Theologie Der Synoptischen Evangelien 3161640845, 9783161640841

Zu jeder Evangelienschrift gibt es zahlreiche Einzeluntersuchungen. Eine Gesamtschau der drei ersten Evangelien unter th

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Theologie Der Synoptischen Evangelien
 3161640845, 9783161640841

Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Begründung und Durchführung einer Theologie der synoptischen Evangelien
Teil eins: Der Rahmen der Theologie der synoptischen Evangelien
1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien
1.1 Die Theologiefähigkeit der Evangelienschriften
1.1.1 Der Ursprung des Theologiebegriffs
1.1.2 Neutestamentliche Theologien im 20. Jahrhundert
1.1.3 Mythische Narrativität vs. begrifflich gefasste Theologie
1.2 Die Historisierung der Theologie
1.2.1 Die Etablierung des historischen Paradigmas in den Bibelwissenschaften
1.2.2 Die Aufwertung der theologischen Leistung der Evangelisten in der Redaktionsgeschichte
1.2.3 Das Verhältnis der Christologie zum historischen Jesus
1.2.3.1 Das Da-Sein und das So-Sein Jesu
1.2.3.2 Neuer Realismus vs. etablierter Konstruktivismus
1.3 Die synoptischen Evangelien in theologischer Wahrnehmung
1.3.1 Der verkündigte Jesus als christologischer Inhalt
1.3.2 Der Bezug auf den irdischen Jesus
2 Text und Methode
2.1 Exegese oder Interpretation?
2.1.1 Die Exegese eines starken Textes
2.1.2 Interpretation statt Auslegung
2.1.3 Die Vorprägung von Subjekt und Objekt
2.1.4 Sinnpotential und Bedeutungserhebung
2.2 Die Widerstandslinie der Interpretation
2.3 Verstehen im Rahmen einer theologischen Hermeneutik
2.4 Die theologische Grenze literaturwissenschaftlicher Methodik
2.4.1 Gott als Autor
2.4.2 Inkarnationstheologische Interpretation
2.5 Vermittlungsinteresse und Erschließungshorizont
2.6 Die Wahrnehmungsperspektive der Untersuchung
3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese
3.1 Gegenwart als Herausforderung für die synoptischen Jesuserzählungen
3.2 Auferweckungsbekenntnis und theologische Jesusrezeption
3.3 Das Wirklichkeitsverständnis der Evangelienschriften
3.4 Der Zusammenhang von Gattung und Inhalt
3.4.1 Die αÆ ρχηÁ τουÄ ευÆ αγγελιÂου nach Markus
3.4.2 Die βιÂβλος γενε σεως nach Matthäus
3.4.3 Die διη γησις περιÁ τωÄ ν πραγμα των nach Lukas
3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte
3.5.1 Christologische Literatur des Neuen Testaments im Verhältnis zum Judentum
3.5.2 Historische Kontinuität und Ursprünglichkeit
3.5.3 Der theologische Fokus der Darstellung
3.6 Interpretation unter einer Zentralperspektive
4 Die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jahrhundert n. Chr
4.1 Die Entwicklung christusglaubender Gemeinschaften
4.2 Katastrophenbewältigung in jüdisch-apokalyptischen Schriften
Teil zwei: Die Entfaltung der Theologie der synoptischen Evangelien
5 Die Pneumatheologie nach Markus
5.1 Der geistige Hintergrund des Markusevangeliums
5.2 Die allumfassende Erzählperspektive im Markusevangelium
5.3 Die Verknüpfung von erzählter Welt und Erzählwelt: Von Mk 1,2.3 zu Mk 16,7.8
5.4 Erzählersicht und göttliche Himmelsstimme: Mk 1,11 und Mk 9,7
5.5 Die Gestaltung des erzählten Raums
5.6 Umbauter Raum und freie Natur
5.7 Die Welt als Kampfplatz rivalisierender Geister
5.8 Menschen als Besessene und Belastete: Die anthropologische Situation
5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft
5.9.1 Das Programm der Verkündigung Jesu: Mk 1,14–15
5.9.2 Zeit als Qualität
5.9.3 Die Vermittlung der Gottesherrschaft durch Jesus
5.9.4 Gemeinschaftsbildung als Konsequenz der Verkündigung: Mk 1,16–20
5.9.5 Jesu Lehre als Exorzismus: Mk 1,21–28
5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6
5.11 Jesu Lehre in Gleichnissen: Mk 4,1–34
5.12 Theologische Konflikte und Klärungen: Mk 11,11–12,34
5.13 Jesus im Spannungsfeld von Erhöhung und Erniedrigung
5.14 Leidensdimension und Auferweckungsperspektive
5.15 Evangelium ohne Geheimnis
5.16 Die Gemeinschaft der Christusglaubenden im Geist Gottes
5.17 Die sakramentale Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi
5.18 Die Verschränkung von Zukunft und Gegenwart
6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus
6.1 Erzählung mit gestraffter Perspektive
6.2 Die Dehnung der Zeit
6.3 Die conditio humana in der matthäischen Welt
6.4 Die Bedeutung der Taufe Jesu: Mt 3,13–17
6.5 Die Steigerung der Versuchungen Jesu: Mt 4,1–11
6.6 Die Durchsetzung von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit: Mt 5,3–10
6.7 Der starke Indikativ: Mt 5,13–16
6.8 Die Aktualisierung der Tora: Mt 5,21–48
6.9 Jesu eigene Anordnungen
6.10 Motivieren und disziplinieren: Das Endgericht
6.11 Das Personbild Jesu
6.12 Jesus im Spiegel seiner Titel
6.13 Jesus im Licht seines Handelns in Wort und Tat
6.13.1 Jesus als Gleichniserzähler
6.13.1.1 Die Himmelreichgleichnisse: Mt 13
6.13.1.2 Die Gott eigene Gerechtigkeit: Mt 20,1–16
6.13.2 Jesus als Wundertäter
6.14 Autoritative Auslegungen des Sabbatgebots: Mt 12,1–14
6.15 Das Christusbekenntnis des Petrus: Mt 16,13–20
6.16 Verurteilung und Kreuzigung Jesu: Mt 26–27
6.16.1 Die Ursache des Todes Jesu: Mt 26,63.64
6.16.2 Die Hinrichtung Jesu: Mt 27,45–54
6.17 Die Auferstehung Jesu als Demonstration göttlicher Macht: Mt 28,1–8
7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas
7.1 Der hellenistisch-jüdische Kontext der lukanischen Theologie
7.2 Dehnung der Zeit und Öffnung des Raums
7.3 Der Prolog: Lk 1,1–4
7.4 Theologie der Rückbezüglichkeit
7.5 Das Weihnachtsevangelium: Lk 1,5–2,40
7.6 Jesu Reden und Handeln
7.6.1 Der Anspruch der Antrittsrede Jesu: Lk 4,16–30
7.6.2 Die Parabeln Jesu
7.6.2.1 Sokratische Maieutik: Lk 10,25–29
7.6.2.2 Nächster werden – die Perspektive des Opfers: Lk 10,36
7.6.2.3 Der Kurzschluss des Kornbauern: Lk 12,16–21
7.6.2.4 Die Spannung zwischen Annahme und Gerechtigkeit: Lk 15,11–32
7.6.2.5 Rettung durch Re-Lektüre: Lk 16,19–31
7.6.2.6 Bei-sich-Bleiben vs. Abgrenzung: Lk 18,9–14
7.7 Das souveräne Handeln Jesu
7.8 Die Hoheitstitel Jesu
7.9 Die Ursache des Todes Jesu: Lk 22,1–23,25
7.10 Jesu letzte Botschaften auf dem Weg zum Kreuz: Lk 23,26–43
7.11 Das Sterben Jesu als Theorie: Lk 23,44–49
7.12 Das leere Grab als Erinnerungsort: Lk 23,56b–24,12
7.13 Memoria und sakramentale Vergegenwärtigung: Lk 24,13–35
7.14 Leiblichkeit – Schriftauslegung – Jerusalemzentrierung: Lk 24,36–49
7.15 Himmelfahrt und Apotheose Jesu: Lk 24,50–53
Resümee: Auf Jesus bezogene Christologie
Literatur
Register / Stellen
Namen und Sachen
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber/Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford)∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg)∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

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Paul-Gerhard Klumbies

Theologie der synoptischen Evangelien

Mohr Siebeck

PAUL-GERHARD KLUMBIES, geboren 1957; Studium der Ev. Theologie in Bethel, Erlangen, Hamburg und Münster; 1988 Promotion; 2000 Habilitation; 1993-2004 Professor für Neues Testament und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg i.Br; seit 2004 Universitätsprofessor für Biblische Wissenschaften unter besonderer Berücksichtigung des Neuen Testaments an der Universität Kassel.

ISBN 978-3-16-164084-1 / eISBN 978-3-16-164085-8 DOI 10.1628/ 978-3-16-164085-8 ISSN 0512-1604 / eISSN 2568-7476 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständiges Papier. Mohr Siebeck GmbH & Co. KG, Wilhelmstraße 18, 72074 Tübingen, Deutschland www.mohrsiebeck.com, [email protected].

ULRICH H.J. KÖRTNER CHRISTOPH SCHNEIDER-HARPPRECHT DEN FREUNDEN SEIT BETHEL

Vorwort Die Theologie der synoptischen Evangelien ist das ungeschriebene Buch der neutestamentlichen Wissenschaft. Während zu jeder einzelnen Evangelienschrift zahlreiche Monographien vorliegen, fehlt eine Gesamtschau der drei ersten Evangelien unter theologischer Perspektive. Dieser Befund überrascht. Ein Grund für die erstaunliche Lücke mag darin liegen, dass bisher kein Bedarf für die gemeinsame Behandlung der drei Evangelien gesehen wurde. Schließlich hat die Fülle der Einzelsuchungen zum Markus-, Matthäus- und Lukasevangelium zu ausdifferenzierten Bildern der drei ersten Evangelien geführt. Reicht nicht die Addition der vorliegenden Erkenntnisse aus, um sie als Theologie der synoptischen Evangelien zu präsentieren? Unter den Prämissen der im Ausgang des 18. Jahrhunderts von Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer begründeten historisch-kritischen Exegese ließe sich diese Frage bejahen. Nicht in den Blick käme dann allerdings, inwiefern die drei Evangelienschriften an einer gemeinsamen, sie miteinander verbindenden theologischen Aufgabe mitgewirkt haben. Auch bliebe unbesprochen, worin die synoptischen Evangelien in ihrer Gesamtheit ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den übrigen Schriften des Neuen Testaments besitzen. Die hier vorgelegte Theologie der synoptischen Evangelien richtet sich auf das, was die ersten drei Evangelien in theologischer Hinsicht miteinander verbindet. Übereinstimmend schildern alle drei Erzählungen, in welcher Weise Gott in der Lebensgeschichte Jesu zur Sprache kommt. Dieser von der Personwerdung Gottes bestimmte Grundzug gibt den drei Werken ein exklusives Gepräge. Ihr gemeinsames Anliegen besteht darin, die Herkunft und den Inhalt des Christusglaubens durch Jesuserzählungen darzulegen. Dem Buch liegen langjährige Einzelstudien zugrunde. Viele Teilaspekte daraus fließen in die Abhandlung ein. Auf diese Vorarbeiten wird teils summarisch referierend, teils durch wörtliche Übernahmen Bezug genommen. Wo mir der selbstreferentielle Vorgang bewusst war, habe ich darauf verwiesen. Herrn Professor Dr. Jörg Frey danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament. Dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Herrn Tobias Stäbler, gilt mein Dank für die Veröffentlichung, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages für die ausgezeichnete Zusammenarbeit bei der Herstellung des Buches. Für die Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage danke ich meiner Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Ramona Elsner, für die Hilfe bei der Litera-

VIII

Vorwort

turbeschaffung und der Anfertigung des Literaturverzeichnisses meinen studentischen Mitarbeiterinnen Laura Schäfer und Stefanie Wolke. Die Arbeit ist gegen Ende meiner Tätigkeit an der Universität Kassel fertiggeworden. Mehr als zwanzig Jahre lang durfte ich im Institut für Evangelische Theologie in einem Klima von Wertschätzung und gegenseitiger Unterstützung forschen und lehren. Das Zusammenwirken mit Petra Freudenberger-Lötz und Tom Kleffmann hat in einer Atmosphäre des Wohlwollens stattgefunden, die Kreativität und Lebensfreude freisetzte – dafür danke ich beiden aus vollem Herzen. Gewidmet ist das Buch den zwei Theologen, mit denen mich seit der gemeinsamen Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiter an der ehemaligen Kirchlichen Hochschule Bethel eine vierzigjährige Freundschaft verbindet. Kassel, im Juni 2024

Paul-Gerhard Klumbies

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Begründung und Durchführung einer Theologie der synoptischen Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil eins: Der Rahmen der Theologie der synoptischen Evangelien . . . . . . .

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Die Theologiefähigkeit der Evangelienschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Der Ursprung des Theologiebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Neutestamentliche Theologien im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Mythische Narrativität vs. begrifflich gefasste Theologie . . . . . . . . .

9 9 11 16

1.2 Die Historisierung der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die Etablierung des historischen Paradigmas in den Bibelwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Aufwertung der theologischen Leistung der Evangelisten in der Redaktionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Das Verhältnis der Christologie zum historischen Jesus . . . . . . . . . . 1.2.3.1 Das Da-Sein und das So-Sein Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3.2 Neuer Realismus vs. etablierter Konstruktivismus . . . . . . . . .

17

1.3 Die synoptischen Evangelien in theologischer Wahrnehmung . . . . . . . . 1.3.1 Der verkündigte Jesus als christologischer Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Der Bezug auf den irdischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36 36 39

2 Text und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Exegese oder Interpretation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Exegese eines starken Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Interpretation statt Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Die Vorprägung von Subjekt und Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Sinnpotential und Bedeutungserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 41 43 47 57

17 20 22 22 30

X

Inhaltsverzeichnis

2.2 Die Widerstandslinie der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

2.3 Verstehen im Rahmen einer theologischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . .

60

2.4 Die theologische Grenze literaturwissenschaftlicher Methodik . . . . . . 2.4.1 Gott als Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Inkarnationstheologische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62 62 63

2.5 Vermittlungsinteresse und Erschließungshorizont . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

2.6 Die Wahrnehmungsperspektive der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

3.1 Gegenwart als Herausforderung für die synoptischen Jesuserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

3.2 Auferweckungsbekenntnis und theologische Jesusrezeption . . . . . . . . .

74

3.3 Das Wirklichkeitsverständnis der Evangelienschriften . . . . . . . . . . . . .

79

3.4 Der Zusammenhang von Gattung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die αÆ ρχηÁ τουÄ ευÆ αγγελι ου nach Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Die βι βλος γενε σεως nach Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Die διη γησις περιÁ τωÄ ν πραγµα των nach Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 83 86 89

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Christologische Literatur des Neuen Testaments im Verhältnis zum Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Historische Kontinuität und Ursprünglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Der theologische Fokus der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 91 103 111

3.6 Interpretation unter einer Zentralperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114

4 Die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jahrhundert n. Chr. . . . . .

117

4.1 Die Entwicklung christusglaubender Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . .

117

4.2 Katastrophenbewältigung in jüdisch-apokalyptischen Schriften . . . . . .

122

Teil zwei: Die Entfaltung der Theologie der synoptischen Evangelien . . . . .

129

5 Die Pneumatheologie nach Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

5.1 Der geistige Hintergrund des Markusevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . .

131

5.2 Die allumfassende Erzählperspektive im Markusevangelium . . . . . . . .

135

5.3 Die Verknüpfung von erzählter Welt und Erzählwelt: Von Mk 1,2.3 zu Mk 16,7.8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Inhaltsverzeichnis

XI

5.4 Erzählersicht und göttliche Himmelsstimme: Mk 1,11 und Mk 9,7 . . .

142

5.5 Die Gestaltung des erzählten Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

5.6 Umbauter Raum und freie Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

5.7 Die Welt als Kampfplatz rivalisierender Geister . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

5.8 Menschen als Besessene und Belastete: Die anthropologische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

160

5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft . . . . . 5.9.1 Das Programm der Verkündigung Jesu: Mk 1,14–15 . . . . . . . . . . . . 5.9.2 Zeit als Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.3 Die Vermittlung der Gottesherrschaft durch Jesus . . . . . . . . . . . . . . 5.9.4 Gemeinschaftsbildung als Konsequenz der Verkündigung: Mk 1,16–20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9.5 Jesu Lehre als Exorzismus: Mk 1,21–28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177 177 179 182 183 188

5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

5.11 Jesu Lehre in Gleichnissen: Mk 4,1–34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

5.12 Theologische Konflikte und Klärungen: Mk 11,11–12,34 . . . . . . . . . . .

206

5.13 Jesus im Spannungsfeld von Erhöhung und Erniedrigung . . . . . . . . . . .

215

5.14 Leidensdimension und Auferweckungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . .

220

5.15 Evangelium ohne Geheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

5.16 Die Gemeinschaft der Christusglaubenden im Geist Gottes . . . . . . . . .

235

5.17 Die sakramentale Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi . . . . . . . . . . .

236

5.18 Die Verschränkung von Zukunft und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . .

238

6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

6.1 Erzählung mit gestraffter Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

6.2 Die Dehnung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

6.3 Die conditio humana in der matthäischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

246

6.4 Die Bedeutung der Taufe Jesu: Mt 3,13–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

6.5 Die Steigerung der Versuchungen Jesu: Mt 4,1–11 . . . . . . . . . . . . . . . .

252

6.6 Die Durchsetzung von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit: Mt 5,3–10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XII

Inhaltsverzeichnis

6.7 Der starke Indikativ: Mt 5,13–16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260

6.8 Die Aktualisierung der Tora: Mt 5,21–48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

264

6.9 Jesu eigene Anordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

268

6.10 Motivieren und disziplinieren: Das Endgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

6.11 Das Personbild Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

6.12 Jesus im Spiegel seiner Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

6.13 Jesus im Licht seines Handelns in Wort und Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.13.1 Jesus als Gleichniserzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.13.1.1 Die Himmelreichgleichnisse: Mt 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.13.1.2 Die Gott eigene Gerechtigkeit: Mt 20,1–16 . . . . . . . . . . . . . . 6.13.2 Jesus als Wundertäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.14 Autoritative Auslegungen des Sabbatgebots: Mt 12,1–14 . . . . . . . . . .

294

6.15 Das Christusbekenntnis des Petrus: Mt 16,13–20 . . . . . . . . . . . . . . . . .

296

6.16 Verurteilung und Kreuzigung Jesu: Mt 26–27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.16.1 Die Ursache des Todes Jesu: Mt 26,63.64 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.16.2 Die Hinrichtung Jesu: Mt 27,45–54 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.17 Die Auferstehung Jesu als Demonstration göttlicher Macht: Mt 28,1–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7.1 Der hellenistisch-jüdische Kontext der lukanischen Theologie . . . . . . .

311

7.2 Dehnung der Zeit und Öffnung des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312

7.3 Der Prolog: Lk 1,1–4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

314

7.4 Theologie der Rückbezüglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

320

7.5 Das Weihnachtsevangelium: Lk 1,5–2,40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321

7.6 Jesu Reden und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Der Anspruch der Antrittsrede Jesu: Lk 4,16–30 . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Die Parabeln Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2.1 Sokratische Maieutik: Lk 10,25–29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2.2 Nächster werden – die Perspektive des Opfers: Lk 10,36 . . . . 7.6.2.3 Der Kurzschluss des Kornbauern: Lk 12,16–21 . . . . . . . . . . . 7.6.2.4 Die Spannung zwischen Annahme und Gerechtigkeit: Lk 15,11–32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2.5 Rettung durch Re-Lektüre: Lk 16,19–31 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2.6 Bei-sich-Bleiben vs. Abgrenzung: Lk 18,9–14 . . . . . . . . . . . . .

323 324 328 328 330 331 333 338 340

Inhaltsverzeichnis

XIII

7.7 Das souveräne Handeln Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

342

7.8 Die Hoheitstitel Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349

7.9 Die Ursache des Todes Jesu: Lk 22,1–23,25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

354

7.10 Jesu letzte Botschaften auf dem Weg zum Kreuz: Lk 23,26–43 . . . . . .

359

7.11 Das Sterben Jesu als Theorie: Lk 23,44–49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

361

7.12 Das leere Grab als Erinnerungsort: Lk 23,56b–24,12 . . . . . . . . . . . . . .

369

7.13 Memoria und sakramentale Vergegenwärtigung: Lk 24,13–35 . . . . . .

373

7.14 Leiblichkeit – Schriftauslegung – Jerusalemzentrierung: Lk 24,36–49

376

7.15 Himmelfahrt und Apotheose Jesu: Lk 24,50–53 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

Resümee: Auf Jesus bezogene Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

387

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

Namen und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

430

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

Begründung und Durchführung einer Theologie der synoptischen Evangelien Eine Theologie der synoptischen Evangelien ist mehr als die Addition der drei Theologien des Markus-, Matthäus- und Lukasevangeliums. Der Mehrwert resultiert aus einer theologischen Überzeugung, die die drei Evangelienschriften miteinander teilen. Jesus, dessen Leben und Sterben sie unter der Voraussetzung seiner Auferweckung durch Gott erzählen, gilt ihnen als Medium, um Gottes Zuwendung zu den Menschen anschaulich zu machen. Zu diesem Zweck erschaffen sie einen eigenen Typ christologischer Darstellung. Unter Bezug auf die Lebensgeschichte des irdischen Jesus entfalten sie eine narrative Christologie. Sie stellen die Geschichte Jesu in drei Retrospektiven unter den Voraussetzungen des nachösterlichen Christusglaubens dar. In pragmatischer Hinsicht zielen sie darauf, den Gemeinden der Jahre nach 70 n.Chr. die Grundlagen des Christusglaubens zu vermitteln, und sie tun dies in Gestalt dreier Erzählungen vom Leben Jesu. Den Ausgangspunkt dieser Christologie der Personwerdung Gottes bildet das Bekenntnis der Auferweckung Jesu durch Gott als Ursprungsimpuls der Entstehung des Christusglaubens.1 Der Jesus auferweckende Gott offenbart sich nach Darstellung der synoptischen Evangelien bereits in Jesu Reden, Handeln, Leiden und Sterben. Im Wirken Jesu zeigt er sich in einer für Menschen heilvollen Weise. Die Christologie der drei Jesuserzählungen besitzt eine soteriologische Ausrichtung. Die Verknüpfung des nachösterlichen Christusglaubens mit der Lebensgeschichte Jesu ist seit der Aufklärung vor allem unter historischer und philologischer Perspektive untersucht worden. Dabei sind insbesondere die Unterscheidungsmerkmale zwischen den drei Evangelienschriften herausgearbeitet worden. Das entspricht einem analytischen Erkenntnisinteresse, das sich auf Differenzerfassung richtet. Auf diese Weise wollte sich die aufgeklärte Bibelexegese von den dogmatisch geleiteten und als harmonisierend empfundenen Zugangsweisen theologisch gesteuerter Auslegungen der Voraufklärung unterscheiden. Die theo-

1 Die Bezeichnung inkarnatorische Christologie entspricht eher dem Charakter des Johannesevangeliums. In den synoptischen Evangelien geht es weniger um das Ins-FleischKommen Gottes als um sein Personwerden in Jesus. Im Begriff der Personwerdung klingt die ursprüngliche Wortbedeutung von per-suonare als hindurchtönen mit. In der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu meldet sich als eigentliches Subjekt die Stimme Gottes zu Wort.

2

Begründung und Durchführung einer Theologie der synoptischen Evangelien

logische Synthese wurde fachwissenschaftlich als Aufgabe an die Dogmatische Theologie weitergereicht.2 Daraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass die drei ersten Evangelien fast zweitausend Jahre lang das Bild Jesu in den Kirchen geprägt haben; ausgerechnet sie sind jedoch in der bisherigen Forschungsgeschichte keiner gemeinsamen zusammenhängenden wissenschaftlich-theologischen Darstellung unterzogen worden. Sie haben zwar im Rahmen der Literaturgattung Theologie des Neuen Testaments zunehmend einen Platz erhalten,3 aber eine Gesamtdarstellung, die exklusiv den drei synoptischen Jesuserzählungen als theologischen Werken gewidmet ist, steht von Ansätzen abgesehen aus. Vor der inhaltlichen Entfaltung einer Theologie der synoptischen Evangelien wird zunächst den weiteren Gründen für das Fehlen einer derartigen Monographie nachgegangen. In der Tradition aufgeklärter Bibelwissenschaft lässt sich ein Motiv dafür fassen, das theologiegeschichtlich bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. zurückführt. Es betrifft die Genese des Theologiebegriffs in der Alten Kirche. Im Kern geht es um den Status von Narrativität innerhalb der Theologie. Zu entscheiden ist die Frage, ob die narrative Präsentation Jesu in den synoptischen Erzählwerken einer begrifflich entfalteten Theologie ebenbürtig ist. Es geht um das Recht, den drei ersten Evangelienschriften den Status von Theologie zuzuerkennen. Vor der materialen Ausarbeitung der Theologie der synoptischen Evangelien ist daher der vermeintlich defizitäre Charakter der Narrativität gegenüber dem begrifflichen Denken auszuräumen und die Gleichwertigkeit der Erzählungen in theologicis zu erweisen. An die Vergegenwärtigung der theologie- und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, die die Abfassung einer eigenständigen Theologie der synoptischen Evangelien bisher als nicht notwendig hat erscheinen lassen, schließt sich die Frage nach der Legitimität einer Darstellung an, die die synoptischen Evangelien als eine von den übrigen Schriften des Neuen Testaments unterschiedene Trias behandelt. Zu begründen ist, worin die Eigendignität einer die drei ersten Evangelien verbindenden Darstellung gegenüber einer additiven Behandlung der Theologien des Markus-, Matthäus- und Lukasevangeliums liegt. Dazu ist es erforderlich, in der Dreigestalt der synoptischen Evangelien die Gemeinsamkeit 2 Vgl. J.P. G, Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele, übersetzt von O. Merk, Anlage I, in: O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, Marburg 1972, 273–284. Vgl. dazu P.-G. K, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 26–38. 3 Auch diese Entwicklung versteht sich nicht von selbst. In Rudolf Bultmanns einflussreicher Theologie des Neuen Testaments ist den synoptischen Evangelien kein eigener Abschnitt gewidmet. Die Würdigung der synoptischen Erzählwerke als theologischer Literatur ist erst nach und nach erfolgt. Vgl. dazu P.-G. K, Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 93–110.

Begründung und Durchführung einer Theologie der synoptischen Evangelien

3

zu benennen, die die Werke von der übrigen Literatur des Neuen Testaments unterscheidet. Die Erhebung verbindender Charakteristika über die Feststellung der individuellen Eigenarten hinaus ist die Bedingung dafür, die Synoptiker als Separatum und eigenständiges Textcorpus innerhalb des Neuen Testaments zu behandeln.4 Erst die Herausarbeitung eines Propriums, das die drei ersten Evangelien miteinander verbindet und gleichzeitig von den übrigen Schriften des Neuen Testaments unterscheidet, macht es sinnvoll, sie im Rahmen einer monographischen Gesamtdarstellung als Einheit zu behandeln. Ein Phänomen der bibelwissenschaftlichen Exegese in der Tradition der Aufklärung ist die fragmentarisierte Wahrnehmung der Überlieferung. Die Herauslösung aus Kontexten – seien sie literarischer, historischer oder theologischer Natur – hat über weite Strecken das Übergewicht gegenüber synthetischen Gesamtdarstellungen besessen. Die analytischen methodischen Verfahren der Exegese leisten dem Vorschub. Sie interessieren sich für das je Besondere. Der Synthese kommt dabei nachgeordnete Bedeutung zu. Das mag daran liegen, dass Synthesen gelegentlich unter dem Verdacht weltanschaulicher Voreingenommenheit stehen. Um einem Auseinanderfallen der Einzelaspekte entgegenzuwirken, sind sie dennoch von Zeit zu Zeit notwendig. Zugleich ist festzuhalten, dass auch die analytische Kleinarbeit seit der Aufklärung Regeln folgt, die einem bestimmten Weltbild verpflichtet sind. Diese werden oft nicht ausdrücklich genannt, bleiben aber wirkungsmächtig. So resultiert aus der hohen Bedeutung der Geschichtswissenschaft für die biblische Exegese die Vorentscheidung, die neutestamentlichen Texte als historische Quellen zu lesen, die Aufschluss über ihren zeitgeschichtlichen Kontext geben. Ihr religiöser Charakter, d.h. die Glaubensdimension und der ihnen innewohnende Gottesbezug, tritt dahinter zurück oder wird in historisierender Distanzierung als das Gottesverständnis antiker Autoren referiert.5 Unter dem Informationsaspekt sind die drei ersten Evangelien exegetisch gut erforscht. Dies gilt insbesondere für die philologische Erläuterung der Texte und die Offenlegung der in den Überlieferungen erkennbaren realgeschichtlichen Vorgänge. Die Fülle der erhobenen Einzelaspekte zu jedem Vers der Evangelien ist riesig. Die Kommentarliteratur dokumentiert den energischen Drang zum Erklären der Perikopen. Angesichts der gewaltigen Produktion von Kleinstinformationen über Facetten der Einzeltexte ist das Verstehen der theologischen Vermittlungsintention der Evangelien eine Herausforderung. Die vorliegende Darstellung versucht, die inhaltlichen Generallinien der drei Erzählungen nachzuzeichnen und eine Gesamtintention der Schriften sichtbar werden zu lassen.

4 Immerhin hat H.J. H, Die Synoptiker (HC I.1), Tübingen/Leipzig 31901 (ursprünglich 1889/1890), bereits Ende des 19. Jahrhunderts die synoptischen Evangelien in einer Gesamtdarstellung einer Erklärung unter wechselseitiger Bezugnahme unterzogen. 5 Vgl. dazu K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 2), 1–14.

4

Begründung und Durchführung einer Theologie der synoptischen Evangelien

Ihr werden die Einzelüberlieferungen als Teile des erzählten Gesamtzusammenhangs zugeordnet. Exegese befasst sich definitionsgemäß mit der Auslegung von Texten. Ein textum ist im Wortsinn ein Gewebe. Dieses Gewebe bildet keinen Selbstzweck. Es dient einer Vermittlungsabsicht. Traditionell formuliert bekleidet das textum eine Botschaft, neutestamentlich formuliert: das ευÆ αγγε λιον. Während sich das Verstehen auf das gedankliche Erfassen dieser Botschaft richtet, drohen reine Erklärungen im Gewebe des textum hängenzubleiben. Die vorliegende Entfaltung der Theologie der synoptischen Evangelien zielt darauf, das Verkündigungsanliegen, von dem die Synoptiker zeugen, zu reformulieren. Aus den Texten wird auf die Botschaft zurückgeschlossen, auf die die Perikopen sich beziehen. Dem Buch liegt eine Zweiteilung zugrunde. Die erste Hälfte behandelt die Rahmenbedingungen, die in Hinblick auf die Ausarbeitung einer Theologie der Synoptiker zu reflektieren sind. Die zweite Hälfte richtet sich unter Berücksichtigung einschlägiger Einzeltexte auf die Darstellung der theologischen Inhalte der drei Werke und die ihnen zugrundeliegende Vermittlungsabsicht. In Kapitel eins werden die theologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen einer gegenwärtigen Entfaltung der Theologie der synoptischen Evangelien beschrieben. Dazu zählen die seit der Alten Kirche mit der Übernahme des Theologiebegriffs verbundenen Implikationen, die Verhältnisbestimmung zwischen begrifflicher und narrativer Entfaltung der Theologie sowie das Bewusstmachen der Konsequenzen, die sich aus der Historisierung der Theologie seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ergeben. Dargelegt wird die Besonderheit des theologischen Zugangs der synoptischen Evangelien, der sie sowohl vom Johannesevangelium als auch von der übrigen neutestamentlichen Literatur abhebt. Kapitel zwei reflektiert die Wechselbeziehung zwischen Textwahrnehmung und methodischem Zugang. Ausgeführt wird, wie die Konstitution des Textes als eines exegetischen Untersuchungsgegenstands über den methodischen Zugang gelenkt und der zu interpretierende Text im Vollzug des interpretierenden Zugangs erst geschaffen wird. Thematisiert wird, wie Erkenntnisinteresse und Gegenstandskonstitution in einer Spiralbewegung zusammenhängen. Das dritte Kapitel richtet den Blick auf die exegetischen Kontexte gegenwärtiger Synoptikerexegese. Zur Sprache kommen die Fragen nach der Gattung und der historischen Einordnung der synoptischen Evangelienschriften. Kapitel vier vergegenwärtigt die zeitgeschichtliche Situation im ausgehenden ersten Jahrhundert n. Chr. und stellt die synoptischen Evangelien in den geistigen Zusammenhang der Katastrophenbewältigung, die das Judentum und die christusglaubenden Gemeinden nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 leisteten. Im zweiten Hauptteil wird in den Kapiteln fünf bis sieben die Theologie des Markus-, Matthäus- und Lukasevangeliums im Einzelnen entfaltet. Die Termini Pneumatheologie, Gerechtigkeitstheologie und Erkenntnistheologie in den Kapitelüberschriften heben auf die theologischen Zentralmotive der drei Entwürfe ab. Die Einzelausarbeitung der Kapitel breitet kein Raster über die drei Gesamt-

Begründung und Durchführung einer Theologie der synoptischen Evangelien

5

texte. Auch folgt die Darstellung keinem wiederkehrenden Schema. Damit wird dem Risiko entgegengewirkt, durch die Anwendung einer feststehenden Systematik eine vorgefertigte dogmatische Position auf die Texte zu projizieren. Alternativ orientieren sich die thematischen Topoi an der inneren Anlage der drei Werke. In der Abfolge der Aspekte innerhalb der Untergliederungen spiegeln sich die unterschiedlichen Schwerpunkte der synoptischen Jesuserzählungen. Die Reihenfolge der behandelten Themen und Inhalte lässt erkennen, worin die erzählerischen Hauptinteressen liegen. Auch wird ein gewisses Gefälle sichtbar. Was in dem einen Evangelium Vorrang besitzt, steht bei einem oder beiden Seitenreferenten teilweise an nachgeordneter Stelle oder fehlt. Anders als in durchlaufenden Kommentarwerken kann bei der Behandlung der Einzeltexte keine Vollständigkeit erreicht werden. Trotz des notwendig selektiven Zugriffs ist gleichwohl ein repräsentatives Gesamtbild der theologischen Leistung der drei Werke angestrebt. Zwar ließe sich aus einer abweichenden Textzusammenstellung ein anders konturiertes Ergebnis erzielen. Dennoch sind die Alternativen nicht beliebig. Allen drei Evangelien ist die Herstellung eines erzählerischen Zusammenhangs zwischen dem Bekenntnis der Auferweckung Jesu, des Christus, durch Gott, und dem Wirken des irdischen Jesus als gemeinsame Aufgabe vorgegeben. Alle drei verschmelzen das Reden von Gott mit der Lebensgeschichte des Menschen Jesus zu einer theologischen Sinneinheit. Die synoptischen Evangelien machen damit das auf die Personwerdung Gottes zielende Anliegen des Christusglaubens zur Grundlage ihrer Erzählungen. Dieses Alleinstellungsmerkmal hebt sie von den übrigen Schriften des Neuen Testaments einschließlich der Inkarnationstheologie des Johannesevangeliums ab.6 Die narrative Theologie der Personwerdung Gottes in Jesus ist die Eigenleistung der synoptischen Evangelien. Im Rahmen des Neuen Testaments liefert diese Dreiheit ihren spezifischen Beitrag zur Entfaltung der durch Jesus Christus vermittelten Gott-Mensch-Beziehung. Die Darstellung schließt mit einem Resümee zu der an Person, Leben, Wirken und Sterben Jesu orientierten Christologie der Synoptiker.

6 Während das Johannesevangelium die geistigen, geglaubten Überzeugungen an die Geschichte Jesu heftet, ziehen die synoptischen Evangelien ihre Glaubensinhalte aus der erzählten Lebensgeschichte Jesu. Alle vier Evangelien bewegen sich natürlicherweise in einem Zirkel zwischen der Anbindung der geglaubten Inhalte an die Person Jesu und dem Gewinnen von Bedeutung aus den Erzählungen vom Leben Jesu. Dabei setzt das Johannesevangelium auf der immateriell-geistigen Ebene ein und nimmt aus dieser Warte die irdische Welt in den Blick. Demgegenüber gehen die Synoptiker von den erdgebundenen Erzählungen über Jesus aus und präsentieren auf dieser Grundlage ihre Glaubenseinsichten.

Teil eins

Der Rahmen der Theologie der synoptischen Evangelien

1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien 1.1 Die Theologiefähigkeit der Evangelienschriften 1.1.1 Der Ursprung des Theologiebegriffs Lange Zeit wurde bezweifelt, dass die neutestamentlichen Evangelienschriften überhaupt theologiefähig sind. Die Formgeschichte Anfang des 20. Jahrhunderts rechnete sie der volkstümlichen „Kleinliteratur“ zu. Frühchristliche „Sammler“ und „Tradenten“1 hätten heterogenes Material zusammengetragen und Stoffsammlungen weiterüberliefert.2 Inhaltlich seien die Überlieferungen wenig originell gewesen. Zudem zeigten zahlreiche Parallelen im religionsgeschichtlichen Umfeld, dass sich die Erzählstoffe des frühen Christentums in ihrer Substanz wenig von den zeitgenössischen Überlieferungen anderer religiöser Milieus unterschieden. Dieser Mangel an Originalität wurde allerdings in den Jahren nach 1918 unter theologischer Perspektive nicht als problematisch angesehen. Die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstandene Kerygmatheologie konzentrierte ihre Auslegungs- und Darstellungsbemühungen auf die Entfaltung der Botschaft von der Heilsbedeutung des Kreuzes und der Auferstehung Jesu Christi. Überlieferungen der Lebensgeschichte Jesu traten hinter dieser für theologisch vorrangig erachteten Aufgabe als sachlich nicht relevant zurück. Darüber hinaus stand Narrativität als solche in der Theologie in keinem besonderen Ansehen. Die mangelnde Wertschätzung speiste sich aus der Geschichte des Theologiebegriffs.3 Der mühevolle Aufstieg von theologia zum definierenden Leitbegriff für christliches Reden von Gott ließ es offensichtlich nicht als geraten erscheinen, Theologie in die Nähe von Erzählungen zurückzustellen; denn seine Karriere verdankte der Theologiebegriff gerade seiner Distanzierung von der Narrativität. Θεολογι αι bezeichneten an ihrem antiken griechischspra1 Alle drei zitierten Substantive stammen von M. D, Die Formgeschichte des Evangeliums. Mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 6 1971, 2. „Die Verfasser sind nur zum geringsten Teil Schriftsteller, in der Hauptsache Sammler, Tradenten, Redaktoren.“ 2 D, Formgeschichte (s. Anm. 1), 2: „Das literarische Verständnis der Synoptiker beginnt mit der Erkenntnis, daß sie Sammelgut enthalten.“ 3 Vgl. dazu die Darstellung von G. E, Art. Theologie I. Begriffsgeschichtlich, RGG3 VI (1962) (Ungekürzte Studienausgabe 1986), 754–769.

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

chigen Ursprungsort Götterzählungen. Solche Überlieferungen entstammten mythischen Vorstellungszusammenhängen und galten dem frühen Christentum als fremdreligiös kontaminiert. Diese außerchristliche Herkunft haftete dem Begriff theologia bei seiner Übernahme im 2. Jahrhundert noch als Makel an und stellte ein Rezeptionshemmnis dar. Mit Clemens von Alexandrien kommt es um 200 n. Chr. zu einer behutsamen Adaption des Theologiebegriffs. Origenes (185/186–254 n.Chr.) betreibt die Christianisierung des Begriffs, indem er ihm ein homologisches Element implantiert, das Bekennen Gottes. Die Abgrenzung von der µυθολογι α und der für sie charakteristischen Narrativität sowie ein strenger Bezug des Terminus auf den einen Gott werden in der Folge wesentliche Voraussetzungen für die Übernahme des Theologiebegriffs in der Alten Kirche. In der Scholastik wird unter Bezug auf Aristoteles das Verständnis von Theologie als „Wissenschaft vom christlichen Glauben“4 programmatisch ausgearbeitet. Dabei wird ein unterschwelliges Dilemma gelöst, das seit der Alten Kirche weiterwirkte. Es bestand in dem unaufgelösten Widerspruch, dass die alte aus dem Mythos kommende Theologie das Problem hatte, ihren theologischen Grund nicht klar formulieren zu können. Die philosophische Theologie trug die Schwierigkeit in sich, zwar rational klar, aber nicht homologisch von Gott reden zu können. Das religiöse Leben konnte keine wissenschaftlich belastbaren Aussagen formulieren, das philosophische Reden von Gott war homologieunfähig.5 In der nun entstandenen Partnerschaft zwischen Theologie und Philosophie wurde der verbleibende antike mythische Rest aus dem Theologiebegriff ausgeschieden. Er stellte sowohl für das christliche Bekenntnis als auch für die saubere philosophische Begriffsbestimmung einen Störfaktor dar. An seine Stelle trat die christliche Verkündigung. Mit diesem Schritt rückte die Christologie in das Zentrum des Theologieverständnisses. Die Rechenschaft über den christlichen Glauben stellte sich in den Dienst der Homologie. In der Folge galt über weite Strecken der Theologiegeschichte in methodischer Hinsicht die begriffliche Entfaltung als das entscheidende Kriterium für das Vorliegen von Theologie. Inhaltlich erfuhr im weiteren Verlauf der Theologiegeschichte die in den Rahmen des Theologiebegriffs eingestellte Christologie mehr und mehr Aufmerksamkeit. An die Stelle des Mythos und der mit ihm verbundenen Narrativität waren damit im Theologiebegriff nach einer langen Entwicklung die Christusverkündigung und die Begrifflichkeit getreten. Die in der Mitte des 20. Jahrhunderts geführte Debatte um das Verhältnis von Kerygma und Mythos6 in der neutestamentlichen Theologie hat genau diese Problematik zum Gegenstand gemacht. Die heftige Auseinandersetzung, die im Anschluss an das Programm der Entmythologisierung7 aufbrandete, bewegte sich exakt darum, wie der freie Platz im E, Theologie (s. Anm. 3), 758. Vgl. E, Theologie (s. Anm. 3), 759. 6 H.W. B (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, ThF 1, Hamburg 1948; dazu zahlreiche Folgebände. 7 R. B, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisie4 5

1.1 Die Theologiefähigkeit der Evangelienschriften

11

Theologiebegriff zu füllen war. Gewonnen wurde mit dem vorläufigen Ende der Diskussionen ein wissenschaftskompatibler Theologiebegriff. Für ihn ist die reflektierte Begrifflichkeit das zentrale Merkmal. Eine Nebenwirkung der intendierten Erledigung des Mythos war das Verschwinden der Narrativität aus dem Zentrum theologischer Reflexion.8

1.1.2 Neutestamentliche Theologien im 20. Jahrhundert Für das neuzeitlich-aufgeklärte Denken war Mythosnähe bis in die jüngste Vergangenheit hinein kein Gütemerkmal. Im 20. Jahrhundert, das theologiegeschichtlich als das Zeitalter der Entmythologisierung gilt,9 war der Status der erzählenden Literatur des Neuen Testaments abgesehen vom Johannesevangelium gering. Narrativität wie sie durch die synoptischen Evangelien repräsentiert wird, stand in geringem Ansehen. Ihr wurde gegenüber der hochreflektierten paulinischen Briefliteratur ein eher bescheidenes Maß an intellektueller Qualität beigemessen. Rudolf Bultmann billigte in seinem Entwurf einer Theologie des Neuen Testaments unter den neutestamentlichen Autoren einzig Paulus und Johannes den Theologiestatus zu. Nur diese beiden Protagonisten verfügten über eine ausgearbeitete Begrifflichkeit. Von den synoptischen Evangelien ließe sich das nicht behaupten. Entsprechend finden ihre Verfasser in Bultmanns Werk keine Aufnahme als eigenständige theologische Schriftsteller. In der Striktheit dieser Haltung mag Mitte des 20. Jahrhunderts noch ein Stück theologiegeschichtlich erklärbarer Polemik nachgewirkt haben. Die jesusbezogenen Darstellungen der Liberalen Theologie, in wirkungsgeschichtlicher Prominenz angeführt von Adolf Harnacks Wesen des Christentums von 1899/1900,10 hatten ihren Fokus schließlich gerade auf die vermeintlich schlichte, von angeblich dogmatischer Vereinnahmung noch unberührte Jesustradition gelegt. Bultmanns einge-

rung der neutestamentlichen Verkündigung, hg. v. E. Jüngel, BEvTh 96, München 31988 (ursprünglich 1941). 8 Die Darstellung des Sachverhalts bezieht sich zurück auf P.-G. K, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, Kapitel 6. Narrativität und Theologie, 131–138, und P.-G. K, Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas, in: C. Landmesser/A. Klein (Hg.), Kreuz und Weltbild. Interpretationen von Wirklichkeit im Horizont des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2011, 47–65, 51–53 (wieder abgedruckt in: P.-G. K, Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 93–110, 97–99). 9 Vgl. dazu B, Neues Testament und Mythologie (s. Anm. 7). Die Veröffentlichung des im Jahr 1941 in Alpirsbach gehaltenen Vortrags machte den Begriff prominent. Zu einem kritischen Einwand gegen das bei Bultmann zugrundeliegende Mythosverständnis vgl. P.-G. K, Art. Mythos und Entmythologisierung, in: Bultmann Handbuch, hg. v. C. Landmesser, Tübingen 2017, 383–389, 388–389. 10 A. H, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten, Akademische Ausgabe, Leipzig 1902.

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

engte Vorauswahl dokumentiert daher die Nachwirkung der dialektisch-theologisch motivierten Abgrenzung von der vorangehenden liberaltheologischen Epoche. In der Nachfolge Bultmanns wurde diese entschiedene Haltung nur allmählich aufgeweicht. Hans Conzelmann nahm in seinen Grundriß der Theologie des Neuen Testaments eine, wenngleich knappe Passage zu den synoptischen Evangelien auf. Die Begründung ergab sich daraus, dass Conzelmann als einer der drei Begründer der Redaktionsgeschichte11 ein vitales Interesse daran hatte, die Stimme der Endredaktoren zu stärken. Die Autoren der synoptischen Evangelien waren im Zuge der methodischen Neubestimmungen in der Exegese nach 1945 in Rang und Ansehen zu Schriftstellern und Theologen aufgestiegen. Ihrer Arbeit wurde unter redaktionsgeschichtlicher Perspektive theologische Qualität bescheinigt, ihre schriftstellerischen Profile wurden monographisch ausgearbeitet. Für Conzelmann wurde das Kerygma dementsprechend nicht ausschließlich begrifflich, sondern auch auf dem Weg der Geschichtserzählung vermittelt.12 Diesen Ansatz baute Andreas Lindemann in seiner Bearbeitung des Conzelmannschen Grundrisses weiter aus. Lindemann fragt „nach weiteren Grundbedingungen für einen möglichen Theologiebegriff“13. Keinesfalls sind theologische Aussagen darauf beschränkt, nur begrifflich ausgeführt zu werden. Sie können „auch in Form von Erzählung“14 expliziert werden. Theologie ist der „reflektierte […] Umgang mit Glaubenstradition“15 und eben diesen praktizierten die synoptischen Evangelien. Das Wissen, damit etwas nicht Selbstverständliches formuliert zu haben, klingt bei Lindemann in dem Satz an: Theologische Themen erzählerisch auszuführen, müsse „keinen Mangel an theologischer Substanz bedeuten“.16 Die traditionelle Norm, derzufolge die Narrativität der Begrifflichkeit qualitativ nachgeordnet ist, ist nach wie vor im Bewusstsein. Mit dem wachsenden Einfluss des narrative criticism17 verlieren sich solche Bedenken in der Folgezeit auch in der deutschsprachigen Exegese schnell. Der 11 In chronologischer Reihenfolge erschienen nacheinander H. C, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen 1954; W. M, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 1956; G. B/G. B/H.J. H, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen-Vluyn 1960. 12 H. C, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, bearb. v. A. Lindemann, Tübingen 51992 (ursprünglich 1967), 143. 13 A. L, Erwägungen zum Problem einer „Theologie der synoptischen Evangelien“, ZNW 77 (1986), 1–33, 10 (wieder abgedruckt in: A. L, Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 316–345). 14 L, Erwägungen (s. Anm. 13), 12. 15 L, Erwägungen (s. Anm. 13), 13/14. 16 L, Erwägungen (s. Anm. 13), 32. 17 Vgl. D. R/D. M, Mark as Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 1982; W.H. K, Mark’s Story of Jesus, Philadelphia 1979; U. P, Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium, BThSt 100,

1.1 Die Theologiefähigkeit der Evangelienschriften

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Übergang von der klassischen Redaktionsgeschichte zur Narratologie erfolgt fließend. Damit vollzieht sich unter der Hand ein methodischer Paradigmenwechsel. Die Grenzen zwischen zwei methodisch im Ansatz unterschiedlichen und in prinzipieller Hinsicht konkurrierenden Zugängen verschwimmen. Ob als Alternative verstanden oder additiv miteinander verbunden: Synchrone Exegese tritt zunehmend an die Stelle der traditionell diachron operierenden literar- und quellenkritischen Verfahrensweise. Für Ferdinand Hahn ist in seiner Theologie des Neuen Testaments im Blick auf die theologische Leistungsfähigkeit der synoptischen Evangelien klar: „Die Erkenntnis, daß die Synoptiker nicht nur Sammelwerke, sondern eigenständige Entwürfe sind, hat sich in der neueren Forschung durchgesetzt.“18 Udo Schnelle beschreibt die theologische Arbeit der neutestamentlichen Autoren als „Sinnbildungsleistungen“. Sie gelte es im Rahmen einer Theologie des Neuen Testaments „in ihren theologischen, literarischen und religionsgeschichtlichen Dimensionen darzustellen“19. An der Sinnbildung sind laut Schnelle alle Schriften des Neuen Testament auf je ihre Weise beteiligt. Eine Unterscheidung scheidet unter dieser Rubrizierung daher aus.20 Bei James D.G. Dunn begegnet ein weicher Theologiebegriff. Im Eingangskapitel seines allerdings der paulinischen Theologie gewidmeten Werks The Theology of Paul the Apostle entfaltet Dunn „the term ‘theology’ in a more rounded way, as talk about God and all that is involved in and follows directly from such talk, including not least the interaction between belief and praxis.“21 Dunn bezieht sich auf die von Richard Hays22 und Ben Witherington23 vertretene Auffassung, dass der paulinischen Theologie große Erzählmotive zugrunde liegen. Unter diesem Gesichtspunkt lege es sich nahe, in der Sprache narrativer Theologie auf die angesprochenen Inhalte einzugehen.24 Die Verwendung des Partizips theologizing,25 das sich auf Deutsch als Infinitiv theologisieren insbesondere in der Neukirchen-Vluyn 2008; M.A. P, Toward a Narrative-Critical Understanding of Luke, Interp. 48 (1994), 341–346; U.E. E, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie, NTOA 58, Fribourg/Göttingen 2006; L. S, Das Johannesevangelium. Einführung – Text – dramatische Gestalt, Stuttgart/Berlin/Köln 1992. 18 F. H, Theologie des Neuen Testaments, Band I: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2002, 486. 19 U. S, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 29. 20 Zur Geschichte des Theologiebegriffs und zur Darstellung der neueren Forschungsgeschichte vgl. ausführlicher K, Narrative Kreuzestheologie (s. Anm. 8), 47–53; vgl. zur forschungsgeschichtlichen Darstellung auch K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 8), 134–138. 21 J.D.G. D, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids, Michigan/Cambridge, U.K. 1998, 9. 22 R. H, The Faith of Jesus Christ. An Investigation of the Narrative Substructure of Galatians 3.1–4.11, Chico 1983, 5.6. 23 B. W, Paul’s Narrative Thought World, Louisville 1994. 24 D, Theology (s. Anm. 21), 18. 25 D, Theology (s. Anm. 21), 2.18. Vgl. auch die Verwendung des flektierten Verbs: „I wish to theologize with Paul“ (24).

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

schulbezogenen Religionspädagogik eingebürgert hat,26 verweist bei Dunn darauf, dass es mehr um den Vollzug und das Prozessuale geht27 als um eine harte inhaltliche Bestimmung oder Festschreibung.28 Die dezente Nivellierung der traditionellen Grenzen zwischen begrifflicher Darlegung und narrativer Entfaltung wird damit bereits durch die Wandlung des Substantivs Theologie in ein Verb angezeigt. Lukas Bormann setzt sich zum Ziel, unter einem offenen Theologiebegriff, „nach dem Theologie das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch reflektiert“, die „Gedankenwelt der neutestamentlichen Schriften und ihrer Autoren“ darzustellen.29 Bormann plädiert in Anknüpfung an Dunn für einen „schwache[n], d.h. nur in Umrissen definierte[n] Theologiebegriff, der die Erfassung der pluralen und divergierenden theologischen Vorstellungen in den neutestamentlichen Schriften ermöglicht“. Dabei sieht er sich in Kontinuität zu Bultmanns Theologiebegriff, insofern dieser nach dem „Verhältnis von Gott, Welt und Mensch“ frage, in materialer Hinsicht jedoch gleichfalls „schwach“ bleibe. Dieses Vakuum sei durch eine breite Rezeption kulturwissenschaftlicher Einsichten zu füllen.30 Bei der Behandlung der Evangelien dominieren in Bormanns Stoffanordnung die historische Ausrichtung und die Orientierung am Autorkonzept gegenüber einer strikten Konzentration auf den Werkcharakter der Evangelienschriften. Bormann schaltet seiner Darstellung der synoptischen Evangelien die eigenständige Behandlung der Logienquelle vor und stellt sie – obwohl sie das Produkt einer wissenschaftlichen Hypothese und keine eigenständige Schrift innerhalb des Neuen Testaments ist – in ihrem Status den Evangelien formal gleich. Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte werden gemeinsam in einem Kapitel bearbeitet. Das ist unter der Annahme einer einheitlichen Verfasserschaft nachzuvollziehen. Es entspricht jedoch nicht der theologischen Eigenständigkeit der beiden Texte, die unbeschadet ihrer gemeinsamen Herkunft in sich geschlossene Werke mit unterschiedlichen inhaltlichen Zielen und Vermittlungsabsichten darstellen.

26 Vgl. G. B .. (Hg.), Handbuch Theologisieren mit Kindern. Einführung – Schlüsselthemen – Methoden, München 2014; P. F-L, Theologisieren mit Jugendlichen. Ein neuer religionspädagogischer Ansatz? PT 3/2010, 158–162. P. F-L/H. K, Theologising with Children in Classrooms in Germany, in: P. Schreiner/F. Kraft/A. Wright (Eds.), Good Practice in Religious Education in Europe. Examples and Perspectives of Primary Schools. Schriften aus dem Comenius-Institut, hg. v. V. Elsenbast, Band 15, Berlin 2007, 87–100. 27 “It is that interaction which gives Paul’s theology its dynamic character; a static ‘theology of Paul’ would not be the theology of Paul.” D, Theology (s. Anm. 21), 19. 28 “Paul’s theology can be said to emerge from the interplay between several stories, his theologizing to consist in his own participation in that interplay.” D, Theology (s. Anm. 21), 18. 29 L. B, Theologie des Neuen Testaments. Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung, Göttingen 2017, 11. 30 Vgl. B, Theologie (s. Anm. 29), 36–37, Zitate 36.

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Angesichts der skizzierten theologiegeschichtlichen Situation überrascht es wenig, dass im 20. Jahrhundert Monographien zur Theologie der Synoptiker oder aller vier Evangelien die absolute Ausnahme geblieben sind. Festzustellen ist: Über einen langen Zeitraum hin haben die synoptischen Evangelien hinsichtlich der ihnen zugestandenen Theologiefähigkeit im Schatten des Paulus und des Johannes gestanden. In den klassischen Ausarbeitungen einer Theologie des Neuen Testaments fanden sie entweder gar keine Berücksichtigung oder erhielten erst nach und nach ihren Raum. Erst in einem längeren Prozess ist ihre theologische Reputation im zurückliegenden halben Jahrhundert gewachsen. Mittlerweile wird den Synoptikern weitgehend das Maß an Reflexionsvermögen und Theologiefähigkeit zugebilligt, welches Paulus und Johannes seit jeher genießen. Diese Gesamtsituation erklärt, warum so gut wie keine einschlägige Literatur zu verzeichnen ist, die in einen Forschungsbericht aufzunehmen wäre. Eine exklusiv auf die Theologie der synoptischen Evangelien zugeschnittene Untersuchung gibt es nicht.31 Die Synoptiker werden allenfalls im Rahmen umfassender Gesamtdarstellungen oder Lehrwerke mitbehandelt.32 So betrachtet hat Siegfried Schulz sein erstmals 1966 erschienenes Lehrbuch zu den vier Evangelien am Zeitgeist vorbei publiziert.33 Dies ist umso beachtenswerter, als Schulz‘ Buch sogar noch vor dem Conzelmannschen Grundriß erschien. Schulz‘ Darstellung orientiert sich vornehmlich an der Endgestalt der Evangelien. Ohne die in ihnen aufgenommenen Überlieferungen zu ignorieren, fragt das Werk „ausschließlich nach der Bearbeitung des Überlieferungsbestandes durch die Evangelisten selbst“34 In seiner thematischen Untergliederung innerhalb der vier Evangelien beweist das Buch ebenfalls Eigenständigkeit und Originalität. Die themenorientierten Überschriften werden nicht systematisierend über die unterschiedlichen Werke gelegt, sondern folgen der Eigenart jeder der vier Evangelienschriften und deren thematischen Vorgaben. Im Unterschied zu den synoptischen Evangelien hat das Johannesevangelium in der Geschichte der Bibelauslegung stets die Anerkennung höchster theologischer Qualität genossen. Das gereichte ihm in der Evangelienexegese seit der Aufklärung allerdings häufig gerade zum Nachteil. In den Hochzeiten historischer Evangelienforschung geriet Johannes in den Schatten der Synoptiker. Die greifbare theologische Durchdringung seiner Jesusdarstellung und die Eigenart seiner durchgeistigten Präsentation der Jesus-Christus-Geschichte machten das vierte Evangelium für eine historisch ausgerichtete Jesusforschung wenig reizvoll. Sein historischer Informationsgehalt galt im Vergleich zu den Synoptikern 31 Die als Lesebuch gestaltete Darstellung von H. M, Die Jesusgeschichte – synoptisch gelesen, Stuttgart 1995, erhebt diesen Anspruch nicht. 32 Das gilt etwa für das Lehrbuch von A. W, Theologie des Neuen Testaments II. Theologie der Evangelien, KStTh 8, Stuttgart/Berlin/Köln 1993. 33 S. S, Die Stunde der Botschaft. Einführung in die Theologie der vier Evangelien, Hamburg/Zürich 1966. 34 S, Stunde der Botschaft (s. Anm. 33), Vorwort, 5.

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als gering. Zum Erhalt historisch verwertbarer Informationen über den irdischen Jesus schienen die ersten drei Evangelien deutlich geeigneter; und für die Klärung der Frage nach der ältesten Evangelienschrift schied Johannes aufgrund der Summe seiner Eigenarten ohnehin aus.

1.1.3 Mythische Narrativität vs. begrifflich gefasste Theologie Mit der Ausscheidung des Mythos aus dem Theologiebegriff und der Füllung der Leerstelle durch die Philosophie ist in der Geschichte der Theologie der Narrativität von der Begrifflichkeit der Rang abgelaufen worden. Im Zuge dieses Prozesses wurde ein wissenschaftstaugliches und philosophiekompatibles Theologieverständnis gewonnen. Wenn also gegenwärtig die Narrativität Einzug in die traditionell über ihre Begrifflichkeit definierte Theologie hält, macht das eine Neubewertung des Mythos notwendig. Insbesondere steht die Frage nach der Rationalität des Mythos auf dem Prüfstand. Während in der Sicht einer antikwie neuzeitlich-aufgeklärten Position ein pejorativer Blick auf den Mythos verbreitet ist – im allgemeinen Sprachgebrauch gilt er landläufig als vor- oder außerwissenschaftlich – hat in Teilen der Philosophie eine Rehabilitierung des Mythos begonnen. Insbesondere Ernst Cassirer und Kurt Hübner haben durch die Beschreibung der Organisation des mythischen Denkens und der inneren Ordnung des Mythos seine Rationalität aufgewiesen. Die Frage ist nicht länger, ob dem Mythos Rationalität zuzubilligen ist, sondern in welcher Weise die mythische Vernunft aufgebaut ist. Damit wird die Grundlage für den Vergleich zum aufgeklärten Denken der Antike des 5./4. vorchristlichen und des 18. nachchristlichen Jahrhunderts gelegt.35 Unter diesem Gesichtspunkt geht es im Blick auf die Werke der Autoren im Neuen Testament nicht darum, welchem Opus Theologiefähigkeit zu bescheinigen ist und welchem nicht. In Anerkenntnis der Tatsache, dass sich in allen Werken Vernunft ausspricht, richtet sich das Untersuchungsinteresse darauf, welche Form von Rationalität in den unterschiedlichen literarischen Texten zum Ausdruck kommt. Die Frage, die im Blick auf eine Theologie der synoptischen Evangelien zur Entscheidung ansteht, lautet also: Besitzen die synoptischen Erzähltexte eine geistige Qualität, die mit der Rationalität der Begrifflichkeit, wie sie etwa bei Paulus und Johannes zur Wirkung kommt, mithalten bzw. konkurrieren kann? Unter dem Gesichtspunkt, dass der Zugang zum Gegenstand darüber entscheidet, welche Wirklichkeit in den Blick tritt, ist des Weiteren zu bedenken: Erschließen die narrativen Texte eine Wirklichkeit, auf die ansonsten in begrifflicher Sprache Bezug genommen wird? Oder treten zwei Wirklichkeitswelten nebeneinander – eine narrativ-fiktional-mythisch gefasste und eine begrifflich-faktual-rational-analytisch formulierte?

35 Zum Mythos und seiner Besonderheit vgl. im Einzelnen P.-G. K, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin/New York 2001, 63–98.

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1.2 Die Historisierung der Theologie 1.2.1 Die Etablierung des historischen Paradigmas in den Bibelwissenschaften Die historische Leben-Jesu-Forschung hatte seit den 1830er Jahren einen immensen Aufschwung erfahren. Nachdem Carl Lachmann und Christian Hermann Weisse 1835 bzw. 1838 die Zweiquellentheorie etabliert hatten,36 schien für die kritische Forschung der Weg zur Rekonstruktion eines historisch fundierten Lebensbildes Jesu endlich frei. Kritisch steht in diesem Zusammenhang im Sinne des griechischen Wortes κρι σις37 für das Anliegen, zwischen Quellenschichten zu scheiden. Unter historischem Gesichtspunkt sollte jüngere von älterer Überlieferung abgegrenzt werden. Das Ziel war die Suche nach dem historisch verlässlichen authentischen Ursprung der christlichen Tradition. Mit Hilfe der Literarkritik glaubte man, einen methodisch verlässlichen Weg gefunden zu haben, durch das Dickicht sich überlagernder Überlieferungen hindurch die Lebensgeschichte Jesu rekonstruieren zu können. Ein Boom an Jesusliteratur setzte ein. Die theologische Triebfeder für die im Aufbruch befindliche intensive historische Arbeit entstammte einer Weichenstellung des 18. Jahrhunderts. Mit der Aufklärung war in der sog. Sattelzeit38 um 1750 für die Theologie ein existenzbedrohendes Problem aufgebrochen. Die bis dahin geltenden theologischen Gewissheiten standen im Begriff zu zerfallen. Das theologische Erbe der Reformationszeit, das über Transformationen in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus in die Aufklärungszeit gelangt war, drohte auf dem Feld der Bibelwissenschaften den kritischen Anfragen der aufgeklärten Vernunft nicht standhalten zu können. Weder eine hohe Christologie noch eine herzensbetonte Jesusfrömmigkeit konnten den auf historischem Feld vorgetragenen Einwänden einer zunehmend selbstbewusst agierenden Kirchen- und Bibelkritik standhalten. In einer beeindruckenden geistigen Aufbruchbewegung stellte sich die Evangelische Theologie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts den Herausforderungen an ihr Fach. Sie begab sich in eine konstruktive geistige Auseinandersetzung mit zentralen Anfragen und Einwänden ihrer Zeit. 36 C. L, De ordine narrationum in evangeliis synopticis, TStKr 8, Tübingen 1835, 570–590 und C.H. W, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet I.II, Leipzig 1838. Nur vereinzelt wird Grundsatzkritik an der Zweiquellentheorie formuliert. Vgl. in neuerer Zeit dazu W. K, Vom Ende der Zweiquellentheorie oder Zur Klärung des synoptischen Problems, in: C. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift Band II. Kultur, Politik, Religion, Sprache – Text. Wolfgang Stegemann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2005, 404–442. 37 Zu deutsch: Scheidung, Unterscheidung, Trennung. 38 R. K, Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: R. Herzog/R. Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, Poetik und Hermeneutik XII, München 1987, 269–283, spricht von der „Schwellenepoche“. Ihm wird auch der Begriff Sattelzeit zugeschrieben.

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

In einer Epoche, in der insbesondere nach dem Fanal der Französischen Revolution von 1789 mit der zeichenhaften Abschaffung der Monarchie durch die öffentliche Dekaptivierung von König Ludwig XVI. die bis dahin gültigen Maßstäbe in allen gesellschaftlichen Bereichen erschüttert und neue Grundlagen für das Zusammenleben gesucht wurden, stieg die Geschichtswissenschaft auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften zur neuen Leitdisziplin auf. Ihre rasante Karriere verdankte sie dem Wunsch der Zeit, neue tragende Überzeugungen zu finden. Wie in der Umbruchzeit des 16. Jahrhunderts wurden diese Impulse in einer Reaktualisierung des Erbes der Vergangenheit gesucht. Die Grundlagenforschung und Hinwendung zu historischen Quellen erfolgte im Interesse gegenwärtiger Stabilitätssuche. Für die Theologie bedeutete das die Neuausrichtung des Faches als Ganzem. Die bisherige inhaltliche Ausformulierung des christlichen Glaubens hielt den intellektuellen Ansprüchen der Zeit nicht mehr stand, die Verkündigung musste sich ihrem Plausibilitätsverlust stellen, der kirchliche Anspruch auf moralische Mitbestimmung bei der Lebensführung der Glaubenden drang nicht mehr durch. Die politische Situation im revolutionären Frankreich vor Augen, wo die Nationalversammlung im Jahr 1793 das Christentum offiziell abschaffte, war der Handlungsbedarf unabweisbar. Im Jahr 1787 definierte Johann Philipp Gabler die Aufgabe der Theologie in einer Weise, die bis heute die institutionelle Organisation des Faches wie ihre inhaltliche Ausrichtung bestimmt. Gabler plädierte für eine sachgemäße Unterscheidung zwischen biblischer und dogmatischer Theologie und benannte die Aufgaben und Ziele beider Teildisziplinen wie folgt: „Die biblische Theologie besitzt historischen Charakter, überliefernd, was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge gedacht haben; die Dogmatische Theologie dagegen besitzt didaktischen Charakter, lehrend, was jeder Theologe kraft seiner Fähigkeit oder gemäß dem Zeitumstand, dem Zeitalter, dem Orte, der Sekte, der Schule und anderen ähnlichen Dingen dieser Art über die göttlichen Dinge philosophierte.“39 Diese Verhältnisbestimmung brachte die Umschmelzung der Bibelwissenschaft zu einer de facto historischen Disziplin auf den Begriff. Sie vollzog eine Entscheidung mit theologisch weitreichender Konsequenz. Biblische Theologie wird zur Geschichte der Theologie in biblischer Zeit erklärt. Ihr kommt eine historische Aufgabe zu. Sie tradiert, d.h. sie übermittelt, was sie selbst übernommen hat. Dazu bezieht sie sich auf Inhalte, die von sog. heiligen Schriftstellern stammen. Das Adjektiv kommt einer captatio benevolentiae gleich; denn zwar wird damit der Status der bezeichneten Schriftsteller besonders gewürdigt, aber sachlich wird lediglich die Kernaussage abgemildert, dass der Bezugspunkt der Überlieferung menschliche Schreiber sind. An die Stelle Gottes als des Autors der bi39 Zitiert nach J.P. G, Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele, übersetzt von O. Merk, Anlage I, in: O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, Marburg 1972, 273–284, 275–276.

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blischen Tradition rückt Gabler menschliche Verfasser. Deren Gedanken über Gott reicht die Biblische Theologie weiter, wobei die Formulierung eine zusätzliche Spitze daraus empfängt, dass es nicht einmal Gott oder die Beziehung zu Gott ist, von der die menschlichen Schriftsteller geschrieben haben. In wolkiger Weise spricht Gabler von göttlichen Dingen, über die diese Autoren nachgedacht und Aufzeichnungen hinterlassen haben. Im Blick auf die Dogmatik, die in Gablers Formulierungen noch weiter von den Anfängen der Überlieferung und einem womöglich unmittelbaren Gottesbezug wegrückt, bedeutet das: Eine bereits im Ansatz instabile Überlieferungssituation bildet die Grundlage für die spätere darauf bezogene dogmatische Weiterverarbeitung. Die Dogmatische Theologie vollzieht lediglich eine didaktische Umsetzung. Dogmatik ist eine pädagogische Tätigkeit, die durch vielerlei Einflüsse relativiert wird: Den individuellen Fähigkeiten des jeweiligen Dogmatikers, seiner Zeit- und Ortsgebundenheit, der Prägung durch eine bestimmte Schultradition sowie weiteren – geradezu beliebigen – Umständen. Biblische Theologie überliefert, Dogmatische Theologie lehrt und ihre Vertreter philosophieren. Flankierend und ergänzend zu Gabler nimmt dessen Kollege Georg Lorenz Bauer die fachgebietsbezogene Unterscheidung der Biblischen Theologie in eine alt- und eine neutestamentliche Theologie vor.40 Zugutezuhalten ist Gabler, dass es ihm nicht um die Umwidmung der Theologie in Geschichtswissenschaft oder Philosophie ging. Gablers Interesse galt der Rekonstruktion von historisch verlässlichem Urgestein in der Masse der biblischen Überlieferungen. Das Ziel der Suche nach den Anfängen der christlichen Überlieferung im Neuen Testament sollten sog. notiones sacrae sein, zeitlos gültige heilige Vorstellungen. Gemeint sind zeitübergreifende, unzerstörbare geistige Qualitäten. Auf ihnen sollte die weitergehende theologische Reflexion beruhen. Das heißt, Gabler strebte nach dem Erhalt ewiger Wahrheiten, die Goldkörnern gleich unter dem Geröll der Überlieferung herauszusieben seien.41 Als akademische Disziplin steht die Theologie bis in die Gegenwart in der Wirkungsgeschichte der durch Gabler formulierten Weichenstellung. Alt- und neutestamentliche Wissenschaft werden weitgehend unter historischen Vorzeichen betrieben. Häufig beschreiben sie sich selbst als historische Disziplinen. Dogmatische Theologie hat ihrerseits oft das philosophieren beim Wort genommen und zeigt sich in hohem Maße als philosophieaffine Wissenschaft. Der Optimismus der Aufklärung, unter angeblich verderbten Überlagerungen am Grunde der Überlieferung auf unzerstörbare Kerne von Wahrheit zu stoßen, ist 40 G.L. B gilt als die Person, die vermutlich als erste den Begriff historisch-kritisch geprägt hat. Vgl. den Titel seines „Entwurf(s) einer historisch-kritischen Einleitung in die Schriften des Alten Testaments“, Nürnberg 1794. Vgl. auch A. B, Art. Bauer, Georg Lorenz, RGG4 1 (1998) (ungekürzte Studienausgabe 2008), 1169. 41 Ausführlicher werden „Die Historisierung der Biblischen Theologie durch Johann Philipp Gabler“ und „Die Ausdifferenzierung der Biblischen Theologie durch Georg Lorenz Bauer“ dargestellt bei K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 8), 25–40.

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längst geschwunden. Damit hat die historisch arbeitende Bibelwissenschaft jedoch die Legitimation aus ihrer Frühphase verloren. In dem Maße, in dem ihr der Verweischarakter abhanden gekommen ist, stellt sich die historische Erforschung der Bibel als ein Selbstzweck heraus. Das lässt sich kulturwissenschaftlich rechtfertigen. Im Rahmen der Theologie schwächt diese Tatsache die Bibelwissenschaften. Sie lässt ihren fachspezifischen Beitrag zur Konstitution von Theologie als Theologie vermissen.

1.2.2 Die Aufwertung der theologischen Leistung der Evangelisten in der Redaktionsgeschichte Das einstweilige Ende der Leben-Jesu-Forschung kam Anfang des 20. Jahrhunderts. Albert Schweitzers Porträt wichtiger Jesusbücher des 19. Jahrhunderts machte deutlich, in welchem starken Maße die Darstellungen Jesu aufgrund der lückenhaften Quellenlage von den subjektiven Ergänzungen und Interessen ihrer modernen Autoren geleitet waren: „jeder einzelne schuf ihn nach seiner eigenen Persönlichkeit“.42 Mit dem vorläufigen Ende der Suche nach dem historischen Jesus war auch die Hochzeit der ihr zugrunde liegenden exegetischen Methode, der Literarkritik, vorüber. Die anschließende Epoche der Formgeschichte zog mit ihrem neuen methodischen Zugang auch eine veränderte Wahrnehmung der Inhalte der neutestamentlichen Perikopen nach sich. Ihre wirkungsmächtigsten Werke brachte die Formgeschichte in den ersten Jahren nach dem Ende der Ersten Weltkriegs hervor. Der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung in Europa hatte eine Krise in allen Bereichen des Kultur- und Geisteslebens zur Folge. Angebrochen war eine Epoche des Fragments. Die Kontinuität mit der Vergangenheit war zerbrochen, neue verlässliche Orientierungen in weiter Ferne. Die Erfahrung von Diskontinuität wirkte bis in den Umgang mit den neutestamentlichen Texten hinein. Wo die formgeschichtliche Arbeit an Logien und Einzelüberlieferungen vom Geist der Dialektischen Theologie erfasst wurde, galt die Perikopenüberlieferung aus einer theologischen Initialzündung heraus entstanden. Die heilstiftende Verkündigung von Tod und Auferstehung Jesu Christi habe Szenen der Lebensgeschichte Jesu hervorgebracht, die die Signatur der von Ostern geprägten Rückschau trugen. Die Entstehung der in den synoptischen Evangelien gesammelten Einzelüberlieferungen über Jesus wurde auf den nachösterlichen Christusglauben zurückgeführt; zumindest galt diese Überlieferung als vom Geist des Osterglaubens durchformt. Traditionsbindung und Traditionsbildung wurden aus einem theologischen Impuls abgeleitet, dem Kerygma von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Das Interesse am verkündigenden Jesus, welches das

42 A. S, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, zwei Bände, Gütersloh 21977 (ursprünglich erschienen unter dem Titel „Von Reimarus bis Wrede“, 1905/06), 48. Vgl. auch 50.

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Kennzeichen des 19. Jahrhunderts darstellte, wurde durch die Orientierung am verkündigten Christus abgelöst. Erst in den 1950er Jahren entstand mit zunehmendem Abstand vom Zweiten Weltkrieg allmählich wieder ein Bewusstsein für Kontinuität in geschichtlichen Vorgängen. Die Redaktionsgeschichte als neue Methode teilte zwar mit der Formgeschichte die grundsätzliche auf die Literarkritik zurückgehende Prämisse der Scheidung von Tradition und Redaktion. Aber im Unterschied zur Formgeschichte konzentrierte die Redaktionsgeschichte sich statt auf die ältere in den Perikopen enthaltene Kernüberlieferung auf die verbindenden und rahmenden Teile der Evangelien in ihrer Endgestalt. Freilich konnte sie damit nur kleinere Teile der Evangelientexte für die Erhebung der theologischen Position des Redaktors verwenden. Der Großteil der Überlieferung galt als traditionell; er war vom Endredaktor nur übernommen, also quasi zitiert worden. So bezog sich die redaktionsgeschichtliche Auswertung der Evangelien lediglich auf die Auswahl, Anordnung und das Arrangement der Stoffe innerhalb der Gesamtschriften. Rahmenverse, die als redaktionelle Ein- und Ausleitungen von Perikopen galten sowie deutliche redaktionelle Eingriffe in die Perikopen fanden Berücksichtigung, außerdem das Sondergut jeder Evangelienschrift.43 Die Kernbestände der Perikopen blieben hingegen ungenutzt, da sie der formgeschichtlich rekonstruierten Vorphase und einem mündlichen Überlieferungsstadium zugerechnet wurden. Schließich wurde die Figur des Endredaktors im Rahmen der Redaktionsgeschichte noch ganz im Sinne des klassischen Autorenkonzepts gefasst. Exegese bedeutete in diesem Kontext das „Nachsprechen dessen, was ein Schreiber seinen Lesern sagen wollte, in meiner Sprache“.44 Die Analyse der Evangelientexte unter Verzicht auf eine vorherige Scheidung von Tradition und Redaktion und damit eine auf die Gesamtschrift in der vorliegenden Endgestalt bezogene Auslegung wurde erst in der anschließenden Ära des narrative criticism praktiziert. Unter dem Einfluss der Erzähltheorie wurde auch das bis dahin weithin selbstverständliche Autorenkonzept in Frage gestellt. Das Verhältnis von Text und Interpretation, die Erhebung von Bedeutung und der Werkcharakter von Literatur führten mit dem Eindringen des rezeptionsästhetischen Paradigmas in die neutestamentliche Exegese zu einer veränderten Wahrnehmung der Evangelienschriften.45

Vgl. K, Mythos (s. Anm. 35), 17. W. M, Einleitung in das Neue Testament. Eine Einführung in ihre Probleme, Gütersloh 41978, 21. 45 Zur Darstellung dieser methodisch und forschungsgeschichtlich relevanten Entwicklungen im Einzelnen vgl. K, Mythos (s. Anm. 35), 27–38, und K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 8), 64–70.80–98. 43 44

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

1.2.3 Das Verhältnis der Christologie zum historischen Jesus 1.2.3.1 Das Da-Sein und das So-Sein Jesu Eine der am meisten bescholtenen Formulierungen der neutestamentlichen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts ist der erste Satz in Rudolf Bultmanns 1948–53 erschienener Theologie des Neuen Testaments. Dort schrieb Bultmann auf Seite 1: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst.“46 Dieser Satz hat eine Eigendynamik entwickelt und heftige Kritik hervorgerufen. Im Verlauf seiner Rezeption ist er in der Fachliteratur zunehmend zum Beleg für eine korrekturbedürftige Ausrichtung des Bultmannschen theologischen Ansatzes geworden.47 Bultmanns Formulierung wurde geradezu als Synonym für einen fehlgeleiteten Umgang mit der Jesusüberlieferung der synoptischen Evangelien gelesen. In den Debatten um die Verhältnisbestimmung zwischen Judentum und Christusbekenntnis wurde die Aussage als eine Distanzierung Bultmanns von Jesus und den jüdischen Wurzeln der frühchristlichen Religion aufgefasst. Das Judesein Jesu werde bei Bultmann von dem auf Jesus als den Christus bezogenen Bekenntnis abgetrennt. Gleich der erste Satz des prominentesten neutestamentlichen Werkes des 20. Jahrhunderts habe einen weiteren Keil zwischen Judentum und Christentum getrieben. In der Regel zeigten solche pauschalen Verurteilungen wenig Interesse an einem gründlichen Nachdenken über die Einzelheiten des programmatischen Einstiegs bei Bultmann. Schon dass Bultmann von der Verkündigung Jesu und nicht von der Person Jesus sprach, blieb in der Regel unbeachtet. Entsprechend wurde wenig wahrgenommen, dass Bultmann mit seiner Formulierung auf die grundlegende Auseinandersetzung mit der Liberalen Theologie als der dominierenden theologischen Richtung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts rekurrierte.48 Adolf Harnack hatte es in seinen Vorlesungen über Das Wesen des Christentums in einprägsamen Wendungen auf den Punkt gebracht: „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, 46 Zitiert nach R. B, Theologie des Neuen Testaments, durchgesehen und ergänzt von Otto Merk, Tübingen 91984, 1. Bultmann setzt fort: „Denn die Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert. Christlichen Glauben aber gibt es erst, seit es ein christliches Kerygma gibt, d.h. ein Kerygma, das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Das geschieht erst im Kerygma der Urgemeinde, nicht schon in der Verkündigung des geschichtlichen Jesus“ (1–2). 47 Eine Fülle einschlägiger Literatur führt M. B, No Quest for the historical Jesus? Leistungen und Grenzen der Sicht Rudolf Bultmanns für die historische und theologische Frage nach Jesus, in: U.H.J. Körtner/C. Landmesser/M. Lasogga/U. Hahn (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 123–154, bes. 124–127, auf. 48 Vgl. P.-G. K, Neutestamentliche Debatten von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 2022, 78–81.117–132.

