,7ff, sprachlich deutlich angezeigt durch die Aufnahme der 1. Pers. Sg. aus Röm 7 durch die 2. Pers. Sg. in Röm 8,2. Darüber hinaus ist Röm 8 die innere Voraussetzung von Röm 7, denn die von Paulus entfalteten Perspektiven des Glaubens bildeten immer schon die Grundlage seiner Ausführungen in Röm 7 . Was veranlasste Paulus zu einer solchen Hypostasierung der Sünde? Der Ausgangspunkt seiner Reflexionen dürfte nicht in der Anthropologie liegen291, denn der in Röm 7 geschilderte Befund liegt nicht offen zutage, sondern ist nur dem Glauben einsichtig. Vielmehr prägt der Grundgedanke der paulinischen Christushermeneutik auch hier die Logik: Allein der Glaube an Jesus Christus rettet, so dass neben ihm keine weitere Instanz rettende Funktion haben kann. Die Christologie und Soteriologie und nicht die Anthropologie bilden die Grundlage der paulinischen Sündenlehre. Der Ursprung des Bösen im antiken Diskurs
Über ihre Funktion im paulinischen Denksystem hinaus liefert die paulinische Sündenlehre auch einen originellen Beitrag zu einer im Judentum, in der griechisch-römischen Welt und auch in der Gegenwart gleichermaßen geführten Debatte: Die Frage nach dem Ursprung des Bösen und der Ursache unzulänglichen menschlichen Verhaltens . Nach Paulus ist die Sünde die eigentliche Ursache dafür, dass das gute Wollen des Menschen ins Gegenteil verkehrt wird und letztlich den Tod bewirken kann. Auch für Epiktet (ca. 50–130 n.Chr.) gibt es einen Widerspruch im Menschen zwischen der Intention des Handelns und der praktischen Ausführung des Handelns (Diss II 26,1)292. In der Angabe der Ursache dieses Widerspruches unterscheiden sich allerdings Paulus und Epiktet grundlegend. Bei Epiktet kann das falsche Verhalten durch
290 Röm 7,25b ist eine Glosse; vgl. z. B. E. KÄSEMANN,
Röm (s. o. 6.3.1), 203 f. 291 R. BULTMANN, Theologie, 192, scheint dieses Missverständnis nahezulegen, wenn er betont: „Sachgemäß wird deshalb die paulinische Theologie am besten entwickelt, wenn sie als die Lehre vom Menschen dargestellt wird, und zwar 1. Vom Menschen vor der Offenbarung der pı´stiß und 2. vom Menschen unter der pı´stiß.“
292 Zu den im Hintergrund von Röm 7,14ff stehenden griechisch-hellenistischen Traditionen (z. B. Eur, Med 1076–1080) vgl. H. HOMMEL, Das 7. Kapitel des Römerbriefes im Lichte antiker Überlieferung, in: ders., Sebasmata II, WUNT 32, Tübingen 1984, 141– 173; R. V. BENDEMANN, Die kritische Diastase von Wissen, Wollen und Handeln, ZNW 95 (2004), 35–63.
266 Paulus: Missionar und Denker
richtige Erkenntnis überwunden werden. Hier zeigt sich ein optimistisches Menschenbild, bei dem die Erkenntnis als Maßstab des Handelns mögliches Fehlverhalten zu überwinden vermag. Paulus teilt diese Zuversicht nicht, denn die Sünde ist das eigentliche Subjekt des Geschehens, nicht der erkennende Mensch. In anderer Weise reflektiert Cicero (106–43 v.Chr.) die Frage, ob das Böse in der Welt das Werk der Götter sei. „Denn wenn die Götter den Menschen den Verstand gegeben haben, so haben sie ihnen auch die Bosheit gegeben“ (Nat Deor III 75). Die Menschen nutzen das göttliche Geschenk des vernünftigen Denkens nicht zum Guten, sondern um einander zu betrügen. Deshalb wäre es besser gewesen, die Götter hätten den Menschen den Verstand vorenthalten (vgl. III 78). Nun aber ergeht es den Guten schlecht und den Schlechten gut, herrrscht die Dummheit und wir befinden „uns alle im tiefsten Unglück, obwohl ihr doch vorgebt, die Götter hätten bestens für uns gesorgt“ (III 79). Die Götter müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen: „Sie hätten ja alle zu guten Menschen machen müssen, falls sie denn wirklich für die Menschen sorgen wollten“ (III 79). Bei Seneca (4–65 n.Chr.) als einem unmittelbaren Zeitgenossen des Paulus herrschen ebenfalls pessimistische Urteile über die Situation des Menschen vor. Sowohl die Menschheit in ihrer Gesamtheit (Ep 97,1: „keine Epoche ist frei von Schuld“) als auch der einzelne Mensch (Ira II 28,1: „Niemand von uns ist ohne Schuld“) verfehlen das Einsichtige und sittlich Gute. Die Lebenserfahrung lehrt, dass selbst die Umsichtigsten sich verfehlen, so dass die Einsicht unumgänglich ist: „Gefehlt haben wir alle (peccavimus omnes), die einen schwerer, die anderen geringer, andere aus Vorsatz, wieder andere aus Zufall oder von fremder Schlechtigkeit mitgerissen, wieder andere von uns haben bei guten Einsichten zu wenig tapfer gestanden und ihre Schuldlosigkeit gegen ihren Willen und Widerstand verloren“ (Clem I 6,3). Niemand kann sich freisprechen und jeder ist schuldbeladen, wenn er sein Gewissen befragt (vgl. Ira I 14,3). Das unbestechliche Urteil des Philosophen und die Erfahrungen des Psychologen Seneca nötigen zu der Erkenntnis, dass die Menschen immer hinter dem ihnen Möglichen zurückbleiben. Bemerkenswert sind auch die Überlegungen von Dio Chrysostomos über den Ursprung des Guten und des Bösen. Während das Gute ohne Ausnahme Gott zugeschrieben werden muss (Or 32,14), heißt es über das Schlechte: „Das Schlechte aber hat einen anderen Ursprung, als stammte es aus einer anderen Quelle, einer in unserer Nähe. . . . Die schlammigen, übelriechenden Kanäle aber sind unser eigenes Werk, und es gibt sie nur durch unser Tun“ (Or 32,15). In einem völlig anderen kulturgeschichtlichen Umfeld findet sich auch im 4Esra-Buch (nach 70 n.Chr.) eine pessimistische Argumentation über den Zustand der Welt und des Menschen. Obwohl Gott das Gesetz gab, regieren die Sünde und der Unverstand. „Gerade deshalb werden die, die auf der Erde weilen, (im kommenden Gericht; U.S.) gequält, weil sie Verstand hatten und dennoch Sünden begingen, die Gebote empfingen und sie nicht beachteten, das Gesetz erhielten und es, das sie doch erhalten hatten,
Anthropologie 267
brachen“ (4Esra 7,72). Es gibt nur wenige Gerechte (vgl. 4Esra 7,17 f.51), weil die Herrschaft der Sünde umfassend ist, so dass sich die Frage aufdrängt: „Wer ist es von den Lebenden, der nicht gesündigt hätte?“ (4Esra 7,46). Dem Gesetz wird offenbar nicht zugetraut, diesen Zustand zu ändern. „Denn alle, die geboren wurden, sind von Sünden befleckt, sind voll von Fehlern und von Schuld belastet“ (4Esra 7,68). Große Übereinstimmungen zu Paulus weisen die Qumrantexte auf293. Auch hier ist der kreatürliche Mensch Fleisch und damit von Gott getrennt und der Sünde rettungslos ausgeliefert; das ‚Fleisch‘ gehört zum Herrschaftsbereich der Sünde (vgl. 1QS 4,20f)294. Nicht nur der Frevler, sondern auch der Qumran-Fromme zählt zur „Gemeinschaft des Fleisches der Bosheit“ (1QS 11,9), hat in seinem Fleisch den Geist des Frevels (1QS 4,20f), denn das Fleisch ist Sünde (1QH 4,29 f). Bei den Menschenkindern herrschen der „Dienst der Sünde und Taten des Trugs“ (1QH 1,27: vgl. 1QS 4,10, 1QM 13,5). Der Mensch kann von sich aus nicht das Gute wählen und das Böse verwerfen, sondern die in ihm wohnende und streitende Sünde beherrscht ihn völlig (vgl. 1QS 4,20f). Vielmehr liegt alles an Gott, der den Geist bildete (1QH 15,22) und durch den Heiligen Geist (1QS 4,21) den Geist des Frevels aus dem Inneren des Fleisches tilgt. Uneingeschränkte und völlige Toraerfüllung (vgl. z. B. 1QS 2,2–4; 5,8–11)295 sowie das völlige Angewiesensein auf die Gnade Gottes ermöglichen es dem Frommen, Gottes Willen zu befolgen und Gerechtigkeit zu üben (1QS 11,12).
Die Position des Paulus in der religiös-philosophischen Debatte über den Ursprung des Bösen und seine Überwindung erweist ihre Originalität nicht in der Analyse, wohl aber in der Lösung. Wie viele seiner Zeitgenossen zeichnet der Apostel ein düsteres Bild vom Zustand der Menschheit. Er leitet diese Einschätzung aber nicht aus der Beobachtung des Vorfindlichen oder der Einsicht in das Innere des Menschen ab, sondern aus der Befreiungstat Jesu Christi. Der einzigartigen Rettungstat entspricht die ausweglose Situation der zu Rettenden. Die paulinische Lösung zeichnet sich durch zwei Komponenten aus: 1) Sie nimmt den zeitgenössischen religiös-philosophischen Diskurs auf und erweist sich dadurch als ein anziehender und kompetenter Gesprächspartner. 2) Sie eröffnet den Menschen eine einsichtige und praktikable Möglichkeit, aus ihrer Situation befreit zu werden. Paulus unterscheidet sich von allen anderen Systemen durch die These, dass die Sünde für die Christen in der Taufe bereits überwunden ist296, so dass die Getauften wesensmäßig der versklavenden Macht der Sünde entzogen sind. Was Paulus in mythologischer Sprache mit seinen Aussagen zur Sünde beschreibt, heisst in seinem Kern: Die Destruktivität menschlichen
293 Vgl. hier K. G. KUHN, Peirasmo´ß – amartı´a – sa´rx im Neuen Testament und die damit zusammenhängenden Vorstellungen, ZThK 49 (1952), (200–222) 209ff; P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus (s. o. 6.3), 35–40. 294 Zum Sündenverständnis in den Qumrantexten vgl. H. LICHTENBERGER, Studien zum Menschenbild in
Texten der Qumrangemeinde, SUNT 15, Göttingen 1980, 79–98.209–212. 295 Vgl. zum Gesetzesverständnis in Qumran H. LICHTENBERGER, Studien, 200–212. 296 Vgl. P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus (s. o. 6.3), 108–111.
268 Paulus: Missionar und Denker
Seins kann der Mensch nicht selbst überwinden . Vielmehr entrinnt er der Unzulänglichkeit und Ichbezogenheit seines Denkens und Tuns nur, wenn er seine Existenz in Gott verankert; d. h. die neue Existenz kann nicht einfach die Verlängerung der alten sein, es muss ein Herrschafts- und Existenzwechsel stattfinden. Die Möglichkeit dazu eröffnet das Christusgeschehen, das in der Taufe gegenwärtig ist, von der Macht der Sünde befreit und in die Freiheit des Geistes stellt. 6.5.3
Gesetz
F. HAHN, Das Gesetzesverständnis im Römer- und Galaterbrief, ZNW 67 (1976), 29–63; H. HÜBDas Gesetz bei Paulus. Ein Beitrag zum Werden der paulinischen Theologie, FRLANT 119, Göttingen 31982; U. WILCKENS, Zur Entwicklung des paulinischen Gesetzesverständnisses, NTS 28 (1982), 154–190; G. KLEIN, Art. Gesetz III, TRE 13, Berlin/New York 1984, 58–75; P. STUHLMACHER, Das Gesetz als Thema biblischer Theologie, in: ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit, Göttingen 1981, 136–165; E. P. SANDERS, Paul, the Law, and the Jewish People, Minneapolis 1983; H. RÄISÄNEN, Paul and the Law, WUNT 29, Tübingen 21987; TH. R. SCHREINER, The Law and Its Fulfillment, Grand Rapids 1993; H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, WUNT 86, Tübingen 1996; F. E. UDOH, Paul’s view on the law, NT 42 (2000), 214–237; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR. Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext, TANZ 34, Tübingen 2000; U. SCHNELLE, Paulus und das Gesetz, in: Biographie und Persönlichkeit des Paulus, hg. v. E.-M. Becker/P. Pilhofer, WUNT 187, Tübingen 2006, 245–270. NER,
Paulus lebte in einem kulturgeschichtlichen Umfeld, das sowohl innerhalb seiner jüdischen Mutterreligion als auch im originär griechisch-römischen Bereich zahlreiche Entwürfe zur heilsamen Funktion des Gesetzes bzw. der Gesetze kannte297. Kulturgeschichtliche Vorgaben
Das Gesetz (no´moß)298 erscheint innerhalb des antiken Gemeinwesens als jene Norm, die eine Verehrung der Götter fordert299 und die Gerechtigkeit zwischen Menschen schafft300. Nach Aristoteles erfährt die Gerechtigkeit ihre innere Bestimmung von 297 Dieser Bereich wird erst allmählich in seiner Bedeutung für das paulinische Gesetzesverständnis erkannt; vgl. dazu O. BEHRENDS/W. SELLERT (Hg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, Göttingen 1995; für den Bereich der ntl. Exegese vgl. H. HÜBNER, Das ganze und das eine Gesetz. Zum Problemkreis Paulus und die Stoa, in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, hg. v. A./M. Labahn, Göttingen 1995, 9– 26; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR; K. HAACKER, Der ‚Antinomismus‘ des Paulus im Kontext antiker Gesetzestheorie, in: H. Lichtenberger u. a. (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 387–404; F. G. DOWNING, Cynics, Paul
and the Pauline Churches, London 1998, 55–84. 298 Das griechische Wort no´moß leitet sich von ne´mw
(„austeilen/verteilen“) ab und meint in seiner Grundbedeutung: ‚Zuteilung, Anordnung, Ordnung‘; vgl. J. POKORNY, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch I (s. o. 1.1), 763. 299 Vgl. dazu Plat, Leg X 885b: „Niemand, der gemäß den Gesetzen an das Dasein der Götter glaubt, hat jemals freiwillig eine unfromme Tat begangen oder ein gesetzloses Wort geäußert . . .“; vgl. ferner Leg XII 966b–e. 300 Vgl. die Textbeispiele und Analysen bei H. SONNTAG, NOMOS SWTVR, 18–46.
Anthropologie 269
den Gesetzen, so dass gilt: „Wer die Gesetze mißachtet, ist ungerecht, so hatten wir gesehen, wer sie achtet, ist gerecht. Das heißt also: alles Gesetzliche ist im weitesten Sinn etwas Gerechtes“ (Eth Nic V 1138a). Die Gerechtigkeit des Menschen ergibt sich aus einem normengemäßen und d. h. gerechten Verhalten. Indem die Gesetze als kulturstiftende Macht den Bestand des individuellen Lebens und der Polis insgesamt gewähren und damit dem Untergang wehren, haben sie eine Leben spendende und zugleich rettende Funktion301. Die Gesetze regeln auch das Verhältnis der Menschen zu den Göttern. Frömmigkeit resultiert aus einem an den Gesetzen orientierten Verhalten gegenüber den Göttern (vgl. Plat, Leg X 885b). Nach Chrysipp heißt ein naturgemäßes Leben, nichts zu tun, „was das gemeinsame Gesetz verbietet (o no´moß o koino´ß), das Gesetz, das die rechte Vernunft ist (orho`ß lo´goß), die alles durchdringt, das identisch ist mit Zeus, dem herrschenden Verwalter des Weltalls“ (Diog L 7,88). Der Mensch ist Teil einer Wirklichkeit, die vom Gesetz als Teil der göttlichen Weltordnung strukturiert und geleitet wird. Auch um die Zeitenwende ist das Bewusstsein weit verbreitet, dass es neben den zahllosen Einzelgesetzen das eine Gesetz gibt: „Dieses Gesetz ist die richtige Vernunft (recta ratio) im Bereich des Befehlens und Verbietens“ (Cic, Leg 1,42). Das Gesetz enthält weitaus mehr als Vorschriften, denn es ist die von den Göttern gesetzte Voraussetzung für gelingendes Leben (Cic, Leg 1,58: „Aber da das Gesetz dazu muss, falsches Verhalten auszumerzen und die Tugend zu empfehlen, trifft es zweifellos zu, dass die Lehre vom richtigen Leben aus dem Gesetz hergeleitet wird“). Das wahre Gesetz existierte schon vor der schriftlichen Fixierung von Gesetzen, denn es ist aus der Vernunft hervorgegangen, die gleichzeitig mit dem göttlichen Geist entstand. „Deshalb ist das wahre und ursprüngliche Gesetz, das geeignet ist zu befehlen und zu verbieten, die richtige Vernunft des Jupiters, des höchsten Gottes“ (Cic, Leg 2,10). Leben kann im Individuellen und in der Gemeinschaft nur gelingen, wenn die Einsicht in die von den Göttern gewollte Ordnung gelingt. Deshalb kann Dio Chrysostomus ein Loblied auf das Gesetz anstimmen: „Das Gesetz ist fürs Leben ein Führer . . . , für das Handeln eine gute Richtschnur“ (Or 75,1). Selbst den Göttern dient das Gesetz, weil es die Ordnung des Weltalls verbürgt. Gesetz und Gerechtigkeit gehören selbstverständlich zusammen, denn beide verbürgen das Leben302. Plutarch (Mor 780E) rät den Königen, sich der von Gott verliehenen Geschenke zu bedienen, zu denen vor allem das Gesetz und die Gerechtigkeit zählen: „Die Gerechtigkeit ist das Ziel des Gesetzes, das Gesetz ein Werk des Königs, der König aber ein Ebenbild der alles ordnenden Gottheit“ (dı´kv me`n oun no´mou te´loß estı´, no´moß dL arcontoß ergon, arcwn dL eikw`n heou˜ tou˜ pa´nta kosmou˜ntoß). Das Gesetz erscheint gerade im griechisch-hellenisti-
301 Vgl. die Textanalysen bei H. SONNTAG, NOMOS SWTVR, 47–105. 302 Vgl. Dio Chrys, Or 75,6; vgl. ferner Or 75,8.
270 Paulus: Missionar und Denker
schen Denken als von den Göttern gespendete Seinsmacht und Seinsordnung, die Leben ermöglicht und trägt. Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer Frage (s. o. 3.8.1). Allerdings gab es innerhalb des antiken Judentums verschiedene Toratheologien (z. B. kulturgeschichtlich: hellenistisch beeinflusstes Diasporajudentum303; Apokalyptik304; politisch-theologisch: Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zeloten) und vereinzelt auch Stimmen, die möglicherweise die Leistungskraft der Tora problematisierten305. Kulturgeschichtlich war es sowohl vom griechisch-römischen als auch vom jüdischen Kontext her überhaupt nicht vorstellbar, dass Paulus und seine Gemeinden ihrem Selbstverständnis nach ‚gesetzlos‘, d. h. ohne Leben spendende und rettende Normen lebten. Wie bei der Gerechtigkeit war Paulus die Gesetzesthematik vorgegeben. Damit ist aber noch nicht darüber entschieden, wie er seit Damaskus mit diesem Thema umgeht. Der Lebensweg des Paulus vom eifernden Pharisäer bis hin zum konflikterprobten Apostel der Völker weist zahlreiche Verwerfungen auf, die auch seine Aussagen zum Gesetz/zur Tora beeinflusst haben. Deshalb ist es notwendig, zwischen einer diachronen und einer synchronen Betrachtung zu unterscheiden. Die diachrone Analyse
Die Eigenaussagen des Paulus über seine phärisäische Vergangenheit in Gal 1,13.14 und Phil 3,5–9 lassen drei Schlüsse zu: a) Paulus war ein Eiferer für die Tora, er empfand sich selbst untadelig in der Gesetzeserfüllung und übertraf alle Altersgenossen in seinem Einsatz für die Überlieferungen der Väter. b) Wenn Paulus als zvlwtv´ß („Eiferer“) dem radikalen Flügel des Pharisäismus zuneigte, dann war er in der Welt der Tora und ihrer Auslegung umfassend beheimatet. Er kannte die gesamte Bandbreite jüdischer Gesetzesauslegung306, so dass die These, Paulus missverstehe bzw. verzeichne das jüdische Gesetzesverständnis, als unzutreffend angesehen werden muss. c) Die Verwurzelung in der pharisäischen Tradition lässt erwarten, dass die Gesetzesproblematik auch für den Völkerapostel Paulus ein bedeutsames und sensibles Thema blieb. Die Eigenberichte über die Berufung zum Völkerapostel bei Damaskus lassen jedoch einen unmittelbar gesetzeskritischen Inhalt nicht erkennen (s. o. 6.2.2). Vielmehr offenbart Gott dem Verfolger Paulus, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth als Gottessohn bleibend auf die Seite des Vaters gehört und rettet. Wenn Damaskus in seinem Kern christologisch-soteriologisch auszulegen ist, bleibt die Frage, welche
303 Umfassende Analysen (ohne Philo und Josephus) bietet R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum (s. o. 3.8.1), 37–322. 304 Vgl. hier H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik, StUNT 23, Göttingen 1999, 71 ff.
305 Vgl. Philo, Migr 89f; 4Esra 7,72; 8,20–36.47–49; Jos, Ant 4,141–155; Strabo, Geographica XVI 2,35– 38. 306 Vgl. H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik, 337.
Anthropologie 271
Konsequenzen ein solch umstürzendes Geschehen für das Gesetzesverständnis des ehemaligen Pharisäers Paulus haben musste. Für die Frühzeit des Apostels sind nur Vermutungen möglich; Paulus schloss sich der bereits expandierenden antiochenischen Völkermission an (vgl. Apg 11,25f), und bejahte damit die dort geübte Theorie und Praxis der Evangeliumsverkündigung. Die Position der antiochenischen Christusgläubigen aus dem hellenistischen Judentum (vgl. Apg 11,20f) war zuallererst tempel- und nicht gesetzeskritisch307. Sie machten die überwältigende Erfahrung, dass Gott auch den Nichtjuden den Heiligen Geist schenkt (vgl. Apg 10,44–48; 11,15). Daraus erwuchs die Erkenntnis, dass eine Neubewertung der heilsgeschichtlichen Stellung der Christusgläubigen aus den Völkern unumgänglich war. Man verzichtete auf die Beschneidung und nahm damit die Tora aus dem unmittelbaren Bereich der Heilsfrage heraus. Das gleiche Bekenntnis von Christusgläubigen aus dem Judentum und den Völkern zum ku´rioß LIvsou˜ß (Apg 11,20) überwand bisher geltende Vor- und Nachordnungen. Welche Rolle spielte die Tora im Rahmen einer beschneidungsfreien Mission? Wahrscheinlich eine geringe, denn der Verzicht auf die Beschneidung war mit der Aufgabe der Ritualgesetze verbunden (vgl. Apg 10,14 f.28; 11,3), und selbst der auch für Christen aus dem nichtjüdischen Bereich problemlos rezipierbare ethische Kernbestand der Tora (Dekalog) wird nur in Röm 7,7; 13,9 zitiert. Auch das Apostelkonzil mit dem ‚Aposteldekret‘ (Apg 15,29)308 und Traditionen in den paulinischen Briefen bestätigen dieses Bild. Auf dem Apostelkonzil konnte eine Beschneidung der Christen aus dem nichtjüdischen Bereich nicht durchgesetzt werden, das ‚Aposteldekret‘ stellt den Versuch gemäßigt judenchristlicher Kreise dar, dennoch Minimalforderungen des Ritualgesetzes auch für Christen aus den Völkern wieder in Geltung zu setzen, d. h. sie wurden von ihnen zuvor nicht beachtet. Die Indifferenz der Beschneidung und damit auch der Tora dokumentieren Traditionen wie Gal 3,26–28; 1Kor 7,19; 9,20–22; Gal 5,6; 6,15, die den neuen Status aller Glaubenden und Getauften vor Gott jenseits von Beschneidung bzw. Unbeschnittenheit betonen. Für die Stellung des Paulus zur Tora in der Frühzeit seiner Missionstätigkeit ergibt sich somit, dass die Zugehörigkeit zum Volk Gottes für die Christen aus den Völkern durch den Glauben und die Taufe, nicht aber durch Beschneidung und daraus folgender Toraobservanz vermittelt wird. Als neue, das Verhältnis zu Gott und den Menschen regelnde Normen treten der Glaube und der Geist auf, als entscheidender Initiationsritus fungiert die Taufe. Ihrem Selbstverständnis nach waren Paulus und seine Gemeinden nie ‚gesetzlos‘, wohl aber aus der Perspektive der militanten Judenchristen und der Juden . Das Apostelkonzil bestätigte aus paulinischer Sicht diese Regelung, zugleich akzeptierte Paulus aber den älteren streng judenchristlichen Weg der Jerusalemer Gemein307 Dies betont nachdrücklich E. RAU, Von Jesus zu
Paulus, Stuttgart 1994, 79.
308 Zur Interpretation des Apostelkonzils und ‚Aposteldekrets‘ vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 117–135.
272 Paulus: Missionar und Denker
de und ihrer Sympathisanten. Die Unterscheidung zwischen dem paulinischen „Evangelium der Unbeschnittenheit“ und dem petrinischen „Evangelium der Beschneidung“ (Gal 2,7)309 ist keine neue, erst ab 48 n.Chr. geltende Regelung, sondern die Fortschreibung bereits seit langer Zeit bestehender differenter Missionskonzepte. Für das paulinische Gesetzes-/Toraverständnis ergibt sich daraus, dass Paulus als der eigentliche Neuerer im vollen Umfang das geschichtlich gewordene Nebeneinander verschiedener Initiationsriten und damit unterschiedener Gesetzeskonzeptionen anerkannte. Apg 11,3 und der antiochenische Konflikt lassen vermuten, dass die Unterschiede zwischen beiden Konzeptionen vor allem in der Beurteilung der Speisegesetze und ihrer Konsequenzen (z. B. hinsichtlich der Herrenmahlsfeier) lagen. Zudem befand sich die Jerusalemer Gemeinde zunehmend in einer völlig anderen kulturellen und politischen Situation als Paulus. Ihr Ziel war das Verbleiben innerhalb des Judentums, sie wollte und musste deshalb der Tora eine andere Bedeutung zumessen als Paulus. Der Kompromiss auf dem Apostelkonzil erwies sich aber nur als Scheinlösung, denn er wurde von den verschiedenen Seiten unterschiedlich interpretiert oder nur eine Zeit lang akzeptiert. Zudem löste die Vereinbarung nicht die Probleme von Mischgemeinden (vgl. den antiochenischen Konflikt) und für die Jerusalemer Gemeinde verschärfte sich zunehmend der politische Druck, die beschneidungsfreie Mission unter den Völkern nicht mehr zu akzeptieren und die Verbindung zum – aus jüdischer Sicht – Apostaten Paulus aufzugeben. Zumindest mit Billigung der Jerusalemer Gemeinde begann eine Gegenmission mit dem Ziel, den Christen aus den Völkern durch Beschneidung den Proselytenstatus zu vermitteln und die gesamte neue Bewegung der Christusgläubigen im Judentum zu belassen bzw. in es zu integrieren. Mit der galatischen Krise brachen die ungelösten bzw. verdrängten Probleme in voller Schärfe auf und Paulus sah sich herausgefordert, die Gesetzesproblematik unter veränderten Voraussetzungen umfassend zu bedenken und zu lösen. Deshalb ist eine Differenzierung unumgänglich: Bis zur galatischen Krise akzeptierte Paulus einen unterschiedlichen Umgang und eine abweichende Bewertung der Tora zwischen der Jerusalemer Gemeinde (und ihren Sympathisanten) auf der einen Seite und den jungen überwiegend beschneidungsfreien Missionsgemeinden auf der anderen Seite. Für Paulus und seine Gemeinden galt Beschneidungsfreiheit und die Tora spielte entweder gar keine oder nur eine untergeordenete Rolle. Der Briefbefund bestätigt diese Einschätzung, denn im 1Thess und den Korintherbriefen wird das Gesetz entweder gar nicht (1Thess, 2Kor) oder nur am Rand erwähnt. Es fehlen bis auf die Andeutung 1Kor 15,56 inhaltliche Aussagen über die Funktion des Gesetzes, d. h. Paulus benötigte keine differenzierte Gesetzeslehre, weil das Gesetz kein vordringliches Thema war. Die ethischen Anweisungen wurden nicht aus der Tora begründet310 und das neue Gerechtigkeitskonzept verband sich mit der Taufe und 309 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 122–125.
310 Vgl. A. LINDEMANN, Die biblischen Toragebote und
Anthropologie 273
nicht mit dem Gesetz. Mit der galatischen Krise änderte sich die Situation schlagartig 311, denn nun wurde den paulinischen Gemeinden die Toraproblematik in Gestalt der Beschneidungsforderung massiv von außen aufgedrängt 312. Die Tora rückte auch in den vorwiegend beschneidungsfreien christlichen Gemeinden von der Peripherie in das Zentrum, und Paulus sah sich genötigt, wie zuvor die Jerusalemer das Konzept unterschiedlicher Wege in der Gesetzes-/Torafrage aufzukündigen und die Bedeutung der Tora für Christen aus dem Judentum und aus den Völkern grundsätzlich zu klären. Dabei kamen einer missionsstrategischen und einer theologischen Überlegung grundlegende Bedeutung zu: 1) Die Beschneidung von Menschen aus den Völkern hätte die Ausbreitung der neuen Bewegung nachhaltig beeinträchtigt. 2) Mit der Beschneidung verbindet sich natürlicherweise und unabweisbar die Frage nach der Lebensgewinnung durch die Tora313, d. h. die soteriologische Qualität des Christusgeschehens wäre beeinträchtigt worden. Die geradezu atemlose, höchst emotionale und spannungsreiche Argumentation lässt ebenso wie die Korrekturen im Römerbrief erkennen, dass Paulus diese Form einer Rechtfertigungs- und Gesetzeslehre erstmals im Galaterbrief vorträgt314. Paulus demontiert die Tora, indem er sie zeitlich (Gal 3,17) und sachlich (Gal 3,19f) als sekundär eingestuft. Ihr kam innerhalb der Geschichte lediglich die Aufgabe zu, die Menschen zu beaufsichtigen (vgl. Gal 3,24). Diese Zeit der Unfreiheit ist nun in Christus zu ihrem Ende gekommen, er befreite die Menschen zur Freiheit des Glaubens (Gal 5,1). Die Glaubenden aus Juden- und Heidentum sind jenseits der Beschneidung und der Tora die legitimen Erben der Verheißungen an Abraham (vgl. Gal 3,29). die paulinische Ethik, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche (s. o. 6), 91–114. 311 Vgl. W. WREDE, Paulus (s. o. 6), 74f; für die galatische Krise als Ausgangspunkt der Rechtfertigungslehre des Gal und Röm votieren z. B. auch G. STRECKER, Theologie, 149; U. WILCKENS, Theologie III, 136ff; PH. F. ESLER, Galatians, London 1998, 153–159; F. E. UDOH, Paul’s view on the law, 237. 312 Völlig anders M. D. NANOS, Irony of Galatians: Paul’s Letter in First-Century Context, Philadelphia 2002, 6, der zu den galatischen ‚influencers‘ feststellt, dass sie nicht von außen (z. B. Jerusalem) in die Gemeinden eindrangen. 313 Der in der älteren Forschung anzutreffende und von der anglo-amerikanischen Forschung attackierte Begriff der ‚Werkgerechtigkeit‘ ist natürlich nicht geeignet, die verschiedenen Ebenen jüdischer Soteriologie zu erfassen. Zugleich zeigt sich aber immer deutlicher, dass der von E. P. SANDERS postulierte ‚Bundesnomismus‘ (vgl. ders., Paulus und das palästinische Judentum [s. o. 6], 400), nichts anderes als
eine idealtypische Anwendung paulinischer und reformatorischer Kategorien auf das Judentum ist (am Anfang steht jetzt überall die Gnade!). Zur Kritik an dieser Konzeption vgl. S. J. GATHERCOLE, Where is Boasting? Early Jewish Soteriology and Paul’s Response in Romans 1–5, Grand Rapids, 2002, der aufzeigt, dass in zahlreichen jüdischen Texten (z. B. Sir 51,30; Bar 4,1; 2Makk 7,35–38; Jub 30,17–23; PsSal 14,2f; PsPhilo 64,7; TestSeb 10,2f) die Befolgung der Tora und die Lebensgewinnung untrennbar zusammengehören. Vgl. ferner F. AVEMARIE, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, TSAJ 55, Tübingen 1996, der herausarbeitet: „Das Vergeltungsprinzip gilt ungebrochen; nirgends wird in Zweifel gezogen, dass die Gebotserfüllung belohnt und die Übertretung bestraft wird“, auch wenn häufig betont wird, „dass der bessere Gehorsam nicht durch Lohn motiviert ist, sondern um Gottes willen oder um der Gebote selbst willen geschieht“ (a. a. O., 578). 314 Vgl. hierzu U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 301–321.
274 Paulus: Missionar und Denker
Paulus hebt im Gal die hamartiologische Sonderstellung der Juden und Judenchristen auf (Gal 2,16) und ordnet sie in die von der Sünde bestimmte Menschheitsgeschichte ein (vgl. Gal 3,22). Beschneidung und Tora gehören nicht zur soteriologischen Selbstdefinition des Christentums 315, weil sich Gott unmittelbar in Jesus Christus offenbarte und die Getauften und Glaubenden in der Geistgabe an diesem Heilsereignis partizipieren. Eine Schlüsselrolle in der paulinischen Nomologie nimmt die Wendung erga no´mou („Werke des Gesetzes/der Tora“) ein (vgl. Gal 2,16; 3,2.5.10; Röm 3,20.28; ferner Phil 3,9)316. Was meint Paulus mit erga no´mou, und welches theologische Konzept verbindet er damit? R. Bultmann sieht in den ‚Werken des Gesetzes‘ das Resultat eines verfehlten Gesetzeseifers, Paulus lehne den Weg der Gesetzeswerke ab, „weil das Bemühen des Menschen, durch Erfüllung des Gesetzes sein Heil zu gewinnen, ihn nur in die Sünde hineinführt, ja im Grunde selber schon die Sünde ist.“317 Paulus werte also nicht erst die Erfolglosigkeit, sondern schon die Absicht, durch Erfüllung des Gesetzes vor Gott gerecht zu werden, als Sünde. Für J. D. G. Dunn sind erga no´mou nicht die vor Gott verdienstvoll machenden Bestimmungen der Tora, sondern jüdische ‚identity markers‘ wie Beschneidung, Speisegebote und Sabbat, die Juden von Heiden unterscheiden. Paulus bewertet diese ‚identity markers‘ nur dann negativ, wenn sie zur Begründung jüdischer Prärogative in Anspruch genommen werden und die Gnade Gottes einengen. „In sum, then, the ‚works‘ which Paul consistently warns against were, in his view, Israel’s misunderstanding of what her covenant law required.“318 Paulus wendet sich somit nicht gegen das Gesetz als solches und verunglimpft nicht ‚Werke des Gesetzes‘. Vielmehr votiert er gegen das Gesetz als nationale Identifikationsgröße; ein an Privilegien orientiertes Verständnis der Tora ist Gegenstand seiner Kritik. Die Rechtfertigungslehre bestimmt demnach nicht primär des Verhältnis des einzelnen zu Gott, sondern sichert die Rechte der Heidenchristen. Der Kritik an R. Bultmann ist da-
315 Es kann deshalb überhaupt keine Rede davon sein, dass Paulus nicht die Tora, sondern nur ihre Relevanz für das Leben der Christen aus den Völkern kritisiere, wie vielfach in der sogen. ‚new perspective‘ behauptet wird; zu dieser im angelsächsischen Raum einflussreichen Forschungsrichtung vgl. neben den zahlreichen Veröffentlichungen von E. P. SANDERS und J. D. G. DUNN vor allem N. T. WRIGHT, What St. Paul Really Said: Was Paul of Tarsus the Real Founder of Christianity?, Grand Rapids 1997. Einen aktuellen Forschungsüberblick bieten M. B. THOMPSON, The New Perspective on Paul, Cambridge 2002; S. WESTERHOLM, Perspectives Old and New on Paul, Grand Rapids/Cambridge 2004. Zur kritischen Darstellung der ‚new perspective‘ vgl. A. J. M. WEDDERBURN, Eine neuere Paulusperspektive?, in: Biographie und Persönlichkeit bei Paulus, hg. v. E.-M. Becker/P. Pilhofer, WUNT 187, Tübin-
gen 2006, 46–64; J. FREY, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus (s. o. 6), 35–43. Innerhalb der ‚new perspective‘ wurden einerseits Zerrbilder des antiken Judentums korrigiert und weiterführende Präzisierungen für das Verständnis des jüdischen Hintergrundes der paulinischen Theologie vorgenommen, zugleich ist aber (neben den zahlreichen bei J. Frey aufgeführten Punkten) zu kritisieren, dass in der ‚new perspective‘ der griechisch-römische Bereich fast vollständig ausgeblendet wird. 316 Darstellung der Diskussion und weitere Literatur in: U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 304–309. Die aktuelle Kontroverse wird fortgesetzt in: M. BACHMANN (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive, WUNT 182, Tübingen 2005. 317 R. BULTMANN, Theologie, 264 f. 318 J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 366.
Anthropologie 275
rin zuzustimmen, dass Paulus die Möglichkeit, aus der Tora heraus Leben zu erlangen, nicht nur rhetorisch zugesteht. Die Schrift bezeugt ausdrücklich diesen Weg (vgl. Lev 18,5 in Gal 3,12b; ferner Röm 2,13; 10,5). Weder die Tora noch das Tun des in der Tora Gebotenen sind für Paulus dem Bereich der Sünde zuzurechnen, faktisch führen aber die erga no´mou unter der Perspektive des Torafluches immer in den Bereich der Sünde, weil niemand das in der Tora Geschriebene (Gal 3,10b) wirklich befolgt. Deshalb muss gegenüber den reduktionistischen Verengungen der ‚new perspective‘ betont werden, dass Paulus mit seiner Rede von den erga no´mou grundsätzliche theologische Aussagen einbringt 319. Der durchgängig negative Gebrauch bei Paulus verdeutlicht, dass die erga no´mou das von der Sünde bestimmte Resultat der zu tuenden Regelungen/Vorschriften/ Praktiken der Tora sind. Die Ebene des menschlichen Tuns (vgl. poieı˜n in Gal 3,10.12!) ist für die paulinische Argumentation konstitutiv, denn erst sie ermöglicht den Angriff der Sünde. Die ‚Werke des Gesetzes‘ können nicht zur Gerechtigkeit führen, weil die Macht der Sünde die Lebensverheißung der Tora konterkariert. Damit bewertet Paulus zugleich die Tora: Sie hat im Gegensatz zum pneu˜ma nicht die Kraft, sich des Zugriffs der Sünde zu erwehren (vgl. Gal 5,18). Die Tora bleibt unter dem Aspekt der Lebensverheißung hinter ihren eigenen Verheißungen zurück, die Stärke der Sünde offenbart auch eine Schwäche der Tora. Faktisch geht Paulus von einer Insuffizienz der Tora aus!
Der Röm bringt gegenüber dem Gal substantielle Veränderungen auf drei Ebenen320: a) Paulus führt dikaiosu´nv heou˜ („Gerechtigkeit Gottes“) als theologischen Leitbegriff ein, um damit den theologischen Grundertrag der Argumentation des Gal zu sichern (vgl. Röm 3,21: dikaiosu´nv heou˜ cwri`ß no´mou; ferner Röm 6,14b; 10,1–4). b) Dies ermöglicht ihm eine partielle Neubewertung des Gesetzes/der Tora (vgl. Röm 3,31; 7,7.12; 13,8–10); das Gesetz/die Tora wird nicht mehr als solches kritisiert, es ist nun zuallererst Opfer der Sündenmacht. c) Paulus bedenkt umfassend das Verhältnis der Gerechtigkeit Gottes zur Erwählung Israels. Diese Veränderungen ergeben sich aus der besonderen historischen Situation des Apostels im Verhältnis zur Jerusalemer und zur römischen Gemeinde (Kollektenübergabe, Spanienmission), aber auch aus der polemisch einseitigen Argumentation des Gal. Der Phil nimmt den Ertrag der Rechtfertigunsglehre des Röm auf (vgl. Phil 3,5.6.9) und steht auch in seinem Gesetzesverständnis in der Kontinuität des vorangehenden Briefes. Der historische Abriss zeigt, wie sehr das jeweilige Gesetzesverständnis mit dem Lebensweg des Paulus verbunden ist. Man wird deshalb nicht von dem Gesetzes-/Toraverständnis des Apostels sprechen können, denn Paulus bearbeitete notwendiger-
319 Vgl. hier O. HOFIUS, „Werke des Gesetzes“. Unter-
suchungen zu der paulinischen Rede von den erga no´mou, in: D. Sänger/U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 271–310. 320 Keineswegs handelt es sich nur um „Vertiefungen“, wie J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 419, meint. Auch der Einwand, der geringe zeitliche Abstand
zwischen Gal und Röm spräche gegen Veränderungen (so J. D. G. DUNN, Theology of Paul [s. o. 6], 131), überzeugt nicht, denn sowohl der Textbefund in beiden Briefen als auch die veränderte historische Situation des Apostels weisen darauf hin, dass Paulus seine Position weiterentwickelt hat.