1.2 Die Historisierung der Theologie

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hinein.“49 Das Entscheidende an Jesus sei nicht er als Person. Vielmehr sollte das, was er gepredigt hatte, Inhalt der Theologie sein.50 Was für Harnack und die Liberale Theologie ein Essential von Theologie darstellte: Die Verkündigung des historischen Jesus, wurde von Bultmann mit dem ersten Satz seines epochalen Werkes ausgehebelt. Bultmann ruft mit dieser Eröffnung seines Buches die Absetzbewegung der Dialektischen von der Liberalen Theologie in Erinnerung. Er stellt die Theologie des Neuen Testaments in die Tradition seines eigenen in den 1920er Jahren entwickelten theologischen Zugangs. Die anschließende Debatte dieses Ansatzes richtete sich bereits in seinem eigenen Schülerkreis gegen das Selbstverständnis Bultmanns. Die durch Ernst Käsemann aufgerufene51 und durch Günter Bornkamm52 und Gerhard Ebeling53 aufgegriffene neue Debatte um den historischen Jesus brachte Bultmann selbst im eigenen Lager in eine Randposition. Offenkundig mochte man sich nicht mit dem Verlust einer „letzte[n] historische[n] Legitimation, nämlich de[m] Bezug zum historischen Jesus“54 abfinden. Im Verlauf der Diskussionen wurde Bultmann vorgeworfen, ihm genüge ein nebulöses Daß des Gekommenseins Jesu als Fundament des Christuskerygmas. Diese Formulierung55 hat sich zu einem geflügelten Wort verselbstständigt. Die H, Wesen des Christentums (s. Anm. 10), 91. H, Wesen des Christentums (s. Anm. 10), 33: Inhalt der Verkündigung Jesu sind „Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele“. 51 E. K, Das Problem des historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Erster Band, Göttingen 1960 (ursprünglich 1953/54), 187–214. Vgl. dazu A. L, Zur Einführung. Die Frage nach dem historischen Jesus als historisches und theologisches Problem, in: U.H.J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2002, 1–21, 8–14. Vgl. K, Neutestamentliche Debatten (s. Anm. 48), 95–104. 52 G. B, Jesus von Nazareth, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 151995 (ursprünglich 1956). 53 G. E, Jesus und Glaube, ZThK 55 (1958), 64–110; D., Die Frage nach dem historischen Jesus und das Problem der Christologie, ZThK Beiheft 1 (1959), 14–30; D., Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959, 48–85. 54 A. H, Die Jesusforschung seit Bultmann und ihre methodischen Probleme, in: Ders., Exegese – Spiritualität – Theologie. Beiträge zu einer Theologie im Hier und Jetzt. Hg. v. C. Wehde und S. Werner, Leipzig 2016, 35–55, 43. 55 In exakt dieser Diktion begegnet die Formulierung bei E. K, Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Zweiter Band, Göttingen 1964, 31–68, 51. Käsemann kennzeichnet die Aussage zwar als Zitat, nennt aber nicht eigens eine Belegstelle. Die Aussage ist auch sonst ohne ausdrücklichen Herkunftsbeleg als Zusammenfassung des für Bultmanns Theologie zentralen Gedankens verbreitet. Vgl. K. H, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009, 435, der bereits in seiner Darstellung der Debatte von Käsemanns Jugenheimer Vortrag von 1953 berichtet, dass Käsemann und Pannenberg darauf insistierten, „daß das Kerygma nicht nur das pure Daß des Gekommenseins Jesu voraussetze, sondern ... an die Botschaft des historischen Jesus anknüpfe.“ Vgl. K, Problem des historischen Jesus (s. Anm. 51), 187–214. Vgl. K, Neutestamentliche Debatten (s. Anm. 48), 117–121. 49

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Wendung ist so prominent geworden, dass sie ein Eigenleben zu führen begonnen hat56 und häufig auch ohne Zitatnachweis angeführt wird. Teilweise ist sie zur Parole geronnen. Bultmann selbst redet wiederholt vom Daß der Tatsächlichkeit des irdischen Lebens Jesu, dem Daß seiner Verkündigung und in diesem Sinne von der Wirklichkeit des Gekommenseins Jesu.57 Dabei fällt bei Bultmann eine weiche und variable Formulierungsweise im Zusammenhang mit dem Daß auf, der gegenüber die durch Käsemann zusammengefasste Wendung zum Schlagwort auskühlte. Sachlich wurde Bultmann entgegengehalten, wegen der Ungreifbarkeit und Unanschaulichkeit des Gegenstands reiche es nicht, das Daß des Gekommenseins Jesu zur Grundlage der neutestamentlichen Christologie zu machen. Das Was und das Wie der Person Jesu und ihrer Verkündigung dürften nicht übergangen werden. Sie seien sachlich von erheblicher Bedeutung. Zur Sicherung der Kontinuität und zur Verhinderung, dass der Christus des Kerygmas sich in geradezu gnostischer Manier zu einem Geistwesen verflüchtige, müsse die Gestalt Jesu als eines Menschen seiner Zeit deutlicher konturiert werden, als das bei Bultmann der Fall sei. Um dies im Blick zu behalten und einen exegetischen Zugang zu Jesus als historischer Person zu eröffnen, entwickelten

56 Der Sachverhalt selbst wird von Bultmann deutlich früher ausgesprochen. Bereits 1929 wendet er sich gegen die Auffassung, die paulinische Theologie stelle eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Verkündigung Jesu dar. Demgegenüber stellt Bultmann fest: „Nicht darin besteht der Sinn der paulinischen Theologie, daß in ihr Anschauungen Jesu weiter entwickelt werden, sondern darin, daß in ihr das Faktum des Dagewesenseins Jesu in einem bestimmten Sinn verstanden wird.“ R. B, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 81980 (ursprünglich 1929), 188–213, 202. Vgl. dazu die Ausführungen von B, No quest? (s. Anm. 47), 135–138. 57 In seiner Replik auf Julius Schniewind spricht R. B, Zu J. Schniewinds Thesen das Problem der Entmythologisierung betreffend, in: H.W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos I, ThF, Hamburg 1948, 135–153, wörtlich vom „Daß seines Gekommenseins“ (148) bzw. vom „geschichtlichen Daß des eschatologischen Erlösers (149). B, Bedeutung des geschichtlichen Jesus (s. Anm. 56), 205, redet vom „Daß seiner Verkündigung“. Ebenso R. B, Die Christologie des Neuen Testaments, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 81980 (ursprünglich 1933), 245–267, 266. Die Auseinandersetzung mit seinen Schülern und Kritikern in R. B, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: Ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (ursprünglich in: SAHW.PH Jg. 1960, 3. Abh. 1960, 5–27), 445–469, 450, dokumentiert einen schon etablierten Sprachgebrauch. Wiederholt ist von einem verabsolutierten Daß die Rede: „Daß man über das Daß nicht hinauszukommen braucht, zeigen je in ihrer Weise Paulus und Johannes.“ Vom „Leben Jesu bedarf sein Kerygma nur das Daß und die Tatsache der Kreuzigung Jesu.“ „Das Entscheidende ist schlechthin das Daß.“ In seiner „Antwort an Ernst Käsemann“ erläutert Bultmann schließlich das Daß in der Weise, „daß nämlich das ,Gekommensein’ Jesu das eschatologische Ereignis ist.“ R. B, Antwort an Ernst Käsemann, Glauben und Verstehen IV, Tübingen 31975, 190–198, 196. Im Spiegel-Interview von 1966 begegnet die Formulierung ganz selbstverständlich bei Bultmann wie bei bei seinem Interviewpartner Werner Harenberg (http://www.spiegel.de/spie gel/print/d-46408216.html), zuletzt abgerufen am 26.3.2019, 15.14 Uhr.

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Käsemann und Hans Conzelmann in den 1950er Jahren das sog. Differenzkriterium58. Danach gilt in Bezug auf die historische Rekonstruktion der Lehre Jesu, dass das als echt anzusehen ist, „was sich weder in das jüdische Denken einfügt noch in die Anschauungen der späteren Gemeinde“59. Die doppelte Differenz, die Käsemann und Conzelmann zum Kriterium für die Rekonstruktion authentischen Jesusmaterials erklärten, lief auf die Suche nach Alleinstellungsmerkmalen Jesu hinaus. Der als Kritik an Bultmanns Ansatz vorgetragene historische Zugriff mittels des Differenzkriteriums krankte daran, dass mit ihm Jesus als Mensch zu einem einzigartigen und unvergleichlichen Wesen erhoben wurde. In Abstraktion von seinem konkreten Menschsein wurde Jesus bzw. seine Lehre sowohl seiner Zugehörigkeit zum Judentum als auch der Zuordnung an die frühchristliche Gemeinde entnommen. Er wurde zum exemplarischen Menschen im Gegenüber zu seinen tatsächlichen Zeitgenossen stilisiert. Das Charakteristische an seiner Person sollte das gewesen sein, was ihn sowohl vom zeitgenössischen Judentum als auch vom sich entwickelnden frühen Christentum unterschied. Der Herausstellung seiner Einzigartigkeit galt die Aufmerksamkeit; und diese wurde historisch erhoben. Dem Bestreben nach Singularisierung der Person Jesu trat – ebenfalls auf historischem Feld – seit den 1990er Jahren die third quest entgegen.60 Sie ersetzte in methodischer Hinsicht das Differenzkriterium durch das „historische Plausibilitätskriterium“. Dieses rechnet mit „Wirkungen Jesu auf das Urchristentum und seine […] Einbindung in einen jüdischen Kontext“61 und errichtet ein Kri-

58 Ausführlich besprochen von D.S.  T, Der unähnliche Jesus. Eine kritische Evaluierung der Entstehung des Differenzkriteriums und seiner geschichts- und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin/New York 2002, 89–129. 59 H. C, Art. Jesus Christus, RGG3 III (1959) (ungekürzte Studienausgabe 1986), 619–653, 623. Ähnlich formuliert von K, Problem des historischen Jesus (s. Anm. 51), 205: „Einigermaßen sicheren Boden haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat.“ 60 Zur Gliederung der historischen Jesusforschung in drei, vier oder gar fünf Phasen vgl. E.D. S, Jesusforschung als Methodenstrauß. Eine Hinführung zum vorliegenden Band, in: Ders. (Hg.), Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung, BThSt 177, Göttingen 2018, 1–10, 2. Zur Darstellung der Forschungssituation vgl. auch D.S.  T, Erneut auf der Suche nach Jesus. Eine kritische Bestandsaufnahme der Jesusforschung am Anfang des 21. Jahrhunderts, in: U.H.J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2002, 91–134. Du Toit vermerkt, dass der Terminus third quest von T. Wright in: S. N/T. W, The Interpretation of the New Testament 1861–1986, Oxford 1987, 379, in die Debatte eingeführt wurde (91 Anm. 1). 61 G. T/A. M, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 117. „His-

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terium der vielfachen unabhängigen Bezeugung. An die Stelle des Unähnlichkeitsist das Kohärenzkriterium getreten.62 Dem chronologischen Vorsprung und der religiösen und nationalen Identität, die Jesus als irdischer Mensch zu seinen Lebzeiten vor der Entstehung frühchristlicher Glaubensgemeinschaften besessen hat, wird prägende Kraft für die auf ihn bezogene Christusverkündigung zugesprochen.63 Durch die Veränderung des methodischen Ansatzes gelangt die third quest in historischer Hinsicht zu einem Bild Jesu, das in diametralem Gegensatz zu den Resultaten der Suche nach dem historischen Jesus bei den Schülern Bultmanns steht. Jesus als historische Person erscheint nunmehr als genuiner Repräsentant des zeitgenössischen Judentums. Allerdings stellt die third quest sich durch ihren strikt historischen Zugang zugleich in eine Kontinuität zu den Bultmannschülern. Diese waren Bultmanns theologisch motiviertem Ansatz mit einer historisch begründeten Kritik entgegengetreten. Die third quest bleibt in struktureller Anatorisch ist in den Quellen das, was sich als Auswirkung Jesu begreifen läßt und gleichzeitig nur in einem jüdischen Kontext entstanden sein kann.“ Ausführlich entfaltet wird der methodische Zugang in G. T/D. W, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg/Göttingen 1997, 83–87. Eine Zusammenfassung des Ergebnisses findet sich auch bei G. T, Zwischen Skepsis und Zuversicht. Über die Instabilität der Jesusforschung, in: E.D. Schmidt (Hg.), Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung, BThSt 177, Göttingen 2018, 13–60, 24–25 Anm. 26. Zu einer kritischen Würdigung des Methodendiskurses vgl. G. H, Das Ende der Kriterien? Jesusforschung angesichts der geschichtstheoretischen Diskussion, in: K. Backhaus/G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese, BThSt 86, Neukirchen-Vluyn 2007, 97–130. Laut Häfner stellt das historische Plausibilitätskriterium keinen Fortschritt dar, um eine Kontinuität zwischen Jesus und dem ersten Christentum nachzuzeichnen (127). 62 J. R, Art. Jesus Christus I.1 Jesus von Nazareth, RGG4 4 (2001) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 463–467, 465. T, Zwischen Skepsis und Zuversicht (s. Anm. 61), geht den Gründen für die Instabilität in der historischen Jesusforschung nach, die über Jahrzehnte hin „zwischen Skepsis und Zuversicht oszillierte“ (14). 63 K. W, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013, 215, beurteilt die Bemühungen der neuerlichen historischen Forschung mit theologischem Anspruch skeptisch. Im Ergebnis sei mittels der third quest gegenüber der Jesusforschung, deren Ende bereits 1905/06 Albert Schweitzer formuliert hatte, kein substantieller Fortschritt erzielt worden. H, Jesusforschung (s. Anm. 54), fragt zu Recht, was mit einer historischen Rekonstruktion des historischen Jesus gewonnen ist, denn auch diese bliebe ja „Konstruktion“, während das „Ereignis selber […] unaufhebbar vergangen“ ist (52). Auch „der Historiker [tritt] in die Reihe der Interpreten ein, die das zugrunde liegende Ereignis seit dem Moment seines Geschehens als Wirkung auf sich wahrnehmen“ (52–53). Daraus folgen zwei Konsequenzen: 1. Die Einsicht in die „grundsätzliche Unmöglichkeit des objektiven Zugriffs auf das gesuchte historische Moment. 2. Daraus ergibt sich als Aufgabe die „Nachzeichnung der stattgefundenen […] Interpretationsprozesse“ (53). Das „je neu zu findende Kerygma [hat] […] sich nicht dem historisch gar nicht zu eruierenden Jesus gegenüber zu verantworten […], sondern der breiten Wirkungsgeschichte [gegenüber], die diese endgültig verlorene historische Person ausgelöst hat“ (55).

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logie auf dieser Ebene und vollzieht gegenüber den Bultmannschülern lediglich eine historische Binnendifferenzierung. In der theologischen Sache schreibt sie die implizite Abkehr der Bultmannschüler von Bultmanns Distanzierung gegenüber der Liberalen Theologie fort. Gegenüber einer historischen Verankerung der Christusverkündigung zielt Bultmanns Formulierung auf deren theologische Grundlegung. Bultmann bleibt hierin dem von Johann Philipp Gabler stark gemachten und auf Gotthold Ephraim Lessing zurückführenden Grundsatz verpflichtet, demzufolge „zufällige Geschichtswahrheiten … der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden [können]“64. In der Sache ist der Einleitungssatz von Bultmanns Werk das zentrale Bekenntnis zu einer inkarnationstheologischen Fundierung der Theologie des Neuen Testaments. Die Christologie wird auf den irdischen Menschen Jesus bezogen. Das verleiht ihr ihren Haftpunkt in der Geschichte. Über diese eine Feststellung hinaus wird sie nicht durch weitere Eigenschaften präjudiziert und in methodischer Hinsicht auch nicht an die jeweils aktuellen historischen Erkenntnisse, die über die Person Jesu vorliegen, gebunden.65 Um die Bedeutung von Bultmanns Verständnis vom Daß des Gekommenseins Jesu zu ermessen, ist es notwendig, sich bewusst zu machen, dass in ihm eine Denkbewegung der philosophischen Ontologie nachklingt.66 In der aristotelischen Metaphysik67 wird unterschieden zwischen dem Seienden „unter dem Aspekt seiner Herkunft“ und dem „auf sich selbst bezogene[n] Seiende[n]“.68 Ersteres bezieht sich auf das Seiende als solches in Bezug auf seinen Ursprung, das zweite behandelt das, „was sich in der Blickrichtung [‘Perspektive’] des Betrachters ereignet und den Gegenstand selbst unberührt läßt“.69 Diese Binnendifferenzierung bei der Behandlung des Seienden unterscheidet zwischen einem Seienden als solchem, das keiner weiteren Bestimmung unterliegt, und einem Seienden, zu dem bestimmte Akzidenzien gehören. Das erste und ursprunghafte Seiende be-

64 G.E. L, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. W. Barner u.a., Band 8: G.E. Lessing, Werke 1774–1778, hg. v. A. Schilson, Frankfurt a.M. 1989, 437–445, 441. 65 Erkenntnisleitend ist für Bultmann dabei die Überzeugung von der Unableitbarkeit der Verkündigung aus historischen Erkenntnissen. Vgl. R. B, Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel und K.W. Müller, Tübingen 1984, 152: Für das Wort der Verkündigung ist also keine andere Legitimation zu fordern und keine andere Basis zu schaffen, als es selbst ist.“ Der Hinweis auf diese Aussage stammt von H, Rudolf Bultmann (s. Anm. 55), 207. 66 Zur Berührung Bultmanns mit Heideggers Daseinsontologie vgl. H, Rudolf Bultmann (s. Anm. 55), 203–206. 67 Laut Aristoteles untersucht „eine Wissenschaft vom Sein als solchem […] einerseits im Sinne einer universalen Ontologie die allgemeinsten Strukturmerkmale und Prinzipien von allem, was ist, und bezieht sich andererseits auf das dem Sein nach Selbständige“. Siehe H. F, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, München 22013, 220. 68 C.-F. G, Philosophie der Antike. Eine Einführung, Darmstadt 41996, 69. 69 G, Philosophie (s. Anm. 68), 70.

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steht für sich und bedarf keiner weiteren Explikation. Das zweite hingegen steht in innerem Bezug zum ersten und hätte keinen Bestand ohne dieses.70 Anders formuliert gehört zu den Grundsätzen der Ontologie die Unterscheidung zwischen dem Da-Sein und dem So-Sein. Das Da-Sein wird im Rahmen der Ontologie nicht prädiziert. Auch erhält es keine Attribute. Das Da-Sein wird als pures Da-Sein vorausgesetzt und nicht expliziert. Das So-Sein wiederum besteht aus den aspektiven Aneignungen des Seins und den Bezugnahmen auf das Sein. Im So-Sein meldet sich das Da-Sein, ohne doch mit ihm identisch zu werden.71 Mit dieser Differenzierung wird verhindert, dass das Da-Sein durch die Formulierungen des So-Seins vereinnahmt wird. Zugleich verhindert das Da-Sein, dass die Explikationen des So-Seins sich in konstruktivistischer Freiheit verselbstständigen. Sie stehen unter der Notwendigkeit des Rückbezugs auf das Da-Sein als eines Fixpunktes, der sich gleichzeitig dem Zugriff entzieht. Für die Ontologie bedeutet das: Das Sein geht nicht in den diversen Ausprägungen des So-Seins auf, sondern die Vielfalt des So-Seins basiert auf einem „Da-Sein“.72 Im philosophischen Diskurs zwischen 1945 und 1960 findet parallel zur Theologie ein analoges Nachdenken über die Phänomenologie der Wahrnehmung73 statt. Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty fordert in seinem posthum erschienenen Buch über Das Sichtbare und das Unsichtbare, „daß man die Unterscheidung zwischen that und what, zwischen Wesen und Existenzbedingungen, neu überdenkt“.74 70 Vgl. G, Philosophie (s. Anm. 68), 71. „Das sekundäre, akzidentelle Seiende – nach Aristoteles Gegenstand der ‘Wissenschaft’ – erhält seine eigentliche Bedeutung durch das primär (substantial) Seiende“, G, Philosophie (s. Anm. 68), 73. 71 Bei Aristoteles bleibt das „to´de ti (Dieses) […] ähnlich der platonischen Idee der unerkennbare und absolute Beziehungspunkt aller Begriffe […]. Als prinzipiell Unerreichbares markiert es den Endpunkt jeder sachlichen Erörterung des Seins, dessen ‘Wesen’ das ursprüngliche Sein bezeichnen würde, wie es sich im Wechsel des Geschehens erhält.“ G, Philosophie (s. Anm. 68), 74. 72 Vgl. W. W, Art. Ontologie, RGG3 IV, 1960 (Ungekürzte Studienausgabe 1986), 1632–1635, 1634; G, Philosophie (s. Anm. 68), § 8 Die aristotelische Metaphysik, 69–79, hier 69–74. Vgl. auch P.-G. K, Gott – bewusst gemacht oder bewusstgemacht? Eine theologische Rückmeldung zu Konstruktivismus und Neuem Realismus, in: E. Felder/A. Gardt (Hg.), Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative, Berlin/Boston 2018, 146–161, 150. Dazu sowie zu einem möglichen unterschwelligen Einfluss Schopenhauers auf das Denken Bultmanns vgl. K, Neutestamentliche Debatten (s. Anm. 48), 127–132 und 132–139: „Arthur Schopenhauer: Subkutane Nachwirkung“. 73 M. M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von R. Boehm, Berlin 1966 (Photomechanischer Nachdruck 1974) (Französische Originalausgabe 1945). 74 M. M-P, Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von C. Lefort, aus dem Französischen von R. Giuliani und B. Waldenfels, München 21994 (Französische Originalausgabe 1964), 47. Merleau-Pontys Forderung zielt darauf, dass „man sich zurückbezieht auf unsere Erfahrung der Welt, die dieser Unterscheidung vorausliegt“ (47).

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Bezogen auf die Debatte um die Bedeutung Jesu für die Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments folgt aus diesen Überlegungen die Einsicht, dass die diversen Jesusbilder, angefangen bei den Evangelien und deren Überlieferungen, ungeachtet ihres konstruktiven Charakters, einen Wirklichkeitsgrund besitzen, auf den sie sich beziehen – eben das Daß des Gekommenseins Jesu. An diesem Fixpunkt sind die unterschiedlichen Konstruktionen aufgehängt. Das Da-Sein Jesu, so die christianisierte Aneignung des ontologischen Gedankens, gibt die realistische Basis für die divergierenden im konstruktivistischen Verfahren entwickelten Jesusbilder bzw. Christologien ab. Wenn man, wie es in der Nachfolge Bultmanns gegen dessen erklärten Willen geschehen ist,75 das Daß durch ein Was und Wie76 erweitert – wie es von Ernst Käsemann bis zur third quest77 geradezu selbstverständlich geschieht – ignoriert man die philosophische Ausgangslage. Faktisch wird in der historischen Jesusforschung das Da-Sein in den Sog des So-Seins gezogen. Auf diese Weise übernimmt der konstruktivistische Ansatz die Herrschaft über die realistische Basis des Gedankens. Möglich wird dies durch die Historisierung der philosophischen Grundlage, die bei Bultmann im Dienst eines theologischen Realismus gestanden hat. In der Sache wird damit die Alleinherrschaft des Konstruktivismus in der christologischen Grundlegung der Theologie angebahnt. Bultmanns Widerstand gegen seine eigenen Schüler erfolgt also – für manche angesichts der hohen Bedeutung des funktionalen Charakters der Christologie bei Bultmann vielleicht überraschend – im Interesse des Festhaltens an einem Realismus im theologischen Kern. Demgegenüber befördert die Kritik Käsemanns, Conzelmanns, Ebelings und mit ihnen die eines Großteils der neuen historischen Jesusforschung in der Sache den Alleingeltungsanspruch des Konstruktivismus in der Christologie – vermutlich weitgehend unbewusst. Anders gesagt: Die Kritiker ersetzen den theologischen Realismus, der der Christologie bei Bultmann zugrunde liegt, durch einen historischen Relativismus. Sie transponieren das christologische Theologumenon auf eine geschichtswissenschaftliche Grundlage und machen den theologisch-realistischen Kern historisch-konstruktivistischer Bearbeitung zugänglich. Das unverfügbare theologische Moment wird zum historisch bearbeitbaren Phänomen umdeklariert. Die third quest stellt die Fortsetzung des durch Käsemann eröffneten Diskurses über die historischen Voraussetzungen des bultmannschen Daß dar. Sie pro-

75 Vgl. die Auseinandersetzung mit seinen Schülern in B, Christusbotschaft (s. Anm. 57), 450.468. 76 K, Sackgassen (s. Anm. 55), 34. 77 Die Selbstbegrenzung auf einen ausschließlich historischen Zugang unter Ausblendung der philosophischen Vorentscheidungen und theologischen Konsequenzen hat die Debatte, die ursprünglich um die Basis der Christologie ging, zu einer religions- und kulturgeschichtlichen Diskussion um die Stellung Jesu innerhalb des Judentums seiner Zeit umgeschmolzen. Hier wird in der Regel weder über die eigenen philosophischen Voraussetzungen noch über die theologische Bedeutung der rein historischen Einsichten reflektiert.

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

blematisiert die Entkontextualisierung der Jesusfigur unter dem Einfluss des Differenzkriteriums. Durch ihre Neujustierung der historischen Methodik gelangt sie zu einer Präzisierung der historischen Zuschreibungen. Jesus als historische Persönlichkeit wird nun an seinem historischen Ort als Vertreter des Judentums seiner Zeit wahrgenommen.78 Der für Bultmann zentrale theologische Ausgangspunkt – die Differenzierung zwischen einem theologischen und einem historischen Zugriff auf die Wirklichkeit – ist im Rahmen dieser Entwicklung aus dem Blick geraten. Fazit: In Bultmanns Pointierung des schieren Daß schwingt eine theologischphilosophische Grundentscheidung mit, die in den Diskussionen um die Bedeutung des historischen Jesus für Bultmanns Ausarbeitung der Theologie des Neuen Testaments weitgehend unbeachtet geblieben ist. In dem von Bultmann gewählten Einstieg geht es um das Verhältnis von Konstruktivismus und Realismus79 bei der Bestimmung des theologischen Gegenstandes. Es handelt sich um das Problem der sachgemäßen Bestimmung, wie von Gott jenseits menschlich konstruierender Vorstellungen und metaphysisch behauptendem Realismus zu sprechen ist. Anders formuliert handelt es sich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Greifbarkeit und der Entzogenheit des theologischen Gegenstandes. 1.2.3.2 Neuer Realismus vs. etablierter Konstruktivismus In der Philosophie meldet sich seit einigen Jahren eine Richtung unter der programmatischen Bezeichnung Der neue Realismus zu Wort. In ihr werden traditionelle ontologische Denkvoraussetzungen in neuer Weise wieder zur Sprache gebracht. An der Spitze der Bewegung stehen in Deutschland Markus Gabriel80

78 Vgl. die pointierte Kritik von C. M, Die Tempelaktion Jesu. Patristische und historisch-kritische Exegese im Vergleich, WUNT 2/168, Tübingen 2003, 258–263. Sie konstatiert, dass die historisch-kritische Jesusforschung seit dem 19. Jahrhundert „an die Stelle des Christusdogmas das Jesusbild der entsprechenden Zeit“ (258) stellte. Während das christologische Interesse der Alten Kirche am „,historischen Jesus‘“ darauf zielte, „den Durchblick zum inkarnierten Logos [zu] erhellen, dessen Erkenntnis Heil für die Menschen bedeutet“ (261), zeichnete die aufgeklärte Jesusforschung ein eher mattes Jesusbild. Statt seiner εÆ ξουσι α sei Jesus lediglich charismatische Ausstrahlung zugeschrieben worden, das 19. Jahrhundert erklärte ihn zum kultkritischen „Reformator“ und das 20. Jahrhundert konzentrierte sich auf Jesus als Juden (258). Vgl. die Darstellung bei P.-G. K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung. Der Beitrag der synoptischen Evangelien, ThLZ 143 (2018), 859–872, 859–860. 79 Vgl. U. M, Einführung in die Ontologie, Kap.I.1 Was ist Ontologie?, Darmstadt 2004, 9–16. 80 M. G, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2015; M. G, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Der Neue Realismus, Berlin 22015, 8–16; M. G, Der Neue Realismus zwischen Konstruktion und Wirklichkeit, in: E. Felder/A. Gardt (Hg.), Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative, Berlin/Boston 2018, 45–65.

1.2 Die Historisierung der Theologie

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und in Italien Maurizio Ferraris81. Der sog. neue Realismus versteht sich als Angriff auf den Konstruktivismus der Postmoderne. Er ist aus der „Zurückweisung“82 des linguistic turn hervorgegangen. Gegenüber der Allgegenwärtigkeit des Konstruktivismus und seinem Alleinerklärungsversuch der Wirklichkeit dringt der Neue Realismus darauf, die feststehenden Grundlagen der Wirklichkeit jenseits ihrer konstruktivistischen Aneignung zur Kenntnis zu nehmen. In der Sache geht es nicht um ein entweder – oder zwischen Realismus und Konstruktivismus. Die konstruktivistischen und partikularen Zugänge zur Wirklichkeit sollen primär durch den Bezug auf die Realität, die den konstruktivistischen Aneignungen vorgegeben ist, erweitert werden. Der neue Realismus beabsichtigt, den Zwischenraum zwischen Metaphysik und Konstruktivismus mit einer „neuen Ontologie“83 zu füllen. Wirklichkeit soll laut Gabriel weder wie in der Metaphysik als eine Welt ohne Zuschauer noch wie im Konstruktivismus als eine Welt der Zuschauer verstanden werden. Die vom neuen Realismus in den Blick genommene Welt gehört in den Zwischenbereich einer Welt mit Zuschauern.84 Welt bezeichnet in diesem Zusammenhang eine überschießende Größe, die mehr als die Summe aller denkbaren Einzelwelten umfasst.85 Dieser Weltbegriff ist insofern theologisch anschlussfähig, als er in die Nähe des theologischen Redens von Gott rückt. Ähnlich wie für den offenen Weltbegriff gilt auch im Blick auf die Rede von Gott: Gott ist stets mehr als das, was von ihm ausgesagt werden kann. Paul Tillich hat mit der Wendung vom Gott über Gott einen Ausdruck formuliert, der einer Versteinerung im Begrifflichen entgegenwirkt und die Offenheit des Gottesgedankens sichert.86 Der Weltbegriff des neuen Realismus wie das Gottesverständnis in der Theologie besitzen ihre Parallele darin, dass es ihnen auf den Verweischarakter aller Aussagen über die Wirklichkeit ankommt. Offengehalten

81 M. F, Manifest des neuen Realismus. Aus dem Italienischen von M. Osterloh, Schriftenreihe des Käte Hamburger Kollegs „Recht als Kultur“ Band 6, Frankfurt a.M. 2014. 82 M. G, Was ist (die) Wirklichkeit? In: M. Gabriel/M.D. Krüger, Was ist Wirklichkeit? Neuer Realismus und Hermeneutische Theologie, Tübingen 2018, 63–117, 74. 83 G, Warum es die Welt nicht gibt (s. Anm. 80), 16. 84 G, Warum es die Welt nicht gibt (s. Anm. 80), 15. „Wirklichkeit ist Existenz, das heißt Erscheinung in einem Sinnfeld.“ G, Was ist (die) Wirklichkeit? (s. Anm. 82), 96, zitiert M. G, Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie, Berlin 22016, 285. 85 G, Warum es die Welt nicht gibt (s. Anm. 80), 20–21: Die „Welt im Ganzen […] gibt es ebenso wenig wie einen Zusammenhang, der alle Zusammenhänge umfasst“. Vgl. auch M. G, Existenz realistisch gedacht, in: Ders. (Hg.), Der Neue Realismus, Berlin 2 2015, 171–199, 197–198. Ähnlich G, Was ist (die) Wirklichkeit? (s. Anm. 82), 104: „so etwas wie ein allumfassendes Sinnfeld, einen vereinheitlichenden Gegenstandsbereich aller legitimen Untersuchungen, [gibt es] gar nicht“. 86 P. T, Der Mut zum Sein. Mit einem Vorwort von C. Danz, Berlin/München/ Boston 22015, 126–129. Den Hinweis auf die Formulierung Tillichs verdanke ich Christoph Schneider-Harpprecht.

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

wird ein Raum, der jedem letztgültigen Zugriff entzogen bleibt.87 Insofern trägt das Weltverständnis des neuen Realismus Züge einer Theologie ohne Gott.88 Philosophie- und theologiegeschichtlich betrachtet fand die antike Ontologie mit der Aristoteles-Rezeption in der Scholastik des Hochmittelalters verstärkt Eingang in die christliche Gotteslehre. Thomas von Aquin verknüpfte die jüdisch-christliche Gottesvorstellung mit dem ontologischen Erbe der griechischen Philosophie. Er erklärte Gott zum sub-iectum der Wirklichkeit, zu dem Darunterliegenden.89 Gott wird zum Grund des Seins. Der in sich geschlossenen antiken Kosmologie wird damit ein Gottesgedanke zur Seite gestellt, der die jüdischchristliche Vorstellung von Gott als einem Gegenüber zur Welt zur Geltung bringt. Auf diese Weise war die Grundlage für die Weiterentwicklung des Gottesgedankens während der Reformationszeit geschaffen. Martin Luther erhöhte das Gewicht der biblischen Voraussetzungen gegenüber den Vorgaben der griechischen Ontologie. Konkret verschob er den Ausgangspunkt beim Reden von Gott. Statt das Verhältnis zwischen Gott und Mensch von den zwei Polen: hier Gott – dort der Mensch, also in den Bahnen ontologischen Denkens, zu bestimmen, setzte Luther bei der Beziehung zwischen Gott und Mensch an. Die Relationierung selbst wurde zum Ausgangspunkt der Denkbewegung.90 Der Dreh- und Angelpunkt des Redens von Gott liegt in der kommunikativen Ausgangssituation. Wenn Gott die alles bestimmende Wirklichkeit ist, gibt es keinen Standpunkt außerhalb Gottes, von dem aus sich über Gott reden ließe. Der theologisch adäquate Zugang ist das Reden zu Gott. Das heißt, Gott als Gott erschließt sich in einer glaubenden Beziehung. Weder sind die Gott betreffenden Vorstellungen, Bilder und Aussagen bewusstseinsungebunden, noch ist Gott das Produkt einer menschlichen Bewusstseinsleistung. Wäre es anders, 87 Unter Bezug auf I.U. D, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 467, spricht M. P, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? Fundamentaltheologische Überlegungen im Spannungsfeld zwischen Konstruktivismus und Neurobiologie, in: A. Klein/U.H.J. Körtner (Hg.), Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt? Herausforderungen konstruktivistischer Ansätze für die Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 129–145, 143, vom „Transzendierungsmoment als spezifische[r] Konstruktionsstruktur religiöser Gott-Rede“. 88 Ausführlicher entfaltet bei K, Gott – bewusst gemacht oder bewusstgemacht? (s. Anm. 72), hier 147–149. 89 Vgl. C. S, Art. Theologie, RGG4 8 (2005) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 255–306, 260. 90 C. S, Art. Gott V. Dogmatisch, RGG4 3 (2000) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 1113–1126, 1116: „Die reformatorische Theol. Luthers knüpfte in vieler Hinsicht philos. an der ockhamistischen Philos. an, leitete aber einen Paradigmenwechsel von der Kausalität zur Kommunikation, von Gott als der ersten Ursache zum Wort Gottes ein, von der Konzentration auf das Verhältnis zw. Schöpfer und Seinsordnung auf das soteriologische Thema der Theol.: ,subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator‘.“ Vgl. K, Gott – bewusst gemacht oder bewusstgemacht? (s. Anm. 72), 150–152.

1.2 Die Historisierung der Theologie

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ginge im ersten Fall der Mensch als Mensch und im zweiten Fall Gott als Gott verloren.91 Innerhalb des relationalen Gottesverhältnisses agiert der Mensch als Deutender, Redender, Auslegender. Er tritt als aktives Erkenntnissubjekt in den Blick. Gleichzeitig ist er im Rahmen der Gottesbeziehung der Angeredete, Hörende und verstehend Antwortende. In einer heilsamen Passivität ist er Reagierender. Er ist zugleich Interpretierender wie Interpretierter. Diesen Charakter der Objektwerdung des Menschen, die unter göttlicher Perspektive erfolgt, bestimmt der Glaube soteriologisch. In seinem Bestimmtwerden widerfährt dem Menschen Heilsames. Der Unterschied zwischen einer außerchristlichen Ontologie und einem Wirklichkeitsverständnis aus der Sicht des christlichen Glaubens besteht darin, dass die philosophische Ontologie von einer kalten und sinnfreien Realität spricht – sofern sie nicht in Metaphysik hinübergleitet. Für die Wahrnehmung des Glaubens ist Wirklichkeit der Ort der Begegnung mit einer unableitbaren Gnade, der Raum, in welchem dem Menschen die Zuwendung Gottes entgegentritt. Die Debatte um die Leistungsfähigkeit des Konstruktivismus bzw. des Realismus im Blick auf die Erfassung der Wirklichkeit erfolgt strukturell unter den gleichen Bedingungen, die auch für die innerchristliche Selbstverständigung im Blick auf das Reden von Gott bedeutsam ist. Jeweils geht es um die Einschätzung, wie weit die menschlichen Möglichkeiten der Wirklichkeitserfassung gehen und welcher Bewertung der Bereich unterliegt, der sich der Erfassbarkeit entzieht. Während die philosophische Denkbewegung unter der Voraussetzung eines starken selbstbewussten Subjekts agiert, stellt der Zugang des christlichen Glaubens eben diese exklusive Stellung des Subjekts im Erkenntnisprozess in Frage. Die Wahrnehmung der Begrenztheit menschlicher Erkenntnismöglichkeit, die Einsicht in die dialogische Grundsituation des Lebens im Glauben und das Vertrauen auf die soteriologische Erfülltheit der Wirklichkeit charakterisieren die Gott-Mensch-Beziehung. Im Unterschied zu einer gottfreien Ontologie richtet sich Glaube auf eine gottbezogene Wirklichkeit, die dem Menschen heilsam entgegentritt.

91 R. B, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 81980 (ursprünglich 1925), 26–37, unterscheidet mittels unterschiedlicher Präpositionen drei Annäherungsweisen: Das Reden „über“, „aus“ und „von“ Gott. Das Reden über Gott scheidet als Möglichkeit aus, weil es keinen Standpunkt außerhalb Gottes als der alles bestimmenden Wirklichkeit gibt. Das Reden aus Gott ist deshalb ausgeschlossen, weil kein Mensch in die völlige Gotteinheit gelangen kann, in der er in ungebrochener Identität und Übereinstimmung mit Gott steht. Bleibt das Reden von Gott. Es markiert die Zwischenposition. Einerseits ist das Reden von Gott eine bewusstseinsgeleitete Außenbestimmung. Andererseits meldet sich darin Gott als „das ,ganz Andere‘“ (28) an. Das Reden von Gott erzwingt das Verlassen der betrachtenden Außenperspektive und erfordert das gleichzeitige Reden des Menschen von sich selbst. In einer solchen Wechselbeziehung rückt der Mensch in die Außenwahrnehmung Gottes ein. Er bleibt erkennendes Subjekt. Gleichzeitig wird er zum erkannten Objekt.

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

Im Grundsatz bestimmen die beschriebenen Verhältnisbestimmungen die seit den 1950 Jahren geführten Diskussionen um das Verhältnis zwischen dem historischen Jesus und der Christusverkündigung der nachösterlichen Gemeinde. Wie das Reden von Gott gehört auch das Christuskerygma in den Bereich des Denkens, welcher ohne konstruierendes menschliches Bewusstsein nicht erfasst wird und der zugleich nicht darin aufgeht. An der zentralen Frage nach dem adäquaten Zugang im Reden von Gott wird deutlich: Der Konstruktivismus, ohne den kein Gedanke und kein Begriff im Blick auf Gott zu formulieren wäre, gelangt an seine Grenze, wo sein Reden von Gott in blanke Projektion umzuschlagen droht. Der für das theologische Reden unverzichtbare Realismus, der in dem Gedanken des Entzogenseins Gottes wie in der heilvollen Christusverkündigung steckt, steht seinerseits unter dem Risiko, in unkontrollierbare Metaphysik umzuschlagen. Malte Dominik Krüger unterscheidet in der Realismus-Debatte vier Positionen: 1. den Metaphysischen Realismus, 2. den Antirealismus, 3. den Relativismus und 4. den Internen Realismus. Die Grundlage des Metaphysischen Realismus besteht in dem Postulat: „Die Wirklichkeit existiert unabhängig von unserem Verstehen.“92 In diesem Ansatz werden „[d]ie Wirklichkeit und ihr Verstehen […] voneinander getrennt“.93 Demgegenüber setzt der Antirealismus auf die Dominanz des Verstehens. Wirklichkeit wird damit „letztlich eine erkenntnistheoretische Größe. Die Wirklichkeit fällt am Ende mit unserem Verstehen zusammen“.94 Für den Relativismus ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und ihrer Erfassung nicht abschließend zu klären. Sie bleibt angesichts widerstreitender Behauptungen letztlich offen.95 Der Interne Realismus formuliert eine Art Königsweg jenseits einseitiger Optionen oder der Annahme der Unentscheidbarkeit der Problematik. Er „versucht, den realistischen Aspekt, dass die Wirklichkeit nicht bloß unser Konstrukt ist, und den epistemischen Aspekt zusammenzuhalten, dass wir es sind, die Wirklichkeit verstehen. Der Interne Realismus besagt: Die Aussage über Wirkliches bezieht sich auf Wirkliches, das von dieser Aussage unterschieden ist. Doch unabhängig von seiner Aussage ist Wirkliches nicht zu erfassen. Daher ist in der Aussage selbst zwischen der Wirklichkeit und ihrer Aussage zu unterscheiden. Damit will der Interne Realismus verhindern, dass – wie im Metaphysischen Realismus – die Wirklichkeit gleichsam in ein unbegreifliches Jenseits abwandert oder – wie im Antirealismus – mit ihrer Thematisierung differenzlos zusammenfällt.“96

92 M.D. K, Die Realismus-Debatte und die Hermeneutische Theologie, in: M. Gabriel/M.D. Krüger, Was ist Wirklichkeit? Neuer Realismus und Hermeneutische Theologie, Tübingen 2018, 17–62, 26. 93 K, Realismus-Debatte (s. Anm. 92), 27. 94 K, Realismus-Debatte (s. Anm. 92), 29. 95 Vgl. K, Realismus-Debatte (s. Anm. 92), 30–32. 96 K, Realismus-Debatte (s. Anm. 92), 32. Krüger befragt auch diese Position auf ihre mögliche Grenze: „Ist der Interne Realismus nicht bloß eine Wunschposition? Denn die

1.2 Die Historisierung der Theologie

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Bultmanns Insistieren darauf, dass die Christusverkündigung nicht abhängig ist von den Aussagen, die der historische Jesus getätigt hat, ist Ausdruck der Verweigerung gegenüber einer Festlegung der Christusverkündigung auf eine konkrete, historisch fassbare menschliche Vorgeschichte. Die Pointe zielt nicht auf die Distanzierung von der Zugehörigkeit Jesu zum Judentum. Sie richtet sich darauf, die Selbstwirksamkeit des Kerygmas frei von einer konkreten Deutung, die sich aus der Vorgeschichte des Lebens Jesu ergibt, zu halten. Für Bultmann liegt die Pointe bei der theologischen Unableitbarkeit des Heilsgeschehens. Anzunehmen ist, dass bei ihm die ontologische Grundunterscheidung zwischen dem Da-Sein und dem So-Sein durchschlägt.97 Theologisch beurteilt sind die historisch motivierten Bestrebungen Käsemanns, Conzelmanns, Ebelings und der neueren Jesusforschung als Versuche zu bewerten, den Raum der konstruierenden Deutung gegenüber dem Realismus des aus sich selbst heraus wirksamen Heilsgeschehens zu vergrößern. Sie binden das So-Sein der Christusverkündigung an das Da-Sein der Überlieferung vom historischen Jesus. Damit machen sie in Teilen das theologisch unableitbare Heilsgeschehen, die Verkündigung von Jesus Christus, von einer historisch bestimmten Grundlage abhängig und verdrängen die nicht hintergehbare theologische Perspektive.

Aussage ,In meinem Verstehen beziehe ich mich auf etwas Wirkliches, das nicht in diesem Verstehen aufgeht‘ ist selbst wieder meinem Verstehen geschuldet bzw. nur durch mein Verstehen für mich zugänglich. Also: Wie kann unser Verstehen sich selbst so begrenzen, dass es diese Grenze nicht immer schon heimlich überschritten hat? Das ist eine entscheidende Frage.“ K, Realismus-Debatte (s. Anm. 92), 32/33. Krüger rührt damit an die Grenze zwischen philosophischer und theologischer Wirklichkeitserfassung. Unter theologischem Zugang zeigt sich die Reichweite menschlichen Erkenntnisvermögens in einem anderen Licht, als es einer philosophisch-erkenntnistheoretischen Selbstklärung und unter anthropologischer Perspektive möglich ist. Vgl. dazu K, Gott – bewusst gemacht oder bewusstgemacht? (s. Anm. 72), 157–158. 97 Während B, No quest? (s. Anm. 47), 141, die Tatsache, dass Bultmann „ausschließt, eine inhaltlich bestimmte Grundlage des Handelns zu beschreiben“ als „das eigentliche Problem der Theologie Bultmanns“ bezeichnet, liegt m.E. darin gerade die zwingende Konsequenz dieses Ansatzes. Zu Recht allerdings verweist B, No quest? (s. Anm. 47), 141 Anm. 102, unter Hinweis auf C. L, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, WUNT 113, Tübingen 1999, 316–323, und M. W, Unmetaphysische Metaphysik. Was kann die Religionsphilosophie von dem Heidegger nach der „Kehre“ lernen?, ThPh 82 (2007), 174–185, auf den Einfluss des Wahrheitsverständnisses Heideggers auf Bultmann. Hier liegt der Ursprung für die ontologisch anschlussfähige Denkfigur Bultmanns. Theologisch geht es um die Frage der Anknüpfung der Offenbarung.

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

1.3 Die synoptischen Evangelien in theologischer Wahrnehmung 1.3.1 Der verkündigte Jesus als christologischer Inhalt Angesichts der Fokussierung auf die Verkündigung Jesu in der Liberalen Theologie und der Hervorhebung der Christusverkündigung, wie sie Bultmann in Weiterführung des Erbes der Dialektischen Theologie vornimmt, unterbreitete Willi Marxsen im Blick auf die synoptischen Evangelien einen Vermittlungsvorschlag, der freilich kaum Beachtung fand.98 Harnack, dessen Name bei Marxsen als Chiffre für einen bestimmten Aspekt liberaltheologischer Jesusforschung steht, habe den historischen Jesus als Verkünder und Bringer des Evangeliums vom Reich Gottes präsentiert. Jesus gelte ihm als der Träger einer auf Gott bezogenen nicht-christologischen Predigt. Diese Auffassung reduziert laut Marxsen die Person Jesu auf die historisch rekonstruierten Inhalte seiner Predigt. Für die liberaltheologische Position sei entscheidend, was Jesus gesagt habe. Was er nach Darstellung der Evangelien getan habe, bleibe dagegen von untergeordneter Bedeutung. Damit lege die Liberale Theologie alles Gewicht auf die vorösterliche Phase der Verkündigung Jesu. Die Christologie, die Ostern zur Voraussetzung hat, gilt Harnack als Überfremdung der Verkündigung Jesu. Im Unterschied zu Harnack hat Bultmann unter dem Einfluss der Dialektischen Theologie den christlichen Glauben nicht in der Verkündigung Jesu, sondern in der Verkündigung der Urgemeinde begründet gesehen. „Erst mit dem Kerygma der Urgemeinde also beginnt das theologische Denken, beginnt die Theologie des NT.“99 Damit hat Bultmann die Evangeliumsverkündigung von der Predigt Jesu abgezogen. Die Verkündigung von Jesus Christus beinhaltet eine personale Christologie. Das Christuskerygma besitzt seinen Inhalt in dem Glauben an Jesus Christus als Person. Dieser Darlegung Bultmanns hält Marxsen entgegen, sie verenge den Kerygma-Begriff. Die exklusive Reservierung des Kerygmas für die nachösterliche Christusverkündigung verkenne den Verkündigungscharakter der Jesusdarstellung in den synoptischen Evangelien. Sie mindere die Verkündigung Jesu zu einer Vorstufe, zur „geschichtlichen Voraussetzung“100 der späteren christologischen Explikation herab. Mehr noch: Nach Bultmann hat sich „das Kerygma […] an die Stelle des historischen Jesus gesetzt“.101 „Aus dem Verkündiger ist der Verkündigte geworden.“102

98 Vgl. W. M, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums, in: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 53–58. 99 B, Theologie des Neuen Testaments (s. Anm. 46), 2. 100 B, Theologie des Neuen Testaments (s. Anm. 46), 2. 101 B, Christusbotschaft (s. Anm. 57), 468. 102 B, Theologie des Neuen Testaments (s. Anm. 46), 35. Vgl. dazu C. L, Art. Theologie des Neuen Testaments, in: Ders. (Hg.), Bultmann Handbuch, Tübingen 2017, 291–300, 294.

1.3 Die synoptischen Evangelien in theologischer Wahrnehmung

37

Bultmann schwor in der Akademieabhandlung von 1960 seine Schüler noch einmal auf sein Diskontinuitätsmodell ein. Demzufolge bedeutet Ostern einen Bruch. Es markiert den Umschwung vom historischen Jesus zum verkündigten Christus. Hinter Bultmanns von seinen historisch argumentierenden Kritikern gelegentlich als starrsinnig empfundenem Insistieren auf der Diskontinuität zwischen dem Wirken des historischen Jesus und der nachösterlichen personalen Christusverkündigung stand ein weiteres Mal ein theologisches Motiv. Wieder ging es ihm darum, die Abgrenzung von der Liberalen Theologie zu sichern. Gegenüber deren Desinteresse an der durch das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu Christi eingeleiteten christologischen Dimension des christlichen Glaubens untermauerte Bultmann die Bedeutung von Ostern als der Initialzündung für den christlichen Glauben. In der Theologengeneration der 1950er und 1960er Jahre hatte diese grundlegende theologische Identitätsfrage mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende der Liberalen Theologie an Brisanz verloren. Das Augenmerk hatte sich auf die Frage einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Kontinuität und Diskontinuität zwischen der vorösterlichen Phase des irdischen Jesus und der nachösterlichen Zeit der Christusverkündigung verschoben. An die Stelle des theologischen Statements, wie es Bultmann mit seiner Positionierung vornahm, war eine unter historischem Aspekt zu behandelnde exegetische Fragestellung geworden. Marxsen führte in dieser Situation ein Kontinuitätsmodell in die Debatte ein. Nach seiner Sicht begegnet Jesus in den synoptischen Evangelien und insbesondere bei Markus keineswegs ausschließlich in der Rolle des Verkündigers. Vielmehr wird er durch die Art, wie der Evangelist ihn in seinem Verkündigungswirken darstellt, bereits zum Inhalt der Evangeliumsbotschaft. „Als Wirkender wird Jesus verkündigt; und er wird so verkündigt, daß er Menschen zugemutet hat, ihm den jetzigen Einbruch der Königsherrschaft zu glauben, wie er sie inmitten dieser Menschen lebte.“103 In seiner Funktion als Bringer des Evangeliums ist Jesus selbst Inhalt und Gegenstand der Verkündigung, des Kerygmas. Will man das als „implizite Christologie“ bezeichnen, dann heißt das: „nicht […] die Verkündigung Jesu“ impliziert eine Christologie, sondern „sein Verkündigen“104. Jesu Verkündigung wird nicht von ihm als Person gelöst. Damit nimmt Marxsen gegenüber Bultmann eine Vorverlagerung des Kerygma-Begriffs vor. Wenn Bultmann vom Kerygma sprach, meinte er konkret das Christus-Kerygma. In Erweiterung der Sprachregelung Bultmanns prägt Marxsen für die auf die Person des irdischen Jesus gerichtete Verkündigung, wie die synoptischen Evangelien sie zeichnen, den Ausdruck Jesuskerygma. Sowohl die Jesusbilder der synoptischen Evangelien als auch die nachösterliche Christusbotschaft zielten auf Verkündigung. Insofern trete Botschaft neben Botschaft, Kerygma neben Kerygma. Das

M, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 98), 61. W. M, Anfangsprobleme der Christologie, Gütersloh 41966, 35 (Kursivierungen von W.M.). 103

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1 Voraussetzungen einer Theologie der synoptischen Evangelien

setzt allerdings voraus, dass man unter Verkündigung mehr versteht als die Rezitation der Worte Jesu. Die Rede von zwei parallellaufenden Kerygmata hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt. Gleichwohl ist die Einsicht, dass die synoptischen Evangelien nicht einfach den abrupten Umschwung von einer historischen zu einer dogmatischen Phase dokumentieren, unhintergehbar. Sowohl die Darstellung der vorösterlichen Lebensgeschichte Jesu als auch die Schilderung von Begebenheiten nach seiner Auferweckung von den Toten sind Zeugnisse eines glaubenden Bezugs auf Jesus. Sie setzen in sachlicher Hinsicht Ostern voraus und sind von einem Verkündigungsinteresse geprägt. Auch wenn Jesus als Verkündiger dargestellt wird, ist er bereits ein Verkündigter. Die Glaubensperspektive ist stets vorausgesetzt. Für Marxsen bildet sie die Grundlage für den Übergang vom funktionalen Jesuskerygma zum personalen Christuskerygma.105 Jesus als verkündigter Verkündiger106 steht im Zentrum der Vermittlungsabsicht der synoptischen Evangelien.107 Michael Wolter verwendet für das vom Glauben gezeichnete Bild Jesu in den Evangelien den Ausdruck „der irdische Christus“. Damit bringt er auf den Punkt, dass die Darstellung der Jesusgeschichte unter den Voraussetzungen des Christusbekenntnisses und damit unter einer „österliche[n] Perspektive“108 erfolgt. In der Fokussierung auf den verkündigten Jesus resp. den irdischen Christus spiegelt sich bereits eine Entwicklung der Evangelienforschung im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. Diese begann im 19. Jahrhundert mit dem Interesse am verkündigenden Jesus in der Liberalen Theologie. Im Gefolge der Dialektischen Theologie schwenkte das Wahrnehmungsinteresse auf den verkündigten Christus über. In der gegenwärtigen Forschung werden aus beiden Traditionen Impulse aufgenommen und in der Perspektivierung Jesu unter dem Aspekt der Verkündigung bzw. dem der Rezeption in glaubender Wahrnehmung zusammengeführt. Dies geschieht in den erzähltheoretisch begründeten Interpretationen der Evangelien. Es zeigt sich ebenso in den historisch argumentierenden Untersuchungen der third quest, deren erkenntnisleitende Interessen gleichwohl erkennbar sind. Zusammengefasst hat sich vom 19. bis zum 21. Jahrhundert eine Fokusverlagerung vom historischen Jesus über den kerygmatischen Christus zum erzählten Jesus vollzogen.109 105 W. M, Die Auferstehung Jesu als historisches und als theologisches Problem, Gütersloh 41966, 28; vgl. P.-G. K, Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 191–212, 207/208. 106 Vgl. M, Anfangsprobleme der Christologie (s. Anm. 104), 52. 107 Zur ausführlichen Darstellung der Christologie Marxsens im Zusammenhang vgl. K, Markusinterpretation (s. Anm. 105), hier 202–209. 108 Beide Zitate M. W, Jesus von Nazareth, Theologische Bibliothek Band VI, Göttingen 2019, 24. 109 Vgl. K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 8), 48–49. Die Formulierung „der

1.3 Die synoptischen Evangelien in theologischer Wahrnehmung

39

1.3.2 Der Bezug auf den irdischen Jesus Spätestens seit dem Aufkommen der redaktionsgeschichtlichen Betrachtung der synoptischen Evangelien hat sich die Anerkennung der Leistung ihrer Verfasser als theologischer Schriftsteller durchgesetzt. Seither wurde die Theologie aller vier Evangelienschriften in differenzierter und detaillierter Weise wiederholt ausgearbeitet. Auch in den Kontext theologischer Gesamtdarstellungen des Neuen Testaments haben die synoptischen Evangelien mittlerweile längst Eingang gefunden. Damit stellt sich die Frage, welche Berechtigung und gegebenenfalls welchen Mehrwert die Ausarbeitung der Theologie der synoptischen Evangelien in einer auf diese drei Werke begrenzten Monographie besitzt. Die Begründung resultiert aus der Einsicht, dass die synoptischen Jesuserzählungen in einer im Neuen Testament einzigartigen und nur diese drei exklusiv verbindenden Weise ihre Christologie mit einer Darstellung der Lebensgeschichte des irdischen Jesus verwoben haben. Alle drei Synoptiker stellen eine Beziehung zwischen der Gegenwart, in der sie schreiben, und der Lebenszeit des irdischen Jesus her. Für alle drei ist das Wirken des irdischen Jesus konstitutiv für die theologischen Auffassungen ihrer jeweiligen Gegenwart. Alle drei gehen von einer engen Verflechtung ihrer eigenen Gegenwart mit der Spanne des Lebens Jesu aus. Alle drei beziehen ihre Impulse für ihr Verhältnis zur Zukunft aus der Geschichte Jesu. In ihrer Gesamtheit bilden die synoptischen Evangelien Zeugnisse des achten bis zehnten Jahrzehnts des 1. Jahrhunderts für eine retrospektive Verknüpfung der Christologie mit Erzählungen über die Lebensgeschichte Jesu. Ihr narrativer Charakter unterscheidet sie von der umfänglichen erhaltenen Briefliteratur mit ihrer begrifflichen Entfaltung der Christologie; und ihre im Verhältnis zum Johannesevangelium erdverbundene Nachzeichnung des Lebenswegs Jesu setzt sie in ihrem Erzählcharakter vom Johannesevangelium ab. In einzigartiger Weise formulieren die synoptischen Jesuserzählungen eine personhafte Theologie. Die Kontextualisierung der im Einzelnen unterschiedlichen christologischen Akzentsetzungen in Episoden aus der Lebenszeit Jesu dokumentiert das herausragende Interesse der Synoptiker an der Verankerung ihrer theologischen Vorstellungen in der geschichtlichen Welt der ersten drei Jahrzehnte des ersten Jahrhunderts. In diesem gemeinsamen Interesse unterscheiden sie sich trotz zahlreicher Binnendifferenzen von den übrigen christologischen Entwürfen innerhalb des Neuen Testaments. Ihr Anliegen, eine auf Jesus zurückführende und in seinem Wirken begründet liegende Christologie zu präsentieren, legt es gerade unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Eigenart nahe, ihre Theologie in einer auf diese drei Werke beschränkten Gesamtdarstellung festzuhalten.

erzählte Jesus“ umschließt dabei sowohl die historischen Erzählungen der geschichtswissenschaftlichen Forschung als auch die explizit narratologisch-literaturwissenschaftlichen Explorationen der als Erzählliteratur aufgefassten Evangelien.

2 Text und Methode 2.1 Exegese oder Interpretation? 2.1.1 Die Exegese eines starken Textes Das Verhältnis zwischen dem neutestamentlichen Text, seinem Ausleger bzw. seiner Auslegerin und der Auslegung selbst galt lange Zeit als stabil. Es ließ sich als eine Dreiecksbeziehung zwischen Text, Ausleger und Auslegung darstellen. Die Ausleger beziehen sich auf den ihnen vorliegenden Text und gewinnen daraus ihre Auslegung. Die Grundlage für diese Überzeugung bildete ein Textrealismus, für den der Text schlicht vorlag. Textkritisch in seiner möglichst authentischen Form rekonstruiert bildete er den Ausgangs- und Bezugspunkt für die Auslegungen. Er fungierte als Maßstab in den Auseinandersetzungen um seine richtige oder falsche Auslegung. Er galt als das Kontrollinstrumentarium jeder Exegese. Die Ausleger stellten demgegenüber Unsicherheitsfaktoren dar. Sie erwiesen sich durch ihre Arbeit entweder als kundige Sachwalter des Textes oder durch nicht mehrheitsfähige Auslegungen als fachlich fragwürdig. Die Auslegungen wurden am Maßstab des vorliegenden Textes als zutreffend oder unzutreffend bewertet. Hinter diesem in der Exegese lange Zeit dominierenden Verfahren stand die Idee des starken Textes. In ihr wirkte die Gleichsetzung von Gotteswort und Bibel als heiliger Schrift unmittelbar nach. Die göttliche Offenbarung war zur biblischen Schrift geworden. Der Logos aus einem geistigen und mündlichen Stadium herkommend hatte sich zur Schrift verdichtet und in Schriftzeichen materialisiert. Wer sich darauf bezog, tat dies im Bewusstsein des Abstands zu seinem Gegenstand. Die christlichen Schriftausleger verstanden sich unter Aufnahme des griechischen Terminus εÆ ξη γησις als Exegeten, als Herausleser bzw. Ausleger. Sie dokumentierten mit dieser Selbstbezeichnung, dass ihr eigener Status sich unterhalb des Schrift gewordenen Gotteswortes befand.1 Von diesem Selbstverständnis her definierten sie ihre eigenen Äußerungen zum biblischen Text als Kommentare.

1 Franz Overbeck hat scharf auf die qualitative Differenz zwischen der neutestamentlichen Urliteratur, die ein Zeugnis der literarischen Urgeschichte des Christentums darstellt, und allen weiteren auf diese bezogenen Auslegungen hingewiesen. Vgl. dazu die Darstellung von U.H.J. K, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 52–57.

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2 Text und Methode

Sie verstanden ihre Auslegungen als Vehikel, um angesichts des zunehmenden Abstands von der Entstehungszeit des christlichen Glaubens in den ersten vier Jahrhunderten ein Verstehen des ursprünglichen Sinnes zu ermöglichen.2 Dabei ging es ihnen vor allem darum, den Zugang zum lebendigen Gotteswort jenseits seiner Erstarrung im Medium der Schrift offenzuhalten. Ihr Arbeitsauftrag bestand über Jahrhunderte hinweg darin, auf die in den Texten verschlüsselte, diesen vorauslaufende und hinter den Texten liegende göttliche Wirklichkeit zu verweisen. Mit der Aufklärung veränderte sich die Perspektive des Kommentierens. Die biblischen Texte galten nun als historisch einordbarer Niederschlag des religiösen Selbstverständnisses von Christinnen und Christen des ersten und zweiten Jahrhunderts. Den Kommentaren kam die Aufgabe zu, den historischen Abstand zu überwinden, der sich zwischen die Bibelleserinnen und -leser einer späten Zeit und die ursprünglichen menschlichen Autoren der Überlieferungen gelegt hatte. Sie sollten die Brücke über den „garstigen Graben“3 der Geschichte in eine ferngerückte Zeit bauen. Nicht mehr der Versuch, den Gottbezug selbst wiederzugewinnen, war das Ziel. Die neue Aufgabe der Bibelexegese bestand darin, die Produktionsleistung der frühchristlichen Autoren und die damaligen Abfassungsverhältnisse nachzuzeichnen. Über das 19. Jahrhundert hinaus ist im Grundsatz bis in die aktuelle Gegenwart das Druckbild der Kommentarliteratur dadurch gekennzeichnet, dass es die Übersetzung der Bibeltexte von den Erklärungen der Auslegerinnen und Ausleger deutlich absetzt. Im Angesicht des starken Textes besitzen die auf ihn bezogenen Ausführungen den Status kommentierender Nebenbemerkungen. Der in der Aufklärung entwickelte historisch-philologische, kritische, und d.h. ältere von jüngeren Bearbeitungsstufen separierende Zugang zu den biblischen Überlieferungen operiert weiterhin auf der Basis eines ontologischen Realismus und seiner Annahme des starken Textes. Der Bibeltext ist aus sich selbst heraus Maßstab der auf ihn bezogenen Auslegung. Dieses Verständnis hat in der Geschichte und Praxis der Bibelexegese zu einem teilweise erbitterten Streit um die richtige Auslegung geführt. Mit Argumenten am Text ist philologisch und historisch versucht worden, zutreffende von unzutreffenden Exegesen zu trennen. In der Konsequenz dienten die Anmerkungsapparate ungezählter Aufsätze und Bücher nicht zuletzt als Depot für Hinweise auf falsche Aussagen irrender Kolleginnen und Kollegen.

2 G. F, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2018, 101, beschreibt den Kommentar als „eine mehr oder weniger lockere Folge von Anmerkungen und Hinweisen“. „Zur Auslegung wird ein Kommentar erst, wenn die Erläuterungen, Hinweise und Anmerkungen sich derart verdichten, daß der innere Zusammenhang des Textes zur Geltung kommt.“ 3 G.E. L, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. W. Barner u.a., Band 8: G.E. Lessing, Werke 1774–1778, hg. v. A. Schilson, Frankfurt a.M. 1989, 437–445, 441. 2

2.1 Exegese oder Interpretation?

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Jenseits des Genres der Kommentare hat in der Exegese mittlerweile anstelle der kommentierenden Auslegung die Interpretation Raum gegriffen. Mit diesem Wechsel der Begrifflichkeit verbindet sich eine veränderte Sicht auf den Text sowie eine neue Wahrnehmung der Rolle derjenigen, die sich schriftlich auf Texte beziehen.4

2.1.2 Interpretation statt Auslegung Der Begriff Interpretation wird im Deutschen doppeldeutig verwendet. Eine Interpretation kann sowohl den Vorgang des Interpretierens als auch dessen Niederschlag bezeichnen. Interpretation meint den Vollzug einer Tätigkeit, bezeichnet aber auch das Produkt dieses Prozesses, nämlich die fertige Interpretation als dessen Resultat. Interpretationen beziehen sich auf etwas. Sie agieren gegenstandsbezogen. Sie richten sich auf ein Gegenüber. Sie verhalten sich zu etwas, das sie nicht eo ipso schon sind.5 In den sog. Textwissenschaften operieren Interpretationen textbezogen. Sie setzen einen Text voraus, den sie interpretieren. Nun ist es nicht so, dass die Interpretationen selbst interpretieren. Interpretationen besitzen keinen Subjektstatus. Vielmehr sind es Interpretinnen und Interpreten, die in actu Interpretationen vornehmen und anschließend fertige Interpretationen vorlegen. Der Gegenstandsbezug der Interpretation ist gekoppelt an Personen, die als handelnde Subjekte der Interpretation vorangestellt sind. Damit wohnt einer Interpretation im Ansatz eine Dualität inne. Die Interpretation vollzieht sich in der Kommunikation zwischen einem Interpreten resp. einer Interpretin und dem zu interpretierenden Text, dem Interpretandum. Prima vista erscheint der Vorgang einfach. Ein Text liegt vor einer Interpretin oder einem Interpreten. Diese bzw. dieser tritt sodann in ein methodisch kontrolliertes Verhältnis zum Text und erarbeitet die Interpretation. Das traditionelle Machtverhältnis hat sich dabei umgekehrt. Nunmehr gilt die Annahme eines starken interpretierenden Subjekts, das über ein schwaches textum verfügt. Die auf den ersten Blick einfache Lösung basiert auf zwei weitreichenden Vorentscheidungen. Das vorausgesetzte Verständnis von Interpret führt in die Debatte um das starke Subjekt hinein, die seit langem über die Rolle von Autor und Erzähler geführt wird.6 Der Interpret und die Interpretin erscheinen als gesetzt.

4 Die veränderte Wahrnehmungseinstellung findet mittlerweile auch Eingang in etablierte Kommentarreihen. 5 Vgl. C. L, Geschichte als Interpretation. Momente der Konstruktion im Neuen Testament, in: A. Klein/U.H.J. Körtner (Hg.), Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt? Herausforderungen konstruktivistischer Ansätze für die Theologie, NeukirchenVluyn 2011, 147–164, 147. 6 A. K, „Was ist ein Autor?“ (Michel Foucault), FAZ Nr. 49 vom 27. Februar 2019, Seite N3: „Zum Dreh- und Angelpunkt aller Welterkenntnis, ja Wirklichkeitskonstitution ist das Subjekt erhoben worden, und ebenso hat man es zu einem bloßen Produkt narzistischer

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2 Text und Methode

Sie sind da. Sie verknüpfen, was bereits vorhanden ist, nämlich den Text mit dem Ausleger bzw. der Auslegerin. Die zweite Vorentscheidung betrifft das Verständnis von Text: Der Text ist unter der Prämisse einer stabilen Subjekt – Objekt – Konstellation ebenfalls da. Als Gegenstand einer auf ihn bezogenen Analyse besteht er an und für sich. Auf solcher erkenntnistheoretischen Grundlage kommt dem Vorgang des Interpretierens eine sekundäre Rolle zu. Interpretation bildet einen nachgängigen Verknüpfungsvorgang. Grundgelegt wurde ist dieses Verständnis durch Aristoteles im ersten Kapitel seiner Schrift ΠεριÁ εë ρµενει ας. Für Aristoteles symbolisieren „die sprachlichen Ausdrücke in erster Linie unsere Gedanken an die mit ihnen gemeinten Dinge“.7 Aristoteles formuliert einen Verkettungszusammenhang, bei dem jeweils ein Glied aus einem anderen hervorgeht. Die mit der Stimme hervorgebrachten Äußerungen sind Symbole der in der Seele geschehenen Widerfahrnisse (παθη µατα), und die geschriebenen Dinge sind Ausdruck der von der Stimme hervorgebrachten Äußerungen.8 Die seelischen Widerfahrnisse, auf welche die gesprochenen und geschriebenen Zeichen verweisen, sind ihrerseits wiederum rückgebunden an Dinge, von denen sie Abbildungen sind. Der Verkettungszusammenhang führt also prinzipiell auf einen Sachgrund zurück, der als solcher ungreifbar bleibt, im οÍ νοµα (Nennwort) und ρë ηÄ µα (Aussagewort) jedoch einen Nachhall besitzt.9 Bei der Annahme einer statischen Beziehung zwischen Interpreten und dem Text wird davon ausgegangen, dass im Rahmen einer Interpretation zwei Pole zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei wird durchaus zugestanden, dass die beiden Bezugsgrößen nicht unabhängig voneinander existieren.10 Weitgehend unbestritten ist, dass der Gegenstand der Interpretation nur unter dem Blickwin-

Illusionen und damit für substantiell belanglos für allen Zugriff auf die Welt erklärt. Nicht anders ist es dem Autor ergangen. Als der alles bestimmende Urheber seines Werkes ist er begriffen worden, und mit gleicher Überzeugungskraft hat man ihm sein Ableben aufgrund von Nutzlosigkeit bescheinigt.“ J.P. R, Was heißt: einen literarischen Text interpretieren? Voraussetzungen und Implikationen des Redens über Literatur, München 2016, 58, plädiert für eine moderate Beurteilung der Rolle des Autors: „Die Nachricht vom Tode des Autors scheint übertrieben“. 7 H. W, Einführung, in: Aristoteles. Hermeneutik. Peri Hermeneias, Griechischdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von H. Weidemann Berlin/Boston 2015, 9–64, 9. 8 A, Peri Hermeneias 1,3–5. 9 Die Begrifflichkeit stammt aus Weidemanns Übersetzung von A, Peri Hermeneias 1,1–2. 10 H.-G. G, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke Band 1, Tübingen 1986, 319, denkt unter Bezugnahme auf Aristoteles diesen Vorgang unter Rekurs auf die Wirkungsmacht der Überlieferung: „Wir sprachen von der Zugehörigkeit des Interpreten zu der Überlieferung, mit der er es zu tun hat“. „Der Wissende steht nicht einem Sachverhalt gegenüber, den er nur feststellt, sondern er ist von dem, was er erkennt, unmittelbar betroffen.“

2.1 Exegese oder Interpretation?

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kel seiner Interpreten und nicht abgelöst davon vorkommt.11 Ein konstruktivistischer Anteil im Interpretationsvorgang wird mithin konzediert. Dennoch gilt die dichotomische Verhältnisbestimmung zu Recht als Problem. Denn zweierlei bleibt bei ihr unberücksichtigt. Zum einen wird die Tatsache ausgeblendet, dass der Verknüpfungsprozess nicht erst durch den interpretierenden Zugang in Gang gebracht wird. Vielmehr ist ein textum bereits selbst ein Gewebe aus sprachlichen Zeichen. Es besitzt nicht monolithische Dichte und Stabilität in sich selbst. Je nachdem welches Licht und welcher Betrachtungswinkel auf einen Text fällt, zeigt ein textum sich in seiner Gänze wie in der Vielfalt seiner Einzelfacetten in unterschiedlicher Beschaffenheit und Gestalt.12 Die Perspektive, unter der es in den Blick genommen wird, konstituiert es als den Untersuchungsgegenstand, als der er analysiert wird.13 Das textum ist also nur gemeinsam mit der Perspektive vorhanden, unter der es wahrgenommen wird.14 Ein nicht wahrgenommener Text, ein nie oder von niemanden je gelesener Text ist faktisch nicht da.15 Ein Text begegnet nur im Zusammenhang einer auf ihn gerichteten Leseperspektive. Texte erscheinen nur als angeeignete. Abgesehen und außerhalb davon bleiben sie unrealisierte Möglichkeiten.16 Zum anderen bleibt unberücksichtigt, dass das gleiche, was für den Text gilt, in umgekehrter Richtung auf die Interpreten zutrifft. Niemand ist als Interpretin oder Interpret geboren, schon gar nicht als Goethe- oder Kafka-Interpretin, als Paulus- oder Evangelien-Interpret. Erst im Vollzug der Tätigkeit des Interpretierens wird jemand zum Interpreten und zur Interpretin. Außerhalb des Vorgangs des Interpretierens ist ein Interpret und eine Interpretin vieles andere, nur eben nicht Interpret. F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 66: „jede Bezugnahme ist perspektivisch“. Vgl. A. G, Interpretation, in: A. Betten/U. Fix/B. Wanning (Hg.), Handbuch Sprache in der Literatur, Handbücher Sprachwissen – HSW 17, Berlin/Boston 2017, 487–508, 493: „Texte sind emergente, d.h. übersummative Einheiten, deren Gesamtbedeutung nicht aus den Bedeutungen der sie konstituierenden Komponenten additiv erschlossen werden kann.“ Bedeutungsbildung erfolgt auf dieser Grundlage „als eine Bewegung zwischen dem kognitiven Entwurf eines Ganzen […] und der kognitiven Erfassung der einzelnen Textkomponenten“. 13 Dabei ist vorausgesetzt, dass ein Text ein sprachliches Zeichensystem ist, welches auf Kommunikation hin angelegt ist. Für die Bibelwissenschaften, deren Textgrundlage im weitesten Sinne Verkündigungsliteratur ist, legt es sich nahe, Theorieanleihen bei der sog. „kommunikationsorientierten Textlinguistik“ zu machen; vgl. K. B, Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Grundlagen der Germanistik 29, Berlin 72010, 14. 14 „Der Terminus ,Text‘ bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert.“ B, Textanalyse (s. Anm. 13), 17. 15 Das schließt seinen Verfasser als Ersterzeuger, der ja auch sein erster Leser wäre, ein. 16 Vgl. W. J, Text und Interpretation als Kategorien theologischen Denkens, HUTh 23, Tübingen 1986, 73: „Ungelesene Texte bleiben dagegen pure Möglichkeiten.“ Vgl. auch I.U. D, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018, 261: „Ohne Rezipienten sind Texte tot. Sie sind wie ungelesene Bücher ein nicht aktualisiertes Sinnangebot.“ 11

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Ergo: Im Prozess und mittels der Interpretation erschafft ein Interpret das textum, auf das er sich im Vorgang seiner Interpretation als Interpretiertes bezieht. Der Wahrnehmungshorizont der Interpreten kreiert den Text in der Weise, in der er im Zuge der Interpretation zu Gesicht kommt.17 Unter anderem Wahrnehmungshorizont tritt ein anderer Text als Grundlage der auf ihn bezogenen Interpretation hervor. Lediglich in seiner Oberflächenstruktur – als Bild der gedruckten sprachlichen Zeichen, seiner Buchstaben und Satzzeichen – wirkt dieser identisch. Die Interpretation als Niederschlag eines vorherigen Vollzugs ist das Ergebnis von Interpreten, die interpretieren. Der Akt des Interpretierens ist damit im doppelten Sinn ein schöpferischer: Er kreiert seinen Gegenstand, nämlich den im Zuge der Interpretation als interpretiert angeeigneten Text; und er erschafft im Vollzug der Interpretation den Interpreten als Interpreten.18 Interpretieren ist ein Akt der Relationierung. Das Besondere dieses Vorgangs ist, dass erst in seinem Vollzug das Subjekt und das Objekt der Interpretation, der Interpret bzw. die Interpretin und der interpretierte Text zu dem werden, was sie sind. Als Bezeichnung für den Text im Modus seines Interpretiertwerdens verwende ich den Begriff Interpretat.19 Die Differenz zu der Wahrnehmung eines Textes als zu interpretierendem oder als eines interpretierten liegt in der unterschiedlichen Zuschreibung des Textstatus. Die Attributisierungen eines Textes als zu interpretierendem bzw. als interpretiertem setzen den Primat eines Textes an sich vor bzw. nach der Bezugnahme auf ihn voraus. Als Interpretat begegnet ein Text im Vollzug seiner Anverwandlung. Das Interpretieren erschafft gleichzeitig den Interpreten und das Interpretat. Text und Interpretation bilden im Vorgang des Interpretierens eine Einheit, die sie außerhalb des Interpretationsvorgangs einbüßen. An dieser Stelle empfiehlt sich wegen der Ähnlichkeit der Begrifflichkeit die Verhältnisbestimmung gegenüber Ferdinand de Saussures prominenter Unterscheidung. Saussure unterscheidet zwischen einem Signifikat, „einer Vorstellung“ und einem Signifikanten, „einem Lautbild“20. Ge´rard Genette greift die Terminologie Saussures für die Analyse des narrativen Diskurses auf. Das Signifikat bezeichnet in diesem Zusammenhang den narrativen Inhalt. Ihn nennt Genette „Geschichte“. Der Begriff Signifikant meint demgegenüber den narrativen Diskurs, die „Erzählung im eigentlichen Sinne“. Ergänzend nennt Genette die Nar-

17 „[D]ie Werke in ihrer Textualität [sind] nicht anders als durch Interpretation da“, F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 115. 18 Vgl. P.-G. K, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 90–92. 19 Es ist mir nicht bekannt, ob der Terminus in diesem Sinn bereits anderweitig vergeben ist oder von jemand anderem in die Debatte eingeführt worden ist. 20 Zitiert nach W. N, Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar 22000, 71–77, Zitate 74.