276 Paulus: Missionar und Denker
weise und sachgemäß die Gesetzes-/Torathematik seiner historischen Situation entsprechend in unterschiedlicher Weise. Dabei dokumentieren der Gal und Röm eine späte Phase, die zugleich zeitlich und sachlich einen Endpunkt darstellt. Sie bildet den Ausgangspunkt für die synchrone Erfassung des paulinischen Gesetzes- /Toraverständnisses. Die synchrone Analyse
Paulus spricht in sehr verschiedener Weise über das Gesetz/die Tora. Es finden sich positive Aussagen über den Charakter (Röm 7,12: „So ist das Gesetz heilig und das Gebot heilig, gerecht und gut“; vgl. ferner Röm 7,16b.22) und die Erfüllbarkeit des Gesetzes (Gal 3,12: „wer sie tut [die Gebote] wird in ihnen leben“; Röm 2,13: „die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“; vgl. ferner Gal 5,3.23; Röm 2,14f). Ausdrücklich wird in Gal 5,14 und Röm 13,8–10 der positive Zusammenhang zwischen dem Liebesgebot und der Gesetzeserfüllung betont. Aber auch negative Aussagen über das Gesetz/die Tora sind anzutreffen. Das Gesetz/die Tora ist sowohl sachlich (vgl. Gal 3,19.23.24; 4,5; 5,4 Röm 6,14b: „Denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“) als auch zeitlich defizitär (vgl. Gal 3,17: 430 Jahre nach der Verheißung; Gal 3,24: ‚Zuchtmeister‘ auf Christus hin; Röm 5,20a: „Das Gesetz ist dazwischengekommen“; Röm 7,1–3). Das Gesetz/die Tora steht in einem Gegensatz zum Geist (Gal 3,1–4; 5,18), zum Glauben (Gal 3,12.23), zur Verheißung (Gal 3,16–18; Röm 4,13) und zur Gerechtigkeit (Gal 2,16; 3,11.21; 5,4; Röm 3,28; 4,16). Es hat die Funktion der Sündenerkenntnis321 (Röm 3,20.21a: „Denn aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch vor ihm gerecht, denn durch das Gesetz kommt es zur Erkenntnis der Sünde. Nun aber ist – ohne das Gesetz – die Gerechtigkeit Gottes offenbar geworden“; Röm 4,15b: „wo aber kein Gesetz, da auch keine Übertretung“; vgl. 1Kor 15,56; Röm 5,13.20; 7,13). Weitere negative Funktionsbeschreibungen des Gesetzes/der Tora sind: „Denn das Gesetz bewirkt Zorn“ (Röm 4,15a); das Gesetz/die Tora ruft sündige Leidenschaften hervor (Röm 7,5); das Gesetz/die Tora hält gefangen (Röm 7,6a). Das Gesetz/die Tora ist unfähig, die Herrschaft der Sünde zu durchbrechen. Was einst zum Leben gegeben wurde (vgl. Dtn 30,15.16!), erweist sich nun als Handlanger des Todes. Nach Gal 3,22 entspricht dies der Schrift und damit dem Willen Gottes; in Röm 7,14ff; 8,3.7 hingegen wird die Schwäche des Gesetzes gegenüber der Sünde lediglich konstatiert. Paulus lehnt in Röm 7,7 emphatisch den naheliegenden Einwand ab, das Gesetz/die Tora selbst sei Sünde. Allerdings provozieren Röm 4,15; 5,13; 7,5.8.9 diese Schlussfolgerung, denn hier wird dem Gesetz/der Tora eine aktive Rolle zugeschrieben; es aktiviert die Sünde und setzt so jenen verhängnisvollen Prozess in Gang, an dessen Ende der eschatologische Tod steht. Schließlich finden sich bei Paulus paradoxe Aussagen über das Gesetz/die Tora, die sich nur vom Kontext bzw. der Gesamtinterpretation des paulinischen Gesetzesver321 Vgl. dazu Ps 19,13; 32; 51; 119.
Anthropologie 277
ständnisses erschließen (Gal 6,2: „Gesetz Christi“; Röm 3,27: „Gesetz des Glaubens“; Röm 8,2: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat dich befreit vom Gesetz der Sünde und des Todes“; Röm 10,4: Christus als te´loß des Gesetzes/der Tora)322. Lassen sich diese verschiedenen Aussagereihen ohne Harmonisierungen zusammendenken oder müssen bei Paulus verschiedene Gesetzeslehren konstatiert werden323? Sind die Stellungnahmen des Apostels zum Gesetz/zur Tora vielleicht sogar so spannungsreich, dass eine Zusammenschau unmöglich ist324? Der Versuch einer Lösung dieses Problemkomplexes soll in zwei Schritten erfolgen: 1) Zunächst gilt es, die denkerischen Probleme in den Blick zu nehmen, vor denen Paulus stand. 2) Es muss dann gefragt werden, wie sich die einzelnen Linien des paulinischen Gesetzesverständnisses zueinander verhalten und ob sie in ein konsistentes Gesamtverständnis überführt werden können. Zu 1: Der sachliche Ausgangspunkt des paulinischen Gesetzesverständnisses ist die Erkenntnis, dass Gott in Jesus Christus letztgültig die Menschen retten will. Wie verhält sich dann aber die erste Offenbarung Gottes in der Tora zum Christusgeschehen? Einen direkten oder auch nur graduellen Gegensatz zwischen beiden Offenbarungen konnte Paulus nicht behaupten, wenn er nicht unaufhebbare Widersprüche im Gottesbild in Kauf nehmen wollte. War die erste Offenbarung nicht ausreichend, um den Menschen das Leben zu gewähren? Warum wendet sich Gott zunächst nur an das Volk Israel, dann aber an die ganze Welt? Welchen Wert hat die Tora, wenn Menschen aus den Völkern auch ohne Beschneidung den Willen Gottes umfassend erfüllen können? Paulus wollte an beidem festhalten: an der Gültigkeit der ersten Offenbarung und dem allein rettenden Charakter der zweiten Offenbarung. Zwei unaufhebbare, zugleich aber gegensätzliche Grundsätze stehen sich bei Paulus gegenüber. Eine göttliche Setzung gilt und: Allein der Glaube an Jesus Christus rettet. Paulus stand also vor einem unlösbaren Problem, er wollte und musste eine Kontinuität nachweisen, die nicht bestand, die Kontinuität des Heilshandelns Gottes im ersten und im zweiten Bund. Denn: „Wenn das Volk Gottes sich bekehren muß, um das Volk Gottes zu bleiben, kann der früher gestiftete Bund als solcher nicht befriedigend sein.“325 Die denkerischen Probleme wurden durch offene Fragen in der Praxis des
322 In Röm 10,4 ist te´loß als ‚Ende‘ im zeitlichen und sachlichen Sinn zu verstehen; vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 383 f. 323 Vgl. E.P. SANDERS, Paulus (s. o. 6), 111: „Allerdings hatte er nicht nur eine einzige Theologie des Gesetzes. Und sie bildete nicht den Ausgangspunkt seines Denkens, so daß es unmöglich ist, eine zentrale Aussage anzuführen, die alle seine anderren Aussagen erklärt.“
324 Vgl. H. RÄISÄNEN, Paul and the Law (s. o. 6.5.3), 199–202.256–263. 325 H. RÄISÄNEN, Der Bruch des Paulus mit Israels Bund, in: T. Veijola (Hg.), The Law in the Bible and in its Environment, Helsinki/Göttingen 1990, (156– 172) 167.
278 Paulus: Missionar und Denker
Zusammenlebens zwischen Judenchristen und Christen aus den Völkern verschärft. Diese von der Tora nicht vorgesehene und somit auch nicht geregelte Situation ließ verschiedene Interpretationen zu, so dass Konflikte vorprogrammiert waren. Zudem spielte die Gesetzes-/Toraproblematik eine zentrale Rolle in der Loslösung der frühchristlichen Gemeinden vom Judentum. Auch von außen übte dieses Problem Druck auf Paulus und seine Gemeinden aus, denn sowohl militante Judenchristen als auch Juden standen Paulus feindselig gegenüber. Zu 2: Paulus musste die Beschneidungsfreiheit für Christen aus den Völkern wahren, die rituelle wie soteriologische Insuffizienz der Tora für Judenchristen und Christen aus den Völkern behaupten und zugleich die Erfüllung des Gesetzes/der Tora auch durch die Christen postulieren. Nur so war es möglich, die bleibende Gültigkeit des ersten Bundes und den alleinigen Heilscharakter des neuen Bundes zu behaupten. Zudem galt es, den durch die Argumentation des Gal mit Sicherheit erhobenen Vorwurf der ‚Gesetzlosigkeit‘ zu widerlegen. Die paulinische Lösung besteht darin, neu zu definieren, was das Gesetz seinem Wesen nach ist. Einen ersten Schritt in diese Richtung bildet Gal 5,14: „Das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, nämlich du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Systemqualität erlangt dieser Gedanke aber erst im Röm, wo Paulus sich von der polemischen Agitation des Gal löst und auch positiv die Bedeutung des Gesetzes für die Glaubenden beschreibt. Als Schlüsseltext ist Röm 13,8–10 anzusehen. Die These, die Liebe sei die Erfüllung des Gesetzes/der Tora (Röm 13,10: plv´rwma oun no´mou v aga´pv) sichert die paulinische Argumentation in vierfacher Hinsicht ab: 1) Sie erlaubt die Behauptung, das Gesetz/die Tora in seinem innersten Wesen voll zur Geltung zu bringen und zu erfüllen, ohne ihm eine wie auch immer geartete soteriologische Funktion zuzubilligen. 2) Zugleich ermöglicht diese Vorstellung im Hinblick auf die beschneidungsfreie Mission die notwendige Reduktion des Gesetzes/der Tora. 3) Sowohl mit seiner Konzentration des Gesetzes/der Tora auf ein Gebot bzw. wenige ethische Grundnormen326 als auch mit seiner Wesensbestimmung des Gesetzes/der Tora als Liebe steht Paulus in der Tradition des hellenistischen Judentums. Dort herrschte die Tendenz vor, die Toragebote mit einer vernunftgemäßen Tugendlehre zu identifizieren327, um sie so zugleich zu öffnen und zu bewahren. Die euse´beia („Frömmigkeit“) als höchste Form der Tugend schloss auch die Liebe mit ein328. Für Judenchristen und Proselyten war somit die paulinische Problemlösung auf ihrem 326 Vgl. Arist 131; 168; TestDan 5,1–3; TestIss 5,2; Philo, Spec Leg I 260; II 61–63; Decal 154ff; Jos, Ap 2,154; Ant 18,117. Anders als bei Paulus wurden aber durch die Hochschätzung einzelner Gebote die anderen Gebote nicht außer Kraft gesetzt; vgl. dazu zuletzt R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum (s. o. 3.8.1), 236–239.
327 Vgl. R. WEBER, a. a. O., 320: „So ist der Nomos im
Grunde eine Form der Tugendlehre, denn die Tugend zielt auf Lebensgestalt.“ 328 Vgl. z. B. Philo, Decal 108–110.
Anthropologie 279
kulturellen Hintergrund rezipierbar329. 4) Aber auch im griechisch-römischen Kulturbereich galt die Überzeugung, dass Güte und Liebe die eigentliche Form der Gerechtigkeit und der Erfüllung der Gesetze sind. „Und auch wenn dies die Natur vorschreibt, dass der Mensch für den Mitmenschen, wer er auch immer sei, eben aus dem Grunde, weil dieser ein Mensch ist, gesorgt wissen will, ist es notwendig, dass gemäß derselben Natur der Nutzen aller gemeinsam ist. Wenn dies so ist, stehen wir alle unter ein und demselben Naturgesetz, und wenn eben dies so ist, werden wir sicher durch das Gesetz der Natur gehindert den anderen zu verletzen“ (Cic, Off III 5,27). Das mit der Vernunft identische und mit der Natur im Einklang stehende Gesetz kann in Rom kein anderes sein als in Athen, denn „alle Völker und zu aller Zeit wird ein einziges, ewiges und unveränderliches Gesetz beherrschen und einer wird der gemeinsame Meister gleichsam und Herrscher aller sein: Gott! Er ist der Erfinder dieses Gesetzes, sein Schiedsrichter, sein Antragsteller, wer ihm nicht gehorcht, wird sich selber fliehen und das Wesen des Menschen verleugnend wird er gerade dadurch die schwersten Strafen büßen, auch wenn er den übrigen Strafen, die man dafür hält, entgeht“ (Cic, Rep III 22). Wer auf das Gesetz der Vernunft hört, kann seinem Mitmenschen nicht schaden; wer so handelt, steht im Einklang mit Gott, der Natur und sich selbst. Deshalb gilt es, sich der Philosophie zuzuwenden, denn „Zeus, der gemeinsame Vater aller Menschen und Götter, befiehlt es dir und treibt dich dazu an. Denn sein Gesetz und Gebot lautet: Der Mensch soll gerecht, rechtschaffen, wohltätig, besonnen, hochsinnig, Herr über Mühen und Lüste, frei von jedem Neid und jeder bösen Absicht sein. Um es mit einem Wort zu sagen: Das Gesetz des Zeus gebietet den Menschen, gut zu sein (agaho`n eınai keleu´ei to`n anhrwpon o no´moß tou˜ Dio´ß).“330 Die Übereinstimmung mit Gal 6,2; Röm 3,27; 8,2; 13,8–10 ist offenkundig: Die Anordnung, das Gebot, der Wille Gottes ist die Liebe! Die Lösung
Die verschiedenen Linien der paulinischen Aussagen zum Gesetz/zur Tora lassen sich nicht einfach harmonisieren oder ausschließlich den verschiedenen Gemeindesituationen zuschreiben. Paulus rang mit dem ihm aufgezwungenen Thema und gelangte zu einer sich verdichtenden Lösung, die er im Röm vorlegt. Die Konzentration auf den Liebesgedanken ermöglicht es ihm, die theologische Position des Gal in ihrem Kern weiterhin zu vertreten, ohne jedoch als ‚gesetzlos‘ gebrandmarkt zu werden. In Gal 6,2 („Tragt gegenseitig eure Lasten, und so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“), Röm 3,27 („Gesetz des Glaubens“) und in Röm 8,2 („Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus“) spielt Paulus mit dem Begriff no´moß und versteht ihn im Sinn von ‚Regel/Norm/Ordnung‘331. Der Glaube und die Liebe in der Kraft des Geistes erschei329 Das Liebesgebot hat in den Weisungen jüdischer Ethik zwar keine überragende, wohl aber eine bedeutsame Stellung; vgl. dazu K.-W. NIEBUHR, Gesetz
und Paränese, WUNT 2.28, Tübingen 1987, 122ff u. ö. 330 Mus, Diss 16. 331 Zur Begründung vgl. U. SCHNELLE, Das Gesetz bei
280 Paulus: Missionar und Denker
nen als die neuen Normen, an die sich Christen binden und die jeglichen eigenmächtigen Ruhm vor Gott ausschließen. Dies bestätigt Röm 13,8–10, wo die Liebe als die Gesetzeserfüllung definiert wird. Weil die Christen bereits jetzt aus diesen Normen heraus leben, konnte Paulus auch behaupten, dass sie das Gesetz/die Tora keineswegs aufheben, sondern aufrichten (Röm 3,31). Die Überführung in die Liebe entzieht dem Gesetz/der Tora zudem die zerstörerische Kraft des religiösen Eifers und stärkt so seine dienenden Funktionen. Paulus nimmt eine Neudefinition vor, indem er seine (aus strenger jüdischer Perspektive fragmentarische) Auffassung von der Tora (die Liebe als Zentrum und Ziel bei gleichzeitiger Verneinung jeglicher soteriologischer Funktion und der Abrogation der Ritualvorschriften) als ‚das Gesetz‘ formuliert und damit zugleich die Tora in einen übergeordneten Gesetzesbegriff integriert, der gleichermaßen für alle Christen auf ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund zugänglich war332. Der Apostel synthetisiert über den Liebesbegriff das jüdische und das griechisch-römische Gesetzesverständnis und gelangt so zu einer stimmigen Integration der Gesetzesthematik in seine Sinnbildung. Über die Neuschreibung gelingt es Paulus, das Unvereinbare zu vereinbaren, um so die notwendige kulturelle Anschlussfähigkeit herzustellen . Weder das jüdische noch das griechisch-römische kulturgeschichtliche Umfeld ließen eine ‚Freiheit vom Gesetz‘ zu; Paulus geht es in all seinen Äußerungen zum Gesetz/zur Tora nie um ‚Gesetzesfreiheit‘, sondern um die Frage, wie die soteriologische Exklusivität des Christusgeschehens, die Erfüllung des Gesetzes in der Liebe und die Beschneidungsfreiheit der Glaubenden aus griechisch-römischer Tradition zusammengedacht werden können.
6.5.4
Glaube
Der Glaube ist für Paulus eine Neuqualifikation des Ich, denn im Glauben eröffnet sich für den Menschen Gottes Zuwendung zur Welt. Grundlage und Ermöglichung des Glaubens ist Gottes Heilsinitiative in Jesus Christus. Der Glaube ruht nicht in einem Entschluss des Menschen, sondern er ist eine Gnadengabe Gottes333. Bereits für Paulus (s. o. 6.5.3), 265–269. Sprachliche Parallelen zum Gebrauch von no´moß im Sinn von „Regel/Ordnung/Norm“ bietet H. RÄISÄNEN, Sprachliches zum Spiel des Paulus mit Nomos, in: Glaube und Gerechtigkeit (FS R. Gyllenberg), SFEG 38, Helsinki 1983, 134–149. 332 Aufschlussreich ist die Beobachtung, dass er diesen Weg auch bei anderen zentralen theologischen Fragen beschritt. In Röm 2,28f bestimmt er neu, was Judesein und Beschneidung ausmacht; Röm 4,12 nimmt diese Neudefinition der Beschneidung auf und in Röm 9,6f erfolgt eine Neubestimmung Is-
raels. Neudefinitionen, die inhaltlich einer Neuschreibung/Umschreibung gleichkommen, sind immer dann erforderlich, wenn Sinnwelten innerhalb ihrer bisherigen Ausformungen nicht kompatibel sind, zugleich aber auf einer höheren Ebene zusammengeführt werden müssen. 333 Vgl. dazu die grundlegenden Überlegungen von G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei Paulus, in: Glaube im Neuen Testament (FS H. Binder), hg. v. F. Hahn/H. Klein, BThSt 7, Neukirchen 1982, (93– 113) 100 ff.