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ration, d.i. der „produzierende narrative Akt“.21 Der Vorgang des Interpretierens entspricht dieser dritten Kategorie. Der Terminus Interpretat zielt dagegen im Unterschied zu der Binnenunterscheidung, die Genette zwischen Signifikat und Signifikant, also zwischen Erzählinhalt und narrativer Strategie vornimmt, auf die Dynamik und das Prozessuale, in die ein Text im Zuge seines Interpretiertwerdens gerät.

2.1.3 Die Vorprägung von Subjekt und Objekt Der Kontakt eines Interpreten bzw. einer Interpretin zu einem Text stellt eine Beziehungsaufnahme dar. Im Vollzug der Interpretation findet eine Auseinandersetzung zwischen den Interpreten und dem Text statt. Das stellt vor die Frage, auf welcher Grundlage es zu der Aufnahme der Beziehung kommt. Welches sind die Voraussetzungen, damit eine Erkenntnisbemühung ihren Gegenstand erreicht?22 Vorausgesetzt werden darf, dass die einseitige oder manipulative Verfügung des Interpreten bzw. der Interpretin über den Text keine Option darstellt, sondern im Akt der Interpretation eine Wechselbeziehung stattfindet, innerhalb derer Impulse des Textes Einfluss auf die Ausführungen der Interpreten nehmen. Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der symbolischen Formen23 den Gedanken entwickelt, dass das menschliche Weltverhältnis medial vermittelt ist. In den Wahrnehmungsraum zwischen Mensch und Welt haben sich symbolische Formen gestellt. Zu ihnen gehören nach Cassirer die Sprache, der Mythos, die Kunst, die Religion, die Technik, die wissenschaftliche Erkenntnis.24 Charakteristisch für die symbolischen Formen ist, dass sich in ihnen Sinnlichkeit und Sinn zu einer Einheit verschmolzen haben. Ein geistiger Bedeutungsgehalt ist mit einem sinnlichen Zeichen verknüpft. Die symbolischen Formen dienen dem Ziel, die chaotische Unübersichtlichkeit der Sinneseindrücke zu einem „,Weltbild‘“25 zu formen. Sie helfen, Strukturen und Ordnungen zu entwickeln. Sie entwerfen Regeln für die gedankliche Ordnung des Raums, der Zeit, der Zahlen, des Verhältnisses von Selbst und Welt bzw. von Ich und Wirklichkeit. Den symbolischen Formen wohnt eine schöpferische Energie inne, die sich gleichzeitig in zwei Richtungen auswirkt. Einerseits formen sie das menschliche

G. G, Die Erzählung, Paderborn 32010, 12. Entsprechend gilt umgekehrt: Welche Faktoren verhindern, dass die Beziehung zwischen erkennendem Subjekt und dem Erkenntnisgegenstand gelingt bzw. tragen dazu bei, dass die Beziehungsaufnahme scheitert? 23 E. C, Philosophie der symbolischen Formen. Drei Teile und Index. 1. Teil: Die Sprache, Darmstadt 101994; 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 91994; 3. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 101994. 24 Nachfolgend wird Bezug genommen auf die zusammenhängende Gesamtdarstellung bei P.-G. K, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin/New York 2001, 70–80, hier 70. 25 C, Philosophie II (s. Anm. 23), 39. 21

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Welterfassen. Gemeint sind die Fähigkeit der Erkenntnis und der Rahmen der Erkenntnismöglichkeiten. Andererseits sind symbolische Formen „geistige Gestaltungsweisen“26, die „je eine eigene Welt von Gebilden aus sich heraus“27 setzen. Sie sind also gleichzeitig Welt bildend. Fragt man nach der Herkunft oder Entstehung der symbolischen Formen, so stellt sich ihre letztliche Unableitbarkeit heraus. Sie entspringen einer ursprünglichen Energie des Geistes. Sie werden daher „nicht anders denn als Ausdrücke der Selbsttätigkeit, der ,Spontaneität‘ des Geistes verstanden“28. Um dem Missverständnis entgegenzutreten, als ginge es darum, einen versteckten ontologischen Kern zu bewahren, auf den alles Weitere als Letztursache zurückgeführt werden könnte, fügt Cassirer hinzu: Die symbolischen Gestaltungen sind „nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d.h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt“29. Selbst- und Welterkenntnis sind nach Cassirer stets symbolisch vermittelt. Im Medium der symbolischen Formen vollzieht sich der Kontakt zwischen Ich und Welt. Im Rahmen der jeweils in den Fokus genommenen symbolischen Form – Sprache, Mythos, Wissenschaft – konstituiert sich sowohl das wahrnehmende Ich als auch die von ihm wahrgenommene Welt. Das schöpferische und gestaltende Handeln geschieht im Rahmen der von einer symbolischen Form eröffneten Möglichkeiten. Die Vorgabe selbst, die sich der Verfügungsgewalt entzieht, entspringt einer unableitbaren Selbsttätigkeit des Geistes. Diesem wohnt schöpferische Kraft im eigentlichen Sinne inne. Die vielfältigen Gestaltungsformen besitzen Verweischarakter. In ihnen artikuliert sich die kreative Wirksamkeit des selbsttätigen Geistes, der sich ausschließlich in seinen Wirkweisen zeigt. Als offene Frage bleibt: Führt die Einsicht in die grundsätzliche Medialität aller Erkenntnis zu einem Unmittelbarkeitsverlust? Wenn alle Wirklichkeit ausschließlich im Rahmen einer symbolischen Form erscheint und genauso alle Wirklichkeitserkenntnis nur innerhalb des von der symbolischen Form erschlossenen Rahmens erfolgt, gibt es dann keinen unvermittelten, unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit und zu den Dingen selbst? Fast scheint es so. Cassirer begegnet dem Einwand mittels der Vorstellung von der „,symbolischen Prägnanz‘“30. Darunter begreift er den Moment, in dem der Zusammenhang von Sinnlichem und Sinn schlagartig offenkundig wird. Gemeint ist, dass ein Wahrnehmungserlebnis, also ein sinnlicher Eindruck, unmittelbar den Sinnzusammenhang, in den es gehört, aufscheinen lässt. In einem solchen Augenblick symbolischer Prägnanz werde die Verbindung zwischen Sinnlichem und Sinn hergestellt und gleichzeitig das Verständnis der Tätigkeit des Geistes erschlossen. DieC, Philosophie III (s. Anm. 23), 3. C, Philosophie II (s. Anm. 23), 259. 28 C, Philosophie II (s. Anm. 23), 259. 29 C, Philosophie I (s. Anm. 23), 9. 30 C, Philosophie III (s. Anm. 23), 235.

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sem Ereignis wohnt insofern zugleich ein passivisches Element inne, als es sich um ein „Ergriffenwerden“31 von „Ausdrucksmomenten“32 handelt. Diese fügen sich zu einer ersten „Erlebnisgestalt“33, werden in der Folge in eine Ausdrucksform gebracht, im Bewusstsein festgehalten und mit anderen Bewusstseinsmomenten verknüpft.34 Cassirers Einsichten wirken im Werk Merleau-Pontys nach. Nach MerleauPonty ist die Phänomenologie eine Philosophie, die von der Einsicht ausgeht, „daß Welt vor aller Reflexion in unveräußerlicher Gegenwart ,je schon da‘ ist“. Ihr Ziel besteht darin, „diesem naiven Weltbezug nachzugehen“.35 Merleau-Pontys Nachdenken richtet sich auf das „Zwischenreich“36 zwischen Empirismus und Idealismus. Seine Absicht ist, aus der strikten Opposition zwischen Objektivismus und Intellektualismus, zwischen Außen und Innen, Natur und Bewusstsein herauszugelangen.37 „Die Philosophie des reinen Objekts und des reinen Subjekts sind gleichermaßen terroristisch.“38 Sowohl dem Empirismus als auch dem Intellektualismus misslingt es, Sinn und Sinnlichkeit in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu stellen.39 Unter dem Einfluss von Edmund Husserl strebt Merleau-Ponty nach der „stete[n] Selbstvergewisserung der Methode in der Auseinandersetzung mit den ,Sachen selbst‘ – doch auch diese zeigen sich nicht unvermittelt, auch hier ist erst eine Perspektive zu gewinnen, eine Sprache zu finden, die den Phänomenen gerecht

C, Philosophie III (s. Anm. 23), 88. C, Philosophie III (s. Anm. 23), 106. 33 O. S, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997,

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76.

34 Mit dem Reden von symbolischer Prägnanz bringt Cassirer den Zusammenhang zwischen der Einzelwahrnehmung und ihrer kontextuellen Einbettung in das Bewusstsein auf den Punkt. Einzelnes Erleben und das Sinnganze werden zusammengeführt. Vgl. S, Cassirer (s. Anm. 33), 121; K, Mythos (s. Anm. 24), 76.79. 35 Beide Zitate M. M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von R. Boehm, Berlin 1966 (Photomechanischer Nachdruck 1974) (Französische Originalausgabe 1945), 3. Vgl. auch M. M-P, Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von C. Lefort, aus dem Französischen von R. Giuliani und B. Waldenfels, München 21994 (Französische Originalausgabe 1964), 121: „es gibt Seiendes, es gibt Welt, es gibt etwas“. 36 M. M-P, Vorlesungen I. Schrift für die Kandidatur am Colle`ge de France. Lob der Philosophie. Vorlesungszusammenfassungen. Die Humanwissenschaften und die Philosophie, übers. und mit einem Vorwort versehen von A. Me´traux, Berlin/New York 1973, 301: „Es gibt nicht nur reines Bewußtsein auf der einen, Sachen auf der anderen Seite. Uns interessiert vor allem das Zwischenreich zwischen dem Bewußtsein und den Sachen.“ (Zitiert nach C. B, Maurice Merleau-Ponty zur Einführung, Hamburg 32012, 16). 37 Vgl. B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 40. 38 M. M-P, Die Abenteuer der Dialektik, übers. v. A. Schmidt/H. Schmitt, Frankfurt a.M. 1968, 118. 39 Vgl. B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 50.

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werden kann“40. Etabliert werden soll ein Denken „jenseits des Empirismus und diesseits des Intellektualismus“41. In einem stetigen „Hin und Her“ zwischen den Polen entwickelt Merleau-Ponty „eine Philosophie des Sowohl-als-Auch“.42 Sie bildet seine Antwort auf die Einseitigkeiten der beiden einander entgegenstehenden Zugänge zur Wirklichkeit. Die gegenstandsbezogenen Beschreibungen der Empiristen kranken daran, dass sie ignorieren, „selbst wahrnehmendes Subjekt“43 zu sein. Sie blenden ihre Subjektivität und die Perspektivität ihrer Feststellungen aus. Diese „Unterbestimmtheit des Empirismus“44 wird allerdings durch die einseitige Überhöhung eines Intellektualismus nur vordergründig kompensiert. Der Intellektualismus verleiht dem point of view, der im Empirismus unbeachtet bleibt, eine immense Statuserhöhung. Er erhebt ihn zum „transzendentale[n] Ich“. So kommt es zu einer Umwertung der für den Empirismus grundlegenden Feststellungen: „der Zustand eines Bewußtseins wird zum Bewußtsein eines Zustands, Passivität zur Setzung der Passivität, die Welt wird zum Korrelat einer Weltvorstellung und existiert nur mehr für einen sie Konstituierenden“45. Damit freilich wird die Erkenntnisleistung des Subjekts bzw. des Bewusstseins überbestimmt.46 Die von Merleau-Ponty beschriebene Verschiebung steht in den Bibelwissenschaften bereits hinter der Grundlegung der Biblischen Theologie durch Gabler im ausgehenden 18. Jahrhundert. Statt Gott stellen laut Gabler die menschlichen Gedanken über Gott den Gegenstand dar, auf den sich die biblische Wissenschaft unter historischen Vorzeichen zu beziehen habe.47 Entsprechend kommt es darauf an, die Leistungsfähigkeit wie die Begrenztheit des Sehens adäquat zu bestimmen. Die Grenze verläuft für Merleau-Ponty dort, wo über die Erfassung der Welt im Bewusstsein hinaus die Welt selbst zum Produkt des konstruierenden Bewusstseins erklärt wird. Letzteres stellt eine Grenzüberschreitung dar.48 Angesichts dieser Ausgangslage besteht die Aufgabe darin, die Wahrnehmung selbst in den Blick zu nehmen und darauf zu achten, „aus welcher Perspektive der Dualismus von Bewußtsein und Natur, von Innen und Außen adäquat umschrieben werden kann“49. Die Beschreibung hat dazu „sowohl die GegebenheitsB, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 9. B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 23. 42 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 41. 43 M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung (s. Anm. 35), 244. Vgl. B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 43. 44 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 46. 45 Beide Zitate M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung (s. Anm. 35), 245. 46 Vgl. B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 46. 47 Vgl. K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 18), 26–38. 48 Vgl. B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 47. Bei der Bestimmung des theologischen Gegenstands neutestamentlicher Wissenschaft gilt es daher, zu einer genauen Verhältnisbestimmung zwischen Empirismus und Intellektualismus, zwischen Realismus und Konstruktivismus zu gelangen. 49 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 55. 40

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weise der Dinge als auch die Auffassungsweise des Subjekts zu berücksichtigen“50. Das Sehen selbst ist involviert in das, was es zu sehen ermöglicht.51 Mit diesem Ansatz wird das Problem eines rein empirischen Zugangs umgangen. Dieser postuliert als Maßstab das unmittelbare Verhältnis zu den Dingen selbst. In der klassischen historisch-kritischen Exegese biblischer Schriften, die die Texte als Objekte eigener analytischer Zugänge ansah, kulminierte dieser Zugang in der Testfrage: Was steht da? Merleau-Ponty eröffnet demgegenüber die Möglichkeit, „abzusehen von den Dingen der Welt, wie sie sich dem natürlichen Bewußtsein als reale Gegenstände unabhängig von ihm präsentieren, um sich den Phänomenen widmen zu können, so wie sie sich geben und wie sie aufgefaßt werden“52. Die Schwierigkeit der Aufgabe besteht darin, „das Paradox zu verstehen […], wie für uns etwas an sich zu sein vermag“53 . Bewusstsein tritt nicht in einem losgelösten, abstrakten Aggregatzustand auf, sondern ist stets gekoppelt an etwas. Es begegnet als „Bewußtsein von etwas“ und äußert sich in „Intentionalität“.54 Diese „wird vollzogen von einem Subjekt, das immer schon in die Welt verwoben ist, das immer schon in der Welt engagiert ist“55. Merleau-Ponty nennt diesen Vorgang das „Zur-Welt-sein“56 des Subjekts. Diese Konstitution geht dem Denken als Grundlage seiner selbst voraus.57 Sie gründet das Denken auf „ein vorprädikatives Können“ und liefert einer „Philosophie der Ambiguität“, in der „das Wahrnehmen nicht auf das Wahrgenommene reduziert“58 wird, den Ausgangspunkt. Auch Hartmut Rosa entwickelt in seiner „Soziologie der Weltbeziehung“59 einen Gedanken, der in seiner Grundstruktur der Denkbewegung Cassirers nicht fernsteht. Im Anschluss an Merleau-Ponty formuliert Rosa als Ausgangspunkt seiner Überlegungen ein Gegenwärtigkeitserlebnis, dem sich jeder Mensch ausgesetzt sieht: „Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig.“60 Dieses grundlegende Erleb50 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 55. Vgl. auch M. M-P, Das Primat der Wahrnehmung und seine philosophischen Konsequenzen (1946), in: Ders., Das Primat der Wahrnehmung, hg. und mit einem Nachwort versehen von L. Wiesing. Aus dem Französischen von J. Schröder, Frankfurt a.M. 62019, 26–84, 26: „jede Wahrnehmung [findet] innerhalb eines bestimmten Horizonts und schließlich in der ,Welt‘ statt“. 51 Vgl. M. M-P, Das Auge und der Geist, in: J. Dünne/S. Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, 180–192, 190: „Ich sehe ihn (scil.: den Raum; P.-G.K.) nicht nach seiner äußeren Hülle, ich erlebe ihn von innen, ich bin in ihn einbezogen.“ 52 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 56. 53 M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung (s. Anm. 35), 96. 54 Beide Zitate M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung (s. Anm. 35), 14. 55 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 59. 56 M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung (s. Anm. 35), 10.419. 57 Vgl. B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 59, und seine Hinweise auf M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung (s. Anm. 35), 10.149.413. 58 Alle drei Zitate B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 60. 59 H. R, Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 42019, 11. 60 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 11.

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2 Text und Methode

nis von Gegenwart geht allen konkreten Erkundungen von dem, was Menschen erfahren und verstehen, voraus. Selbst die Trennung zwischen Subjekt und Welt ist diesem initialen Ursprungserlebnis nachgeordnet. „Subjekt und Welt [sind] nicht die Voraussetzung, sondern schon das Ergebnis unserer Bezogenheit auf jene Gegenwart“.61 Entscheidend für „[die] Art und Weise“, „was wir als Menschen sind“ und wie uns die „Welt begegnet“,62 ist die Bezogenheit auf dieses Etwas. Die Soziologie der Weltbeziehung fragt danach, wie dieses Etwas beschaffen ist. Die Antworten auf die Frage sind abhängig von den Bedingungen, „in die wir hineinsozialisiert wurden“63. Vorentscheidend sind die kulturellen und sozialen Vorprägungen, die Menschen mitbringen. Nach Rosa ist die Welt „für spätmoderne Subjekte […] zum Aggressionspunkt geworden“64. Ihr Bestreben zielt auf eine totale Beherrschung und Funktionalisierung aller Lebensprozesse. „Alles, was erscheint, muss gewusst, beherrscht, erobert, nutzbar gemacht werden.“65 Ein solcher Zugang zur Wirklichkeit behandelt die Welt im Erledigungsmodus.66 Im Rahmen dieses „aggressiven Weltverhältnisses“ erscheinen „Welt und Wirklichkeit […] als Widerstand“.67 Die wissenschaftliche Perspektive mit ihrem Erkenntnisinteresse bezieht sich auf sie in der 3. Person – und lässt damit einen entscheidenden Zugang außer Betracht. Entscheidend sei, der Wahrnehmung in 3. Person die Perspektive der 1. Person an die Seite zu stellen.68 Diese zielt auf die Erfassung des Erfahrungsaspekts gelebten Lebens, auf die hermeneutische und kulturwissenschaftliche Erschließung menschlicher Ängste, Hoffnungen, Verheißungen und Befürchtungen.69 Zur Signatur moderner Gesellschaften gehört nach Rosa, dass diese sich „nur im Modus der Steigerung […] zu stabilisieren vermögen“. Sie sind daher gezwungen, „immer mehr Welt verfügbar zu machen“. Dieser Drang nach „Weltreichweitenvergrößerung“70 verbindet sich mit einer Glücksverheißung.71

61 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 11. „[A]n jenem ,etwas‘ [lernen wir] zwischen uns als erfahrendem Subjekt und der Welt als das, was uns begegnet, zu unterscheiden.“ (Ebd.). 62 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 11. 63 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 12. 64 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 12. 65 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 12. 66 Vgl. R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 13. 67 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 14, unter Verweis auf Max Scheler und Herbert Marcuse. 68 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 14. 69 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 14. 70 Alle drei Zitate bei R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 16. Hier liegt die sachliche Parallele zur Beschleunigungsthematik, der sich H. R, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, hier 428–437, gewidmet hat. Der scheinbare Zeitgewinn durch Beschleunigung werde paradoxerweise von der Tendenz zur Erstarrung und „Gegenwartsschrumpfung“ (433) flankiert. 71 „Unser Leben wird besser, „wenn es uns gelingt, [mehr] Welt in Reichweite zu bringen.“ R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 17.

2.1 Exegese oder Interpretation?

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Überträgt man Rosas Zustandsbeschreibung auf die wissenschaftliche Arbeitsweise historisch-kritisch und philologisch deskribierender Exegese in aufgeklärter Denktradition, lässt sich eine vergleichbare Tendenz ausmachen. Auch auf dem Feld der Bibelexegese hat sich eine Erklärungsmentalität breitgemacht, die teilweise Züge einer „Wut des Verstehens“72 in sich trägt. In der Flut zusammengetragener historischer Fakten und philologischer Erklärungen drohen die Texte als Dialogpartner zu ertrinken. Das Stimmengewirr, das sich in der erklärenden Auslegungsliteratur über die Texte gelegt hat, droht die Eigenstimme, die sich in den Texten zu Wort meldet, zu ersticken. Angesichts der Dominanz der Informationen mit ihrer Fülle an Berichtens- und Mitteilenswertem über den biblischen Text droht dieser mit seinem Eigenanliegen nicht mehr durchzudringen, weil er im wahrsten Sinne des Wortes zugetextet worden ist. Der Verzicht auf die 1. Person und die Beschränkung exegetischer Arbeit auf Ausarbeitungen in der 3. Person gelten vielfach als die Grundbedingungen exakter Wissenschaftlichkeit. Übersehen wird dabei zweierlei. Erstens: Der eigene konstruktivistische Anteil lässt sich de facto in der Arbeit an den Texten nicht ausschalten. Er gehört zur Gegenstandskonstitution hinzu und ist entsprechend so weit wie möglich durchschaubar zu machen. Zweitens: Die glaubensbasierten theologischen Gehalte der neutestamentlichen Texte lassen sich nicht außerhalb eines glaubenden Zugangs der Interpretinnen und Interpreten zum Gegenstand erfassen. Die Texte spiegeln in schriftlicher Gestalt die Außenseite der ursprünglichen inneren Gottesbeziehung. Soll Gott als Gott adäquat zur Sprache gebracht werden, kann das nur über einen glaubenden Bezug in der 1. Person, wie er den Textzeugnissen selbst unterliegt, realisiert werden. Nach Rosa besteht allerdings die zentrale „Kulturleistung der Moderne gerade darin, dass sie die menschliche Fähigkeit, Welt auf Distanz und in manipulative Reichweite zu bringen, nahezu perfektioniert hat“73. Die Kehrseite des „Reichweitenvergrößerungsprogramm[s] der Moderne“74 durch „Verfügbarmachung“75 der Welt besteht jedoch darin, „dass der erschlossene Weltausschnitt hart und unfruchtbar“76 wird. Das Vorhaben schlägt „in sein Gegenteil“77 um. „Die wissenschaftlich und technisch, ökonomisch und politisch verfügbar gemachte Welt […] zieht sich zurück und wird unlesbar und stumm“78. Als Folge droht das, was nach Rosa die „Grundangst der Moderne“ bezeichnet: der „Weltverlust“79 bzw. das „Weltverstummen“80. 72 Vgl. J. H, Die Wut des Verstehens – Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1988. 73 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 37. 74 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 26. 75 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 25. 76 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 26. 77 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 25. 78 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 25. 79 Beide Zitate R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 26. 80 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 34.

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2 Text und Methode

Die Verfügbarmachung der Welt produziert damit paradoxe Nebenwirkungen. Sie lassen sich „mit Marx als Entfremdung statt Anverwandlung, mit Adorno und Luka´cs als Verdinglichung statt Verlebendigung, mit Arendt als Weltverlust statt Weltgewinn, mit Blumenberg als Unlesbarkeit der Welt statt Verstehbarkeit und mit Weber als Entzauberung statt Beseelung“81 zusammenfassen. Aus der Theologie lässt sich auf ein Phänomen im Verhältnis von Exegese und Homiletik verweisen. Nie zuvor in der Theologiegeschichte ist ein derartig umfängliches Wissen über die neutestamentlichen Texte angehäuft worden. Das scheint bei Predigerinnen und Predigern jedoch eher Sprachlosigkeit statt Redebegeisterung auszulösen.82 Das Streben nach Verfügbarkeit läuft auf einen Zustand „der beziehungslosen Beziehung“83 hinaus. Die Moderne läuft „Gefahr, die Welt nicht mehr zu hören […]. Sie ist unfähig geworden, sich anrufen und erreichen zu lassen.“84 Im „,Stummwerden‘ der Welt“ verdichtet sich „das Verschwinden der Erfahrung des Angerufenwerdens“85. Es ist die „Folge der grenzenlosen Verfügbarkeit“86. Worin liegt die Alternative? Statt über die Dinge zu verfügen87, tritt ein „gelingendes Weltverhältnis“88 in ein Resonanzverhältnis zu den Dingen. Resonanz oder auch „Responsivität“89 bezeichnet einen Beziehungsmodus. Dieser setzt ein Berührtsein von seinem Gegenstand oder Gegenüber voraus. Auf eine solche Affizierung wird antwortend reagiert. Dies stößt einen Vorgang persönlicher VerR, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 34. Die Sprachnot, von der Hugo v. Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos ursprünglich im Jahr 1902 schreibt, bezieht sich auf die Krise des begrifflichen Denkens. Aber in veränderter Gestalt begegnet sie in dem Missverhältnis zwischen dem gewaltigen Erkenntnisgewinn über die biblischen Texte und der Not wieder, diese Texte im Medium der Predigt zur Grundlage der Evangeliumsverkündigung zu machen. Lord Chandos schreibt: „die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“. H. . H, Ein Brief, in: Ders., Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte, hg. v. M. Mayer, Stuttgart 2004, 46–59, 51. Über das Thema Sprachverlust unter Rekurs auf v. Hofmannsthal vgl. bereits U.H.J. K, Theologie in dürftiger Zeit. Ein Essay, München 1990, 12–13, und K, Der inspirierte Leser (s. Anm. 1), 20–22. Im Blick auf die Lage im Fach Neues Testament wurde das Problem schon 1975 von Hans Conzelmann und Andreas Lindemann im Vorwort zur ersten Auflage des Arbeitsbuchs zum Neuen Testament benannt: „Biblische Exegese, zumal des Neuen Testaments, scheint gegenwärtig weniger ,gefragt‘ zu sein. […] Die Vielfalt der Methoden und vor allem der Ergebnisse erweckt beim Studenten den Eindruck, neutestamentliche Exegese trage weniger zum Verstehen als vielmehr zur allgemeinen Verunsicherung bei.“ H. C/A. L, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 1975, V. 83 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 34. 84 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 34. 85 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 50. 86 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 51. 87 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 38. 88 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 34. 89 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 38. 81 82

2.1 Exegese oder Interpretation?

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wandlung an. Eine solche Transformation bleibt der Machbarkeit entzogen. Sie ist weder zu erzwingen noch grundsätzlich zu verhindern.90 Resonanz erklingt in dem Raum „zwischen völliger Verfügbarkeit und gänzlicher Unverfügbarkeit“91. Die Bedeutung des Respondierens im Rahmen einer Resonanzbeziehung ist für die theologische Einsicht anschlussfähig, dass Menschen im Gegenüber zum Anruf Gottes in erster Linie Angeredete, Hörende und auf Antwort hin angelegte Wesen sind.92 Zu einer theologischen Wahrnehmung neutestamentlicher Texte gehört damit im Zuge ihrer Deutung und der Bedeutungszuschreibung eine Rückmeldung. Kenntlich gemacht werden sollte, welcher Impuls wahrgenommen und worauf geantwortet wird. Eine theologische Interpretation besitzt Antwortcharakter. Sie respondiert auf ein Signal hin, welches sie im Kontakt mit dem Text vernommen hat. Das macht den Unterschied zu einer Textbearbeitung aus, bei der eine vorgegebene Forschungsfrage über den Text gebreitet, dieser selbst einem frame eingeordnet und anschließend methodisch kontrolliert analysiert wird. Der Begriff Unverfügbarkeit wird Rudolf Bultmann zugeschrieben.93 In seiner Theologische[n] Enzyklopädie verwahrt sich Bultmann dagegen, Gott zum Objekt menschlichen „Forschens und Erkennens“94 zu machen. Die Unverfügbarkeit Gottes würde bestritten, machte man ihn „zum Objekt unseres Denkens“95. Grundsätzlich gilt es nach Bultmann zu bedenken, dass bei jeder Wissenschaft gefragt werden kann, „ob nicht im distanz-nehmenden Hinsehen der Wissenschaft das Lebensverhältnis zum Gegenstand abgeschnitten ist. Das kann freilich der Fall sein; es braucht es aber nicht.“ Jede Wissenschaft steht vor der Alternative, „ihren Gegenstand zu verlieren, aber auch, ihn echter zu erfassen“.96 Für Rosa steckt im Kern des jüdisch-christlichen Gottesverständnisses eine „resonanztheoretische Vorstellung“97. „Auch und gerade wenn Gott im Sinne einer tendenziell negativen Theologie als prinzipiell unverfügbar gedacht wird, ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch doch als eines der wechselseitigen Erreichbarkeit und Bezogenheit konzipiert.“ „Responsivität bedeutet hier […] ein […] hörendes Aufeinanderbezogensein“98. Vgl. R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 37–46. R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 48. 92 Die Basisaussage stammt bereits von Paulus in Röm 10,17: Also kommt der Glaube aus dem Gehörten, das Gehörte (die Kunde) aber durch das Wort Christi. Der Glaube ist die Reaktion auf zuvor Wahrgenommenes. 93 Der Hinweis auf Bultmann stammt von R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 67, der seinerseits wiederum auf H. D, Art. Unverfügbarkeit, in R. Gröschner/A. Kapust/O. Lembcke (Hg.), Wörterbuch der Würde, München 2013, 202–203, verweist. 94 R. B, Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel und K.W. Müller, Tübingen 1984, 55. 95 B, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 94), 55. 96 Beide Zitate B, Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 94), 160. 97 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 67. 98 Beide Zitate R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 67. 90

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2 Text und Methode

Der Drang zur Verfügbarmachung wurzelt, so Rosa unter Bezug auf Adorno, „schon im Denken selbst“99. Im „identifizierende[n] Denken“ werden Dinge „auf den Begriff“100 gebracht und auf diese Weise begrifflich verfügbar gemacht. Der Preis dafür ist der Verlust ihrer Lebendigkeit und „die Ausschaltung des Unverfügbaren“101. Im Rahmen eines solchen Wirklichkeitszugangs erfahren wir „gar nicht die Dinge in ihrer phänomenalen Vielfalt, sondern nur das, was wir begrifflich, ökonomisch oder technisch an ihnen verfügbar gemacht haben“102. Für das Feld der Exegese lässt sich entsprechend ergänzen: Wir erfassen nicht die Glaubens- und Verkündigungsdimension der Texte und damit deren theologische Eigendignität, sondern beziehen uns auf das, was historisch, religionsgeschichtlich, philologisch, narratologisch, psychologisch oder sozialgeschichtlich bzw. soziologisch zugänglich ist. Eine Theologie der synoptischen Evangelien kann demgegenüber einen Beitrag leisten, um die Vielfalt wahrnehmbarer Phänomene zu erweitern. Beispielsweise können die Blickachsen zwischen Personen in einzelnen Szenen beobachtet, kann der Bedeutung der Himmelsrichtungen im erzählten Raum nachgegangen oder die Verknüpfung von Ereignissen mit bestimmten Orten und Gebäuden sowie Zeitangaben bedacht werden – in der Erwartung, auf diese Weise mit Ebenen in den Texten in Kontakt zu kommen, die innerhalb der geläufigen Rasterungen nicht existieren. Sowohl bei Cassirer als auch bei Rosa liegt der Gedanke zugrunde, dass Ich und Welt einander nicht in einem starren Subjekt – Objekt – Verhältnis gegenüberstehen. Bereits das erkennende Ich und die von ihm erkannte Welt sind nicht einfach da. Sie entstammen einer vorgängigen Bewegung. Ein unableitbarer Impuls des Geistes hat zur Ausbildung symbolischer Formen geführt, die das Ich und die Welt erst in dem Modus konstituieren, in dem diese sich begegnen. Sie treffen in Gestalt von Sprache, Mythos, Religion, wissenschaftlicher Erkenntnis aufeinander, und die jeweilige symbolische Form gibt ihnen das Gesicht, mit dem sie in Erscheinung treten. Einen ontologischen Dualismus vermeidet auch Rosa. Seine Heuristik beruht auf der Einsicht, dass der häufig diagnostizierten Spaltung von Subjekt und Objekt eine Einheit vorausliegt. Diese besteht in der Bezogenheit auf Gegenwärtiges. Erst aus diesem Erstimpuls entwickelt sich ein Prozess, in dem das Ich sich zunehmend seiner selbst bewusstwird und sich in der Unterschiedenheit von der Welt wahrnimmt. Die Beziehung zwischen erkennendem Subjekt und der als Gegenüber wahrgenommenen Welt ist bereits das Resultat eines vorherigen schöpferischen Geschehens. Sowohl die Formung des Subjekts als auch die Objektkonstitution enthält den Rückverweis auf einen kreativen Impuls, der beide in ihrem So-Sein R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 111. Beide Zitate R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 111. 101 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 111. 102 R, Unverfügbarkeit (s. Anm. 59), 114. 99

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2.1 Exegese oder Interpretation?

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gebildet hat. Aus dieser gemeinsamen Rückbindung folgt, dass das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt nicht in einer Zweierdimension aufgeht. Auf beiden Seiten der Relation wirkt der Ursprungsimpuls. Daraus ergibt sich die innere Bezogenheit beider Pole aufeinander. Die analytische oder interpretatorische Verhältnisbestimmung zwischen Subjekt und Objekt schließt daher die Wahrnehmung des beide verbindenden schöpferischen Impulses mit ein. Der philosophische wie der soziologische Zugang entsprechen in ihrem Ansatz der Denkbewegung, die den Vorgang der Interpretation auf die Erschaffung des textum als Interpretat zurückführt.

2.1.4 Sinnpotential und Bedeutungserhebung Von Odo Marquard stammt die Aussage: „Hermeneutik ist die Kunst aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht“.103 Dieses Diktum wirkt im ersten Moment deshalb witzig, weil es unter der Grundannahme eines starken Textes die Verstehensbemühung von Auslegerinnen und Auslegern als einen sekundären Vorgang der Bedeutungsgenerierung ironisiert, dem ein gerütteltes Maß an subjektivem Ermessen innewohnt. Wahr an dieser Aussage ist jedoch: „Entgegen unserer alltäglichen Redeweise ,haben‘ Texte keine Bedeutung, sondern sie wird vom Interpretierenden am Text gebildet.“104 Sachlich ist damit die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Sinn eines Textes und der Bedeutungserhebung durch seine Interpretinnen und Interpreten gestellt. Die begriffliche Zuordnung von Sinn und Bedeutung eines Textes wird unterschiedlich vorgenommen. In dem Wissen, dass auch die umgekehrte Richtung vertreten wird, wird hier die Sprachregelung übernommen: Sinn gehört auf die Seite des Textes. Ein Text stellt ein unerschöpfliches Sinnpotential zur Verfügung. Dieses ist darauf angelegt, realisiert zu werden. Es drängt auf Explikation.105 Diese vorzunehmen ist die Aufgabe der Interpretation. Die Realisierung des Sinnpotentials erfolgt mittels der Bedeutungszuschreibung durch die Interpreten. Die Bedeutungszuschreibung gehört damit auf die Seite der Interpreten. Punktuell und partiell erschließen diese auf dem Weg ihrer Interpretationen in ihren Formulierungen der Bedeutung Aspekte des Sinnreservoirs.106 Dieses steht für immer neue Realisierungen offen.

103 O. M, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1987, 117–146, 117. 104 G, Interpretation (s. Anm. 12), 487. Bedeutung wird den Texten „in den Akten des Verstehens und der Interpretation zugewiesen“ (491). 105 Das Wort Sinn beinhaltet eine Richtungsangabe. „Sinn heißt Richtung, man denke an den ,Uhrzeigersinn‘; es ist das, was eine Bewegung gerichtet, eben sinnvoll sein läßt.“ F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 73. 106 Ausführlich und mit Blick auf einschlägige Literatur bearbeitet bei K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 18), 88–98.

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2 Text und Methode

Aus theologischer Sicht gilt es auf eine wesentliche Voraussetzung für den Vollzug von Interpretationen hinzuweisen. Diese nehmen ihren Ausgang bei einer materialen Textbasis. In und auf ihr gründen sie, auf sie beziehen sie sich. „Texte […] geben dem Denken etwas vor“.107 Im Vollzug der Bedeutungserhebung erheben sich Interpretationen von ihrer materiellen Grundlage auf eine geistige Ebene. Die materialen Texte dienen den Bedeutungszuweisungen als Sprungbrett. Ihre Aneignung im Zuge der Interpretation ist ein geistiger Vorgang. Dieser Sachverhalt folgt einer Regel, die den Vorgaben aufgeklärten Denkens entspricht: Von der Materie wendet sich das Interesse hin zu Geist und Bewusstsein, vom materiellen Text geht der Weg zur immateriellen Bedeutungszuschreibung. Die Karriere des Textes im Modus seiner Bedeutung impliziert die Transzendierung seiner Buchstäblichkeit und seiner Materialität. Die Bedeutung ist zum Jenseits des Textes geworden. Ihr bzw. ihm strebt das Erkenntnisinteresse entgegen.108 In gewisser Weise behält im Rahmen dieses Verstehensparadigmas das Gültigkeit, was einen Überrest aus der exegetisch-theologischen Vergangenheit gegenwärtiger Interpretationspraxen darstellt: die Beachtung des Verweischarakters eines schriftlichen Textes. Das Verständnis vom Zusammenhang zwischen Text, Bedeutung und Interpretation bleibt damit trotz aller Zugeständnisse an die Macht der Rezeption im Kern dem Gedanken des starken Textes verpflichtet, der über Jahrhunderte für den Umgang der Exegese mit der Bibel charakteristisch war.

2.2 Die Widerstandslinie der Interpretation Billigt man dem prozesshaften Moment der Bedeutungszuschreibung im Rahmen einer Interpretation derartige Schöpferkraft zu, ist nach dem Stellenwert von interpretierendem Subjekt und interpretiertem Objekt zu fragen. Strikt konstruktivistisch betrachtet liegt alle Schöpfermacht beim kreativen Subjekt. Es erschafft seinen Gegenstand. Unter konstruktivistischem Zugriff schafft das erkennende und d.h. hier das interpretierende Subjekt den Text, den es interpretiert. Wenn alle Macht dem Interpreten gehört, liegt dann auch alles Recht beim Interpreten? Falls ja, droht der Text zum Spielball der Interpretation zu werden. Damit steht die Frage im Raum: Ist alles erlaubt im Umgang mit einem Text? Für Richard Rorty gibt es nicht ein „Etwas, wovon ein vorgegebener Text eigentlich handelt“109. Aus diesem Grund plädiert Rorty „dafür, die Distinktion zwischen F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 73. In die Gegenrichtung weisen die Bestrebungen, die sich verstärkt auf die Materialität der Texte als solche beziehen. Vgl. dazu C. J, „Das Biest aus dem Süden“. Schriftkritik als kultureller Aushandlungsprozess, in: K. Schmid (Hg.), Heilige Schriften in der Kritik. XVII. Europäischer Kongress für Theologie (5.–8. September 2021 in Zürich), 95–111. 109 R. R, Der Fortschritt des Pragmatisten, in: U. Eco, Zwischen Autor und Text. 107

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2.2 Die Widerstandslinie der Interpretation

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Gebrauchen und Interpretieren einfach fallenzulassen, um nur zwischen den Nutzungsmöglichkeiten für verschiedene Menschen mit abweichenden Motiven zu unterscheiden“110. Darf man also alles in einen Text hineinlesen? Oder gibt es gegenüber einer vollständigen Instrumentalisierung eines Textes für die Zwecke seiner Interpreten eine – moralisch zu ziehende – Grenze? Müssen Texte vor Missbrauch durch ihre Interpreten geschützt werden? Werner Jeanrond hat darauf hingewiesen, dass ein ethisches Problem entsteht, wenn ein Text vollständig gegen seine Eigenintention gelesen wird. Jeanrond fordert eine Verantwortung gegenüber dem Textsinn ein und will vermieden wissen, dass „die Texte zu potentiellen Opfern der Lesegemeinschaften“111 werden. Ungezügelten Überinterpretationen entgegenzutreten, ist auch das Anliegen von Umberto Eco.112 Nicht zuletzt im Gespräch mit Rorty stößt Eco angesichts der postulierten Dominanz des schier übermächtigen Interpreten das Nachdenken über die Grenzen der Interpretation an.113 Nach Eco steht dem Text ein Eigenrecht zu. Er gehört in den Zwischenraum zwischen der unergründbaren Autorabsicht und der anfechtbaren Interpretenintention.114 Die Allmacht eines radikalkonstruktivistischen Zugriffs droht zur Tyrannei über die Texte auszuarten. „Auch wenn es kein Ding an sich gibt, auch wenn unsere Erkenntnis situativ, holistisch und konstruktiv ist, sprechen wir immer über etwas; sei dieses Etwas auch relational, so sprechen wir doch stets über eine gegebene Beziehung.“115 Der bereits benannte Widerspruch des sog. neuen Realismus gegen einen verabsolutierten konstruktivistischen Zugriff auf die Wirklichkeitskonstitution flankiert von philosophischer Seite das Ringen um eine Widerstandslinie im Interpretationsprozess.116 Naturgemäß fasst der neue Realismus die Rahmenbedingungen für das, was interpretatorisch möglich ist, enger als das konstruktivistische Paradigma. Gegenüber dem Konstruktivismus wie dem Realismus gilt freilich aus theologischer Perspektive derselbe Einwand: Die Position des interpretierenden bzw. weltdeutenden Subjekts wird in beiden Zugangsweisen höher ein-

Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von R. Rorty, J. Culler, C. BrookeRose und S. Collini. Aus dem Englischen von H.G. Holl, München 22004, 99–119, 113 (Kursivierung von Rorty). 110 R, Fortschritt (s. Anm. 109), 116. 111 J, Text und Interpretation (s. Anm. 16), 112. 112 U. E, Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von R. Rorty, J. Culler, C. Brooke-Rose und S. Collini, München 22004. 113 Vgl. dazu K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 18), 81–82.92–93. 114 U. E, Zwischen Autor und Text, in: Ders., Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von R. Rorty, J. Culler, C. Brooke-Rose und S. Collini, München 22004, 75–98, 87. 115 J, Text und Interpretation (s. Anm. 16), 125. 116 Dazu s.o. 1.2.3.2 Neuer Realismus vs. etablierter Konstruktivismus. Zur Auseinandersetzung mit dem Neuen Realismus vgl. auch die Debatten in E. F/A. G (Hg.), Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative, Berlin/Boston 2018.

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2 Text und Methode

geschätzt und einseitiger vertreten, als es theologisch unter der Wahrnehmung Gottes als des eigentlichen der Welt gegenübertretenden Subjekts adäquat ist. Die Begrenzung des dem Subjekt Möglichen ist für die Theologie, die den Menschen als Gegenüber Gottes wahrnimmt, keine offene Frage.117 Dass damit auch unter philosophischer Perspektive kein Paradox vorliegt oder eine Aporie entsteht, entfaltet Günter Figal mit der Fokussierung des Phänomens der Gegenständlichkeit.118 Figal macht in wiederholten Anläufen auf den springenden Punkt aufmerksam, der an diejenige Grenze eines Zugangs zum Gegenstand führt, an welcher sich Entgegenstehendes einstellt bzw. zeigt. Dazu orientiert er sich an den Themenfeldern Interpretation, Welt und Raum, Freiheit, Sprache, Zeit und Leben. Figal versteht seine „,gegenstandshermeneutische‘ Phänomenologie“119„als phänomenologischen Beitrag zum philosophischen Realismus“120 und stellt ihn in die Nachbarschaft zu Ferraris‘ Manifest des neuen Realismus. Figal markiert den Umschlagmoment, in dem sich Gegenständlichkeit einstellt, in ausbalancierter Weise. Dadurch vermeidet er, in unvereinbare Extreme zu verfallen. Weder ist das Sich-Einstellen von Gegenständlichkeit das Produkt einer konstruktivistischen Schöpfung, noch beruht sein Auftreten auf einer ontologischen Setzung. Die hermeneutische Erfahrung stellt vor die Aufgabe, sich mit dem zu befassen, „das man selbst nicht ist, mit etwas, das entgegensteht“. Insofern ist „Gegenständlichkeit […] die Hauptsache der hermeneutischen Philosophie“121. Entsprechend ist für Figal Interpretation „die Erkundung des Gegenständlichen“.122

2.3 Verstehen im Rahmen einer theologischen Hermeneutik Mit dem Vorgang der Bedeutungserhebung auf dem Weg der Interpretation geht im Rahmen der Rezeption der Akt des Verstehens einher.123 Die deutsche Vorsilbe ver kündigt bereits an, dass die mit dem anschließenden Verb verbundene Aktivität als Teil einer Wechselbeziehung erfasst wird. Das Ver-Stehen impliziert die Bezugnahme auf einen Stand-Punkt. Dieser existiert nicht isoliert, sondern tritt 117 Vgl. dazu o. S. 33 den Einwand gegen die Überschätzung des starken Subjekts und die Bedeutung heilsamer Passivität für das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. 118 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2). 119 So F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), VI, unter Hinweis I.U. D, Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte, Tübingen 2018, 151. 120 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), VI. 121 So F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 3, unter Bezugnahme auf Hans-Georg Gadamer. 122 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 3–4. 123 „Dabei verläuft das Interpretieren als intentionaler Vorgang regelgeleitet, das Verstehen als der erste kognitive Zugriff auf den Text dagegen nicht.“ G, Interpretation (s. Anm. 12), 487.

2.3 Verstehen im Rahmen einer theologischen Hermeneutik

61

als angeeigneter im Rahmen einer Denkbewegung in den Blick. Das Verstehen umfasst einerseits einen Prozess, nämlich den Vorgang des Verstehens als solchen. Andererseits richtet sich das Verstehen auf etwas Inhaltliches. Dieses kristallisiert sich im Akt des Verstehens in seiner Eigenart heraus. Das Verstehen mündet in ein Verstandenes, und dieses begründet wiederum einen neuen Verstehensvorgang. Spiralförmig entfaltet sich der hermeneutische Zirkel im Wechsel zwischen Vorverständnis und neuem im Prozess des Verstehens erlangten Verständnis, welches wiederum zum Vorverständnis der nächsten Verstehensbewegung wird. Das Verstehen spiegelt einen Erkenntnisvorgang, für den die Bewegung zwischen dem Gegen-Stand und der Anstrengung um das Verständnis konstitutiv ist. Das Gelingen einer Verstehensbemühung lässt sich nicht erzwingen. Es bleibt insofern unverfügbar, als niemand im Vorhinein den Eintritt eines Verstehens programmieren kann. Neben der Aktivität der Verstehensbemühung bleibt der Erfolg beim Umschlag vom Verstehenwollen zum Verständnis von einer Selbstwirksamkeit im Prozess des Verstehens abhängig. Der reflektierende Nachvollzug einer von Erfolg gekrönten Verstehensbemühung führt bis an die Schwelle des gewonnenen Verständnisses. Dessen Eintritt selbst ist nicht aus einer nach vorn gerichteten Strategie abzuleiten. Die Frage ist, worauf sich bei der Lektüre der Evangelienschriften eine theologisch motivierte Verstehensbemühung richtet. Angestrebt wird hier eine Lektüre, die die synoptischen Evangelien als Transparente liest, in denen eine vom Evangelium durchdrungene Weltsicht durchscheint und ihren Niederschlag gefunden hat. Die erzählte Welt wird auf ihren theologischen Verweischarakter hin beobachtet. Die Texte werden auf Spuren und Signale hin gelesen, die Auskunft von der im Evangelium verkündeten Zuwendung Gottes zu den Menschen geben. Die Evangelienschriften werden als Ausdruck der „Resonanz“124 des Evangeliums interpretiert, als verschriftete Verweise auf einen Kommunikationsprozess, dem der Glaube an Gottes Zuwendung zur Welt und den Menschen zugrundeliegt. Stellen die Evangelienschriften selbst das Resultat eines vorherigen Angesprochenseins dar, richtet sich das vernehmende Verstehen und die ihm entspringende Interpretation darauf, in ebendiese Bewegung des Hörens, Reagierens und Antwortens zurückzuführen. Das theologisch movierte Verstehen führt an die Schwelle der dem göttlichen Wort korrespondierenden Passivität im Verstehensvollzug heran.

124

Vgl. D, Wirkendes Wort (s. Anm. 16), 85.

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2 Text und Methode

2.4 Die theologische Grenze literaturwissenschaftlicher Methodik 2.4.1 Gott als Autor Von früher Zeit an zielte die christliche Schriftauslegung auf einen Hintersinn. Jenseits der Oberflächendarstellung ging es darum, den Horizont des Göttlichen zu erschließen. Das methodische Verfahren, welches dazu entwickelt und angewandt wurde, war der vierfache Schriftsinn. Auf vier Ebenen wurde das Bedeutungsspektrum eines Textes bestimmt: Der historische Sinn reformulierte die wörtliche Aussage des Textes, die allegorische Ausdeutung erschloss eine heilsgeschichtlich relevante Parallelwelt, der ethische Sinn zielte auf die moralische Umsetzung in der christlichen Lebensgestaltung und der eschatologische Sinn lenkte den Blick hinauf zum Heil – daher anagogicus.125 Die Exegese der Aufklärungszeit zielte auf dem Weg über philologisch und historisch rekonstruierende Arbeit darauf, unzerstörbare und zeitlose Wahrheiten aus den neutestamentlichen Schriften zutage zu fördern. Rezeptionsästhetisch orientierte Zugänge der Gegenwart verorten das Wirken des Heiligen Geistes nicht länger in den schriftlichen Zeugnissen der Bibel oder bei der Inspiration im Zusammenhang von deren Entstehung, sondern sehen den Geist im Vorgang der lesenden Aneignung der biblischen Überlieferung am Werk.126 Zu jeder Zeit ist das Bewusstsein leitend gewesen, dass der unverrechenbare Anteil, der aus den biblischen Texten spricht, methodisch nicht vollständig einzuhegen ist. Im Gegenteil, theologisch verantwortete Exegese hat stets darauf geachtet, die Texte als Medien der Vermittlung göttlicher Wirksamkeit zu verstehen. Wie die biblischen Texte selbst ihr Zustandekommen dem Wirken des Evangeliums verdanken, hat die Auslegung das Bewusstsein bewahrt, dass in der Bezugnahme auf die biblischen Schriften dieses Evangelium weiterwirkt und seine Rezipientinnen und Rezipienten zu erfassen in der Lage ist. In theologischer Wahrnehmung bilden die Texte den Niederschlag vorangegangener Gottesbeziehung. Hinter den biblischen Texten als Produkten menschlicher Autoren, die sie auch sind, steht als deren eigentlicher Schöpfer Gott, wie er sich im Glauben erschlossen hat.127 Diese Perspektive in der Bezugnahme auf die Evangelienschriften im Auge zu halten,128 macht den Unterschied einer theolo125 Vgl. E. M, Art. Schriftauslegung III. Kirchengeschichtlich, TRE 30 (1999) (Studienausgabe 2006), 472–488, hier 479–480; D.R. L, Art. Schriftsinn, RGG4 7 (2004) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 1010–1011; K, Der inspirierte Leser (s. Anm. 1), 73–77; G, Interpretation (s. Anm. 12), 495. 126 So K, Der inspirierte Leser (s. Anm. 1), 15–17.111–112, und U.H.J. K, Rezeption und Inspiration. Über die Schriftwerdung des Wortes und die Wortwerdung der Schrift im Akt des Lesens, NZSTh 51 (2009), 27–49, 41.Vgl. auch U.H.J. K, Schrift und Geist. Über Legitimität und Grenzen allegorischer Schriftauslegung, NZSTh 36 (1994), 1–17, hier 14–16. 127 Vgl. K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 18), 130. 128 Vgl. U.H.J. K, Theologische Theologie des Neuen Testaments. Systematisch-

2.4 Die theologische Grenze literaturwissenschaftlicher Methodik

63

gischen Interpretation gegenüber einer Auslegung aus, die sich lediglich auf den literarischen Befund als Ausdruck menschlicher Kultur- und Religionsgeschichte bezieht und theologisch betrachtet an der Außenseite der Offenbarung bleibt.

2.4.2 Inkarnationstheologische Interpretation Paul Ricœur hat in seiner Hermeneutik den bemerkenswerten Satz formuliert: „Was bleibt zu interpretieren, wenn wir die Hermeneutik nicht mehr definieren können als Frage nach den hinter dem Text verborgenen inneren Absichten eines anderen, wenn wir die Interpretation aber auch nicht auf die Zerlegung der Strukturen beschränken wollen? Ich würde sagen: interpretieren heißt, die Weise des vor dem Text entfalteten In-der-Welt-Seins darzustellen.“129 Unter dieser Horizontbestimmung lässt sich der christliche Inkarnationsgedanke für die Interpretationspraxis fruchtbar machen.130 Interpretationen geschehen nicht la` pour la`. Sie erfolgen kontextbezogen. Unterscheiden lassen sich dabei nähere und fernere Kontexte. Die Qualität einer Interpretation im wissenschaftlichen Zusammenhang liegt darin, wie intensiv in den engeren Kontexten Perspektiven eines umfassenderen Zusammenhangs erkennbar werden. Gemeint ist, wie weit die erschließende Kraft einer Interpretation reicht. Da wissenschaftliche Erschließungsvorgänge häufig kleinteilig angelegt sind, dominiert vielfach eine Binnenperspektive. Die Frage ist, ob über den näheren Bezug hinaus ein weiterer Wahrnehmungswinkel angelegt wird. Anders gesagt: Bleibt es bei einem analytischen Zugang vom Detail her, welcher nicht den Anspruch einer weitergehenden Kontextualisierung erhebt? Oder gibt es eine Reflexionsebene, die synthetisch den Bezug zu einem übergreifenden Erkenntnisanliegen herstellt? Figals Plädoyer für den Verzicht auf die kalte Ermittlung dessen, was Sein ausmacht, ist für die theologische Reflexion anschlussfähig. Figals Leitbegriff für die Beschreibung von Sein heißt Leben.131 Das Wort erscheint ihm zum einen deshalb geeignet, weil es „unspezifisch“, aber nicht „nichtssagend“ ist und zum anderen, weil es den Gegensatz zum „Unlebendige[n]“ formuliert.132 Ohne die Tradition der Lebensphilosophie oder Nietzsches Gedanken vom „,Willen zur theologische Bibelinterpretation im Gespräch mit Paul-Gerhard Klumbies, in: Ders., Theologische Exegese. Bibelhermeneutische Studien in systematischer Absicht, Leipzig 2022, 43–54. 129 P. R, Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, 32; vgl. dazu K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 18), 89. 130 M. L, Warum Kaffeetassen ergriffen werden wollen. Der Körper denkt mit: Die Kognitionswissenschaft erweitert ihren Begriff von Geist und Wahrnehmung, FAZ vom 6. März 2019, Seite N4, stellt den Wandel dar, der sich in der Kognitionswissenschaft vollzieht. An die Stelle eines ursprünglich dem Funktionalismus verpflichteten „körperlose[n] Bild[es] der Kognition“ sei ein Bewusstsein für „die Bedeutung des Körpers für das Denken“ und die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt getreten. 131 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 4 sowie das Schlusskapitel 7, 357–416. 132 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 358.

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2 Text und Methode

Macht‘“133 zu reaktivieren, geht es um das Verständnis des Menschen als eines „hermeneutische[n] Lebewesen[s]“134, dessen Eigentümlichkeit in der Fähigkeit des „Darstellen[s]“135, der Verhältnisaufnahme aus dem Abstand zu den Dingen heraus,136 der „lebendigen Bezugnahme auf die Dinge“137 liegt. Als ψυχη ist der Mensch ein „Bewegungswesen“138. Zu diesem gehört, „daß es sich zu dem ihm Widerfahrenden verhält“139. Der Körper als Leib verstanden verweist auf Leben.140 „Ein Leib ist ein Ort der Lebendigkeit“. „[M]an erfährt ihn nur in der Begegnung“.141 Entscheidende Bedeutung kommt dem Verhalten zum eigenen Verhalten zu, wie Figal unter Bezug auf Kierkegaards berühmte Formulierung ausführt.142 Es macht deutlich, „daß es im Leben nichts Substantielles gibt. Im Verhalten ,zu sich‘ erweist sich das Leben vielmehr als Lebensgefüge“143. Das Erkennen wiederum „führt nach außen, in die Welt der Dinge“. Letztlich sind es das In-Beziehung-Treten und das „Verhalten zu den Gegenständen“144, die das Leben in seiner Innen- und Außenperspektive ausmachen. Leiblichkeit ist für den Vorgang der Wahrnehmung ein zentraler Punkt im Werk von Merleau-Ponty. „[K]eine der gängigen Kategorien wie Ursache, Wirkung, Mittel, Zweck, Materie, Form ,reicht aus, um die Beziehungen des Leibes zum gesamten Leben zu erfassen, die Art und Weise, wie er mit dem persönlichen Leben oder wie dieses mit ihm verschränkt ist‘“145 Der Leib begegnet in einer zweifachen Weise. Er ist, wie Merleau-Ponty im Anschluss an Husserl ausführt, sowohl ein Ding wie andere Dinge auch als auch der „,Träger des Ich‘“146. „[D]er Leib ist sowohl in der Welt als auch zur Welt.“147 Die Herausforderung für das auf F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 360–361, Zitat 361. F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 361. 135 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 361. 136 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 362. 137 So von F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 365, unter Bezugnahme auf MerleauPonty formuliert. 138 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 379. 139 So F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 389, unter Bezugnahme auf Aristoteles. 140 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 392–393. 141 Beide Zitate F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 397. 142 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 406. S. K, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester, die Sünderin, Gütersloh 1978, 8: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“ 143 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 406. 144 Beide Zitate F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 2), 416. 145 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 43, zitiert M. M-P, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, neu bearbeitet, kommentiert und mit einer Einleitung hg. v. C. Bermes, Hamburg 2003, 78. 146 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 71, zitiert E. H, Ding und Raum, Vorlesungen 1907, hg. v. U. Claesges, Husserliana Bd. XVI, Den Haag 1973, 161.162. 147 S. K, Maurice Merleau-Ponty I – Körperschema und leibliche Subjektivität, 133 134

2.4 Die theologische Grenze literaturwissenschaftlicher Methodik

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Objektivität bedachte wissenschaftliche Denken besteht darin, den Leib nicht ausschließlich als Gegenstand zu betrachten, sondern ihn zugleich als „wahrnehmenden Eigenleib“148 zu begreifen, in dem Subjekt und Objekt beieinanderliegen. Merleau-Ponty selbst sieht die Spaltung zwischen Subjektivität und Objektivität in dem Zur-Welt-Sein des Menschen überwunden bzw. aufgehoben. Denn unter dieser Prämisse bleiben Bewusstsein und Wahrnehmungsfähigkeit leibgebunden. Die Leiblichkeit bildet die Grundlage für die Wahrnehmungsakte, das Bewusstsein ist „leiblich vermittelt“149. Das bedeutet: In letzter Konsequenz konstruiert das Bewusstsein nicht, sondern legt nur aus, „was bereits zuvor wahr ist“150. „Der Leib ist das Mittel des Zur-Welt-Seins“151. Gleichzeitig aber gilt auch für das Verhältnis des Leibes zur Welt: Der Leib „konstruiert […] nicht die Welt, die Welt ist immer schon vorgängig, es kann sich nur um eine Rekonstitution von bereits Konstituiertem handeln“152. Für Merleau-Ponty wie bereits für Cassirer stellt Inkarnation eine zentrale Ordnungsvorstellung dar.153 Inkarnation bringt die konstitutive Zusammengehörigkeit von Sinnlichkeit und Sinn auf den Begriff.154 Allerdings folgt Merleau-Ponty mit der Verwendung seiner Terminologie keinen religiösen Interessen. Vielmehr „beschreibt er ein innerweltliches Werden von Welt und Mensch in religiösen Metaphern, freilich ohne einen Gott oder eine Transzendenz“155. in: E. Alloa u.a. (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2 2019, 23–36, 24. 148 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 73. K, Maurice MerleauPonty I (s. Anm. 147), 24: Das Subjekt ist als „leibliches zugleich Wahrnehmendes und Wahrgenommenes“. 149 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 28. „Das Bewusstsein ist nicht anders denn als leiblich in der Welt engagiertes und als intersubjektiv handelndes zu fassen, als losgelöstes bleibt es eine leerlaufende philosophische Spekulation.“ (B, Maurice Merleau-Ponty [s. Anm. 36], 47). 150 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 68. M-P, Abenteuer der Dialektik (s. Anm. 38), 166. 151 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 85, ähnlich 62. 152 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 93. 153 E. A, Maurice Merleau-Ponty II – Fleisch und Differenz, in: E. Alloa u.a. (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 22019, 37–51, 37, weist darauf hin, dass sich an Merleau-Pontys Verwendung des Begriffs Fleisch (la chair) die Geister scheiden. Die einen begrüßen die Vorstellung als Wiedergewinnung der sinnlichen Dimension, andere, wie J. D, Berühren. Jean-Luc Nancy, übers. v. H.-D. Gondek, Berlin 2007, 265, distanzieren sich von ihr als zu „,christlich‘“. 154 Vgl. B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 88–89. Nach B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 64–65, kann Merleau-Pontys Verständnis von Inkarnation, Fleischwerdung, Verkörperung als „Universalisierung der Cassirerschen ,symbolischen Prägnanz‘ begriffen werden“ (Zitat 65). M-P, Phänomenologie der Wahrnehmung (s. Anm. 35), 108.155.338.339. C, Philosophie III (s. Anm. 23), 109: Im „Symbolbegriff“ werden Phänomene zusammengefasst, „in denen ein Sinnliches […] sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt“. 155 B, Maurice Merleau-Ponty (s. Anm. 36), 156.

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2 Text und Methode

Die Interpretation biblischer Texte in inkarnationstheologischer Perspektive richtet ihr Augenmerk darauf, wie die göttliche Wirklichkeit mit menschlicher Leiblichkeit verknüpft wird. Erfasst werden soll, wie die menschlichen Lebensverhältnisse angesichts der Gegenwart Gottes in den Evangelien wahrgenommen und gestaltet werden. Zur Sprache kommen soll, wie in den neutestamentlichen Texten das Eindringen der göttlichen Offenbarung in die menschliche Lebenswelt, in leiblicher wie sozialer Hinsicht, formuliert wird. Menschen werden in den synoptischen Evangelien durchgängig unter einer soteriologischen Perspektive als Bedürftige gezeichnet.156 Das macht die rettende Gottes- bzw. Christusbeziehung nicht zum Mittel der Kompensation eines naturgegebenen Mangels oder prekärer Lebensverhältnisse. Der Glaube gilt als das Mittel, den Anforderungen der conditio humana standzuhalten.

2.5 Vermittlungsinteresse und Erschließungshorizont Im Blick auf die Interpretation der Evangelien unter theologischem Blickwinkel gilt es, die Begriffe Schrift, Bibel, Evangelium einander sachgemäß zuzuordnen. Ingolf U. Dalferth plädiert dafür, dass die evangelische Theologie sich „auf das Wirken des Evangeliums im menschlichen Leben konzentriert“157. Laut Dalferth ist die protestantische Theologie in die „Gutenberg-Falle“158 geraten. Er meint damit, dass Schrift und Bibel gleichgesetzt worden sind. Schrift im eigentlichen Sinne bezeichne jedoch zuallererst die „Kommunikation des Evangeliums“.159 Schrift ist die Bibel im Dienste der Vermittlung des Evangeliums. Erst in ihrem Gebrauch werde die Bibel zur Schrift.160 Die Gleichsetzung von Schrift und Bibel habe zwei Verschiebungen nach sich gezogen: Erstens wurde die Schrift, die eigentlich das Mittel zum Verstehen des Evangeliums ist, selbst zum „Gegenstand des Verstehens“. Zweitens „konzentrierte man die theologische Arbeit darauf, die Schrift zu verstehen“, „[a]nstatt mit Hilfe der Schrift das Evangelium zu verstehen“.161 Der mediale Charakter der Schrift dient der Weitergabe des Evangeliums. Im Medium der Schrift erschließt sich das Evangelium als Evangelium. Das

156 Vgl. C. L, Der Mensch im Neuen Testament, in: J. van Oorschot (Hg.), Mensch, ThTh 11, Tübingen 2018, 65–104, 70. Vgl. auch E. R, Anthropologie des Neuen Testaments, Tübingen/Basel 2006, 42. Eine umfassende thematische Gesamtschau auf das Neue Testament und dessen traditionsgeschichtliche Voraussetzungen bieten R. F/H. S, Menschwerdung, TOBITH 2, Tübingen 2018. 157 D, Wirkendes Wort (s. Anm. 16), VII. 158 D, Wirkendes Wort (s. Anm. 16), XX. 159 D, Wirkendes Wort (s. Anm. 16), XX, 43, 270, 304 u.ö. 160 D, Wirkendes Wort (s. Anm. 16), 304: „Schrift – das ist der Gebrauch, den die Kirche von den Schriften der Bibel zur Kommunikation des Evangeliums und seiner Auslegung in der Gegenwart macht.“ Ähnlich ebd. 73 und 262. 161 Zitate D, Wirkendes Wort (s. Anm. 16), XX.

2.5 Vermittlungsinteresse und Erschließungshorizont

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Evangelium seinerseits eröffnet wiederum die qualifizierte Beziehung Gottes zum Menschen und zur Welt.162 Sachlich geht es bei dem Bezug auf die Begriffe Schrift, Bibel und Evangelium darum, die Statik und Verselbstständigung, in die diese Termini geraten sind, zu verflüssigen. Die schriftliche Fixierung der biblischen Texte trägt Verweischarakter in sich. Sie zeugt von einem Kommunikationsgeschehen, dem die Texte sich verdanken und das sie ihrerseits neu anstoßen. Der Glaube, der sich sprachlich artikuliert hat, hat in der Bibel einen schriftlichen Niederschlag gefunden, welcher seinerseits wiederum auf die Weckung neuen Glaubens zielt. Entfacht werden soll er im Zuge der Begegnung mit der als Medium begriffenen Verschriftlichung in der Bibel. Nach christlichem Selbstverständnis zielt der Vermittlungsvorgang auf die Weitergabe des Evangeliums. Die schriftliche Orientierungsgröße dazu sind die mit der Auslegung des Christusgeschehens befassten frühchristlichen Texte. Einer Auswahl von 27 dieser Schriften wurde unter der Überschrift Das Neue Testament ab dem vierten Jahrhundert als Schriftensammlung zunehmend ein normativer Charakter eingeräumt. Damit hatten diese Texte als solche einen Autoritätsgewinn verbucht. Die bloße Fixierung eines Schriftenkanons stellt jedoch lediglich einen äußerlichen Sicherungsversuch dar. Außerhalb eines Kommunikations- und Aneignungsprozesses, der sich auf das Evangelium bezieht, bleibt die Kanonisierung ein Formalprinzip. Verlebendigt wird es erst durch den Bezug auf das Evangelium. Der in den neutestamentlichen Schriften verwendete Begriff Evangelium trägt einen Doppelsinn in sich. Zum einen bezeichnet ευÆ αγγε λιον den Vorgang der Übermittlung einer Botschaft, also das kommunikative Geschehen als solches. Die Bewegung, die in der lebendigen Beziehung zwischen Gott und Mensch steckt, die ihr innewohnende Kraft163, ist das Evangelium. Zum anderen transportiert der Terminus einen Inhalt, der weitervermittelt wird. Worin dieser Inhalt im Einzelnen besteht, wird auf unterschiedliche Weise direkt oder indirekt, begrifflich oder metaphorisch entfaltet. Die Formulierungen sind vielfältig, aber nicht beliebig. Ihr Charakter und ihre Richtung resultieren aus der Christologie. In begrifflicher Hinsicht trägt die Christologie das Risiko formaler Versteinerung in sich. Dem ist traditionell entgegengewirkt worden, indem bei der Entfaltung der Christologie neben deren Ausführungen zur Person Jesu Christi gleichwertig die Aussagen über sein Werk und d.h. über den prozessualen Charakter der Christologie gestellt wurden. Die soteriologische Entfaltung der Christologie ist ein Zeichen des Bemühens, ihren kommunikativen Charakter darzustellen und sie ebenfalls als Ausdruck der Leben stiftenden Bewegung Gottes resp. Christi zum Menschen hin auszulegen. 162 D, Wirkendes Wort (s. Anm. 16), 302: „Evangelische Schriftauslegung hat ihre Pointe nicht in der Auslegung der Schrift per se, sondern im Gebrauch der Schrift zur Auslegung des Lebens durch das Evangelium.“ Ähnlich ebd. 45. 163 Die δυ ναµις, Röm 1,16.

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2 Text und Methode

Das Ziel der hier vorgelegten Interpretation der synoptischen Jesuserzählungen besteht darin, ihre soteriologischen Implikationen und Perspektiven offenzulegen. Die drei Jesusbilder, die die synoptischen Evangelienschriften präsentieren, werden als Antworten auf die Frage nach der Erlösung des Menschen wahrgenommen. Die soteriologische Frage fällt naturgemäß bereits in den neutestamentlichen Texten facettenreich aus. Dieser Vielfalt entspricht die Fülle der Antworten, die gegeben werden. Sie gliedern sich in drei Großantworten, und jedes der drei synoptischen Evangelien steht schwerpunktmäßig für eine von ihnen. Hinzu tritt die Vielzahl der Kleinantworten, die in den Einzelüberlieferungen der Evangelien enthalten liegen. Daraus resultiert eine doppelte Perspektive: Einerseits gliedert sich die soteriologische Grundfrage nach der Erlösung in unterschiedliche Facetten, wovon Erlösung erhofft wird. Andererseits sind auch die Antworten, wodurch die Erlösung erzielt wird, pluriform. Der Erschließungshorizont, in dem sich die Interpretation bewegt, umfasst die Frage nach der Wirklichkeit, der sich Menschen ausgesetzt sehen. Die Evangelien dokumentieren, wie Jesus und die Menschen, denen er begegnet, in ihrer je unterschiedlichen Wirklichkeitserfahrung ihren Gottesbezug realisieren. Sie zeigen, wie der Glaube einerseits auf die Wirklichkeitserfahrung reagiert und sie andererseits herstellt. Gottesbeziehung und Wirklichkeitsverhältnis, Glaube und Wirklichkeitsgestaltung bilden die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Damit ist das Verhältnis von Einheit und Vielheit der Evangelien auf den Punkt gebracht. Angesichts einer vielgestaltigen Wirklichkeit zeichnen die Evangelien Bilder von Menschen, die Erlösung benötigen. In unterschiedlicher situativer Ausgestaltung formulieren sie menschliche Erlösungsbedürfnisse. Dabei sind die Erfahrungen, von denen sie erzählen, über ihre zeitliche und situative Verankerung hinaus transparent für andere Zeiten und Lebenslagen. Alle drei synoptischen Evangelienschriften präsentieren Jesus als ihren Protagonisten, der eine Gottesbeziehung eröffnet, die der jeweils perspektivierten Erlösung entspricht. Der Glaube, von dem die Evangelien zeugen, ist einerseits Antwort auf die Anforderungen der Wirklichkeit. Andererseits formt er die Wirklichkeit kreativ um bzw. schafft sie aus der Perspektive des Glaubens neu. Glaube als die Realisierung der Gottesbeziehung ist Reaktion und schöpferische Aktion in einem. Die Menschen in den Evangelien, einschließlich Jesus, leben zwischen zwei Bezugsgrößen: Sie werden wahrgenommen vor dem Horizont einer von Gott her gedachten, von ihm zusammengehaltenen und auf ihn zulaufenden Wirklichkeit, die bereits in heilsamer Weise in ihre faktisch erlebte Realität eindringt; und sie werden angenommen in ihrer individuellen Hinfälligkeit, Gottferne und Erlösungsbedürftigkeit.

2.6 Die Wahrnehmungsperspektive der Untersuchung

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2.6 Die Wahrnehmungsperspektive der Untersuchung Mittels einer Dreigliederung hat Dirk Evers Tendenzen der gegenwärtigen evangelischen Dogmatik systematisiert. Er unterscheidet die vorliegenden Darstellungen danach, ob sie einer Perspektive der 1., 2. oder 3. Person folgen.164 Zu den in der 1. Person agierenden Ansätzen rechnet Evers religionstheoretische Studien, die dem Deutungsparadigma verpflichtet sind. Das Christentum gilt unter dieser Hinsicht als Spielart eines allgemein Religiösen, das zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehört und in funktionaler Hinsicht dem Defizitausgleich dient.165 Diese Richtung konzentriert sich „auf das Selbstverhältnis und die Selbstinterpretation von Individuen“. „Entsprechend wird Religion verstanden als menschliche Aktivität des Deutens und Aneignens.“166 Der Zugriff in der 2. Person bildet ein Charakteristikum der hermeneutischen Theologie. Im Vordergrund dieser Wahrnehmungsperspektive steht nicht das starke Subjekt als schöpferische Kraft, sondern der Mensch als Angeredeter. Er verhält sich zu einer Wirklichkeit, die ihm entgegentritt. Im Glauben weiß er sich als ein von Gott Ergriffener. Der in 2. Person angeredete Mensch ist das kommunikative „aus fundamentaler Passivität heraus existierende Wesen“167. Diese Passivität, die nicht mit einer defizitären Haltung der Tatenlosigkeit zu verwechseln ist, stellt die Grundbedingung dar, damit der Mensch seiner Bestimmung als ein auf Antwort angelegtes Geschöpf entsprechen kann.168 Die 3. Person ist kennzeichnend für die „Wiederkehr der Metaphysik“169. Diese Wirklichkeitswahrnehmung zielt auf die rationale Beantwortung letzter Fragen. Sie „sucht das Objektive der Wirklichkeit unter Absehung dessen, was Menschen aus sich selbst machen oder wozu sie gemacht werden, in Richtung auf den Grund des Seins zu überschreiten“. „Glauben wird bei ihr zur Einsicht aus Vernunft“.170 Die hier vorliegende Interpretation der synoptischen Evangelien in theologischer Perspektive stellt nicht primär den Versuch einer Erklärung der in den Texten enthaltenen Informationen dar. Das Ziel ist es, einen Bezug zu der von den drei Evangelienschriften anvisierten theologischen Sache herzustellen. Dies geschieht unter der Maßgabe, dass durch das textum der drei Werke das Erlebnis von Gottesbegegnung durchscheint. Das transparente Gewebe der Text gewordenen Buchstaben verweist auf das vorgängige Geschehen, ohne es exakt erfassen zu können. Der interpretative Zugriff ist der Versuch, das Unsagbare sagbar 164 D. E, Neuere Tendenzen in der deutschsprachigen evangelischen Dogmatik, ThLZ 140 (2015), 3–22. 165 E, Neuere Tendenzen (s. Anm. 164), 3–4. 166 E, Neuere Tendenzen (s. Anm. 164), 20. 167 E, Neuere Tendenzen (s. Anm. 164), 20. 168 Vgl. E, Neuere Tendenzen (s. Anm. 164), 10–12. 169 E, Neuere Tendenzen (s. Anm. 164), 14. 170 Zitate E, Neuere Tendenzen (s. Anm. 164), 20.

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2 Text und Methode

zu machen. Er bleibt daher angreifbar. Dieses unvermeidliche Risiko rechtfertigt jedoch nicht, den Versuch zu unterlassen und sich hinter eine vermeintliche wissenschaftliche Objektivität zurückzuziehen. Für eine theologische Interpretation bilden die Evangelien Medien. Sie besitzen Brückenfunktion, um in Beziehung zu dem Phänomen zu treten, das sie in schriftlicher Weise bekunden. In theologischer Hinsicht bilden sie den Niederschlag geglaubter Gottesoffenbarung. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass sie in ihrer schriftlichen Gestalt bereits einen Reflexionsprozess durchlaufen haben und daher selbst schon Auslegungen darstellen, die weiterer Exegese bzw. Interpretation offenstehen. Aus dem Buchstabenbestand ihrer Überlieferung heraus ist zu versuchen, einen Zugang zu dem in ihm versprachlichten Ereignis zu finden. In theologischer Wahrnehmungsperspektive gilt es, das transparente textum als Verweis auf Gott als Gott zu lesen. Die Gesichtspunkte für die hier vorgelegte Entfaltung der Theologie der Synoptiker entstammen weder einem bibeltheologischen noch einem dogmatischen Aufriss. Auch folgt die Gliederung keinem wiederkehrenden Raster. Stattdessen orientiert sich die Abfolge der behandelten Aspekte am Vermittlungsinteresse und den Schwerpunktsetzungen der drei Jesuserzählungen. Ihren erzählerischen Gewichtungen entstammen die Einzelaspekte, die behandelt werden. Die Fokussierung auf den theologischen Fluchtpunkt, den alle drei Evangelien anvisieren, geht mit der Wahrnehmung der Differenzen in den Einzelheiten einher. Die Einheit, die in der Unterschiedlichkeit dreier Entwürfe realisiert wird, erkennbar zu machen, ist das Ziel der vorliegenden Gesamtdarstellung.

3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese 3.1 Gegenwart als Herausforderung für die synoptischen Jesuserzählungen Der Moment, in dem die Zukunft von der Vergangenheit eingeholt und in Vergangenheit umgewandelt wird, ist die Gegenwart. Umgekehrt formuliert: Der Augenblick, in dem sich das Kommende vom bereits Gekommenen löst, markiert das Präsens. Dieser Wimpernschlag im Zeitkontinuum ist der schmale Grat, auf dem das Leben entlangbalanciert. Es bewegt sich von Umschlagmoment zu Umschlagmoment voran. Menschliches Leben steht unter der Maßgabe, dass seine Zukunft in jedem Moment zur Disposition steht. Diese Zukunft wird in einer ständigen Bewegung schrittweise eingeholt und als Vergangenheit zurückgelassen. Solange Menschen leben, begleitet sie die Chance, dem Vergangenen auf dem Weg in die Zukunft stets einen kleinen Schritt voraus zu sein, in der Erwartung, dass sich Neues eröffnet. Vollendete Vergangenheit und anbrechende Zukunft stoßen im Moment der Gegenwart aneinander, um unmittelbar darauf wieder in zwei eigene Zeitdimensionen auseinanderzugehen. Gegenwart ist eine Zwischenzeit ohne Ausdehnung. Wie ist mit der permanenten Umbruchsituation umzugehen? Was ist von einer Zukunft zu sagen, die von Sekunde zu Sekunde aufgebraucht wird? Was von einer Vergangenheit, die immer einen Schritt zu spät kommt und der enteilenden Zukunft ein um das andere Mal hinterherblickt? Wie wirkt sich das Wachsen eines Berges an Vergangenheit aus, der sich immer höher türmt – im Großen und Ganzen der Weltgeschichte wie in der Lebensgeschichte des einzelnen Menschen? Wie verkraftet der Mensch das unabänderliche Schrumpfen seines persönlichen Zeitkontingents, während sich dieses gleichzeitig für die Gesamtheit der Menschheit mit jeder neuen Geburt auffüllt und erweitert? Das Leben in der Zeit vollzieht sich in einem Je und Je, das sich nicht festhalten lässt. Was dieser punktuelle Moment an und für sich ist, lässt sich nicht objektiv feststellen. Es sind gedankliche Vorstellungen, die sich darauf richten, ein Verhältnis zu dem flüchtigen Augenblick zu gewinnen. Das Reden vom JetztZeitpunkt ist bewusstseinsgebunden. Wie Menschen nicht über Gott reden können, weil dieser die alles umfassende Wirklichkeit ist, die kein Mensch aus einer Außenperspektive überschauen kann, so gibt es auch im Blick auf die Zeit nur ein Reden aus der Zeit und in der Zeit. Der Mensch ist beides: Er ist in die Zeit hineingenommen, und die Zeit steckt in ihm und meldet sich aus ihm heraus.

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

Paradoxerweise erlebt sich der Mensch in jedem Moment als gegenwärtig und ist zugleich im Nachdenken darüber zeitlich bereits in einer neuen, zukünftigen Gegenwart angekommen. Als Mittel, um die fliehende Gegenwart aufzuhalten, stemmen Menschen sich der Vergänglichkeit mit „kulturelle[n] Konstruktionen von Dauer“1 entgegen – Versuchen, die über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt sind, aber suggerieren, der Moment ließe sich festhalten.2 Die Evangelien präsentieren mit der Person Jesu einen Menschen, den sie auf die Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit stellen. Sie zeichnen ihn als eine Persönlichkeit mit dem Bewusstsein für Lebenschancen, die an dieser Schnittstelle liegen und ergriffen werden wollen. Mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen und Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen, sind die lebensentscheidenden Aufgaben, für die Jesus in der Sicht der Synoptiker steht. Als Glaubensschriften zeichnen die synoptischen Evangelien Jesus als jemanden, der in einer tiefen Gottesbeziehung lebt. Aus dieser Relation heraus gestaltet er sein Leben, aus ihr stammen die Impulse, die er an seine Umwelt weitergibt. Jesus stellt sich der conditio humana in einer exemplarischen Weise. Das gibt ihm in der Darstellung der Evangelienschriften seinen besonderen Charakter. Das Verhältnis Jesu gegenüber dem Leben stellt zugleich die menschliche Grundsituation in Zeit und Raum in ein neues Licht. Sie erscheint im Zeichen der Gottesbindung in einer anderen Weise, als es ohne diese der Fall wäre. Die Gegenwart stellt in der Wahrnehmung der Evangelien einen prekären Ort dar. Das Leben im Schnittfeld von Zukunft und Vergangenheit steht auf Messers Schneide. Die Gegenwart hält keinen festen Standort bereit. Sie markiert die Zeit im Zwischen – den Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft, in dem für den Bruchteil eines Augenblicks beide Zeitphasen einander zu berühren scheinen. De facto besteht die Gegenwart aus einer Aneinanderreihung flüchtiger Momente, von denen für sich genommen kein einziger Halt, Stabilität und Sicherheit verleiht. Zwischen dem Kommen der Zukunft und ihrem Gehen in die Vergangenheit ereignet sich das unsichere Stolpern und Stehen in der Gegenwart. Das Bewusstsein für die Fragilität menschlichen Lebens bildet in den synoptischen Evangelien den Untergrund für die Darstellung Jesu. Jesu Beitrag zur Bewältigung des Lebens in unsicheren Zeiten ist das Thema, dem sich die drei Erzählungen widmen. Dazu beziehen sie sich in der von ihnen entworfenen erzählten Welt vornehmlich auf die Phase des Lebens Jesu Ende der zwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts. In die Darstellung hinein ragt jedoch das, was die vierzig Jahre zwischen 30 und 70 aufgewühlt hat. In der Summe stellen die ersten sieben Jahrzehnte des ersten christlichen Jahrhunderts in der Geschichte Israels eine von politischer Gewalt bestimmte Epoche dar. Sie mündet im Jahr 66 in einen Aufstand und den Krieg gegen die römische Besatzungsmacht. An ihrem A. A, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Darmstadt2 2022, 8. Vgl. P.-G. K, Geglaubte und gemessene Zeit. Das Zeitverständnis der synoptischen Evangelien, in: C. Landmesser/D. Schlenke (Hg.), Ewigkeit im Augenblick. Zeit und ihre theologische Deutung, Leipzig 2024, 37–54, 37. 1

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3.1 Gegenwart als Herausforderung

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Ende steht das blutige Desaster der Zerstörung Jerusalems mit dem Niederbrennen der Stadt und des Tempels. Diese Ereignisse vor Augen erzählen die synoptischen Evangelien ab den 70er Jahren des 1. Jahrhunderts die Geschichte ihres Protagonisten Jesus gut vierzig Jahre zuvor. In ihren Erzählungen fallen bereits die Schatten der Katastrophe des jüdisch-römischen Krieges auf seine Lebensgeschichte. In seinem Schicksal bildet sich ab, was vier Jahrzehnte später faktisch an Unheil über das von Rom besetzte Israel hereingebrochen ist. Nach der endgültigen Niederlage Israels mit der Zerstörung Jerusalems und dem Brand des Tempels und dem definitiven Ende der während der römischen Besatzung noch verbliebenen Möglichkeiten partieller Selbstverwaltung begeben sich literarisch befähigte Überlebende des Krieges daran, das Geschehen geistig zu bearbeiten und einzuordnen. Das vierte Esrabuch und der syrische Baruch dokumentieren zwei Versuche eines apokalyptisch geprägten Judentums, die Ereignisse vor Gott zur Sprache zu bringen und das Geschehen in die Deutungskoordinaten des am Gesetz festhaltenden Judentums einzuzeichnen.3 In die Reihe der Versuche einer Restitution des geistigen Lebens nach 70 gehören auch die synoptischen Evangelienschriften.4 In ihnen vermitteln die christusverehrenden Erzähler ihren Gemeinden die Anfänge ihrer auf Jesus Christus bezogenen Glaubensgemeinschaft. Die Evangelienschriften beinhalten die Ursprungserzählungen des auf Jesus Christus bezogenen Glaubens. Sie bilden die Gründungsurkunden der christusglaubenden Gemeinden im letzten Viertel des 1. Jahrhunderts. In ihnen wird entfaltet, wie das, was in der Gegenwart der Gemeinden Gültigkeit besitzt, seinen Anfang in der Lebensgeschichte Jesu genommen hat. Entsprechend sind die Erzählungen von einem aktuellen theologischen Interesse geleitet. In der Summe offenbaren sie mehr über die theologischen Fragen und Anforderungen der 70er bis 90er Jahre, in denen sie entstanden sind, als über die erzählte Welt der endzwanziger Jahre, die sie zu ihrem Inhalt machen. In narrativer Form offerieren sie ihre Vorstellungen eines an Jesus, dem Christus, orientierten Lebens im Glauben. Die Erzählungen weisen über die erzählte Welt, von der sie handeln, hinaus. Sie besitzen paradigmatische Bedeutung für die Gegenwart. Unter veränderten Zeit- und Lebensumständen wollen sie ihren Rezipientinnen und Rezipienten ein Verständnis der eigenen Herkunft eröffnen und Impulse für die Lebensführung vermitteln. 3 Vgl. A. L, Art. Esra/Esrabücher IV. Viertes Esrabuch, RGG4 2 (1999) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 1586–1588; F.J. M, Art. Baruchschriften II. Syrische Baruchapokalypse, RGG4 1 (1998) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 1144–1145; P.-G. K, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992, 35–53. 4 Zur Verarbeitung der Katastrophe des Jahres 70 im Matthäusevangelium vgl. M. K, Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Matthäusevangelium, in: M. Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. A. Euler, WUNT 358, Tübingen 2016, 219–257. Im Ergebnis „ist die Zerstörung Jerusalems für Matthäus“ kein „Zeichen für die Verwerfung Israels bzw. Gottes Strafgericht an Israel“ (233).

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

3.2 Auferweckungsbekenntnis und theologische Jesusrezeption Der erzählende Bezug auf Jesus in den synoptischen Evangelien besitzt eine Vorgeschichte. Damit ist nicht der traditionsgeschichtliche Vermittlungsprozess gemeint, wie ihn die die historische Jesusforschung und – mit charakteristischen Unterschieden – die Formgeschichte nachzuzeichnen versucht. Es geht nicht um eine historisch nachweisbare Kontinuität von Überlieferungssplittern, die auf Jesus resp. die überliefernde Urgemeinde zurückführt und über diverse mündliche und schriftliche Vorstadien schließlich in einer Endredaktion durch Markus und im Anschluss an ihn durch Matthäus und Lukas in die Form der vorliegenden Evangelienschriften gegossen wurde. Gefragt wird vielmehr danach, welche theologischen Grundlegungen vorgenommen wurden, bevor die Erzähler ihre Darstellungen der Lebensgeschichte Jesu formuliert haben. Nicht die überlieferungsgeschichtliche Traditionsentwicklung, sondern der Theologiebezug der drei Jesuserzählungen soll sichtbar werden. Die Initialzündung für den positiven Bezug zum hingerichteten Jesus durch Personen aus seinem Umfeld ist der Glaube an die Auferweckung Jesu von den Toten gewesen. Am Anfang der Bezugnahme auf den getöteten Jesus steht ein Glaubensakt. Er besteht inhaltlich aus der Überzeugung, dass Gott den gekreuzigten Prediger aus Nazareth von den Toten erweckte. Die Pointe dieses Vorgangs liegt darin, dass die Wirkungsgeschichte Jesu durch einen Akt in Gang gesetzt wird, der Jesu vorherigen Tod und damit das Ende seiner irdischen Lebensgeschichte voraussetzt. Die Wirkung ergibt sich also nicht aus dem Verhalten und der Wirkung Jesu selbst. Sie stellt nicht die Verlängerung seiner eigenen Wirksamkeit dar und ist daher nicht einlinig als Kontinuitätsgeschehen zu fassen. Vorausgesetzt ist ein Beziehungsgeschehen. Es begründet einen Neuanfang im Verhältnis zu Jesus im Anschluss an dessen Tod. Der Osterglaube besteht in der Stellungnahme von Menschen, die die Bedeutung bzw. den Status des verstorbenen Jesus bekunden. Personen aus Jesu Umfeld bezeugen ein Leben schaffendes Handeln Gottes an dem kurz zuvor Getöteten. Das Ostergeschehen resultiert nicht aus Jesus selbst.5 Das Bekenntnis der Auferstehung Jesu besteht in der Stellungnahme anderer ihm gegenüber, und zwar angesichts seines Todes durch Kreuzigung. Gleichzeitig beinhaltet der frühchristliche Auferweckungsglaube ein Gottesbekenntnis. Ostern ist der Glaube daran, dass Gott Jesus von 5 Vgl. zur Sache K. W, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013, 286 und 295–298: Der Bezug auf die Auferweckung Jesu von den Toten durch Gott als theologischem Ausgangspunkt beinhaltet den Widerspruch zu den Versuchen, dem christlichen Glauben durch einen historischen Rekurs auf Jesus eine Grundlage zu verschaffen. Der Versuch, dem christlichen Glauben durch den Bezug auf die historische Person Jesu ein Fundament zu geben, werde durch einen zweifachen Preis erkauft: Erstens durch die Steigerung der Besonderheit Jesu; sie erhebe Jesus aus dem Rahmen seiner Zeitgenossen. Zweitens durch eine Minimierung der Auferweckungsbotschaft.

3.2 Auferweckungsbekenntnis und theologische Jesusrezeption

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den Toten erweckte. Gott hat sich in eine Leben stiftende Beziehung zu dem Hingerichteten gestellt. Gott ist das handelnde Subjekt im Auferweckungsgeschehen.6 Dieser theozentrische Impuls wirft die Frage nach dem Verhältnis des Bekenntnisses der ersten Osterglaubenden zum traditionellen Gottesverständnis im damaligen Judentum auf. Gott stellt sich auf die Seite des als Verbrecher Gekreuzigten und identifiziert sich mit Jesus und seinem Wirken. Dadurch wird Gottes Auferweckungshandeln an Jesus zu einer Signatur Gottes selbst. Gott ist der, der Jesus erweckte.7 Dass Gottes Erweckungshandeln zum Synonym für Gott selbst werden konnte, belegt die partizipiale Wendung im frühen Formelgut. Sie prädiziert Gott als den Jesus (Christus) von den Toten Erweckenden.8 Ostern als ein Gottesbekenntnis verstanden, verweist auf eine Kontinuität.9 Der gewaltsame Tod Jesu wirft die Frage nach Gott auf. Die Überlegung, auf welche Seite sich Gott angesichts der Hinrichtung Jesu stellt, führt in eine innerjüdische Diskussion unter den Zeitzeugen über die Rolle Gottes in diesem Geschehen. Die Deutung des Kreuzestodes als eines Fluchs, die Paulus in Gal 3,13 unter Hinweis auf Dtn 21,23 anspricht, dürfte das Urteil vieler damaliger Zeitgenossen widerspiegeln.10 Als Abweichung von dem common sense, demzufolge Gott seine Heiligkeit gewahrt hat, indem er den Frevler Jesus seinem Schicksal überlassen hat, formuliert das Bekenntnis, das Petrus als dem ersten Osterzeugen zugeschrieben wurde, ein absolutes Minderheitsvotum: Gott weckte Jesus (von den Toten) auf.11 Die Debatte unter jüdisch glaubenden Menschen im Jahr 30 über die Frage, wer Gott angesichts des Todes Jesu ist, bricht an der Kreuzigung Jesu auf. Sie zieht eine Neubewertung des Geschehens bei den Jesusanhängern

6 Vgl. Zur Rekonstruktion des Ostergeschehens anhand des bei Paulus versammelten urchristlichen Formelguts vgl. P.-G. K, „Ostern“ als Gottesbekenntnis und der Wandel zur Christusverkündigung, ZNW 83 (1992), 157–165. Vgl. zur Sache auch I.U. D, Volles Grab, leerer Glaube? Zum Streit um die Auferweckung des Gekreuzigten, in: H.-J. Eckstein/M. Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 22007, 277–309, 300–303. Zum Zusammenhang zwischen den Erzählungen vom leeren Grab und denen zur Auferstehung Jesu in den synoptischen Evangelien vgl. J. D, Das leere Grab als Leerstelle und Lehrstelle. Eine Untersuchung zum Geschichtsbezug der Auferstehung, DoMo 46, Tübingen 2023, 10–28. 7 Vgl. T. S, Auferstanden von den Toten – Das volle und das leere Grab, die dunklen und die hellen Erscheinungen, in: B. Wald (Hg.), Wahrheit des Glaubens. Das CREDO als Bekenntnis und Herausforderung, Paderborn 2017, 77–114, 98. 8 Gal 1,1; 2 Kor 4,14; Röm 4,24; Röm 8,11 a.(b). 9 Vgl. die zusammenfassende Darstellung des Sachverhalts bei P.-G. K, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 111. 10 Vgl. M. W, Jesus von Nazaret, Theologische Bibliothek VI, Göttingen 2019, 306: „Für jeden seiner Zeitgenossen hatte Gott Jesus und seinen Anspruch damit ins Unrecht gesetzt.“ 11 Sechsmal erscheint die Aussage innerhalb des vorpaulinischen Formelguts bei aktivischer Verwendung des Verbs εÆ γει ρειν mit der Erweiterung εÆ κ νεκρωÄ ν (1 Thess 1,10; Gal 1,1; Röm 4,24; 8,11a.b; 10,9) und dreimal ohne diesen Zusatz (1 Kor 6,14; 1 Kor 15,15; 2 Kor 4,14).

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

nach sich. Mit ihr einher geht eine Bestimmung des Gottesgedankens, die das nach menschlichem Maßstab desaströse Scheitern Jesu in positiver Weise in das Gottesverständnis integriert. Damit erst ist die Grundlage für die christologischen Konsequenzen geschaffen, die aus dem Auferweckungsgeschehen gezogen werden.12 Formelhafte Überlieferungen in den knapp zwei Jahrzehnte vor dem Markusevangelium entstandenen Paulusbriefen zeigen, dass sich die Entwicklung von Ostern als einem Gottesgeschehen zu einem Christusereignis schnell vollzog.13 Das liegt auch nahe. Wenn Gott den nach menschlichem Maßstab gescheiterten Prediger Jesus aus Nazareth seines auferweckenden Beistands gewürdigt hat, dann stellt sich umgehend die Frage: Was macht Jesus so besonders, dass er ein solches Handeln Gottes erfährt?14 Schon im frühen vermutlich vorpaulinischen Stadium der Überlieferung ist darum verbreitet von Christus als dem die Rede, dem das auferweckende Handeln Gottes gilt. Christus wurde auferweckt bzw. Christus, erweckt von den Toten, lauten die Auferweckungsformeln, in denen der Name Jesus bereits durch den Hoheitstitel Christus abgelöst ist. Dies setzt eine Stellungnahme zu dem Umstand voraus, dass hier ein als Verbrecher Gekreuzigter zum Christus erhoben wurde. Ein drittes Entwicklungsstadium früher christologischer Reflexion findet sich ebenfalls bereits im frühchristlichen Formelgut. Es begegnet in 1 Thess 4,14 und Röm 14,9 und lautet: Jesus starb und stand auf bzw. Christus starb und lebte (auf). In diesen Wendungen begegnet Jesus bzw. Christus erstmals selbst als das handelnde Subjekt seines eigenen Auferstehungshandelns bzw. Wiederauflebens.15 Die Ausbildung der Christologie ist im Jahr 70 bereits weit fortgeschritten. Für die synoptischen Evangelien ist sie wie lange zuvor bei Paulus längst selbstverständliche geistige Voraussetzung. Aus diesem Grund hat es in der Forschung manchmal die verwunderte Überlegung gegeben, ob nicht mit den Jesuserzählungen der Evangelien in ein vorchristologisches Stadium zurückgekehrt werde oder die Evangelienschriften ein Aufbewahrungsdepot für ältere noch nicht christologisch ausgeführte Ansätze darstellen. So geht die historisch interessierte Jesusforschung davon aus, dass in den Evangelien alte Restüberlieferungen vorliegen, die bis in die Lebensperiode Jesu selbst zurückführen.16 Andere Forscher 12 In umgekehrter Reihenfolge stellen R. F/H. S, Menschwerdung, TOBITH 2, Tübingen 2018, 193–218, die Entwicklung der Christologie aus der Lebensgeschichte Jesu heraus dar. 13 Zur detaillierten Rekonstruktion der Auferweckungsformel und ihrer Entwicklung zu einer Christusaussage vgl. K, Rede von Gott (s. Anm. 3), 111–123. 14 Vgl. T. S, Der König am Kreuz. Politik und Religion in der Passionsgeschichte, in: M. Bär/M.-L. Hermann/T. Söding (Hg.), König und Priester. Facetten neutestamentlicher Christologie. FS Claus-Peter März, ETS 44, Würzburg 2012, 89–120, hier 119, der dem Verhältnis von Kreuzestod und Gottessohnschaft in den Evangelien nachgeht. 15 Vgl. K, Rede von Gott (s. Anm. 3), 123. 16 Solche Grabungen erhoffen sich entweder Hinweise auf authentische Wortüberlieferun-

3.2 Auferweckungsbekenntnis und theologische Jesusrezeption

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finden innerhalb einer Evangelienschrift zwischenzeitlich überholte frühe und insuffiziente christologische Entwicklungsstadien.17 Wieder andere sehen in einer Schnittmenge zwischen dem Markusevangelium und einer Vorstufe der Logienquelle Q Indizien für ein unchristologisches frühes Christentum. Träger dieses Überlieferungsguts seien „Jesusgemeinden“, die noch „keine ,Christen‘“ sind.18 Für Willi Marxsen sind die Überlieferungen innerhalb des Markusevangeliums noch nicht vom Christuskerygma berührt, repräsentieren aber dennoch eine eigene Form von Glaubensverkündigung, die Marxsen mit dem Terminus JesusKerygma belegt.19 Gemeinsam ist allen diesen Debatten und Erklärungsbemühungen: Sie stehen unter dem Vorzeichen, dass die Christologie das zentrale Großthema des Neuen Testaments darstellt. Soviel daran richtig ist, hat diese Vorentscheidung auch zu Engführungen in den Debatten um das Verhältnis zwischen Jesus und dem späteren auf ihn als den Christus bezogenen Glauben geführt. Dominant waren in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Debatten der Bultmann-Schule um das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zwischen der vorösterlichen Phase des Wirkens des historischen Jesus und der nachösterlichen Ära des Christusglaubens. Dabei ging es um die Frage, wie die Predigt des historischen Jesus vom anbrechenden Gottesreich aufgrund des Osterbekenntnisses in den personalen Glauben an Jesus als den Christus umschlagen konnte. Obwohl nach dem Empfinden der beteiligten Exegeten ein plötzlicher Umschlag sich eigentlich nicht mit den Gesetzen kontinuierlicher historischer Entwicklungen vertrug, erschien ihnen die Feststellung einer tiefgreifenden theologischen Diskontinuität durch das Ostergeschehen als unausweichlich. Die Auseinandersetzungen kristallisierten zu prominent gewordenen Formulierungen aus: Der Verkündiger wurde zum Ver-

gen Jesu – die ipsissima vox – oder sie wollen den Überlieferungen einen historischen Faktizitätskern abringen. 17 T. W, The Heresy that Necessitated Mark’s Gospel, Univ. Diss. Claremont 1964, sowie ZNW 59 (1968), 145–168 (deutsch: Die Häresie, die Markus zur Abfassung seines Evangeliums veranlasst hat, in: R. Pesch (Hg.), Das Markusevangelium, WdF 411, Darmstadt 1979, 238–258) sieht im Markusevangelium das Dokument eines frühchristlichen Ringens um die richtige Christologie. Der Evangelist Markus habe sich mit einer frühen θειÄοςαÆ νη ρ-Christologie auseinanderzusetzen gehabt. Diese habe das Christusbekenntnis auf die besonderen Fähigkeiten und mirakulösen Taten Jesu zu gründen versucht. Der Evangelist habe demgegenüber die konstitutive Rolle der Passion Jesu für die Christologie durchgesetzt. Vgl. dazu P.-G. K, Die Grenze form- und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese, BZ NF 58 (2014), 21–45, 34 (wieder abgedruckt in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 111–133, 123). 18 So W. S, Das Evangelium nach Markus, Kapitel 1–9,1 (ÖTK 2/1), Gütersloh 1979, 68. 19 W. M, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums, in: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 46–63, 59–61. Zur Sache vgl. P.-G. K, Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 191–212, 202–209.

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

kündigten, „der zum Glauben Rufende zum Inhalt des Glaubens“20, der „Zeuge des Glaubens, zum Grund des Glaubens“21. Vermittlungsversuche, Linien aus der vorösterlichen Jesusgeschichte heraus in die nachösterliche Phase nachzuzeichnen – etwa durch die Annahme, das implizite Messiasbewusstsein Jesu sei in das explizite Christusbekenntnis umgeschlagen – wurden in der Regel als Apologie zurückgewiesen.22 Zwar wurde im Interesse eines Kontinuitätsaufweises immer wieder versucht, aus der Lebensgeschichte Jesu heraus plausibel zu machen, dass das, was nach Ostern über Jesus als den Christus geglaubt wurde, einen Anhalt an Jesu eigenem Wirken hatte.23 Letztlich blieb das aber immer Postulat.24 Denn den Bemühungen um Kontinuitätsnachweise aus der Lebensgeschichte Jesu heraus kann entgegengehalten werden: Die Darstellung der vorösterlichen Lebensphase Jesu erfolgt in den neutestamentlichen Texten stets aus der Retrospektive des nachösterlichen Christusglaubens.25 Die Erzählungen zeichnen ein Bild des irdischen Jesus aus der Rückschau der späteren christlichen Gemeinde. Sie lassen durchgängig die Glaubensperspektive erkennen.26

G. B, Jesus von Nazareth, Stuttgart 111977 (ursprünglich 1956), 166. G. E, Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959, 48–85, 48 und Zitat 66. Zur breiteren Darstellung der Diskussion um Kontinuität und Diskontinuität vgl. P.-G. K, Die Verknüpfung von Auferweckungsbekenntnis und leerem Grab in Mk 16,1–8, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 106–128, 108–112. 22 So schon durch Bultmann selbst, etwa gegenüber Paul Althaus, vgl. R. B, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: Ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (ursprgl. in: SAHW.PH Jg. 1960, 3. Abh. 1960, 5–27), 445–469, 453–455. 23 Vgl. die programmatische Titelformulierung bei E. L/C. B/B. S (Hg.), Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde. FS Joachim Jeremias, Göttingen 1970. 24 G. T, Zwischen Skepsis und Zuversicht, in: E.D. Schmidt (Hg.), Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung, BThSt 177, Göttingen 2018, 13–60, plädiert angesichts der bleibenden „Grundspannung zwischen unbedingter Glaubenswahrheit und relativer historischer Wahrheit“ (54), darauf, sich „mit einem historisch ,plausiblen Jesus‘ [zu] bescheiden“ (23). 25 Vgl. W, Der wirkliche Jesus? (s. Anm. 5), der sich eingehend und kritisch mit den neueren Bemühungen historischer Jesusforschung auseinandersetzt. 26 Einer schlichten Gegenüberstellung von historischer und geglaubter Wirklichkeit tritt J. S, Jesuserinnerung. Geschichtshermeneutische Reflexionen zur Jesusforschung, in: E.D. Schmidt (Hg.), Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung, BThSt 177, Göttingen 2018, 115–147, in differenzierter Weise durch das Einbringen des Erinnerungsparadigmas entgegen. Dem Vorgang der Aneignung von vergangener Geschichte wohnt immer auch ein Akt der Imagination der Verfasser inne (142–147). Das relativiert sowohl die Annahme, der nachösterlichen Phase des Christusglaubens ließe sich eine nicht-spekulative, historisch exakt bestimmbare vorösterliche Lebensphase Jesu gegenüberstellen als auch das Vorurteil, die historische Rekonstruktion könne einen deutungsfreien unmittelbaren Zugang zum Geschehen eröffnen. 20

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3.3 Das Wirklichkeitsverständnis der Evangelienschriften

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Weiterführend in dieser Situation ist die Erkenntnis, dass die Christologie nicht das Ergebnis eines plötzlichen Umschlags, sondern das Resultat einer Entwicklung im frühen Christentum darstellt. Die Einsicht, dass sich im Bekenntnis der Auferweckung Jesu von den Toten ein Streit um Gott widerspiegelt, öffnet die Wahrnehmung für eine theologische Entwicklung im frühen Christentum, die durch Anknüpfung wie Differenz, Kontinuität wie Diskontinuität gekennzeichnet ist. Der Bezug auf Jesus, wie er in den synoptischen Evangelien narrativ vollzogen wird, steht damit nicht in Konkurrenz zur Entwicklung der Christologie, sondern flankiert diese. Was christologisch in begrifflicher Sprache formuliert worden ist, entfalten die Jesuserzählungen der Synoptiker erzählend. Die narrative Präsentation Jesu durch die Evangelien ist Christologie im Medium der Erzählung. Wie bei einer begrifflich vorgetragenen Christologie ist auch in deren erzählerischer Darstellung ein breites Spektrum von Akzentuierungen gegeben. Die dogmatisch relevante Grundunterscheidung zwischen Person und Werk Christi innerhalb der Christologie findet sich sowohl in ihrer begrifflichen als auch in ihrer narrativen Entfaltung wieder. Ihre jeweiligen Akzentuierungen hat die Christologie der synoptischen Evangelien durch unterschiedliche Gewichtungen der Soteriologie, des Gottesverständnisses, der Eschatologie, der Ekklesiologie, der Ethik und der Anthropologie erhalten. Diese flankierenden Leitthemen werden sowohl in den Evangelien selbst als auch von ihren Interpretinnen und Interpreten unterschiedlich gewichtet. In der Summe verknüpfen alle drei synoptischen Erzählwerke in einer Rückschau den Christusglauben ihrer Gegenwart mit einer Deutung der Lebensgeschichte Jesu. In diesen Verschmelzungsvorgang fließen die christologischen Vorentscheidungen ein und prägen die unterschiedlichen Jesusbilder. Gleichzeitig beeinflussen unterschiedliche Einschätzungen der Beziehung zwischen Jesus und Gott sowie der existentiellen Situation glaubender und nicht-glaubender Menschen die Darstellungen. Auch das Urteil, welche Faktoren der Ausbreitung des Evangeliums im Wege stehen und welche förderlich sind, fällt unterschiedlich aus. Ebenso akzentuieren die Evangelien in je eigener Weise die Kernelemente des Christusglaubens für die Gegenwart ihrer Adressatengemeinden. Das Ziel aller drei Evangelienschriften besteht darin, mit ihrer Präsentation der Jesusgeschichte einen Beitrag zur Bewältigung der Gegenwart im Glauben zu leisten.

3.3 Das Wirklichkeitsverständnis der Evangelienschriften Die Frage, was unter Wirklichkeit zu verstehen ist, bewegt sich zwischen den beiden Polen, ob es die Wirklichkeit an sich und als solche gibt oder ob Wirklichkeit ausschließlich über Perspektiven und Bewusstseinsakte kreiert wird. Das führt zu der Überlegung, ob Wirklichkeit ein Containerbegriff ist – vergleichbar

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der Art, in der in anderen Zusammenhängen von Welt27 oder Raum28 gesprochen wird – oder einzig das Resultat einer menschlichen Konstruktionsleistung. Die prinzipielle Frage lautet dann: „Haben wir tatsächlich einen Zugang zur Wirklichkeit oder sind wir lediglich in unseren eigenen Konstruktionen der Wirklichkeit befangen?“29 Im Zusammenhang der Entfaltung der Theologie der synoptischen Evangelien geht es darum, den durch den Christusglauben gegebenen spezifischen Zugang zur Wirklichkeit in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise wird ein charakteristisches Verhältnis zur Wirklichkeit sichtbar. Hinzu kommt, dass die interpretatorische Bezugnahme auf die synoptischen Evangelien selbst von Perspektiven geleitet ist. Perspektivität beinhaltet Interesseleitung. In Perspektiven artikulieren sich schöpferische Energien. Entsprechend verweisen die Darstellungen der Synoptiker auf eine Intentionalität, der sie sich verdanken. Die Wirklichkeit, auf die sich die synoptischen Evangelien mit ihren Jesuserzählungen beziehen, ist geprägt durch die geglaubte Gegenwart Gottes, die den gegenwärtigen Augenblick prägt. Was zu erzählen ist, wird in den Kontext einer Geschichte, die Gottes Handeln in der Vergangenheit und in der Zukunft umfasst, eingebunden. Die Gegenwart, von der die Evangelien erzählen, ist durch Fragilität gekennzeichnet. Der Moment ist flüchtig. Der gegenwärtige Augenblick birgt Gefahren. Gelingen und Scheitern liegen dicht beieinander. Unterliegt menschliches Leben auf der einen Seite drastischen Gefährdungen, wird es auf der anderen Seite durch beglückende Rettungserfahrungen in eine Balance gebracht. Die Ambivalenz, unter der menschliches Leben steht, ist ein strukturierendes Element der erzählten Welten der synoptischen Evangelien. Der Aufschrei des Vaters eines epilepsiekranken Kindes in Mk 9,24, ich glaube, hilf meinem Unglauben, bringt das zum Ausdruck. Der Bedrohungs- wie der Verheißungscharakter der Wirklichkeit löst zwiespältige Reaktionen bei den betroffenen Personen aus. Was den einen als Auslöser des Gotteslobes dient, ruft bei anderen Aversionen hervor.30 Was in der

27 Exemplarisch dazu die durch den Neuen Realismus angestoßene Debatte etwa bei M. G, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2015. Vgl. auch M. G (Hg.), Der Neue Realismus, Berlin 22015. 28 Vgl. etwa die Beiträge zu der unter dem Terminus spatial turn geführte Diskussion in I. B/P.-G. K/F. S (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge. Unter Mitarbeit von M. Kohls, Göttingen 2009; S. G (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009; J. D/S. G (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006. 29 E. F/A. G, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative, Berlin/Boston 2018, V-VI, V. 30 Vgl. den Lobpreis aller in Mk 2,12 und die abwehrende Reaktion der Schriftgelehrten auf das Vergebungshandeln Jesu in Mk 2,7.

3.3 Das Wirklichkeitsverständnis der Evangelienschriften

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einen Wahrnehmung als Katastrophe angesehen werden kann, besitzt unter anderem Blickwinkel Erlösungspotential.31 Der multikausale Mangel an Stabilität und die Zerbrechlichkeit der Lebenslagen machen den Menschen zu einem Bedürftigen. Er ist angewiesen auf Unterstützung und bedarf verlässlicher Beziehungen. Kommt es zu Einbrüchen, ist seine Existenz bedroht. Auf diese existentielle Angewiesenheit beziehen sich die synoptischen Jesuserzählungen. Sie reagieren auf tiefgreifende Gefährdungen, präsentieren Lösungswege in verfahrenen Situationen und machen Vorschläge, um aus menschlichen Dilemmata herauszugelangen. Alle drei Evangelien zielen darauf, ihrer Leserschaft heilsame Lebensräume zu eröffnen. Das gilt für die Schilderung der Personen innerhalb der erzählten Welt der endzwanziger Jahre. Es betrifft aber insbesondere auch die Erzählwelt des achten und neunten Jahrzehnts, aus der die Erzählungen stammen. In dieser Phase der Geschichte des frühen Christentums erschließen die synoptischen Evangelien ihren Trägerkreisen Impulse des Christusglaubens, die eine Neuorientierung in der veränderten geschichtlichen Lage ermöglichen. Bis zum Ausbruch des jüdisch-römischen Krieges waren trotz aller Einschränkungen durch die römische Besatzungsmacht noch Reste jüdischer Selbstorganisation verblieben. In der Situation nach der Niederlage eröffnen die synoptischen Evangelien Perspektiven, sich auf der Grundlage des Jesus-Christus-Glaubens der neu entstandenen Wirklichkeit zu stellen. Alle drei Evangelienschriften leisten einen Beitrag, den Christusglauben in Gestalt der Jesuserzählungen auf die gesellschaftlichen, politischen, religiösen und geistesgeschichtlichen Strömungen im hellenistisch-römischen Kontext zu beziehen. Sie sind Dokumente einer vom Christusbekenntnis getragenen religiösen Bewegung und lassen sich als Gesprächsbeiträge eines umfassenden religiösen Diskurses am Ende des 1. Jahrhunderts verstehen. Sie bilden Zeugnisse einer nach innen gerichteten Identitätsvergewisserung und sind Ausdruck einer die Außenwelt reflektierenden Positionierung. In drei retrospektiven Erzählungen eröffnen sie zukunftsorientierte Vorschläge für ein gelingendes Leben in der Gottesgemeinschaft auf der Grundlage des Christusglaubens. Ungeachtet der soteriologischen Ausrichtung aller drei Darstellungen kommen innerhalb der synoptischen Evangelien Termini aus der Soteriologie nur selten vor.32 Χα ρις erscheint von wenigen Stellen bei Lukas abgesehen gar nicht.33 Angesichts der Narrativität, die ja gerade die Ergänzung zur begrifflichen Entfaltung von Sachverhalten bildet, ist es daher geraten, statt nach einschlägigen Begriffen zu suchen, das Beziehungsgeflecht zwischen den agierenden Personen 31 Etwa das Zerreißen des Vorhangs im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels, vgl. Mk 15,38 par Mt 27,51 par Lk 23,45. 32 Die folgende Darstellung erfolgt in enger Anlehnung an P.-G. K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung. Der Beitrag der synoptischen Evangelien, ThLZ 143 (2018), 859–872, hier 860. 33 Lk 1,30; 2,40.52; 4,22; 6,32–34; 17,9.

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zu betrachten. Dabei stellt sich heraus, dass anstelle der großen Substantive wie Gnade, Heil und Erlösung der Vorgang der Zuwendung in den personalen Beziehungen Jesu zu anderen Menschen großes Gewicht besitzt. Jesu gesamtes Reden und Handeln ist geradezu ein Akt der Zuwendung. Jesus versucht den Menschen, die mit ihm in Kontakt kommen, eine Lebensperspektive zurückzugeben, diese zu erneuern oder zu erweitern. Die Gottesherrschaft zur Geltung zu bringen, markiert den Horizont der markinischen Darstellung, die Himmel und Erde umschließende Gerechtigkeit bildet den Rahmen für die matthäische Jesuserzählung, die gelungene Lebensführung vor Gott beschreibt die lukanische Zeichnung Jesu. Gemeinsam ist allen drei Wirklichkeitsbezügen die Überzeugung, dass Menschen ihr Leben in einem heilsamen Raum entfalten dürfen. Der Charakter und die Bedrohungsszenarien fallen in den drei erzählten Welten unterschiedlich aus. In der Summe aber ist die Welt ein Ort, der nach Erlösung schreit. In dieser Wirklichkeit ringt Jesus darum, Raum für ein erlöstes Leben in der Gottesgemeinschaft aufzuschließen. Nicht das Dass der Heilserwartung steht zur Diskussion. Lediglich die Frage, worin angesichts der Vielfalt religiöser, kultureller und geistiger Vorprägungen die heilsame Gabe besteht, wird unterschiedlich beantwortet.

3.4 Der Zusammenhang von Gattung und Inhalt Ein Charakteristikum aller drei Evangelien besteht darin, dass sie gleich im ersten Vers ihrer Werke eine Aussage zum literarischen Charakter der Darstellung treffen. Sowohl Mk 1,1 als auch Mt 1,1 und Lk 1,1 beinhalten einen Hinweis auf die Gattung ihres Textes. Sie setzen damit einen Impuls zur Leserlenkung. Sie stellen ihre anschließenden Ausführungen in den Zusammenhang einer Textgattung und geben ihren Darstellungen einen Deutungsrahmen. Mit den Bezeichnungen αÆ ρχηÁ τουÄ ευÆ αγγελι ου, βι βλος γενε σεως und διη γησις περιÁ τω Ä ν πραγµα των flankieren sie die Eröffnung ihrer Erzählungen mit einer Leseperspektive. Sie fügen die erzählten Inhalte in einen vorgeformten Verstehenskontext, in dem sie gelesen werden sollen.34 Allen drei Darstellungen wird auf diese Weise ein Erzählerkommentar zur Interpretationssteuerung vorangestellt.

34 Laut C. S, Die Königsmacher. Wie die synoptischen Evangelien Herrschaftslegitimierung betreiben, BBB 186, Göttingen 2019, dienen alle drei synoptischen Evangelien der Legitimierung Jesu als König. Sie können „als Werbeschriften für einen Herrscher gelesen werden“ (31) und gehören zu einem „antiken Herrschaftsdiskurs“ (32). Dies mag man in inhaltlicher Hinsicht als zu einlinig kritisieren und die christologischen Besonderheiten der drei Evangelien als zu stark nivelliert beurteilen. In methodischer Hinsicht ist an Schramms Zugang jedoch zu würdigen, dass er die in die Öffentlichkeit weisende Funktion der drei Erzählungen in einer kompetetiven literarischen Umgebung zum Ausgangs- und Bezugspunkt der Interpretation macht.

3.4 Der Zusammenhang von Gattung und Inhalt

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3.4.1 Die αÆ ρχηÁ τουÄ ευÆ αγγελι ου nach Markus Mk 1,1 setzt den Begriff αÆ ρχη seinem Werk als erstes Wort und dem Eröffnungsvers als Satzsubjekt voran. An zweiter Stelle verwendet Markus den als Genitivobjekt auf αÆ ρχη bezogenen Terminus ευÆ αγγε λιον. Damit installiert er ein Verhältnis von Vor- und Nachordnung. Markus macht nicht das Evangelium als solches zum Gegenstand. Er richtet das Augenmerk auf dessen αÆ ρχη . Die markinische Erzählung handelt von der Grundlegung des Evangeliums. ΕυÆ αγγε λιον wird unter dem Gesichtspunkt seiner Herkunft thematisiert. Inhalt der Darstellung ist der Ursprung des Evangeliums. Die markinische αÆ ρχη erzählt die Vorgeschichte des gegenwärtigen Evangeliums.35 Eine weitere Genitiverweiterung spezifiziert den Darstellungsgegenstand. Der in der antiken Literatur in unterschiedlichen Kontexten begegnende weit gefasste Evangeliumsbegriff, der sich auf günstige Nachrichten bezieht, wird christologisch auf das Evangelium von Jesus Christus zugespitzt. Die Debatte, ob es sich bei dem Genitiv ÆΙησουÄ ΧριστουÄ um einen genitivus subiectivus oder einen genitivus obiectivus handelt, führt nur begrenzt weiter. Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich zudem durch die weitere Genitivkonstruktion am Ende des Verses, die der Kennzeichnung Jesu Christi als υιë οÁ ς θεουÄ dient. Zwar ist sie textkritisch eher als sekundäre Erweiterung zu betrachten, aber sie deutet an, dass die Christologie des Markusevangeliums schon von frühen Bearbeitern des alten Textes unter dem Aspekt der Gottessohnschaft gelesen wurde. Der Zusatz nimmt sachlich korrekt auf die Ausrichtung des Gesamtwerks Bezug. Als Elemente einer mehrgliedrigen Genitivverbindung dienen sämtliche Genitive der sukzessiven Ausdifferenzierung dessen, wovon die αÆ ρχη handelt. Sie geben unisono die Richtung an, auf die sich das Evangelium bezieht: auf Jesus Christus als Gegenstand und Inhalt, grammatikalisch gesehen als Objekt. Nähme man an, das anonym überlieferte Markusevangelium wollte sich selbst als Christusstimme verstanden wissen, ließe sich cum grano salis unter einer solchen theologischen Wahrnehmung auch von dem an Jesus Christus gebundenen bzw. durch seine Person verbreiteten Evangelium im Sinne einer Selbstvermittlung Jesu Christi und damit von einem genitivus subiectivus sprechen.36 Kontrovers diskutiert wird die Frage nach der Reichweite der in V.1 angesprochenen αÆ ρχη .37 Um sie zu ermitteln, wird nach dem Verhältnis von Mk 1,1 zu 35 J. R, Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese, WUNT 2/458, Tübingen 2017, unterscheidet zu Recht zwischen der erzählten Zeit des Markusevangeliums, die „das irdische Wirken Jesu bis hin zu seinem Tod und seiner Auferstehung umfasst“ (219) und der Phase der kirchlichen Evangeliumsverbreitung (485). 36 Vgl. dazu M. W, Die anonymen Schriften des Neuen Testaments. Annäherungsversuch an ein literarisches Phänomen, ZNW 79 (1988), 1–16. C.C. B, Mark (ANTC), Nashville 2011, 47, spricht von einem Genitiv der Identifikation: die gute Botschaft, deren Substanz Jesus ist. 37 Zum Nachfolgenden vgl. im Einzelnen P.-G. K, Die Jesuserzählung nach Markus als Werk des achten Jahrzehnts, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 7–41, 28–32.

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den nachfolgenden Textabschnitten 1,1–3 oder 1,4–8 oder 1,1–13 oder 1,1–15 gefragt; oder es wird erwogen, Mk 1,1 als Überschrift über das markinische Gesamtwerk 1,1–16,8 anzusehen. Im Rahmen einer anaphorischen Zuordnung des Mischzitats in V.2 und 3 zu V.1 erschließt sich die Bedeutung von αÆ ρχη aus der alttestamentlichen Vorgeschichte, die mit Ex 23,20; Mal 3,1 und Jes 40,3 aufgerufen wird.38 Die prophetischen Stimmen, denen auch Mose zugerechnet wird, bekunden, dass das Evangelium von Jesus Christus auf einen Boten zurückgeht, den Gott selbst durch den Mund von Propheten angekündigt hat. Dieser Vorläufer ist der irdische Jesus, dessen Lebensweg ab Mk 1,9 erzählt wird. Zwei textliche Indizien stützen diese Deutung: Erstens wohnt dem Begriff αÆ ρχη im Griechischen ein Herrschaftsaspekt inne. Die nach Markus im Auftreten Jesu begründete αÆ ρχη regiert die Evangeliumsverkündigung des beginnenden achten Jahrzehnts. Der Aspekt von Herrschaft findet sein Korrelat innerhalb der erzählten Welt in der Charakterisierung der Person Jesu. Jesus tritt als Sachwalter der Herrschaft Gottes auf (Mk 1,15). In seinen Exorzismen begibt er sich in kämpferische Auseinandersetzungen, die seine Macht dokumentieren. Zweitens verweist in stilistischer Hinsicht die griechische Klangsymmetrie von ευÆ αγγελι ου und αÍ γγελοÂ ν µου auf die enge inhaltliche Zusammengehörigkeit von Botschaft und Botschafter. Beide erscheinen in V.1 und 2 durch weitere Homöoteleuta sowie Assonanzen in klanglicher Weise miteinander verbunden. Demgegenüber geht die kataphorische Auslegung von Mk 1 davon aus, dass Mk 1,1 als isolierter Vers entweder über der Eingangspassage 1,1–13 bzw. 15 oder über Mk 1,1–16,8 insgesamt steht. Die Zusammenstellung der Schriftstellen in 1,2.3 müsse daher auf die Täufersequenz in 1,4–8 bezogen werden. Die alttestamentlichen Stimmen zielten darauf, Johannes als den Vorläufer Jesu zu präsentieren. Versteht man die Kombination der Schriftstellen in V.2.3 als Scharnier, das eine Verbindung zwischen Mk 1,1 und 1,4–8 herstellt, dann trifft das prophetische Votum eine Aussage in beide Richtungen. Die als Alternativen aufgeführten ana- und kataphorischen Deutungen lassen sich zu einer Synthese zusammenführen. Angesprochen wird sowohl das Verhältnis zwischen dem Jesus-ChristusEvangelium und Jesus als auch das zwischen Jesus und Johannes dem Täufer. Berücksichtigt man die Ebenen, die der Erzählung zugrunde liegen, gehört Mk 1,1 als Einzelvers und Überschrift über das gesamte Markusevangelium auf die Seite der Erzählwelt der beginnenden 70er Jahre. Die Johannesepisode dagegen besitzt ihren Ort in der erzählten Welt kurz vor dem Jahr 30. Mittels der Zitatkombination wird eine Verschränkung dieser beiden Ebenen erreicht, die die Zusammenführung der Einsichten aus der ana- und der kataphorischen Deutung ermöglicht. Mk 1,2,3 kommt dabei eine Brückenfunktion zu. Auf der Ebene der markinischen Erzählwelt des achten Jahrzehnts geht es um die Grundlegung des gegenwärtig geglaubten Jesus-Christus-Evangeliums. Die38

So B, Mark (s. Anm. 36), 46.

3.4 Der Zusammenhang von Gattung und Inhalt

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ses besitzt seine Vorgeschichte im Wirken Jesu, der von Gott selbst durch Prophetenmund als Bote angekündigt worden ist. Dem Jesus-Christus-Evangelium wird der Boden durch Jesus, seinen Boten, bereitet. In der erzählten Welt der zwanziger Jahre fungiert der Täufer im Rahmen der Erzählung als Ankündiger Jesu. Johannes wird die Rolle des Wegbereiters Jesu zugeschrieben, Jesus als Vorbereiter des Jesus-Christus-Evangeliums angekündigt. Im Medium der Schrift erfolgt die Zusammenführung beider Erzählebenen. Mit der Einsicht in die tragende Rolle des Begriffs αÆ ρχη für das Verständnis der markinischen Evangelienschrift ist die üblicherweise vorgenommene Gattungszuschreibung Evangelium hinfällig.39 Nachdem im Anschluss an die Lebenszeit Jesu vier Jahrzehnte lang Evangeliumsverkündigung in mündlicher Rede vollzogen wurde, erscheint der Begriff in Mk 1,1 erstmals unter Bezug auf eine schriftliche Jesuserzählung.40 Diese erzählt vom Ursprung des bis in die Gegenwart verkündigten Jesus-Christus-Evangeliums. Der Bezug des Begriffs αÆ ρχη auf einen schriftlichen Text eröffnet die Möglichkeit, ihn als Gattungsbezeichnung zu verwenden. Der Ausdruck αÆ ρχη stellt das Markusevangelium in den Kontext antiker ätiologischer Literatur.41 Als terminus technicus für diesen Literaturtypus ist der Ausdruck αιÆ τι α etabliert. Laut Kurt Hübner lassen sich allerdings die Begriffe αÆ ρχη und αιÆ τι α synonym verwenden. Eine αÆ ρχη ist nach Hübner eine „Ursprungsgeschichte“42. Sie nimmt in mythischen Zusammenhängen den Platz ein, an dem nach aufgeklärt wissenschaftlichem Verständnis das Naturgesetz oder eine geschichtliche oder gesellschaftliche Regel steht.43 ÆΑρχαι erzählen, wie

39 Vgl. K.M. S, Wege des Heils. Erzählstrukturen und Rezeptionskontexte des Markusevangeliums, NTOA 74, Göttingen 2010, 25, nach dessen Aussage ευÆ αγγε λιον in Mk 1,1 „nicht Gattungsbezeichnung“ ist. Ebenso A. L, Das Evangelium bei Paulus und im Markusevangelium, in: O. Wischmeyer/D.C. Sim/I.J. Elmer (Eds.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin/Boston 2014, 313–359, 345: ΕυÆ αγγε λιον in Mk 1,1 ist „nicht Bezeichnung für eine literarische Gattung”; ebenso A. S, Der Markusschluss. Narratologie und Traditionsgeschichte, BWANT 220, Stuttgart 2019, 66. Anders D. F, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst, TANZ 22, Tübingen 1997, 355, nach dessen Darstellung Mk 1,1 „der erste Beleg für die Verwendung des EvangeliumsBegriffes zur Benennung eines Erzähltextes“ ist. 40 Die Annahme, Evangelium stelle die zutreffende Gattungsbezeichnung dar, hat zu einer fast unübersehbaren Fülle von Vorschlägen geführt, worauf diese Gattung ihrerseits zurückzuführen sei. Vgl. dazu eine Übersicht bei P.-G. K, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin/New York 2001, 38–59; vgl. auch P.-G. K, Die älteste Evangelienschrift als ätiologische Erzählung, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 42–54, 45–47. 41 Vgl. dazu K, Die älteste Evangelienschrift (s. Anm. 40), 47–49; zur Behandlung der Gattungsfrage in der Forschungsgeschichte vgl. S, Markusschluss (s. Anm. 39), 57–89. 42 K. H, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 135. 43 H, Wahrheit des Mythos (s. Anm. 42), 135. Den Begriff αÆ ρχη übernimmt Hübner von V. G, Hellas, Reinbek bei Hamburg 1965, 198–209.

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es zu Naturvorgängen oder geschichtlichen Ereignissen gekommen ist. Sie führen Gegenwärtiges auf das Handeln einer göttlichen Macht in vorgeschichtlicher Zeit zurück. Der damals erstmals angestoßene Vorgang prägt alles nachfolgende Geschehen. So bleibt der Erstimpuls ständige Gegenwart. Wo Menschen sich auf den initialen Akt beziehen, vergegenwärtigt sich dieser und mit ihm die göttliche Macht, dem das Ereignis sich verdankt.44 Mk 1,1 fasst als Überschrift über das gesamte Werk im Vorhinein zusammen,45 dass das Evangelium seinen Ursprung in den geschilderten Ereignissen der Jesusgeschichte besitzt. Wo und wann immer das Evangelium vermittelt wird, ist sein begründender Anfang präsent. Die Verkündigung des ευÆ αγγε λιον ˘ΙησουÄ ΧριστουÄ vergegenwärtigt dessen αÆ ρχη . Das damalige Geschehen transzendiert seine zeitgeschichtliche Einbindung und fundiert die Gegenwart.46 Es wird zum „principium“47 der Gegenwart. Die markinische αÆ ρχηÁ τουÄ ευÆ αγγελι ου ˘ΙησουÄ ΧριστουÄ ist die Ursprungserzählung des Jesus-Christus-Glaubens in der Lebensgeschichte Jesu. Markus verfasst die Gründungsurkunde des in seiner Gegenwart verkündigten Evangeliums von Jesus Christus. Seine Jesuserzählung ist die Schöpfungsgeschichte des auf Jesus Christus bezogenen Evangeliums.48 In diesem Sinn ist die αÆ ρχη ein literarisches Werk. Darüber hinaus aber initiiert sie selbst das, von dem sie handelt: Die Vergegenwärtigung des Ursprungsgeschehens.

3.4.2 Die βι βλος γενε σεως nach Matthäus Die Substantive γε νεσις und αÆ ρχη sind im Griechischen Parallelbegriffe. Matthäus eröffnet sein Werk in Mt 1,1 genau wie seine Markusvorlage mit einem Terminus aus dem Themenfeld Anfang/Ursprung/Entstehung/Schöpfung. Die geänderte Wortwahl zeigt allerdings einen anderen geistigen Hintergrund an als bei Markus. Nicht die dem griechisch-hellenistischen Mythos verpflichtete Ätiologie gibt den Bezugspunkt ab. Matthäus lässt mit dem Begriff γε νεσις das erste Buch Mose anklingen, mithin die Tora als das Zentrum alttestamentlich-jüdischer Literatur, wenngleich in der hellenistisch geprägten Version der Septuaginta. Konkret knüpft die Eröffnungswendung an Gen 2,4 LXX und Gen 5,1 LXX an. In

44 K. H, Art. Mythos I., TRE 23 (1994) (Studienausgabe 2000), 597–608, 599–604; H, Wahrheit des Mythos (s. Anm. 42), 109–198. 45 Vgl. K, Mythos bei Markus (s. Anm. 40), 158. 46 Vgl. dazu J.U. B, Verstehen als Aneignung. Hermeneutik im Markusevangelium, ABG 53, Leipzig 2016: Kapitel 2.2.2 Der Anfang des Evangeliums Jesu Christi, 372–378: „Der αÆ ρχη als Beginn und Grundlegung des ευÆ αγγε λιον ÆΙησουÄ ΧριστουÄ korreliert in ihrem Verweisungsbezug auf die gesamte markinische Narration schließlich die hinsichtlich der Person Jesu herausgestellte, hermeneutische Offenheit jenes Werks, die als Initiation einer Relektüre zu werten ist.“ (378). 47 K. W, Art. αÆ ρχη , EWNT I, 21992, 388–389, 389. 48 Vgl. K, Mythos bei Markus (s. Anm. 40), 159.

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Gen 2,4 LXX geht es um das Buch der Schöpfung von Himmel und Erde. In Gen 5,1 LXX ist vom Buch der Schöpfung der Menschen die Rede. Dem stellt Matthäus sein eigenes Buch von der γε νεσις Jesu Christi an die Seite.49 Unbeschadet des Zitatcharakters folgt die matthäische Satzkonstruktion strukturell der Markusvorgabe. Zwei Substantive im Nominativ und Genitiv folgen aufeinander, bei Matthäus im Unterschied zu Markus ohne den Artikel vor dem Genitiv. Allerdings wird Begriff γε νεσις als Genitivobjekt dem Subjekt des Eingangsverses βι βλος nachgestellt. Damit erfolgt eine begriffliche Umkehrung: Führt Markus mit dem Schlagwort αÆ ρχη die Erzählung von dem Ursprungsereignis der Entstehung des Evangeliums ein, kündigt Matthäus ein Buch an. Statt vom Anfang des Evangeliums schreibt Matthäus ein Buch des Anfangs bzw. der Entstehung Jesu Christi.50 Anstelle des Ursprungs eines Ereignisses behandelt er die Herkunftsgeschichte einer Person. Formal übereinstimmend, inhaltlich aber von Markus abweichend spezifiziert Matthäus durch die weitere Genitivverbindung ˘ΙησουÄ ΧριστουÄ den Inhalt seiner βι βλος. Die matthäische Darstellung rückt die Geschichte der Person Jesu Christi in das Zentrum des Werkes. Matthäus geht es im Unterschied zu Markus nicht um die Herkunft des auf Jesus Christus gerichteten Evangeliums. Nicht die Vorgeschichte der gegenwärtigen Verkündigung ist das Thema. Seine Ausrichtung auf die Person Jesu Christi selbst präzisiert Matthäus durch zwei weitere Genitivverbindungen in von Markus abweichender Weise. Dezidiert geht es ihm um Jesus Christus unter den Gesichtspunkten der David- und Abrahamsohnschaft. Matthäus ordnet Jesus Christus in die Würdekonzepte der israelitisch-jüdischen Tradition ein.51 Die Ein49 Zum Forschungsstand in der Gattungsfrage inbesondere des Matthäusevangeliums vgl. R.A. B, Matthew and Gospel Genre. A Critical Review of the Last Twenty-Five Years, 1993–2018, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 47–73. 50 U. L, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband Mt 1–7 (EKK I/1), Zürich/Braunschweig/Neukirchen-Vluyn 31992, 88, führt aus, dass vom Griechischen her die Bedeutung „,Buch‘“ die zutreffende ist. Vor hebräischem Sprachhintergrund lägen die Übersetzungen „,Schriftstück‘, ,Dokument‘, ,Urkunde‘“ näher. Luz selbst übersetzt „,Urkunde des Ursprungs‘“. Diese Übersetzung modifiziert er in der Überarbeitung des Kommentarbandes zu „Buch der ,Genesis‘ Jesu Christi“ (U. L, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband Mt 1–7 (EKK I/1), Düsseldorf/Zürich/Neukirchen-Vluyn 52002, 117; s. den Hinweis bei U. P, Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium, BThSt 100, Neukirchen-Vluyn 2008, 34 Anm. 138). P. F, Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006, 39, führt als Übersetzungsmöglichkeiten „,Entstehung, Herkunft, Abstammung‘“, auch „,Dokument, Urkunde‘“ an und übersetzt selbst mit „Stammbaum“. 51 Die Bezüge auf die David- und Abrahamherkunft müssen nicht zwingend als Gegensatz zum markinischen Gottessohnkonzept verstanden werden. Gottessohnschaft ist nicht für hellenistische Konzeptionen reserviert, sondern auch in ägyptischen und jüdischen Kontexten bedeutsam. 2 Sam 7,11–14 und Ps 2,7 und 89,27–28 zeigen die Bedeutung innerhalb des Alten Testaments. Auffällig beim direkten Vergleich zwischen den Eingangsversen bei Markus und

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bindung Jesu in die davidische Messiastradition als eines „christologischen Leitmotiv(s)“52 betont die besondere Beziehung zu Israel. Die Abrahamtradition fügt dem eine stärker universal ausgerichtete Tendenz hinzu. Israelbindung durch den Aufweis der davidischen Linie und Universalismus des Heils, der sich aus dem Rekurs auf Abraham ergibt, bilden für Matthäus einander ergänzende Linien.53 Den erkenntnisleitenden Bezugsrahmen für das Matthäusevangelium stellt das Motiv der Gottessohnschaft dar. Es verbindet die Geschichte Jesu mit der alttestamentlichen Königsideologie und verknüpft die messianische Davidtradition mit der Gottessohnthematik.54 Im Blick auf den matthäischen Eingangsvers Mt 1,1 stellt sich wie bei Markus die Frage nach der literarischen Reichweite der Aussage. Zur Beantwortung werden wiederum engere und weitere Kontexte gegeneinander abgewogen.55 Für einen engen Bezugsrahmen spricht die Wiederholung des Wortes γε νεσις in Mt 1,18. Dann würde die Eingangsformulierung sich auf den Stammbaum in Mt 1,2–1756, eventuell noch unter Einschluss der folgenden Geburtserzählung in 1,18–25, beziehen.57 Näher liegt jedoch, dass Matthäus wie bereits Markus mit dem Vers eine Überschrift über die gesamte Jesuserzählung legt.58

Matthäus ist lediglich, dass Matthäus hier eine deutliche Spur in den jüdischen Traditionshorizont legt. Vgl. M. K, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 8: „Das Motiv der Gottessohnschaft hat Matthäus im Mk als christologische Leitkonzeption vorgefunden (s.v.a. Mk 1,11; 9,7; 15,39); die Hervorhebung der Davidsohnschaft Jesu geht hingegen auf seine eigene Hand zurück.“ 52 K, Matthäus (s. Anm. 51), 25. 53 Vgl. K, Matthäus (s. Anm. 51), 5.6.25. 54 Laut M. K, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 307, ergibt sich aus Mt 1,20, dass „der Gottessohn Jesus […] von Joseph adoptiert und damit der davidischen Linie eingefügt“ wird. Ebenso 29: „Der Gottessohn Jesus ist dadurch vollgültig in die Nachkommenschaft Davids eingegliedert.“ Ähnlich schreibt M. K, Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie, in: Ders., Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. A. Euler, WUNT 358, Tübingen 2016, 146–170, 149, von einem „umgekehrten Adoptionsvorgang: Nicht wird der davidische Herrscher als Sohn Gottes adoptiert, sondern der Gottessohn wird durch Joseph in die Nachkommenschaft Davids eingestellt.“ 55 Vgl. C. B, Jesus als Davidssohn. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, FRLANT 98, Göttingen 1970, 101–102. Vgl. die Forschungsübersicht bei K, Israel, Kirche und die Völker (s. Anm. 54), 24–25. 56 So F, Matthäusevangelium (s. Anm. 50), 39. 57 So L, Matthäus (EKK I/1) (s. Anm. 50), 31992, 88; ebenso unter Abwägung der Alternativen U. L, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 35 Anm. 34. 58 Vgl. K, Matthäus (s. Anm. 51), 26: „Die Rede vom ,Buch des Ursprungs‘ spricht für“ die These, dass Mt 1,1 die Überschrift über das gesamte Werk darstellt. Die „Rede vom ,Ursprung‘ hingegen […] eher für“ eine Beschränkung auf 1,2–16 bzw. 1,2–25 oder auf 1,1–4,16. P, Erzählte Welt (s. Anm. 50), 34, bezeichnet Mt 1,1 als „das incipit zum ganzen Evangelium“. Der Vers stelle im formalen Sinn keinen „titulus“ dar, erfülle jedoch „die Funktion eines Titels“ (35; Kursivierungen U.P.).

3.4 Der Zusammenhang von Gattung und Inhalt

89

Im Unterschied zu Markus, der mittels seiner Erzählung das Jesus-ChristusEvangelium selbst in der Gegenwart lebendig werden lässt, hinterlässt Matthäus ein Buch zur Person Jesu Christi, das dessen Bedeutung für die Nachwelt festhält.

3.4.3 Die διη γησις περιÁ τωÄ ν πραγµα των nach Lukas Im Unterschied zum markinischen und matthäischen Eröffnungsvers beginnt Lukas sein Werk mit keinem Begriff, der auf ein initiales Geschehen oder ein Grundlagendokument verweist. Narrativ und im Verbalstil gestaltet er den Einstieg in seine Evangelienschrift. Das erste Substantiv, das er verwendet und das zugleich einen Terminus für eine schriftliche Überlieferungsform bildet, lautet διη γησις59. Mit dieser Bezeichnung fasst er zusammen, was andere vor ihm schriftlich festgehalten haben. Ob er sich selbst mit dieser Form der Überlieferung identifiziert, schreibt er nicht. Dass er inhaltlich mit der Art und Weise, in der seine Vorgänger ihre Beiträge verfasst haben, nicht übereinstimmt, ist evident. Viele haben es versucht, die Geschehnisse auf die Reihe zu bringen (Lk 1,1).60 Diese Tatsache bietet ihm die Grundlage, die vorliegende Überlieferung neu zu vermessen und eine eigene Darstellung des Geschehens vorzulegen. Offen bleibt, mit welchem Begriff Lukas selbst seine Darstellung am treffendsten charakterisiert sieht.61 Im Fortgang des Prologs Lk 1,1–4 beschränkt er sich in V.3 auf ein Verb im Infinitiv. Er teilt schlicht mit, seine Absicht bestehe darin zu schreiben. Im zweiten Vers des Prologs erscheint dennoch das Substantiv αÆ ρχη . Äußerlich und begrifflich teilt Lukas damit die Entscheidung von Markus und Matthäus, sein Werk in Beziehung zum Thema Anfang zu setzen. Freilich ist es schwer, Originalität zu beanspruchen, wenn bereits eine thematisch ähnlich gelagerte Evangelienschrift vorliegt. Hatte Matthäus gegenüber Markus seine Behandlung der Anfangsthematik von einem Ursprungsgeschehen auf ein Buchprojekt verlagert, verändert Lukas gegenüber Markus den inneren Gehalt des Begriffs αÆ ρχη . Bezeichnet αÆ ρχη in einem mythischen Kontext ein außerhalb des chronologischen Rahmens stattfindendes Urereignis vor der weiterlaufenden Zeit, so verwendet Lukas den Begriff zur Bezeichnung eines bestimmten Punktes auf einem Zeitstrahl. Konkret wird mit αÆ π’ αÆ ρχηÄ ς in V.2 auf den Anfang der öffentlichen Wirksamkeit Jesu Bezug genommen. Dieser ist durch die Taufe Jesu in Lk 3,21–23 markiert.62 Der Anfang, von dem Lukas schreibt, bezieht sich also auf einen Moment innerhalb einer kontinuierlich weiterlaufenden Chronologie. 59 Laut E. P, Art. διηγε οµαι, EWNT I, 778–780, 780, handelt es sich bei dem Begriff um einen terminus technicus „hellenistischer Geschichtsschreibung“. 60 F. B, Das Evangelium nach Lukas, 1. Teilband Lk 1,1–9,50 (EKK III/1), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1989, 34: „Wenn Lukas mit der Arbeit seiner Vorgänger einigermaßen zufrieden wäre, hatte er sich gewiß nicht die Mühe gemacht, ein neues Werk zu verfassen.“ 61 M. W, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 61, geht dagegen davon aus, dass Lukas „[w]ie die ,Vielen‘“ eine διη γησις schreibt. 62 Vgl. B, Lukas (EKK III/1) (s. Anm. 60), 38.

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

Lukas überführt damit den Begriff αÆ ρχη aus dessen ursprünglicher Einbettung innerhalb eines mythischen Verstehenszusammenhangs in den Kontext hellenistisch aufgeklärter Rationalität. Unter deren Voraussetzungen läuft die Zeit an einem Strahl aus der Vergangenheit in eine offene Zukunft. Keinesfalls ist sie zyklisch und auf die Vergegenwärtigung vorzeitlicher Ereignisse ausgerichtet. Eine διη γησις umfasst im Spektrum antiker Literatur ein weites Feld von Darstellungsweisen. Diese können sowohl dichterische, mythische und wundersame Begebenheiten als auch historische Ereignisse zum Gegenstand haben.63 Im Neuen Testament erscheint das Substantiv διη γησις nur an dieser einen Stelle.64 Die Verbform διηγε οµαι begegnet insgesamt zehnmal innerhalb des Neuen Testaments.65 Ist die Verwendung des Begriffs damit auch nicht eo ipso an die Geschichtsschreibung gebunden, hat sich der Terminus im Bereich historiographischer Darstellung gleichwohl etabliert. Sofern er dort Verwendung findet, bezieht er sich auf eine an der Realität orientierte Darstellungsweise. Innerhalb dieses Kontextes antiker Literatur gehört die διη γησις nicht zur fiktionalen Literatur. Vielmehr bezeichnet sie die Niederschrift zu einem Geschehen, so wie es sich dem Verfasser darstellt. Nach Auskunft des Lukasprologs orientiert sie sich dazu in geordneter Weise an den Fakten, die ihr vorliegen. Sie entspricht keinem neuzeitlichen Objektivitätsideal, daher ist die Bezeichnung Bericht missverständlich.66 Gleichwohl beansprucht die Darstellung, das tatsächliche Geschehen wiederzugeben.67 Um das leisten zu können, folgt sie Kriterien. Sie ist – jedenfalls im Rahmen des Lukasevangeliums – die regelgeleitete Darstellung von vorgegebener Wirklichkeit. Eine διη γησις im Rahmen antiker Historiographie deckt sich nicht vollständig mit dem Verständnis modern aufgeklärter Geschichtswissenschaft von Wirklichkeitserfassung. Insbesondere der Bereich des Numinosen ist nicht von vornherein aus der antiken Historiographie ausgeblendet. Vorgänge, die aufgeklärtneuzeitlicher Rationalität folgend dem Bereich der Wundererzählungen zuzurechnen sind, können in der antiken historiographischen und biographischen Literatur selbstverständlich zur Charakterisierung von Herrscherpersönlichkeiten mitgeteilt werden. Gleichwohl werden die Grenzen zu antiken mythischen Erzählungen oder märchenhaften Stoffen damit nicht aufgelöst. 63 Vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 61), 61–62. B, Lukas (EKK III/1) (s. Anm. 60), 34, bezeichnet die διη γησις als „eine mündliche oder schriftliche Erzählung“, die „auch einen Geschichtsbericht bezeichnen“ kann. H. K, Das Lukasevangelium (KEK I/3), Göttingen 2006, 73 Anm. 14: „Διη γησις meint zunächst das Erzählen (aktiv) und dann die Erzählung, den Bericht.“ 64 Auch bei drei anderen Worten aus dem Prolog handelt es sich um Hapaxlegomena: ÆΕπειδη περ, αÆ νατα ξασθαι und αυÆ το πτης. Siehe K, Lukasevangelium (s. Anm. 63), 73 Anm. 8. 65 Vgl. P, Art. διηγε οµαι (s. Anm. 59), 778–779. 66 Unverfänglicher ist die Übersetzung Darstellung. So auch G. S, Das Evangelium nach Lukas, Kapitel 1–10 (ÖTK 3/1), Gütersloh/Würzburg 1977, 37. 67 W, Lukasevangelium (s. Anm. 61), 61: ÆΑνατα ξασθαι „betont den reproduktiven Charakter der literarischen Tätigkeit“.

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

91

Eine διη γησις bietet die von ihrem Gegenstand bestimmte Lesart eines Geschehens an. Der konstruierende Anteil ist konstitutiv, tritt aber hinter der Bezugnahme auf die zu schildernden Gegebenheiten zurück. Diese sollen in ihrer Eigendynamik zur Geltung gebracht werden. Sollte Lukas sich den Begriff διη γησις auch für seine eigene Darstellung zueigen gemacht haben, zeigte sich das konstruierende Moment gerade in den Kriterien, denen seine διη γησις folgt. Diese sollen die Objektivität der Darstellung sichern. Zugleich gehören sie aber auch auf die Seite des konstruierenden Bewusstseins. In seinem Prolog listet Lukas die seine Darstellung leitenden Gesichtspunkte präzise auf. Für seine Rückverfolgung der Überlieferungen bis zu den Anfängen verweist er darauf, dass seine Ausführungen auf der Grundlage der Aussagen von zuverlässigen Augenzeugen und Sympathisanten des Logos, d.h. christusglaubender Verkündiger beruhen. Gerade nicht die Neutralität der Gewährspersonen, sondern ihre Tendenz, also ihre Identifikation mit der Sache, macht ihre Qualität aus. Für sein Projekt zählt Lukas vier Objektivitätskriterien auf: 1. Die grundlegende Recherche, d.h. die Untersuchung der Vorgänge von vorn an (αÍ νωθεν); 2. die Vollständigkeit der Ermittlungen in allem (παÄ σιν); 3. die akribische Genauigkeit des Vorgehens (αÆ κριβωÄ ς); 4. die genaue Beachtung der Reihenfolge und die exakte Ordnung der Ausführungen (καθεξηÄ ς).68 Das lukanische Bestreben zielt darauf, Zuverlässigkeit der Darstellung durch Vollständigkeit, Genauigkeit, Faktenorientierung und Ordnung zu erreichen. Damit werde die in der Gegenwart der Erzählwelt geltende Lehre auf sichere Grundlagen gestellt. Für die Katechese soll eine verlässliche Basis geschaffen werden. Sicherheit durch Kontinuität lautet die Programmatik des Lukasprologs.69

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte 3.5.1 Christologische Literatur des Neuen Testaments im Verhältnis zum Judentum Das Verhältnis der neutestamentlichen Literatur zum Judentum steht seit geraumer Zeit auf dem Prüfstand. An die Stelle eines klassischen Gegenübers, das die neutestamentlichen Schriften als fundierende Dokumente des frühen Christentums las, die das Heraustreten aus dem Judentum begründeten und auf diese Weise zur Grundlage des sich zu einer eigenständigen Religion entwickelnden Christentums wurden, ist die Einsicht getreten, dass die im Neuen Testament niedergelegten Anschauungen tiefer im Judentum verwurzelt sind, als es häufig in 68 Zu den Parallelen in der antiken Literatur vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 61), 58–59 und 64–66. 69 Vgl. P.-G. K, Der Nachhall hellenistischer Literatur bei Lukas, in: P.-G. Klumbies/I. Müllner (Hg.), Bibel und Kultur. Das Buch der Bücher in Literatur, Musik und Film, Leipzig 2016, 35–50, 35–37.