Anthropologie 281
Abraham gilt: „Deshalb aus Glauben, damit: nach Gnade (dia` tou˜to ek pı´stewß, ıÇna kata` ca´rin), damit die Verheißung für jeden Samen gültig sei, nicht nur für den aus dem Gesetz, sondern auch für die aus Abrahams Glauben, der unser aller Vater ist“ (Röm 4,16). Die Grundstruktur des paulinischen Glaubensbegriffes zeigt deutlich Phil 1,29: „Denn euch wurde es geschenkt (oÇti umı˜n ecarı´shv), für Christus – nicht nur an ihn zu glauben (ou mo´non to` eiß auto`n pisteu´ein), sondern auch für ihn – zu leiden“. Der Glaube ist ein Werk des Geistes, denn: „Niemand kann sagen: ‚Herr ist Christus!‘ außer im Heiligen Geist“ (1Kor 12,3b)334. Der Glaube zählt zu den Früchten des Geistes (vgl. 1Kor 12,9; Gal 5,22). Im Glauben eröffnet sich somit eine neue Beziehung zu Gott, die der Mensch nur dankbar hinnehmen kann. Der Geschenkcharakter von pı´stiß/pisteu´ein („Glaube/glauben“) bestimmt auch die enge Verbindung von Glauben und Verkündigung bei Paulus. Der Glaube entzündet sich am Evangelium, das eine Macht Gottes ist (Röm 1,16). Gott gefiel es, „durch die Torheit der Verkündigung die zu retten, die glauben“ (1Kor 1,21). Früh verbreitet sich über den Apostel die Kunde: „Der uns früher verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben“ (Gal 1,23). Nach Röm 10,8 verkündigt Paulus das „Wort des Glaubens“ (to` rv˜ma tv˜ß pı´stewß). Der Glaube erwächst aus der Verkündigung, die ihrerseits auf das Wort Christi zurückgeht (Röm 10,17: „Der Glaube [kommt] aus der Botschaft, die Botschaft aber durch das Wort Christi“). Somit handelt Christus selbst im Wort der Verkündigung. In 1Kor 15,11b schließt Paulus seine grundlegende Unterweisung mit den Worten ab: „So haben wir verkündigt und so habt ihr geglaubt.“ Nicht die rhetorischen Künste des Predigers oder das begeisterte Ja des Menschen führen zum Glauben, sondern der Geist und die Kraft Gottes (vgl. 1Kor 2,4f). Der Geist vermittelt die Gabe des Glaubens und prägt zugleich inhaltlich, indem er die Einheit der Gemeinde gewährt. Geist und Glaube sind bei Paulus ursächlich miteinander verbunden, insofern der Geist den Glauben eröffnet und der Glaubende ein Leben in der Kraft des Geistes führt. Es gilt: „Denn wir erwarten im Geist aus Glauben die Hoffnung auf Gerechtigkeit“ (Gal 5,5). Gal 3,23.25 zeigen schließlich, dass der Glaube bei Paulus Dimensionen erhält, die weit über das individuelle Zum-Glauben-Kommen hinausgehen: Dem ‚Kommen‘ des Glaubens eignet eine heilsgeschichtliche Qualität, der Glaube löst das Gesetz ab und ermöglicht dem Menschen einen neuen Zugang zu Gott. Die Grundstruktur des paulinischen Glaubensbegriffes als einer rettenden und damit Leben spendenden Kraft und Gabe Gottes lässt es als unsachgemäß erscheinen, den Glauben als „freie Tat der Entscheidung“335 oder als „Annahme und Bewahrung der Heilsbotschaft“336, zu sprechen. Damit werden wichtige Aspekte des paulinischen Glaubensbegriffes genannt, zugleich aber Ursache und Wirkung verwechselt, denn erst Gottes Handeln ermöglicht den Glauben337. Der Glaube ist nicht Voraussetzung/ 334 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 331, der behauptet, „daß Pls die pı´stiß nicht als inspiriert bezeichnet, sie nicht auf das pneu˜ma zurückführt.“
335 R. BULTMANN, Theologie, 317. 336 E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 101. 337 Vgl. G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei
282 Paulus: Missionar und Denker
Bedingung des Heilsgeschehens, sondern ein Teil desselben! Gott ist es, der das Wollen und das Vollbringen wirkt (Phil 2,13). Der Glaube entsteht aus der Heilsinitiative Gottes, der Menschen in den Dienst der Evangeliumsverkündigung ruft (vgl. Röm 10,13f: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden. Wie sollen sie nun anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie aber sollen sie hören, ohne dass jemand verkündigt?“). Gott allein ist der Schenkende, der Mensch der Empfangende, so dass Paulus folgerichtig das Leben aus dem Glauben dem Leben aus dem Gesetz entgegenstellen kann (vgl. Gal 2,16; 3,12; Röm 3,21f.28; 9,32). Im Bekenntnis gewinnt der Glaube seine Gestalt, was Paulus in Röm 10,9f programmatisch formuliert: „Denn wenn du mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet. Mit dem Herzen nämlich glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Munde aber bekennt man zur Rettung!“ Der Mensch kann sich gegenüber dem Glaubensinhalt nicht neutral verhalten, sondern ihn nur bekennen oder ablehnen. Gerade im Bekenntnis weist der Glaubende von sich weg und auf Gottes Heilstat hin, so dass er Anteil an der zukünftigen Rettung erhält. Der Glaubende bleibt nicht bei sich selbst, sondern teilt sich mit, überschreitet Grenzen. Deshalb kann er nicht schweigen, vielmehr: „Ich glaube, darum rede ich (Ps 115,1 LXX), so glauben auch wir, darum reden wir auch“ (2Kor 4,13b: kai` vmeı˜ß pisteu´omen, dio` kai` lalou˜men). Mit der Glaubensbeziehung verbindet sich der Glaubensinhalt (vgl. 1Thess 4,14; 1Kor 15,14), den Paulus auch als Glaubenswissen der Gemeinden voraussetzt (vgl. 1Thess 4,13; 1Kor 3,16; 6,1–11.15 f.19; 10,1; 12,1; 2Kor 5,1; Gal 2,16; Röm 1,13; 11,25 u. ö.). Als ein Geschenk Gottes beinhaltet der Glaube immer zugleich das individuelle Moment des jeweiligen Gläubigseins und setzt ein Tun des Menschen frei338. Paulus spricht häufig von „eurem Glauben“ (1Thess 1,8; 3,2.5–7.10; 1Kor 2,5; 2Kor 1,24; 10,15; Röm 1,8.12; Phil 2,17 u. ö.), wobei er die missionarische Dimension des Glaubens der Gemeinden von Thessalonich und Rom besonders hervorhebt. Für den Apostel gibt es ein „Wachsen im Glauben“ (2Kor 10,15), neue Einsichten und Erkenntnisse mehren, läutern und wandeln den Glauben. Der Glaube ist Veränderungen unterworfen, aber er hebt sich in seinen Grundüberzeugungen nicht selbst auf. In Röm 12,3 ermahnt Paulus die Charismatiker, nicht über die auch ihnen gesetzten Gruppen hinauszugehen, sondern besonnen zu sein gemäß dem ihnen verliehenen ‚Maß des Glaubens‘ (me´tron pı´stewß). Der Glaubende muss einschätzen, welche Gaben ihm verliehen wurden, und seinen Platz in der Gemeinde finden. Der Glaube gründet im Liebeshandeln Gottes in Jesus Christus (vgl. Röm 5,8), so Paulus, 109: „ . . . Glaube ist eine Entscheidung Gottes.“ 338 Prägnant A. SCHLATTER, Der Glaube im Neuen Tes-
tament, Stuttgart 41927, 371: „Das im Glauben begründete Wollen ist Liebe.“
Anthropologie 283
dass die Liebe als die tätige und allen sichtbare Seite des Glaubens erscheint (Gal 5,6: „der durch die Liebe tätige Glaube“). Paulus fordert vom Glaubenden einen Einklang von Denken und Handeln, von Überzeugung und Tat. Zugleich weiß er aber um Verfehlungen der Glaubenden (Gal 6,1), spricht von den Schwachen im Glauben (Röm 14,1), verspricht den Philippern Förderung im Glauben (Phil 1,25) und ruft zum Stehen im Glauben auf (1Kor 16,13; 2Kor 1,24; Röm 11,20). Der Glaube verleiht dem Menschen somit keine sichtbare neue Qualität, er stellt ihn in eine geschichtliche Bewegung und Bewährung, die sich im Gehorsam vollzieht (Röm 1,5: „Durch Jesus Christus haben wir Gnade und Apostelamt empfangen, um den Glaubensgehorsam für seinen Namen unter allen Völkern aufzurichten“). Paulus nimmt einerseits den Sprachgebrauch im hellenistischen Judentum339 und paganen Hellenismus auf340, andererseits geht er darüber hinaus, indem nun pı´stiß/ pisteu´ein zur zentralen und exklusiven Bezeichnung für das Gottesverhältnis und damit auch zu dem Identitätsmerkmal werden341. Eine zweite Besonderheit zeigt sich in der Ausrichtung des Glaubens auf Jesus Christus. Für Paulus ist der Glaube immer Glaube an den Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckte (vgl. Röm 4,17.24; 8,11). Jesus Christus ist gleichermaßen der Auslöser und der Inhalt des Glaubens342. Zentrum des Glaubens ist somit nicht der Glaubende, sondern der Geglaubte. Weil der Glaube aus der Evangeliumsverkündigung erwächst, ist er letztlich immer eine Gottestat, allein begründet im Christusgeschehen. Im Glauben stellt Gott den Menschen auf einen neuen Weg, dessen Grund und Ziel Jesus Christus ist. Zweifellos enthält der Glaube auch biographische und psychologische Elemente und das Moment der menschlichen Entscheidung, der aber Gottes grundlegende Entscheidung vorausgeht. Paulus sieht den Glauben nicht als ein isoliertes anthropologisches Phänomen, sondern als neue Bestimmung der Existenz durch Gott. Der Glaube ist gleicher339 Vgl. umfassend D. LÜHRMANN, Pistis im Judentum,
ZNW 64 (1973), 19–38. 340 Die zentralen Belege sind angeführt und interpretiert bei G. BARTH, Pistis in hellenistischer Religiosität (s. o. 6.5), 173–176; G. SCHUNACK, Glaube in griechischer Religiosität, in: B. Kollmann/W. Reinbold/ A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann), BZNW 97, Berlin/ New York 1999, (296–326) 299–317. In der griechischen Welt ist der Bereich ‚Glaube/glauben‘ zuallererst mit den mehr als 50 Orakelstätten verbunden. Das Orakelwesen war seit dem 7./6. Jh. v.Chr. bis in die Spätantike hinein ein umfassendes kulturgeschichtliches Phänomen, das alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens betraf. Glaube bezieht sich in diesem Kontext auf Göttersprüche, die als Deutung des Lebensgeschickes eines Menschen
speziell in Umbruchsituationen dienten. Bemerkenswert ist das Zeugnis des Plutarch, der um 95 n.Chr. das Amt eines der beiden Oberpriester im Orakelheiligtum des Apollon in Delphi übernahm. Der Glaube ist für ihn selbstverständlich, denn die Götter sind Garanten gesellschaftlicher und individueller Stabilität: „Verehrung und Glaube sind fast allen Menschen von Geburt an eingepflanzt“ (Mor 359F.360A). Inhalt des Glaubens sind das Vorherwissen der Götter und ihre Hilfe für die Menschen, speziell in Not- bzw. Grenzsituationen wie Krankheit und Sterben. 341 Vgl. G. BARTH, Art. pı´stiß, EWNT 3, Stuttgart 1983, (216–231) 220. 342 Vgl. G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei Paulus, 102–106.
284 Paulus: Missionar und Denker
maßen eine neue Lebensausrichtung und Lebenshaltung. Der Mensch gelangt von einem selbstzentrierten zu einem gottzentrierten Leben; der Glaube lokalisiert den Menschen in seiner Beziehung zu Gott und realisiert sich in der Liebe.
6.5.5
Freiheit
Christliche Existenz ist ihrem Wesen nach Freiheit, denn: „zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1); Freiheit ist für Paulus ein „Grundwort des Evangeliums“343. Christliche Freiheit resultiert aus der von Jesus Christus erworbenen und in der Taufe zugeeigneten Befreiung von der Macht der Sünde. Freiheit ist also nicht eine Möglichkeit menschlichen Seins, der Mensch kann sie von sich aus weder erreichen noch verwirklichen. Die universale Macht der Sünde schließt Freiheit als Ziel menschlichen Strebens aus. Zwar können Menschen ein individuelles Freiheitsgefühl besitzen und die Macht der Sünde leugnen, was aber an der faktisch knechtenden Herrschaft der Sünde im Leben dieser Menschen nichts ändert. Allein das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus kann in einem umfassenden Sinn als befreiendes Geschehen begriffen werden, weil nun die den Menschen unterdrückenden Mächte der Sünde und des Todes besiegt sind. Vor allem in den Auseinandersetzungen mit den Korinthern verdeutlicht Paulus die paradoxe Grundgestalt seines Freiheitsbegriffes: Freiheit als Liebe in der Bindung an Christus. Freiheit gewinnt nicht in der Potenzierung des Individuellen, sondern allein in der Liebe Gestalt. Paulus greift das Schlagwort der ‚Starken‘ pa´nta moi exestin („Alles ist mir erlaubt“) auf, um es sofort zu relativieren und zu präzisieren (vgl. 1Kor 6,12; 1Kor 10,23). Christliche Freiheit zielt nicht auf Indifferenz, sondern ist ihrem Wesen nach ein Partizipations- und Relationsbegriff: Die Glaubenden und Getauften haben teil an der durch Christus erworbenen Freiheit, die ihre eigentliche Prägung erst im Verhältnis zum Mitchristen und zu der christlichen Gemeinde gewinnt. Das Modell für diesen Freiheitsbegriff liefert der gekreuzigte Jesus Christus, der für den Bruder gestorben ist (vgl. 1Kor 8,11; Röm 14,15). Christliche Freiheit ist für Paulus von Jesus Christus geschenkte Freiheit, so dass ein Missbrauch dieser Freiheit als Sünde gegen den Mitchristen zugleich als Sünde gegenüber Christus erscheint. In 1Kor 9 präsentiert sich Paulus als Vorbild für eine Freiheit, die um des anderen willen auf das ihr eigentlich Zustehende verzichtet. Der Apostel nimmt sein Recht auf Unterstützung durch die Gemeinden nicht in Anspruch, um so die Evangeliumsverkündigung zu fördern (vgl. 1Kor 9,12.15f). Schlossen sich in der Antike Freiheit und Knechtschaft aus, so bedingen sie bei Paulus einander. Gerade in der
343 So treffend TH. SÖDING, Die Freiheit des Glaubens, in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont
Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr, WUNT 162, Tübingen 2003, (113–134) 133.
Anthropologie 285
Knechtschaft des Evangeliums und damit in der Liebe realisiert sich die Freiheit des Apostels (vgl. 1Kor 9,19; Gal 5,13). Weil die Gegenwart bereits durch das Christusgeschehen proleptisch von der Zukunft qualifiziert ist (1Kor 7,29–31), fordert Paulus die Christen auf, in ihrem Selbstverständnis und in ethischen Verhaltensweisen der eschatologischen Zeitenwende zu entsprechen. Das paulinische wß mv´ („als ob . . . nicht“) zielt auf eine distanzierte Partizipation: Teilhabe an der Welt, ohne ihr zu verfallen und damit Freiheit von der Welt in der Welt 344. Weil das Kommende die Gegenwart bestimmt, verliert die Gegenwart ihren bestimmenden Charakter. Die Ordnungszusammenhänge der vergehenden Welt müssen in ihrer geschichtlichen Realität anerkannt werden, zugleich mahnt Paulus aber eine innere Unabhängigkeit und Ungebundenheit an. Deshalb sollen die Glaubenden und Getauften in ihrem jeweiligen Stand verbleiben, ohne ihm einen Eigenwert beizumessen. Die Ehe gehört ebenso wie der Sklavenstand zu den Strukturen des alten Äons. Wer sich nun noch auf sie einlässt, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden (vgl. 1Kor 7,1.8); wer hingegen verheiratet ist, soll es bleiben (vgl. 1Kor 7,2–7). Auch die Sklaven sollen in ihrem Stand verbleiben (1Kor 7,21b)345, denn in der Gemeinde sind sie den fundamentalen Alternativen der Gesellschaft schon längst enthoben (vgl. 1Kor 12,13; 2Kor 5,17; Gal 3,26–28; 5,6; 6,15). Der Philemonbrief zeigt jedoch, dass Paulus in seinen Empfehlungen nicht ideologisch gebunden ist, denn dort schließt er die Freiheitsoption für einen christlichen Sklaven keineswegs aus. Wenn ein Sklave freikommt, weiß er allerdings, dass er in Christus schon längst ein Freier war. Während in den Korintherbriefen Freiheit an keiner Stelle als ‚Freiheit vom Gesetz, von der Sünde oder vom Tod ‘ verstanden wird, tritt diese Bedeutung im Galater- und Römerbrief hervor (s. o. 6.5.2). Die Freiheit von der Sünde als Befreiung durch Gott in Jesus Christus beinhaltet für Paulus zugleich Freiheit vom Gesetz/der Tora in seiner versklavenden Funktion. Die universalen Dimensionen des paulinischen Freiheitsbegriffes zeigen sich in Röm 8,18ff346. Die Freiheit des Glaubenden und die Freiheit der Schöpfung werden hier zusammengeführt und in eine umfassende Zukunftsperspektive eingebettet. Durch Adams Verfehlung geriet die Schöpfung unfreiwillig unter die Herrschaft der Vergänglichkeit, doch auf Hoffnung (Röm 8,20; vgl. 4Esr 7,11f). Die Schöpfung partizipiert an der Hoffnung der Glaubenden, „denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft des Vergänglichen zu der herrlichen Freiheit der Kinder Got344 Vgl. hier H. BRAUN, Die Indifferenz gegenüber der Welt bei Paulus und bei Epiktet, in: ders., Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 31971, 159–167. 345 Zur Sklavenproblematik bei Paulus vgl. J. A. HARRILL, Slaves in the New Testament, Minneapolis 2006, 17–57.
346 Vgl. hier S. JONES, „Freiheit“ in den Briefen des Apostels Paulus, GTA 34, Göttingen 1987, 129–135; S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung, FRLANT 147, Göttingen 1989, 375–396.
286 Paulus: Missionar und Denker
tes“ (Röm 8,21). Die Gewissheit dieses zukünftigen Geschehens vermittelt der Geist, der als Erstlingsgabe nicht nur Unterpfand der Hoffnung ist, sondern in der Situation des hoffenden Ausharrens den Glaubenden zu Hilfe kommt (Röm 8,26f). Der Geist tritt vor Gott für die Heiligen in einer gottgemäßen Sprache ein. Die Gewissheit des Glaubens ermöglicht es Paulus, die ‚herrliche Freiheit der Kinder Gottes‘ in Röm 8,28–30 umfassend zu beschreiben. Gott selbst wird die Freiheit der Kinder Gottes herbeiführen, die ihr Ziel in der Partizipation an der im Sohn erschienenen Herrlichkeit Gottes findet. Freiheit war in der griechisch-römischen Geistesgeschichte zu allen Zeiten ein zentrales Thema347. Auch im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des frühen Christentums finden sich wirkungsmächtige Freiheitstheorien. Epiktet verfasst ein ganzes Buch mit dem Titel peri` eleuherı´aß (Diss IV 1: „Von der Freiheit“) und Dion von Prusa hält drei Reden über Knechtschaft und Freiheit (Orationes 14; 15; 80). Sowohl Epiktet als auch Dion setzen bei einem populären Freiheitsverständnis ein: Freiheit als Handlungsfreiheit und Bindungslosigkeit. Sie wählen diesen Ausgangspunkt, um einen am Äußeren orientierten Freiheitsbegriff zu destruieren. Epiktet führt für seine Argumentation Erfahrung und Einsicht an: Ein reicher Senator ist der Sklave des Kaisers (Diss IV 1,13) und wer als Freier in eine junge, schöne Sklavin verliebt ist, wird zu ihrem Sklaven (Diss IV 1,17). Wer kann frei sein, wenn selbst die Könige und ihre Freunde es nicht sind? Weil Freiheit mit der äußeren Freiheit nicht hinreichend erfasst ist, kommt es darauf an, zwischen dem zu unterscheiden, was in unserer Macht steht und was unserem Einfluss entzogen ist (vgl. Diss IV 1,81). Die Gegebenheiten des Lebens stehen nicht wirklich zu unserer Disposition, wohl aber unsere Einstellung zu ihnen. „Reinige deine Urteile und prüfe, ob du dich nicht an etwas gehängt hast, das dir nicht gehört, und ob dir nicht etwas angewachsen ist, das dir nur unter Schmerzen wieder abgerissen werden kann. Und während du täglich trainierst wie auf dem Sportplatz, sag nicht, du philosophierst – ein wirklich hochtrabendes Wort –, sondern dass du deine Freilassung betreibst. Denn das ist die wahre Freiheit. So wurde Diogenes von Anthistenes befreit und stellte daraufhin fest, dass er von niemanden mehr geknechtet werden könne“ (Diss IV 1,112–115). Ähnlich argumentiert Dion, Freiheit und Knechtschaft sind keine angeborenen oder offenkundigen Tatbestände, sie sind keineswegs eindeutig, sondern zeigen sich im Leben eines Menschen. „Ist jemand im Hinblick auf die Tüchtigkeit ‚hochgeboren‘, so muss er ‚edel‘ genannt werden, auch wenn niemand seine Eltern und Vorfahren kennt. Es kann gar nicht anders sein: Wer ‚edel‘ ist, ist auch ‚edelgeboren‘, und wer ‚edelgeboren‘ ist, ist auch ‚frei‘. Der Unedle ist daher notwendig auch Sklave“ (Dio Chrys, Or 15,31). Epiktet und Dion repräsentieren einen breiten Tradi-
347 Vgl. dazu die Darstellungen bei D. NESTLE, Eleu-
theria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den Griechen und im Neuen Testament I: Die Griechen, HUTh 6, Tübingen 1967; ders., Art. Freiheit, RAC 8, Stuttgart 1972, 269–306; S. VOLLENWEIDER, Freiheit, 23–104; H.D. BETZ, Paul’s Concept of Freedom in the
Context of Hellenistic Discussions about Possibilities of Human Freedom, in: ders., Paulinische Studien, Ges. Aufs. III, Tübingen 1994, 110–125; G. DAUTZENBERG, Freiheit im hellenistischen Kontext, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus (s. o. 6.5), 57–81.