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

der christlichen Rezeptionsgeschichte gesehen wurde. In den 1950er und 1960er Jahren hatte man mit der sog. neuen Frage nach dem historischen Jesus Jesu Besonderheit durch ein Subtraktionsverfahren zu gewinnen versucht. Alles das, was man an ihm als Ausdruck frühchristlicher Glaubensaussage festmachen konnte, und ebenso das, was genuin jüdischer Provenienz zuzurechnen war, wurde aus dem historisch rekonstruierten Bild seiner Person herausgenommen. Das so gewonnene wissenschaftliche Jesusbild zeichnete Jesus als einen Solitär, unableitbar aus benachbarter religiöser Kultur, einzigartig in seiner Persönlichkeit und seinem Wirken. Demgegenüber wird spätestens mit der Third Quest die Person Jesu nicht länger auf Einzigartigkeitsmerkmale reduziert. Stattdessen wird Jesus im Zuge der dritten Suche als Repräsentant des Judentums gezeichnet und in diesem Zusammenhang unterschiedlichen jüdischen Milieus und Gruppen seiner Zeit zugerechnet. Dass unter theologischem Gesichtswinkel damit eine weitere Art von Engführung untermauert wird, steht auf einem anderen Blatt. Christina Metzdorf hat darauf hingewiesen, dass mit der Verabschiedung der Inspiration, der Christologie und der Ekklesiologie als Leitlinien des exegetischen Bezugs auf Jesus durch die Aufklärung eine theologische Schieflage gegenüber der patristischen Exegese entstanden ist. Die Alte Kirche las „von ihrem inkarnatorischen Denken her alle menschlichen Eigenschaften und Wesenszüge Jesu als Schlüssel zur Erkenntnis des Logos“70. Dieser Horizont brach in der aufgeklärten Exegese im Zuge der historischen Kritik weg. Die Zuwendung der Alten Kirche zum „,historischen Jesus‘“ beruhte auf ihrem christologischen Interesse. Man wollte „den Durchblick zum inkarnierten Logos erhellen, dessen Erkenntnis Heil für die Menschen bedeutet“71. Demgegenüber zeichnet die aufgeklärte Jesusforschung ein vergleichsweise mattes Jesusbild. Statt εÆ ξουσι α werde Jesus lediglich charismatische Ausstrahlung zugeschrieben. Das 19. Jahrhundert würdige ihn als kultkritischen „Reformator“, das 20. Jahrhundert konzentriere sich auf Jesus als Juden. An die „Stelle des Christusdogmas [trat] das Jesusbild der entsprechenden Zeit“72. Wenn die Exegese ihre ursprüngliche Rolle wiedergewinnen und eine theologische Aufgabe übernehmen wolle, um „zur Erkenntnis des Heilshandelns Gottes“73 beizutragen, sei die christologische und soteriologische Dimension neu zur Sprache zu bringen.74 Etwa parallel zu der auf Jesus konzentrierten Third Quest begann die „New Perspective on Paul“75 die traditionelle Paulusinterpretation hinter sich zu lassen. Diese hatte in ihrer klassischen Form den theologischen Unterschied zwischen 70 C. M, Die Tempelaktion Jesu. Patristische und historisch-kritische Exegese im Vergleich, WUNT 2/168, Tübingen 2003, 259. 71 M, Tempelaktion (s. Anm. 70), 261. 72 M, Tempelaktion (s. Anm. 70), 258. 73 M, Tempelaktion (s. Anm. 70), 263. 74 Dieser Exkurs erfolgt in z.T. wörtlicher Anlehnung an K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung (s. Anm. 32), 859–860. 75 Der Terminus geht zurück auf J.D.G. D, The New Perspective on Paul, in: Ders.,

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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Paulus und dem zeitgenössischen Judentum, dem er entstammte, betont. An ihre Stelle trat mit der New Perspective ein Paulusbild, das den Apostel in Kongruenz mit den tragenden Überzeugungen des Judentums zeigt. Viele Forschungsbemühungen sind von der Idee getragen, die grundsätzliche Übereinstimmung seiner unter dem Christusbekenntnis getroffenen Aussagen mit Auffassungen des Judentums zu erweisen. Allenfalls eine begrenzte Binnenkritik an Tendenzen innerhalb des antiken Judentums sei bei Paulus erkennbar. Sie greife dort, wo der Apostel nach Auffassung der Ausleger zu enge partikulare Bestrebungen des Judentums kritisiert, die den Zutritt in ein neues Gottesvolk aus Juden und christusglaubenden ehemaligen Heiden erschweren. Paulus wird von der New Perspective als der Sachwalter einer Öffnung des jüdischen Erbes für Nicht-Juden wahrgenommen. Der Bund Gottes sollte nicht länger in nationalistischen Begrenzungen gedacht sein. Daher habe sich der Apostel für die Überwindung der Bindung an exklusiv jüdische „identity markers“76 wie Beschneidung, Speisegebote und die Sabbateinhaltung stark gemacht. Seine Evangeliumspredigt lasse jedoch jüdisches Selbstverständnis in den entscheidenden theologischen Punkten unberührt.77 Die Motivation seines missionarischen Handelns liege für Paulus darin, vielen Menschen auf dem Weg über den Christusglauben die Teilhabe an den Segnungen Israels zu ermöglichen. Eine zugespitzte Weiterentwicklung hat die New Perspective durch die Paul Within Judaism-Forschung erfahren.78 Diese Richtung innerhalb der Paulusforschung versteht sich nach eigener Aussage als radikal neuer Zugang „‘Beyond the New Perspective’“.79 Paulus soll exklusiv innerhalb des Kontextes des Judentums im 1. Jahrhundert interpretiert werden – unter Absehung von den hermeneutischen Zugängen späterer Jahrhunderte, die über den originären Paulus des 1. Jahrhunderts gebreitet worden seien.80 Die künftige Aufgabe bestehe darin, The New Perspective on Paul. Collected Essays, WUNT 185, Unrevised Paperback Edition Tübingen 2007, 89–110, 110 (ursprünglich 1983). 76 D, New Perspective (s. Anm. 75), 104. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Dunn vgl. S. K, Paul and the New Perspective. Second Thoughts on the Origin of Paul’s Gospel, Grand Rapids, Michigan/Cambridge, U.K 2002 (=WUNT 140, Tübingen 2002), 1–84 und 176–184. 77 Vgl. dazu die Beiträge in M. B (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, WUNT 182, Tübingen 2005. 78 Vgl. M.D. N, Part I: A New Approach to the Apostle: Paul as a Torah-observant Jew, in: Ders., Reading Paul within Judaism. Collected Essays, Vol. 1, Eugene, Oregon 2017, 1–59; M. Z, Paul within Judaism: The State of the Questions, in: M.D. Nanos/M. Zetterholm (Eds.), Paul within Judaism: Restoring the First-Century Context to the Apostle, Minneapolis 2015, 31–51. P. F, Paul. The Pagan’s Apostle, Yale 2017; K. E, Searching Paul, in: Dies., Searching Paul. Conversations with the Jewish Apostle to the Nations. Collected Essays, WUNT 429, Tübingen 2019, 3–18, 6.10–11. 79 M.D. N, Introduction, in: M.D. Nanos/M. Zetterholm (Eds.), Paul within Judaism: Restoring the First-Century Context to the Apostle, Minneapolis 2015, 1–29, 1. 80 N, Introduction (s. Anm. 79), 2. M.D. N, Preface, in: Ders., Reading Paul

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

„Paul as a Jew within Judaism, practicing and promoting a Torah-defined Jewish way of life for followers of Christ“81 zu begreifen. Paulus bleibe zeitlebens ein toragebundener Jude.82 Der Sündenfall der New Perspective habe nicht unähnlich dem Kardinalfehler der traditionellen Paulusexegese darin bestanden, am Judentum etwas falsch zu finden und dieses durch eine vermeintlich richtige Alternative zu ersetzen. Wie die lutherische Rechtfertigungslehre auf dem traditionellen Vorwurf jüdischer Werkgerechtigkeit und Gesetzlichkeit aufbaue, so identifiziere die New Perspective jüdischen Partikularismus als das Übel, dem sich Paulus entgegengestellt habe.83 Paulus bleibe auch „after his change of conviction about Jesus being the Messiah [Christ]“84 sowohl mit seinen Schreiben als auch mit seinen Gemeindebildungen Teil des Judentums des Zweiten Tempels. Seine Botschaft ziele auf die Etablierung einer geistlichen Gemeinschaft von Christusglaubenden jüdischer und nichtjüdischer Provenienz. Die „communities“ des Paulus stellen „subgroups of Judaism“85 dar, selbst wenn ihre Mitgliederschaft in bedeutender Zahl aus Nicht-Juden besteht. Diese neuen Christusgemeinschaften heben jedoch nicht die natürlichen Differenzen auf, die aus den fleischlich unterschiedlichen Herkünften resultieren. Entsprechend halte Paulus an der Unterscheidung von Juden und sog. Heiden unter dem Dach des Christusglaubens fest.86 Jüdische Christusglauwithin Judaism. Collected Essays, Vol. 1, Eugene, Oregon 2017, IX–XXIII, XIII: “Paul should be read within Judaism”. 81 N, Preface (s. Anm. 80), XIII. 82 F, Paul (s. Anm. 78), XII: “Paul lived his life entirely within his native Judaism”; vgl. ebd. 108–112.175; Z, Paul within Judaism (s. Anm. 78), 48: Paul “was a Torah-Observant Jew”; D. B, A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Contraversions. Critical Studies in Jewish Literature, Culture, and Society 1, Berkeley/Los Angeles/London 1994, 2: “Paul lived and died convinced that he was a Jew living out Judaism”. Vgl. auch 3.130–135.136–157. 83 N, Introduction (s. Anm. 79), 7. Die Vertreterinnen und Vertreter der Paul Within Judaism-Richtung weisen entsprechend zurück, was Paulus nach Darstellung der New Perspective als falsch am Judentum identifiziert hat: “its commitment to ethnic identity (variously described as ‘ethnocentrism’, ‘badges of identity’, ‘particularism’, ‘nationalism’ and so on)” (6/7). Vgl. auch M.D. N, Paul and Judaism. Why not Paul’s Judaism?, in Ders., Reading Paul within Judaism. Collected Essays, Vol. 1, Eugene, Oregon 2017, 3–59, 12.14–16. 84 N, Introduction (s. Anm. 79), 9. Auch N, Paul and Judaism (s. Anm. 83), 32, fasst das Zentrum des paulinischen Christusglaubens in der Chiffre „believing that Jesus was the Messiah“ zusammen. Diese formelhafte Verkürzung bringt es mit sich, dass die Aussage bruchlos in jüdische messianische Vorstellungen integrierbar ist. Kritische Folgerungen, die aus der christologischen Grundlegung bei Paulus im Blick auf das Verständnis Gottes wie anderer Theologumena resultieren, werden durch die programmatische Reduktion im Ansatz ausgeschlossen. 85 N, Introduction (s. Anm. 79), 10. 86 F, Paul (s. Anm. 78), 114.167. N, Paul and Judaism (s. Anm. 83), 40: Innerhalb ihrer Gemeinschaften bleiben die ethnischen oder nationalen Unterschiede zwischen „Jew/Israelite and non-Jew/member of the nations and therefore their different rela-

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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bende blieben in ihrem Status als Juden, in dem sie berufen wurden, und halten weiterhin die Tora ein.87 Aber auch die Christusglaubenden aus den Heiden würden nicht in die Gesetzesfreiheit entlassen. Sie werden zwar nicht zu Proselyten zum Judentum gemacht,88 aber sie hätten das Gesetz in einer für sie angepassten Weise zu erfüllen.89 Nicht-jüdische Menschen werden in die Familie Abrahams aufgenommen „without joining the family of Jacob/Israel“90. Auch in der Evangelienexegese ist wie in der historischen Jesusforschung das Bestreben erkennbar, Jesus nicht länger in Opposition zu den tragenden Überzeugungen des Judentums im 1. Jahrhundert darzustellen. Angesichts der Vielfalt jüdischen Lebens und Glaubens im 1. Jahrhundert wird zudem empfohlen, nicht länger von Judaism im Singular, sondern von Judaisms im Plural zu sprechen.91 Das Verhältnis des matthäischen Jesus zu seinen innerjüdischen Gegnern wird nicht länger als ein Fundamentalwiderspruch verstanden. Die Stimme Jesu im Matthäusevangelium gilt als ein Gesprächsbeitrag in einer kontroversen Debatte innerhalb des Judentums im 1. Jahrhundert. Sie weise jedoch nicht prinzipiell aus diesem heraus.92 Die matthäische Gemeinde wird zunehmend als eine Gruppietionships to the Torah“ bestehen. Im Leib Christi sind sie im Rang gleichwertig, ansonsten aber voneinander unterschieden. “As there is a place for non-Jews in that body, so too there is a place for Jews, a fortiori, and thus for Torah”. 87 N, Paul and Judaism (s. Anm. 83), 25. 88 N, Paul and Judaism (s. Anm. 83), 25: “they are members of a particular Judaism” (37). 89 Vgl. F, Paul (s. Anm. 78),117–122. “[T]hese pagans εÆ ν ΧριστωÄì were enabled by and through their πι στις in Christ, and through God’s (or Christ’s) πνευÄ µα infused in them, to fulfill the Law and to conduct community life in accordance with it (e.g. Gal 5,13–25). Though not ‘under the Law’ (Gal 5,18), these inspirited gentiles can now fulfill the Law.” (120). “‘Law’ and ‘faithfulness’ […] are complementary and synergistic, not contesting and contrary.” (130). Laut Z, Paul within Judaism (s. Anm. 78), 50–51, lässt sich für die Phase des Übergangs vom 1. zum 2. Jahrhundert nicht eindeutig klären, „how to include non-Jews in the eschatological people of God“. Paulus sei augenscheinlich der Auffassung gewesen, dass Nicht-Juden nicht-jüdisch bleiben und nicht die Tora halten sollten. Apg 15,1.5 dokumentiere, dass darüber unter den frühen Christus-Glaubenden unterschiedliche Auffassungen herrschten. Die Didache vertritt nach Zetterholm eine Mittelposition: Nicht-Juden sollten Nicht-Juden bleiben, „but observe as much as possible of the Torah“ (51). N, Paul and Judaism (s. Anm. 83): “Christ-following Jews like Paul do not reject Torah, but develop halakhot that articulate the appropriate way to observe Torah now, in view of the revelation of Christ that the representatives of the nations are not become Israelites, but to join with Israelites in a new community” (37). “Non-Jews were not under Torah; they nevertheless obliged to observe the appropriate halakha for this association as equals to take place.” (39). 90 N, Paul and Judaism (s. Anm. 83), 38. 91 J.A. O, Church and Community in Crisis. The Gospel According to Matthew, The New Testament in Context, Valley Forge 1996, 9. 92 Vgl. den Forschungsbericht von D.C. S, Matthew. The Current State of Research, in: E.-M. Becker/A. Runesson (Eds.), Mark and Matthew I. Comparative Readings: Understanding the Earliest Gospels in their First-Century Settings, WUNT 271, Tübingen 2011, 33–51, bes. 36–40.

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

rung betrachtet, die mitten in einer innerjüdischen Debatte steht.93 Sie praktiziere einen „Matthean Judaism“94 und konkurriere mit anderen jüdischen Gruppen, insbesondere den Schriftgelehrten und Pharisäern.95 Laut Anthony J. Saldarini handelt es sich bei der matthäischen Gemeinde wie ihrem Sprecher, dem Autor des Matthäusevangeliums, um „deviant Jews“96. Ihrem Selbstverständnis nach sind die Gemeindemitglieder Juden und werden auch in der Außenwahrnehmung von anderen als solche betrachtet.97 Auch die Christologie des Matthäusevangeliums sei als eine innerjüdische Artikulationsmöglichkeit nachvollziehbar.98 Als übergeordneter Begriff für die religiöse Zugehörigkeit der Gemeinde des Matthäus dient nicht länger die Bezeichnung Judenchristentum. Stattdessen wird von einem matthäischen bzw. christlichen Judentum gesprochen.99 Während Ulrich Luz noch davon ausgeht, dass das Matthäusevangelium auf die vollzogene „Trennung der eigenen Gruppe vom Judentum zurückblickt“100, sehen andere die matthäische Gemeinde in einer aktuellen Auseinandersetzung mit Pharisäern 93 Vgl. A.F. S, Matthew’s Jewish Voice, in: D.L. Balch (Ed.), Social History of the Matthean Community. Cross-Disciplinary Approaches, Minneapolis 1991, 3–37, 4: “the earliest Christian community is not yet distinct from the Jewish community; it was a fractious and interesting new sect”. Zur Bedeutung Galiläas für Mt vgl. S, Matthew’s Jewish Voice, 27–29. Vgl. O, Church and Community (s. Anm. 91), 9: “Matthew’s Gospel is also a Judaism.” “Matthew claims […] to speak about and for Israel and its God. Matthew thought of himself as a Jew.” D.C. S, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Studies of the New Testament and Its World, Edinburgh 1998, 109–163: “this was an inner Jewish debate (Christian Judaism versus formative Judaism) and not a dispute between Judaism and Christianity” (109, ähnlich 163); A. R, Rethinking Early Jewish-Christian Relations. Matthean Community History as Pharisaic Intragroup Conflict, JBL 127 (2008), 95–132, 98.125.127.132, verortet den Ursprung und die Entwicklung der matthäischen Gemeinden in einem pharisäisch-jüdischen Kontext. Siehe auch A. R, Building Matthean Communities. The Politics of Textualization, in: E.-M. Becker/A. Runesson (Eds.), Mark and Matthew I. Comparative Readings: Understanding the Earliest Gospels in their First-Century Settings, WUNT 271, Tübingen 2011, 379–408, 379. 94 J.A. O, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis 1990), 2; ebenso O, Church and Community (s. Anm. 91), 10. Vgl. auch R, Rethinking Relations (s. Anm. 93), 100. 95 O, Church and Community (s. Anm. 91), 12–13.155–159. 96 A. J. S, The Gospel of Matthew and Jewish-Christian Conflict, in: D.L. Balch (Ed.), Social History of the Matthean Community. Cross-Disciplinary Approaches, Minneapolis 1991, 38–61, 38. Devianz impliziere nicht den Ausschluss aus einer Gemeinschaft, sondern setze gerade die Mitgliedschaft darin voraus (44–48). 97 Vgl. S, Gospel of Matthew (s. Anm. 96), 38. 98 Vgl. D. B, The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, paperback edition, New York 2013, 22.169 Anm. 39.184 Anm. 24. 99 Vgl. die Darstellung bei M. K, Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum, in: Ders., Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. A. Euler, WUNT 358, Tübingen 2016, 3–42, 4. 100 K, Matthäus im Kontext (s. Anm. 99) 4, unter Verweis auf L, Matthäus (EKK I/1) (s. Anm. 50), 52002, 96.

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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befindlich.101 Laut Romeo Popa stellt das Matthäusevangelium das „Zeugnis eines heftigen Machtkonfliktes zwischen einer etablierten pharisäisch-geprägten Gruppe und einer jüdisch-christlichen Gemeinde“102 dar. Dieser „Geschwisterkonflikt“103 werde gerichts- und geschichtstheologisch sowie „ethisch-theologisch“104 ausgetragen. Jenseits räumlich-statischer intra oder extra muros Zuschreibungen handele es sich nicht um ein punktuelles Geschehen, auf das wahlweise voraus- oder zurückgeblickt würde. Das Matthäusevangelium liefere eine Momentaufnahme, die einen eskalierenden Konflikt in actu beschreibt, bei dem die Zukunftsprognose düster ist und der auf eine Trennung hinausläuft.105 Inhaltlich betrifft die Kontroverse, um die es geht, den Umgang der Trägerkreise mit der theologischen Tradition Israels.106 Matthäus und seine Gemeinde reklamieren die gleiche Tradition und Autorität für sich „as formative Judaism“107. Für J. Andrew Overman108, Anthony Saldarini109 und David Sim110 ist 101 Zur Bedeutung der Pharisäer in der Situation nach 70 vgl. O, Matthew’s Gospel (s. Anm. 94), 35–38 und 68–70; zu den bei Matthäus geschilderten Konflikten mit Pharisäern vgl. ebd. 78–89; zur differenzierten Wahrnehmung der Schriftgelehrten bei Matthäus ebd. 115–117. Zu den Gegnern des matthäischen Jesus vgl. A.J. S, Matthew’s ChristianJewish Community, CSHJ, Chicago/London 1994, 44–67. 102 R. P, Allgegenwärtiger Konflikt im Matthäusevangelium. Exegetische und sozialpsychologische Analyse der Konfliktgeschichte, NTOA/StUNT 111, Göttingen 2017, 345; ähnlich K, Matthäus im Kontext (s. Anm. 99), 38. 103 P, Konflikt (s. Anm. 102), 388. 104 P, Konflikt (s. Anm. 102), 346. 105 K, Matthäus im Kontext (s. Anm. 99), 39–40, kritisiert die Verwendung einer statischen Mauern-Metapher. Es sei gut vorstellbar, dass aus pharisäischer Sicht die christusglaubende matthäische Gemeinde, zumal wenn sie auf die Integration von Heidenchristen abzielt, den Rahmen des Judentums verlassen hat. Umgekehrt versteht die matthäische Gemeinde ihre auf die Völker abzielende Verkündigung gerade nicht als einen Bruch mit dem Judentum. Aus matthäischer Sicht bestehen die Mauern, „die das Judentum von den Völkern abgrenzen“ (40), nicht. Vgl. auch P, Konflikt (s. Anm. 102), 397. Gegenüber einer einseitigen Auflösung der Alternative, ob die aggressive Auseinandersetzung eher auf frustrierende zurückliegende Ereignisse hindeutet oder kommende Herausforderungen als Triebfeder der emotionalen matthäischen Darstellung anzusehen sind, verweist Popa auf die „(noch) bestehende Kontaktsituation“ (384) zur jüdischen Gemeinde; dabei sieht er tendenziell den stärkeren Impuls durch die künftig zu leistenden Aufgaben gegeben. 106 Vgl. K, Matthäus im Kontext (s. Anm. 99), 4. 107 O, Matthew’s Gospel (s. Anm. 94), 153: “Even more, Matthew claims quite explicitly to be the heir of God’s kingdom and God’s true people over against formative Judaism.” 108 O, Matthew’s Gospel (s. Anm. 94), 70: Die matthäische Gemeinde „held the conviction that they completely understood and fulfilled the law“. 109 S, Matthew’s Christian-Jewish Community (s. Anm. 101), argumentiert mit seiner Studie dafür „that the Matthean group and its spokesperson, the author of the Gospel of Matthew, are Jews who believe in Jesus as the Messiah and Son of God. The Matthean group […] is still Jewish“ (1). Die Gruppe ist „part of the first-century Jewish community in the eastern Mediterranean“ (3); vgl. auch Kapitel VI „Matthew’s Torah“ (124–164). 110 Vgl. S, Gospel of Matthew and Christian Judaism (s. Anm. 93), 123–139.163.

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

der „Trägerkreis des Matthäusevangeliums eine toraobservante jüdische Gruppe“111. Mit dieser Pointierung wird allerdings nach Matthias Konradts Einschätzung die universale Ausrichtung des Matthäusevangeliums untergewichtet. Sachgemäßer sei es, die israelbezogenen Züge mit den universalistischen Aspekten zu vermitteln – so wie es in der theologischen Konzeption des Evangelisten angelegt sei.112 Die Verhältnisbestimmung zwischen Israelkonzentration und Universalismus stellt im Blick auf Matthäus die zentrale Interpretationsaufgabe dar.113 Versucht man das Matthäusevangelium in das weitere Umfeld der frühchristlichen Literatur einzuzeichnen, erhebt sich die Frage, ob es sich bei dieser Schrift um ein unverwechselbares frühes christliches Dokument handelt und falls ja, worin seine spezifische Eigenart liegt.114 Anzunehmen ist, dass ein Alleinstellungsmerkmal auf exklusiv historischer Grundlage nicht zu identifizieren sein wird. Die Differenz zwischen Jesus und den Pharisäern, die auch schon im Markusevangelium wahrzunehmen ist, hebe Jesus keinesfalls aus dem Kontext seines zeitgenössischen Judentums heraus oder stelle ihn gar in einen Gegensatz zu ihm. Vielmehr profiliert Jesus gegenüber den Pharisäern Mose und verteidigt die Tora gegenüber den pharisäischen Auslegungen.115 Carl R. Holladay bringt seine traditionsgeschichtliche Einordnung des Matthäusevangeliums auf den Punkt: Matthäus “was written by a Jew for a Jewish audience.”116 Unbesprochen bleibt dabei freilich, in welcher Weise die spätere Rezeption, die das Matthäusevangelium außerhalb des Judentums erfahren hat, in Zusammenhang mit der Schrift selbst steht. In Bezug auf das Markusevangelium liegen vergleichsweise wenige Publikationen von Within Judaism-Interpretinnen und Interpreten vor. Nina Irrgang 111 K, Matthäus im Kontext (s. Anm. 99), 38; vgl. auch K, Israel, Kirche und die Völker (s. Anm. 54), 385. O, Matthew’s Gospel (s. Anm. 94), 153: “The Matthean community, not the Jewish leadership, fulfills the law and will of God”. S, Matthew’s Christian-Jewish Community (s. Anm. 101), 7: Das Matthäusevangelium spiegelt eine christlich-jüdische Gruppe „which keeps the whole law, interpreted through the Jesus tradition“. 112 Vgl. K, Matthäus im Kontext (s. Anm. 99), 39. 113 So formuliert es K, Israel, Kirche und die Völker (s. Anm. 54), 1, gleich im ersten Abschnitt seines Buches. 114 So die berechtigte Frage von S, Matthew (s. Anm. 92), 51, am Ende seiner Forschungsübersicht. 115 So J. M, Foreword, in: D. Boyarin, The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, paperback edition, New York 2013, IX–XXII, XIV, in der Wiedergabe der Darstellung Boyarins. Vgl. dazu Boyarin selbst, B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 104–106: “Jesus’ Judaism was a conservative reaction against some radical innovations in the Law stemming from the Pharisees and Scribes of Jerusalem.” (104). 116 C.R. H, The Gospel of Matthew Within the Context of Second Temple Judaism, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 101–126, 102/103.

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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zielt darauf, die markinische „Erzählung vom Judentum“ zu reformulieren. Dazu bezieht sie sich auf die bei Markus verwendeten „Begriffe, Traditionen und Konzepte jüdischer Religiosität“117. Ausdrücklich strebt sie damit aber nicht die Beantwortung der Fragen nach einer möglichen jüdischen „Herkunft des Verfassers“, der Zusammensetzung der Leserschaft oder einer eventuellen christlichen Positionierung zum Judentum an.118 Markus erzählt „vom wichtigsten Augenblick der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel und damit […] vom Beginn einer neuen Zeit, eine[m] neuen Abschnitt der Heilsgeschichte“119. Nach Daniel Boyarin steht Mk 7 gerade für das „Non-Parting of the Ways“120. Jesus vertrete in der Frage nach rein und unrein die Position eines traditionellen galiläischen Juden, der gegen die Änderungsbestrebungen Jerusalemer Pharisäer Einspruch erhebt. Die von ihnen eingeführten Praktiken, die sie mit der παρα δοσις τω Ä ν πρεσβυτε ρων (Mk 7,5) begründen, weist er unter Rekurs auf die Tora zurück. Diese Debatte geht ausschließlich um die Frage nach Reinheit und Unreinheit von Speisen. Sie berührt nicht das Kosher-System als solches.121 Markus ist Jude und „his Jesus kept kosher“122. Auch das Motiv des leidenden und sterbenden Messias lässt sich aus dem jüdischen Umfeld des Markusevangeliums heraus verständlich machen.123 Laut Boyarin handelt es sich bei dem Begriff Judaism um einen anachronistischen Ausdruck, mit dem Nicht-Juden einer späten Zeit das Judentum belegt haben.124 Nach seiner Darstellung gehören alle vier Evangelien in das variantenreiche Spektrum jüdischer Literatur im 1. Jahrhundert.125 Selbst die auf Nicäa zulaufenden dogmatischen Entwicklungen und die Entscheidungen zum Verständnis von Trinität und Inkarnation möchte Boyarin nicht als „a departure from Israelite religion“,126 sondern lediglich als deren Entfaltung verstanden wis117 N. I, „Judentum“ im Markusevangelium und in den Paulusbriefen, in: O. Wischmeyer/D.C. Sim/I.J. Elmer (Eds.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin/Boston 2014, 103–156, Zitate 106. 118 I, „Judentum“ (s. Anm. 117), 105–106, Zitat 105. 119 I, „Judentum“ (s. Anm. 117), 133. 120 So B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 106, innerhalb des „Jesus Kept Kosher“ überschriebenen Kapitels (102–128). Vgl. auch D. B, Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity, First paperback edition, Philadelphia 2007, XI: There had “not been the vaunted ‘parting of the ways’”. Zur Einführung der Begrifflichkeit in die Debatte vgl. J.D.G. D, The Parting of the Ways between Christianity and Judaism and Their Significance for the Character of Christianity, London 1991. 121 B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 125. 122 B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 126. 123 B, Jewish Gospels, (s. Anm. 98), 128 und 129–156. 124 B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 2–3; B, Border Lines (s. Anm. 120), XI. 125 B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 22. 126 D. B, Enoch, Ezra, and the Jewishness of “High Christology”, in: M. Henze/G. Boccaccini, Fourth Ezra and Second Baruch. Reconstruction after the Fall, JSJ.S 164, Leiden/Boston 2013, 337–361, 352.

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sen. Boyarins Darstellungsinteresse ist eindeutig. Ihm geht es darum, dass Christen und Juden, die sich über Jahrhunderte hinweg als einander ausschließende Religionen gegenüberstanden, anfangen, zukünftig andere Geschichten übereinander erzählen. Die Möglichkeit dazu liegt nach Boyarins Auffassung darin, dass sie vom frühest denkbaren Anfang her eine Einheit bildeten und Grundüberzeugungen teilten, die erst in späterer Zeit zu Unterscheidungsmerkmalen deklariert wurden.127 Ob sich Boyarins Sichtweise historisch halten lässt, darüber gehen die Auffassungen weit auseinander.128 Systematisch-theologisch problematisch ist die Verweigerung einer reflektierten Differenzbestimmung der beiden Glaubensweisen. Auch wenn Boyarins radikale Kontinuitätskonstruktion vor dem Hintergrund einer Geschichte zu verstehen ist, in der Differenzbestimmungen vornehmlich von christlicher Seite häufig mit der Intention der Abwertung der jüdischen Position verbunden waren, gilt im Grundsatz dennoch abusus non tollit usum. Es entspricht dem Selbstverständnis der nicht-christusglaubenden Juden wie dem der Christusglaubenden aus Juden und Nicht-Juden, dass angesichts des gekreuzigten Jesus die Koordinaten des jeweiligen Glaubens- und Gottesverständnisses in eine unterschiedliche Richtung wiesen. Auch im Blick auf das Lukasevangelium sind die Bemühungen stark, es in den Horizont des antiken Judentums einzuzeichnen. Michael Wolter vertritt für das lukanische Doppelwerk die Sichtweise, dass im Lukasevangelium und der Apostelgeschichte aus einer jüdischen Perspektive heraus auf beginnende Trennungsvorgänge zwischen Christen und Juden eingegangen wird.129 Wenngleich das Lukasevangelium üblicherweise als das am wenigsten jüdisch geprägte betrachtet wird, zeichnet es nach dem Urteil Boyarins Jesus in einer Weise, die als eine innerjüdische Ausdrucksmöglichkeit anzusehen ist.130 In der Johannesexegese sind ebenfalls deutliche Anstrengungen erkennbar, die Schrift nicht als ein polemisch gegen das Judentum pointiertes Werk zu lesen, sondern ihr einen Ort im Rahmen eines innerjüdischen Diskurses im 1. Jahrhundert zuzuweisen.131 Auch die johanneische Christologie findet darin als eine Form

B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 6. Vgl. die Kritik von U. S, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 174 Anm. 123. Zur Fundamentalkritik an der Within Judaism-Position vgl. U. S, Über Judentum und Hellenismus hinaus. Die paulinische Theologie als neues Wissenssystem, ZNW 111 (2020), 124–155, 128–134.138–142.150–155. 129 Vgl. M. W, Das lukanische Werk als Epochengeschichte, in: Ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, WUNT 236, Tübingen 2009, 261–289, 270. 130 B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 22. 131 Vgl. D. B, The Ioudaioi in John and the Prehistory of Judaism, in: J.C. Anderson u.a. (Eds.), Pauline Conversations in Context: Essays in Honor of Calvin J. Roetzel, London 2002, 216–239, 234–239. Vgl. die Beiträge in R.A. C/P.N. A (Eds.), John and Judaism. A Contested Relationship in Context, SBLRBS 87, Atlanta 2017. Darin wird “the Jewish nature of the gospel” (XIX) behandelt. Entgegen verbreiteten Lesegepflogenheiten wird Johannes als Quelle zur Wahrnehmung des Judentums gelesen, statt umge127

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3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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von frühem jüdischen Messianismus ihren Platz.132 Das Johannesevangelium gilt als früher jüdischer Text „that presents Jesus as an early Jewish messiah“.133 „After ‘Jesus the Jew’ and ‘Paul the Jew,’ (sic! PGK) the quest for ‘John the Jew’ is now officially open.“134 Aus dieser Debatte sticht das Votum der jüdischen Exegetin Adele Reinhartz heraus. Sie wendet sich gegen die apologetische Relativierung der antijüdischen Invektiven des Johannesevangeliums durch christliche Exegetinnen und Exegeten. Reinhartz bezeichnet diese als das, was sie sind, nämlich Schmähungen („vituperation“).135 Sie haben in ihrer Wirkungsgeschichte die bekannten verhängnisvollen Rezeptionen nach sich gezogen. Reinhartz wirft damit eindringlich die hermeneutische Frage nach dem Schriftverständnis und d.h. in diesem Fall konkret die nach dem Umgang mit derlei Aussagen auf.136 Wenn die neutestamentlichen Protagonisten des Christentums historisch in ungleich größerer Affinität zu jüdischen Überzeugungen im 1. Jahrhundert gekehrt das vorherige Verständnis des Judentums als Grundlage der Johannesexegese zu betrachten (XIX). So pointiert C.R. K, The Gospel of John as a Source for First-Century Judaism, in: R.A. Culpepper/P.N. Anderson (Eds.), John and Judaism. A Contested Relationship in Context, SBLRBS 87, Atlanta 2017, 59–76, 59–60. Vgl. die abgewogene Stellungnahme von J. F, “John within Judaism?” Textual, Historical, and Hermeneutical Considerations, in: J. Schröter/B.A. Edsall/J. Verheyden (Eds.), Jews and Christians – Parting Ways in the First Two Centuries CE?: Reflections on the Gains and Losses of a Model, BZNW 253, Berlin/Boston 2021, 185–216. 132 B.E. R, Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism: An Introduction, in: B. E. Reynolds/G. Boccaccini (Eds.), Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism. Royal, Prophetic, and Divine Messiahs, AGJU 106, Leiden 2018, 3–9, 5. 133 B.E. R, Epilogue: The Early Jewish Messiah of the Gospel of John, in: B. E. Reynolds/G. Boccaccini (Eds.), Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism. Royal, Prophetic, and Divine Messiahs, AGJU 106, Leiden 2018, 437–449, 447. 134 G. B, Preface, in: B. E. Reynolds/G. Boccaccini (Eds.), Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism. Royal, Prophetic, and Divine Messiahs, AGJU 106, Leiden 2018, IX–XII, IX. In den Beiträgen des Buches wird das Johannesevangelium als jüdischer Text des 1. Jahrhunderts gelesen und die johanneische Christologie als eine Variante des jüdischen Messianismus jener Zeit (IX). T. T, John and the Jews, in: R.A. Culpepper/P.N. Anderson (Eds.), John and Judaism. A Contested Relationship in Context, SBLRBS 87, Atlanta 2017, 3–38, 6, vermerkt als Paradox, dass Johannes gleichzeitig „the most Jewish and the most anti-Jewish of the gospels“ ist. Nach Thatchers Ansicht scheint Johannes sich eng mit „Judaism as a faith system“ zu verbinden – bei gleichzeitiger Distanzierung „from its practitioners“. 135 A. R, Cast Out of the Covenant. Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John, Lanham u.a. 2018, 75–87. 136 Vgl. R, Cast Out (s. Anm. 135), XXXV Anm. 17 sowie 87 und 164–165: “The reception history of John’s Gospel suggests, that […] its depiction of the Ioudaioi could indeed arouse strong negative emotions and be used to justify violence against real live Ioudaioi, Jews. This is not to say that the Gospel is responsible for the violence done in its name, only that its vituperative rhetoric made it amenable for those who hated and persecuted Jews.” (87).

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sehen werden, als dies in einer kontradiktorischen Auslegungstradition der Fall war, stellt sich die Frage, was das für die Identitäts- und Standortbestimmung des frühen Christentums bedeutet. Lautet die Konsequenz, dass damit der christliche Glaube eine sich verselbstständigende Ausprägung jüdischer religiöser Identität ist? Wenn Boyarin Recht behält, dass die Christologie einem jüdischen Diskurs zuzurechnen ist und sogar die grundlegenden Vorstellungen, die zur Trinität und Inkarnation führten, in die Welt Jesu zurückführen,137 liegt dieser Gedanke nahe. Haben erst im 2. Jahrhundert Entwicklungen zu einer Trennung geführt, die im Ansatz nicht vorhanden war?138 Welche Bedeutung kommt der Feststellung zu, dass der Trennungsprozess zwischen Christen und Juden die Folge des Hinzukommens einer großen Zahl nicht-jüdischer Christen und der zunehmenden Gräzisierung des frühen Christentums war?139 Ist die Trennung erst mit der Bezeichnung der Christen als einer eigenen Gruppe im Unterschied zu Juden und Griechen, wie sie sich im Verlauf des 2. Jahrhunderts herausgebildet hat, als vollzogen anzusehen?140 Wenn die Stimmen der neutestamentlichen Protagonisten als Gesprächsbeiträge eines weit gefassten innerjüdischen Diskurses verstanden werden, sollen dann die bisherigen Traditionsarchegeten des Christusglaubens bzw. deren Schriften von Jesus über Paulus zu Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Jakobus, die Johannesoffenbarung statt als eigenständige Gründungsgestalten bzw. Ursprungsdokumente des christlichen Glaubens als Repräsentanten einer innerjüdischen Selbstverständigung gelesen werden?141 Offenkundig ist das der B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 6.24.102. B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 7, verlegt die Einheit von Jesus und Christus, d.h. die historische Phase des Wirkens Jesu und die des späteren auf ihn bezogenen Christusglaubens, bereits in die Lebensgeschichte Jesu selbst und die Idee des göttlich-menschlichen Messias in die Zeit davor. 139 Zur schrittweisen Herauslösung des frühen Christentums aus dem Judentum vgl. S, Paulus (s. Anm. 128), 162–176: „Kap. 7.5 Die Herausbildung des frühen Christentums als eigenständige Bewegung“ (162). Das Anwachsen der Zahl der Heidenchristen „in Syrien, Kleinasien, Griechenland und Rom“ (172) hat die Entwicklung hin zur Eigenständigkeit beschleunigt. 140 M. W, „Ein neues ,Geschlecht‘“? Das frühe Christentum auf der Suche nach seiner Identität, in: M. Lang (Hg.), Ein neues Geschlecht? Entwicklung des frühchristlichen Selbstbewusstseins, FS Wilhelm Pratscher, NTOA 105, Göttingen 2014, 282–298, weist darauf hin, dass in der christlichen Schrift „Kerygma Petri“ zu Beginn des 2. Jahrhunderts Christianer von ihrer dritten Art der Gottesverehrung sprechen, neben der von Griechen und Juden (282–283). In der Apologie des Aristides von Athen werden die Christen einer dritten Art von Menschen zugerechnet (286). Tertullian gibt zu erkennen, dass die Rede vom tertium genus hominum von der nicht-christlichen Umgebung als herabwürdigende Bezeichnung verwendet wird (288–290). 141 J. F, Toward Reconfiguring Our Views on the “Parting of the Ways”: Ephesus as a Test Case, in: R.A. Culpepper/P.N. Anderson (Eds.), John and Judaism. A Contested Relationship in Context, SBLRBS 87, Atlanta 2017, 221–239, 238, empfiehlt diesbezüglich Zurückhaltung gegenüber generalisierenden Zuschreibungen. Am Fallbeispiel der Gebiete um Ephesus stellt er fest, „that the separation between synagogal Judaism and Jesus followers was a rather incoherent process, one that happened not at one particular moment, that was 137

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Fall. Welche Bürde dem Judentum mit dieser Integration des Christusglaubens in den Rahmen des Judentums auferlegt wird, bleibt allerdings unausgesprochen. Angesichts dieser Fragen ist es wichtig, im Bewusstsein zu halten, dass hier die dogmatische und die historische Perspektive dicht nebeneinander rücken.142 So gewiss beide nicht voneinander zu trennen sind, so sehr verbietet es sich, sie miteinander zu identifizieren. Mit der Feststellung des historischen Befunds und seiner Erklärung ist die normative Frage nicht eo ipso beantwortet. Der Geltungsanspruch resultiert aus der Stellungnahme zu den Ergebnissen der historischen Recherche. Er verlangt die theologische Reflexion und eine Auskunft über die Konsequenzen, die sich daraus für gegenwärtig gelebten Glauben ergeben.

3.5.2 Historische Kontinuität und Ursprünglichkeit Mit solchen Fragestellungen steht ein weiteres Mal das in der Theologiegeschichte seit der Aufklärung wiederholt aufgebrochene Problem der Verhältnisbestimmung von historischer Erkenntnis und theologischer Bedeutung zur Klärung an. Der Gedanke Lessings, demzufolge „zufällige Geschichtswahrheiten […] der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden [können]“143, behält nach wie vor seine Gültigkeit. Eine fundamentale Erkenntnis der mit der Aufklärung erfolgten weitgehenden Umschmelzung der Theologie in eine historische Disziplin ist die Einsicht in die Kontinuität geschichtlicher Vorgänge. Der Entwicklungsgedanke ist für die historische Weltwahrnehmung erkenntnisleitend. Der Gang geschichtlicher Ereignisse besteht aus zahllosen Wechselverhältnissen von Ursachen und Wirkungen, die wieder zur Grundlage neuer Verkettungen werden. Vorgänge entwickeln sich aus einer Vorgeschichte heraus. Diese bleibt auch nach Umbrüchen erkennbar. Entsprechend lebt die jeweilige Vorgeschichte in veränderter Gestalt in der Nachgeschichte weiter. Der Vorgang des Umbruchs selbst unterliegt je nach Sichtweise unterschiedlichen Bewertungen. Entweder es dominiert die Annahme: Die Vorgeschichte prägt die Nachgeschichte bleibend weiter. Oder es herrscht die Auffassung, die Vorgeschichte ist in der Nachgeschichte aufgegangen und von ihr überwunden worden. Die Bevorzugung der Kontinuität beinhaltet die Prävalenz des Alten, d.h. der Herkunft. In der Betonung des Neuen steckt eine Option für die Diskontinuität. Sie steht für die Hochschätzung des Wertes von Neuem. influenced by various practical, theological, and sociopolitical reasons, and that differed from group to group and from place to place“. 142 U. S, Das Verhältnis ,Frühes Christentum – Judentum‘, in: Ders., Die Entstehung des frühen Christentums. Neue Studien, Leipzig 2024, 9–34, 21–24, verweist auf die Interesseleitung eines „geschichtsdogmatische[n] Modell[s], das das Verhältnis zum Judentum und die Verankerung im Judentum zum alleinigen Maßstab sachgemäßer Interpretation erklärt“ (19). 143 G.E. L, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. W. Barner u.a., Band 8: G.E. Lessing, Werke 1774–1778, hg. v. A. Schilson, Frankfurt a.M. 1989, 437–445, 441.

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Die Frage nach einem Umschlagspunkt von genuin jüdischer Tradition zu einem diesen Rahmen übersteigenden und womöglich unableitbaren christologisch begründeten proprium stellt sich historisch nicht. Unter historischer Betrachtung passieren keine Sprünge aus dem Zeit- und Sachkontinuum heraus. Insofern ist der Schluss, den Boyarin aus dem jüdischen Charakter des Markusevangeliums zieht,144 historisch nachvollziehbar: “Mark’s Gospel does not in any way constitute even a baby step in the direction of the invention of Christianity as a new religion or as a departure from Judaism at all.”145 Eine unausgesprochene Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass Boyarin mit dieser Feststellung ein gegenwärtiges Vermittlungsinteresse verbindet. Der Wunsch nach einer neuen Gesprächsbasis für den Dialog zwischen Christen und Juden und damit eine systematisch-theologische Stellungnahme soll auf historischem Feld und mit der Neubeurteilung eines historischen Sachverhalts eingelöst werden. Demgegenüber ist festzuhalten, dass sich historischer Wahrnehmung Vorgänge immer nur als eine wie auch immer geartete Folge aus etwas anderem erschließen. Erst in größerem zeitlichem und sachlichem Abstand kann Differenz erhoben werden, die sich als Neubeginn erst in der Rückschau erweist. Differenzbestimmung erfordert einen Außenstandpunkt jenseits des im Fluss befindlichen Kontinuums. Sie gehört in das Feld der Reflexion des Beobachtbaren. In der Aufgabenteilung der theologischen Disziplinen stellt sie eine systematisch-theologische Aufgabe dar, die die historisch arbeitende Exegese in ihren Vollzügen begleitet. Einen geschichtlichen Wendepunkt als Wendepunkt zu bestimmen, setzt eine Stellungnahme voraus, die sich nicht aus dem historischen Verlauf selbst ergibt. Sie erfordert die Bezugnahme auf einen bestimmten historischen Moment und erfolgt aufgrund einer Außenwahrnehmung, die auf einem Heraustreten aus dem Prozess selbst beruht. Die Within Judaism-Perspektive beschreibt die Inhalte der neutestamentlichen Schriften und die darin angesprochenen Vorgänge aus der Perspektive jüdischen Selbstverständnisses und jüdischer Geschichte des 1. Jahrhunderts. In diesen Rahmen zeichnet sie die Texte des frühen Christentums ein. Die Blickrichtung folgt der jüdischen religiösen Selbstverständigung in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts. Ihr wird die im Neuen Testament zusammengeführte Literatur als Teil des literarischen Gesamtbefundes jener Jahre zugeordnet. Anders als in den Ausarbeitungen der Theologie des Neuen Testaments im 20. Jahrhundert soll bei der Interpretation vermieden werden, eine normative Außenbestimmung aus späterer Zeit in die Texte selbst hineinzuziehen. Die Auslegung soll sich auf die mit dem Kontext des 1. Jahrhunderts gegebenen Rahmenbedingungen beschrän-

144 Für Matthäus gilt dies ohnehin. B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 184 Anm. 24, liegt an dem Hinweis, dass Matthäus nicht in Abweichung von, sondern in Übereinstimmung mit und Kontinuität zu Markus jüdisch geprägt ist. Das führt ihn zu dem Schluss: „Torahabiding Jesus folks […] are the earliest Church“. 145 B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 126/127.

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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ken. Von den hermeneutischen Zugriffen späterer Epochen soll Abstand genommen werden.146 Erkenntnisleitend ist die Idee eines historisch reinen Zugriffs. Postuliert wird, dass die frühchristlichen Texte (noch) keine Anhaltspunkte beinhalten, um ein Gegeneinander von traditionell jüdischer und christologisch geprägter Weltwahrnehmung festzustellen. Positionierungen dieser Art entsprängen erst der späteren Rezeption der Texte. Auf der Basis der neutestamentlichen Texte selbst können in dieser Lesart Jesus, Paulus und der in den Evangelien gezeichnete Jesus nicht mehr als Protagonisten einer sich aus dem Judentum herausentwickelnden neuen Religion in Anspruch genommen werden. Sie ließen sich nicht zur Begründung für eine Trennung des Christentums vom Judentum anführen. Die aus der Auslegungsgeschichte bekannten kritischen Bezugnahmen auf das Judentum aus der Außenperspektive gelten als Produkte einer späteren Zeit. Ihre normative Kraft wird relativiert, indem sie selbst als historisch bedingt markiert werden. Sie werden als eine Geschichte der fortlaufenden Selbstdistanzierung von den jüdischen Wurzeln der Überlieferung wahrgenommen. Die latente Versuchung eines rein historisch deskribierenden Verfahrens liegt in seiner scheinbaren Neutralität. Für immer breitere Schriftenkreise des Neuen Testaments wird konstatiert, dass sie Gesprächsbeiträge innerhalb eines weit gefassten jüdischen Diskurses darstellen. Dieses historische Bild entfaltet nolens volens normative Wirkung. Der ihm innewohnende Kontinuitätsaspekt räumt den jüdischen Implikationen der frühchristlichen Schriften einen hohen Stellenwert ein. Das Bestreben, den aus dem christologischen Bekenntnis resultierenden Aussagen eine signifikante Eigenbedeutung neben den von ihnen breit integrierten jüdischen Traditionen einzuräumen, erscheint als nicht mehr plausibel. Damit fallen die neutestamentlichen Schriften als Basis einer eigenständigen Identitätsbestimmung auf christologischer Grundlage im Gegenüber zu den etablierten jüdischen religiösen Selbstbestimmungen dahin. Offenkundig scheint das historische Argument einer Interpretation der neutestamentlichen Literatur den Boden zu entziehen, die diese als Grundlage eines eigenständigen christlichen Selbstverständnisses interpretiert. Damit gewinnt die historische Feststellung normative Qualität. Wie ist darauf zu reagieren? Zunächst ist die Interesseleitung eines historischen Zugriffs, der nach dem Holocaust zu Recht christlichen Versuchen entgegentritt, das eigene Credo auf Kosten jüdischer Überzeugungen zu profilieren, zu würdigen und anzuerkennen.147 Der Widerspruch gegenüber einem traditionellen 146 Vgl. N, Introduction (s. Anm. 79), 2. Vgl. dagegen aber die an die historische Jesusforschung gerichtete kritische Rückfrage von W. H, Der historische Jesus aus jüdischer Sicht, in: W. Homolka/M. Striet, Christologie auf dem Prüfstand. Jesus der Jude – Christus der Erlöser, Freiburg/Basel/Wien 2019, 11–70, 17: „Ist es sinnvoll oder auch nur möglich, den ,historischen‘ Jesus von seiner Wirkungsgeschichte zu lösen?“ 147 Darauf verweist zu Recht A. Y. C, Reflections on the Conference at the University of Aarhus, July 25–27, 2008, in: E.-M. Becker/A. Runesson (Eds.), Mark and Mat-

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christlichen Selbstverständnis setzt bereits an dem Punkt an, an dem das Neue Testament zur Grundlage einer sich aus dem Judentum heraus entwickelnden Religion erklärt wird. Indem man Jesus, Paulus, Matthäus, Markus, Lukas, Johannes und weitere Erstreferenten des christlichen Glaubens in die Traditionen des Judentums zurückstellt, wird die Möglichkeit einer Distanzierung vom Judentum im Ansatz unterbunden. Diese als historisch behauptete Entscheidung dispensiert jedoch nicht von der Frage, ob die christusglaubenden Gemeinden mit ihrem Schrifttum gegenüber den jüdischen nicht-christusglaubenden Gemeinden rein affirmativ argumentiert haben oder in ein kritisches Gegenüber getreten sind. Die Frage, ob etwas Neues entstanden ist, ist durch den Hinweis auf die historische Verflochtenheit nicht beantwortet, selbst dann nicht, wenn man konzediert, dass es sich um Diskurse innerhalb jüdisch sozialisierter Gruppen handelte. An ihre Grenzen stoßen die Entwürfe der Within Judaism-Bewegung, wenn sie mit historischen Argumenten dem Christentum die Möglichkeit bestreiten, sich auf die neutestamentlichen Schriften als Gründungsdokumente einer neuen und auf dem Weg zur Eigenständigkeit befindlichen Religion zu beziehen. Sie verwenden den historischen Kontinuitätsnachweis dann dazu, die Selbstbegründung des christlichen Glaubens unter Rekurs auf die neutestamentlichen Hauptschriften für illegitim zu erklären. Dadurch erhalten ihre historischen Rekonstruktionen einen normativen Mehrwert. Dem in bester Absicht und als Reaktion auf die in der Geschichte erfolgte Abwertung und Zerstörung jüdischen Glaubens und Lebens durch Christen vorgetragenen Anliegen wohnt ein Schatten inne. Eine der wirkungsgeschichtlich furchtbarsten und folgenreichsten Polemiken gegen das Judentum lautete, dass dieses die Weltherrschaft anstrebe.148 Hasspropaganda produzierte die Fratze eines Judentums, das angeblich Macht über die Welt erlangen wollte. Die ungewollte Kehrseite einer Interpretation des frühchristlichen Schrifttums, die, um falsche Selbstdistanzierungen von Christen gegenüber dem Judentum zu vermeiden, darauf abzielt, die neutestamentlichen Schriften zum Teil eines innerjüdischen Diskursuniversums zu erklären, erzeugt das Problem, das frühchristliche Schrifttum in den Alleinerklärungshorizont des antiken Judentums zu rücken. Damit weist sie dem Judentum die fatale Rolle der geistigen Herrschaft über die frühchristliche Literatur zu.149 Sie erklärt das jüdische religiöse Erbe zum univerthew I. Comparative Readings: Understanding the Earliest Gospels in their First-Century Settings, WUNT 271, Tübingen 2011, 411–414, 411. Sie sieht in der Betonung der jüdischen Identität des Matthäusevangelisten und seiner Gemeinden durch die gegenwärtige Forschung „an indirect response to the Holocaust“. 148 U. E, Der Friedhof in Prag, München 2011, ist der Hetze gegen Juden, die sich auf gefälschte sog. Protokolle der Weisen vom Zion bezieht, mit diesem Roman literarisch entgegengetreten. 149 Vgl. P.-G. K, Texte mit Gottesbezug. Der Gegenstand neutestamentlicher Exegese, in: K. Schmid (Hg.), Heilige Schriften in der Kritik, XVII. Europäischer Kongress für Theologie (5.–8. September 2021 in Zürich), VWGTh 68, Leipzig 2023, 275–286, 280: „Der

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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salen Bezugspunkt und geistigen Regens der frühchristlichen Literatur im Neuen Testament. Was als Ausdruck der Wertschätzung gemeint und als Resultat vermeintlicher historischer Unbefangenheit verstanden ist, birgt unausgesprochene und riskante Implikationen. Diese Problematik einer auf Versöhnung angelegten Verhältnisbestimmung zwischen jüdischen und frühchristlichen Strömungen erklärt jedenfalls, warum gerade auch jüdische Wissenschaftler die trennende Bedeutung der Christologie im Verhältnis von Judentum und Christentum hervorheben.150 Vermieden wird auf diese Weise bereits im Ansatz, dass dem Judentum ein geistiger Besitzanspruch über die religiöse Basis des Christentums nachgesagt werden könnte.151 Insofern gibt es gerade aus der Perspektive des gegenwärtigen Judentums heraus ein vitales Interesse, die christologische Entwicklung nach dem Tod Jesu als Ansatzpunkt für das Auseinandergehen von Juden und Christen zu lesen. Auch die historische Within Judaism-Forschung vollzieht sich nicht in einem zeitgeschichtlichen Vakuum. Ihre auf die reine Rekonstruktion der religiösen Verhältnisse im 1. Jahrhundert ausgerichtete Arbeit ist hermeneutisch rechenschaftspflichtig. Damit ist ein weiteres Mal die Frage nach dem hermeneutischen Stellenwert des Bekenntnisses der Auferweckung Jesu von den Toten gestellt. Das Datum des Jahres 30 in der Geschichte des Judentums, in dem das Aufweckungsbekenntnis erstmals gesprochen wurde, signalisiert eine Problematisierung des GottesgedanSchatten auf einer solchen Eigentumsübertragung ist: Der Besitz von Ursprungsdokumenten begründet Rechtsverhältnisse und Machtansprüche.“ 150 Vgl. H, Der historische Jesus (s. Anm. 146), 56: „Jesus [kann] als christos und Anwärter auf den Titel des Messias nicht als Brücke zwischen Judentum und Christentum dienen“. Ebenso W. H, Jewish Jesus Research and its Challenge to Christology Today, JCPS 30, Leiden/Boston 2017, 140. 151 Anzustreben ist eine Haltung des gegenseitigen Respekts, zu der auch der Verzicht auf die Vereinnahmung der anderen Seite für die Formulierung der eigenen Position gehört. Vgl. H, Der historische Jesus (s. Anm. 146), 57.69; P.-G. K, Epilog. Paulus und das interreligiöse Gespräch, in: Ders., Studien zur paulinischen Theologie, Schriftenreihe der Evangelischen Fachhochschule Freiburg Band 8, Münster/Hamburg/London 1999, 101– 104, 104: „Ein interreligiöser Dialog, an dem zukünftig neben Christen und Juden verstärkt Muslime und Vertreter weiterer Religionen partizipieren werden, wird sich als zukunftsträchtig erweisen, wenn die Partner ihre Positionen formulieren, ohne damit ein Urteil über die anderen auszudrücken und ohne den Anspruch zu erheben, das Selbstverständnis eines der anderen sei bereits Teil ihrer eigenen Identität.“ Vgl. auch P.-G. K, Die Brisanz der Christologie für das Verständnis der paulinischen Rede von Gott, in: U.H.J. Körtner/A. Klein (Hg.), Gott und Götter. Die Gottesfrage in Theologie und Religionswissenschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 71–83, 82–83. M. G, Judentum und Christentum: Verhältnisbestimmungen am Ende des 20. Jahrhunderts, ThR 69 (2004), 151–181, 181: „Stand an den Anfängen des christlich-jüdischen Gesprächs die Betonung der Gemeinsamkeiten im Vordergrund, so geht es zunehmend darum, die Differenzen anzuerkennen und trotzdem im Gespräch zu bleiben.“ Vgl. auch T. S, Entwürfe Biblischer Theologie in der Gegenwart. Eine neutestamentliche Standortbestimmung, in: H. Hübner/B. Jaspert (Hg.), Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, BThSt 38, Neukirchen-Vluyn 1999, 41–103, 73.

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kens innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Mit dem Bekenntnis der Auferweckung des gekreuzigten Jesus setzt eine Neubesinnung ein, wer Gott angesichts des Schicksals Jesu ist. Bei dieser Besinnung auf den Gott Israels beginnen sich die Geister zu scheiden. Bleibt Gott für die einen innerhalb des Judentums der, der mit Jesus weiterhin nichts Besonderes zu schaffen hat, so wird er für die anderen ebenfalls innerhalb des Judentums zu dem, der sich auf die Seite der Person und des Werks Jesu gestellt hat. Das bestimmt auch das Nachdenken dieser jüdischen Zeitgenossen über die Qualität und Leistung Jesu neu. Der Trennungsprozess innerhalb des Judentums erfolgt angesichts des Todes Jesu durch die Stellungnahme zu dem Bekenntnis seiner Auferweckung durch Gott und damit binnen kurzem auch zu Jesus selbst als Person. Die Jahrzehnte später erfolgenden Verschriftungen in Briefen und Evangelienschriften stellen weitere Verhältnisbestimmungen unter Bezug auf diverse situative Herausforderungen und im Medium der griechischen Sprache dar. Sie alle gründen in dem lange zuvor vollzogenen Akt der Stellungnahme jüdischer Menschen, die mit dem Bekenntnis zur Auferweckung Jesu formuliert haben, als wer Gott ihnen im Glauben begegnet ist. Mit dem Osterbekenntnis stellen sie das kontingente Geschehen der Hinrichtung Jesu in ein spezifisches Licht. Jenseits der bloßen Kenntnisnahme vom Lebensende Jesu, das nach außen hin Teil der Geschichte des Sterbens aller Menschen ist, positionieren sie sich zu der Frage, was dieses Ereignis in ihrer Gottesbeziehung auslöst. Ostern als Gottesbekenntnis bildet die Keimzelle des sich daraus entwickelnden christologischen Credo. Auch wenn dieser Vorgang im Nachhinein auf dem Weg der Reflexion historisch wieder einholbar wird, bleibt der Ursprungsimpuls der eigenständigen Positionierung dem Ereignis gegenüber unableitbar.152 Die Überlegung, was Ursprünglichkeit ausmacht, lässt sich auf den Gedanken zurückführen: Ursprünglichkeit ist das, was „sich wirklich von sich aus, von selbst, bewegt“153. Das Ursprüngliche begegnet dabei nicht abstrakt, in Reinform, von allen Zuschreibungen losgelöst. Κonkret tritt es immer in verknüpfter Weise auf. Es lebt in Gestalt des In-Beziehung-Seins, es begegnet gebunden an Gestalten und Aussagen. Es äußert sich in der Bewegung und im Drang nach Veränderung. Eine αÆ ρχη ist einerseits ein für sich stehender Anfang. Andererseits ist sie ein prägender Impuls. Sie begegnet als gegenwärtig, ohne doch in ihren Erscheinungsweisen aufzugehen. In ihr äußert sich Ursprünglichkeit.154 Originalität heftet sich an vorhandenes Material, ohne mit diesem identisch zu sein. Auch das Osterbekenntnis lässt sich materialiter traditionsgeschichtlich einord-

Vgl. im Einzelnen K, „Ostern“ (s. Anm. 6), 164. G. F, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2 2018, 369. 154 Vgl. F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 153), 370. 152 153

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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nen; doch seine Signatur ist nicht das Verharren im Vorhandenen und Bleibenden, sondern der Aufbruch in bis dato unbeschrittenes Neuland.155 Die Evangelienschriften verarbeiten vorhandenes Weltwissen und integrieren darin ihnen bekannte jüdische und weitere religiöse Sichtweisen. Entscheidend unter dem Gesichtspunkt der Ursprünglichkeit ist, was sie damit bei ihrer Leserschaft freisetzen. Im Zuge der Rezeption erweist sich, ob sie als Wege in die jüdische Tradition zurück wahrgenommen oder als Brücken beschritten werden, die in eine eigene religiöse Welt führen. Im Bild gesprochen dienen die Evangelienschriften der Verbindung zwischen einer jüdischen und einer nicht-jüdischen Welt, über die man den Rahmen des Judentums verlassen konnte, ohne dies tun zu müssen. Die Within Judaism-Debatte richtet ihr Augenmerk auf den Punkt, an dem die von den Evangelien errichtete Brücke betreten wird. Einer der zwei Brückenpfeiler steht auf jüdischem Boden. Was folgt daraus für jene, die über diese Brücke gehen?156 Offenkundig haben sie nach dem Überschreiten der Brücke und ihrem Aufenthalt im jenseitigen Neuland keine theologische Notwendigkeit mehr zu einer Rückkehr in ihr religiöses Herkunftsmilieu gesehen. Das betrifft jüdische wie pagane Wanderer jeder religiösen Couleur gleichermaßen. Niemand der frühen im Neuen Testament versammelten christologisch orientierten Schriftsteller streift sein religiöses Herkommen ab. Sie alle offerieren jedoch Wege, die von anderen Personen als Möglichkeiten ergriffen werden können, außerhalb des Judentums Gottesgemeinschaft im Zeichen des Christusglaubens zu pflegen. Damit sind Paulus und die Evangelien zu Ermöglichern einer christlichen Eigenidentität jenseits der jüdischen Vorgaben, denen sie selbst unterliegen, geworden. Ungeachtet ihrer persönlichen biographischen, religiösen und kulturellen Vorprägungen sind ihre schriftlichen Ausführungen über den JesusChristus-Glauben zur Grundlage einer sich aus dem Judentum herauslösenden eigenständigen Glaubensweise geworden.157 Die historische Herkunft der geistigen Urheber verpflichtet niemanden ihrer christlichen Rezipientinnen und Rezipienten, sich deren biographische und religiöse Herkunft zu eigen zu machen. Offenkundig hat das Begehen der von Paulus und den Evangelien gebauten Übergänge dazu geführt, dass sich die große Mehrheit derer, die sich in das Gebiet jenseits des Judentums begaben, nicht wieder auf den Rückweg machte, sondern in dem neu betretenen Land blieben.158 Pointiert formuliert gilt: Nicht 155 Zur Frage, was Neuheit begründet und Originalität ausmacht vgl. P.-G. K, Neutestamentliche Debatten von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 2022, 178–184. 156 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 153), 33: „Immer ist etwas da, von dem die Entstehung und erst recht die Veränderung ausgeht. Und immer geht das Vergehen und erst recht die Veränderung wieder irgendwo hin. Das Ursprüngliche ist demgegenüber einfach da oder nicht da.“ 157 F, Gegenständlichkeit (s. Anm. 153), 34: „Auch der historische Zusammenhang, der sich mit einem Werk verbindet, ist durch das Werk neu erschlossen; er gehört in das Werk, das Werk gehört nicht in ihn.“ 158 Petrus mag nach Gal 2,11–14 als Beispiel für jemanden stehen, den kurzzeitig Zweifel an dem eingeschlagenen Weg befielen und der deshalb zum Rückweg bereit war.

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der überkommene Sinnzusammenhang erschließt das Werk. Das Werk – das des Paulus wie das der Evangelien – eröffnet ein neues Bedeutungsfeld.159 Die historische Within Judaism-Forschung bezieht sich auf die genuine Verbindung des bei Paulus und in den Evangelien unter christologischem Vorzeichen Formulierten mit den jüdischen Vorgaben. Sie erschließt den Gehalt der frühchristlichen Literatur unter den Voraussetzungen der jüdischen Religion und Kultur. Ein historisch unableitbar Eigenes und damit Ursprünglichkeit, die in eine µετα βασις ειÆ ς αÍ λλο γε νος mündet, ist nicht ihr Gegenstand. Ohne das Gewicht einer Einzeichnung der neutestamentlichen Schriften in ihren historischen Hintergrund und den zeitgeschichtlichen Kontext zu bestreiten, nimmt eine theologisch bewusste Interpretation das eigenständige Erschließungspotential der Darstellungen in den Blick, das aus der Erkenntnis der Zusammengehörigkeit Gottes mit dem Gekreuzigten resultiert. Im Kern ist gerade das die Leistung der synoptischen Evangelien: Aus dem Glauben an das Gemeinschaftsverhältnis zwischen dem gekreuzigten Jesus und Gott entwickeln sie einen ursprünglichen und eigenständigen Blick auf die Welt und die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Damit erschließen sie ihre Welt in neuer und einzigartiger Weise. In heuristischer Hinsicht kommt bei der Interpretation der neutestamentlichen Texte dem Wechselspiel der Perspektiven entscheidende Bedeutung zu. Die historische Arbeit agiert unter dem Gesichtspunkt der Genese und Kontextverhaftung, d.h. unter dem Kontinuitätsaspekt. Sie fragt: In welcher Weise erhellen Herkunft und zeitgeschichtlicher Rahmen den Bedeutungsgehalt der Evangelien? Die theologische Frage kehrt die Perspektive um: In welcher Weise werfen die Evangelien ein Licht auf die Kontexte? Was von deren Beschaffenheit erhellen sie, das diese selbst unabhängig von den Evangelientexten nicht besitzen? Unter historischer Betrachtung und d.h. in der Perspektive der Rückschau lässt sich praktisch alles als bereits in der Herkunft angelegt darstellen.160 Ob einem Text Ursprüngliches innewohnt, entscheidet sich daran, ob er dem Kontext, dem er entstammt, etwas zu sagen hat, das dieser selbst nicht bereits ausgesprochen hat. Texte, die das ermöglichen, dürfen Ursprünglichkeit für sich reklamieren. Über kurz oder lang werden sie aufgrund dieses neuen Zugangs zur Wirklichkeit wiederum selbst traditionsbildend. In diesem Sinn sind die synoptischen Evangelien ein Ausdruck von Ursprünglichkeit. Sie transzendieren die Voraussetzungen, unter denen sie entstanden sind. Gemeint ist: das Werk in seiner schöpferischen und Zukunft eröffnenden Qualität. Insofern hat H, Der historische Jesus (s. Anm. 146), 67, recht mit der Feststellung: „Auch moderne christliche Theologen stehen […] vor der Herausforderung, zu erklären, wie Jesus etwas Neues stiften konnte, wenn sich für alles, was er gesagt und getan hat, jüdische Parallelen finden lassen.“ R, Cast Out (s. Anm. 135), 161–162, hat ihrerseits am Beispiel des Johannesevangeliums vorgeführt, dass für das vierte Evangelium nicht die „expulsion“ (115–116) die Grundlage darstellt. Vielmehr entwirft Johannes eine „propulsion“ (88.150–151) und nimmt damit einen in die Zukunft weisenden Akt der Neuschöpfung vor – mit allen negativen Folgen, die dieses Unternehmen gezeitigt hat. 159

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3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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3.5.3 Der theologische Fokus der Darstellung Das theologische Ziel der vorliegenden Interpretation besteht darin, an den springenden Punkt heranzuführen, an dem die erzählenden Darstellungen des Lebens Jesu die Grenzen des Aussprechbaren berühren. Angesprochen werden soll der Moment, in dem das Sagbare in das Unsagbare umschlägt. Erfasst werden soll die Linie, an der das Wahrnehmbare und Erklärbare bis zu dem Augenblick entlangläuft, in dem sich das der Sprache Entzogene zu Wort meldet. Auf diese Weise soll dem nicht in Worten Verfügbaren der Raum gegeben werden, der die Worte erst aus sich herausgesetzt hat. Nach philosophischer Auffassung ist das Absolute nicht im Bedingten zu erfassen. Ein direkter Zugang zum reinen Bewusstsein gilt als unmöglich. Wo er trotzdem gesucht wird, bleibt dies kontrovers und wird zumeist als problematische Grenzüberschreitung angesehen. Der Zugang zum unbegrenzten Bewusstsein, zum Ding an sich, zum Sein selbst, zum Absoluten gilt eben deshalb als unmöglich, weil er zugangsgebunden und objektverhaftet bleibt. Theologisch gesprochen können Menschen keine Aussage über Gott machen, da sie keinen Standort außerhalb Gottes als der alles bestimmenden Wirklichkeit geltend machen können.161 Der Schwierigkeit, dass die Sprache keinen direkten Zugang zum absolutum, dem Abgelösten162, dem Entzogenen, ermöglicht, soll in der Interpretation durch ein Ausloten der Reichweite des Aussagbaren begegnet werden. In dem, was in den Evangelien ausgesprochen ist, wird nach Fingerzeigen gesucht, in welcher Weise diese Werke ihren Gottesbezug kenntlich zu machen versuchen. Es soll nachgezeichnet werden, wie sich Gott als Unbedingtes in den Evangelien als dem Bedingten zu Wort meldet. Die konsequent auf eine historische Auslegung begrenzte Exegese hält sich in ihren Analysen und konstruierenden Rekonstruktionsarbeiten an die irdenen Gefäße des Glaubens (2 Kor 4,7). Die theologische Interpretation steht demgegenüber vor der Aufgabe, den Verweischarakter auf das, was jenseits des historisch Aussagbaren liegt und sich dem unmittelbaren Zugriff entzieht, in Worte zu fassen. Im Bilde geblieben geht es ihr um den Schatz in den Gefäßen, nicht um das tönerne Geschirr. Das macht den theologischen Zugang naturgemäß wenig absicherbar. Die Differenz zwischen historisch-beurteilender und theologisch-erschließender Exegese liegt in den unterschiedlichen Bezugspunkten. Jene zielt auf das Bedingte, das Herleitbare, das Historisierte, diese auf das Un-Bedingte, das Nicht-Ableitbare, das Unaussprechbare. Beides in einer Spannung beieinander zu halten, markiert die Aufgabe und die Herausforderung einer historischen Exegese in theologischer Verantwortung.163 161 Vgl. R. B, Welchen Sinn hat es von Gott zu reden? In: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 81980, 26–37, 26–28. 162 Von lateinisch absolvere. 163 Einfacher ist es die Spannung einseitig aufzuheben. Dann lässt sich biblische Exegese

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

Angesichts des verbreiteten Alleinvertretungsanspruchs aufgeklärter Wissenschaft in puncto Wirklichkeitserschließung steht die Theologie vor einem Dilemma. Einerseits vollzieht sie ihre Arbeit im Rahmen der für alle Wissenschaften geltenden Wissenschaftsstandards. Andererseits übersteigt ihr eigentlicher Gegenstand, von Gott als Gott zu reden, die Axiomatik aller übrigen Wissenschaften. Während für die theologische Weltwahrnehmung neben dem argumentativ Darlegbaren und rational Nachweisbaren auch der Wirklichkeitsbereich relevant ist, der zur Ebene des Glaubens gehört, arbeitet die nicht-theologische Wissenschaft seit dem Diktum von Hugo Grotius unter der Prämisse, etsi deus non daretur164 – als ob es Gott nicht gäbe. Angesichts der gesellschaftlichen und akademischen Dominanz naturwissenschaftlich-technischer Rationalität wird die glaubende Weltorientierung entweder dem Bereich religiöser Irrationalismen zugerechnet oder die durch göttliches Wirken bestimmte Wirklichkeit wird für inexistent erklärt. Die Folge ist, dass im Rahmen der Wissenschaft de facto das Wirken Gottes als Gegenstand und Horizont der Forschung ausgeblendet und ignoriert wird. Würde diese Entscheidung von der Theologie und insbesondere der Bibelwissenschaft mitvollzogen, käme dies einer Selbstaufgabe des eigenen Faches gleich. Die Evangelien haben das Wirken Gottes in der Person und Geschichte Jesu Christi zu ihrem Thema gemacht. Sie haben ihrem Glauben an das epochenübergreifende Agieren Gottes in der Geschichte Israels und an sein Handeln in der Lebensgeschichte Jesu wie in ihrer eigenen Generation Ausdruck verliehen. Sie haben formuliert, wie das Göttliche, das nicht Welt ist, in der Welt Raum gegriffen und sich Platz verschafft hat. Sie haben das, worüber der Mensch nicht verfügt und das doch in der Welt wirkt, als eine δυ ναµις wahrgenommen, deren Auswirkungen sie beschreiben. Sie begreifen die Welt, der sie angehören, wie die, von der sie erzählen, als Teil einer göttlichen Wirkungsgeschichte, in die sie sich hineingestellt glauben. An den Phänomenen, die sie in ihren Jesuserzählungen ansprechen, lässt sich ablesen, von woher sie das Handeln Gottes auf sich zukommen sehen und worin sie seine Auswirkungen beobachten. Gott als die schöpferische Dynamik, auf die alles Erzählte zurückzuführen und aus der alles abzuleiten ist, bildet den Vor-Raum, aus dem die Jesuserzählungen in den Raum menschlicher Geschichte eintreten. Die Evangelien umreißen mit ihren Lebenserzählungen Jesu den Bereich, in dem sie Gott wirksam sehen. Sie beschreiben die Spuren, die er nach ihrer Wahrnehmung in Jesu Le-

entweder rein historisch als Religionswissenschaft ohne normativen Anspruch betreiben; oder sie wird abgelöst durch einen distanzauflösenden buchstabenfixierten Fundamentalismus. In beiden Fällen kommt es zum Transzendenzverlust bei der Bezugnahme auf die Texte. 164 Im Jahr 1625 führte Grotius diesen Grundsatz in seiner Schrift De Iure Belli ac Pacis ein. Vgl. K.H. R, Hugo Grotius als Theologe und seine Rezeption in Deutschland, in: H. Dollinger (Schriftleiter), Theologische, juristische und philologische Beiträge zur frühen Neuzeit, Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Heft 9, Münster 1986, 71–83, 71. Vgl. K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 9), 15.

3.5 Synoptikerexegese und Within Judaism-Debatte

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bensgeschichte hinterlassen hat. Wie im Lateinischen das profanum als aus dem Heiligen abgeleiteter Vorraum definiert ist, der seine Bedeutung aus der Hinordnung zum fanum erhält, verweisen die Evangelien auf die ihnen vorausliegende geglaubte göttliche Instanz zurück, der sie sich verdanken. Im idealen Fall gelingen im Zuge der Interpretation Reformulierungen, die an die Grenze des Unsagbaren heranführen, dem die Evangelienschriften sich verdanken. Ob dabei der Funke überspringt, der als Selbstvergegenwärtigung Gottes in der Lebensgeschichte eines Menschen bezeichnet wird, entzieht sich dem Herstellbaren. Ein direkter Zugang auf historisch-empirisch-rational zugängliche Weise ist nicht möglich; Gott als Gott ist per definitionem dem menschlichen Zugriff entzogen. Die Interpretation kann jedoch versuchen, bis an die Schwelle zu führen, an der das dem direkten Zugriff Entzogene aufscheint oder spürbar wird. Die neutestamentliche Exegese ist in den vergangenen rund 25 Jahren in einen verstärkten Wettbewerb mit Profanhistorikerinnen und -historikern und Religionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern um die plausibelste historische Erklärung der Textbefunde und der in den Überlieferungen des Neuen Testaments dokumentierten Geschichte eingetreten. Die fächerübergreifende interdisziplinäre Forschung hat dazu geführt, dass die früher weitgehend von Theologinnen und Theologen behandelten Texte auch außerhalb der Fachgrenzen wahrgenommen und untersucht werden. Eine Nebenwirkung der Erforschung des Neuen Testaments unter historischen Gesichtspunkten besteht darin, dass evangelische und katholische Exegetinnen und Exegeten inzwischen eine kleiner werdende Teilmenge aller Gesprächsteilnehmer darstellen und damit auch die spezifischen konfessionellen Hintergründe an Bedeutung verlieren. Das wird von manchen als Zugewinn für die wissenschaftliche Seriosität verbucht, von anderen als Verlust an theologischer hermeneutischer Kompetenz erachtet.165 In der Summe ist ein Zurücktreten der exegetischen Bearbeitung der neutestamentlichen Texte unter theologischer Perspektive gegenüber einem Zuwachs historischer Untersuchungen festzustellen. Viele exegetische Studien sehen sich ihrem Selbstverständnis nach der Klärung historischer Vorgänge im 1. Jahrhundert n.Chr. verpflichtet.166 165 Vgl. A. S, Third Quest. Die sogenannte dritte Phase der historischen Jesusforschung, in: M. Hofheinz/N. Neumann (Hg.), Fragen nach Jesus, Leipzig 2022, 85–119, 107–108. 166 Vgl. B, Jewish Gospels (s. Anm. 98), 159: “I am not denying the validity of the religious Christian view of matters. That is surely a matter of faith, not scholarship. I am denying it as a historical, scholarly, critical explanation.” – Indem Glaubensbezug und wissenschaftlicher Zugang zur einander ausschließenden Alternative erklärt werden, wird das mögliche Potential der antiken Texte, Gottesbegegnung auch unter gegenwärtigen Bedingungen zu eröffnen, bereits im Ansatz zurückgewiesen. Der die Texte bei ihrer Entstehung treibende theologische Impuls wird methodisch als Gegenstand der Untersuchung ausgeschlossen. Letztlich steuert damit ein positivistisches historisches Verständnis die Wahrnehmung. Zur Kritik daran vgl. K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 9), Kapitel 10. „Theologie – eine Prinzipwissenschaft“, 160–164.

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3 Kontexte theologischer Synoptikerexegese

Die vorliegende Theologie der synoptischen Evangelien versteht sich demgegenüber als Beitrag zur Erhellung der theologischen Gehalte der drei Evangelienschriften. Intendiert ist, einen Beitrag zur Erschließung der Verkündigungsdimension der Texte zu leisten. Unter Wahrung der Standards historischer und narratologischer Exegese wird eine predigtdienliche und religionsdidaktisch vermittelbare theologische Interpretation der drei ersten Evangelienschriften angestrebt.

3.6 Interpretation unter einer Zentralperspektive In der Konsequenz münden die Überlegungen zu den historischen, gattungsmäßigen, rezeptionsgeschichtlichen und theologischen Kontexten gegenwärtiger Synoptikerexegese in die Notwendigkeit, die Interpretation der drei Jesuserzählungen jeweils unter einer Zentralperspektive durchzuführen. Die Forschungsgeschichte seit der Aufklärung, die die Auslegung unter dem Gesichtspunkt des Wachstums der Tradition mittels Literarkritik, Form- und Redaktionsgeschichte betrieben hat, musste sich mit dem Problem rivalisierender Vermittlungsabsichten auseinandersetzen. Durch die Eigenintentionen, die sie den Texten auf der jeweiligen Überlieferungsstufe zuschrieb, galt ihr jede spätere Aussageabsicht als Reaktion auf vorherige divergierende Vermittlungsinteressen. Letztlich lief die Erhebung einer Theologie des Markus, Matthäus, Lukas auf den chronologischen Nachvollzug von Zwischeninstanzen im Überlieferungsprozess hinaus. In diesem Zusammenhang kam den Detailausführungen zur Entwicklung der Textgattungen, zur Herkunft von Motiven und zur Verarbeitung von Traditionen auf jeder ermittelten Zwischenstufe besondere Aufmerksamkeit zu. Exegese nahm die Aufgabe der Katalogisierung und Hierarchisierung von Wissensbeständen wahr. Die dominierende historische Perspektive zog die Betonung der Traditionsprozesse und des Blicks auf vergangenes Geschehen nach sich. Die Fülle der ermittelten Einzeldaten aus der Vorgeschichte der Endfassung der synoptischen Evangelien hat mittlerweile dazu geführt, dass die Grenzen zwischen der historischen Literaturgattung Einleitung in das Neue Testament und der Theologie des Neuen Testaments fließend geworden sind. Mehr und mehr ist die neutestamentliche Theologie zum Rahmen geworden, in den die Ergebnisse historischer Exegese eingefügt werden.167 Statt diese Vorgabe weiter mit neuen Details zu füllen und damit der Strukturbewahrung und Traditionssicherung zu dienen, wird in der vorliegenden Darstellung angestrebt, für jede der drei Evangelienschriften eine Gesamtperspektive der Erzählung auszumachen.168 Aus die-

Vgl. dazu K, Herkunft und Horizont (s. Anm. 9), 9–10. Dem fragmentarisierenden Zugriff auf die Einzelheiten der Evangelien wird damit nicht die Berechtigung abgesprochen. Er folgt allerdings anderen Erkenntnisinteressen als den hier zugrunde gelegten. 167

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3.6 Interpretation unter einer Zentralperspektive

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sem Gesichtswinkel sollen die Einzelheiten der Erzählungen als Elemente eines Gesamtbildes verständlich gemacht werden. Erkennbar werden soll der Beitrag der drei Jesuserzählungen zur Stabilisierung und Orientierung der christusglaubenden Gemeinschaften, in denen sie gelesen wurden. Dazu werden sie als Erzählwerke interpretiert, die darauf hinwirken, ein eigenständiges Glaubens- und Gemeindeleben auf der Grundlage des Jesus-Christus-Glaubens zu etablieren. Es wird der theologische Beitrag der drei Erzählungen zur Erhellung der conditio humana angesichts der Glaubensbeziehung zu Gott zu formulieren versucht.