Anthropologie 287
tionsstrom in der antiken Philosophiegeschichte, der über die Stoa und Epikur bis zu den Skeptikern reicht: Wahre Freiheit ist die innere Unabhängigkeit des Weisen, die Gemütsruhe (ataraxı´a), die sich im Erkennen und Vermeiden der Affekte und der Einordnung unter den Willen der Götter einstellt.
Paulus nimmt die Freiheit aus dem Tätigkeitsbereich des Menschen heraus, sie hat Geschenk- und nicht Tatcharakter . Mit diesem Ansatz vertritt der Apostel eine eigenständige Position in der Freiheitsdebatte der Antike. Er greift das Konzept der inneren Freiheit auf, modifiziert es aber entscheidend in seiner Begründungsstruktur, indem er die Freiheit als die Entdeckung einer fremden tragenden Wirklichkeit beschreibt: Gott. Paradoxerweise verleiht allein die Bindung an Gott Freiheit, denn Freiheit ist im Vollsinn allein ein Attribut Gottes. Die Freiheit hat eine externe Grundlage, sie ist nicht im Menschen selbst lokalisiert. Menschliche Freiheit ist von etwas abhängig, über das der Mensch nicht verfügt. Freiheit entsteht nicht als Folge der eigenen Wirkungsmacht, sondern sie ist von Gott geschenkte Gabe, die sich in der Liebe realisiert. Die Liebe ist die Normativität der Freiheit; die Liebe erkennt im anderen Menschen ein Kind Gottes und orientiert sich an dem, was die Menschen und die Welt nötig haben. Freiheit besteht nicht in der Möglichkeit des Wählenkönnens, sondern eröffnet sich im Handeln der Liebe348.
6.5.6
Weitere anthropologische Begriffe
Das Innerste des Menschen wird von Paulus in verschiedener Weise beschrieben und bestimmt. Er kann dabei gleichermaßen an atl. und griechisch-hellenistische Vorstellungen anknüpfen. Im Zentrum des menschlichen Selbst-Bewusstseins steht das Gewissen; der Begriff suneı´dvsiß („Gewissen“) erscheint im NT 30mal, bei Paulus allein 14mal. Gehäuft tritt suneı´dvsiß in der Auseinandersetzung um das Götzenopferfleisch in 1Kor 8 und 10 auf (8mal). Die suneı´dvsiß erscheint hier als Instanz der Selbstbeurteilung . Gegenstand der Beurteilung durch das Gewissen ist das menschliche Verhalten, das auf die Übereinstimmungen mit den vorgegebenen Normen hin überprüft wird349. Wenn die ‚Starken‘ von der ihnen zustehenden Freiheit Gebrauch machen, auch weiterhin Götzenopferfleisch zu essen, verleiten sie die ‚Schwachen‘ dazu, sich ebenso zu verhalten und stürzen sie in einen Gewissenskonflikt. Die ‚Starken‘ versündigen sich dabei auch gegen Christus (1Kor 8,13), der für den schwachen Bruder gestorben ist (1Kor 8,12). Die Freiheit des Einzelnen findet deutlich ihre Grenze im Gewissen des
348 Vgl. hier H. WEDER, Normativität der Freiheit, in: M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), Tübingen 1998, 129–145.
349 Vgl. H.-J. ECKSTEIN, Der Begriff Syneidesis bei
Paulus (s. o. 6.5), 242 f.
288 Paulus: Missionar und Denker
anderen, das nicht belastet werden darf. Suneı´dvsiß bezeichnet somit eine Instanz, die das Verhalten des Menschen nach vorgegebenen Normen beurteilt350. Als grundlegendes anthropologisches Phänomen erscheint suneı´dvsiß in Röm 2,14f: „Denn wenn die Völker, die das Gesetz nicht haben, von sich aus die Werke des Gesetzes tun, sind diese, die dieses Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie beweisen, dass das Werk des Gesetzes in ihren Herzen geschrieben ist, das bestätigt ihnen ihr Gewissen und die Gedanken, die sich untereinander anklagen und verteidigen.“ Das Gewissen umfasst hier als Normenbewusstsein die sittliche Selbstbeurteilung des Menschen, sein Wissen um sich selbst und sein Verhalten. Als ein allen Menschen eigenes Phänomen bestätigt das Gewissen für Paulus die Existenz des Gesetzes auch bei den Menschen aus den Völkern. In Röm 9,1 tritt das Gewissen als selbständige, personifizierte Zeugin für die Wahrheit auf und überprüft die Übereinstimmung zwischen den Überzeugungen und dem Verhalten (vgl. auch 2Kor 1,23; 2,17; 11,38; 12,19). Nach Röm 13,5351 sollen sich die Christen aus Einsicht in den Sinn staatlicher Macht und Ordnung den Institutionen unterordnen: „Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein wegen des Zornes, sondern auch um des Gewissens willen.“ Staatliche Ordnungen entspringen dem Willen Gottes, insofern sie dem Bösen widerstehen und das Gute fördern. Paulus denkt wie in Röm 2,15 an das Gewissen eines jeden Menschen, nicht an ein spezifisch christliches Gewissen. Das Alte Testament/antike Judentum kennt kein sprachliches Äquivalent für das griechische suneı´dvsiß352. Paulus übernahm suneı´dvsiß wahrscheinlich aus der hellenistischen Popularphilosophie. Hier bedeutet suneı´dvsiß zumeist das Bewusstsein, das die eigenen Taten moralisch verurteilt oder gutheißt353. Weil die Götter den Menschen die Weisheit schenkten, sind diese zur Selbsterkenntnis befähigt. „Denn wer sich selbst erkennt, wird zuerst feststellen, dass er etwas Göttliches in sich hat, und glauben, dass der Geist in ihm einem geweihten Götterbild gleicht, und stets so handeln und empfinden, wie es eines so bedeutenden göttlichen Geschenkes würdig ist“ (Cic, Leg 1,59). Indem Gott die Menschen mit seinen eigenen Fähigkeiten ausstattete, sind sie in der Lage, Gut und Böse zu unterscheiden, denn er hat „einem jeden von uns einen Aufseher zur Seite gestellt, nämlich den Schutzgeist (daı´mwn) eines jeden, einen Aufseher, der nie schlummert, der nicht zu hintergehen ist“ (Epict, Diss I 14,12; vgl. Diss II 8,11f; Sen, Ep 41,1f; 73,76). Auch das Phänomen des schlechten Gewissens (vgl. z. B. Sen, Ep 43,4f; 81,20; 105,8) weist auf eine Instanz im Menschen hin, die mit der Tugend und Vernunft verwoben ist und das von der Natur gegebene Verhalten einfordert: „Es muss
350 Zur Einheitlichkeit der paulinischen Argumentation vgl. H.-J. ECKSTEIN, a. a. O., 271. 351 Vgl. zur Exegese H.-J. ECKSTEIN a. a. O., 276–300. 352 Vgl. dazu H.-J. ECKSTEIN, a. a. O., 105 ff. 353 Vgl. zum Gewissensbegriff bei römischen und griechischen Autoren H.-J. KLAUCK, „Der Gott in dir“ (Ep 41,1). Autonomie des Gewissens bei Seneca und
Paulus, passim; DERS., Ein Richter im eigenen Innern. Das Gewissen bei Philo von Alexandrien, in: ders., Alte Welt und neuer Glaube, NTOA 29, Göttingen/Freiburg (CH) 1994, 33–58; H. CANCIK-LINDEMAIER, Art. Gewissen, HRWG 3, Stuttgart 1993, 17– 31.
Anthropologie 289
also einen Wächter geben, und er soll uns immer wieder am Ohr ziehen, fernhalten das Gerede und widersprechen dem gleisnerisch lobenden Volk“ (Sen, Ep 94,55).
Paulus versteht suneı´dvsiß als neutrale Instanz der Beurteilung des vollzogenen Handelns (reflexiv und in Bezug auf andere) aufgrund verinnerlichter Wertnormen. Das Gewissen beinhaltet für Paulus nicht das prinzipielle Wissen um Gut und Böse, wohl aber ein Mit wissen um Normen, die als Grundlage für ein Urteil dienen, das sowohl positiv als auch negativ ausfallen kann354. Als Relationsbegriff setzt das Gewissen nicht selbst Normen, vielmehr beurteilt es deren Einhaltung. Das Gewissen kann auch nicht als eine Eigenart der Christen, Heiden oder Juden angesehen werden, sondern es ist ein allgemein menschliches Phänomen . Seine Funktion ist bei allen Menschen gleich, nur die Normen, die die Voraussetzung für die Beurteilung bilden, können sehr verschieden sein. Christen beurteilen anhand der Liebe und der durch den Geist erneuerten Vernunft als maßgeblicher Normen das eigene und/oder fremdes Verhalten. Die außerordentliche Würde des Menschen wird bei Paulus mit dem eikw´n-Motiv („Bild, Abbild, Urbild “) zum Ausdruck gebracht355. Grundlegende theologische Bedeutung erlangt die eikw´n-Vorstellung in der Rede von Christus als dem Bild Gottes. In 2Kor 4,4 erläutert der Apostel356, wie die Verhüllung des Evangeliums bei den Verworfenen zustande kam; ihnen blendete der Gott dieser Weltzeit die Sinne, „so dass sie nicht sehen das Leuchten des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, der das Bild Gottes ist“ (oÇß estin eikw`n tou˜ heou˜). Hier erscheint eikw´n als Partizipationskategorie: Der Sohn hat Teil an der do´xa („Herrlichkeit“) des Vaters; in ihm wird das wahre Wesen Gottes offenbar, weil er das den Menschen zugewandte Ebenbild Gottes ist. Auf der Vorstellung von Christus als dem Bild Gottes basieren alle Aussagen über das Verhältnis der Glaubenden zum Bild Christi. In 1Kor 15,49 betont Paulus gegenüber den an gegenwärtiger Heilsvorstellung orientierten Korinthern, dass sie erst im Endgeschehen das Bild des himmlischen Menschen Jesus Christus tragen werden, denn die Gegenwart wird noch vom irdischen Menschen Adam bestimmt. Nach Röm 8,29 ist es das Ziel der Erwählung Gottes, dass die Glaubenden „dem Bild seines Sohnes gleichgestaltet werden, so dass dieser zum Erstgeborenen unter vielen Brüdern würde“. Dieses Geschehen vollendet sich bei der Auferstehung der Glaubenden, ihm kommt aber zugleich eine gegenwärtige Dimension zu, denn am Wesen Christi als dem Bild Gottes partizipieren die Glaubenden bereits in der Taufe (Röm 6,3–5). Nach 2Kor 3,18 liegt auf dem Auferstandenen die göttliche Herrlichkeit in ihrer ganzen
354 Vgl. H.-J. ECKSTEIN, a. a. O, 311 ff. 355 Vgl. zu den religionsgeschichtlichen Bezügen
umfassend W. ELTESTER, Eikon im Neuen Testament,
BZNW 23, Berlin 1958, 26–129; J. JERVELL, Imago Dei, FRLANT 76, Göttingen 1960, 15–170. 356 Vgl. dazu J. JERVELL, Imago Dei, 214–218.
290 Paulus: Missionar und Denker
Fülle, er ist somit zugleich das Urbild und das Ziel der Verwandlung des Christen. In 1Kor 11,7f bezieht sich Paulus ausdrücklich auf Gen 1,26f: „Denn der Mann muss nicht sein Haupt verhüllen, weil er Bild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist Abglanz des Mannes. Denn nicht stammt der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus dem Mann.“ Paulus wendet sich hier gegen die in Korinth offenbar verbreitete Sitte der Teilnahme von Frauen ohne Kopfbedeckung am Gottesdienst. Dabei handelt es sich wohl um eine neue, in anderen Gemeinden unbekannte Praxis (vgl. 1Kor 11,16), die möglicherweise dem enthusiastischen Emanzipationsbestreben von Teilen der korinthischen Gemeinde entsprang357. Paulus argumentiert gegen diese Aufhebung bisheriger Ordnungen schöpfungstheologisch, indem er den Unterschied zwischen Mann und Frau und die sich daraus ergebenden praktischen Folgen mit der Gottebenbildlichkeit des Mannes begründet (vgl. Gen 2,22). Die eikw´n-Vorstellung ist bei Paulus eine Partizipationskategorie: Die Teilhabe des Sohnes an der Doxa des Vaters vollendet sich in der Teilhabe der Glaubenden an der Herrlichkeit Christi. Christus als ‚Bild Gottes‘ nimmt sie hinein in einen geschichtlichen Prozess, an dessen Endpunkt ihre eigene Verwandlung stehen wird. Menschsein geht in der bloßen Geschöpflichkeit nicht auf, sondern erst in der Entsprechung zu Gott realisiert der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung als Bild Gottes, die sich im Glauben an Jesus Christus als dem Urbild Gottes erschließt. Als ein weiteres Zentrum des menschlichen Selbst erscheint kardı´a („Herz “) bei Paulus358. Die Liebe Gottes wurde durch den Heiligen Geist in die Herzen der Menschen ausgegossen (Röm 5,5). Im Herzen wirkt der Heilige Geist. Gott sandte den Geist seines Sohnes „in unsere Herzen“ (Gal 4,6) und gab in der Taufe den Geist als arrabw´n „in unsere Herzen“ (2Kor 1,22). Die Taufe führt zu einem Gehorsam von Herzen (Röm 6,17), und der Mensch steht in einem neuen, heilbringenden Abhängigkeitsverhältnis: Er dient Gott und damit der Gerechtigkeit. Es gibt eine Beschneidung des Herzens, die sich im Geist und nicht im Buchstaben vollzieht (Röm 2,29), eine innere Wandlung des Menschen, aus der heraus ein neues Verhältnis zu Gott erwächst. Im Herzen hat der Glaube seinen Ort, und ins Herz sandte Gott den hellen Schein der Erkenntnis Jesu Christi (2Kor 4,6). Die Herzen werden von Gott gestärkt (1Thess 3,13), und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt die Herzen der Glaubenden (Phil 4,7). Das Herz kann sich der rettenden Botschaft vom Glauben an Jesus Christus öffnen oder verschließen (vgl. 2Kor 3,14–16). Umkehr und Bekenntnis beginnen im Herzen (Röm 10,9f); hier entsprechen sich Mund und Herz einerseits sowie Bekenntnis- und Glaubensakt andererseits, d. h. der ganze Mensch wird ergriffen vom rettenden Christusgeschehen. Gerade als ‚innerstes‘ Organ bestimmt das Herz den ganzen Menschen. Es ist sowohl im positiven als auch im negativen 357 Vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 70 f. 358 Paulus steht im Gebrauch von kardı´a in der Tra-
dition atl. Anthropologie; vgl. H.-W. WOLFF, Anthropologie des Alten Testaments, München 21974, 68 ff.
Anthropologie 291
Sinn das Zentrum der Willensentscheidung (1Kor 4,5). Das Herz weiß um den Willen Gottes (Röm 2,15), es steht fest gegenüber den Leidenschaften (1Kor 7,37) und ist willig in der Unterstützung der Bedürftigen (2Kor 9,7). Zugleich kann das Herz aber auch unverständig und verfinstert sein (Röm 1,21; 2,5), die Quelle von Begierden (Röm 1,24; 2,5) und Ort der Verstockung (2Kor 3,14f). Gott prüft und erforscht die Herzen (1 Thess 2,4; Röm 8,27) und macht das Trachten des Herzens offenbar (2Kor 4,5). Anders als seine Gegner arbeitet Paulus nicht mit Empfehlungsbriefen, denn die korinthische Gemeinde ist sein Empfehlungsbrief, „eingeschrieben in unser Herz, verstanden und gelesen von allen Menschen“ (2Kor 3,2). Paulus kämpft um seine Gemeinde und bittet sie: „Gebt uns Raum in euren Herzen“ (2Kor 7,2). Er öffnet der Gemeinde sein Herz (2Kor 6,11) und sichert ihr zu, „dass ihr in unseren Herzen seid, um mitzusterben und mitzuleben“ (2Kor 7,3). Mit kardı´a bezeichnet Paulus das Innerste des Menschen, den Sitz von Verstand, Gefühl und Willen, den Ort, wo die Entscheidungen des Lebens wirklich fallen und Gottes Handeln am Menschen durch den Geist beginnt. Die hebräische Sprache kennt kein Äquivalent für nou˜ß („Denken, Vernunft, Verstand “), einem zentralen Begriff hellenistischer Anthropologie359. Paulus verwendet nou˜ß in 1Kor 14,14f innerhalb der Ausführungen über die Glossolalie als kritische Instanz gegenüber der unkontrollierten und unverständlichen Zungenrede. Gebet und Lobpreis vollziehen sich gleichermaßen im göttlichen Geist und im menschlichen Verstand (1Kor 14,15). In 1Kor 14,19 meint nou˜ß den klaren Verstand, in dem die Gemeinde unterwiesen wird: „In der Gemeindeversammlung will ich (lieber) fünf Worte mit meinem Verstand reden . . . als unzählige Worte in (ekstatischer) Sprache.“ Auch in Phil 4,7 bezeichnet nou˜ß das rationale Verstehen, die menschliche Fassungskraft, die vom Frieden Gottes überragt wird. In 1Kor 1,10 appelliert Paulus an die Einheit der korinthischen Gemeinde, sie solle eines Sinnes und einer Meinung sein. Paulus spricht in 1Kor 2,16 und Röm 11,34 vom nou˜ß des Cristo´ß bzw. ku´rioß, womit jeweils der Heilige Geist gemeint ist, der sich menschlicher Beurteilung entzieht360. Innerhalb der Auseinandersetzung zwischen ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ in Rom fordert Paulus beide Parteien auf, sich des eigenen Urteils und damit der eigenen Sache gewiss zu sein (Röm 14,5). Im Widerstreit liegen nach Röm 7,23 das Gesetz in den Gliedern und das Gesetz der Vernunft. Der no´moß tou˜ noo´ß entspricht sachlich dem no´moß tou˜ heou˜ in Röm 7,22: dem auf Gott ausgerichteten Menschen. Mit seiner Ver359 Klassisch Plat, Phaed 247c–e, wonach die Vernunft der vornehmste Seelenteil ist und kraft des Wissens um die Tugend auch zum sittlichen Handeln fähig ist; vgl. ferner Arist, Eth Nic X 1177a (die Vernunft als Inbegriff des Göttlichen und wertvollster Teil des geistigen Lebens); Diog L 7,54 (nach Ze-
non ist die Vernunft das erste Wahrheitskriterium); Epiktet, Diss II 8,1f (das Wesen Gottes ist nou˜ß); weitere Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 230 ff. 360 Vgl. F. LANG, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen 1986, 47.