4 Die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jahrhundert n. Chr. 4.1 Die Entwicklung christusglaubender Gemeinschaften In der angespannten politischen Lage vor Beginn des jüdischen Aufstands gegen die römische Besatzungsmacht 66 n.Chr. war für die christusglaubenden Gemeinschaften die Situation in den Jahren zwischen 30 und 70 auch innerhalb des Judentums selbst teilweise prekär geworden. Die Öffnung der christusglaubenden Gruppen für Menschen nicht-jüdischer Herkunft und das dadurch initiierte neue Gemeinschaftsleben bargen religiösen und sozialen Zündstoff in sich. Apg 6–7 lässt erkennen, dass ein gedeihliches Zusammenleben von christusglaubenden Juden palästinischer und hellenistischer Provenienz in Jerusalem schon Anfang der 30er Jahre in Jerusalem scheiterte. Nach der Steinigung des Stephanus trennt sich der griechischsprachige Teil der judenchristlichen Gemeinde von der aramäischsprachigen Gruppe der Judenchristen. Die griechischsprachigen Judenchristen ziehen in das im Norden gelegene Antiochia am Orontes. Dort gründen sie 32/33 n. Chr. eine eigene Gemeinde.1 Bekannt sind deeskalierende Bemühungen der frühen Protagonisten der neuen Glaubensbewegung Paulus, Barnabas, Petrus, Jakobus, Johannes um ein gedeihliches Mit- und Nebeneinander von Christusglaubenden unterschiedlicher religiöser und nationaler Herkunft. Die paulinischen Briefe zeigen, welche Herausforderung unterschiedliche kulturelle Kontexte für die Gestaltung eines einvernehmlichen Gemeindelebens darstellten. Gal 2,1–10 und Apg 15 beschreiben, wenngleich mit unterschiedlichen Perspektiven, die Bemühungen um grundsätzliche Verständigungen auf dem sog. Apostelkonvent in Jerusalem im Jahr 44. Auch die antiochenische Gemeinde blieb von Folgekonflikten nicht verschont. Paulus schildert in Gal 2,11–14 in emotionaler Weise einen heftigen Streit mit Petrus. Nach Antiochia waren Personen aus dem Jerusalemer Umfeld des Jakobus gekommen. Das hatte Petrus bewogen, die Tischgemeinschaft mit Christusglaubenden nicht-jüdischer Herkunft aufzukündigen.2 Es kommt über 1 Vgl. D.-A. K, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 2013, 193–200. 2 Vgl. dazu M. S, Revisiting Antioch. Paul, Cephas, and “the Ones from James”, ThLZ 144 (2019), 1224–1235. Zur ausführlichen Darstellung insbesondere der älteren Forschungsgeschichte vgl. A. W, Geschichtsbild und Apostelstreit. Eine forschungsge-

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4 Die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jahrhundert n. Chr.

dieser Frage zu einem Zerwürfnis sowohl zwischen Paulus und Petrus als auch zwischen Paulus und Barnabas sowie den übrigen Juden (Gal 2,13). Unvermittelt sieht sich Paulus allen anderen Christusglaubenden jüdischer Herkunft in der Gemeinde allein gegenüber. Die direkte Folge ist, dass Paulus und auch Petrus ab diesem Zeitpunkt ihre Verkündigungsaufgaben weitgehend als Einzelgänger fortführen. Der sich von Anfang an durchziehende Grundkonflikt bestand darin auszutarieren, inwieweit die Ausübung des Christusglaubens, der sich inhaltlich auf die Person des als Verbrecher gekreuzigten Jesus bezog, innerhalb eines jüdischen Rahmens dauerhaft möglich war. Offenkundig führte das neue Bekenntnis zu Spannungen in innerjüdischen Zusammenhängen über das Verhältnis zur Tora und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Praxis des Glaubens. Bestimmte Konsequenzen des Christusglaubens scheinen erst allmählich nach vorn getreten zu sein und unterschiedliche Dynamiken entwickelt zu haben. Auch wenn man annimmt, dass in sog. heidenchristlichem Umfeld und mit dem Anwachsen der Zahl nicht-jüdischer Gemeindeglieder die Spannungen zugenommen haben, darf man sich nicht den Blick dafür verstellen, dass der früheste Konflikt unter jüdischstämmigen Christusglaubenden innerhalb Jerusalems aufbrach (Apg 6–7) und zu einer wichtigen Initialzündung für die Herausentwicklung der christusglaubenden Gemeinden aus dem Judentum wurde. Theologisch mag erst im Rückblick deutlich geworden sein, dass die Behauptung der Leben stiftenden Zusammengehörigkeit zwischen dem Gott Israels und dem als Aufrührer hingerichteten Prediger aus Nazareth und seiner Reklamierung als Messias ein Spaltpotential beinhaltete, welches erst nach und nach in seinen Konsequenzen deutlich wurde. Jedenfalls ist früh eine Spannung zu beobachten zwischen Christusglaubenden, die auf die Ausübung ihres Glaubens innerhalb eines jüdischerseits tolerablen Rahmens drängten, und solchen, die den Christusglauben programmatisch zu Nicht-Juden trugen und ihn aus dem jüdischen Herkunftsbereich in nicht-jüdische Bevölkerungskreise hinein vermittelten. Die Folge dieser Entwicklung war, dass mit zunehmender Zeit die Distanz gegenüber dem Judentum wuchs. In Jerusalem blieb die Situation für die verbliebenen aramäischsprachigen Christusglaubenden auch nach dem Exodus der griechischsprechenden jüdischen Christusglaubenden prekär. Jakobus, der Bruder Jesu, hatte peu a` peu Petrus als den Leiter des Zwölferkreises in Jerusalem verdrängt.3 Im Laufe der 40er Jahre

schichtliche und exegetische Studie über den antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–14), BZNW 62, Berlin/New York 1991, 30–295; zur Beurteilung des Konflikts unter ethischer Perspektive vgl. W. M, Sündige tapfer. Wer hat sich beim Streit in Antiochien richtig verhalten?, EK 20 (1987), 81–84. 3 Zu den Anfängen der Jerusalemer Gemeinde und ihren anfänglichen Leitungsstrukturen vgl. K, Geschichte (s. Anm. 1), 159–192.366. Zu Aufstieg und Niedergang des Petrus vgl. G. K, Galater 2,6–9 und die Geschichte der Jerusalemer Urgemeinde, in: G. Klein, Rekonstruktion und Interpretation. Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament, BEvTh

4.1 Die Entwicklung christusglaubender Gemeinschaften

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stieg er in eine Führungsposition und in den 50er Jahren schließlich zum Leiter der aramäisch sprechenden jüdischen Gemeinde von Jesus-Christus-Anhängern auf.4 Im Jahr 62 ereilte ihn ein ähnliches Schicksal wie Jesus drei Jahrzehnte zuvor. In der politisch zunehmend aufgeheizten Stimmung in den Jahren vor Ausbruch des jüdischen Aufstands gegen die Römer wurde er umgebracht. Zu diesem Ereignis liegen zwei Überlieferungen vor. Die älteste Darstellung des Geschehens stammt von Josephus. Danach geht der Tod des Jakobus auf einen widerrechtlichen Akt des Hohepriesters Ananus II. zurück. Dieser habe nach dem Tod des römischen Präfekten Festus und vor dem Eintreffen seines Nachfolgers aus Rom das Vakuum genutzt und im Synedrium eigenmächtig Todesurteile durchgesetzt, darunter das gegen Jakobus.5 Die Hinrichtung erfolgte durch Steinigung, ein Indiz, dass ihr eine theologische Beschuldigung, etwa „Gotteslästerung“6, zugrundelag und damit ein Zusammenhang mit der Christologie die Triebfeder dieser Verurteilung gebildet haben könnte. Euseb führt in seiner Kirchengeschichte unter Bezug auf Clemens von Alexandrien und Hegesipp aus, Jakobus sei von Schriftgelehrten und Pharisäern von der Zinne des Tempels hinuntergestürzt worden. Den Herabgefallenen, der noch lebte, hätten sie zu steinigen begonnen, ehe schließlich ein Walker mit einem Holz auf den Kopf des Jakobus geschlagen und ihn damit getötet habe.7 Nach diesem hasserfüllten Akt war für die Christusglaubenden deutlich: Mit einer eigenständigen Gemeinde wird es in Jerusalem nicht mehr lange gutgehen. Zumal im Vorfeld des Aufstands gegen die Römer in den Jahren vor 66 die nationalistische Erregung wuchs und die kriegerische Auseinandersetzung sich abzuzeichnen anfing. In dieser angespannten Lage begannen die Mitglieder der christusglaubenden Gemeinde Jerusalem zu verlassen. Sie siedelten sich zwischen 62 und 66 in Pella, einer zur Dekapolis gehörigen hellenistischen Stadt auf der östlichen Jordanseite, an.8 Am Ende des jüdisch-römischen Krieges standen die Christusglaubenden ebenso wie die überlebenden geistigen Protagonisten des traditionellen Judentums bzw. jüdischer Gruppierungen außerhalb des Christusglaubens vor der Aufgabe, den eigenen religiösen Standpunkt angesichts der zurückliegenden Geschehnisse neu zu reflektieren.9 50, München 1969, 99–128, 117: „Zwischen Gal 2,7f. und 9 liegt der Übergang des Petrus aus der Stellung des maßgebenden Jerusalemer Apostels in die eines der στυÄ λοι.“ 4 Vgl. W. P, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987, 100–101. 5 J, ant. XX 199–203; vgl. K, Geschichte (s. Anm. 1), 366 und 370. R. D, Jakobus. Im Schatten des Größeren, Biblische Gestalten Band 30, Leipzig 2017, 315–319. 6 D, Jakobus (s. Anm. 5), 319. 7 E, h.e. II 1,5 und II 23,10–19. Vgl. K, Geschichte (s. Anm. 1), 366; D, Jakobus (s. Anm. 5), 319–327; P, Herrenbruder Jakobus (s. Anm. 4), 230–260. 8 Vgl. K, Geschichte (s. Anm. 1), 96–97.371–374, der sich auf E, h.e. III 5,3 bezieht. 9 Vgl. J.A. O, Matthew’s Gospel and Formative Judaism. The Social World of the

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4 Die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jahrhundert n. Chr.

Der Tempel als die materielle Basis und sichtbare Mitte der auf ihn zentrierten jüdischen Religionsausübung war vernichtet, der Priesterstand der Sadduzäer physisch ausgelöscht. Diese Ungeheuerlichkeit zu deuten, nach den Konsequenzen für die Zukunft jüdischer Religionsausübung zu fragen und Antworten zu suchen, wie diese Katastrophe in Einklang mit den bis dahin geltenden Vorstellungen über das Verhältnis des Gottes Israels zum jüdischen Volk zu bringen sei, war im Angesicht der Ruinen des abgebrannten Tempels unabweisbar geworden. Die religiöse Literatur, die in den letzten drei Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts in traditionell jüdischen und in christusglaubenden Gemeinschaften entstand, gibt ein Zeugnis davon, wie in unterschiedlichen religiösen Milieus auf das Geschehen reagiert wurde.10 Auch wenn die erzählte Welt in den Evangelien ein Bild der ersten drei Jahrzehnte des 1. Jahrhunderts zeichnet, schwingt in ihren Darstellungen das Desaster des Jahres 70 mit. Wiederholt wird auf den Tempel angespielt. Teilweise klingt das kommende Unheil in den tempelbezogenen Episoden bereits an. Die Vernichtung des religiösen Zentrums des antiken Judentums begleitet auch die christusglaubenden Gemeinschaften bei der Vergegenwärtigung ihrer eigenen Herkunft und der Bestimmung ihrer theologischen Identität in der facettenreichen religiösen Lage nach 70 n.Chr. Bis hinein in die Geschichte Jesu werden die Rolle und die Bedeutung Jerusalems und des Tempels mitreflektiert. In Jesu Verhältnis zu der Stadt und dem Heiligtum bildet sich ab, wie die christusglaubenden Gemeinschaften ihre eigene Position dazu bestimmt haben. Gleichwohl erschöpft sich die Arbeit sowohl der innerjüdischen als auch der christusbezogenen Literatur keineswegs in der Aufarbeitung der desaströsen Ereignisse des jüdisch-römischen Krieges und der Tempelzerstörung. Im Gegenteil richten die Werke der Jahre nach 70 den Blick gezielt nach vorn. Sie fragen nach den Konsequenzen des Geschehenen für die eigene Gegenwart und Zukunft. Sie entwerfen Perspektiven für das Leben innerhalb der jeweiligen religiösen Community. Ihr Ziel ist die Standortbestimmung in veränderter Zeit. Die markinische αÆ ρχη des Evangeliums ist ein die Wirklichkeit abbildendes, vor allem aber Wirklichkeit stiftendes Werk. Unter den Bedingungen der völkerübergreifenden Ausbreitung des Christusglaubens entfaltet sie im achten Jahrzehnt ein retrospektives Bild von dessen Anfängen in der Lebensgeschichte Jesu. Der Erzähler kreiert narrativ ein Szenario des Wirkens Jesu. Darin wird der Matthean Community, Minneapolis 1990, 35–70: Kapitel 2 “Consolidation and Legitimation in Formative Judaism” (35). Zu den Versuchen, auf die Tempelzerstörung zu reagieren vgl. M.E. S, Reactions to Destructions of the Second Temple. Theology, Perception and Conversion, in: JSJ 12 (1981), 195–204. Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei P.-G. K, Jesus im Evangelium nach Markus, in: M. Hofheinz/N. Neumann (Hg.), Fragen nach Jesus, Leipzig 2022, 263–281, 263–266. 10 Für das Judentum jener Jahre konstatiert K.R. J, Jewish Reactions to the Destruction of Jerusalem in A.D. 70. Apocalypses and Related Pseudepigrapha, JSJ.S 151, Leiden/Boston 2011, 271, dass auf den Verlust des Tempels, der Priesterschaft und des Kultes „a new emphasis in Judaism“ folgte. Parallel dazu führte die rasante Ausbreitung des Christusglaubens im Mittelmeerraum zu einer gewaltigen Literaturproduktion.

4.1 Die Entwicklung christusglaubender Gemeinschaften

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Inhalt des auf Jesus, den späteren Christus, bezogenen Glaubens aus einem inneren Dialog mit Sichtweisen aus dem Judentum entwickelt. Als ätiologische Gründungserzählung liefert das Markusevangelium der christusglaubenden Gemeinschaft der 70er Jahre des ersten Jahrhunderts die für sie geltenden Inhalte und Maßstäbe. Die matthäische βι βλος γενε σεως Jesu Christi spiegelt ebenfalls die Gesprächssituation einer christusglaubenden Gemeinde in der Zeit nach 70. Im Fall des Matthäusevangeliums fungiert Jesus als Protagonist in Debatten mit jüdischen Zeitgenossen. Ihnen gegenüber begibt er sich auf eine Argumentationsebene, die jüdischen diskursiven Standards entspricht. Seine Diskussionen innerhalb der erzählten Welt dokumentieren ebenfalls primär die Haltung der christusglaubenden Gemeinde seiner Zeit, die mit ihrer Jesuserzählung ihr Selbstverständnis artikuliert.11 Mit der lukanischen διη γησις wird die Geschichte Jesu in einen zeitlichen Horizont eingezeichnet, der die Singulargeschichte des Mannes aus Nazareth an die inzwischen wahrnehmbare Gesamtgeschichte des frühen Christentums und der antiken Welt heranführt. Im Blick auf das Johannesevangelium hat Adele Reinhartz für den konstituierenden Akt der Evangelienschreibung den heuristisch erhellenden Begriff propulsion eingeführt.12 Reinhartz meint mit ihrer „propulsion theory“13, dass das Literaturwerk des Johannesevangeliums nicht als Reaktion auf eine zeitlich zurückliegende expulsion,14 etwa den αÆ ποσυνα γωγος, zu interpretieren ist. Vielmehr gibt die rhetoric des Johannesevangeliums laut Reinhartz zu erkennen, dass es sich bei diesem Buch um ein nach vorn in die Zukunft weisendes Werk handelt. Das Evangelium „is a forward-rather than backward looking document“15. Mit seiner Darstellung vermittelt der Erzähler einer christusglaubenden Adressatenschaft eine auf Differenz basierende Identität gegenüber seiner religiösen Umwelt. Den nicht Jesus Christus zugehörigen Personenkreis charakterisiert und diffamiert das Johannesevangelium als Ioudaioi.16 Ioudaioi bilden bei Johannes 11 Vgl. R. P, Allgegenwärtiger Konflikt im Matthäusevangelium. Exegetische und sozialpsychologische Analyse der Konfliktgeschichte, NTOA/StUNT 111, Göttingen 2017, 14; vgl. auch ebd. 50: „Die Motivation, das Evangelium zu schreiben, entsteht also aus der Gegenwart des Evangelisten und seine Jesusgeschichte nimmt diese realen Umstände der Gemeinde in den Blick.“ 12 Deutsch: Antrieb. 13 A. R, Cast Out of the Covenant. Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John, Lanham u.a. 2018, 146.150–151. 14 R, Cast Out (s. Anm. 13), 114–119. 15 R, Cast Out (s. Anm. 13), 162. Dabei lässt sich nicht sicher sagen, ob das Evangelium einen historischen Trennungsvorgang reflektiert, der bereits im Gange war. Deutlich aber ist, dass die rhetorische Gestaltung darauf abzielt, einen solchen Prozess voranzutreiben. 16 Vgl. R, Cast Out (s. Anm. 13), 86–87, spricht von der Schmäh-Rhetorik des Johannesevangeliums: „rhetoric of vituperation“ (86).

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4 Die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jahrhundert n. Chr.

keine spezifisch historisch identifizierbare Gruppe, sondern „a rhetorical and theological category“. Obgleich sie Berührungen mit „‘real’ Jews“ besitzen, liegt ihre Hauptbedeutung in der Rolle, die sie für die „rhetoric and theology“17 im vierten Evangelium einnehmen. Dass jenseits der christusglaubenden Gruppen traditionelle jüdische Gelehrte und Schriftsteller intensiv über die Auswirkungen der Geschehnisse für jüdisches glaubendes Selbstverständnis nachgedacht haben, versteht sich von selbst. Zwei schriftliche Zeugnisse aus dem Bereich des apokalyptischen Judentums werden dazu im Folgenden exemplarisch zur Sprache gebracht. Abgesehen von der fundierenden Bedeutung der Evangelienschriften für die christusglaubenden Gemeinschaften, für die sie geschrieben wurden, und die identitätsbewahrende Relevanz der jüdischen Literatur jener Jahre fügt sich diese Literaturproduktion einer Entwicklung ein, die mit der Hellenisierung des römischen Imperiums während der Kaiserzeit voranschreitet. Das Griechische entwickelt sich zur allgemeinen Literatursprache. Insbesondere im östlichen Mittelmeerraum, in Kleinasien und Syrien entstehen im Zusammenhang von Ortschafts- und Städtegründungen „Gründungsmythen“18. Sie prägen das jeweilige Selbstverständnis, wirken auf das religiöse und kulturelle Leben ein und sind Teil der organisatorischen Strukturierung der neugegründeten Gemeinwesen.19

4.2 Katastrophenbewältigung in jüdisch-apokalyptischen Schriften In die zeitliche Nachbarschaft zum Markusevangelium führen zwei jüdische Schriften, die zur apokalyptischen Literatur gehören. Nach den Geschehnissen des Jahres 70 n. Chr. ringen das 4. Buch Esra und die syrische Baruch-Apokalypse um ein Verstehen der Katastrophe Israels.20 Mit ihnen liegen zwei Dokumente vor, die abseits vom Christusglauben das Geschehen aus einer immanent jüdischen theologischen Perspektive zu verarbeiten suchen.21 Beide Schriften stelAlle drei Zitate R, Cast Out (s. Anm. 13), 103. J. G, Art. Hellenisierung I. Geschichte, DNP 5 (1998), 301–309, 306. 19 Vgl. P.-G. K, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin/New York 2001, 304. 20 Vgl. M. H, 4 Ezra and 2 Baruch: The Status Quaestionis, in: M. Henze/G. Boccaccini, Fourth Ezra and Second Baruch. Reconstruction after the Fall, JSJ.S 164, Leiden/Boston 2013, 3–27, der die gegenwärtig zentralen Forschungsperspektiven auf beide Schriften darstellt. Zur folgenden Darstellung vgl. P.-G. K, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992, 35–53. Zur historischen und soziologischen Einordnung von 4 Esr und syrBar vgl. L.L. G, 4 Ezra and 2 Baruch in Social and Historical Perspective, in: M. Henze/G. Boccaccini, Fourth Ezra and Second Baruch. Reconstruction after the Fall, JSJ.S 164, Leiden/Boston 2013, 221–235. Die Kernfrage beider Schriften lautet übereinstimmend: “why is Jerusalem – and the Jewish people – in such a low state?” (221). 21 O, Matthew’s Gospel (s. Anm. 9), 11–12.154, führt beide Schriften als Beispiele 17

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4.2 Katastrophenbewältigung in jüdisch-apokalyptischen Schriften

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len sich der Frage, was angesichts der Ereignisse von den Verheißungen Jahwes an sein Volk zu sagen ist.22 Wie steht es um die „Verläßlichkeit des Wortes Gottes“?23 Sind die Zusagen Gottes für Israel durch den Gang der Geschichte überholt? Diese Schlussfolgerung weisen beiden Schriften vehement von sich. Wenn die Versprechen Gottes auf Größe und Bedeutung, sprich Land und Nachkommenschaft innergeschichtlich nicht mehr einlösbar erscheinen, dann wird es einen Raum und eine Zeit geben, in denen dies dennoch von Gott realisiert werden wird. Das aber bedeutet, dass die Gegenwart eine Endzeit darstellt. Diese Welt geht ihrem Ende entgegen, am Horizont scheint jedoch bereits die neue Welt Gottes auf. Die jetzige Übergangsphase gilt als Zeit der Krise. Die κρι σις – im Wortsinn als Scheidung und Entscheidung verstanden – markiert eine Zäsur. Der Übergang von dieser zu jener Welt führt durch das Nadelöhr des Gerichts. Auf diesen entscheidenden Moment fiebern die Apokalyptiker hin. Auf ihn muss man sich nach ihrer Überzeugung einstellen. In dem Versuch, das unbegreifliche Schicksal Israels zu begreifen, zeigt sich die intellektuelle Anstrengung von 4. Esra und syrBar. Ihr Einsatz richtet sich darauf, einer angesichts der Verfassung Israels naheliegenden Skepsis entgegenzutreten.24 Auf das Gericht und den unmittelbar bevorstehenden Übergang in den kommenden Äon vorzubereiten, gibt beiden Dokumenten eine seelsorgerliche Komponente. In 4. Esra meldet sich der Verfasser unter einem Pseudonym zu Wort. Er gibt sich für den Visionär Esra aus, der fünfhundert Jahre zuvor die Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels und die Folgen der Deportation zu bewältigen geholfen hat. Unter der Larve Esras projiziert der Verfasser die Tempelzerstörung des Jahres 70 in die erste Zerstörung durch die Babylonier 587/86 zurück.25 Damals, so seine Fiktion, hat Esra Worte gefunden, die exakt in die gegenwärtige Situation passen. Daraus sollen Rat und neue Zuversicht gewonnen werden.26 Nach jüdischer Überlieferung zog die historische Person Esra 458 v. Chr. an der Spitze einer Rückkehrergruppe nach Jerusalem, um im Auftrag des Perserkönigs Artaxerxes die Tora als königlich-persisches Recht zu installieren.

für den Facettenreichtum des Judentums Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. an. Sie gelten ihm als Ausdruck für „the sectarian nature of Judaism in the period 165 B.C.E. – 100 C.E.“ (12). Zur „sectarian nature of the Matthean community“ vgl. D.C. S, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Studies of the New Testament and Its World, Edinburgh 1998, 115–117.139–142, Zitat 115. 22 Vgl. O, Matthew’s Gospel (s. Anm. 9), 31: “What then is the future of God’s covenant people?” 23 W. H, Verhängnis und Verheißung der Geschichte. Untersuchungen zum Zeitund Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syr. Baruchapokalypse, FRLANT 97, Göttingen 1969, 19. 24 Vgl. H, Verhängnis und Verheißung (s. Anm. 23), 323. 25 Vgl. K, Rede von Gott (s. Anm. 20), 35. 26 Vgl. T.W. W, Eschatology in the Theodicies of 2 Baruch and 4 Ezra, JSPS 4, Sheffield 1989, 75.

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4 Die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jahrhundert n. Chr.

In 4. Esra stellt Esra sich der bedrängenden Frage, wie Gott das Katastrophenschicksal Israels zulassen konnte. Auch wenn zuzugestehen ist, dass Israel gesündigt hat, so doch nicht mehr als andere Völker auch. Die Strafe sei unverhältnismäßig.27 Was ist mit Gottes Schöpfertreue, warum wendet er nicht das Geschick seines Volkes? Das lässt an seiner Gerechtigkeit zweifeln. Sollte Gott etwa sein Volk verlassen haben? Immerhin könne Israel doch auf einige positive Seiten verweisen. Welches andere Volk habe denn Gott erkannt außer Israel (3,32.33)? Wenn Gott die Sündenlast Israels mit der anderer Völker vergleichen würde, würde sich schon zeigen, wohin der Ausschlag des Balkens sich neigt (3,34). Dann würde sichtbar, dass Israels Sünden leichter wiegen als die der Völker. Auch in Sachen Gebotserfüllung stehe trotz aller zugestandenen Einschränkungen Israel vor anderen Völkern (3,36). Deutlich wird, dass angesichts der Monstrosität der Ereignisse der einfache Sinnzusammenhang zwischen dem eigenen Tun und dem daraus folgenden Ergehen versagt. Das überkommene Gottesbekenntnis stößt angesichts der vorfindlichen Realität an seine Grenze. Der vorformulierte Glaubensinhalt und die Erfahrung der Katastrophe sind nicht zur Deckung zu bringen. Esra macht die Frage nach dem Schicksal Israels zu einer Frage nach Gott selbst. Wer soll den Namen Gottes künftig noch anrufen, wenn sein Volk den Gottlosen ausgeliefert und ausgelöscht ist? Dieses Dilemma zu klären, fordert Esra von Gott selbst ein. Gott habe Israel aus vielen Völkern auserwählt und ihm sein Gesetz gegeben (5,23–30); sogar die Welt habe er um Israels willen geschaffen (6,55–59). Trotzdem lasse er es zu, dass diejenigen, die Gottes Verheißungen mit Füßen treten, über sein Volk triumphieren. Seinen Erstgeborenen, seinen Einzigen, seinen Liebling habe er ihrem Mutwillen überlassen. Wie lange soll das so weitergehen? Esra insistiert darauf, dass das traditionelle Gottesbekenntnis auch angesichts der zuwiderlaufenden faktischen Erfahrung in Geltung bleibt. Aber die unterschwellige Ratlosigkeit bis hin zur Skepsis ist spürbar. Die literarische Esrafigur dient dazu, den offenkundigen Widerspruch zwischen der Selbstbindung Gottes an Israel und der konkreten Wirklichkeitserfahrung zu formulieren.28 Die Antwort auf seine Anfragen legt der Verfasser einer zweiten literarischen Figur in den Mund, einem angelus interpres, dem Deuteengel Uriel. Er ist zuständig für die theologisch verbindliche Auskunft. Seine Gesprächsstrategie zielt zunächst darauf, Esra die Begrenztheit seines Einsichtsvermögens vor Augen zu stellen. Dazu legt er ihm Gegenfragen vor, die kein Mensch beantworten kann, und quittiert Esras Schweigen mit den Worten: Wer bist du, dass du den Weg des Höchsten verstehen willst (4,1–21)?

27 Vgl. S, Reactions (s. Anm. 9), 200; vgl. auch J, Destruction of Jerusalem (s. Anm. 10), 64. 28 Vgl. H. N, Traditionary Processes and Textual Unity in 4 EZRA, in: M. Henze/G. Boccaccini, Fourth Ezra and Second Baruch. Reconstruction after the Fall, JSJ.S 164, Leiden/Boston 2013, 99–117, 117.

4.2 Katastrophenbewältigung in jüdisch-apokalyptischen Schriften

125

Auch Esras Versuch, das Schicksal Israels zu einem Problem Gottes selbst zu machen, weist Uriel zurück. Was aus der Gottesverehrung werden soll, wenn Israel aus der Geschichte verschwunden ist? Das ist jetzt noch nicht zu durchschauen. Es wird nach dem Ende der Weltzeit ans Licht kommen (4,26). Noch einmal wagt Esra nachzufragen. Wie lange wird das noch dauern? Unser Leben ist ja kurz (4,33)! Die Antwort lautet: Eile nicht mehr als der Höchste (4,34). Warte und akzeptiere die Begrenztheit deiner Lebenszeit. Esras Klage, dass Gott sein Volk den Heiden ausgeliefert habe (5,23–30), wird von dem Engel unter Hinweis auf Esras mangelnde persönliche Qualitäten gekontert. Liebst du das Volk etwa mehr als der Schöpfer (5,33)? Wieder wird Esra vermittelt, dass er nicht die Person ist, Gott etwas vorzuhalten (5,39–40). Die positive Antwort, mittels derer der Engel Uriel dem Geschehen einen Sinn zuschreibt, erklärt die gegenwärtige Zeit zu einem Durchgangsstadium (7,1–16). Eingedenk seiner eigenen Sterblichkeit solle Esra in das gegenwärtige Schicksal Israels einwilligen. Die schmerzvolle Enge des augenblicklichen Zustands sei die schmale Pforte zu dem dahinterliegenden Äon des kommenden Heils in der größeren Welt. Im Ergebnis verweist 4. Esra auf die Zukunft als Raum der Entlastung.29 In ihm werden sich die gegenwärtigen Aporien auflösen. Um das traditionelle Bekenntnis zum Gott Israels zu bewahren, zahlt 4. Esra anthropologisch einen hohen Preis. Dem fragenden Menschen, den Esra repräsentiert, wird letztlich seine Geschöpflichkeit zum Vorwurf gemacht. Seine Zweifel werden ihm als Defizite vorgehalten und mit Abwehr und Zurückweisung belegt. Unter dem Gesichtspunkt der Theodizeeproblematik bietet 4. Esra ein apologetisches Modell zugunsten Gottes und zulasten des Menschen an. Die wahre Schwierigkeit stelle nicht die Erfahrung des Untergangs Jerusalems dar. Das Hauptproblem ist der Zweifel des mit Mängeln behafteten Menschen. Eine ähnliche Dialogsituation wie in 4. Esra liegt auch in syrBar vor.30 Der Verfasser schreibt sein Werk einem gewissen Baruch zu.31 Er legt die Handlung in die Zeit der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier32 mit der anschließenden Deportation der Bevölkerung. Auch die Botschaft von syrBar lautet: Die Weltzeit geht ihrem Ende entgegen. Der neue Äon kommt. In dieser Umbruchsituation besteht die entscheidende Aufgabe darin, am Gesetz festzuhalten.33 Baruch nähert sich Gott mit einer captatio benevolentiae (21,3–10). Er preist Gottes All-

S, Reactions (s. Anm. 9), 204: “The resolution is, for him, eschatological.” Vgl. W, Eschatology (s. Anm. 26), 84–95. 31 Laut B. T, Baruch as a Prophet in 2 Baruch, in: M. Henze/G. Boccacini (Eds.), Fourth Ezra and Second Baruch. Reconstruction after the Fall, JSJ.S 164, Leiden/Boston 2013, 195–217, fließen in der Baruchgestalt mehrere prophetische Attribute zusammen. Baruch wird vorgestellt „as a literary prophet, a Torah-sage, a community leader, an authentic interpreter of the Torah, and last but not least as an eschatological seer” (215). 32 Vgl. J, Destruction of Jerusalem (s. Anm. 10), 89. 33 Vgl. zur Darstellung insgesamt K, Rede von Gott (s. Anm. 20), 45–53, hier 45. 29

30

126

4 Die zeitgeschichtliche Situation im 1. Jahrhundert n. Chr.

macht und Unsterblichkeit. Er spricht Gott auf sein gerechtes Handeln an, das dieser in der κρι σις, beim kritischen Ende, dem Gericht, endgültig vollziehen wird: Du hältst das Letzte bereit für die, die gesündigt haben, oder das Ende für die, die richtig gehandelt haben (21,12).34 Dann kommt Baruch auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Er sucht eine Lösung für die Aporien, die aus dem gegenwärtigen Zustand Israels resultieren. Er hält nach einem Raum Ausschau, in dem sich die Liebe Gottes vollenden kann. Sicherlich haben viele aus dem Volk gesündigt, aber durchaus nicht wenige haben sich als rechtschaffen erwiesen. Der kollektive Unheilszustand Israels könne daher nicht Gottes letztes Wort sein. Der Zusammenhang zwischen individuellem Tun und persönlichem Ergehen steht für Baruch außer Zweifel (21,11–12). Lediglich wird die Durchsetzung dieser unverbrüchlichen Ordnung nicht mehr zu Lebzeiten erfolgen (21,13). Das gegenwärtige Schicksal Israels ist in den Augen Baruchs das vorläufige Ende einer Geschichte des Niedergangs. Was hilft Israel seine großartige Vergangenheit angesichts des gegenwärtigen Siechtums (21,14–15)? Sinn kann diese Phase laut Baruch nur erhalten, wenn sie im Licht des kommenden Endes als Zeit der Langmut und Geduld Gottes erkennbar wird, die noch die Möglichkeit zu Buße und Umkehr einräumt (21,16–21). In einem eindringlichen Gebet fleht Baruch Gott an, nun umgehend tätig zu werden. Er hebt die Größe und Hoheit Gottes hervor, nennt seine Macht zum freien Handeln. Zudem hält er Gott seine Verheißungen an Israel vor Augen. Diese Zusagen sind unhintergehbar. Auf sie hat sich Gott festgelegt und ihnen gegenüber ist er unfrei. Eine weitere Zwangsläufigkeit, der auch Gott nicht entgehen kann, ist das Auseinanderfallen der Menschen in Sünder und Rechtschaffene. Dass allen das ihnen zukommende Urteil zu erteilen ist, steht ebenfalls außer Frage. So ist Gott bei Baruch in die Spannung zwischen Freiheit/Allmacht und Notwendigkeit eingebunden. Baruch legt ihn derart auf seine Zusagen für Israel und das gerechte Richten im Einzelfall fest, dass die abstrakte Freiheit Gottes, die mit dem Allmachtsgedanken konzediert ist, eine Begrenzung erhält. Die Himmelsstimme, die Baruch entgegnet, agiert im Modus der Souveränität. Sie versucht beruhigend auf Baruch einzuwirken. Der Tenor ihrer Antwort lautet: Es ist in Gottes eigenem Interesse, seine Verheißungen zu verwirklichen. Er könnte nicht zufrieden sein, wenn sein Werk unvollendet bliebe (22,2–8). Gott wäre sonst nicht Gott. Baruch signalisiert seine Zustimmung zu dieser Auskunft. Daraufhin wird ihm beschieden: Wozu beunruhigst du dich also über etwas, wovon 34 Die zitierten Textstellen folgen, sofern nicht anders angegeben, in der Regel der Übersetzung bei E. K, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, in Verbindung mit Fachgenossen übersetzt und herausgegeben, 2 Bände, Zweiter Band: Die Pseudepigraphen, Die syrische Baruchapokalypse, Nachdruck der Ausgabe von 1900, Darmstadt 1975, 404–446. Sie werden teilweise paraphrasiert und dem Satzverlauf angepasst sowie modernisiert wiedergegeben; daher fehlen Anführungszeichen.

4.2 Katastrophenbewältigung in jüdisch-apokalyptischen Schriften

127

du keine Kenntnis hast (23,1–2)? Sinn ergibt die gegenwärtige Wirklichkeit vor dem Hintergrund der kommenden Zukunft; und diese ist nahe gerückt: Mein Heil ist in Wahrheit nahe daran, herbeizukommen, und nicht ist es mehr fern wie ehedem (23,7). Auch die individuell ausgleichende Gerechtigkeit wird am Tag des Gerichts vollzogen werden (24,1–2). Allerdings gibt sich Baruch nicht mit dieser pauschalen Auskunft zufrieden. Er insistiert auf Detailangaben wie dem Zeitpunkt des Gerichts, der Frage nach dem Geschick der Feinde Israels, der Länge der dem Ende vorausgehenden Phase der allgemeinen Drangsal und dem Ort der Endereignisse (24–28). Endzeitliche Kämpfe auf der gesamten Erde läuten das finale Geschehen ein. Schließlich vollendet sich die Zeit der Ankunft des Messias. Das Gericht wird vollzogen. Die Seelen der Gerechten werden unversehrt daraus hervor-, die Gottlosen untergehen (29–30). Zur Vorbereitung auf die bevorstehende Leidenszeit verweist Baruch das Volk an das Gesetz.35 Die in die Herzen gesäten Früchte des Gesetzes werden als Schutz in den kommenden Erschütterungen dienen (31–32). Da anders als in früheren Zeiten Fürsprecher für das Volk fehlen, ist es nun auf sich allein gestellt: „Nichts haben wir jetzt mehr, nur den (All-)mächtigen noch und sein Gesetz.“36 Das Gesetz ist die einzig verbliebene Instanz vor Gott. Es ist in die Funktion der bisherigen Fürsprecher eingetreten und nimmt die Rolle des Vermittlers der Gottesbeziehung ein.37 Das Gesetz ist für syrBar der letzte Haft- und Haltepunkt für die Gottesbeziehung in der Endphase der Geschichte.38 Die Ausführungen in syrBar sind von der Gewissheit der bleibenden Selbstbindung Gottes an Israel getragen. Die Überzeugung tangiert unter dem extremen Druck der gegenwärtigen Verhältnisse sogar die Gott prinzipiell weiterhin uneingeschränkt zugeschriebene absolute Freiheit und Allmacht.

Vgl. J, Destruction of Jerusalem (s. Anm. 10), 106–108. SyrBar 85,3 zitiert nach A.F.J. K, Die syrische Baruch-Apokalypse, JSHRZ V/2, Gütersloh 1976, 103–191, 182. 37 Vgl. K, Rede von Gott (s. Anm. 20), 52–53; vgl. P, Konflikt (s. Anm. 11), 250. 38 Vgl. O, Matthew’s Gospel (s. Anm. 9), 27. 35

36

Teil zwei

Die Entfaltung der Theologie der synoptischen Evangelien

5 Die Pneumatheologie nach Markus 5.1 Der geistige Hintergrund des Markusevangeliums Die geistige Herkunft des Markusevangeliums ist schwer zu bestimmen und die exakte Zuordnung zu einem bestimmten intellektuellen Milieu umstritten. Die Verbindung zwischen Markus und Petrus, die Papias von Hierapolis herstellt,1 bleibt ungewiss,2 entsprechend die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen markinischer und petrinischer Theologie. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Markus und Paulus, die jahrzehntelang3 in dem Sinne beantwortet schien, dass auch hier keine Verbindung zu erkennen sei,4 ist in jüngerer Zeit einer erneuten Betrachtung unterzogen worden, mit dem Ergebnis, dass hier wohl doch Beziehungen zu erkennen sind.5 1 Zu E, h.e. III 39,15 vgl. U.H.J. K, Papias von Hierapolis. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Christentums, FRLANT 133, Göttingen 1983, 207–209. 2 Vgl. U. S, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, 243: „Niemand würde hinter der eigenständigen Theologie des Markusevangeliums die Person des Petrus vermuten, wenn es nicht jene Papiastradition gäbe!“ 3 Das negative Votum von M. W, Der Einfluß paulinischer Theologie im Markusevangelium. Eine Studie zur neutestamentlichen Theologie, BZNW 1, Gießen 1923, 209, demzufolge es keinen Einfluss der paulinischen Theologie auf das Markusevangelium gegeben hat, blieb viele Jahre lang unwidersprochen. Vgl. dazu H. O, Paul and Mark – Mark and Paul. A Critical Outline of the History of Research, in: E.-M. Becker/T. EngbergPedersen/M. Müller (Eds.), Mark and Paul. Comparative Essays II. For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin/Boston 2014, 51–61, 53. 4 So auch von S, Einleitung (s. Anm. 2), 243. An anderer Stelle äußert sich Schnelle weicher: U. S, Paulinische und markinische Christologie im Vergleich, in: O. Wischmeyer/D.C. Sim/I.J. Elmer (Eds.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin/Boston 2014, 308: „Auch wenn eine direkte Bezugnahme auf paulinische Briefe durch Markus nicht nachzuweisen ist, legt sich aus den genannten Übereinstimmungen eine Kenntnis und eigenständige Verarbeitung paulinischer Gedanken durch den ältesten Evangelisten nahe.“ 5 Vgl. dazu die ausführliche Debatte in O. W/D.C. S/I.J. E (Eds.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin/Boston 2014, und E.-M. B/T. E-P/M. M (Eds.), Mark and Paul. Comparative Essays II. For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin/Boston 2014. Dagegen führt M. R, Vier Porträts Jesu. Die Anfänge der Evangelien gelesen mit den Augen Plutarchs, SBS 244, Stuttgart 2019, 19.64, die bei Markus verarbeitete Tradition auf Petrus zurück. Er verweist dazu auf die Vorarbeiten von M. H, Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien, Tübingen 22007, 58–78.

132

5 Die Pneumatheologie nach Markus

Die Frage, ob Markus von Geburt Jude war und über gute aramäische und hebräische Sprachkenntnisse verfügte oder griechsprachiger Heidenchrist, der die aramäische Sprache beherrschte, wird ebenfalls gegensätzlich beurteilt.6 Ohne sich auf zu starre Alternativen zur geistigen Provenienz des hinter der Evangelienschrift stehenden Verfassers festzulegen, ist für Markus eine Vertrautheit mit mythischen Denkgewohnheiten wie mit jüdischen kultischen Praktiken zu konstatieren. Soweit hellenistische geistige Traditionen durchschlagen, ist nicht auszuschließen, dass diese Prägung im Rahmen der Sozialisierung durch ein hellenisiertes Judentum zustande gekommen ist. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang zwei Notizen aus dem 4. Jahrhundert über die Wahrnehmung des Markusevangelisten in der Rückschau der späteren Zeit. Euseb beruft sich auf ein Ondit, demzufolge Markus mit Ägypten und insbesondere Alexandria verbunden worden ist. In h.e. II 16 schreibt Euseb: „Markus soll als erster in Ägypten das von ihm niedergeschriebene Evangelium gepredigt und in Alexandrien selbst als erster Kirchen gegründet haben.“ Er ergänzt in h.e. II 24: „Im achten Jahr der Regierung Neros übernahm Annianus als erster nach dem Evangelisten Markus die Leitung der Kirche in Alexandrien.“7 Nero war im Jahr 54 römischer Kaiser geworden, die Amtsübergabe von Markus an Annianus wäre dann – zählt man der antiken Konvention folgend die angefangenen Jahre mit – auf ca. 61 zu datieren. Dieser Amtswechsel in Alexandria liegt in zeitlicher Nähe zur Hinrichtung des Jakobus in Jerusalem.8 Auch wenn sich die Nachricht über das gemeindeleitende Amt des Evangelisten Markus nicht historisch verifizieren lässt,9 ist der geistige Zusammenhang, den Euseb zwischen Markus und Alexandria herstellt, aufschlussreich. Euseb stellt die alexandrinische Kirche in die Kontinuität zum Markusevangelisten und stiftet damit einen Sinnzusammenhang zwischen beiden.10 6 Vgl. dazu bereits die Darstellung der langen älteren Forschungsdebatte bei W.G. K, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 41976, 57.67.69–70. R, Vier Porträts Jesu (s. Anm. 5), 25, stellt sich als „idealen Leser“ der Evangelien Plutarch vor – „einen heidnischen Leser, der historisch interessiert“ und „weder Jude noch Christ war“. 7 Beide Stellen zitiert nach E  C, Kirchengeschichte, hg. und eingeleitet v. H. Kraft, Übersetzung v. Ph. Haeuser (1932), durchgesehen v. H.A. Gärtner, Studienausgabe Darmstadt 1997. 8 In Alexandria kommt es 37–41 in der Regierungszeit Caligulas zu Plünderungen der Synagoge und zur Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens, weil sie sich weigerten, den Kaiser als göttliche Erscheinung zu verehren. Erwogen wird, dass in dem Ausdruck τοÁ βδε λυγµα τηÄ ς εÆ ρηµω σεως auf das Aufstellen eines Standbilds Caligulas in Jerusalem angespielt wird (Mk 13,14). Vgl. dazu G. T, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Studienausgabe Freiburg (Schweiz)/Göttingen 21992, 149–174. 9 Eine andere Frage ist überdies, ob Euseb damit andeuten will, der Evangelist Markus habe seine Evangelienschrift bereits zu diesem frühen Zeitpunkt verfasst. 10 Zum Verhältnis Markus – Alexandria vgl. B. K/B. S, Der Evangelist Markus. Historische Konturen – Altkirchliche Legenden – Hagiographische Zeugnisse, SBS 257, Stuttgart 2023, 105–125.157–158.

5.1 Der geistige Hintergrund des Markusevangeliums

133

In den Auseinandersetzungen zwischen den Patriarchaten von Alexandria und Antiochia und ihren Katechetenschulen prallten im trinitarischen und christologischen Streit des 4. und 5. Jahrhunderts gegensätzliche christologische Positionen aufeinander.11 Im Mittelpunkt des Konflikts stand „eine grundsätzliche Differenz in der Soteriologie“12. Die alexandrinische Schule war im Interesse der Sicherung des durch Jesus Christus erwirkten Erlösungsgeschehens an dem Ineinander von göttlicher und menschlicher Seite in Jesus Christus interessiert. Sie vertrat eine Wort-Fleisch-Christologie. Im Unterschied dazu stand die antiochenische Theologie für die Wahrung eines reinen Monotheismus und die vollständige Menschheit Jesu.13 Die antiochenische Wort-Mensch-Christologie tendierte zu einer Subordination des Sohnes unter den Vater.14 Die Unterscheidung beider Naturen war hier das Programm. Euseb zeichnet den Evangelisten Markus retrospektiv in die alexandrinische Tradition ein. Offenkundig sieht er beim Markusevangelisten die Verbindung von Göttlichem und Menschlichem in der Person Jesu in einer Weise angelegt, die der alexandrinischen Kirchentradition entspricht. Unabhängig davon, ob dies eine tendenzbehaftete Zuweisung ex post darstellt oder Euseb eine dem Markusevangelium selbst innewohnende Tendenz erspürt hat, zeigt seine Zuordnung, in wie hohem Maß er das Markusevangelium in einem geistigen Zusammenhang mit hellenistischen und mythischen Vorstellungen, insbesondere im Bereich der Christologie und Soteriologie, sieht.15 Ohne damit eine historisch belastbare Aussage zu treffen, lässt sich vor diesem Hintergrund die markinische Jesuserzählung inhaltlich cum grano salis als alexandrinisches Evangelium bezeichnen. In inhaltlicher Hinsicht ist das Markusevangelium an zahlreichen Stellen und in vielen seiner Denkbewegungen von antiken mythischen Anschauungen geprägt. Die Zuweisung des Werkes zur Gattung der αÆ ρχη , also zum Bereich der ätiologischen Literatur, fasst dies zusammen. Die αÆ ρχη ist die „Ursprungsge-

11 Euseb von Cäsarea selbst gilt als Vertreter einer Mittelposition, vgl. J. U, Art. Eusebius von Cäsarea, RGG4 2 (1999) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 1676–1677, 1677. 12 A.M. R, Art. Alexandrinische Theologie, RGG4 1 (1998) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 292–294, 294. 13 Vgl. P. B, Art. Antiochenische Theologie, RGG4 1 (1998) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 550–551, 551: „In der Christologie zeigen die Antiochener starkes Interesse an der Transzendenz des göttlichen Logos, so daß sie die Vorstellung einer natürlichen Vereinigung von Gottheit und Menschheit bei der Inkarnation im Sinne einer Leib-Seele-Synthese oder einer natürlichen ,Vermischung‘ scharf bekämpfen.“ 14 Zur Charakterisierung beider Katechetenschule vgl. B. L, Epochen der Dogmengeschichte, Stuttgart/Berlin 31974, 89–96. Die Entstehung der Katechetenschule von Alexandria reicht bereits in das 2. Jahrhundert zurück, vgl. K. A, Geschichte der Christenheit. Band I: Von den Anfängen bis an die Schwelle der Reformation, Gütersloh 1980, 56. Ebenso B. H, Geschichte der Theologie. Ein Abriß, Gütersloh 21993, 47. 15 Charakteristisch für die alexandrinische Theologie ist die Bedeutung der griechischen, insbesondere der platonischen Philosophie für die Entfaltung der theologischen Themen. Vgl. H, Geschichte (s. Anm. 14), 45–52.

134

5 Die Pneumatheologie nach Markus

schichte“16 eines Vorgangs, der der weiterlaufenden Zeit vorgelagert ist. Sie ist der Gründungsmythos von Gemeinschaften, die sich auf die erzählte Geschichte zurückbeziehen und aus ihr ableiten. Die αÆ ρχη stellt einen Schöpfungsakt dar und besitzt wirklichkeitssetzende Kraft. Aus der Rückschau einer späteren Zeit erzählt Markus die Geschichte des Protagonisten seiner Gemeinde. Ihre Existenz steht unter der Wirkung Jesu. Sie ist in seinen Lebensweg hineingenommen. In umgekehrter Richtung vergegenwärtigt er sich in ihrem Lebensvollzug selbst. Wann immer und wo immer die alte αÆ ρχη zu Gehör gebracht wird, wird das in ihr erzählte Geschehen lebendig. Zirkularität und Zyklizität kennzeichnen die mythische Weltorientierung. Greifbar werden die mythischen Implikationen in dem Ineinanderfallen von Zügen, die nach aufgeklärt-analytischer Auffassung voneinander geschieden werden. Verflochtenheit ist ein Kennzeichen mythischen Denkens. Bild und Sache fallen ineins, Reden und Handeln bilden die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Vergangenheit und Zukunft sind Aspekte einer ewigen Gegenwart. Zwischen einem Teil und dem Ganzen besteht insofern Identität, als in dem Teil bereits das Ganze enthalten ist. Tag und Nacht sowie die Richtungen im Raum sind mit Bedeutung konnotiert. Kausalität und Finalität stellen einen Sinnzusammenhang dar. Materielles birgt eine ideelle Wirklichkeit, Spiritualität und Geistigkeit wiederum sind körpergebunden. In der Verhältnisbestimmung von Geist und Materie liegt der Ausgangspunkt im Mythos auf der geistigen Ebene. Das Numinose ist die Grundlage für alles, was an Materialität wahrzunehmen ist. Materialität lässt sich als Ausdrucksweise des Numinosen verstehen. Kausalität geht auf das vorgängige Wirken von Gottheiten zurück. Sie wird auf eine Qualität zurückgeführt, die die Welt im Licht der Götter und des Göttlichen wahrnimmt. Darin liegt eine Differenz zur wissenschaftlichen Sicht auf Kausalität. Dieser zufolge ist Qualität das Resultat vorauslaufender Kausalität und folgt aus ihr. Die synthetische Weltwahrnehmung des Mythos macht keinen Unterschied zwischen dem Teil und dem Ganzen, da jedes Teil das Ganze repräsentiert. Für das naturwissenschaftlich-aufgeklärte Weltbild wird im Gegensatz dazu das Ganze erst durch die Fülle der Einzelheiten konstituiert. Während Gegenständlichkeit nach moderner wissenschaftlicher Auffassung die Trennung von Materiellem und Ideellem voraussetzt, ist für den Mythos die Einheit von beidem grundlegend. Entsprechend ist Materielles wie Himmel, Erde, Licht, Meer, Bach, Quelle, Baum mythisch stets von numinosen Wesen besetzt. Umgekehrt wird das, was wissenschaftlicher Weltwahrnehmung als ideell erscheint – Weisheit, Liebe, Mut, Gerechtigkeit, Friede – im Mythos durch numinose Wesen verkörpert und auf diese Weise materialisiert bzw. treffender formuliert personalisiert. Naturerscheinungen sind nie rein materielle Phänomene, sondern in ihnen wirken Götterwesen. Wo im wissenschaftlichen Diskurs

16

K. H, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 135.

5.2 Die allumfassende Erzählperspektive im Markusevangelium

135

Beobachtungen auf den Begriff gebracht werden, verwendet der Mythos den Namen eines numinosen Wesens.17 Der Mythos unterscheidet nicht zwischen Vordergrund und Hintergrund. Entsprechend liegt die Wahrheit auf der Oberfläche. Die Schau erschließt das Wesen von Dingen und Personen.18 Worte und Namen haben nicht bloß Hinweischarakter. Was sie sagen, sind sie. Daher spricht „der Name das Innere, Wesentliche des Menschen aus und ,ist‘ geradezu dieses Innere“19 Der Mythos besitzt eine eigene Ontologie und folgt spezifischen Regeln logischer Verknüpfung. Ihm wohnt eine eigene Art der Weltorientierung inne, die gleichwohl rationalen Ordnungen folgt. Das stellt den Mythos neben das Weltbild der aufgeklärten Rationalität, nicht darunter. Das ontologische Koordinatensystem des Mythos ist inhaltlich anders angelegt als die aufgeklärt-analytische Weltwahrnehmung. Strukturell entspricht es ihr jedoch.20 Der Mythos besitzt eine spezifische Rationalität, die es bei der Lektüre antiker Texte mitzuvollziehen gilt. Für die pejorative Verwendung des Substantivs Mythos und des Adjektivs mythisch besteht kein Anlass.21 In der alltagssprachlichen Rede, etwas sei nur mythisch und damit vor- oder unterrational, spiegelt sich noch das Ringen aufgeklärten Denkens um die Alleinherrschaft im rationalen Diskurs.

5.2 Die allumfassende Erzählperspektive im Markusevangelium In der narratologischen Terminologie Gerard Genettes formuliert handelt es sich beim Markusevangelium um eine „unfokalisierte oder Erzählung mit Nullfokalisierung“.22 Das heißt in der Sache: Im Markusevangelium hat der Erzähler seine Augen und Ohren überall. Er sieht alles, was die handelnden Personen sehen. Er referiert alle Worte und Laute, die die Personen hören. Das betrifft auch die Situationen, in denen keine Zeugen des geschilderten Ereignisses anwesend sind.

17 Vgl. P.-G K, Der Mythos bei Markus, Berlin/New York 2001, 92–93. Vgl. auch U. S, Der Sinn des Mythos in Theologie und Hermeneutik, Leipzig 2023, 8–13. 18 T. K, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992,119, unter Verweis auf E. C, Philosophie der symbolischen Formen, Sonderausgabe Dritter Teil, Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 101994, 81. Vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 83. 19 E. C, Philosophie der symbolischen Formen, Sonderausgabe Zweiter Teil, Das mythische Denken, Darmstadt 91994, 54. Im Wort und im Namen sind „der Gegenstand selbst und seine realen Kräfte enthalten“ (53). 20 Vgl. S, Mythos (s. Anm. 17), 139–144. 21 Zur ausführlichen Gesamtdarstellung vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), Kapitel 2 Mythos als Theorie und Phänomen, 63–98. 22 G. G, Die Erzählung, Paderborn 32010, 121 (Kursivierungen von G.G.). Vgl. dazu S. L/J.C. M, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart 2008, 105–110: „Die Nullfokalisierung wird auch als Über- oder Allsicht bezeichnet.“ (108). Vgl. auch M. F, Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt 22008, 113–118.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Der Erzähler schaut in die Personen hinein. Er weiß um ihre Beweggründe, fasst ihre Emotionen in Worte. Er kennt ihre Pläne. Selbst die Gedanken und Absichten Gottes sind ihm vertraut. Der markinische Erzähler besitzt einen all-overview.23 Alle Standpunkte und Sichtweisen, die innerhalb der Erzählung auftreten, sind vereinigt und gebündelt in der allumfassenden Wahrnehmungsperspektive des Erzählers. Die Interpretation des Werkes konzentriert sich dementsprechend darauf, dieser Wahrnehmungsperspektive zu folgen und die Gestaltung der erzählten Welt den perspektivischen Vorgaben des Erzählers folgend nachzuvollziehen. Über die Paraphrase des Inhalts und die Analyse der Gestaltungselemente im Einzelnen hinaus geht es dabei um das Verständnis des markinischen Erzählanliegens insgesamt. Die Fülle der Einzelausführungen ist von einer Zentraleinsicht durchformt und steht im Dienst eines Vermittlungsanliegens. Ziel der Interpretation ist es, das theologische Kerninteresse aufzuspüren, das der älteste Evangelist mit seiner ersten zusammenhängenden Erzählung vom irdischen Jesus verfolgt. Bemerkenswert ist bereits, dass im Markusevangelium das Christusbekenntnis überhaupt in Gestalt einer Erzählung der Lebensgeschichte Jesu präsentiert wird. Denn in den vierzig Jahren, die seit dem Tod Jesu im Jahr 30 vergangen sind, wurde von den Christusglaubenden der frühen Gemeinden bereits eine ausdifferenzierte Christologie in begrifflicher Weise entwickelt. Dies dokumentieren insbesondere die Paulus zugeschriebenen proto- und deuteropaulinischen Briefe. Insofern besteht das Novum der ältesten Evangelienschrift darin, christologische Überzeugungen in einer Erzählung vom Leben des irdischen Jesus zu präsentieren. Neben der grundsätzlichen Frage nach der Adäquatheit dieses Verfahrens gegenüber der begrifflichen Entfaltung der Christologie24 gilt es inhaltlich auf die besonderen Akzentuierungen zu achten, die die Erzählung gegenüber dem definitorischen Zugang auf den intendierten Gegenstand ermöglicht. Zu vermuten steht, dass durch den Wechsel von der begrifflich gefassten Formulierung der Christologie zu einer narrativen Entfaltung Akzentverlagerungen entstehen. Während begrifflich-definitorische Formulierungen u.a. ihre Stärke darin haben, Sachverhalte trennscharf und knapp zu artikulieren, trägt das erzählerische Erzeugen von Atmosphäre dazu bei, subkutan Einsichten zu vermitteln, die sich dem kalten direkten Zugriff entziehen. In der für die Bevölkerung in Israel desaströsen Situation nach dem Jahr 70 offeriert das Markusevangelium in einer vielstimmigen theologischen Debatte seinen Beitrag, nach der Katastrophe der Tempelzerstörung und dem Untergang der Stadt Jerusalem unter Bezug auf das Wirken Jesu von Gott zu reden. Angesichts der Niederlage der jüdischen Aufstandsbewegung gegen die römische Be23 Zur Perspektivierung von Erzählungen vgl. T. K/T. K, Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart 2014, 208–234, hier 230–233; M. M/M. S, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, 63–67. 24 Dazu s. o. Kapitel 1.1.2 Neutestamentliche Theologien im 20. Jahrhundert und 1.1.3 Mythische Narrativität vs. begrifflich gefasste Theologie.

5.3 Die Verknüpfung von erzählter Welt und Erzählwelt

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satzungsmacht erzählt Markus unter der Perspektive des Christusbekenntnisses, welche Bedeutung das Leben, Leiden und Sterben Jesu für die christusglaubende Gemeinde besitzt und welche Impulse das ευÆ αγγε λιον eröffnet, sich im Glauben in den veränderten Verhältnissen neu zu orientieren.

5.3 Die Verknüpfung von erzählter Welt und Erzählwelt: Von Mk 1,2.3 zu Mk 16,7.8 Die Weltwahrnehmung im Markusevangelium erfolgt aus der Vogelperspektive. Der Erzähler setzt mit einem Einblick in die Vorgeschichte des Lebens Jesu ein. Zu diesem Zweck führt er bereits im Eröffnungsteil seiner Erzählung in Mk 1,2.3 in jahrhunderteweit zurückliegende Planungen Gottes zurück, die in der alttestamentlichen Prophetie bekundet sind. Am Ende seiner Darstellung gibt er in der Auferweckungsperikope Mk 16,1–8 den Blick durch ein Fenster in die Zukunft frei. An die Lebensgeschichte Jesu wird sich eine Begegnungsgeschichte mit dem Auferweckten anschließen.25 In sie werden die handelnden Personen innerhalb des Markusevangeliums ebenso eingeschlossen wie die Leserinnen und Leser der Folgezeit. Auch innerhalb der Erzählung selbst operiert der Erzähler mit Vorund Rückverweisen auf Ereignisse, die außerhalb der erzählten Gegenwart liegen. Mk 1,2.3 stellt unter den Aspekten von Sendung und Wegbereitung prophetische Formulierungen aus Ex 23,20, Mal 3,1und Jes 40,3 zusammen. Die Zitatkombination dient in der Eröffnung des Gesamtwerks der Verknüpfung von erzählter Welt und Erzählwelt.26 Unter erzählter Welt sind die in der Erzählung geschilderten Ereignisse des letzten Lebensjahrs Jesu am Ende der zwanziger Jahre zu verstehen. Der Terminus Erzählwelt bezeichnet die Phase, in der die Evangelienschrift entstanden ist, also die Zeit nach 70 n.Chr. Sowohl die erzählte Lebensgeschichte Jesu selbst als auch das Jesus-ChristusEvangelium, welches sich auf dieses Leben Jesu bezieht, werden in den Deutehorizont der Schriften Israels gestellt. Der Zusammenfügung der Schriftworte 25 T. S, Auferstanden von den Toten – Das volle und das leere Grab, die dunklen und die hellen Erscheinungen, in: B. Wald (Hg.), Wahrheit des Glaubens. Das CREDO als Bekenntnis und Herausforderung, Paderborn 2017, 77–114, 103, spricht von der „Brückenfunktion des Grabes“. Die Erzählung hält „[d]ie Erinnerung an die Verkündigung Jesu“ fest und richtet zugleich den „Blick in die Zukunft“ „zur Verkündigung des Evangeliums in der ganzen Welt“. 26 Zur Untersuchung von Mk 1,2.3 vgl. P.-G. K, Die Jesuserzählung nach Markus als Werk des achten Jahrzehnts, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 7–41, 28–32. Vgl. auch die detaillierte Studie von D.P. M, Mark’s Mysterious ‘Beginning’ (1:1–3) as the Hermeneutical Code to Mark’s ‘Messianic Secret’, in: R.M Calhoun/D.P. Moessner/T. Nicklas (Eds.), Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels. Continuing the Debate on Gospel Genre(s), WUNT 451, Tübingen 2020, 243–271.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

kommt eine Scharnierfunktion zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen zu. Der Erzähler nimmt Relationierungen in unterschiedliche Richtungen vor.27 Die sog. kataphorische Deutung von Mk 1,1–8 macht den Bezug von Mk 1,2.3 auf V.4–8 stark. V.1 gilt als isolierte Überschrift über das gesamte Markusevangelium. Der Schriftbeweis verweise nach unten. Der im Alten Testament angekündigte Bote sei auf der Ebene des Markusevangeliums der Täufer Johannes. Demgegenüber konstatiert die anaphorische Interpretation einen Rückbezug von V.2.3 zu V.1. Die Schriftworte wiesen nach oben. Dieser Auslegung zufolge machen die prophetischen Worte eine Aussage über den Anfang des Evangeliums von Jesus Christus. Ein Bote wird ihm vorausgehen. Dieser wird bereits von den Propheten Maleachi, Deuterojesaja und dem zu den Propheten gerechneten Mose verheißen. Die Gegenüberstellung löst sich auf, wenn man die Zusammenfügung der beiden Ebenen der Erzählung als darstellungsleitendes Interesse wahrnimmt. Der Erzähler bezieht sich aus zeitlichem Abstand auf die geschilderten Ereignisse. Er schreibt für Rezipientinnen und Rezipienten, deren Gegenwart von dem auf Jesus Christus bezogenen Evangelium bestimmt ist. Ihnen gilt der erste die Lektüre steuernde Impuls. Die Propheten und in ihren Worten Gott selbst haben zur Grundlegung, d.h. zur αÆ ρχη des Evangeliums einen Boten angekündigt.28 Vom gegenwärtigen Christusevangelium wird eine Linie zurück zu dessen Anfang in der Geschichte Jesu in seinen letzten Lebensmonaten gezogen. Für die Leserschaft des beginnenden achten Jahrzehnts wird der irdische Jesus zum Boten des Evangeliums von Jesus Christus deklariert. Von ihm handelt die markinische Erzählung in ihrer Gesamtheit. Durch die Verse 4–8 heftet sich das Botenmotiv im Rahmen der nun einsetzenden Erzählung gleichzeitig an die Person des Täufers. In der erzählten Welt erscheint er als der Vorläufer Jesu, dessen eigenes Wirken erst ab Mk 1,9 erzählt wird.

27 Dabei gilt, „dass die in den alttestamentlichen Schriften präsentierten Geschehnisse bzw. Zukunftsaussagen wesentlich mit zur erzählten Zeit gehören“. C. B, Gott im Markusevangelium. Wort und Gegenwart Gottes bei Markus, BThSt 144, Neukirchen-Vluyn 2014, 100. 28 Insofern stellt S. A, Das Markusevangelium als Tragikomödie lesen, in: R.M Calhoun/D.P. Moessner/T. Nicklas (Eds.), Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels. Continuing the Debate on Gospel Genre(s), WUNT 451, Tübingen 2020, 219–242, 225, zunächst Richtiges fest: „Das Wort αÆ ρχη bezeichnet also nicht den Anfang des Markustextes, sondern den Anfang des von ihm erzählten Evangeliums“. Diesen sieht Markus „im Buch des Propheten Jesaja gegeben“. Alkiers weitergehendes Postulat „Das Markusevangelium inszeniert sich als schriftliche Fortsetzung der aufgeschriebenen Prophetie Jesajas“ greift jedoch zu kurz: Zum einen übergeht es das Zusammenspiel der in V.2.3 kombinierten drei Schriftbezüge, zum anderen bleibt es für Alkiers weitere Gesamtinterpretation folgenlos. In der Sache stellt der Prophetenbezug einen Partikularaspekt dar, den Markus seiner Präsentation der Lebensgeschichte Jesu als der αÆ ρχη des Evangeliums von Jesus Christus voranstellt.

5.3 Die Verknüpfung von erzählter Welt und Erzählwelt

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Der in Mk 1,3 zitierte κυ ριος-Titel dient ebenfalls der Bemühung des Erzählers, die beiden Ebenen der Erzählung miteinander zu verschränken. Allerdings verbindet er das Wirken Jesu stärker mit der Entstehung des Christusevangeliums als mit dem Wirken des Johannes. In seinem ursprünglichen Kontext in Jes 40,3 LXX und Mal 3,1 LXX als Gottesbezeichnung verwendet, erscheint der κυ ριος-Titel im frühen Christentum und – wenngleich sehr reduziert – teilweise auch im Markusevangelium im Rahmen der Christologie als Hoheitstitel für Jesus, den Christus.29 Unter dem Blickwinkel von Deuterojesaja und Maleachi geht es darum, Gott den Weg zu bereiten. In markinischer Perspektive liegt die Vorgeschichte des im Evangelium präsenten Jesus Christus im Wirken des irdischen Jesus, wie es die markinische αÆ ρχη des Evangeliums erzählt; und in diesem Kontext gehört auch das vorbereitende Handeln des Johannes zur Lebensgeschichte Jesu. Eine unmittelbare Verbindung zwischen Johannes dem Täufer und dem erzählten Jesus wird in Mk 1,3 durch das Wüstenmotiv aus Jes 40,3 LXX hergestellt. Mk 1,4 lenkt den Blick unmittelbar auf Johannes, und Mk 1,12 lässt Jesus in Parallelität zum Täufer ebenfalls zu einer Stimme in der Wüste werden. Der markinische Erzähler stiftet über die alttestamentliche Zitatkombination eine doppelte Vorläufer-Nachfolger-Relation. Er verbindet die Gegenwart, der seine Evangelienschrift entstammt, mit der Welt der endzwanziger Jahre. Jesus geht als Bote dem gegenwärtigen Jesus-Christus-Evangelium als dessen Vorbereiter voran. Innerhalb der erzählten Welt verknüpft Markus die Lebenswege des Johannes und Jesu miteinander. Jesus besitzt in der Person des Täufers einen Vorboten, der seinem Verkündigungswerk vorangeht. Johannes wird als Ankündiger Jesu in der erzählten Welt zum Wegbereiter des Vorläufers des Jesus-Christus-Evangeliums. Wie das Markusevangelium gleich in den ersten drei Versen eine Verbindung zwischen den zurückliegenden erzählten Ereignissen und der Gegenwart des Erzählers herstellt, so geschieht es in vergleichbarer Weise mit den beiden Schlussversen des Gesamtwerks in Mk 16,7 und 8. In Mk 16,7 ergeht ein Auftrag an die Zeuginnen am leeren Grab, der sie aus der erzählten Zeit heraus in die Zukunft verweist. In dem Imperativ οÍ ψεσθε in V.7 berühren sich beide Zeitstufen, die erzählte Welt und die Erzählwelt. Der Verweis auf das Sehen in Galiläa ist doppeldeutig. Wen die Frauen dort sehen werden, ist durch das Personalpronomen αυÆ το ν schwebend formuliert. Im Rahmen der geschilderten Ereignisfolge verweist es auf Jesus, dessen Weg in Galiläa seinen Ausgangspunkt genommen hat. In literarischer Hinsicht nimmt der Erzähler damit einen Rückverweis auf den Anfang seiner Darstellung vor. Der Hinweis auf die Begegnung mit dem aufer29 W. E, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 67: „Die Deutung auf die Wegbereitung Jesu entspricht dem frühchristlichen Gebrauch des Herrennamens als Ausdruck des Bekenntnisses zu ihm“. Vgl. B. B, Der literarische Raum des Markusevangeliums, WMANT 140, Neukirchen-Vluyn 2014, 25–28. Zum Gebrauch des Kyrios-Titels bei Markus vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 151–152 Anm. 26.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

weckten Jesus in Galiläa ruft die ab Mk 1,14 erzählten Anfänge der Lebensgeschichte Jesu in seiner galiläischen Heimat ins Gedächtnis. Die Leserinnen und Leser werden angestoßen, den dort begonnenen Weg Jesu via neuerlicher Lektüre ein weiteres Mal mitzuvollziehen. Der Lesekreislauf beinhaltet einen Richtungspfeil, der auf die Anfänge der Geschichte Jesu und seiner Begleiterinnen und Begleiter zurückverweist. Galiläa wird zum Synonym für die Anfänge der eigenen Glaubensgeschichte. Zugleich ermöglicht der Leseimpuls den Schritt aus der erzählten Welt in die Geschichte der weiterlaufenden Evangeliumsverkündigung, in die die markinische Gemeinde hineingehört. Das Personalpronomen αυÆ το ν bezeichnet unter dieser Perspektive Jesus als den Auferweckten. Liest man die Ortsangabe Galiläa als eine Chiffre für Heimat, verweist Mk 16,7 aus der erzählten Welt heraus. Die Richtungsangabe führt unter dieser Perspektive aus der zyklischen Lektüre in die gelebte Gegenwart der Zukunft. Der angelus interpres im leeren Grab (Mk 16,6) schickt die Frauen mit ihrem Übermittlungsauftrag in ihre Herkunftsregion zurück. In der Heimat soll die Begegnung aller mit dem Auferweckten erfolgen. Das Reden vom Sehen des Auferweckten ist die Ausdrucksform für das individuelle Osterbekenntnis der Christusglaubenden. Diese kennzeichnen ein Begegnungserlebnis mit Jesus nach dessen Tod als den biographischen Ausgangspunkt ihrer Glaubensgeschichte. Theologisch nimmt der Erzähler über den Begriff Galiläa eine Biographisierung des Auferweckungsglaubens vor.30 In 1 Kor 15,3b-5 wird in einer formelhaften Aneinanderreihung das Sehen Christi als die vierte Komponente einer Ereigniskette aufgeführt: Christus starb, wurde begraben, ist auferweckt und wurde gesehen. Die vier von Paulus genannten Elemente erscheinen auch in Mk 16,6–7.31 Das αÆ πε θανεν von 1 Kor 15,3 wird in Mk 16,6 inhaltlich durch das partizipiale Adjektiv εÆ σταυρωµε νον aufgenommen. Das αÆ πε θανεν findet bei Markus seine Entsprechung in dem Hinweis auf Jesu Grablegung. In beiden Überlieferungen wird übereinstimmend das Verb εÆ γει ρειν für die Auferweckung Jesu verwendet, an beiden Stellen ebenfalls in passivischer Formulierung. Eine Differenz liegt darin, dass Paulus das Verb im Perfekt verwendet, während Markus den Aorist benutzt. Dem ωÍ ϕθη von 1 Kor 15,5 entspricht in Mk 16,7 das οÍ ψεσθε für das Sehen des Auferweckten. Angesichts der weitreichenden Übereinstimmung beider Überlieferungen fällt eine Abweichung in der Reihenfolge der genannten Elemente auf. Während die paulinische Abfolge eine chronologische Orientierung zeigt: Tod – Begräbnis – Auferweckung – Sehen Jesu, gestaltet Markus in theologisch aufschlussreicher 30 Vgl. P.-G. K, Mk 16,1–8 als Verbindung zwischen erzählter und außertextlicher Welt, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 129–143, 135. 31 Die Entsprechung zwischen beiden Stellen vermerkt auch T. S, Die Saat des Evangeliums. Vor- und nachösterliche Mission im Markusevangelium, in: C.K. Rothschild/J. Schröter (Eds.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era, WUNT 301, Tübingen 2013, 109–142, 142.

5.3 Die Verknüpfung von erzählter Welt und Erzählwelt

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Weise um. Der Feststellung des Todes Jesu durch Kreuzigung folgt unmittelbar die Auferweckungsaussage. Erst danach wird auf die Grablegung und anschließend auf das Sehen hingewiesen.32 Literarisch unterstützt wird der Impuls, die erzählten Inhalte mit dem realen Leben außerhalb des Textes zu verknüpfen, durch den Einsatz einer rhetorischen Figur im Schlussvers Mk 16,8. Der der römischen Rhetorik des Schweigens zuzurechnende offene Schluss33 provoziert die Leserschaft zu einer Stellungnahme gegenüber dem Erzählten. Kann das, was in V.8 von den Frauen am Grab gesagt wird, das letzte Wort bleiben?34 Wollt ihr etwa auch vor dem Geschehen flüchten und aus Furcht schweigen? Die Antwort auf das paradoxe Schweigen35 kann nur lauten: ΜηÁ γε νοιτο. In ihrem je eigenen Galiläa gelangt die glaubende Leserschaft zur Begegnung mit dem Auferweckten. Das äußere Ereignis, das Mk 16,4–6 in verschleierter Form anspricht und das als solches nicht fassbar wird, verlegt der Erzähler in V.7 in die Lebensgeschichte der Frauen und der Jünger samt Petrus sowie mit ihnen in die der Leserschaft hinein. Der auferweckte Jesus wird dabei als Vorangehender charakterisiert. Auch nachösterlich bleibt es bei der Nachfolgesituation, die bereits für die Wanderzeit der Anhängerschar zu Lebzeiten Jesu charakteristisch war.

32 Vgl. dazu P.-G. K, Die Verknüpfung von Auferweckungsbekenntnis und leerem Grab in Mk 16,1–8, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 106–143, 119–120. Des Weiteren fällt auf, dass V.7 Petrus weder ausdrücklich das Erstbekenntnis der Auferweckung Jesu zuschreibt noch ihn zu einem unmittelbaren Zeugen der Auferweckung erklärt. Ihm soll die Nachricht von der Auferweckung Jesu mittelbar durch die Frauen überbracht werden. Zudem erfolgt die Namensnennung des Petrus erst nach der summarischen Erwähnung der Jünger und nicht vor ihr. Beides steht in Spannung zu der prominenten Aufzählung der Osterzeugen, die Paulus in 1 Kor 15,3b–5 bzw. 8 liefert. 33 Nach E.G. T, Intratextual Strategies in the Gospel of Mark: The Resurrection Narrative and the Healing of the Possessed Boy Narratives (Mark 9:14–29), in: E.J. Pentiuc (Ed.), Studies in Orthodox Hermeneutics, FS Theodore G. Stylianopoulos, Brookline 2016, 274–291, 276, beendet Markus seine Erzählung mit einem „cliffhanger“. 34 M. R, La promesse face a` la peur: de nouveau Mc 16.8b, NTS 69 (2023), 154–165, 154.165, sieht in Mk 16,8b eine Anspielung auf Gen 18,15 LXX. Das Furchtmotiv stehe an beiden Stellen in Verbindung mit Frauen – die eine, Sara sieht sich mit dem unwahrscheinlichen Versprechen Gottes konfrontiert, in ihrem hohen Alter noch einen Sohn zu gebären – die anderen stehen vor der Botschaft von der Auferweckung eines Toten. 35 C. G, Marc 16,1–8 ou les dernie`res surprises d’un e´vangile qui ne cesse de surprendre, in: G. Van Oyen/A. We´nin (e´d.), La surprise dans la Bible, Hommage a` Camille Focant, BETL 247, Leuven 2012, 247–258, 249: „leur silence paradoxal“.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

5.4 Erzählersicht und göttliche Himmelsstimme: Mk 1,11 und Mk 9,7 Die allumfassende Erzählerperspektive und der innere Dialog zwischen erzählter Welt und Erzählwelt kommen in weiteren Zügen des Markusevangeliums zur Geltung. Überzeitliche und überirdische Voten und Stimmen legen Zeugnis für Jesus, seinen Weg und seine Stellung vor Gott ab. Wie in den Eingangsversen Mk 1,2.3 bildet für das gesamte Erzählwerk der Bezug auf das Alte Testament einen Resonanzraum für die Handlung. Der Erzähler zeichnet den Lebensweg und das Schicksal Jesu in den Kontext der langwährenden Geschichte Gottes mit Israel ein.36 Prägende Personen wie der Prediger in der Wüste (Mk 1,3/Jes 40,3), Elia (Mk 6,15; 8,28; 9,4.11–13; 15,35), Mose (Mk 9,4; 10,3), außerdem Johannes der Täufer (Mk 1,4–8; 6,16; 8,28) bilden einen Bezugsrahmen aus Bedeutungsträgern des Alten Testaments bzw. des Judentums. Unter Bezugnahme auf sie arbeitet der Erzähler das Eigenprofil Jesu heraus. Damit wird die Lebensgeschichte Jesu einerseits als Element einer lang zurückreichenden Gottesgeschichte mit Israel gezeichnet.37 Andererseits gewinnt die Gestalt Jesu im Verhältnis zu den genannten Personen ihre eigene Kontur. Sein Leben und Werk schreiben die Vorgeschichte nicht einfach fort. Sie begründen zugleich einen Neubeginn für die auf sein Geschick bezogenen Christusglaubenden. Der markinische Erzähler selbst nimmt für seine Darstellung eine unerhörte Autorität in Anspruch. Darin gleicht er seiner Jesusfigur. Dieser wird wiederholt die kritische Frage vorgelegt, aus welcher Vollmacht heraus sie handelt. Der Erzähler lässt an entscheidenden Stellen seiner Erzählung Gott sprechen und dokumentiert damit einen Erzählstandpunkt, der oberhalb und außerhalb der beschriebenen Ereignisse liegt.38 Seine Sicht auf Jesus stimmt mit der Wahrnehmung Gottes überein. Die göttliche Himmelsstimme meldet sich bei der Taufe Jesu und auf dem Berg der Verklärung. Sie formuliert den Status Jesu in Bezug auf Gott. Du bist mein geliebter Sohn (Mk 1,11) bzw. das ist mein geliebter Sohn (Mk 9,7). In der Taufszene protokolliert der Erzähler damit Worte vom Himmel, die außer Jesus niemand in der Szene zu hören bekam. Bei der Verklärung befindet er sich immerhin an der Seite der Augen- und Ohrenzeugen Petrus, Jakobus und Johannes.39 Die Gesamtabsicht der markinischen Jesuserzählung, Jesus in 36 B, Gott im Markusevangelium (s. Anm. 27), 96, bestimmt das Verhältnis zwischen Erzählerstimme und Gottesrede im Markusevangelium so, dass Gott als die „handlungsbestimmende Figur ausgewiesen wird“, der sich der Erzähler unterordnet 37 R, Vier Porträts Jesu (s. Anm. 5), 46, stellt eine Beziehung von Markus zu Plutarch her. Bei Markus treten die Schriftzitate „an die Stelle der Dichterzitate bei Plutarch“. 38 Vgl. G. V O, Du secret messianique au myste`re divin: Le sens de la narratologie, in: Ders. (Ed.), Reading the Gospel of Mark in the Twenty-First-Century. Method and Meaning, BETL 301, Leuven/Paris/Bristol, CT 2019, 3–37, 16–19. 39 Vgl. U. S, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 371: „Himmelsstimmen sind in der gesamten Antike eine Offenbarungs- und Autorisierungsinstanz“.

5.5 Die Gestaltung des erzählten Raums

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seiner besonderen Gottesbeziehung als Sohn darzustellen, unterstreicht der Erzähler mit Zitaten aus göttlichem Mund.40

5.5 Die Gestaltung des erzählten Raums Entgegen einer verbreiteten Vorstellung ist Raum kein leerer Container, der mit Ortsangaben und Inhalten lediglich gefüllt wird.41 Vielmehr entsteht Raum im Zuge von Handlungen. Erzählter Raum wird durch Hinweise und Informationen generiert, die bei der Hörer- resp. Leserschaft ein spezifisches Bild des so kreierten Raums entstehen lassen. Der Raum ist Teil der erzählten Welt. Er ist so konstruiert, dass er den Anforderungen der Erzählung entspricht. Orts-, Richtungs- und Raumangaben sind Bedeutungsträger für die erzählte Handlung. Sie tragen zur Charakterisierung der Personen innerhalb der Erzählung bei. Im Blick auf die älteste Evangelienschrift ist insbesondere die Geographie des Markusevangeliums wiederholt kontrovers diskutiert worden. Die lange Debatte über das Maß der Kenntnisse des Markus über die Geographie in Israel hat die Frage, wo die Evangelienschrift verfasst wurde, nicht klären können.42 Herausgestellt hat sich im Zuge dieser Diskussion immerhin, dass der kartographische Befund moderner Atlanten kein Kriterium zur Beurteilung markinischer Ortsangaben darstellt. Die Frage, ob Markus genauere Kenntnis der geographischen Situation in Israel zur Zeit Jesu hatte oder nicht, ist insofern anachronistisch, als sie das Evangelium am Maßstab naturwissenschaftlich verobjektivierter Vermessungstechnik der Moderne kontrolliert. An der interpretatorisch notwendigen Aufgabe geht eine solche Bewertung vorbei. Für die Kartographie war in der Antike wie auch im Mittelalter die reine Wiedergabe „räumlicher Umweltgegebenheiten“43 von untergeordneter Bedeutung. Vorrang besaß, geistige Anschau40 Vgl. J.M. R, Das Geschichtsverständnis des Markus-Evangeliums, AThANT 30, Zürich 1956, 33: Die Einleitung in die markinische Gesamterzählung (Mk 1,1–15) thematisiert das „grundlegende eschatologische Eingreifen Gottes in der Geschichte […], durch das Jesu Wirken zur Ueberwindung des Satans und zur Herbeiführung der Gottesherrschaft zugleich ermöglicht und eingeleitet wird“. 41 Vgl. die Forschungsübersicht bei I. B/P.-G. K/F. S, Raumkonzepte. Zielsetzung, Forschungstendenzen und Ergebnisse, in: Dies. (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge. Unter Mitarbeit von M. Kohls, Göttingen 2009, 9–25. 42 Vgl. S, Einleitung (s. Anm. 2), 243. Vgl. die differenzierte Darstellung des Forschungsstandes bei D. H, Jesu Weg zu den Heiden. Das geographische Konzept des Markusevangeliums, ABG 63, Leipzig 2019, 16–27. Haase weist auf das Problem in der Forschung hin, dass „stets der Versuch unternommen [wird], erzählte Welt und reale Welt miteinander zu vergleichen. Im gleichen Atemzug wird dann die Frage nach der Herkunft des Verfassers bzw. dem Ort der Abfassung gestellt“ (19). 43 R. T, Art. Kartographie, DNP 14 (2000), 853–860, 853. Anders P. W, Zeit und Ort im Markusevangelium, Darmstadt 2018, 114–119, demzufolge die Ortsangaben im Markusevangelium die Verhältnisse in der realen Welt spiegeln. Sie dienten lediglich der Lokalisierung der geschilderten Ereignisse und müssten nicht auf ihre Funktion hin befragt werden (119).

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

ungen und theologische Überzeugungen kartographisch umzusetzen und Orte und Landschaften ihrer Bedeutung innerhalb einer bestimmten Sinnwelt entsprechend wiederzugeben.44 Der Aufbau und die Gestaltung des erzählten Raums im Markusevangelium45 spiegeln Vorentscheidungen wider, die aus dem mythischen Zugang zur Wirklichkeit resultieren, der die markinische Erzählung grundiert. Darüber hinaus prägen theologische Überzeugungen, die nicht zuletzt aus der Christologie stammen, die geographische und topographische Darstellung der erzählten Ereignisse. Die Informationen, wo die Erzählungen stattfinden und aus welcher Richtung sie betrachtet werden, sind weder historisch als Hinweise für den Realitätsgehalt der geschilderten Ereignisse noch als Belege für deren Faktizität anzusehen. Zugleich sind sie alles andere als zufälliges rankendes Beiwerk. Das Wo der Erzählung beinhaltet das Was des Erzählten. Der Ort steht für die Sache selbst.46 Die räumliche Perspektive impliziert eine Bewertung des Geschehens. Den Ausgangspunkt mythischer Weltwahrnehmung bildet die Kardinaldifferenz zwischen heilig und profan. Die Grundorientierung im mythischen Raum erfolgt anhand der Unterscheidung zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit. Den Bezugspunkt für die Richtungsachsen im mythischen Raum bildet der Lauf der Sonne von Ost nach West. Er verleiht den Himmelsrichtungen ihre jeweils spezifische Qualität. Ost und West, Nord und Süd sind mit günstigen und ungünstigen Bewertungen konnotiert. Lebenspendende sind von lebensbedrohenden Orten unterschieden. Bewegungen im Raum führen regelmäßig zu Schwellen- und Grenzüberschreitungen. Dabei erfolgen nach mythischer Vorstellung Übertritte aus dem Machtbereich eines numinosen Wesens in die Einflusszone eines anderen. Solche Übergänge bedürfen der Vorbereitung, da sie mit den Wächtern der jeweiligen Region konfrontieren. Darüber hinaus signalisiert räumliche Nachbarschaft in-

44 So geschieht es auch in der Gegenwart. Neben Straßenkarten und google maps gibt es eine Vielzahl von Atlanten, die Weltkarten unter den Gesichtspunkten von Einkommensverhältnissen, Energieverbrauch, Bildungsniveau, Gesundheitsversorgung liefern, die einen teilweise krassen Gegensatz zu der vermessenen Gesamtfläche eines Landes oder seiner Einwohnerzahl zeigen. Vgl. A  G. Le Monde diplomatique, Berlin 2 2006. Nähe oder Entfernung zu- bzw. voneinander setzt sich dadurch anders zusammen als beim Blick auf Quadratkilometer und räumliche Entfernungen. 45 Vgl. dazu P.-G. K, Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 55–73, 59. 46 Vgl. C, Philosophie II (s. Anm. 19), 115: „Für das mythische Denken besteht eben zwischen dem, was ein Ding ,ist‘ und der Stelle, an der es sich befindet, niemals ein bloß ,äußerliches‘ und zufälliges Verhältnis; sondern die Stelle ist selbst ein Teil seines Seins, durch die es mit ganz bestimmten inneren Bindungen behaftet erscheint.“

5.5 Die Gestaltung des erzählten Raums

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haltliche Berührung.47 Lokalisierungen und Bewegungsabläufe unterliegen stets Bewertungen. Die römische Landvermessung lässt noch Grundlagen erkennen, die bis in die sakral-mythische Raumordnung der Etrusker zurückreichen.48 Diese hatte den Himmel in Kreuzform aufgeteilt. Die römischen Agrimensoren legten ihrer Landvermessung ein rechtwinkliges Achsenkreuz zugrunde.49 Es besitzt eine waagerechte x-Achse, den Cardo, und eine senkrechte y-Achse, den Decumanus.50 Der Cardo verläuft von Süd nach Nord, der Decumanus ursprünglich von Ost nach West und in späterer Zeit von West nach Ost. Der Decumanus teilt die Welt in die südlich gelegene Tag- und die nördlich gelegene Nachthälfte. Der Cardo gliedert sie in die Sonnenaufgangs- und die Sonnenuntergangsseite.51 Bei der Interpretation des Markusevangeliums wurde häufig auf die konstitutive Bedeutung einer Nord-Süd Achse verwiesen. Insbesondere unter dem Einfluss von Ernst Lohmeyer wurde von einem Antagonismus zwischen Galiläa und Jerusalem ausgegangen.52 Lohmeyer geht von der Beobachtung aus, dass Überlieferungen von Erscheinungen des Auferstandenen in den Evangelien sowohl in Galiläa als auch in Jerusalem lokalisiert sind. Dieses Nebeneinander deute auf zwei unterschiedliche Überlieferungsstränge hin. Die Traditionen von Erscheinungen in Galiläa und in Jerusalem begründeten die parallele Entstehung christlicher Gemeinden an beiden Orten. Die galiläischen Erscheinungstraditionen würdigen diese Region, weil sie den Herkunfts- und Wirkungsraum Jesu und seiner Jünger darstellt. Jerusalems Bedeutung liegt darin, der Ort der Passion und des Sterbens Jesu zu sein.53 In historischer Hinsicht resultieren aus dieser doppelten Genese laut Lohmeyer zwei unterschiedlich geartete „Zentren“ des frühen Christentums.54 Die galiläische Christologie richtete sich „auf MenschensohnErwartung und Armen-Anschauung, auf Gesetzesgehorsam und Nachfolge Jesu“. Die jerusalemische Ausrichtung konzentrierte sich auf den „Glauben an den Messias Jesus und […] [die] Erfahrung des Heiligen Geistes“.55 Im Rahmen der markinischen literarischen Präsentation resultierte daraus die theologische Subordination Jerusalems unter Galiläa. Galiläa werde von Markus positiv als

47 C, Philosophie II (s. Anm. 19), 67: „Nach der Grundvorstellung der ,sympathischen Magie‘ besteht eine durchgängige Verknüpfung, ein echter Kausalnexus zwischen allem, was durch räumliche Nachbarschaft oder durch seine Verbundenheit zu demselben dinglichen Ganzen noch so äußerlich als ,zusammengehörig‘ bezeichnet ist.“ 48 M. H, Art. Limitation I. Etruskische Voraussetzungen, DNP 7 (1999), 233. 49 H.-P. K, Art. Limitation II. Römische Feldmessung, DNP 7 (1999), 233–236, 234–235; A. S, Art. Decumanus, RE IV (1901), 2314–2316, 2315. 50 H.-J.S, Art. Decumanus, DNP 3 (1997), 354. 51 Vgl. dazu mit Nennung der einschlägigen Literatur K, Konzept (s. Anm. 45), 72. 52 E. L, Galiläa und Jerusalem, FRLANT 52, Göttingen 1936. 53 L, Galiläa und Jerusalem (s. Anm. 52), 5–9.97.100. 54 L, Galiläa und Jerusalem (s. Anm. 52), 84. 55 Beide Zitate L, Galiläa und Jerusalem (s. Anm. 52), 78.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

„das heilge Land des Evangeliums“56 hervorgehoben. Jerusalem dagegen stelle den „Herd der Feindschaft gegen Jesus“57 dar. Die Nord-Süd-Achse, die Lohmeyers Markusinterpretation zugrunde liegt, wird dadurch stabilisiert, dass mit dem Auftrag an die Frauen am leeren Grab in Mk 16,7, nach Galiläa zurückzugehen, die markinische Darstellung mit einer Süd-Nord-Perspektive zum Abschluss gebracht wird. Wenngleich Lohmeyer die theologische Bedeutung der geographischen Nord-Süd-Achse richtig erkannt hat, liegt in seiner antithetisch-antagonistischen Interpretation von Galiläa und Jerusalem eine Verkürzung. Anders als in Lohmeyers polarer Wahrnehmung des markinischen Raums ist die Raumgestaltung des Markusevangeliums durch eine Dreiregionalität gekennzeichnet. Neben Galiläa und Jerusalem gehören die an Galiläa angrenzenden hellenisierten Nachbarregionen zum Raum für das Wirken Jesu zu Lebzeiten. Dabei werden neben der Nord-Süd-Ausrichtung bereits in Mk 1–10 verschiedentlich Bewegungen Jesu in Ost-West-Ausrichtung erwähnt.58 Ab Mk 11 und insbesondere in der Sterbeszene Jesu in Mk 15,33–39 bekommt das Wechselspiel zwischen Ost-WestOst herausragende Bedeutung.59 Das Zusammenspiel der Richtungen und Blickachsen begründen bei Markus eine Geographie in Kreuzform.60 Erst die Wahrnehmung der Aufenthalte Jesu in den drei geographischen Zonen und insbesondere die Bezogenheit der Regionen zueinander liefern den Schlüssel, um zu verstehen, worin für den markinischen Erzähler die Bedeutung der Wandertätigkeit und der Ortswechsel Jesu liegt. Die dritte Region macht „Jesu Weg zu den Heiden“61 auf geographische Weise zum theologischen Thema der markinischen Erzählung. In der von Markus literarisch entworfenen Welt gelten Galiläa, Peräa und Judaä als „jüdische Gebiete, die römische Provinz Syrien, die Tetrarchie des Philippus sowie die Dekapolis“ als „heidnische Gebiete“.62 Die in den unterschiedlichen Regionen auftretenden Erzählfiguren sind mit der für den jeweiligen Distrikt geltenden „religiösen Ausprägung“63 konnotiert. Bei den Reisen Jesu fällt auf, dass Galiläa ihren Ausgangspunkt bildet und Jesus nach jeder seiner Wanderungen in ein anderes Herrschaftsgebiet dorthin

L, Galiläa und Jerusalem (s. Anm. 52), 29. L, Galiläa und Jerusalem (s. Anm. 52), 34. 58 Vgl. 5,1; 7,31; 8,1–10. Dazu zählt auch 6,17–29. Mk 5 und 7 schildern Jesu Hinwendung zu Menschen in Regionen mit vorwiegend nichtjüdischer Bevölkerung. 59 Vgl. dazu K, Konzept (s. Anm. 45), 64–69. 60 Parallel dazu strukturiert eine weitere kreuzförmig angelegte Achsenvorstellung den markinischen Erzählraum, eine vertikale und eine horizontale Raumachse. Dieses Achsenkreuz unterlegt B, Raum (s. Anm. 29), IX–XII, ihrer Nachzeichnung des literarischen Raums bei Markus. 61 So der Buchtitel von H, Jesu Weg (s. Anm. 42). 62 H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 52. 63 H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 53. 56

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5.6 Umbauter Raum und freie Natur

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zurückkehrt.64 In stetigem Wechsel richtet sich der markinische Jesus im Zuge seiner Wandertätigkeit in Wort und Tat an Juden und Heiden. Markus erhebt damit die Öffnung der Evangeliumsverbreitung in die Welt der Heiden hinein zum zentralen Thema. Das Markusevangelium steht für den „Aufbruch zur Heidenmission“65. Es „suggeriert“ der Leserschaft, dass die Mission unter Heiden „auf Jesus Christus und damit letztlich auf Gott selbst zurück[gehe]“. Markus setzt „Jesus chronologisch als ersten Heidenmissionar ein“.66 Die Pragmatik der Erzählung liegt darin, Judenchristen und Heidenchristen aneinander zu binden; und der Weg Jesu steht exemplarisch für die Verknüpfung beider Seiten.67 Die vier Himmelsrichtungen, die Dreiregionalität des Raums und die Zweiteilung in eine jüdisch und eine heidnisch konnotierte Welt konstituieren den Rahmen für das Wirken Jesu im Markusevangelium. Die geographische Gestaltung steht im Dienst einer theologischen Absicht. Jesu Wirken zielt nach Markus in weltumspannender und völkerverbindender Weise auf alle Menschen jenseits der Herkunftsregionen und -milieus, denen sie entstammen. Die Vollendung dieses weltweiten Geschehens kündigt Mk 13,27 an.

5.6 Umbauter Raum und freie Natur Jenseits der Gesamtsicht auf die Raumaufteilung und die Richtungswechsel im Markusevangelium zeigt sich auch im Verhältnis der Szenen in umbauten Räumen und der freien Natur eine bedachte Inszenierung.68 Lokale Synagogen in Galiläa wie die von Kapharnaum, Grabanlagen bei Gerasa, der Sakralbau des Jerusalemer Tempels, der Innenhof des Stadtpalastes des Hohepriesters und private Wohnhäuser bilden die Schauplätze des Wirkens Jesu.69 Neben steinernen Gebäuden stellen hölzerne Boote und imaginierte Hütten auf dem Verklärungsberg architektonische Räume für bedeutungsgefüllte Szenen bereit. Alle Bauwerke gehören zum Erzählinventar der Darstellung. Sie sind Ausdruck der geistigen Kreativität des Erzählers. Er präsentiert die Baulichkeiten

64 H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 41–42. Haase weist darauf hin, dass es zwei Ausnahmen von dieser Regel zu berücksichtigen gilt: Auf Jesu Reise in die Provinz Syrien folgt die Weiterwanderung in die Dekapolis, und nach der missglückten Überfahrt nach Betsaida „wird Galiläa zweimal hintereinander zum Schauplatz der Erzählung“ (42). 65 H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 187. 66 Beide Zitate H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 188. 67 Vgl. H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 188. 68 Die nachfolgenden Ausführungen dieses Teilkapitels stammen weitgehend wörtlich aus P.-G. K, Die Raumgestaltung im Markusevangelium, in: Ph. David/T. Erne/M.D. Krüger/T. Wabel (Hg.), Bauen – Wohnen – Glauben. Lebendige Architektur und religiöse Räume, Hermeneutik und Ästhetik 8 (2022), Leipzig 2023, 199–225, 210–225. 69 Etwa in Mk 1,29; 2,15; 8,28.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

unter erzählstrategischen Aspekten.70 Ob die Markusbauten71 realgeschichtlich nachgewiesen sind oder nicht, bleibt für das Verständnis der Erzählung unerheblich.72 Das erste Wirken Jesu in einem geschlossenen Raum findet am Sabbat in der Synagoge von Kapharnaum statt (1,21–28). Die Lokalisierung besitzt eine polemische Pointe. Jesu Lehren und Handeln demonstriert einen Reinigungsakt in der negativ konnotierten Synagoge. Die Synagoge wird als Behausung eines unreinen Geistes vorgestellt. Ausgerechnet im jüdischen Gottesdienstraum muss der Jesus seit seiner Taufe innewohnende Gottesgeist sich gegenüber einem Trabanten des Satans bewähren. Gleiches geschieht in der Folge in den Synagogen von ganz Galiläa. Überall wird Jesus exorzistisch tätig (1,39). Die Synagogen bilden die Schauplätze harter Auseinandersetzungen. Bei seinem ersten Besuch in einem Privathaus (1,29–31) entlastet Jesus mit der Heilung der fieberkranken Schwiegermutter des Petrus die gesamte Hausgemeinschaft. Diese beiden ersten Aktionen machen Jesus schlagartig bekannt. Abends versammelt sich die ganze Stadt mit zahlreichen Kranken und Besessenen vor der Haustür (1,33). Die öffentliche Aufmerksamkeit treibt Jesus in die Einsamkeit (1,35.45). Sobald er in eine Stadt kommt, strömen ihm die Massen zu. Der Rückzug an einsame Orte gelingt kaum noch. Von überall her kommen die Menschen auch dorthin (1,45). Im Bild der Stadt, das vermittelt wird, schwingt der Vorwurf mit: Hier ist keine Kontemplation mehr möglich. Der Rekurs auf die zerstreuende Wirkung des städtischen Ambientes mag auch das vielsagende Schweigen des markinischen Erzählers über die Städte in Jesu unmittelbarer galiläischer Umgebung erklären. Historisch betrachtet muss Jesus eigentlich in Tiberias und Sepphoris als den beiden größeren Städten in der Umgebung Nazareths gewesen sein.73 Erzählt wird davon im Markusevangelium jedoch nichts.74 70 Die hermeneutische Herausforderung formulierte Walter Benjamin unter Bezug auf das Phänomen der Erinnerung: „Und der betrügt sich selbst um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt.“ Zitiert nach S. J, Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Aus dem Englischen übersetzt von S. Held, Stuttgart 32019, 44. 71 Diese sprechende Bezeichnung verdanke ich meinem Kasseler Kollegen, dem germa´ gel. nistischen Sprachwissenschaftler Vilmos A 72 Dem Erzähler dienen sie „als Medium und Instrument der Herstellung sozialer Wirklichkeit“. So J. M, Räume und Regionen der Geographie, in: I. Baumgärtner/P.-G. Klumbies/F. Sick (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen 2009, 71–94, 71–75, 94, in ihrer Formulierung des Verständnisses von Raum. 73 Vgl. R.  B, Jesus und die Stadt im Markusevangelium, in: R. von Bendemann/M. Tiwald (Hg.), Das frühe Christentum und die Stadt, BWANT 198, Stuttgart 2012, 43–68, 43. 74 Die exegetische Aufgabe besteht darin, diese Unstimmigkeit innertextlich und literarisch zu erklären. Vgl. J.M. L, Die Struktur literarischer Texte, München 41993, 337: „In diesem Sinne ist das, was vom Standpunkt eines Textes aus nicht existiert, ein wesentliches Kennzeichen dieses Textes.“ (Kursivierung von J.L.). M. T, The Rural Roots of the Jesus Movement and the ‘Galilean Silence’, in: M. T/J.K. Z (Eds.), Early

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In Kapharnaum wird Jesus ein weiteres Mal in einem Haus mit Krankheit konfrontiert (2,1–12). Körperliche Behinderung und geistliche Not begegnen als miteinander verschränkt. Den sich anbahnenden Konflikt mit erstarrten Schriftgelehrten gelingt es Jesus aufzulösen.75 Die dritte in einem Haus situierte Szene impliziert ebenfalls einen Streitpunkt. Die Gemeinschaft Jesu beim gemeinsamen Mahl mit Zöllnern und Sündern erregt den Unwillen der Schriftgelehrten unter den Pharisäern (2,16). Bei dem zweiten Besuch einer Synagoge am Sabbat stößt Jesus erneut auf Widerstand (3,1–6). Anders als nach der Gelähmtenheilung in 2,1–12 weicht er die Härte seiner Opponenten diesmal nicht mehr auf (3,6). Die Synagoge ist definitiv als ein Jesus feindlicher Ort markiert. Die nächste In-house-Szene beginnt mit 3,20. Die arglos klingende Einleitung und er kommt in ein Haus erweist sich vom Ende der Episode her gelesen als Vorbotin für die ungute Entwicklung der Ereignisse. Im Verlauf der Szene erklären die Angehörigen Jesus für verrückt (3,21); die Schriftgelehrten bezichtigen ihn des Bundes mit dem Satan (3,22). Jesus selbst nimmt im Haus sitzend die Unterscheidung zwischen wahren und vermeintlichen Verwandten vor, während seine leibliche Mutter und seine Brüder draußen vor der Tür stehen (3,31–35). Im Haus scheiden sich die Geister. Jesus klärt, wer auf welcher Seite steht. Das Haus wird zum Entscheidungsraum. Im Boot als einem ebenfalls von Menschenhand gefertigten Raum entscheidet sich auf stürmischer Überfahrt das Duell zwischen Furcht und Glauben. Auf schwankendem Boden wird die Frage nach dem Status Jesu gestellt: Wer also ist dieser? (4,41). Eine Antwort darauf wird später erstmals Petrus auf einer Wanderung unter freiem Himmel geben (8,29). Der zweite einzeln erzählte Exorzismus Jesu ist östlich des Sees Genezareth in Gerasa in der Dekapolis76 lokalisiert. Die Erzählung bildet das Gegenstück zu der Dämonenaustreibung in der jüdischen Synagoge von Kapharnaum in 1,21–28. Jetzt vertreibt Jesus in einem Gräberfeld auf heidnischem Terrain einen unreinen Geist (5,1–13).

Christian Encounters with Town and Countryside. Essays on the Urban and Rural Worlds of Early Christianity, NTOA/StUNT 126, Göttingen 2021, 149–175, bezieht sich dagegen auf eine außerhalb des Textes liegende Wirklichkeit. Er sucht eine Erklärung für das Phänomen in historischen Umständen, die zu seinem Bild des historischen Jesus passen. Jesu „selective geographical radius“ (149.162) stelle insofern ein prophetisches statement dar, als er Jesu „world of the marginalized losers“ (162) entspreche und Gottes Option für die Armen zum Ausdruck bringe. Jesus lasse das aufstiegsorientierte jüdische Stadtmilieu, das sich mit einem hellenisierten Lebensstil arrangiert habe, links liegen (162). 75 Zur Einzelauslegung vgl. P.-G. K, Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter – Mk 2,1–12 (Mt 9,1–8; EvNik6), in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 134–150. 76 Zum Problem der Lokalisierung am östlichen Seeufer und zu den textkritischen Varianten der Ortsangabe vgl. A. Y. C, Mark (Hermeneia), Minneapolis 2007, 263–264.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Die Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jaı¨rus nimmt ihren Ausgangspunkt am Ufer des Sees Genezareth. Dort erreicht Jesus der Notruf des Vaters (5,21–24). Beim Haus des Jaı¨rus angekommen, ähnelt das Setting der Szene dem der Erzählung von der Sturmstillung in 4,35–41. Thematisch geht es auch hier um den Konflikt zwischen Furcht und Glaube (5,36). Durch die Berührung des Kindes und die Aufforderung aufzustehen – ταλιθα κουµ (5,41) – wird der Raum zum Auferweckungszimmer. Die Verbformen εÍ γειρε und αÆ νε στη verweisen auf ein österliches Geschehen. Dieses soll auf Wunsch Jesu nicht nach außerhalb verbreitet werden. Das Auferweckungserlebnis bleibt im biographischen Raum der Familie. Auch der dritte Synagogenbesuch Jesu an einem Sabbat (6,1–6) läuft, nicht länger überraschend, auf einen Konflikt zu. In seiner Heimatstadt Nazareth findet Jesu Lehre keine Akzeptanz. Die Synagogenbesucher erkennen seine Autorität nicht an. Entsprechend bleibt sein Tun fast wirkungslos. Wieder gerät die Synagoge als Ort der Ablehnung Jesu in den Fokus. Bei seiner Aussendung der Zwölf spricht Jesus das Thema Haus explizit an. Der Raum, in dem die Gesandten Jesu mit ihrer Botschaft willkommen sind, ist positiv konnotiert (6,10). Die Verkündigung der Zwölf zielt auf die µετα νοια. Umkehr im Sinne eines Richtungswechsels hin zum Glauben an das Evangelium wurde schon in der Antrittspredigt Jesu in 1,15 eingefordert (6,12). Ein weiteres Mal geht es um den Moment der Krisis. Werden die Jünger abgewiesen, sollen sie sich mit einer Verwünschung abkehren (6,11). Selbst die Gefangenschaft des Täufers in der Festung Machairos im Ostjordanland steht mit einem Verkündigungsaspekt in Zusammenhang. Die Worte des Johannes rühren an das Gewissen des Herodes Antipas. Sie verlangen ihm eine Entscheidung ab. Mit der Tötung des Johannes löst sich Herodes gewaltsam aus seinem inneren Dilemma (6,21–29). Vom Verhältnis von Furcht und Glaube und der Erkenntnis Jesu handelt die Episode von der nächtlichen Bootsfahrt der Jünger und dem Seewandel Jesu (6,45–52).77 Nach der Debatte um rein und unrein erfolgt in Mk 7 die Belehrung der Jünger privatim im geschützten Raum eines Hauses (7,17–23). Hier bietet das Haus den Rahmen für die Sicherung und Vertiefung des erreichten Erkenntnisstandes. Jesu Begegnung mit der syrophönizischen Frau in 7,24–30 ist doppelt lokalisiert. Zum einen findet sie in der Gegend von Tyros, weit außerhalb der galiläischen Herkunftsregion Jesu, statt. Zum anderen werden gleich zwei Häuser erwähnt. In dem einen hält sich Jesus auf. Er ist inzwischen so prominent, dass sein Aufenthalt nicht verborgen bleibt. Die Frau hellenistischer Herkunft sucht ihn dort auf. In ihrem eigenen Haus herrscht ein unreiner Geist, der ihre Tochter 77 Zu den Affekten in der Szene vgl. N. N, Jesus überwindet Grenzen. Narrative Christologie im Markusevangelium, in: M.E. Fuchs/M. Hofheinz/N. Neumann (Hg.), Unterwegs in die Fremde. Narrative Christologie im Gespräch der Disziplinen, Stuttgart 2012, 11–38, 21–24.

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befallen hat. Die Geistthematik verbindet die Szene mit dem Geschehen in der Synagoge von Kapharnaum in Galiläa und dem Exorzismus im Gräberfeld von Gerasa in der Dekapolis. Auch im Ausland nahe Tyros bewirkt Jesus die Austreibung des dort hausenden Dämons. Der Geistträger Jesus ist grenzüberschreitend tätig – seine Auseinandersetzungen mit omnipräsenten dämonischen Geistern finden in architektonischen Bauwerken, Synagogen, Privathäusern, Gräberfeldern statt. Im baulich markierten Kulturraum setzt sein Geist sich durch. Die nächste geschilderte Bootsfahrt zeigt erneut eine krisenhafte Situation zwischen Jesus und seinen Jüngern. Obwohl Jesus kurz zuvor erst 5000 und dann 4000 Menschen gesättigt hat, geraten die Jünger in Unruhe, weil sie kein Brot mitgenommen haben. Dass sie in Person Jesu das eine Brot mit an Bord haben, realisieren sie nicht. Der Erzähler freilich weist seine Leserschaft gleich im ersten Vers darauf hin (8,14). Die Schlussfrage Jesu: Versteht ihr noch nicht? (8,21) stilisiert auch diese Bootsfahrt zu einer Entscheidungssituation. Im umschlossenen Raum des Bootes wird nach der christologischen Erkenntnis gefragt. In der Erzählung von der Heilung eines Blinden bei Bethsaida (8,22–26) hat der Schlussvers Irritationen ausgelöst. Jesus schickt den Geheilten in sein Haus und verbindet dies mit der Aufforderung: Gehe nicht in das Dorf hinein. Vorausgesetzt zu sein scheint, dass sich das Haus des ehemals Blinden außerhalb des Dorfes befindet. Unter dieser Voraussetzung macht es Sinn, zwischen den beiden Ortsangaben zu unterscheiden. Jesus möchte unterbinden, dass der Geheilte an den sozialen und kulturellen Ort zurückkehrt, an dem er zuvor als Blinder gelebt hat. Mit dem Rückkehrverbot verhindert Jesus, dass der nun Sehende in die alten Gepflogenheiten seines Lebens als Blinder zurückfällt. Mit geöffneten Augen soll er in den geschützten Raum seines Hauses zurückkehren. Wie zuvor Häuser die Räume bildeten, an denen Jesus dem guten Geist Gottes zum Durchbruch verhalf, so stellt das Haus hier den Ort dar, an dem die gewonnene Sehfähigkeit bewahrt und bewährt wird. In 8,29 wird das Christusbekenntnis συÁ ειË οë χριστο ς im wahrsten Sinne des Wortes en passant in die Handlung eingeführt. Die Szene spielt unter freiem Himmel während der Wanderung. Warum das Bekenntnis des Petrus Reserve bei Jesus auslöst, wird aus der Rückschau der Passionsgeschichte deutlich. In 14,61 begegnen die Worte des Petrus in identischer Form ein zweites Mal. Beim Verhör richtet der Hohepriester sie als Frage an Jesus. Als Jesus diese bejaht, besiegelt das sein Todesurteil. Im Kontext der Passionserzählung fällt die Entscheidung gegen Jesus im umbauten Raum am Sitz des Hohepriesters (14,54). Der Christustitel bringt Jesus zu Fall. Im feindlichen Ambiente verkehrt sich die im Grundsatz richtige Aussage zur Waffe gegen Jesus. Wie die Erkenntnis der Person Jesu durch Fehleinschätzungen und dämonische Verzerrung getrübt wird, zeigt die Verknüpfung der Verklärungsszene mit der Heilung des epilepsiekranken Kindes eines glaubend nicht-glaubenden Vaters (9,2–29). Den Einfall des Petrus, auf dem Berg der Verklärung drei Hütten für Jesus, Mose und Elia zu bauen, weist der Erzähler als abwegig zurück (9,5–6).

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Wiederum ein Haus in Kapharnaum ist anschließend der Ort, an dem Entscheidungen zur Nachfolge gefragt sind (9,33–50). Statusfragen der Jünger, das Verhalten gegenüber einem fremden Wundertäter, der Umgang mit eigenen Versuchungen – das Stakkato der Probleme spiegelt atmosphärisch den Druck, richtige Entscheidungen zu treffen. Die folgende Szene lässt demgegenüber aufatmen. Jesus tritt aus der Enge des Hauses in die Weite der Landschaft. Judäa und Transjordanien, d.h. Peräa, werden als geographische Räume geöffnet. In ihnen entfaltet Jesus der Menschenmenge seine Lehre (10,1). Im offenen Raum konfrontieren ihn die Pharisäer mit der Frage, wie er über die Ehescheidung denkt. Jesu öffentlicher Antwort folgt im geschlossenen Bereich eines Hauses die weiter reichende Auskunft an die Jünger (10,10–12). Im Jerusalemer Tempel (11,11.15) spitzt sich der Konflikt mit den dortigen Autoritäten zu (11,18). Jesu rigorose Reinigungsaktion nehmen die Hohepriester und Schriftgelehrten zum Anlass, Jesus nach dem Leben zu trachten. Bei seinem nächsten Betreten des Tempels in 11,27 fordern sie Rechenschaft von ihm, woher er seine Vollmacht bezieht. Mit einer Gegenfrage macht Jesus die Fragesteller auskunftspflichtig (11,30). Ein weiteres Mal verfestigt sich der Eindruck: Die Markusbauten verlangen Entscheidungen ab. Das macht sie zu kritischen Orten. Der umzäunte Weingarten in 12,1–12 fügt sich diesem Muster ein. Im Gleichnis von den verwerflichen Pächtern geht es um Gehorsam oder Ungehorsam gegenüber dem Herrn des Weinbergs und seinem Sohn. Wie zuvor im Tempel fallen auch an diesem Kulturort Entscheidungen über Leben und Tod. In drei weiteren Szenen im Tempelbezirk in 12,35–44 widerspricht Jesus der schriftgelehrten Verhältnisbestimmung zwischen Christus und David. Hier ist ein hermeneutisches Urteil über das hierarchische Verhältnis beider zueinander gefordert. Anschließend polemisiert Jesus gegen das Autoritätsgebaren der Schriftgelehrten. Er erhebt das Verhalten der armen Witwe zum Vorbild gottesfürchtigen Verhaltens. Beide Momentaufnahmen wollen eine Stellungnahme provozieren. Mk 13 unterzieht die menschliche Bewunderung für Steine und Bauwerke einer kritischen Revision. Mit einem vaticinium ex eventu lässt der Erzähler Jesus für den Tempel prophezeien, was in der Gegenwart der Gemeinde Wirklichkeit ist: Kein Stein wird hier auf dem anderen stehenbleiben (13,2). Für die Zukunft kündigt sich an: In der Zeit nach dem Tempel werden architektonische Bauten nicht die Zentralorte für den Glaubensvollzug sein. Die Gebäude, die in der Endzeitrede genannt werden, sind durchgängig mit katastrophalen Begebenheiten konnotiert: An die Gerichte (συνε δρια) werden die Anhänger Jesu ausgeliefert, in den Synagogen geschlagen werden (13,9). In Umkehrung von Mk 2,5 wird gepriesen, wer auf dem Dach bleibt und nicht zu seinem eigenen Verderben in das Haus hinabsteigt (13,15). Mk 13,33–36 thematisiert das Haus mittels einer Parabel78 als ein Gebäude, das zu größter Wachsamkeit verpflichtet. Im Haus wird 78

D. D, Seid wachsam (Vom spät heimkehrenden Hausherrn) Mk 13,30–33.

5.6 Umbauter Raum und freie Natur

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der wiederkommende Kyrios erwartet. Den Kairos seiner Wiederkunft gilt es nicht durch Einschlafen zu verpassen. Im Eingang der Passionsgeschichte salbt eine Frau das Haupt Jesu mit kostbarem Nardenöl (14,3–9). Die Handlung spielt in Bethanien im Hause eines Stigmatisierten, Simons, des Aussätzigen. Das Geschehen könnte, wie Jesus selbst in V.8 ausspricht, eine vorweggenommene Totensalbung bedeuten. Zugleich ist die Salbung transparent dafür, Jesu Status als Christus mit seiner Passion zu verknüpfen.79 Dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern geht die Suche nach einem Raum voran. Unter der Maßgabe, dass architektonische Räume den Rahmen für kritische Ereignisse bilden, weist bereits die Raumsuche auf Entscheidendes voraus. Dem entspricht die erste Aussage Jesu am Abend bei Tisch. Jesus kündigt das Zerbrechen der Jüngergemeinschaft an: Einer von euch, der mit mir isst, wird mich verraten (14,18). Der Garten Gethsemani in 14,32 steht für einen halboffenen Raum. Er bildet ein kultiviertes und abgegrenztes Gelände, jedoch ohne Gebäude und am Rand der Stadt gelegen. In Gethsemani steht Jesu Geschick auf der Kippe und ist am Ende der Szene entschieden. Das Verhör Jesu nach seiner Verhaftung findet im Palast des Hohepriesters statt (14,55–65). Dieses Gebäude wird zum Behältnis für die Überantwortung Jesu zum Tode. Ausgangspunkt ist das in 8,29 erstmals ausgesprochene Christusbekenntnis. Im Mund des Hohepriesters löst es das Todesurteil gegen Jesus aus. Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? (14,61). Jesu zustimmende Antwort münzt der Hohepriester mit aggressivem Gestus in einen Blasphemievorwurf um. Er erwirkt die lautstarke Unterstützung für das Todesurteil. Im Haus der obersten Repräsentanten der jüdischen Kultgemeinde wird nach markinischer Darstellung vollzogen, was in den Todesbeschlüssen in der Synagoge in 3,6 und im Tempel in 11,18 auf den Weg gebracht wurde. Das architektonische Dreieck aus Synagoge, Tempel und Amtssitz des Hohepriesters wächst im Erzählduktus zu einem jüdischen Megabau, in dem Jesus zu Fall gebracht wird. Umrahmt wird die Verhörszene von dem zeitgleich stattfindenden Geschehen im Vorhof (14,66–72).80 Dort gerät Petrus in eine lebensgefährliche Bekenntnissituation. In dieser entscheidet er sich gegen die von ihm erkannte Wahrheit. Mit der Verleugnung Jesu geht er auf Distanz zu seinen eigenen in 8,29 formulierten

34–37 (Lk 12,35–38), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 374–381, 380: „Die Parabel wird allgemein zu den so genannten ,Parusiegleichnissen‘ gerechnet.“ 79 Das Spektrum der Interpretationen fasst G. G, Das Evangelium nach Markus (ZBK NT 1), Zürich 2017, 324–325, zusammen. 80 Zur markinischen Technik der Verschachtelung vgl. G. V O, Intercalation and Irony in the Gospel of Mark, in: F. Van Segbroeck/C.M. Tuckett/G. Van Belle/J. Verheyden (Eds.), The Four Gospels 1992, FS Frans Neirynck, 3 Volumes, Volume II, BETL 100, Leuven 1992, 949–974, 965–973.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Worten. Was er unter freiem Himmel ausgesprochen hatte, nimmt er im umbauten Raum zurück. Das letzte Gebäude, in das Jesus zu Lebzeiten gebracht wird, ist das Prätorium des römischen Präfekten Pilatus. Dort gelangt Jesu Erniedrigung zu ihrem vorläufigen Höhepunkt. Am Sitz der obersten staatlichen Autorität leben die römischen Soldaten ihre niedersten Triebe gegen ihr Opfer aus. Die Kreuzigung Jesu findet einerseits gut sichtbar an erhöhter Stelle auf Golgotha außerhalb der Stadtmauer unter freiem Himmel statt (15,33–39). Der Lokalisierung im Freiraum wohnt ein Verkündigungsaspekt inne. Andererseits liegt für drei Stunden ein schwarzer Schatten über dem Geschehen. Er verlegt die letzten Stunden Jesu in eine Dunkelkammer. Die Schwärze macht sinnenfällig: Die Szene beschreibt die dunkle Stunde der Menschheit. Diese steht im Begriff, den Gottessohn zu töten. Die letzten Worte Jesu ertönen demgegenüber wieder im Hellen (V.34).81 Das charakterisiert sein Sterben in soteriologischer Hinsicht als ein lichtes Geschehen.82 Mit V.38 gelangt ein unerwarteter Seitenblick zum östlich gelegenen Tempel in die Golgotha-Szene hinein. Im Moment des Todes Jesu zerreißt der Tempelvorhang von oben bis unten. Das legt den Blick in das Allerheiligste frei. Die Zeugen der Hinrichtung Jesu können das Geschehen von außerhalb der westlichen Stadtmauer nicht sehen. Der Erzähler zieht jedoch eine Blickachse von Golgotha zum Tempelinneren. Er stellt einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Geschehnissen her. Aus jüdischer Sicht stellt die Entblößung des Allerheiligsten eine Katastrophe dar. Der Ort der Offenbarung Gottes ist den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben. Die christusglaubende Erzählerperspektive setzt damit jedoch eine christologische Pointe. Sie verknüpft den Zugang zu Gott mit dem Tod Jesu auf Golgotha. Der letzte architektonische Ort, an den Jesus verbracht wird, ist das Grab, das Joseph aus Arimathäa zur Verfügung stellt (15,46; 16,2). Auf der Linie aller vorherigen Szenen, die in umbauten Räumen stattfinden, passiert auch an der Grabstätte Jesu Entscheidendes. Der weißgekleidete junge Mann fügt seiner Auferweckungsbotschaft den Hinweis hinzu: Siehe der Ort/die Stelle, wo sie ihn hinlegten (16,6). Die aktivische Formulierung des Verbs τι θηµι verweist auf die menschliche Verantwortung für die Hinrichtung Jesu. Menschen haben Jesus buchstäblich ins Grab gebracht.83

81 Vgl. die Einzeichnung von Mk 15,34 in den Kontext griechisch-römischer Tradition bei J.M. S, Famous (or Not So Famous) Last Words. Last and Dying Words in GrecoRoman Biography and Mark 15:34 Revisited, in: R.M. Calhoun/D.P. Moessner/T. Nicklas (Eds.), Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospel Genre(s), WUNT 451, Tübingen 2020, 307–333, 325–331. 82 Vgl. P.-G. K, Das Sterben Jesu als Schauspiel in Lk 23,44–49, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 144–171, 149–156. 83 Die matthäische Version in Mt 28,6 hebt demgegenüber dezidiert auf den Ort im Grab ab: Seht den Ort/die Stelle, wo er lag.

5.7 Die Welt als Kampfplatz rivalisierender Geister

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Während es in den architektonischen Räumen durchgängig zu krisenhaften Begebenheiten kommt und der Erzähler eine breite Palette von Schwierigkeiten schildert, die dem Wirken Jesu entgegenstehen, künden die Episoden in der Natur von einem Aufatmen. Die zentralen Ereignisse der markinischen Jesuserzählung finden unter freiem Himmel statt.84 Das betrifft Jesu Taufe im Jordan, die Verklärung auf einem Berg, die Kreuzigung außerhalb der Mauern am westlichen Stadtrand, die Ostererzählung vor dem leeren Grab. Vordergründig mag darin die Tatsache einen Widerhall finden, dass nach dem vierjährigen jüdisch-römischen Krieges viele Versammlungsräume in Galiläa, Judäa – von Jerusalem nicht zu sprechen – zerstört sind. In erster Linie jedoch zeugt die Privilegierung der Verkündigung unter freiem Himmel von der Gottunmittelbarkeit der Predigt und des Wirkens Jesu und der Öffnung seiner Botschaft in alle Richtungen. Der kommende Menschensohn wird laut Mk 13,27 seine Auserwählten aus allen vier Himmelsrichtungen vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels versammeln. Der Auftrag, den Auferweckten zu suchen, erfolgt am Ostermorgen im Freien vor dem Grab. Die Frauen werden auf eine Heimreise geschickt. Den aufweckten Jesus werden sie und Petrus und die Jünger nicht auf einem Jerusalemer Friedhof des Jahres 30, sondern in ihrer galiläischen Heimat finden (16,7). Im Gesamtablauf der Erzählung wechseln bei Markus In-door- und Out-doorBegebenheiten einander ab. Auf Szenen innerhalb von Gebäuden folgen im Rhythmus von Einatmen und Ausatmen Episoden unter freiem Himmel. Die Christusverkündigung muss in die Weite. Die spannungsgeladenen Momente in den umbauten Räumen lassen Leserin und Leser die Luft anhalten und anschließend aufatmend mit Jesus ins Freie aufbrechen. Die markinische Orientierung an dem Jesus von Gott verliehenen Pneuma findet in der räumlichen Strukturierung der Evangelienschrift ihr Pendant. Das Markusevangelium als Ganzes wird zum Körper, der vom Ein- und Ausatmen des Pneumas erzählt.

5.7 Die Welt als Kampfplatz rivalisierender Geister Pneuma ist eine Energie, die Menschen in einer numinosen Wirklichkeit zufließt.85 Im Markusevangelium wird es Jesus bei seiner Taufe vertikal von oben aus den Himmeln gesandt.86 Eine nicht präzisierte Stimme, die jedoch aufgrund ihrer Aussage als die Stimme Gottes zu identifizieren ist, stellt fest, wer der Täufling im Blick auf Gott ist. Der Jesus hier verliehene Geist bleibt lebenslang die treibende Kraft in seinem Wirken. Er besitzt die Fähigkeit eines handelnden

Vgl. S, Saat des Evangeliums (s. Anm. 31), 118. Vgl. J. K, Artikel πνευÄ µα, EWNT III, Stuttgart/Berlin/Köln 21992, 279–291, 281. 86 Damit beginnt „ein kosmischer Kampf zwischen Geist und Satan in der Geschichte“. R, Geschichtsverständnis (s. Anm. 40), 103. 84

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Subjekts und steuert das Handeln Jesu (Mk 1,12).87 Im Moment des Todes verlässt er Jesus wieder (Mk 15,37.39). Auf die Menschen wirken neben dem von Gott verliehenen Pneuma auch Geistkräfte anderer Herkunft ein. Sie entwickeln destruktive Gewalt. Menschen, die von solchem Geist befallen sind, erweisen sich als besessen. An ihnen wird sichtbar, wie dämonische Kräfte ihre Macht entfalten. Auch in überindividuellen menschlichen Verhaltensweisen zeigt sich, wes Geistes Kind jemand ist. Geister unterschiedlicher Art steuern die Handlungsweisen der Menschen in der erzählten Welt des Markus. Je nachdem, welchem Bereich einer göttlichen oder paragöttlichen Welt sie angehören, üben sie ihre Wirkung aus. Sie leiten die Lebensäußerungen der Menschen. Umgekehrt lassen die Worte und Verhaltensweisen der Menschen erkennen, welcher Geist sie leitet. Trotz der Fremdbestimmung, die einen starken Einfluss auf die Personen und ihre Handlungen ausübt, wird der Mensch im Markusevangelium nicht zur Marionette eines fremden Willens.88 Seine konkreten Handlungen bleiben selbstbestimmt. Die Tatsache, dass der Mensch geistgetriebenen Einflüssen unterliegt, entschuldigt ihn nicht. Entsprechend ist er verantwortlich für sein Tun. Zugleich stellt er einen Resonanzraum für geistig-geistliche Vorgänge dar, die in seinem Verhalten durchklingen und die Ausdruck einer überindividuellen Wirklichkeit sind. An ihr partizipiert der einzelne Mensch; von ihrem Einfluss legt er mit seinem gelebten Leben Zeugnis ab. Änderungen des Lebensstils und Korrekturen im Verhalten dokumentieren Wandlungen im Verhältnis zu den dominierenden Mächten. Für das Markusevangelium ist signifikant, dass die Personen nicht in einem neutralen Raum agieren und darin unbeeinflusst ihr Handeln entwickeln. Sie finden sich in einem Gesamtzusammenhang vor, der durch Kräfte unterschiedlicher Art bestimmt ist. Alle Personen einschließlich Jesus stehen daher immer auch in Auseinandersetzung mit diesen Energien. Daher wirken ihre Verhaltensweisen teilweise wie direkte Konsequenzen oder Ausdrucksweisen solcher sie bestimmenden Mächte. Aufs Ganze gesehen leitet eine polare Weltsicht die Jesuserzählung nach Markus.89 Zwei Geister rivalisieren um die Herrschaft über den Menschen. Bei der 87 G.B. B, Beelzebul vs. Satan: Exorcist Subjectivity and Spirit Possession in the Historical Jesus, in: J. Verheyden/J.S. Kloppenborg (Eds.), The Gospels and Their Stories in Anthropological Perspective, WUNT 409, Tübingen 2018, 7–27, 7.27, verlagert das Thema „‘spirit’ possession“ Jesu auf die Ebene des historischen Jesus. 88 Die Rückfrage von M. M, Rez. zu P.-G. Klumbies, Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, ThLZ 144 (2019), 1005–1007, 1007, ob der Widerstand jüdischer Autoritäten gegen Jesus nicht eher „willentliche(r) Selbstverweigerung“ als einer verhängnisvollen „,Dämonie‘“ anzulasten ist, besitzt insofern ihr Recht, als das Handeln des Menschen bei Markus nicht einseitig einer göttlichen Macht, die über den Menschen kommt, zuzurechnen ist, sondern die Fähigkeit des Menschen zur Entfaltung seines Willens gewahrt bleibt. 89 So auch C, Mark (s. Anm. 76), 153. Anders L. F, Monster Theory and the Gospels: Monstrosities, Ambigous Power and Emotions in Mark, in: J. Verheyden/J.S. Klop-

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Taufe Jesu öffnen sich die Himmel und der Geist steigt auf Jesus herab. Dieses Ereignis wird als ein optisch wahrnehmbarer Vorgang dargestellt. Das entspricht mythischer Vorstellungsweise. Geistig-geistliche Qualitäten werden in mythischen Erzählungen in der Regel personhaft als Götterwesen greifbar. In der erzählten Welt des Judentums zur Zeit Jesu metaphorisiert der Erzähler in Mk 1,10.11 diesen Vorgang. Das Bildwort von der Taube wandelt den mythischen Realismus in eine metaphorische Aussage. Das zeugt gleich zu Beginn der Erzählung von der Richtung des markinischen Umgangs mit dem Mythos. Einerseits bildet der Mythos eine geistige Grundlage des markinischen Denkens. Andererseits bleibt die Reichweite des Mythos bei Markus insofern begrenzt, als der monotheistische Gottesgedanke ebenso wie das Verständnis von Tod und Auferweckung Jesu polytheistischen bzw. zyklischen Tendenzen entzogen bleiben. Mit der Verleihung der Geistesgabe wird das relationale Verhältnis zwischen Vater und Sohn sichtbar zum Ausdruck gebracht. Christologisch betrachtet liegt hier ein dezenter Hinweis auf den Vorstellungsrahmen der Präexistenzchristologie vor. Auch wenn die Taufszene in Mk 1,9–11 den Beginn der Sohn-VaterBeziehung schildert, wirkt sie gleichzeitig wie die Abbildung der bereits bestehenden Relation zwischen Gott und Jesus, die nun öffentlich gemacht wird. Mit V.12 wird der Geist selbst als Handlungsträger und agierendes Subjekt vorgestellt. Er ist es, der Jesus – grammatikalisch als Objekt benannt – in die Wüste treibt. Das Wüstenmotiv erscheint damit nach der Zitation von Jes 40,3 LXX in V.3 und dem Bezug auf Johannes den Täufer in V.4 zum dritten Mal in der Eröffnung des Markusevangeliums. Das prophetische Rufen in der Geschichte Israels, das Taufen des Johannes und der erste Gang des Geistträgers Jesus sind mit der Wüste verknüpft. Die Wüste wird zum Bild für die Welt, in der Rufer, Umkehrprediger und Geistträger wirken.90 V.13 verwendet das Wort Wüste ein viertes Mal. Dabei ruft die Vierzigzahl mit ihrem Anklang an die Wüstenwanderung der Moseschar nach dem Exodus ein weiteres Mal die Geschichte Israels auf.91 Unterschwellig schwingt in der Anspielung auch eine Richtungsangabe mit. Die Einwanderung in das Land Kanaan erfolgte seinerzeit von Osten her über den Jordan. Jesus, der Träger des göttlichen Geistes, begegnet den Versuchungen des Satans als des obersten der gegengöttlichen Mächte einerseits am wüsten Ort in lebensfeindlicher Umgebung. Andererseits wird dieses Zusammentreffen mit der Erinnerung an das grundlegende Heilsereignis der Geschichte Israels, das Betreten des gelobten

penborg (Eds.), The Gospels and Their Stories in Anthropological Perspective, WUNT 409, Tübingen 2018, 29–52, 39. Sie ist der Meinung, alle übermenschlichen Wesen im Markusevangelium gehörten derselben Sphäre an. Die Aktionen aller, Jesus eingeschlossen, seien „part of the deity’s plan“. 90 Vgl. G, Markus (s. Anm. 79), 36–37. 91 Zurückhaltend im Blick auf einen Nachhall alttestamentlicher Wüstentraditionen urteilt Guttenberger. Sie hält eine Anspielung auf die Paradiesesvorstellung in ApkMos für denkbar. G, Markus (s. Anm. 79), 47.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Landes, verknüpft und unter die heilvolle Blickrichtung von Ost nach West gestellt. Die Verse 12 und 13 führen Jesus mit einem Duell in der Wüste in die Handlung ein. Die beiden führenden Repräsentanten der Geister, die in einer wüsten Welt um die Vorherrschaft ringen, treffen unmittelbar aufeinander. Wilde Tiere und Engel verkörpern den jeweiligen Hofstaat. Sie stehen für die Entourage beider Machtträger. Diese Begegnung bestimmt die Ausgangslage für das Wirken Jesu. Seine Aufgabe als Agent Gottes besteht im Rahmen der markinischen Darstellung ab jetzt darin, den ihm innewohnenden göttlichen Geist auszubreiten. Seinem satanischen Widersacher begegnet er im Folgenden wiederholt in Gestalt von dessen Trabanten. Dämonen, die die Herrschaft über Menschen erlangt haben, treten ihm in Mk 1,21–28 in der Synagoge von Kapharnaum in Person des Besessenen und in Mk 5,1–20 im Gräberfeld von Gerasa in Gestalt des Gefesselten entgegen.92 Im Gewand von Geisteshaltungen und emotionalen Verhärtungen begegnet ihm der gegengöttliche Geist in Verbohrtheit, Aggression und Gewaltbereitschaft. Die Welt, in der Markus Jesus wirken sieht, ist ein Kampfplatz zwischen guten und bösen Mächten. Der Antagonismus von göttlichem Geist und dämonischen Geistern legt eine Hell-dunkel-Polarität und damit einen Dualismus über die Darstellung.93 Im Spannungsbogen der erzählten Handlung gelangt die Geistthematik mit der Darstellung des Sterbens Jesu bei seiner Kreuzigung zu ihrem Höhepunkt. Als Wort für das Versterben Jesu verwendet der Erzähler in Mk 15,37 und 15,39 das Verb εÆ κπνε ω. Die Formulierung εÆ ξε πνευσεν, die den gemeinsamen Stamm mit dem Substantiv πνευÄ µα erkennen lässt, bedeutet dem Sinn nach: den Geist aushauchen, entgeisten. Der Geist verlässt Jesus im Moment seines Todes. Jesus atmet ihn aus.94 Das stellt vor die Frage, wohin der Geist mit dem Tod Jesu entweicht. Bei seiner Taufe hatte Jesus das Pneuma vertikal von oben empfangen. Mit seinem Tod beginnt dieser Geist sich horizontal auszubreiten. Die Worte des römischen Centurio, den als Leiter des Hinrichtungskommandos nichts zu der solennen Bekenntnisformulierung qualifiziert, die er in Mk 15,39 über den soeben Verstorbenen ausspricht, signalisieren: Ausgerechnet der Jesus fernstste92 Zu den Ähnlichkeiten zwischen den beiden Szenen vgl. S. O’C, Beyond Power – Jesus and the Spirit in Mark, in: G. Van Oyen (Ed.), Reading the Gospel of Mark in the Twenty-First-Century. Method and Meaning, BETL 301, Leuven/Paris/Bristol, CT 2019, 679–690, 680; C. F, L’Evangile selon Marc (CNT 2), Paris 2004, 197–198. 93 Das „Phänomen der Dualität bei Markus“ und eine „entsprechende binäre Grundorientierung“ thematisiert auch R.  B, „Er ist nicht hier […] Er geht euch voraus nach Galiläa“ (Mk 16,6f.): Die Bedeutung des Erzählschlusses für die narrative Topographie des zweiten Evangeliums, in: G. Van Oyen (Ed.), Reading the Gospel of Mark in the TwentyFirst-Century. Method and Meaning, BETL 301, Leuven/Paris/Bristol, CT 2019, 39–68, 46 bzw. 47. 94 Vgl. die übereinstimmende Wahrnehmung bei J.E. A C, The Gospel of Mark. A Theological Reading, Biblical Studies from the CBA No. 10, New York/Mahwah 2024, 43.

5.7 Die Welt als Kampfplatz rivalisierender Geister

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hende Mensch spricht Worte, zu denen ihn der soeben entwichene Geist befähigt. Der Hauptmann wird im Augenblick des Todes Jesu zum ersten Menschen, der die Sohnesbeziehung zwischen Gott und Jesus bekundet. Im Unterschied zum richtungslosen Dabeistehen der Schaulustigen in V.35 wird seine Anwesenheit durch den Hinweis εÆ ξ εÆ ναντι ας αυÆ τουÄ der Beliebigkeit entnommen. Der Erzähler verbindet den Soldaten und Jesus durch eine direkte Blickachse und macht ihn zum ersten menschlichen Zeugen der Gottessohnschaft Jesu. Am markinischen Karfreitag ereignet sich ein pfingstliches Geschehen. Mit dem Tod Jesu beginnt der von Gott stammende Geist sich unter den Menschen auszubreiten. Die Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu macht den Ausruf des Centurio zu einem österlichen Bekenntnis. Bei Markus fallen Karfreitag, Ostern und Pfingsten in einem Datum zusammen.95 Der chronologischen Koinzidenz entspricht die theologische. Markus präsentiert das Sterben Jesu unter pneumatheologischer Perspektive. Mit dem Tod Jesu beginnt das pfingstliche Geschehen der Ausbreitung des Geistes Gottes unter den Menschen. War das göttliche Pneuma zu Lebzeiten Jesu die exklusive Qualität des Protagonisten der markinischen Gemeinde, geht es im Moment seines Todes in die Gemeinschaft der Bekennerinnen und Bekenner über. Der vertikal erfolgten Geistverleihung an den einen wird mit dem Tod Jesu die horizontale Ausbreitung an die vielen hinzugefügt. Der Hauptmann steht als exemplarische Gestalt für die, die ab jetzt vom Geist erreicht werden. Bekenntnis und Geist stellen die zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Geistbesitz ist die Grundlage der Bekenntnisbildung, und das Bekenntnis verweist auf den Geistempfang zurück. Der Auffassung, dass das Markusevangelium „keine umfassende Pneumatologie“96 entfaltet, ist zu entgegenzuhalten, dass es wie bei einem erzählenden Text nicht anders zu erwarten keine Lehre über das Pneuma gibt, der markinische Jesus jedoch innerhalb der Erzählung der Geistausbreiter par excellence ist.97 Sein Wirken während der geschilderten Lebenszeit besteht aus dem verdichteten Bemühen, dem ihm von Gott verliehenen Geist Raum zu verschaffen, und das in einer Welt, die von konkurrierenden Geistern bevölkert ist. Mit seinem Tod zieht der Jesus innewohnende Geist in die Gemeinschaft derer ein, die ihn als Sohn Gottes bekennen. Der mit dem Aushauchen des Geistes besiegelte Endpunkt des Lebens Jesu wird zum Ausgangspunkt der auf seinen Tod bezogenen Gemeinschaft der Glaubenden. In diesem Sinn wird der Tod Jesu bei Markus zu einem initialen Heilsgeschehen.

Vgl. K, Jesuserzählung (s. Anm. 26), 33. So S, Theologie (s. Anm. 39), 388. 97 So die These von A C, Gospel of Mark (s. Anm. 92), 1–2.12.109–110. Demnach spielt der Geist bei Markus durchgängig eine wichtigere Rolle, als üblicherweise angenommen wird. J.E. A C, A Theological Reading of εÆ ξε πνευσεν in Mark 15:37, 39, CBQ 78 (2016), 682–705, 705, weist zu Recht darauf hin, dass die Bedeutung der markinischen Pneumatologie häufig zu wenig gesehen wird. 95

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

5.8 Menschen als Besessene und Belastete: Die anthropologische Situation Welche und wie geartete Geister die Menschen beherrschen, wird am Auftreten, den Verhaltensweisen, den Worten und Gedanken der Personen sichtbar, die in der markinischen Welt vorkommen. Abgesehen von dem guten Gottesgeist, der Jesus erfüllt und den auszubreiten Jesus sich in seinem Wirken und Reden bemüht, ist die Welt, in der Jesus sich bewegt, ein Schauplatz zerstörerischer Geister und ein Sammelbecken beschädigter Menschen. In seinem Bemühen, dem göttlichen Geist Raum in den menschlichen Beziehungen zu verschaffen, stößt Jesus auf Widerstände und Hindernisse. Personen unterschiedlichen Standes und in unterschiedlichen Lebenslagen missverstehen ihn, weisen seine Initiativen zurück, verhalten sich ihm gegenüber feindlich. Jesus agiert in einer Welt, die den einen als Bühne für Machtdemonstrationen und den anderen als Arena dient, auf bzw. in der sie um hierarchische Positionen kämpfen. Die Begegnungen Jesu mit Besessenen98 in wahnhaften Extremzuständen in Mk 1,21–28 und 5,1–20 werfen ein Licht darauf, wie Jesus von seiner Umgebung wahrgenommen wird. Andere Szenen schildern weniger spektakuläre Situationen. Sie erzählen Begebenheiten, die so oder in ähnlicher Form charakteristisch für viele Lebensgeschichten sind. Menschen stehen unter dem Druck von Alltagsanforderungen. Die Belastungssituationen, in denen sie sich befinden, lassen hervortreten, welche Zwänge und Mächte sie beherrschen. Unter anthropologischer Perspektive begegnen Menschen bei Markus als Besessene, als Ausgegrenzte und aus der Gemeinschaft Ausgeschlossene, als Geängstete, als Zweifelnde, als Leidende, denen ihre Behinderungen und Krankheiten zu schaffen machen, als in sich selbst verstrickte Personen, die einzig sich selbst im Besitz von Wahrheit wähnen, als sich vorlaut überschätzende Personen, als Menschen mit Größenphantasien, als Konkurrierende und ebenso als Lügner und Feiglinge. Alle diese Lebensäußerungen verweisen zurück auf einen Geist bzw. eine Kraft, die von ihnen Besitz ergriffen hat.99 Sie zeigen Menschen im Kampfmodus der Selbstbehauptung. Ihre Verhaltensweisen tun weder ihnen selbst noch den Personen um sie herum gut. Dem zerstörerischen Geist, der aus diesen Befindlichkeiten und Verhaltensweisen spricht, tritt Jesus als Träger des Gottesgeistes entgegen. Sein Wirken zielt auf die Ausbreitung des göttlichen Pneumas und die Veränderung der Atmosphäre des Zusammenlebens.

98 Zur Wahrnehmung des Menschen als eines Besessenen vgl. G. K, Der Mensch als Thema neutestamentlicher Theologie, ZThK 75 (1978), 336–349, 340–342. 99 R, Geschichtsverständnis (s. Anm. 40), 36, sieht zu Recht, dass „das Ringen zwischen Geist und Satan“ seinen Niederschlag in den Auseinandersetzungen Jesu mit seinen Zeitgenossen findet. So sind nach Robinson „die Streitigkeiten zwischen Jesus und den Juden“ „eine abgeschwächte Ausdrucksform für den kosmischen Kampf“, der in den Streitgesprächen zum Austrag kommt.

5.8 Menschen als Besessene und Belastete: Die anthropologische Situation

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Nachdem Jesus das Evangelium vom nahenden Gottesreich als Thema seiner Verkündigung vorgestellt (Mk 1,14–15) und mit Simon und Andreas sowie den Zebedaiden Jakobus und Johannes seine ersten vier Mitarbeiter um sich gesammelt hat, führt ihn die Erzählung zu seiner ersten Aktion. Sie findet zeichenhaft über sich hinausweisend am Sabbat in der Synagoge von Kapharnaum statt (Mk 1,21–28). Die geschilderte Episode besitzt programmatische Bedeutung für das gesamte folgende Wirken Jesu. Im Eingang der Perikope werden die Lehrtätigkeit Jesu und die entsetzte Reaktion der Synagogenbesucher darauf thematisiert (Mk 1,21–22). Der Erzählerkommentar notiert in Mk 1,22b: Der Grund für das Entsetzen der Schriftgelehrten liegt in der Andersartigkeit dessen, was Jesus formuliert. Seiner Lehre wohnt eine Vollmacht inne, die den Schriftgelehrten abgeht. Der Ausgang der anschließenden Auseinandersetzung Jesu mit einem unreinen Geist führt zu einem weiteren Erschrecken bei den Augenzeugen. Der Exorzismus wirft bei ihnen die Frage nach der Deutung des Geschehenen auf. Was ist das? (Mk 1,27). Die Antwort folgt auf dem Fuße, und sie versteht sich nicht von selbst. Der Vorgang wird als neue Lehre in Vollmacht bezeichnet. Das heißt, die Austreibung des unreinen Geistes, eine Aktion von großer Dramatik, wird als Lehrstück gesehen. Sowohl Jesu vollmächtiges Reden im Eingang als auch sein kraftvolles Agieren im Fortgang der Szene wird von den Anwesenden als διδαχη verstanden. Beides erzeugt Erschrecken bei den anwesenden Personen. Die zweifach berichtete starke emotionale Reaktion der Augen- und Ohrenzeugen impliziert eine ambivalente Gefühlslage.100 Jesu Agieren erzeugt einen Schauder, der zugleich anzieht und abstößt. Das Erlebnis fasziniert und distanziert in einem. Zugleich sind beide Handlungen durch ihren gemeinsamen Bezugspunkt als Lehre in Vollmacht aufeinander bezogen und illustrieren sich gegenseitig. Auch in dem auf den Begriff εÆ ξουσι α gebrachten Vorgang schwingt eine Zwiespältigkeit mit. Das Wort bezeichnet einerseits die besondere Autorität, die sich in dem Tun Jesu mitteilt, andererseits führt es an die Grenze dessen, was einem Menschen Gott gegenüber zugestanden werden kann.101 Erzählerisch vermittelt wird: Jesu Lehre ist ein Akt der Dämonenaustreibung. Jesus vollzieht seine Lehre wort- und tathaft. In der Synagoge bringt er einen dort wirkenden widergöttlichen dämonischen Geist zum Verschwinden. Das versetzt die Zuschauer in äußerste Erregung. Jesus hat sich als Träger des guten Gottesgeistes durchgesetzt. Er hat einen entgegenstehenden Geist ausgetrieben. Seine Lehre ist ein Exorzismus durch Wort und Tat, durch den das göttliche Pneuma Raum greift.102 Unter erzählstrategischen Gesichtspunkten wirft diese Eröffnungsszene des Wirkens Jesu ein unerfreuliches Licht auf den Sabbatgottesdienst und die Syn100 R, Vier Porträts Jesu (s. Anm. 5), 80, spricht von einem „gemischte[n] Gefühl“; „die Leute sind fasziniert und schockiert zugleich“ (79). 101 R, Vier Porträts Jesu (s. Anm. 5), 80, verwendet als korrespondierenden Gegenbegriff zu Autorität „,Willkür‘“. 102 Vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 216–222.

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agoge. Ausgerechnet von diesem zentralen Ort jüdischer Gottesverehrung wird behauptet, dass dort ein dämonischer Geist wirkt. Diesen treibt Jesus aus, so dass erst im Zuge seines Wirkens dort ein guter Geist einkehrt. Die kritische Wahrnehmung des Gottesdienstes am Sabbat in der Synagoge setzt sich im Verlauf des Markusevangeliums fort. 1,39 fasst in einer generalisierenden und distanzierenden Bemerkung zusammen, dass Jesus in ganz Galiläa in ihren Synagogen predigte und Dämonen austrieb. In 3,1 und 3,2 dienen die Begriffe Synagoge und Sabbat ebenfalls als Signalworte. Beide Termini kündigen an: Gleich wird es dort zu einem Konflikt kommen. Sie insinuieren die Konfliktträchtigkeit von Ort und Anlass selbst. Diese Konnotation wird von Matthäus und Lukas aufgegriffen und fortgeführt.103 Die harsche Tempelkritik Jesu in Mk 11,17 knüpft sachlich an das Urteil über die Synagoge an. Sie richtet sich als eine Invektive gegen den Tempel und den dort praktizierten Kult. Die zweite ausführlich geschilderte Dämonenaustreibung in Mk 5,1–20 beschreibt am Ende ausdrücklich die durch den Exorzismus veränderte Wirklichkeit. Nach der Vernichtung des unreinen Geistes – die Szene in V.9–13 spielt möglicherweise auf die in Israel operierende römische X. legio fretensis an104 – wird der vormalig Besessene als von einem neuen, friedlichen Geist erfüllt beschrieben. Er sitzt ordentlich bekleidet und vernünftig da (V.15) und möchte sich Jesus anschließen (V.18). Dieser jedoch stellt ihn in den Dienst der Verkündigung des κυ ριος. Die Titulatur als solche verweist auf Gott. Sie ist aber innerhalb des Markusevangeliums teilweise auch transparent für Jesus selbst und rückt ihn in die Nähe Gottes.105 Der mit einem neuen Geist Erfüllte folgt diesem Auftrag und verbreitet die Kunde von dem Geschehen in der Dekapolis. Der Sieg des Geistträgers Jesus beginnt sich über diesen Zeugen und Boten in die Region der hellenisierten Städte östlich des Jordans hinein auszuwirken (V.20). Zur Signatur der unreinen Geister in Mk 1,21–28 wie in 5,1–20 gehört, dass sie Jesus mit einer hoheitlichen Titulatur ansprechen. Der Dämon in 1,24 antizipiert die auf ihn zukommende Vernichtung und identifiziert Jesus als den Heiligen Gottes. Der unsaubere Geist in 5,7 ist von der Furcht getrieben, gequält zu werden. Er tituliert Jesus in gesteigerter Weise als Sohn Gottes, des Höchsten. Beide Geister agieren in Angst um ihr Schicksal. Das führt sie zu Größenprojektionen auf Jesus. Ihre eigene Existenzangst erhebt ihn ins Gigantische auf eine Gott nahekommende Ebene. Ihr scheinbares Bekenntnis beruht auf dem Erleben der eigenen Nichtigkeit. Es stellt keinen Wert dar, der aus ihrer Relation zu Jesus erwächst. Um ihrem persönlichen Zugrundegehen zu wehren, bezahlen die Dämonen jeden Preis. In diesem Fall besteht er in der Bereitschaft, denjenigen zu vergotten, der sie anschließend hoffentlich verschonen wird. Vgl. Mt 12,9–14 und Lk 4,16–30; 6,6–11;13,10–17; 14,1–6. Vgl. T, Lokalkolorit (s. Anm. 8), 116–17. „Spannungen zwischen den heidnischen Bewohnern der Dekapolis und den Juden sind der Anschauungshorizont von Mk 5,1ff“ (116). 105 Vgl. Mk 7,28, wo der Begriff allerdings nicht als Hoheitstitel, sondern als förmliche Anrede verwendet wird, und – doppeldeutig – Mk 11,3. 103 104

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Die unreinen Geister stehen in Mk 1 und Mk 5 für den Versuch, kompensatorisch vom Göttlichen als einer Gegenmacht zu sprechen, die erst aus der Defiziterfahrung geboren wird. Die Erfahrung des eigenen Ausgeliefertseins, die Angewiesenheit auf Verschonung, die blanke Not motivieren sie, demjenigen einen quasigöttlichen Status zuzubilligen, von dem sie sich Rettung erhoffen. Gleichzeitig soll ihr Akt der Ehrerbietung ihn motivieren, sie unangetastet zu lassen. Göttliche Verehrung erweist sich hier als Katastrophengeburt. Die Untergangsangst beschwört den Nothelfer. Diese Art religiöser Äußerung bewertet Markus als dämonisch. Er qualifiziert sie als die Glaubensweise unreiner Geister. Beide Exorzismen stehen im Dienst der theologischen Aufgabe, falsche Gottesbzw. Christusbindungen aufzudecken.106 Innerhalb der Gesamterzählung markieren die beiden Perikopen Etappen auf dem Weg zu dem Ziel, im Verlauf der weiteren Lektüre zu einer tragfähigen Christus- und Gottesbeziehung zu finden. Mk 7,24–30 und 9,14–29 erzählen von zwei Dämonenaustreibungen Jesu, die Kindern zur Rettung werden. In beiden Fällen kommt dem vorherigen Dialog Jesu mit je einem Elternteil der Kinder – der Mutter der Tochter (7,25–29) und dem Vater des Sohnes (9,17–24) – besondere Bedeutung zu. Offenkundig versteht es sich nicht von selbst, dass Jesus auch im Ausland, d.h. in der Gegend des syrophönizischen Tyros107 widergöttliche Geister austreibt. Immerhin ist damit aber ausgesagt, dass keinesfalls nur in Synagogen, also unter jüdisch lebenden Menschen unreine Geister begegnen, sondern ebenso Personen außerhalb Israels von ihnen beherrscht werden. Angesichts der geschickten Argumentation der Mutter des Kindes erscheint Jesu Tätigwerden auch jenseits der Landesgrenzen als unabweisbar und notwendig. In diesem Fall ist es der einsichtsvolle λο γος der Frau (7,29), ihr klug formulierter Gedanke, der nach Jesu eigener Aussage die Grundlage für das Verschwinden des Dämons gelegt hat. Auf der Ebene der Erzählung liefert der Dialog eine argumentative Begründung für das geistaustreibende Wirken Jesu jenseits jüdischer Kerngebiete. Unter theologischem Gesichtspunkt wird die Frage verhandelt, ob es einen Anspruch auf eine bevorzugte Behandlung durch Jesus gibt. Umgekehrt formuliert ist das der Gedanke, ob eine nichtjüdische Herkunft108 erst in nachgeordneter Weise ein Anrecht auf Hilfeleistung begründet. Ausgerechnet Jesus selbst vertritt in V.27 diese Position. Der Erzähler liefert also für diesen Gedanken eines 106 Dies ist freilich nur ein Aspekt der Szene. Die Verwunderung der Menschen in der Dekapolis (V.20) ist Ausdruck der richtigen Wahrnehmung, dass sich hier in Jesus eine göttliche Epiphanie ereignet hat; vgl. dazu N, Jesus überwindet Grenzen (s. Anm. 77), 29. 107 Vgl. R. L/H. S, Art. Tyros, DNP12/1 (2002), 951–955. In römischer Zeit erhielt Tyros den „Status einer metro´polis“. Im Jahr „198 n.Chr. wurde T. Hauptstadt der röm. Provinz Syria Phoenice“ (953). 108 Die Tochter ist unter zeitgeschichtlicher Hinsicht durch drei Handicaps gekennzeichnet: Sie ist weiblichen Geschlechts, aus jüdischer Sicht betrachtet Ausländerin, und ihre Mutter ist Heidin. Vgl. H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 92. B, Raum (s. Anm. 29), 230, weist auf die Parallelen von Mk 7,24–30 zu den Erzählungen von der Heilung der Tochter des Jaı¨rus und zur Rücksendung des geheilten Geraseners in sein Haus in Mk 5 hin.