292 Paulus: Missionar und Denker
nunft will er Gott dienen, aber die in ihm wohnende Sünde macht dieses Wollen zunichte. In Röm 12,2 ermahnt Paulus die Gemeinde, sich nicht dem sündigen und vergehenden Äon anzupassen, sondern eine Verwandlung der ganzen Existenz an sich geschehen zu lassen, die sich als Erneuerung des nou˜ß vollzieht. Mit nou˜ß benennt Paulus hier das vernünftige Erkennen und Denken, die durch das Wirken des Geistes eine neue Ausrichtung erhalten. Der Christ bekommt eine neue Urteilskraft und Urteilsfähigkeit, die ihn in die Lage versetzen zu prüfen, was Gottes Wille ist. Aus sich heraus kann sich die Vernunft nicht erneuern, sie ist vielmehr auf das Eingreifen Gottes angewiesen, der sie in seinen Dienst nimmt und ihrer eigentlichen Bestimmung zuführt361. Mit der Unterscheidung zwischen dem esw anhrwpoß („innerer Mensch “) und dem exw anhrwpoß („äußerer Mensch “)362 bringt Paulus eine Vorstellung aus der hellenistischen Philosophie auf den Begriff. Sie ermöglicht es ihm, ein philosophisches Ideal seiner Zeit aufzunehmen und zugleich von der Kreuzestheologie her umzuprägen. Eine klare traditionsgeschichtliche Ableitung der esw/exw anhrwpoß-Vorstellung ist nicht möglich363. Ausgangspunkt dürfte Plato, Resp IX 588A-589B sein, wo es in 589A heißt: „Also auch wohl, wer das Gerechte für nützlich erklärt, der würde behaupten, man müsse solches tun und reden, wodurch des Menschen innerer Mensch (tou˜ anhrw´pou o ento`ß anhrwpoß) recht zu Kräften komme“. In der hellenistischen Philosophie um die Zeitenwende herum findet sich die Vorstellung, dass der eigentliche, geistige Mensch, der das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden kann, in Zucht frei von den Affekten lebt und sich innerlich unabhängig macht von den äußeren Widerfahrnissen. Demgegenüber ist der ‚äußere‘ Mensch mit den Sinnen der äußeren Welt verhaftet, so dass er als Folge von Leidenschaften und Angst beherrscht wird (vgl. Philo Det 23; Congr 97; Plant 42). Bei Seneca ist wiederholt von einer inneren, göttlichen Kraft die Rede (Seele, Geist, Vernunft), die den zerbrechlichen Leib erhält und aufbaut: „Wenn du einen Menschen siehst, nicht zu schrecken von Gefahren, unberührt von Begierden, im Unglück glücklich, mitten in stürmischen Zeiten gelassen, von einer höheren Warte die Menschen sehend, von gleicher Ebene die Götter, wird dich nicht Erfurcht vor ihm ankommen? Wirst du nicht sagen: Diese Haltung ist größer und erhabener, als dass man sie für vereinbar halten könnte mit diesem, in dem sie wohnt, bedeutungslosen Körper? Göttliche Kraft ist in ihn eingegangen . . .“364
361 Vgl. G. BORNKAMM, Glaube und Vernunft bei Pau-
lus, in: ders., Studien zu Antike und Christentum, BEvTh 28, München 31970, 119–137. 362 Zur Forschungsgeschichte vgl. R. JEWETT, Anthropological Terms (s. o. 6.5), 391–395; TH. HECKEL, Der Innere Mensch, WUNT 2.53, Tübingen 1993, 4–9; H. D. BETZ, The concept of the ‚Inner Human Being‘ (o esw anhrwpoß) in the Anthropology of Paul, NTS 46 (2000), 317–324.
363 Umfassende Diskussion wichtiger Belege bei TH. HECKEL, Der Innere Mensch, 11–88; CHR. MARKSCHIES, Art. Innerer Mensch, RAC 18, Stuttgart 1998, (266–312) 266 ff. 364 Sen, Ep 41,4–5 (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 439f).
Anthropologie 293
Im Gegensatz zur hellenistischen Anthropologie ist die Unterscheidung zwischen dem esw anhrwpoß und dem exw anhrwpoß bei Paulus nicht als anthropologischer Dualismus aufzufassen. Der Apostel betrachtet vielmehr die eine Existenz des Glaubenden unter verschiedenen Perspektiven365. Im Anschluss an einen Peristasenkatalog (2Kor 4,8f) sagt Paulus in 2Kor 4,16: „Darum verzagen wir nicht, sondern wenn auch unser äußerer Mensch (o exw anhrwpoß) aufgerieben wird, so wird doch unser innerer (Mensch) von Tag zu Tag erneuert.“ Äußerlich wird der Apostel durch die vielen Leiden in der Missionsarbeit aufgerieben. Zugleich wirkt aber im exw anhrwpoß die do´xa heou˜ („Herrlichkeit Gottes“; vgl. 2Kor 4,15.17) durch den Geist, so dass sich der Glaubende im Innersten seines Selbst durch den im Geist gegenwärtigen Herrn bestimmt weißt, der ihn stärkt und erneuert. Deshalb ist er in der Lage, die äußeren Leiden und Drangsale zu ertragen, weil er an der Lebensmacht des Auferstandenen partizipiert und so die Bedrängnisse und den Verfall des Körpers überwindet. In Röm 7,22 stimmt der esw anhrwpoß dem Willen Gottes freudig zu und lebt damit seinem eigenen Wollen gemäß in Übereinstimmung mit sich selbst. Die Macht der Sünde verkehrt jedoch die eigentliche Existenz des Glaubenden, der in seinem Streben nach dem Guten dem „Gesetz der Sünde“ in seinen Gliedern unterliegt. Paulus bezeichnet mit esw anhrwpoß das für den Willen Gottes und das Wirken des Geistes offene Ich des Menschen. Autonome und heteronome Anthropologie
Sowohl in der jüdisch-hellenistischen (vgl. 4Makk) als auch in der griechisch-römischen Anthropologie kann ein positives Bild von den Möglichkeiten menschlicher Existenz gezeichnet werden. Plutarch sieht zwar sehr wohl, dass der Mensch durch die Verbindung mit dem Körperlichen Angriffsflächen bietet, „in den maßgebenden und wichtigsten Zügen seines Wesens aber steht er unerschütterlich. . . . Darum sollen wir die menschliche Natur nicht in den schwärzesten Farben malen, als ob sie nichts Starkes und Beständiges besäße und nichts, was dem Schicksal Trotz bietet. Ganz im Gegenteil – wir wissen, dass der Mensch nur zu einem geringen Teil schwach und hinfällig und damit dem Schicksal ausgeliefert ist. Über unseren besseren Teil führen wir das Regiment, und dort sind unsere wichtigsten Güter fest verwahrt: richtige Vorstellungen, Wissen und die Grundsätze, die zur Tugend hinführen. All das kann seinem Wesen nach nicht entrissen und vernichtet werden“ (Mor 475 C.D). Das Schicksal (v tu´cv) kann den Menschen mit Unglück und Krankheit schlagen, wenn er aber über die richtigen Einsichten (der Philosophie) verfügt und zur Tugend (v aretv´) gelangt, kann er davon nicht überwunden werden. Paulus hingegen ist nicht der Meinung, dass der Mensch in sich oder aus sich selbst heraus über eine Größe verfügt, die in der Lage wäre, autonom mit den menschlichen Affekten und Gefühlen umzugehen und sein Verhalten zu steuern. Weder der Vernunft noch 365 Vgl. W. GUTBROD, Anthropologie (s. o. 6.5), 85–92.
294 Paulus: Missionar und Denker
den Tugenden wird diese Kraft zugetraut. Vielmehr ist der Mensch in sich zerrissen zwischen dem Wollen und dem Tun und von sich aus nicht in der Lage, die Einheit seiner Existenz zu gewährleisten. Der Ermöglichungsgrund gelingenden menschlichen Lebens liegt für Paulus außerhalb des Menschen. Nicht das Modell der Autonomie, sondern der Heteronomie bestimmt die paulinische Anthropologie: Es ist Gott selbst, der durch Jesus Christus und im Heiligen Geist den Menschen ein neues Sein schenkt, das sich in der Taufe, im Glauben und in einem Leben in der Kraft des Geistes realisiert. Der ‚neue Mensch‘ (vgl. 2Kor 5,17) muss nicht vom Menschen konstruiert und damit manipuliert werden, sondern er wird von Gott geschaffen. Dieses Konzept ist gleichermaßen eine religiöse Erfahrung und eine denkerische Leistung. Es wäre völlig verfehlt, die paulinische Anthropologie unter ein pessimistisches Menschenbild zu subsumieren; es ist kein pessimistisches, sondern ein realistisches Menschenbild! Darin besteht auch seine denkerische Stärke: Paulus verkennt die Destruktivität menschlichen Seins und Handelns keineswegs, bleibt aber dabei nicht stehen, indem er mit der Liebe, dem Glauben und der Hoffnung die positiven Energien des Menschseins in den Mittelpunkt stellt.
6.6
Ethik
R. BULTMANN‚ Das Problem der Ethik bei Paulus, in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 36–54 (= 1924); W. SCHRAGE, Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese, Gütersloh 1961; O. MERK, Handeln aus Glauben, MThST 5, Marburg 1968; W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 169–248; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II, HThK.S 2, Freiburg 1988, 12– 71; TH. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus, NTA 26, Münster 1994; R. B. HAYS, The Moral Vision of the New Testament, San Francisco 1996, 16–59; M. WOLTER, Ethos und Identität in den paulinischen Gemeinden, NTS 43 (1997), 430–444; M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein. Neutestamentliche Erwägungen zur Grundlegung der Ethik, BEvTh 119, Gütersloh 2000; K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/ M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (s. o. 6.2), 9–31; U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 629–644; W. FENSKE, Die Argumentation des Paulus in ethischen Herausforderungen, Göttingen 2004; F. BLISCHKE, Die Begründung und die Durchsetzung der Ethik bei Paulus, ABG 25, Leipzig 2007.
Paulus entwirft seine Ethik nicht vom erkennenden und handelnden, von der Vernunft und der Sittlichkeit bestimmten Subjekt her366, sondern wählt entsprechend der Gesamtkonzeption seiner Theologie als Ausgangspunkt die Vorstellung der Teil366 So z. B. das stoische Konzept, wonach der Mensch sich in die alles durchdringende göttliche Vernunftwirklichkeit einfügt und ihr in seinem sittlichen Handeln entspricht; vgl. Mus, Diatr 2, wonach „der Seele des Menschen von Natur die Anlage zur Sittlichkeit innewohnt und der Keim der Tugend
(spe´rma aretv˜ß) einem jeden von uns eingepflanzt ist.“ Vor allem durch Übung gilt es, diese positive Anlage im Menschen auszubauen; zum ethischen System der Stoa vgl. M. FORSCHNER, Die stoische Ethik, Stuttgart 1981.
Ethik 295
habe am neuen, von der Macht der Sünde getrennten Sein. Sie gewinnt Gestalt in einem neuen Handeln, dessen Grundlagen und Vollzüge Paulus den Gemeinden immer wieder neu in Erinnerung ruft367.
6.6.1
Teilhabe und Entsprechung
Die paulinische Ethik wurde zumeist mit dem Modell ‚Indikativ – Imperativ‘ beschrieben368: „Der Indikativ begründet den Imperativ.“369 Tragfähig ist diese Beschreibung aber nicht370, denn das Indikativ-Imperativ-Schema ist statischer Natur und erfasst nicht die dynamischen Strukturen der paulinischen Ethik; es zergliedert künstlich, was bei Paulus ein umfassender Seins- und Lebenszusammenhang ist371. Die paulinische Ethik zerfällt nicht in Einzelaspekte, sondern muss im Rahmen der grundlegenden Einheit von Sein und Handeln in der Kraft des Geistes gesehen werden. Ausgangspunkt ist das neue Sein, weil die Einbeziehung in Tod und Auferstehung Jesu Christi nicht auf den Taufakt beschränkt ist, sondern durch die Geistgabe das gegenwärtige und zukünftige Leben der Getauften bestimmt (vgl. Gal 3,2.3; 5,18; Röm 6,4). Wer sich im Raum des Christus befindet, ist eine neue Existenz (vgl. 2Kor 5,17). Wo Paulus von der Neuheit des Seins spricht, erfolgt eine christologische und nicht eine ethische Begründung (vgl. 2Kor 4,16; 5,17; Gal 6,15; Röm 6,4; 7,6). Die Getauften haben Christus angezogen (Gal 3,27), sind gänzlich von ihm bestimmt, denn Christus lebt in ihnen (Gal 2,20a) und er will in ihnen Gestalt gewinnen (vgl. Gal 4,19). Jesus Christus ist Urbild und Vorbild zugleich (Phil 2,6–11), so dass für
367 Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ethos; zwischen beiden wird zumeist so unterschieden: Ethik bezeichnet als Theorieunternehmen die philosophische/theologische Lehre von sittlichen Werten, Normen und Handlungen; Ethos hingegen die praktische, typische Lebenshaltung eines Menschen/einer Gruppe, die nicht immer neu begründet und bedacht werden muss; vgl. dazu M. WOLTER, Christliches Ethos (s. u. 13.6), 191; TH. SCHMELLER, Neutestamentliches Gruppenethos, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD 190; Freiburg 2001, (120–134) 120. 368 Forschungsüberblick bei F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 21–38. 369 R. BULTMANN, Theologie, 335. 370 Die Probleme des Indikativ-Imperativ-Schemas wurden am schärfsten gesehen von H. WINDISCH, Das
Problem des paulinischen Imperativs, ZNW 23 (1924), 265–281. Aus der neueren Forschung vgl. vor allem K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum (s. o. 6.6), 9–14; F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), passim; R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ, ThLZ 132 (2007), 259–284. 371 Vor allem: Wie kann aus der Heilsgabe eine Aufgabe werden?; vgl. H. WEDER, Gesetz und Gnade, in: K. Wengst/G. Sass (Hg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels (FS W. Schrage), Neukirchen 1998, (171–182) 172. Weitere Problemfelder: Muss die Neuheit des neuen Seins erst realisiert werden? Wurden die Glaubenden und Getauften nur auf ‚Bewährung‘ in die Freiheit entlassen? Worin liegt die jeweilige soteriologische Qualität des Imperativs?
296 Paulus: Missionar und Denker
Paulus Christus selbst als Inhalt und Kontinuum der Ethik erscheint372. Die Ethik thematisiert die Handlungsaspekte des neuen Seins, das ein Leben im Raum des Christus ist . Was sich an ihm vollzogen hat, prägt gänzlich das Leben der Getauften. So wie Christus der Sünde ein für allemal gestorben ist, sind auch die Getauften der Sünde nicht mehr untertan (Röm 6,9–11). Ging Jesus im Gehorsam den Weg ans Kreuz und überwand die Sünde und den Tod (Röm 5,19; Phil 2,8), so fordert Paulus die römischen Christen auf, im Gehorsam Diener der Gerechtigkeit zu sein (Röm 6,16; vgl. 1Kor 9,19). Um unserer Sünden willen hat sich Christus dahingegeben, er achtete nicht auf seinen Vorteil (Gal 1,4; Röm 3,25; 8,32). Weil Christus aus Liebe zu den Menschen gestorben ist und diese Liebe die Gemeinde trägt (2Kor 5,14; Röm 8,35.37), bestimmt sie umfassend die christliche Existenz (1Kor 8,1; 13; Gal 5,6.22; Röm 12,9f; 13,9f; 14,15). Wie Christus durch seinen Weg ans Kreuz zum Diener der Menschen wurde (Röm 15,8; Phil 2,6ff), so sollen auch die Christen einander zu Dienern werden (Gal 6,2). Was in der Taufe begann, setzt sich im Leben des Getauften fort: Er ist hineingenommen in den Weg Jesu, ahmt Christus nach, so dass der Apostel sogar sagen kann: „Werdet meine Nachahmer, so wie ich Christi (Nachahmer bin)“ (1Kor 11,1; vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16). Der Weg Jesu zum Kreuz begründet die christliche Existenz und ist zugleich wesentliches Kriterium dieser Existenz. Das ethische proprium christianum ist somit Christus selbst373, so dass Ethik bei Paulus die Handlungsdimensionen der Christusteilhabe umfasst. Auf diesem Hintergrund erschließen sich die Texte, in denen der Apostel ausdrücklich auf das Verhältnis von Christologie/Soteriologie und Ethik zu sprechen kommt. In 1Kor 5,7a formuliert Paulus zunächst imperativisch („Beseitigt den alten Sauerteig, damit ihr ein neuer Teig seid“), um dann eine erste Begründung anzufügen: „wie (kahw´ß) ihr ungesäuert seid.“ Der Inhalt der Mahnung und der Zusage ist identisch, d. h. es handelt sich um zwei Aspekte einer einzigen Sache, die Paulus in der zweiten Begründung benennt: „Denn (kai` ga´r) unser Passalamm wurde geschlachtet, Christus“ (1Kor 5,7b). Das durch Christus erworbene neue Sein lässt es nicht zu, dass die Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde gefährdet wird; die Glaubenden und Getauften sollen leben, was sie sind. In diese Richtung weist auch Gal 5,25: „Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im Einklang mit dem Geist sein“ (ei zw˜men pneu´mati, pneu´mati kai` stoicw˜men)374. Das Verb stoice´w ist keineswegs bedeutungsgleich mit peripate´w („wandeln“), sondern meint ‚mit etwas übereinstimmen/im Einklang sein‘. Der Akzent liegt damit nicht auf der Forderung, sondern es geht um eine Relation, 372 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, „Das Gesetz des Christus“ (Gal 6,2). Jesu Verhalten und Wort als letztgültige sittliche Norm nach Paulus, in: ders., Studien zur neutestamentlichen Ethik, hg. v. Th. Söding, SBB7, Stuttgart 1990, 53–77. 373 Zum Problem des ‚Propriums‘ paulinischer und
ntl. Ethik vgl. G. STRECKER, Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, ZThK 75 (1978), (117–146) 136 ff. 374 Die Übersetzung orientiert sich an G. DELLING, Art. stoice´w, ThWNT 7, Stuttgart 1966, 669.
Ethik 297
die mit dem Dativ pneu´mati ausgedrückt wird: Im Einklang leben mit dem Geist. Es ist der Geist Gottes, der sowohl das Wollen als auch das Vollbringen bewirkt (vgl. Phil 1,6; 2,13). Was bereits erreicht wurde, soll gelebt werden (Phil 3,16), d. h. es geht nicht um die Realisierung einer Gabe, sondern um ein Verbleiben und Leben im Bereich der Gnade und d. h. im Bereich des Christus. „Christsein ist Christus-Mimesis“375 und die christusgemäße Gestalt des neuen Seins ist die Liebe (vgl. Gal 5,13). Innerhalb der paulinischen Ethik ist die Liebe das kritische Auslegungsprinzip, an dem alles Handeln orientiert sein soll und auf das alles Handeln hinausläuft376. Wer nicht aus der Liebe handelt, lebt nicht im Einklang mit dem neuen Sein (vgl. 1Kor 3,17; 6,9f; 8,9–13; 10,1ff; 2Kor 6,1; 11,13–15; Gal 5,2–4.21; Röm 6,12ff; 11,20–22; 14,13ff). Dies geschieht immer dann, wenn man die neue Ausrichtung der Existenz377 nicht erkennt, in alte Handlungsweisen zurückfällt oder meint, sich bereits im Stand der Vollendung zu befinden. Ausgangspunkt und Begründung der Ethik ist bei Paulus die Lebens- und Handlungseinheit des neuen Seins in Christus . Jesus Christus begründet und prägt zugleich das Leben der Christen, die ihrerseits in der Kraft des Geistes im Raum des Christus leben und dem neuen Sein in ihren Handlungen entsprechen.
6.6.2
Das neue Handeln
Die paulinischen Weisungen und ihre Begründungen sind von Brief zu Brief sehr unterschiedlich. Im 1Thess fungiert die nahe Parusie des Kyrios und die damit verbundene Gerichtsvorstellung zur Motivierung eines untadeligen Lebens in Heiligkeit (vgl. 1Thess 3,13; 4,3.4.7; 5,23)378. Paulus erkennt den ethischen Stand der Gemeinde ausdrücklich an, fordert sie aber zugleich auf, weitere Fortschritte zu machen (vgl. 1Thess 4,1–2). Inhaltlich verbleibt der Apostel bei seinen Mahnungen zu einem sittsamen und ehrlichen Leben in 1Thess 4,3–8 im Rahmen hellenistisch-jüdischer Ethik. Es entspricht der im gesamten Brief vorherrschenden konventionellen Ethik, dass die Gemeinde ruhig und unauffällig leben soll (1Thess 4,11), damit die Außenwelt keinen Anstoß nimmt (1Thess 4,12). Die vorausgesetzte ethische Kompetenz der Menschen aus den Völkern zeigt, dass Paulus keine ethische Sonderstellung der
375 K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum (s. o.
6.6), 24. 376 Vgl. dazu H. WEDER, Normativität der Freiheit (s. o. 6.5.5), 136 ff. 377 Die neue Ausrichtung der Existenz benennt Paulus mit dem Verb froneı˜n, das im Neuen Testament 26mal, bei Paulus allein 22mal belegt ist; vgl. hierzu
K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum (s. o. 6.6), 28–30. 378 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Die Ethik des 1Thessalonicherbriefes, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian Correspondence, BEThL 87; Leuven 1990, 295–305; F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 39–99.
298 Paulus: Missionar und Denker
Gemeinden anstrebt. Er begründet seine Weisungen nicht aus dem AT und geht von einem bei Christen und Nichtchristen gleichermaßen vorhandenen Ethos aus. Ein differenziertes Bild bieten die beiden Korintherbriefe379. Die Korinther werden wie alle anderen Gemeinden dazu aufgefordert, sich am Weg und der Lehre des Paulus auszurichten (1Kor 4,16f). Die Wiederaufnahme von odo´ß („Weg“) in 1Kor 12,31 zeigt, dass Paulus den Weg der Liebe meint. Er lebt und lehrt die von Christus empfangenen Liebe, deshalb sollen sich die Gemeinden an ihm ausrichten. In den sich anschließenden Konfliktunterweisungen in 1Kor 5–7 bedient sich Paulus sehr verschiedenartiger Begründungen. Der Gemeindeausschluss des Unzuchtstäters wird zwar in 1Kor 5,13b mit einem Zitat aus Dtn 17,7bLXX begründet, das eigentlich Anstößige ist aber die Tatsache, dass ein solcher Fall nicht einmal bei den Heiden vorkommt (vgl. 1Kor 5,1b). Der geforderte Verzicht auf Rechtsstreitigkeiten zwischen Christen vor heidnischen Richtern in 1Kor 6,1–11 hat in der jüdischen Überlieferung keine Parallele380. Die Warnung vor Unzucht in 1Kor 6,12–20 begründet Paulus nicht mit sachlich verwandten Texten wie Prov 5,3; 6,20–7,27; Sir 9,6; 19,2, sondern er zitiert Gen 2,24LXX; ein Text, der ursprünglich mit der Unzuchtsthematik nichts zu tun hat. Auch in 1Kor 7 spielen atl. Texte zur Begründung der ethischen Weisungen und Empfehlungen keine Rolle. Vielmehr gibt es für die tendenziell ehekritische Argumentation des Apostels keinerlei Anhalt am AT, vielmehr finden sich eher Parallelen im kynischen Bereich: Ehe und Kinder hindern den Kyniker an seinem eigentlichen Auftrag, Kundschafter und Herold der Gottheit unter den Menschen zu sein (vgl. Epict, Diss III 22,67–82). Das vom Kyrios geforderte Verbot der Ehescheidung in 1Kor 7,10f widerspricht explizit Regelungen der Tora (vgl. nur Dtn 24,1). Paulus entfaltet 1Kor 7,17–24 die ethische Maxime des Bleibens in der Berufung, die ebenfalls auf kynisch-stoischem Hintergrund zu verstehen ist381. Das Handeln muss sich immer an den Umständen orientieren, denn Leiden entsteht durch eine falsche Auffassung von den Dingen (vgl. Teles, Fr 2). Auch 1Kor 7,19 lässt hellenistischen Einfluss erkennen, denn das „Halten der Gebote Gottes“ (tv´rvsiß entolw˜n heou˜) kann sich nicht auf die Tora beziehen, weil die Tora die Beschneidung fordert und nicht wie 1Kor 7,19a für indifferent erklärt. Paulus geht wiederum von einer allgemeinen Evidenz des Ethischen aus, es gibt unmittelbar zugängliche Gebote Gottes, die den Menschen einsichtig sind382. Gewicht bekommen Schriftzitate (vgl. 1Kor 10,7.26) und Anspielungen (vgl. 1Kor 11,3.8.9) in der Argumentation von 1Kor 10,1–22.23– 379 Zur Analyse vgl. A. LINDEMANN, Toragebote (s. o. 6.5.3), 95–110; M. WOLTER, Ethos und Identität (s. o. 6.6.), 435ff; F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 100–239. 380 Vgl. als Parallele Plat, Gorg 509c (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 278). 381 Umfassender Nachweis bei W. DEMING, Paul on marriage and celibacy. The Hellenistic background
of 1 Corinthians 7, MSSNTS 83, Cambridge 1995, 159–165. 382 Ähnlich argumentiert Epiktet: „Welche Weisungen soll ich dir geben? Hat dir Zeus keine Weisungen erteilt? Hat er dir nicht das, was dir wirklich gehört, als unantastbares Eigentum zur Verfügung gestellt, während das, was dir nicht gehört, erheblichen Beeinträchtigungen ausgesetzt ist?“ (Diss I 25,3).
Ethik 299
11,1: 11,2–16. Allerdings leitet Paulus auch hier seine Weisungen nicht direkt aus der Schrift ab383. Der 2Kor bestätigt dieses Urteil, denn die beiden einzig relevanten Schriftzitate in 2Kor 8,15 und 9,9 begründen lediglich die Verheißung, dass den Kollektengebern von Gott überreiche Gnade gewährt wird. In Gal 5,14 zitiert Paulus Lev 19,18b, wobei es deutlich um die in Jesus Christus erschienene Liebe geht (vgl. Gal 5,6). Die Norm des neuen Seins ist allein der Geist, der in Gal 5,18 ausdrücklich als der Gegensatz zur Tora erscheint384. Die christlichen (und hellenistischen) Tugenden der Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit (Gal 5,22.23a) werden exklusiv auf den Geist zurückgeführt. Lediglich im Nachtrag fügt Paulus an: „Gegen solche Dinge ist das Gesetz nicht“ (Gal 5,23b). Speziell die Tugend- und Lasterkataloge (vgl. 1Kor 5,10f; 6,9f; 2Kor 12,20f; Gal 5,19–23; Röm 1,29–31) entfalten ein ethisches Modell, das an der Übereinstimmung mit den Konventionen der Zeit interessiert ist. Sie haben ihren Ursprung in der hellenistischen Philosophie, fanden Aufnahme in der jüdisch-hellenistischen Literatur und waren speziell in ntl. Zeit sehr populär385. Von einer Gemeinsamkeit sittlicher Maßstäbe zwischen Juden, Heiden und Christen geht Paulus in Röm 2,14f aus (vgl. Röm 13,13)386. Er nimmt den hellenistischen Gedanken auf, dass die ethische Belehrung durch die Natur bzw. die Vernunft oder den Logos erfolgt, ohne äußere, d. h. geschriebene Anweisungen387. Auch in Röm 12,1.2 leitet Paulus den Gotteswillen nicht aus der Tora ab. Als Überschrift des ethischen Hauptabschnittes kommt den beiden Versen eine Leser lenkende Funktion zu, sie definieren den Bezugsrahmen, in dem die folgenden Aussagen zu verstehen sind. Die Römer sollen selbst prüfen, was der Wille Gottes ist (V. 2: dokima´zein to` he´lvma tou˜ heou˜); sie übernehmen damit eine Aufgabe, die auch dem Philosophen zukommt, wenn er nach dem fragt, was gut, böse oder gleichgültig ist. „Es wird demnach das wichtigste und vornehmste Geschäft eines Philosophen sein, dass er die Vorstellungen prüfe (dokima´zein ta`ß fantası´aß) und unterscheide (diakrı´nein) und keine ungeprüft annehme“ (Epict, Diss I 20,6.7). Paulus benennt den Willen Gottes mit offenen Kategorien der Popularphilosophie: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. 383 Vgl. A. LINDEMANN, Toragebote (s. o. 6.5.3), 110:
„Die konkreten Weisungen des Paulus im Ersten Korintherbrief zeigen, daß Paulus sich nicht an den Inhalten der Tora orientiert, wenn er ethische Normen aufstellt oder in Konfliktfällen Entscheidungen trifft.“ 384 Zur Analyse des Gal vgl. F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 240–306. 385 Vgl. dazu die Bearbeitung des Materials bei S. WIBBING, Die Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament und ihre Traditionsgeschichte, BZNW 25, Berlin 1959; E. KAMLAH, Die Form der ka-
talogischen Paränese im Neuen Testament, WUNT 7, Tübingen 1964. Textbeispiele in: NEUER WETTSTEIN II/ 1 (s. o. 4.5), 54–66.575 f. 386 Zum Röm vgl. F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 307–369. 387 Vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 71–85. Der wohl älteste Beleg für das Konzept der vernunftgemäßen Sittlichkeit findet sich bei Heracl, Fr. 112: „Vernünftig zu denken ist die größte Tugend (swfroneı˜n aretv` megı´stv), und Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun in Übereinstimmung mit der Natur, auf sie hinhörend.“
300 Paulus: Missionar und Denker
Dabei verdeutlicht die Korrespondenz zwischen Röm 12,1f und 12,9ff: „Die Liebe ist die christliche Definition des Guten.“388 In der Tradition philosophischer Kultkritik389 werden die Christen aufgefordert, ihre Leiber als Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen, dies ist ihr „vernunftgemäßer Gottesdienst“ (logikv` latreı´a). Dem neuen Gottesverhältnis entspricht ein geistiger Kult, der sich an der von Gott gegebenen Vernunft orientiert. In Röm 13,1–7 thematisiert Paulus das Verhältnis der Christen zum Staat. Bewusst ist der Abschnitt von profanen Begriffen und Vorstellungen durchzogen390, die eine direkte christologische Auslegung unmöglich machen. Die römische Gemeinde soll sich in die schöpfungsgemäßen Strukturen der Welt einordnen. Die allgemeine Gehorsamsforderung wird in V. 6 mit einem Beispiel konkretisiert: Die Römer zahlen Steuern und erkennen damit die von Gott eingesetzten Gewalten an. Die kaiserlichen Beamten der Steuer- und Zolleintreibung sind in der Ausübung ihres Amtes nicht weniger als leitourgoi` heou˜ („Diener Gottes“). In V. 7 schließt Paulus seine Ermahnung mit einer Verallgemeinerung ab: „Gebt allen, was ihr schuldig seid. Wem ihr Steuern schuldet, die Steuern; wem Zoll, den Zoll; wem Furcht, die Furcht; wem Ehre, die Ehre.“ Bei der Interpretation dieses umstrittenen Abschnittes ist sorgfältig auf die Textsorte und die Stellung im Aufbau des Röm zu achten: Er ist Ethik und nicht Dogmatik391! Nimmt der Staat die ihm von Gott zugewiesenen Aufgaben der Machtverwaltung und Machtausübung wahr, dann sind die Christen aufgefordert, ihn darin zu unterstützen. Zudem weist Röm 13,1–7 eine aktuelle politische Konnotation auf, denn die Aufforderung des Paulus zur Anerkennung der staatlichen Autoritäten und damit der Pax Romana392 dürfte auf dem Hintergrund von zunehmenden 388 U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK VI/3,
Neukirchen, 1982, 20. 389 Philo konstatiert: „Gott legt nicht Wert auf die Fülle der Opfer, sondern auf den völlig reinen, vernünftigen Geist (pneu˜ma logiko´n) des Opfernden“ (Spec Leg I 277). Für den gerechten Herrscher gilt nach Dion von Prusa: „Auch glaubt er nicht, die Götter mit Gaben und Opfern von ungerechten Menschen erfreuen zu können, da er weiß, dass sie nur die Gaben von Guten freundlich annehmen. Infolgedessen wird er bestrebt sein, sie auch mit solchen Geschenken reichlich zu verehren. Nie aber wird er aufhören, ihnen mit jenen anderen Geschenken Ehrfurcht zu erweisen, mit guten Werken und gerechten Taten. Tugend hält er für Frömmigkeit, das Laster für lauter Gottlosigkeit“ (Dio Chrys, Or 3,52.53; vgl. ferner 13,35; 31,15; 43,11). Weitere Belege bei H. WENSCHKEWITZ, Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe, ANGELOS 4 (1932), 74–151; NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 220–234. 390 Grundlegender Nachweis bei A. STROBEL, Zum
Verständnis von Röm 13, ZNW 47 (1956), 67–93; vgl. ferner K. HAACKER, Röm (s. o. 6.2.5), 293–303; Texte in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 199–206. 391 Vgl. E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 341; ausführliche Überlegungen zur Textpragmatik finden sich bei H. MERKLEIN, Sinn und Zweck von Röm 13,1–7. Zur semantischen und pragmatischen Struktur eines umstrittenen Textes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 405–437. 392 Vgl. dazu K. WENGST, Pax Romana, München 1986, 19–71; CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Prophetischmessianische Provokateure der Pax Romana (s. o. 3.4.1), 5–196. Im Zentrum dieser Vorstellung stand seit Augustus die Person des Kaisers, der als Pontifex Maximus den Fortbestand und den Zusammenhalt des Imperium Romanum in sakralrechtlicher Hinsicht garantiert, das Gemeinwesen zusammenhält und durch seine kluge Politik Frieden und Wohlstand sichert; als Textbeispiel vgl. Val Max I; Plut, Numa 9: „Der Pontifex maximus hat die Stellung eines Auslegers und Propheten oder vielmehr eines
Ethik 301
Spannungen zwischen der als eigenständiger Bewegung sich formierenden christlichen Gemeinde und den römischen Behörden zu verstehen sein393. Sie nehmen nun die Christen als eine Gruppe wahr, die einen hingerichteten Verbrecher als Gott verehrt und das baldige Weltende verkündet. Die nur acht Jahre nach der Abfassung des Römerbriefes einsetzende neronische Verfolgung 64 n.Chr. weist darauf hin, dass es zunehmende Spannungen zwischen den Christen einerseits sowie den Behörden und der Bevölkerung Roms andererseits gegeben haben muss. Am deutlichsten nimmt Paulus in Phil 4,8 Begriffe der Popularphilosophie auf: „Im übrigen, Brüder, was rechtschaffen, was ehrbar, was recht, was gut, was beliebt, was anerkannt ist, was immer Tugend ist und was Lob verdient, dem denket nach.“ Politisch-gesellschaftliche Begriffe sind innerhalb der paulinischen Aufzählung vor allem eufvmoß („anerkannt“) und epainoß („Lob“); sie zielen auf die gesellschaftliche Anerkennung, die Paulus von der Gemeinde in Philippi erwartet. Mit aretv´ („Tugend“) greift Paulus den Schlüsselbegriff der griechischen Bildungsgeschichte auf und integriert den Wandel der Philipper vollständig in das zeitgenössische Ethos. Ist es doch die Aufgabe des politisch-gesellschaftlich agierenden Philosophen, zu klären „was Gerechtigkeit ist, was Pflichtbewusstsein, was Leidensfähigkeit, was Tapferkeit, was Todesverachtung, was Gotteserkenntnis, ein wie kostenloses Gut ein gutes Gewissen ist.“394 Als Lebensform und Technik des Glücklichseins, als Wissenschaft vom Leben395 kommt es der Philosophie darauf an, die im Menschen vorhandenen Tugenden zu wecken bzw. die Einsicht des Menschen zu fördern, sich an diesen Tugenden zu orientieren. Weil ein sittliches Leben gleichbedeutend mit Philosophie ist und die Philosophie handeln lehrt396, kann sie mit der Paraklese des Apostels durchaus verglichen werden. Die Paraklese397 in den paulinischen Briefen unterscheidet sich nicht grundlegend von den ethischen Standards der Umwelt. Nur sehr begrenzt greift Paulus auf das AT als Norm gebender Instanz zurück; die Tora wird auf das Liebesgebot konzentriert Oberaufsehers über das ganze Religionswesen inne. Er hat nicht nur für den öffentlichen Gottesdienst zu sorgen, sondern überwacht auch die von den einzelnen Bürgern dargebrachten Opfer, untersagt das Abweichen vom Hergebrachten und erteilt Belehrung, was jeder zu tun hat, um die Götter zu verehren oder zu versöhnen.“ 393 Mit Hinweis auf Tacitus, Annalen XIII 50–51 (nachhaltige Proteste gegen den Steuerdruck im Jahr 58 n.Chr.) sehen J. FRIEDRICH/P. STUHLMACHER/ W. PÖHLMANN, Zur historischen Situation und Intention von Röm 13,1–7, ZThK 73 (1976), 131–166, in dem zur Zeit der Abfassung des Röm auf den Bürgern lastenden Steuerdruck den aktuellen Hintergrund von Röm 13,1–7.
394 Sen, Tranq An III 4. 395 Cic, Fin III 4: „Philosophie ist ja die Wissenschaft vom Leben“. 396 Vgl. Sen, Ep 20,2: „handeln lehrt die Philosophie, nicht reden“. 397 Der Begriff Paraklese erfasst den paulinischen Grundansatz besser als Paränese : Paraklese ist terminologisch bei Paulus belegt (parakaleı˜n findet sich 39mal, para´klvsiß 18mal bei Paulus), Paränese hingegen nicht (paraineı˜n nur in Apg 27,9.22); vgl. dazu A. GRABNER-HAIDER, Paraklese und Eschatologie bei Paulus, NTA 4, Münster 1968.
302 Paulus: Missionar und Denker
(vgl. Röm 13,8–10) und damit in das zeitgenössische Ethos integriert (s. o. 6.5.3). Allerdings wird dem Liebesgebot eine weitaus exklusivere Stellung zugewiesen als in zeitgenössischen Systemen 398. Die Liebe war in besonderer Weise als ethisches Leitprinzip geeignet, weil sie gleichermaßen das geschenkte Gottesverhältnis, das neue Selbstverständnis und das veränderte Verhalten gegenüber dem Nächsten zu erfassen vermag399. Wenn Paulus auf die Handlungsaspekte des neuen Seins zu sprechen kommt, aktiviert er die Erinnerung seiner Hörer und Leser und strebt Problemlösungen an. Dabei setzt er nicht so sehr im Materialgehalt seiner Weisungen neue Akzente, sondern in der Begründung . Er beurteilt die menschlichen Handlungsmöglichkeiten und ihre Erweiterungen im Licht des Christusgeschehens und gelangt von dort zu einer neuen Existenz- und Zeitdeutung, die sich grundlegend von der hellenistischen Vernunftsethik unterscheidet400: Allein die Teilhabe am Christusgeschehen befreit von der Macht der Sünde und befähigt durch die Kraft des Heiligen Geistes zu einer christuskonformen Existenz, die über den Tod und das Gericht hinaus Bestand haben wird. Zugleich partizipiert das frühe Christentum an einer hochreflektierten jüdischhellenistischen und griechisch-römischen Ethiktradition. Das Humanum musste nicht neu erschaffen und bedacht werden, wohl aber erschien es in einer neuen Perspektive; in der Perspektive des Glaubens, der sich im Handeln manifestiert. Die paulinische Paraklese zielt auf ein Leben im Einklang mit dem Christusgeschehen, sie verweist auf die innere Stimmigkeit zwischen dem geglaubten und gelebten Evangelium. Es geht um die Erkenntnis und Praxis der Einheit von Glaube und Handeln in der Kraft des Geistes. Damit ist die paulinische Ethik gleichermaßen eine Gebotsund Einsichtsethik.
398 Vgl. M. WOLTER, Die ethische Identität christlicher
Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: Woran orientiert sich Ethik?, hg. v. W. Härle/R. Preul, MThSt 67, Marburg 2001, (61–90) 80–84. 399 Vgl. TH. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus (s. o. 6.6), 272: „Das Liebesgebot ist der Kernsatz paulinischer Ethik.“ 400 Der entscheidende Unterschied zur durchweg theologisch ausgerichteten (stoischen) Vernunftsethik (vgl. nur Cic, Leg I 33f oder Epict, Diss I 1,7) und Paulus liegt in der unterschiedlichen Bewertung der Realität des Bösen und der Fähigkeiten des Menschen, sich dieser Realität zu entziehen. Die stoische
Ethik ist vom Gedanken der sittlichen Entwicklung geprägt. „Sie gipfelt in der Erkenntnis, daß Glück in vollendeter Harmonie des Menschen mit sich selbst besteht und diese nur durch ein Verstehen der und Einverständnis mit der göttlichen Weltvernunft zu erreichen ist“ (M. FORSCHNER, Das gute und die Güter. Zur stoischen Begründung des Wertvollen, in: ders., Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, [31–49 ] 46). Das offenkundige weitverbreitete Abweichen von diesem Ideal wird zumeist mit mangelnder Einsicht in diese Zusammenhänge und der ‚Schlechtigkeit‘ der Menschen erklärt.
Ekklesiologie 303
6.7
Ekklesiologie
W. KLAIBER, Rechtfertigung und Gemeinde, FRLANT 127, Göttingen 1982; U. BROCKHAUS, Charisma und Amt, Wuppertal 1987; J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993; W. KRAUS, Das Volk Gottes, WUNT 85, Tübingen 1996; H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus, FRLANT 181, Göttingen 1999; R. W. GEHRING, Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften von Jesus bis Paulus, Gießen 2000; A. D. CLARKE, Serve the Community of the Church, Grand Rapids 2000; TH. SCHMELLER, Gegenwelten. Ein Vergleich zwischen paulinischen Gemeinden und nichtchristlichen Gruppen, BZ 47 (2003),167–185.
Für Paulus kann es die Teilhabe am gemeinsamen Heil nur in der Gemeinschaft der Glaubenden geben. Christsein ist für ihn identisch mit In-der-Gemeinde-Sein, seine Mission ist gemeindegründende Mission, und seine Briefe sind Gemeindebriefe.
6.7.1
Ekklesiologische Grundbegriffe
Von den 114 ekklvsı´a-Belegen im Neuen Testament finden sich 44 bei Paulus, hier wiederum 31 in den beiden Korintherbriefen. Paulus greift mit ekklvsı´a („Versammlung/Gemeinde“) einen politischen Begriff auf, um das Wesen und die örtlichen Versammlungen der neuen Gemeinschaft zu kennzeichnen. Im griechisch-hellenistischen Bereich benennt ekklvsı´a die Versammlung der stimmberechtigten freien Männer401, ein Sprachgebrauch, der auch in Apg 19,32.39 vorliegt. 1Thess 2,14; 1Kor 15,9; Gal 1,13 und Phil 3,6 („ich habe die Versammlung Gottes verfolgt“) zeigen, dass möglicherweise schon in Jerusalem die Bezeichnung ekklvsı´a tou˜ heou˜ („Versammlung Gottes“) für die neue Bewegung der Christusgläubigen aufkam. Man knüpfte damit einerseits an die Wiedergabe von lhq mit ekklvsı´a in der Septuaginta an402 und ordnet die Christusgemeinschaft dem Gottesvolk Israel zu, andererseits drückt die Nichtaufnahme von sunagwgv´ („Synagoge“) das Selbstverständnis der frühesten Gemeinden in der Abgrenzung zum Judentum aus. In der semantischen Neuprägung ekklvsı´a tou˜ heou˜ artikuliert sich das Selbstverständnis der neuen Bewegung als eigenständige Größe403. Paulus orientiert sich bewusst an der profanen Grundbedeutung von ekklvsı´a, denn bei ihm steht die örtliche Versammlung der Glaubenden im Vordergrund, wie die Ortsangaben in 1Thess 401 Vgl. dazu insgesamt A. CLARKE, Serve the Com-
munity of the Church (s. o. 6.7), 11–33. 402 Vgl. Dtn 23,2–4; Num 16,3; 20,4; Mi 2,5; 1Chr 28,8; zu den einzelnen Ableitungstheorien vgl. J. ROLOFF, Art. ekklvsı´a, EWNT 1, Stuttgart 1980, (998– 1011) 999–1001; W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. 6.7), 124–126.
403 Das griechische Syntagma ekklvsı´a tou˜ heou˜ ist literarisch nur bei Paulus (1Thess 2,14; 1Kor 1,2; 10,32; 11,16.22; 15,9; 2Kor 1,1; Gal 1,13) und in seiner Wirkungsgeschichte (Apg 20,28; 2Thess 1,1.4; 1Tim 3,5.15) belegt.
304 Paulus: Missionar und Denker
1,1; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Gal 1,2 zeigen404. Zugleich gewinnt die eine Kirche Gottes in der Einzelgemeinde Gestalt, so dass sowohl die Ortsgemeinde (1Thess 1,1; 1Kor 1,2) bzw. die Ortsgemeinden (2Kor 1,1; Gal 1,2) als auch die Christenheit insgesamt (1Thess 2,14; 1Kor 10,32; 11,16.22; 12,28; 15,9; Gal 1,13; Phil 3,6) als ekklvsı´a tou˜ heou˜ bezeichnet werden kann. Für Paulus repräsentiert die Einzelgemeinde die Gesamtkirche an einem bestimmten Ort405; er kennt keine hierarchische Struktur zwischen Ortsgemeinden und der Gesamtkirche, sondern wechselweise kann ein Teil für das Ganze stehen . Die Gesamtkirche ist in der Ortsgemeinde präsent, und die Ortsgemeinde ist ein Teil der Gesamtkirche. Terminologisch sollte deshalb ekklvsı´a als Zusammenschluss von Christen an einem Ort mit „Gemeinde“, als weltweite Gesamtheit aller Christen mit „Kirche“ übersetzt werden406. In der Traditionsgeschichte atl.-jüdischer Vorstellungen stehen weitere ekklesiologische Bezeichnungen bei Paulus wie „die Heiligen “ (oı aÇgioi) und „die Erwählten “ (oı eklektoı´). Sehr häufig erscheint im Präskript der Briefe die Bezeichnung der Gemeinde als aÇgioi (1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Röm 1,7; Phil 1,1), die wie ekklvsı´a heou˜ wechselnder Ausdruck für Einzelgemeinden (1Kor 16,1; 2Kor 8,4; Röm 15,26) und die Gesamtkirche sein kann (1Kor 14,33: taı˜ß ekklvsı´aiß tw˜n agı´wn = „den Gemeinden der Heiligen“). ‚Heilige‘ sind für Paulus die Christen nicht aufgrund einer besonderen ethischen Qualität, sondern durch die in der Taufe vollzogene Einbeziehung in das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus. Sie gehören zu Gott, der Geist Gottes wohnt in ihnen (1Kor 3,16; 6,19) und ihr Leib ist heilig, weil er der Tempel Gottes ist (1Kor 3,17b). In unmittelbarem Zusammenhang mit ekklvsı´a und in großer Nähe zu aÇgioß steht die Wortgruppe klvto´ß („berufen“), klv˜siß („Berufung“), eklogv´ („Erwählung“), eklekto´ß („erwählt“)407, die für die paulinische Ekklesiologie von großer Bedeutung ist. Dankbar erwähnt Paulus in 1Thess 1,4 die Erwählung (eklogv´) der ehemals heidnischen Thessalonicher; in 1Kor 1,26ff wertet Paulus die Berufung (klv˜siß) der Schwachen, Törichten und Verachteten als eine Bestätigung des paradoxen Handelns Gottes am Kreuz. Die Erwählung hat reinen Gnadencharakter (Gal l,6; Röm 1,6), so dass Paulus von einer im Eschaton gültigen Vorherbestimmung der Glaubenden sprechen kann (Röm 8,29–39; vgl. 1Kor 2,7). Wie sehr für Paulus Berufung und Heiligung zusammengehören, zeigen 1Kor 1,2; Röm 1,7, wo er von „berufenen Heiligen“ spricht. Wer berufen, ausgesondert (vgl. Gal 1,l5; Röm 1,1) und von Gott ergriffen ist, der ist heilig. Basismetaphern
Neben den ekklesiologischen Grundworten prägen drei Basismetaphern die paulinischen Aussagen zur Kirche: ‚in Christus‘ (en Cristw˜ ), ‚Leib Christi‘ (sw˜ma Cristou˜) und ‚Volk Gottes‘ (lao`ß heou˜). Mit ihren Raum- und Zeitaspekten beschreiben sie 404 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 98 f.
406 Vgl. J. ROLOFF, Art. ekklvsı´a, 999.
405 Vgl. E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 323.
407 Vgl. H. CONZELMANN, 1Kor (s. o. 4.6), 39 f.
Ekklesiologie 305
umfassend den Ort und das Wesen christlicher Existenz in der Gemeinschaft der Glaubenden. 1) Als Ortsbeschreibung christlicher Existenz benennt en Cristw˜ die enge und heilvolle Gemeinschaft jedes einzelnen Christen und aller gemeinsam mit Jesus Christus (s. o. 6.4.1). In der Taufe werden die Glaubenden in den Bereich des pneumatischen Christus eingegliedert und sind en Cristw˜ eine neue Kreatur (2Kor 5,17). Die Getauften haben ‚in Christus‘ teil an der koinwnı´a („Gemeinschaft“) des einen Geistes (2Kor 13,13; Phil 2,1), die nun ihr Leben in der Gemeinde bestimmt. Die Einbeziehung in die Herrschaftssphäre Christi wirkt sich real sowohl auf das Leben der einzelnen Glaubenden als auch auf die Gestalt der Gemeinde aus; sie begründet nicht nur die Gemeinschaft mit Christus, sondern ermöglicht auch eine neue Gemeinschaft der Glaubenden untereinander (vgl. Gal 3,26–28). Während in der römischen Gesellschaft die Herkunft und Standeszugehörigkeit über den Status eines Menschen entschied, gelten in den christlichen Gemeinden die antiken Fundamentalunterscheidungen von Herkunft, Geschlecht und Rasse nicht mehr (vgl. 1Kor 12,13; Gal 3,26–28; Röm 1,14). Alle sind ‚Kinder Gottes‘ und ‚einer in Christus Jesus‘ (Gal 3,26.28), so dass eine völlig neue Offenheit in der Wahrnehmung und im Umgang von Menschen entstand, die ein wichtiger Grund für den Erfolg der frühchristlichen Mission war408. 2) Die christologische Fundierung der paulinischen Ekklesiologie zeigt sich auch in der sw˜ma Cristou˜-Vorstellung, denn der Gedanke der Inkorporation in den Leib Christi betont die Prävalenz der Christologie gegenüber der Ekklesiologie. Ausgangspunkt für den ekklesiologischen Gebrauch von sw˜ma bei Paulus ist die Rede vom sw˜ma tou˜ Cristou˜ in Röm 7,4 und in der Abendmahlsüberlieferung (1Kor 10,16; 11,27). Meint sw˜ma tou˜ Cristou˜ in 1Kor 10,16; 11,27; Röm 7,4 den am Kreuz für die Gemeinde hingegebenen Leib Christi, so wird in 1Kor 10,17 daraus die ekklesiologische Folgerung gezogen: eÅn sw˜ma oı polloı´ esmen („wir, die Vielen, sind ein Leib“). Die für alle ekklesiologischen Aussagen grundlegende Gleichsetzung der Gemeinde mit dem Leib Christi findet sich explizit nur in 1Kor 12,27: umeı˜ß de´ este sw˜ma Cristou˜ („Ihr aber seid der Leib Christi“). Paulus setzt diese Vorstellung ferner in 1Kor 1,13; 6,15f; 10,17; Röm 12,5 und 1Kor 12,12–27 ein409. In 1Kor 12,13 („Denn durch einen Geist wurden wir alle zu einem Leib hin getauft“) entfaltet Paulus den sw˜ma Cristou˜-Gedanken in charakteristischer Weise: a) Der Leib Christi ist in Bezug auf seine 408 Vgl. hier E. EBEL, Die Attraktivität früher christli-
cher Gemeinden, WUNT 2.178, Tübingen 2004, die den Schlüssel zum Erfolg frühchristlicher Gemeinden in der Offenheit für Menschen aller Stände, aller Geschlechter und aller Berufe sieht. Diese Offenheit stellt den größten Unterschied gegenüber paganen Vereinen dar. Die Bekehrung ‚ganzer Häuser‘ (vgl. 1Kor 1,16; Apg 16,15; 18,8) zeigt, dass Angehörige
aller Stände und Schichten zu der neuen Gemeinschaft gehören konnten. Durch den Verzicht auf formale Zulassungsbedingungen schlossen sich insbesondere Frauen und Mitglieder unterer Gesellschaftsschichten (vor allem Sklaven) in einem erheblichen Maß den neuen Gemeinden an. 409 Vgl. hierzu E. SCHWEIZER, Art. sw ˜ ma, ThWNT 7, Stuttgart 1964, (1025–1091) 1064 ff.
306 Paulus: Missionar und Denker
Glieder präexistent. Er wird nicht durch menschliche Entschlüsse und Zusammenschlüsse gebildet, sondern ist vorgegeben und ermöglicht diese erst. b) Durch die Taufe wird der einzelne Christ in den ihm vorausliegenden Leib Christi integriert. Die Taufe konstituiert nicht den Leib Christi, aber sie ist der geschichtliche Ort der Aufnahme in diesen Leib und der reale Ausdruck der in Christus begründeten Einheit der Gemeinde. Es gibt den erhöhten Christus nicht ohne seinen Leib, die Gemeinde. Ebenso manifestiert sich die Teilhabe am sw˜ma Cristou˜ gerade in der Leiblichkeit des Glaubenden: „Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?“ (1Kor 6,15). Weil die Glaubenden mit ihrem ganzen Leib dem Herrn gehören, sind sie zugleich Glieder am Leib Christi. Wie der Leib nur einer ist, aber viele Glieder hat, so gibt es in der Gemeinde eine Vielzahl von Berufungen und Gaben, aber nur eine Gemeinde (1Kor 1,10–17; 12,12ff; Röm 12,5). Die Vielzahl der Charismen und die Einheit der Gemeinde entsprechen sich. Auch das Verhältnis der einzelnen Glieder zueinander vermag die Leib-Vorstellung zu illustrieren: Sie sind nicht alle gleichartig, aber aufeinander angewiesen und deshalb gleichwertig. Die Gemeinde bildet nicht durch ihr Verhalten den Leib Christi, sondern sie entspricht ihm in ihrem Handeln. 3) Die programmatische Verkündigung des beschneidungsfreien Evangeliums an die Menschen aus den Völkern stellte Paulus vor das Problem, wie Kontinuität und Diskontinuität der Kirche zu Israel zu bestimmen sind410. Auffallend ist in diesem Kontext der Sprachgebrauch des Apostels, denn lao`ß heou˜ („Volk Gottes“), erscheint nur in fünf atl. Zitaten, von denen sich nicht zufällig allein vier im Römerbrief finden (vgl. 1Kor 10,7 = Ex 32,6; Röm 9,25f = Hos 2,25; Röm 10,21 = Jes 65,2; Röm 11,1f = Ps 93,14LXX; Röm 15,10 = Dtn 32,43). Zudem vermeidet es der Apostel, explizit von dem einen Gottesvolk aus Juden und Heiden oder von dem alten und neuen Gottesvolk zu sprechen. Dennoch ist der Aufweis der Einheit des Handelns Gottes in der Geschichte und damit der heilsgeschichtlichen Kontinuität des Gottesvolkes ein zentrales Thema paulinischer Ekklesiologie. Der Apostel ringt zeitlebens mit diesem Thema, wie die verschiedenen Stellungnahmen in den Briefen und die Kollektenaktion zeigen (s. u. 6.8.4). Paulus spricht von der Erwählung der Thessalonicher (vgl. 1Thess 1,4; 2,12; 4,7; 5,24), schweigt aber zugleich über Israel und zitiert nicht das AT411. Stattdessen betont er in 1Thess 2,16, dass der Zorn Gottes bereits über die Juden gekommen ist. In 1Kor 10,1–13 kommt einerseits die Verwurzelung der Kirche in Israel zum Ausdruck, andererseits wird diese Vorstellung überboten: Die Geschehnisse des Exodus können 410 Im AT und in den Schriften des antiken Judentums zeugen zahlreiche Texte vom Nachdenken über die Integration von Nichtjuden in das Gottesvolk; vgl. zur Analyse W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. 6.7), 16–110. Die beschneidungsfreie Mission stellte allerdings ein völlig neues Phänomen dar, das im
Lichte dieser Texte bedacht, aber nicht gelöst werden konnte. 411 Zur Analyse der Texte unter dem Aspekt der Gottesvolk-Vorstellung vgl. W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. 6.7), 120–155, der allerdings die Diskontinuität minimiert.
Ekklesiologie 307
erst jetzt verstanden werden, denn sie wurden zur Warnung der ekklvsı´a aufgeschrieben (1Kor 10,11). Mit der Präexistenzaussage in 1Kor 10,4 verbinden sich wiederum Kontinuität und Diskontinuität: Die Väter der Wüstengeneration sind zugleich die Väter der Christen, Gott hatte aber kein Wohlgefallen an ihnen und bestrafte sie. Das paulinische Schriftverständnis ordnet Gottes Hinwendung zu Israel konsequent der aktuellen Situation der Kirche zu, indem es davon ausgeht, dass dieses vorgängige Handeln an Israel schon immer der Kirche galt und nun seine Erfüllung findet412. In 2Kor 3,1–18 präzisiert Paulus diesen Gedanken413: Die Verheißungen des Bundes erschließen sich erst in einer christologischen Relecture, weil bis zum heutigen Tag eine Verstehensbarriere auf der Schrift liegt (2Kor 3,16–18). Mose ist der Repräsentant einer vergänglichen Herrlichkeit, während Christus den befreienden neuen Bund (vgl. 2Kor 3,6; 1Kor 11,25) in der Kraft des Geistes repräsentiert. Die Vorstellung einer Überbietung dominiert auch im Galaterbrief, denn Paulus betont zwar die bleibende Gültigkeit des Bundes Gottes mit Abraham (vgl. Gal 3,15– 18), sieht ihn aber erst in Christus wirklich vollendet. Deshalb sind allein die an die Christusbotschaft Glaubenden die legitimen Söhne Abrahams und Erben der Verheißungen Gottes. Die am Gesetz/an der Tora orientierten Juden hingegen sind illegitime Abrahamssöhne, Söhne des von Gott verstoßenen Ismael, und sie befinden sich im Status der Unfreiheit (vgl. Gal 4,21–31). Paulus vertritt hier polemisch eine konsequente Enterbungstheorie 414; das wahre Israel, das ‚Israel Gottes‘ (Gal 6,16; vgl. 4,26; Phil 3,3), sind die Glaubenden, weil nur ihnen in legitimer Weise der Status der Nachkommenschaft Abrahams zukommt. Im Römerbrief verlässt Paulus diesen rigorosen Standpunkt und gelangt mit einer komplexen Argumentation zu einer neuen Vision. Christus ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch geboren (Röm 1,3), so dass sich Gottes Heilshandeln an den Glaubenden durch Israel hindurch vollzieht. Das Evangelium gilt zuerst den Juden (Röm 1,16; 2,9f; 3,9.29; 9,24), der Abrahamsbund bleibt bestehen (Röm 4), und das Gesetz/die Tora ist „gerecht, heilig und gut“ (Röm 7,12). Aber die Juden können sich nicht mehr auf die Privilegien der Beschneidung und des Gesetzes/der Tora berufen (Röm 2,17ff), denn nach dem Willen Gottes entscheidet sich allein an der Stellung zum Evangelium, wer zum wahren Israel gehört. Unter bewusster Aufnahme atl. und jüdischer Traditionen wird Israel in Röm 9–11 als physischer Volksverband entschränkt (vgl. Röm 9,6ff) und erscheint die Aufnahme der Menschen aus den Völkern als natürliche Konsequenz des Willens Gottes, nachdem die Juden das Evangelium abgelehnt haben (Röm 2,17ff; 11,25.
412 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 120 f. 413 Zur Auslegung von 2Kor 3,1–18 vgl. E. GRÄSSER,
Der Alte Bund im Neuen, in: ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, 1–134; S.J. HAFEMANN, Paul, Moses, and the History of Israel, WUNT 81, Tübingen 1995; M. VOGEL, Das Heil des Bundes.
Bundestheologie im Frühjudentum und im frühen Christentum, TANZ 18, Tübingen 1996; S. HULMI, Paulus und Mose. Argumentation und Polemik in 2Kor 3, SFEG 77, Helsinki/Göttingen 1999. 414 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 125 f.
308 Paulus: Missionar und Denker
31f). Für sein Volk hofft Paulus jedoch, dass es sich am Ende der Zeit doch noch zu Christus bekehren wird (Röm 11,25–36). Die drei Basismetaphern415 bringen ebenso wie die Grundworte den Ansatz der paulinischen Ekklesiologie zum Ausdruck: Die Teilhabe am Christusgeschehen gewinnt in der Gemeinde Gestalt . Christologie und Ekklesiologie fallen nicht zusammen, sondern die Christologie bestimmt die Ekklesiologie, weil es keinen anderen Grund gibt als den, der gelegt ist: „der ist Jesus