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gestuften Rechts auf Errettung das stärkste Argument, das ihm erzählerisch zur Verfügung steht. Jesus als Protagonist der Handlung und Archeget der für die christusglaubende Gemeinde geltenden Normen macht sich eine Begründung zueigen, die offenkundig im Raum steht und in der Situation nach 70 diskutiert wird. Ihre Durchschlagskraft erhält die Botschaft der Erzählung dadurch, dass Jesus selbst sich von der Syrophönizierin überzeugen lässt (V.29). Wenn aber schon Jesus selbst diese Offenheit besitzt, um wieviel mehr gilt dann für die Erzählzeit nach 70, dass das Evangelium eine übernationale Angelegenheit ist. Die Erzählung von der Heilung des erkrankten Sohnes eines verzweifelt entschlossenen Vaters bewegt sich entlang einer weiteren Grenzlinie. In diesem Fall geht es nicht um die Bedeutung der nationalen und religiösen Zugehörigkeit für die Inanspruchnahme von Rettung. Diesmal geht es um die Grenze, die dem Glauben selbst innewohnt. Die Symptome des erkrankten Jungen in Mk 9 weisen auf Epilepsie. Allerdings stellt der Erzähler das Leiden des Jungen als Besessenheit durch einen stummen Geist dar (9,17).109 Das theologische Thema ist die Verhältnisbestimmung von Glaube und Unglaube.110 Der Vater ist laut V.24 ein Repräsentant des angefochtenen Glaubens. Er nimmt für sich in Anspruch zu glauben; und er gesteht gleichzeitig die Macht der spürbaren Not ein, die seinen grundsätzlich bejahten Glauben zu ersticken droht. Der Druck des Unglücks seines Kindes erschüttert seine Glaubensgewissheit. Verhandelt wird die klassische Theodizeefrage. Wie kann angesichts der Katastrophen in der Welt und im persönlichen Leben von einem liebenden Gott geredet werden? Wie soll der Vater Gottes Zuwendung glauben, wenn sein Sohn mit Schaum vor dem Mund in offenes Feuer fällt oder in einer Wasserlache zu ertrinken droht (V.22)? In einer dem Anschein nach gottleeren Welt zu glauben, kommt in logischer Hinsicht der Quadratur des Kreises gleich. Der Exorzismus Jesu greift in einem Moment, in dem der fragile Balanceakt zwischen Glaube und Unglaube zu kippen beginnt und der Glaube des Vaters angesichts der Not des Kindes zu unterliegen droht. Die Vertreibung des unreinen Geistes ist Jesu direkte Reaktion auf das Flehen des Vaters, ihm in seinem Unglauben beizustehen: βοη θει µου τηÄì αÆ πιστι αì . Das lässt sich übersetzen als: Hilf mir im Unglauben! im Sinne von: Hilf mir in meiner Situation des Unglaubens; vielleicht auch: Hilf mir gegen meinen Unglauben. Die Bitte ist der Ruf nach Beistand, damit im Moment der existentiellen Notlage nicht der Unglaube den Sieg davonträgt. Der Exorzismus Jesu bedeutet in dieser Situation: Jesus treibt den Geist des Unglaubens aus (V.25). 109 Zum Verhältnis von Epilepsie und dämonischer Besessenheit in den drei Fassungen der Erzählung in den synoptischen Evangelien vgl. P.-G. K, Die Dämonisierung der Epilepsie in Mk 9,14–29 parr, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 170–174. 110 T, Intratextual Strategies (s. Anm. 33), 277.282–285, stellt darüber hinaus den Zusammenhang mit der Auferweckungsthematik her und bezieht Mk 9,14–29; Mk 5,21–24.35–43 und Mk 16,1–8 aufeinander.

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Dass es darum geht, den Glauben angesichts der Bedrohung durch den Unglauben zu retten, unterstreicht das Nachgespräch zwischen den Jüngern und Jesus nach ihrem Heimkommen. Der kurze Austausch zeugt von einem Missverständnis, dem die Jünger unterliegen. Sie fragen Jesus: Warum konnten nicht wir dieses Pneuma austreiben (V.28)? Die Jünger beschäftigt die Besonderheit des zutage getretenen Leidens. Aus Jesu Antwort geht hervor, dass der Vorgang von ihm auf einer anderen Ebene wahrgenommen worden ist als von ihnen. Der Grund für das Unvermögen der Jünger liegt nicht in dem außergewöhnlichen Charakter der Epilepsie als heiliger Krankheit.111 Nur auf der Oberfläche der Erzählung wird für einen medizinischen Blick die Epilepsieerkrankung des Jungen sichtbar. Diese wird aber nicht als solche thematisiert. In der markinischen Fassung der Erzählung geht es nicht um die Therapie einer Epilepsieerkrankung. Vertrieben wird der Unglaube als die Ausdrucksform eines bösen Geistes und höchste Form der Anfechtung. Gegen diese Art von Besessenheit hilft nach Aussage Jesu ausschließlich das Gebet (V.29).112 Dass die ιë ερηÁ νουÄ σος die Leserschaft der ältesten Evangelienschrift nicht unberührt lässt, zeigen die Bearbeitungen der Perikope durch Matthäus und Lukas. Dort wird das Eigengewicht der Krankheit Epilepsie ausdrücklich zum Thema gemacht.113 Nicht als Besessene im engeren Sinn, aber als Belastete erscheinen Frauen und Männer, die unter Krankheiten und Behinderungen leiden. In der Regel ist es dabei so, dass die körperlichen Beeinträchtigungen mit einer geistlichen Störung einhergehen. Wiederholt bildet das Körpergebrechen die Außenseite einer tiefgreifenden immateriellen Problematik. Glaubensschwierigkeiten, seelische Verkümmerung und soziale Isolation spiegeln sich in den leiblich fassbaren Problemen. Diese Verflochtenheit von geistig-geistlicher und materieller Dimension kennzeichnet die mythische Weltwahrnehmung, die für das Markusevangelium grundlegend ist. Zahlreichen Einzelpersonen verhilft Jesus durch individuelle Heilungen zu neuer Gesundheit. Die erste Person, die Jesus heilt, ist eine Frau. Die febrile Schwiegermutter des Petrus befreit er von ihrem Fieber (Mk 1,29–31). Als Folge wird sie in einer Weise tätig, die laut Mk 10,45 die vornehmste Aufgabe des Menschensohns darstellt. ΔιακονειÄν bezeichnet auf der Außenseite ein Handeln mit sozialer Komponente.114 Im Kern verweist das Verb auf die Bindung zwischen 111 Zu dieser Thematik vgl. ausführlich R.  B, Christus der Arzt. Frühchristliche Soteriologie und Anthropologie im Licht antik-medizinischer Konzepte, BWANT 234, Stuttgart 2022, 125–156. 112 Vgl. T. S, Glaube bei Markus. Glaube an das Evangelium, Gebetsglaube und Wunderglaube im Kontext der markinischen Basileiatheologie und Christologie, SBB 12, Stuttgart 1985, 459.468–473. 113 Vgl. K, Dämonisierung der Epilepsie (s. Anm. 109), 172–173. 114 Zur Wortbedeutung vgl. O. M, Aspekte zur diakonischen Relevanz von ,Gerechtigkeit‘, ,Barmherzigkeit‘ und ,Liebe‘, in: G.K. Schäfer/Th. Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, VDWI 2, Heidelberg 1990, 144–156, 145–148; A. W, Art. διακονε ω, EWNT I, 21992, 726–732; P.-G. K, Diakonie und

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Jesus (Christus) und denen, die zu ihm gehören.115 Die Heilung konstituiert eine Relation, die in Mk 1,31 vordergründig als Dankesgabe der Frau Jesus und seinen Begleitern gegenüber interpretiert werden kann. Der Vorgang ist jedoch transparent für die Tatsache, dass hier eine Glaubensbeziehung initiiert worden ist.116 In gleichem Sinn wird das Verb auch nach der Kreuzigung Jesu in 15,41 für das Verhältnis der dort genannten drei Frauen zu Jesus während seiner galiläischen Wirkungszeit verwendet.117 Die Heilung eines einzelnen an Aussatz erkrankten Mannes (Mk 1,40–45) akzentuiert den Willensaspekt bei diesem Vorgang. Aus Sicht des Erkrankten hängt der Erfolg der Reinigung am Willen Jesu, diese vorzunehmen (1,40). Dies bestätigt Jesus ihm mit seinem θε λω (1,41). Der Willensbekundung folgt verbal der Reinigungsbefehl καθαρι σθητι. Was die worthafte Aufforderung intendiert, findet unverzüglich seinen Niederschlag in der physischen Realität des im selben Moment vom Aussatz Geheilten. Das Wort Jesu besteht wiederum in einer Tat. Es verändert die Wirklichkeit des vormals Kranken. Dem Tatcharakter des Wortes entspricht der Wortcharakter der Tat. Das Geschehen spricht für sich. Die Geschichte wird bekannt, Jesus durch sie prominent. Er entwickelt nolens volens magnetische Anziehungskraft (1,45). Das erwachte Masseninteresse an Jesus bildet entsprechend den Eingangsrahmen für die nächste Heilungsepisode (Mk 2,1–12). Ein gelähmter Mann wird von vier Trägern ungeachtet der Hindernisse durch die anwesende Menschenmenge Jesus vor die Füße gelegt. Der Erzähler vermerkt als erste Reaktion Jesu auf den Vorgang dessen optische Wahrnehmung eines Phänomens, das der Sache nach unsichtbar ist: Jesus sah ihren Glauben (2,5a). Unmittelbar im Anschluss an diese Feststellung der spirituellen Situation bei den Anwesenden sagt er dem Gelähmten die Vergebung seiner Sünden zu. Er vergewissert ihn damit der ihn tragenden heilvollen Gottesbeziehung. Diese könnte mythischen Denkmustern zufolge an-

moderne Lebenswelt, Karlsruhe 1998, 12–15. Vgl. D. S, Diakonie als soziales System. Eine theologische Grundlegung diakonischer Praxis in Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, Stuttgart/Berlin/Köln 1996, 298–300. 115 Zu dem breiten Spektrum der mit dem Begriff verbundenen Bedeutungen vgl. die Beiträge in: B.J. K/E. M/E. R (Eds.), Deacons and Diakonia in Early Christianity. The First Two Centuries, WUNT 2/479, Tübingen 2018, insbesondere B.J. K, Luke 10:38–42 and Acts 6:1–7: A Lukan Diptych on Διακονι α, in: B.J. Koet/E. Murphy/E. Ryökäs (Eds.), Deacons and Diakonia in Early Christianity. The First Two Centuries, WUNT 2/479, Tübingen 2018 45–63, hier 48–52. Vgl. auch J.N. C, Diakonia: Re-interpreting the Ancient Sources, New York 1990; A. H, Diakonia im Neuen Testament: Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT 2/226, Tübingen 2007. 116 Vgl. W. S, Heil und Heilung im Neuen Testament, in: G.K. Schäfer/Th. Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, VDWI 2, Heidelberg 1990, 327–344, 342–344. 117 ΔιακονειÄν wird insgesamt fünfmal bei Markus verwendet: In Mk 1,13 und 31; zweimal in 10,45 sowie einmal in 15,41.

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gesichts der Körperbehinderung in Zweifel gezogen werden. Da nach mythischer Vorstellung körperlicher Zustand und geistliche Verfassung in einem Wechselprozess miteinander stehen, könnte aus Sicht der beteiligten Personen die Vermutung naheliegen, der behinderte Mann habe Schuld vor Gott auf sich geladen und entsprechend Strafe für seine Sünden empfangen. Der Zuspruch der Sündenvergebung, den Jesus vornimmt, signalisiert: Die Körperbehinderung stellt die Gottesgemeinschaft gerade nicht in Frage. Jesus widerspricht dem Augenschein. Er restituiert die nach Lage der Dinge aus Sicht des Gelähmten offenkundig verloren geglaubte Gottesgemeinschaft. Die Eigenart der mythischen Weltanschauung besteht im Unterschied zum modernen aufgeklärten Weltbild darin, dass die Ursachen körperlicher Probleme in einem vorausliegenden geistlichen Defekt gesehen werden. Entsprechend muss sich eine Heilung zunächst mit den spirituellen Versäumnissen befassen, die ursächlich für die Erkrankung verantwortlich sind. Unter aufgeklärten Vorzeichen stellt sich der Vorgang genau entgegengesetzt dar: Eine Krankheit besitzt materielle Ursachen und muss daraufhin behandelt werden. Die geistliche Dimension, etwa als Gebet um Heilung oder um Einwilligung in das Unabänderliche, ist allenfalls im Nachgang als flankierende und unterstützende Begleitung vorstellbar. In Mk 2,5 setzt die Erzählung mit der geistlichen Heilung des gelähmten Mannes durch den Zuspruch der Sündenvergebung ein. Da innerhalb eines mythischen Anschauungsrahmen geistliche und körperliche Realität ineinanderfallen, kann die Erzählung damit nicht zu Ende sein. Nach mythischer Vorstellung wird das geistliche Geschehen in der körperlichen Wiederherstellung anschaulich. Solange der gehunfähige Mann weiterhin paralysiert am Boden liegt, gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass im Gottesverhältnis dieses Menschen eine entscheidende Veränderung vorliegt. Mythischen Verstehensvoraussetzungen entsprechend flankiert Jesus daraufhin seinen Zuspruch der Sündenvergebung mit der Aufforderung aufzustehen, die Matte zu nehmen und zu gehen (Mk 2,11.12). Damit kommt unter mythischer Wahrnehmungsperspektive der Heilungsvorgang geistlich und physisch vollständig zum Abschluss. Ein weiteres Korrespondenzverhältnis innerhalb der Erzählung besteht in dem Kontrast zwischen dem Glauben der Träger (2,5)118 und der Herzensverhärtung der Schriftgelehrten (2,6.7). Was gedanklich und emotional in diesen Zeugen des Geschehens vor sich geht, sprechen sie selbst nicht aus. Der Erzähler gewährt Einblick in ihre Binnensicht und spricht Jesus zu, dies in seinem Geist zu erkennen. Die Schriftgelehrten verweigern ihre Zustimmung zu der Zusage des bereinigten Gottesverhältnisses, die Jesus dem Gelähmten schenkt. Aus ihrer Sicht ist Jesus für diesen Akt nicht autorisiert. Sein Verhalten verstößt gegen die Gottesvorstellung, für die sie selbst einstehen. Jesus handelt in ihren Augen theologisch übergriffig. Er nimmt eine Vollmacht in Anspruch, die ihm in ihren Au-

118 Ob auch der Gelähmte in die Feststellung des Glaubens eingeschlossen ist, ist der Formulierung nach unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.

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gen nicht zukommt. Das soteriologische Argument, dass Jesus mit seinem Zuspruch der Sündenvergebung dem Gelähmten Unüberbietbares ermöglicht, bleibt außerhalb ihres Horizontes. Die geistliche Verfassung der Schriftgelehrten korrespondiert in der Sache dem körperlichen Zustand des Gelähmten. Wie dieser im Bewegungsapparat erstarrt ist, so sind sie in geistlich-geistiger Hinsicht verhärtet. Sie beharren auf einem Gottesbild, das sie vor der Perspektive Jesu zu sichern versuchen. Ihr Interesse richtet sich auf die Wahrung der Alleinzuständigkeit Gottes für die Sündenvergebung. Dabei ist diese durch die Formulierung Jesu durchaus nicht in Frage gestellt. Die passivische Formulierung dir sind deine Sünden vergeben lässt weiterhin Gott als Autor dieses Vorgangs in Geltung. Dass Jesus diese Zusage hier formuliert, kreiden sie ihm gleichwohl als Kompetenzüberschreitung an. Die heilvolle Öffnung der Gottesbeziehung des Gelähmten bleibt ihrem Festhalten an der für sie gültigen Gottesvorstellung nachgeordnet. Auch hinsichtlich der Körperhaltung und der mangelnden Artikulationsfähigkeit zeichnet die Erzählung eine Parallele zwischen dem Gelähmten und den abweisenden Schriftgelehrten. Wie jener verharren auch die Schriftgelehrten in körperlicher Reglosigkeit. Sie sitzen da. Wie er bleiben sie stumm. Jesus ist es, der ihre Gedanken erkennt und ausspricht. Im Ergebnis erzählt Mk 2,1–12 die Geschichte einer doppelten Lähmung und einer zweifachen Heilung. In körperlicher wie geistlicher Hinsicht werden ein körperlich Behinderter und eine Gruppe geistlich erstarrter Schriftgelehrter als Paralysierte nebeneinandergestellt. Die Pointe der Erzählung steht im Schlussvers 12. Sie liegt nicht schon in der Wiedererlangung der Gehfähigkeit des vormals Gelähmten. V.12 dokumentiert, wie alle in der Szene anwesenden Personen in Bewegung geraten. Ihre Erstarrung löst sich körperlich wie geistlich. Im gemeinsamen Gotteslob mit allen Anwesenden gehen sie aus sich heraus.119 Der geheilte Ex-Gelähmte ist da schon weggegangen. Er ist der Einzige, der bei der Schlussfeier nicht mehr dabei ist; denn er hat seine Heilung an Geist und Körper mit der vollumfänglichen Rückführung in die Gottesbeziehung bereits empfangen. Für alle anderen stellt sich die neugewonnene Lebendigkeit mit ihrem überschwänglichen Lobpreis Gottes ein.120 Mk 3,1–6 fügt den individuellen Krankenheilungen eine Erzählung hinzu, die strukturell analog zu Mk 2,1–12 verläuft. Wieder steht eine Person im Mittelpunkt, die von einer Lähmung betroffen ist. In diesem Fall handelt es sich um eine verdorrte Hand (3,1). Ebenfalls auf der Szene sind Personen aus einem gebildeten jüdischen Frömmigkeitsmilieu. Es handelt sich um Pharisäer, die am Ende der Szene mit Herodianern beraten, wie weiter mit Jesus zu verfahren ist (3,6). Diese Pharisäer werden eingangs der Handlung, die am Sabbat in einer εÆ ξι στασθαι – sie geraten außer sich. Zur ausführlichen einzelexegetischen Bearbeitung der Perikope vgl. P.-G. K, Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter – Mk 2,1–12 (Mt 9,1–8; EvNik 6), in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 134–150. 119

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Synagoge situiert ist, als missgünstige Personen charakterisiert. Sie lauern darauf, einen Ansatzpunkt zu finden, um Jesus anzuklagen. Sollte er an diesem Tag heilen, könnten sie ihm den Bruch des Sabbats vorwerfen. Auch in dieser Episode laufen zwei Erzählstränge parallel. Einem vertrockneten Körperteil, der erstarrten Hand, entspricht das verhärtete Herz der Opponenten Jesu (V.5). Wie in Mk 2,6–9 ist auch in 3,2–5 die Sprachlosigkeit der Gegner Jesu ein Symptom ihrer Verfassung. In stummer Verstocktheit belauern sie Jesus. Wiederum reagiert Jesus auf ihren schweigenden Widerstand und bringt die körperliche Beeinträchtigung des behinderten Mannes zum Verschwinden. Im Unterschied zu Mk 2,1–12 löst er damit jedoch nicht den parallel berichteten inneren Verhärtungszustand der Pharisäer auf. Trotz des sichtbaren Erfolgs der materiellen Heilung bleibt die geistliche Paralyse der Gegner Jesu bestehen. Damit verlässt der Erzähler die Gesetzmäßigkeit mythischer Handlungsabläufe. Im Duktus der fünf konfliktgeladenen Erzählungen in Mk 2,1–3,6 führt Mk 3,6 zu einem ersten Erzählhöhepunkt. Es gelingt Jesus nicht mehr, den Widerstand seiner Opponenten aufzulösen. War ihm das durch Tat und Wort in den vier zuvor erzählten Begebenheiten noch gelungen, mündet die Sabbatheilung in der Synagoge mit 3,6 in einen Todesbeschluss gegen Jesus. Ein weiteres Mal erscheint im Rahmen der markinischen Darstellung die Synagoge als Unheilsort, an dem sich tödlicher Widerstand gegen Jesus formiert. Darstellungstechnisch kristallisiert sich ein signifikanter Zug der vom Mythos durchdrungenen markinischen Schilderung heraus: Sobald und sofern der Tod Jesu zum Thema wird, löst Markus dessen Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit nicht in den mythischen Kreislauf von Werden und Vergehen hinein auf. Im Unterschied zum zyklischen Verständnis der stetigen Aufeinanderfolge von Sterben und Wiederauferstehen, Tod und neuem Leben versteht Markus den Tod Jesu nicht als Durchgangsstadium zur anschließenden Auferstehung. Jesu Tod wird nicht dadurch relativiert, dass er als notwendige Phase einer weiterlaufenden Erfolgsgeschichte erzählt wird. Für die markinische Erzählung stellt der Tod Jesu vielmehr die harte Grenze seines Wirkens dar. Die kommende Katastrophe wirft in 3,6 ihre Schatten erstmals voraus. Dieser Vorausgriff auf die spätere Tötung Jesu rückt bereits in einem frühen Stadium der Erzählung ins Bewusstsein: Die Stellungnahme der Leserschaft zu Jesus und seinem Wirken hat im Angesicht seiner Hinrichtung und seines Todes zu erfolgen. Weitere Individualheilungen schließen sich an. Eine Frau wird nach zwölf Jahre andauerndem Blutfluss durch eine Kraft geheilt, die sie über die Berührung des Gewandes von Jesus abzieht (Mk 5,25–34). Den heilenden Kraftabfluss legt Jesus ihr als Glauben aus (5,34). Der Vorgang illustriert ein weiteres Mal das Ineinanderfallen von Immaterialität und Materialität, von geistig-geistlicher Energie und körperlicher Befindlichkeit.121 Auch in der Erzählung von der Auf121

Der Vorgang, Heilung durch Berührung der Kleidung des Wundertäters zu erfahren,

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erweckung der soeben verstorbenen zwölfjährigen Tochter des Synagogenvorstehers (Mk 5,22–24.35–43) stellt Jesus vor seinem wiederbelebenden Handeln einen Zusammenhang mit dem Glauben der Angehörigen her. Den Vater des Mädchens ermutigt er: Fürchte dich nicht, glaube nur (5,36). Damit wird nicht der Glaube des Vaters zur Voraussetzung für das Gelingen der Auferweckung durch Jesu Handeln erhoben. Vielmehr zeigt die Erzählung im Fortgang die Alleinwirksamkeit Jesu als Retter des Kindes und seiner Eltern. Für die Adressatinnen und Adressaten des Markusevangeliums liegt freilich auf der Hand, dass der Glaube die dem Handeln Jesu gemäße Einstellung ist. Jesu Worte reichen über die Erzählung hinaus in die Welt der Leserschaft hinein. Die Unfähigkeit zu hören und das Unvermögen zu reden, bilden das Thema der Heilung eines tauben und stummen Menschen in Mk 7,31–37. Wie bei dem Gelähmten in Mk 2,3.4 sind es wiederum andere Personen, die ihn zu Jesus bringen (7,32). Auch diese Episode ist wie die vorhergehende (7,24–30) Erzählung von der Austreibung eines Dämons aus der Tochter der syrophönizischen Frau außerhalb Israels, konkret in der Dekapolis situiert. Im Heidenland öffnet Jesus Ohren und ermöglicht das richtige Reden. Auffällig ist, mit wieviel Mühe und Zeit die Exorzismen und Heilungen verbunden sind, die Jesus in heidnischen – gemeint ist: in Gebieten mit vorwiegend nichtjüdischer Bevölkerung – vornimmt. Das gilt für die Szene in Gerasa (5,1–20) wie für das Geschehen in der Gegend von Tyros (7,24–30). Auch die erforderlichen Praktiken bei der Heilung des taubstummen Menschen in 7,31–37 dokumentieren das. „Offensichtlich möchte Markus damit die besondere Herausforderung zeigen, die die Heidenmission darstellt.“122 Die mehrfachen Überquerungen des Sees Genezareth unterstreichen diese Wahrnehmung.123 Während die zwei Überfahrten Jesu in Ost-West-Richtung nur kurz genannt und als problemlos geschildert werden (Mk 5,21; 8,10), erweisen sich die Bootsfahrten von West nach Ost, also zum nicht-jüdischen Territorium, als gefährlich. Jesus bläst im wahrsten Sinne des Wortes der Wind entgegen. In Mk 4,35–41 bringt ein Wirbelwind das Boot fast zum Kentern. In 6,45–52 scheitert die Überfahrt nach Bethsaida. Die Jünger sind zu nächtlicher Stunde allein unterwegs. Der Gegenwind lässt sie nicht vorankommen. Jeweils ist es Jesus, der die gefahrvollen Situationen bereinigt. Bei der dritten Überfahrt erreicht das Boot sein Ziel Bethsaida zwar ohne Sturm (8,13–22), aber mit der Sorge der Jünger, nicht genügend Brot dabei zu haben – und das, nachdem Jesus unmit-

wird in Mk 6,54–56 in einer summarischen Darstellung noch gesteigert dargestellt. Hier fehlt auch der Hinweis auf eine dem Geschehen korrespondierende innere Haltung des Glaubens. 122 H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 168. Zu dieser Deutung passt Haases Beobachtung, dass die Erzählung von der wundersamen Speisung der 4000 in Mk 8,1–9 durch eine vorherige dreitägige gemeinsame Zeit mit Jesus (8,2) vorbereitet ist, während die Speisung der 5000 in Mk 6,30–44 zwar nach mehrstündiger Predigt Jesu, aber noch am Abend desselben Tages zustande kam. 123 Vgl. H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 156–166.

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telbar zuvor viertausend Personen gespeist hatte.124 Der Weg Jesu und seiner Jünger zu den Heiden, so die Botschaft der Erzählung, ist ein gefahrvolles und mühseliges Unterfangen. Die Tatsache, dass das Evangelium in den 70er Jahren in der Völkerwelt angekommen ist, führt die markinische Erzählung auf das Wirken Jesu selbst zurück.125 In der Heilungserzählung Mk 8,22–26 klingt in dem wiederholten Versuch Jesu, dem Blinden die Augen zu öffnen, noch die Anstrengung nach, in Bethsaida erfolgreich zu wirken.126 Auch in dieser Begebenheit bringen andere Personen einen behinderten Menschen zu Jesus. Jesus nimmt in mehrfacher Hinsicht Beziehung zu dem durch Blindheit beeinträchtigten Mann auf. Er ergreift seine Hand, führt ihn aus dem Dorf heraus, spuckt in seine Augen, legt ihm die Hände auf und spricht ihn an, indem er fragt: Ob du wohl etwas siehst (8,23)? Auf die Antwort des Blinden hin legt er diesem wiederum die Hände auf die Augen. Sowohl die Handauflegung als auch die Verwendung des Speichels geschehen unter der Voraussetzung der Möglichkeit einer physischen Kraftübertragung vom Heiler auf den zu Heilenden. Körperliche Heilung resultiert aus einem Körperkontakt, der einen Kraftfluss in Gang setzt. Die Vorstellung entstammt ebenfalls mythischer Weltanschauung und führt in den Bereich der sympathetischen Magie.127 Nachdem der Mann seine Sehfähigkeit wiedererlangt hat und dies für die Leser ausdrücklich festgestellt wird (8,25), schickt Jesus ihn in sein Haus mit der Aufforderung, nicht in das Dorf hineinzugehen (8,26). Letzteres hat in der Exegese zu erheblichem Erklärungsbedarf geführt. Denn die Anordnung wirft die Frage auf: Wo hat der Mann gewohnt? Die Erzählung selbst lässt in V.22 unbestimmt, ob er aus Bethsaida oder dem Umland stammt. In welchem Verhältnis stehen also Haus und Dorf in V.26 zueinander? Außerdem bleibt die Frage: Worin besteht der Sinn des Verbots?128 Jurij Lotman hat mit einer Grenzüberschreitungstheorie das Bewusstsein für Raumwechsel in literarischen Texten geschärft. Offene und geschlossene Räume sind unterschiedlich konnotiert. Sie können für kalt, fremd oder feindlich oder für warm und sicher stehen. Grenzen schaffen Teilräume, die im Prinzip unüberschreitbar sind. Kommt es trotzdem zu Grenzüberschreitungen, hat das Folgen. Das Betreten von Gegenräumen durch eine Person verändert den Charakter des jeweiligen Raums. Entweder saugen die Ordnungen des Raums die durch den

Vgl. die Darstellung bei H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 137–138. So die Kernthese der Dissertation von H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 138 und 186–189. 126 Vgl. H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 168. 127 Vgl. P.-G. K, Die Grenze form- und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 111–133, 129–130. 128 Zur Interpretation der Erzählung vgl. P.-G. K, In Stufen zur Einsicht: Die Blindenheilung in Mk 8,22–26, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 165–169, hier 167. 124

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Eindringling mitgebrachte Ordnung aus dessen Herkunftsraum auf. Oder die mit der Person eindringende Ordnung verändert und ersetzt die Ordnung des Raums, in den sie eintritt.129 Bereits Richtungsänderungen implizieren Bedeutungswechsel. Das Wo bestimmt das Was, denn Orte und Bewegungsrichtungen stehen für Inhalte. Darüber hinaus entscheidet die Verortung einer Person darüber, wer sie ist. Der Raum und die Identität einer Person bilden eine Einheit. Wenn der Ort darüber entscheidet, wer und was jemand ist, kündigt die Herausführung aus einem Ort in jedem Fall eine Veränderung der Situation an. An anderem Ort kann aus dem Blinden in der Erzählung jemand anderer werden. Seine Heilung erfolgt an einem anderen Ort als an dem, an dem er in die Erzählung eingeführt worden ist. In der Distanz zu diesem Ausgangsort erlangt er seine Sehfähigkeit. Durch den Akt der Heilung schafft Jesus für den Blinden einen Heilungsort. Er führt ihn damit in Lotmans Diktion in einen Gegenraum. Dort werden ihm im unmittelbaren körperlichen Kontakt mit Jesus die Augen geöffnet. Die doppelte Aufforderung Jesu an ihn in V.26 impliziert zweierlei: Jesus schickt ihn in sein Haus als den heimischen, sicheren Ort. Gleichzeitig ordnet er an, sich vom Dorf als dem alten Ort seiner Blindheit fernzuhalten. Eine Rückkehr bedeutete eine Richtungsumkehrung und käme einem Rückfall gleich. Der Geheilte kehrte an den Ort seiner Blindheit und damit in seinen vormaligen Zustand zurück. Das Dorf steht für den sozialen Zusammenhang, in dem er blind war. Davon soll er sich zukünftig fernhalten.130 Lesen lässt sich die Episode als ein Appell an die christusglaubende Gemeinde der 70er Jahre, nicht in die überwundene Phase ihrer davorliegenden Glaubensgeschichte zurückzufallen. Die verzögerte Heilung, die einen zweiten Anlauf erforderlich macht, bündelt erzählerisch einen Strang, der für den Kontext von Mk 8,22–26 signifikant ist. Im Umfeld der Erzählung ist das Motiv der Doppelung bzw. Zweizahl von auffallender Bedeutung. Nachdem Jesus in 6,30–44 in einer Massenspeisung bereits 5000 Menschen gesättigt hat, speist er in 8,1–10 noch einmal 4000 Personen. Alle diese Menschen erhalten Lebensmittel in Fülle, aber sie erkennen Jesus nicht. Die Leserschaft wird durch die eucharistischen Züge innerhalb der Darstellung sogar ausdrücklich auf Jesus als Brotgeber hingewiesen.131 Das Unverständnis der Zeugen des Geschehens im Umfeld Jesu ist ein Doppeltes: Angesichts der soeben geschehenen Großtat wirkt die unmittelbar anschließende Zeichenforderung der Pharisäer ignorant (8,11). Sie dokumentiert charakteristischerweise am Westufer des Sees Genezareth – also auf galiläisch-jüdischem Boden – die Verständnislosigkeit jüdischer Repräsentanten Jesus gegenüber. Das vergleichbare Unverständnis der Jünger Jesu findet seinen Ausdruck bei der anschließend berichteten Überfahrt in Nordost-Richtung in der Sorge der Jünger, kein Brot auf die Reise mitgenommen zu haben (8,16). 129 Vgl. J.M. L, Die Struktur literarischer Texte, übers. v. R.-D. Keil, München 1993, 327–329. 130 Vgl. K, Grenze (s. Anm. 127), 129–130. 131 Vgl. Mk 6,41 und Mk 8,6.

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Auch die Schilderung der Szene, die in dem petrinischen Christusbekenntnis gipfelt (Mk 8,27–33), operiert mit den Motiven des Richtungswechsels und der Zweizahl. Jesu Frage, für wen die Leute ihn halten, wird zunächst in dreifach gestufter Weise falsch beantwortet (8,28). Dieses Antwortbündel dokumentiert das Unverständnis derer, die Auskunft gegeben haben. Erst danach antwortet Petrus als Repräsentant der anderen Gruppe in sachgemäßer Weise (8,29). Jesu Aufforderung, mit niemandem über ihn zu reden (8,30), zieht einen Wortwechsel mit Petrus nach sich (8,31–33). Darin geht es um den inneren Sachgehalt der Christustitulatur. Jesus transformiert das petrinische Christusbekenntnis in eine Menschensohnaussage und entfaltet diese durch eine Vorausschau auf sein Leiden, Sterben und Auferstehen (8,31). Er weist die Erhöhung seiner Person mittels der messianischen Zuschreibung zurück. Petrus wiederum protestiert gegen das von Jesus ausgebreitete Zukunftsszenario (8,32). Sein Widerspruch wird erzählerisch durch den Hinweis eingeleitet, dass Petrus Jesus von den übrigen anwesenden Personen wegzieht, also mit ihm einen Ortswechsel vornimmt. Erst danach, am anderen Ort, formuliert er seinen Widerspruch. Jesu emotionale Reaktion wird ihrerseits in 8,33 ebenfalls durch einen Richtungswechsel vorbereitet. Jesus dreht sich um und herrscht Petrus an: Geh weg, hinter mich, Satan! Jesus führt das Christusbekenntnis, das in der Erwartung des Petrus einen Hoheitsstatus impliziert, auf satanischen Ursprung zurück. Petrus denkt nicht in Gottes Weise, sondern nach Art der Menschen. Indem Jesus Petrus den Rücken zukehrt, erteilt er dessen Christusvorstellung eine demonstrative Absage. Petrus hat ansatz- und umrissweise verstanden, wer Jesus ist. Vollständige Klarheit des Blickes verschafft jedoch erst die österliche Perspektive auf das Leiden des Menschensohns. Im Gesamtzusammenhang von Mk 8,1–33 besteht das wunderbare Ereignis darin, dass Jesus geistlich verblendeten Menschen, Pharisäern wie Jüngern, und einem körperlich Blinden die Augen öffnet.132 Das ist ein mühsamer Prozess. In der Erzählung von der Blindenheilung, die die Mitte des Erzählkomplexes darstellt, wird die Anstrengung dieses Heilungsvorgangs narrativ entfaltet. Wiederholt hat sich Jesus bemüht, Menschen um sich herum sehfähig zu machen. Blindheit stellt bei vielen von ihnen eine Form des Unverständnisses dar. Fehlende Einsicht in den Charakter Jesu, das eine Brot (8,14), offenbart die Blindheit der eigenen Jünger.133 Daneben wirkt das physische Leiden des blinden Mannes wie die Illustration des geistlichen Mangels. Selbst das Christusbekenntnis des Petrus spricht nicht eo ipso für klare Erkenntnis. Seine Tragfähigkeit hängt an der Optik, mit der es geäußert wird. Das Bemühen des markinischen Jesus richtet sich darauf, ein angemessenes Verständnis für die Person Jesu als des Christus zu wecken.134 Das Ziel ist es, den Niedrigkeitsaspekt des Christusbekenntnisses sichtbar zu machen. Vgl. K, Grenze (s. Anm. 127), 132. Das Phänomen wird in Mk 8,17 als Herzensverhärtung bezeichnet. 134 Vgl. A. S-H, Das geheimnisvolle Markusevangelium. Eine Auseinandersetzung mit dem scheinbaren Messiasgeheimnis, Kassel 2018, 204–211. 132 133

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Bis zum Ende von Kapitel 10 bleibt die Frage nach dem Status Jesu und eng verbunden damit auch die nach dem seiner Anhänger eine offen diskutierte Frage. Insbesondere in dem Klärungsbedarf der Jünger Jesu über ihre persönliche Zukunft wird das unmittelbar sichtbar. Als ständige Begleiter Jesu sind sie von Karriereträumen durchdrungen. Direkt im Anschluss an die zweite Leidensankündigung Jesu in 9,30–32 diskutieren die Jünger über die innere Hierarchie in ihrer Gruppe und wer von ihnen die Führungsposition innehat (9,34). Das gleiche geschieht nach der dritten Leidensankündigung in 10,32–34. Jakobus und Johannes beschäftigt der Gedanke, welche Positionen sie beide einnehmen werden, wenn das Wirken Jesu zu einem erfolgreichen Abschluss gelangt ist. Beide haben dazu feste Vorstellungen: Sie wollen zur Rechten und Linken Jesu im Zentrum der Macht sitzen. Beide Male ist Jesus damit befasst, die Maßstäbe zurechtzurücken (9,35; 10,38–40.43–44). Es winkt nicht die von Erfolgsphantasien ersehnte Zukunft. Zu erwarten sind im Gegenteil leidvolle Erfahrungen. So ist es folgerichtig, dass der Erzählzyklus von Mk 8–10 durch eine weitere Erzählung von einer Blindenheilung abgeschlossen wird. Blindheit umschließt als bleibender Mangel alle Bemühungen Jesu, ein adäquates Verständnis seiner Person zu vermitteln. Was Nachfolge Jesu konkret bedeutet, ist selbst im engsten Kreis der Anhänger Jesu immer noch nicht klar geworden. Der blinde Bartimäus in Jericho (10,46–52) sucht den Kontakt zu Jesus, indem er ihn zweimal als Sohn Davids anruft.135 Diese Anrede zeichnet Jesus in eine herrscherliche jüdische Herkunftslinie ein. Sie wird nicht problematisiert, sondern bleibt extra controversiam. Dem Blinden wird ein adäquater Glaube bestätigt. Seine Wahrnehmung Jesu lässt ihn als geheilten Blinden sehend in die Nachfolge treten. Er verkörpert den Gegentypus zu den an ihren persönlichen Statusfragen interessierten Zebedäussöhnen aus Mk 10,35–40. Die Heilung seiner Blindheit reißt einen Hoffnungshorizont auf. Jesusnachfolge wird mit geöffneten Augen möglich werden. Mit dieser Erzählung endet die Reihe der an Einzelpersonen vorgenommenen Heilungen im Markusevangelium. Über seine Individualheilungen hinaus wirkt Jesus durch Massenheilungen an Menschen, die teilweise von weither zu ihm strömen (Mk 1,32–34.45) und ihn bedrängen (Mk 3,7–10). In Mk 6,54–56 wird der aus 5,27–31 bekannte Vorgang, Heilung durch Berührung der Kleidung des Wundertäters zu erzielen, in einer summarischen Darstellung gesteigert dargestellt. Hier fehlt der Hinweis auf einen dem Geschehen korrespondierenden Glauben, so dass es vordergründig so scheinen könnte, als handele es sich um einen selbstwirksamen magischen Vorgang. Das generisch doppeldeutige Personalpronomen αυÆ τουÄ in dem Nachsatz, der die Heilung dokumentiert – καιÁ οÏσοι αà ν ηÏ ψαντο αυÆ τουÄ wurden gerettet (εÆ σωÂì ζοντο) – bezieht sich jedoch nicht so sehr auf Jesu Gewand, sondern auf Jesus als Person. Das Verb berühren insinuiert die Beziehung zu ihm, Jesus, als der Quelle der 135

Mk 10,47 und 48.

5.8 Menschen als Besessene und Belastete: Die anthropologische Situation

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Heilung und nicht das pure Anfassen seines Obergewandes. Das Verb σωÂì ζειν deutet zudem auf den soteriologischen Charakter des Geschehens, das eine rein körperliche Wiederherstellung übersteigt (Mk 6,56). Über die genannten Belastungen hinaus thematisiert das Markusevangelium eine Vielzahl weiterer Anfechtungen. Eine Bootsfahrt in stürmischer See in 4,35–41 und eine nächtliche Überfahrt in 6,45–52 machen die Todesangst der Jünger angesichts drohender Gefahr offenbar. Die Sorge um das Sattwerden flankiert die Erzählungen von der wundersamen Essensvermehrung (Mk 6,30–44; 8,14–21) und bereitet das Thema der geistlichen Speisung durch das Abendmahl in 14,22–25 vor. Der Wunsch nach ethisch-theologischer Klarheit durchzieht die Konfliktszenen in Mk 2,1–3,6. Er bestimmt auch die Debatten über Rein und Unrein in Mk 7,1–23 und die Möglichkeit der Ehescheidung (Mk 10,2–12). Die Macht des Geldes wird als ein Festklammern am Vorletzten problematisiert (Mk 10,17–27). Diskutiert wird das Verhältnis von Glaubensgehorsam gegenüber Gott und der Steuerpflicht gegenüber dem Kaiser in Mk 12,13–17. Jesus soll zu der sadduzäischen Partikularmeinung gegenüber der Auferstehung Stellung nehmen (12,18–27). Die Hierarchie der Gebote ist ebenso klärungsbedürftig (12,28–34) wie das auf einer anderen Ebene liegende Problem menschlicher Feigheit (Mk 14,66–72). Das Spektrum dessen, was nach Unterstützung schreit und wovon Menschen befreit sein wollen, ist bei Markus weit gefasst. Es umfasst körperliches und seelisches Leiden, soziale Ausgrenzung, ethische Dilemmata und Glaubensprobleme. In der Summe ist es der Anforderungs- und Anfechtungscharakter menschlichen Lebens, dem sich der markinische Jesus stellt. Menschen werden unter dem Beschädigungsaspekt wahrgenommen. Jesu Zuwendung zu ihnen orientiert sich an der Art ihrer Beeinträchtigung bzw. Behinderung. Stets sind es die persönliche Begegnung, die körperliche Zuwendung und das direkte Wort, durch die Jesus Abhilfe schafft. Jesus wird auf diese Weise in soteriologischer Hinsicht zu einem Ermöglicher gelingenden Lebens. Der Horizont der Heilserwartung ist durch die Vorstellung von menschlicher Gottesgemeinschaft in körperlicher Unversehrtheit und sozialer Integration charakterisiert. Gleichwohl verweigert sich das Markusevangelium der Phantasie von einer illusionär heilen Welt. Mit seinem Bild von Jesus und dessen Leidens- und Todesgeschick wirkt der Erzähler einer wirklichkeitsfernen Illusion entgegen. Dem Retter selbst bleibt nichts erspart, und er weist zu Lebzeiten abgesehen von den Ankündigungen seines eigenen Endes wiederholt auf die kommenden Zeiten der Verfolgung und Zerstörung voraus. In dieser realitätsbezogenen Weise gehört der Tod bleibend zur conditio humana, ausdrücklich auch für Jesus selbst. Gleichzeitig stellt ihn der Erzähler unter die Perspektive des auferweckenden Gottes.136

136 Die beiden zusammenfassenden Schlussabschnitte stammen aus P.-G. K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung. Der Beitrag der synoptischen Evangelien, ThLZ 143 (2018), 859–872, 862.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Die in diesem Unterkapitel besprochenen Szenen werden in der exegetischen Literatur häufig unter der Rubrik Wundergeschichten oder Wundererzählungen behandelt. Diese Zuschreibung ist hier bewusst vermieden worden. Der Grund dafür ist, dass mit dieser Gattungsbezeichnung ein modernes Wirklichkeitsverständnis über die antike Weltwahrnehmung gebreitet wird.137 In der Sache wird der dem Mythos inhärente Ansatz beim Numinosen, das in die empirisch-faktische Welt hineinwirkt, unter der aufgeklärten Perspektive umgekehrt. Die vorfindliche materiale Welt stellt dann allenfalls ein transzendierungsoffenes Bedeutungspotential zur Verfügung. Dieses kann je nach weltanschaulichem Ausgangspunkt auf das Wirken Gottes verweisen, muss es aber nicht. Der Unterschied zwischen der mythischen Rationalität und dem aufgeklärt metaphorischen Verständnis besteht darin, dass die Denkrichtung im Mythos vom Immateriell-geistig-Geistlichen zum materiell Fassbaren geht, während ein metaphorischer Zugang seinen Ausgangspunkt unter modern rationalen Vorzeichen nimmt und das Numinose auf die Bedeutungsebene verlagert. Werner Kahl hat die Differenz zutreffend formuliert. In der Antike und dem frühen Christentum werde die Wirklichkeit im Rahmen „eines Plausibilitätsnetzes“ erlebt, „nach dem Ereignisse und Handlungen der sichtbaren Welt in ein weiteres Wirkfeld numinoser Mächte eingebettet sind“138. Dieser Wahrnehmungshorizont steuert das Wirklichkeitsverständnis, wobei die Intensität, mit der im Alltag mit dem Wirken dieser Mächte gerechnet wurde, durchaus verschieden ist.139 Um bei der Interpretation der einschlägigen neutestamentlichen Überlieferungen nicht permanent in den Konflikt zwischen neuzeitlich aufgeklärter und antik mythischer Rationalität zu geraten und die Erzählungen durch neorationale Zugriffe zu überlagern, ließe sich anstelle des unspezifischen Terminus Wundergeschichten in formal exakterer Weise von mythischen Sequenzen sprechen.140 Damit wird realisiert, dass diese Erzählungen als Teile eines Erzählganzen aufeinander folgen und ihr Charakteristikum in der ihnen eigenen mythischen Weltsicht liegt. In der literarischen Umsetzung unterscheiden sich insbesondere das Markusund das Lukasevangelium im Umgang mit den mythisch geprägten Überlieferungen. Während Markus über weite Strecken der den mythischen Stoffen in-

137 Vgl. W. K, The Numinous Dimension in New Testament Narratives. Reorienting Miracle Research, in: A. Weissenrieder/G. Etzelmüller (Eds.), Religion and Illness, Eugene, Oregon 2016, 358–395, 358–360. 138 W. K, Jesus als Wundertäter, in: M. Hofheinz/N. Neumann (Hg.), Fragen nach Jesus, Leipzig 2022, 137–182, 142. 139 K, Jesus als Wundertäter (s. Anm. 138), 147. 140 K, Mythos (s. Anm. 17), 252–253. Vgl. K, Jesus als Wundertäter (s. Anm. 138), 152: „/Wundererzählung/ ist eine moderne Kategorie, die inhaltlich ausgerichtet ist an dem, was uns als absolute Unmöglichkeit erscheint, und zwar in deistischer bzw. atheistischer Orientierung an Naturgesetzen bzw. an dem, was sichtbar und messbar ist, und bei gleichzeitiger Ausblendung der Möglichkeit des Wirkens numinoser Mächte inklusive Gott.“ (Kursivierung W.K.). Vgl. auch K, Numinous Dimension (s. Anm. 137), 363.

5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft

177

newohnenden Logik folgt,141 ist bei Lukas zu beobachten, wie er unter der Voraussetzung einer antik-aufgeklärten Rationalität die mythischen Sequenzen domestiziert und Erzählabsichten nutzbar macht, die seiner Außenperspektive entspringen. Das hervorstechende Beispiel dafür ist seine Präsentation der beim Tod Jesu überraschend eintretenden Finsternis um die Mittagszeit. Während Markus und Matthäus in diesem Phänomen einen unmittelbaren Ausdruck göttlicher Macht über der Szene sehen, nennt Lukas einen rational einsichtigen Grund für das eigenartige Geschehen: Die Sonne verfinsterte sich – kein Wunder, dass es dunkel wurde.142 In seiner Darstellung Jesu als Tatmensch zählt bei Lukas gerade die Durchbrechung rational unmöglicher materieller Kausalität zu den Alleinstellungsmerkmalen Jesu. Matthäus wieder verwendet seine oft verknappten Skizzen außergewöhnlicher Taten Jesu als Absprungbrett für dessen ethische Unterweisung.

5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft 5.9.1 Das Programm der Verkündigung Jesu: Mk 1,14–15 Johannes der Täufer hatte in seiner Predigt auf Jesus als den nach ihm kommenden Stärkeren verwiesen. Dessen Besonderheit liege darin, die Menschen mit dem heiligen Geist zu taufen (Mk 1,7–8). Nachdem Jesus bei seiner eigenen Taufe der Geist verliehen wurde (Mk 1,10) und dieser ihn in die Begegnung mit dem Satan an wüstem Ort trieb (1,12–13), begann die Wirksamkeit Jesu. Chronologisch ist diese Phase vom Wirken des Täufers abgehoben. Mit Jesu Predigt beginnt eine neue Zeit. Entsprechend verändert sich auch der Aufenthaltsort im geographischen Raum. Die Taufstelle am Ostufer des Jordans und der Wüstenaufenthalt Jesu verweisen ebenso wie die Verhaftung des Johannes durch Herodes Antipas auf Peräa am östlichen Jordanufer. Auf welchen Wegen Jesus von dort nach Galiläa gelangt, bleibt ungesagt. Theoretisch könnte er auf der westlichen Jordanseite über Judäa und Samaria dorthin gewandert sein. Denkbar wäre auch, dass er in nördlicher Richtung am Ostufer weitergezogen und das Gebiet der Dekapolis durchquert hat. Angesichts der Tatsache, dass die Richtungen und Regionen, in denen Jesus sich bewegt, für das Markusevangelium theologische Bedeutung besitzen und auch in soteriologischer Hinsicht aufschlussreich sind,143 141 Die Grenze, an der auch Markus auf Distanz zu den mythischen Regeln geht, erscheint immer dann, wenn das Sterben Jesu ins Blickfeld rückt. Den Tod Jesu zeichnet das Markusevangelium nicht in das mythische Wechselspiel von sterbender und auferstehender Gottheit ein. Vgl. dazu K, Mythos (s. Anm. 17), 283–284. 142 Vgl. Lk 23,45 mit Mk 15,33 und Mt 27,45. Vgl. im Einzelnen Kapitel 5.14; 6.16.2 und 7.11. 143 Vgl. B, Raum (s. Anm. 29), 477–488; H, Jesu Weg (Anm. 42), 185–189; K, Konzept (s. Anm. 45), 55–73, 70–73.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

spricht viel dafür, dass der Erzähler im Eingang der Schrift zunächst nur den point of departure für Jesus markieren will. Jesu Verkündigungswerk nimmt seinen Ausgangspunkt in Galiläa, der zweiten Region des Herrschaftsgebietes von Herodes Antipas. Die Frage ist nicht, wie er dorthin kam. Wichtig ist für den Verlauf der Erzählung, wohin er sich von dort gewandt hat. Das Schweigen darüber, wie Jesus an seine erste Predigtstätte gelangt ist, ist in theologischer Hinsicht vielsagend. Die programmatische Antrittspredigt Jesu wird nicht aus einer biographischen Vorgeschichte abgeleitet. Es gibt keine Hinweise auf Quellen einer theologischen Vorbildung, die aus Aufenthalten in bestimmten politisch, kulturell oder religiös zuzuordnenden Gebieten abzuleiten wären. Ob sich Jesus vor Beginn seines Wirkens in jüdisch geprägten oder hellenistisch durchformten Gegenden aufgehalten hat, bleibt ungesagt. Es fehlen damit Informationen, die einen Aufschluss über die religiösen und geistigen Voraussetzungen der Verkündigung Jesu erlaubten. Spekulationen, ob sich seine Botschaft aus Beständen nährt, die mit einem Aufenthalt in jüdischen oder samaritanischen Regionen zu verbinden wären oder aus der Bekanntschaft mit kulturellen und religiösen Elementen des teilweise stärker hellenisierten Ostjordanlands resultieren, ist dadurch die Grundlage abgeschnitten. Die Herkunft des von Jesus verkündeten Evangeliums bleibt innerweltlich unableitbar. Einzig der Bezug auf Johannes den Täufer wird ausgesprochen. Er wird durch die temporale Präposition µετα in V.14 hergestellt und markiert die zeitliche Zäsur zwischen der Wirkungsphase beider. Insofern wird auch hier tendenziell auf die Eigenständigkeit Jesu, ungeachtet seiner Beziehung zu Johannes, abgehoben. Entscheidend ist die Nachgeschichte, die mit dem Auftreten Jesu eröffnet wird. In ihr wendet sich Jesus in Territorien mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Juden wie Menschen anderer nationaler und religiöser Herkunft zu. Eingeführt in die Szene wird Jesus mit dem Vollzug einer Tätigkeit. Er kommt verkündigend nach Galiläa. Der Gegenstand seiner Predigt ist das Evangelium Gottes. Dieses besitzt einen doppelt pointierten Inhalt: Zum einen den erfüllten καιρο ς und zum anderen die im Anbruch begriffene Gottesherrschaft. Die Qualität des gegenwärtigen Augenblicks besteht in der im unmittelbaren Anbruch befindlichen Gottesherrschaft. Vom Vorstellungsgehalt her wird mit der βασιλει α τουÄ θεουÄ ein Motiv jüdischen Glaubens aufgerufen, das u.a. in den Kontext der Apokalyptik verweist.144 Das Perfekt der beiden Verbformen πεπλη ρωται und ηÍ γγικεν sagt aus, dass die Botschaft Jesu sich auf den Umschlagpunkt vom Vergangenen zum Gegenwärtigen bezieht und damit auf die Gestaltung des Zukünftigen zielt. Der ausgerufene Moment zieht einen doppelten Imperativ nach sich. Beide Verben – µετανοειÄτε und πιστευ ετε – sind durch die Konjunktion και miteinander verbunden 144 Vgl. A. L, Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV. Neues Testament und spätantikes Judentum, TRE 15 (1986) (Studienausgabe 1993), 196–218, 196. Vgl. L. S, Die Botschaft vom kommenden „Reich Gottes“, in: L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 106–147, hier 110–116.

5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft

179

und beziehen sich auf das Evangelium. Auffallend ist, dass ευÆ αγγε λιον hier anders als in 1,1 und 1,14 nicht mit einem Genitivobjekt verbunden, sondern absolut gebraucht ist. Weder ist vom Evangelium ÆΙησουÄ ΧριστουÄ die Rede noch vom Evangelium τουÄ θεουÄ . Denkbar wäre, dass mit dem Aufruf zur Umkehr und zum Glauben zwei aufeinander folgende Vorgänge angesprochen werden. Dann könnte µετα νοια einen moralischen Akt der Buße bezeichnen. Die vorherige Läuterung würde zur Voraussetzung des nachfolgenden Glaubens an das Evangelium. Näher liegt jedoch, an dieser Stelle ein και -explikativum anzunehmen.145 Der zweite Imperativ führt den ersten inhaltlich aus. Der Appell Jesu ist dann zu übersetzen: Kehrt um, und das heißt: Glaubt an das Evangelium. Der Inhalt der Umkehr besteht im Glauben an das Evangelium. Dem Anbruch der Gottesherrschaft korrespondiert auf menschlicher Seite der Glaube. Gott ergreift seine Herrschaft mittels des Glaubens der Menschen. Die theologische Leistung des Erzählers liegt darin, wie er im Munde Jesu die Relationierung von göttlichem Handeln und menschlicher Verwirklichung des göttlichen Herrschaftsanspruchs vornimmt. Das Herrschen Gottes ereignet sich im glaubenden Lebensvollzug der Menschen.146 Darauf zielt die geforderte Umkehr ab. Im Vollzug des Glaubens, den Jesus mit seinem Wirken anstößt, erhält das göttliche Herrschen seinen Ort und eine Gestalt in den Lebensgeschichten der Menschen.147 Dem göttlichen Herrschen wohnt eine Macht inne, die im glaubenden Ergriffenwerden der Menschen zur Entfaltung kommt. Die absolute Verwendung des Begriffs Evangelium in V.15 macht wahrscheinlich, dass für die Leserschaft die beiden in V.1 und V.14 genannten Objektbestimmungen mitzudenken sind. Auf der Ebene der Gesamterzählung und für die Ohren der Leserschaft ist das Stichwort Evangelium von V.1 her mit der Christusbindung konnotiert. In der erzählten Welt und auf der Ebene der in der Erzählung handelnden Personen verkündet Jesus das auf Gott verweisende Evangelium (V.14). Für die glaubende Leserschaft des achten Jahrzehnts klingt in dem einen das andere mit. Das Christusevangelium vermittelt die von Jesus gebrachte Gottesbotschaft.

5.9.2 Zeit als Qualität Das Markusevangelium wie nach ihm das Matthäus- und das Lukasevangelium unterscheidet zwischen einer gemessenen und einer geglaubten Zeit.148 Alle drei L, Herrschaft Gottes (s. Anm. 144), 209. Markus erklärt nicht das Reich Gottes. Er belehrt nicht über seinen Charakter, sondern zielt darauf, Menschen die Erfahrung der Teilhabe an Gottes Reich zu ermöglichen – so richtig C.C. B, Mark (ANTC), Nashville 2011, 38–40. 147 Mündlich formulierte Willi Marxsen um 1980 im Gespräch nach einer Vorlesung: Die Menschwerdung Gottes geschieht im περιπατειÄν des Menschen – im glaubenden Wandel. 148 Die Ausführungen dieses Teilkapitels geben Passagen wieder aus P.-G. K, Geglaubte und gemessene Zeit. Das Zeitverständnis der synoptischen Evangelien, in: C. Land145 146

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Synoptiker formulieren die gemessene Zeit so, wie es den Konventionen der Antike entspricht. Die gemessene Zeit erfasst Angaben, die nach antiker Vorstellung im weitesten Sinn als historisch verifizierbar gelten können. Darüber hinaus entwickeln die Evangelien Zeitauffassungen, die ihrem Christusglauben entspringen. In der Entfaltung der Geschichte Jesu beziehen sie die gemessene und die geglaubte Zeit aufeinander. Sie stellen Jesus in den doppelten Rahmen einer Weltzeit und einer Gotteszeit. Die gemessene Zeit greift Daten aus der Geschichte Israels und der Zeitgeschichte des 1. Jahrhunderts auf. Nach moderner Auffassung mischen sich dabei Legendarisches und Faktisches. Die Angaben zur gemessenen Zeit erlauben es den Evangelien, die geschilderten Ereignisse mehr oder weniger exakt in der Zeitgeschichte zu verankern. Die geglaubte Zeit bezieht ihre Parameter aus den Überzeugungen des Christusbekenntnisses und des Gottesverständnisses der Synoptiker. Die Grundüberzeugung, dass sich in der erzählten Jesusgeschichte Gottes Handeln spiegelt, findet ihren Widerhall in der Zeitauffassung der Synoptiker. Wie Jesus selbst, so stehen Zeit und Welt unter der Herrschaft Gottes. Anfang, Ende, Ewigkeit – αÆ ρχη , τε λος, αιÍων, ταÁ ε σχατα – sind geglaubte Zeiten. In allen diesen Zeitangaben bekundet sich das Handeln Gottes. Das Darstellungsinteresse bei Markus, Matthäus und Lukas gilt dabei weniger der Bilanzierung verflossener Gegenwarten. Es richtet sich stärker auf die Bewältigung der Gegenwart und die Erwartung des Künftigen. Das verleiht den drei Entwürfen eine eschatologische Ausrichtung. Die markinische Jesuserzählung ist nur durch wenige chronologische Angaben mit der Zeitgeschichte verknüpft. Johannes der Täufer, Herodes Antipas,149 sein Bruder Philippos sowie Herodias werden namentlich genannt (Mk 6,14–29). An Bekanntheit werden sie von dem römischen Präfekten Pontius Pilatus übertroffen (Mk 15,1–15). Das missionarische Wirken des Petrus klingt mit der Jüngerberufung in Mk 1,17 an. Die Vorausschau auf den Tod der Söhne des Zebedäus in Mk 10,35–40 weist über die erzählte Zeit hinaus. Ungewiss bleibt, ob das βδε λυγµα der Verwüstung, der Gräuel aus Mk 13,14, auf die Caligulakrise hindeutet.150 Hinter der Dämonenaustreibung von Mk 5,1–20 könnte eine Anspielung auf die X. römische legio fretensis stecken. Höhere Bedeutung als den relativ wenigen Daten der gemessenen Zeit kommt im Markusevangelium den Angaben der geglaubten Zeit zu. Das alttestamentliche Mischzitat aus Ex 23,20, Mal 3,1 und Jes 40,3 in Mk 1,2.3 formuliert einen theologisch relevanten zeitlichen Hintergrund. Gott hat die Geschichte Jesu durch Vorläufer von langer Hand vorbereitet. Diese geglaubte Vorgeschichte stellt auch die historische Person Johannes in das Licht des Gotteshandelns (Mk messer/D. Schlenke (Hg.), Ewigkeit im Augenblick. Zeit und ihre theologische Deutung, Leipzig 2024, 37–54, insbesondere 38.45.46. 149 Mitgemeint ist dieser Herodes in der Wendung einige der Herodianer in Mk 12,13 par Mt 22,16. 150 Vgl. T, Lokalkolorit (s. Anm. 8), 167–176.

5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft

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1,4). Die vierzigtägige Versuchung Jesu durch den Satan in der Wüste (Mk 1,13) verweist auf eine Phase der Anfechtung und Bewährung. Die Symbolzahl vierzig bezeichnet eine Periode, an deren Ende ein Neuanfang steht. Die Sintflut dauerte vierzig Tage (Gen 7,4.17), vierzig Tage hielt sich Mose auf dem Sinai auf (Ex 24,18). In Num 14,33 fasst die Zahl vierzig die Generation der Wüstenwanderung zusammen. Die ersten Worte Jesu im Markusevangelium bestehen in einer Zeitansage. Erfüllt ist die Zeit … (Mk 1,15). Das Bild der erfüllten Zeit ruft die Vorstellung eines Messbechers auf, der vollläuft. In dieser Sekunde hat sich das Maß der Zeit gefüllt. Die Oberflächenspannung wird jeden Moment reißen, das Gefäß überlaufen. Der von Jesus angesagte Zeitpunkt ist da. Gott ergreift in diesem Augenblick die Herrschaft. Der καιρο ς ist die Jetzt-Zeit, in der Gott via Evangelium zu herrschen beginnt. Die apokalyptisch aufgeladene Erwartung gelangt ans Ziel. Damit wird dem zeitlichen Moment eine inhaltliche Qualität beigemessen. Der Zeitpunkt besteht in einem Handeln Gottes. Er bildet kein chronologisches, sondern ein theologisches Datum. In der Dialektischen Theologie wurde der Kairos im Verhältnis zum Chronos thematisiert. Der Augenblick der Entscheidung bildete für die Theologie der Krisis das Gegenstück zum chronologischen Fluss der Zeit. In Mk 1,15 ist allerdings vom Chronos als der fließenden Zeit nicht die Rede. Das Markusevangelium stellt einen anderen Sinnzusammenhang her. Der Kairos als der günstige Augenblick wird in der hellenistischen bildenden Kunst als junger Mann mit Stirnlocke bei ansonsten kahlem Schädel dargestellt. Ihn gilt es im entscheidenden Moment beim Schopf zu fassen. Wird dieser Augenblick verfehlt, dreht sich der Kairos weg, und der Griff zielt ins Leere. Jesus verbindet seine Ansage des Kairos mit den beiden Imperativen kehrt um, glaubt an das Evangelium. Im Rahmen dieser Wortwahl lässt das Verb µετανοε ω aufmerken. In der hellenistischen Mythologie erscheint der wendige Kairos in Begleitung einer gesetzteren Dame reiferen Alters. Bei dieser schattenhaften Begleiterin handelt es sich um die Göttin Metanoia. Die Formulierung in Mk 1,15, die den καιρο ς in einen Sinnzusammenhang mit dem µετανoειÄν stellt, lässt sich als Anspielung auf die Gefährtin des Kairos lesen. Das gemeinsame Auftreten des dynamischen und bisweilen sprunghaften Kairos und seiner verständigen und ruhigeren Partnerin personalisiert eine zentrale Einsicht. Der Kairos als der flüchtige Moment steht unter der Obhut der nachdenklichen Metanoia. Die Göttin Metanoia als lebenserfahrene kluge Frau trauert den verpassten Augenblicken des Lebens nach. Sie verkörpert die Reue über die versäumte Gelegenheit. Μετα νοια kommt ursprünglich vom Wort µετα -γνοια und verweist auf µετα -γνωÄ σις.151 Übersetzen lässt es sich als Nach-Sinnen, gemäß Einsicht, Vernunft zufolge. Die Metanoia denkt dem Erlebnis hinterher. Dem erlebten Moment folgt das Nach-Denken,

151 Vgl. H.G. L/R. S, A Greek-English Lexicon. With a Supplement 1968, First Edition Published 1843, Oxford Reprinted 1985, 1111.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

englisch: afterthought.152 Metanoia beinhaltet ein Zurück. Aus diesem Grund wird sie oft als Umkehr und mit moralischer bzw. religiöser Konnotation als Buße bezeichnet. In erkenntnistheoretischer Hinsicht steht das Götterpaar Kairos und Metanoia für die Einsicht, dass das Erleben dem Bedenken vorauseilt.153 Bis das Erlebte in der Re-Flexion angekommen ist, ist der Augenblick bereits vorüber und ein neuer Gegenwartsmoment eingetreten. Das Nachdenken tritt erst auf den Plan, wenn die Gegenwart bereits zur Vergangenheit geworden und einer neuen Gegenwart gewichen ist. Das Bewusstwerden kommt immer zu spät in der eigenen Gegenwart an. In der von Markus gestalteten Antrittspredigt Jesu in Mk 1,15 wird der Glaube zum Modus der Umkehr. Die πι στις ist die Haltung, in der dem Kairos zu begegnen ist. Anders formuliert: Der Glaube bildet die adäquate Weise, dem Jetzt-Moment der Gegenwart zu begegnen. Der Glaube gibt dem Kairos den Rahmen. Er bildet den Horizont, innerhalb dessen der Kairos erwartet wird. Die Jetzt-Zeit, der καιρο ς, ist durch den Herrschaftsantritt Gottes im Glauben gefüllt.

5.9.3 Die Vermittlung der Gottesherrschaft durch Jesus Jesu programmatischer Ruf zur Umkehr im Glauben in Mk 1,15 bildet das Leitmotiv für den weiteren Verlauf der erzählten Handlung. Im Fortgang der Erzählung begibt sich Jesus daran, seine Verkündigung unter den Bedingungen real gelebten Lebens konkret werden zu lassen. Dazu wirkt er in eigener Person als Vermittler der Gottesherrschaft. Durch sein Reden und Handeln bringt er Gott selbst in den Lebensgeschichten der Menschen, auf die er trifft, zur Wirkung. Jenseits der Alternative, „Bringer oder Inhalt des Evangeliums“154 zu sein, verkörpert Jesus die Zuwendung Gottes als den Inhalt des Evangeliums. Der Erzähler lässt Jesus das von Gott Geglaubte und Erwartete in die Wirklichkeit beschädigter Menschen hineinholen. Jesus realisiert die Wiederherstellung der gelingenden Gottesgemeinschaft. In ihm und durch ihn kommt Gott in menschlichen Begegnungen zur Wirkung. Durch sein Wirken gelangen Menschen in die Gottesgemeinschaft zurück. Jesus vermittelt das Herrschen Gottes als einen heilsamen Akt der Vergemeinschaftung.

Vgl. L/S, Lexicon (s. Anm. 151), 1115. N. N, Μετα νοια in neutestamentlichen Handlungsstrukturen, BThZ 34 (2017), 25–46, 30, bezeichnet µετα νοια als „ein relationales Phänomen“. 154 Vgl. dazu W. M, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums, in: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 46–63, hier 52–59. Zur Verhältnisbestimmung der beiden Pole im Rahmen der Christologie Marxsens vgl. P.-G. K, Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 191–212, 206–209. 152

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5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft

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Jesu außergewöhnliche Taten demonstrieren auf der Außenseite den Machtcharakter der göttlichen Herrschaftsausübung.155 Die wundersamen Heilungen und Exorzismen machen die Herrschaft Gottes sichtbar.156 In pointierten Logien (Mk 2,1–3,6) und ausführlichen Gleichniserzählungen (Mk 4,1–34) entfaltet Jesus parallel dazu verbal den Charakter der Gottesherrschaft als den Inhalt seiner Botschaft. Auf der Innenseite besteht die göttliche Machtausübung in ihrem rettenden Charakter für die Menschen, die davon erreicht werden. Das göttliche Herrschen kommt als befreiendes Handeln Gottes zur Entfaltung. Jesu Machttaten und Ansprachen verwirklichen das, wovon seine διδαχη spricht. Jesus führt die Menschen in die heilsame Gottesbeziehung zurück. Bereits in der Person Jesu ist der markinische Christus Teil des göttlichen Heilswirkens unter den Menschen.157 Jesus, der Christus, wirkt und bewirkt als Mediator die Vergegenwärtigung der Zuwendung Gottes im menschlichen Leben.158

5.9.4 Gemeinschaftsbildung als Konsequenz der Verkündigung: Mk 1,16–20 Die theologische Grundlegung von Mk 1,15, Gottes Herrschen und seine Realisierung im Glauben der Menschen zusammenzudenken, wird in Mk 1,16–20 um ein Element erweitert. Jesus sucht sich Verbündete. Seine Grundsatzpredigt zielt auf Gemeinschaftsbildung. Das Glaubensthema wird aus der ideellen Ich-DuBeziehung herausgeführt. Simon und Andreas werden in die Nachfolge gerufen. Ihnen wird angekündigt, Menschenfischer zu werden. Wenig später ruft Jesus 155 A. L, Die Erzählung der Machttaten Jesu in Markus 4,35–6,6a. Erwägungen zum formgeschichtlichen und zum hermeneutischen Problem, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 70–92, 72, notiert die Beobachtung, dass „[d]ie Abfolge der in Mk 4,35–5,43 detailliert geschilderten Ereignisse […] thematisch in auffallender Weise mit der summarischen Aufzählung von Wundertaten Abrahams bei Philo“ übereinstimmt. Auch wenn kein literarischer Zusammenhang anzunehmen sei, dient „möglicherweise […] die Nennung dieser herausragenden Taten der Kennzeichnung der umfassenden Überlegenheit des geschilderten Helden“. 156 In Jesus selbst kommt die „Königsherrschaft Gottes zu den Menschen“. So M. W, Jesus von Nazaret, Theologische Bibliothek Band VI, Göttingen 2019, 121. Allerdings bezieht sich Wolter mit seiner Aussage nicht auf die markinische Jesusdarstellung, sondern auf den irdischen Jesus von Nazareth. 157 T. S, Glaube bei Markus. Glaube an das Evangelium, Gebetsglaube und Wunderglaube im Kontext der markinischen Basileiatheologie und Christologie, SBS 12, Stuttgart 21987, VII, hebt zu Recht die Verschränkung der zentralen Theologumena bei Markus hervor: Die Beziehung des Glaubens auf Gott und auf Jesus Christus und das Verhältnis der Christologie zur Basileia-Verkündigung Jesu wie zur markinischen Theo-logie. Zum Verhältnis zwischen der Christusbezeichnung und dem Wirken Jesu in Wort und Tat vgl. SH, Markusevangelium (s. Anm. 134), 251: „Das, was er ist, das, was er tut und das, was er sagt, zeigt sein Wesen als Christus.“ 158 Vgl. B, Mark (s. Anm. 146), 65.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, aus ihrem Arbeitsalltag als Fischer heraus. Auch sie zögern nicht, ihm unverzüglich zu folgen. Das Motiv der Dringlichkeit und die Schnelligkeit der getroffenen Entscheidungen spiegeln den im Wort καιρο ς enthaltenen Zeitaspekt. Das sofortige Jetzt, die radikale Gegenwärtigkeit sind das Gebot der Stunde. Mit der Berufung der ersten Jünger wandern der Glaube und die Gottesbeziehung in eine soziale Gemeinschaft ein, die bereits fünf Personen umfasst. Die gemeinschaftsbildende Kraft des Glaubens äußert sich auch im gemeinsamen Gotteslob von Personen, die nicht Teil des Jüngerkreises Jesu sind oder werden. Der körperlich Gelähmte und die geistlich Erstarrten in Mk 2,1–12 finden sich am Ende der Szene in einer ungetrübten Gottesgemeinschaft wieder. Das Motiv der Gemeinschaftsbildung über bestehende Grenzen hinweg ist das Thema der Erzählung von der Berufung des Levi und des anschließenden Zöllnergastmahls (Mk 2,13–17). Der Einsetzung des Zwölferkreises in Mk 3,13–19 kommt konstitutive Bedeutung für die Verkündigungstätigkeit Jesu zu. Die Zwölf werden zum Verkündigen ausgesandt und erhalten die Vollmacht zur Dämonenaustreibung (Mk 3,15). Damit werden auch sie an der Geistausbreitung beteiligt, die das Wirken Jesu charakterisiert. Die Frage, wer in Wahrheit zur Familie Jesu und damit zu seinen engsten Angehörigen gehört, beantwortet Jesus mit dem Hinweis auf den Willen Gottes. Wer ihn tut und aus der Gottesbindung lebt, gehört zur Kernfamilie Jesu (Mk 3,31.35). Seine heimatliche Herkunft verschafft Jesus selbst keine Vorteile bei seiner Verkündigung. Seine Predigt in der Synagoge von Nazareth führt zu distanzierten Reaktionen der Zuhörer (Mk 6,1–6). Dass die Angehörigen des inneren Zirkels um Jesus nicht den Alltagsproblemen gelebten Lebens entnommen sind, macht die Szene vom plötzlich aufkommenden Sturm während der Überfahrt über den See Genezareth deutlich. Furcht herrscht auch im engsten Jüngerkreis. Jesus charakterisiert die Todesangst seiner Begleiter als einen Mangel an Glauben (Mk 4,35–41). Die Aussendung der Zwölf mit der Vollmacht, unreine Geister zu vertreiben, wird nach Mk 3,14.15 ein weiteres Mal in Mk 6,7 thematisiert. Als verlängerter Arm Jesu wirken die Jünger daran mit, Jesu in 1,14.15 formuliertes Grundanliegen in die Tat umzusetzen. Sie verkündigen den Ruf zur Umkehr (Mk 6,12). Die Erzählungen von Zusammenkünften großer Menschenmengen in Mk 6,30–44 und Mk 8,1–9 zeigen Jesus in der Rolle dessen, der die Massen speist. Ein Verkündigungsaspekt wohnt den Szenen dadurch inne, dass beide Male eucharistische Terminologie durchscheint. Sowohl in der Verbfolge von Mk 6,41 er nahm die Brote und blickte auf und dankte und brach und gab als auch in der von Mk 8,6 und er nahm und dankte und brach und gab klingen Formulierung und Tonlage des Brotworts von Mk 14,22 an: Er nahm und dankte und brach und gab. Von Mk 14,22–25 her gelesen stehen die beiden Erzählungen von der Speisung der 5000 und der der 4000 nur vordergründig für Jesu Qualität als Wundertäter im Sinne der Fähigkeit, eine gewaltige Zahl von Menschen leiblich sättigen zu können. Die Massenspeisungen sind für die Zuwendung Jesu zu den hungernden

5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft

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Menschen transparent, denen er sich in seinem heilsamen Tun selbst gibt. Für die Gesamtintention des Markusevangeliums ist die Tatsache bedeutsam, dass die erste Speisungserzählung am Westufer des Sees Genezareth die Speisung einer jüdisch konnotierten Gemeinschaft darstellt, während die zweite am Ostufer im Zusammenhang mit Jesu Aufenthalt in der Dekapolis (Mk 7,31) stattfindet und Jesu Hinwendung zu den Heiden thematisiert.159 Die Zahl der Körbe, in denen nach erfolgter Speisung zusammengetragen und aufgehoben wird, was übriggeblieben ist, unterstreicht die Nachwirkung von Selbsthingabe und Gabe Jesu für Juden und Heiden. Während in der Zwölfzahl aus der Speisung auf jüdischem Boden die Beziehung zum Zwölferkreis als dem nachösterlichen Leitungskreis der palästinisch-jüdischen Christusglaubenden mitschwingt, lässt sich die Siebenzahl mit dem Leitungsgremium der sog. Hellenisten, d.h. der Gruppe der hellenisierten jüdischen Christusglaubenden in der Jerusalemer Urgemeinde verbinden (Apg 6,1–7). Die strittigen Fragen nach der sachgemäßen Auslegung des Gesetzes in Mk 7 werden von Jesus unter Hinweis auf die inneren Widersprüche, die sich bei ihrer Anwendung ergeben, angesprochen. Die Triebfeder der Gedankenführung besteht darin zu prüfen, wie es um die Menschendienlichkeit der bestehenden Regeln in der konkreten Lebenssituation bestellt ist. Sie bildet das Kriterium für Jesu Kritik an der Praxis des Gesetzesvollzugs. Diese Beurteilung traditioneller jüdischer Gepflogenheiten liegt auf der Linie der grundsätzlichen theologischethischen Ausführungen in Mk 2,1–3,6, in denen der markinische Jesus normative Leitlinien formuliert, die für das Zusammenleben der christusglaubenden Gemeinde des achten Jahrzehnts orientierenden Charakter besitzen.160 Das theologische Zentralthema des Markusevangeliums, das angemessene Christusverständnis, debattiert Jesus in Mk 8,27–33 im engsten Jüngerkreis unter maßgeblicher Beteiligung des Wortführers Petrus. Die Szene bildet den Anlass für grundsätzliche thetische Ausführungen zum lebensbedrohlichen Charakter der Nachfolge Jesu (Mk 8,34–38). In den drei Kapiteln Mk 8, 9 und 10 bildet das Verhältnis von Größenvorstellungen und Niedrigkeitsaussagen den Rahmen für die Einzelsequenzen. Dass drei der vier Erstberufenen, nämlich Petrus, Jakobus und Johannes, eine Sonderrolle im Zwölferkreis einnehmen, geht aus Mk 9,2–9 hervor. Die drei sind die Begleiter Jesu bei seiner Verklärung und Zeugen der Erscheinungen des Elias und des Mose. Auch hier erscheint Petrus als der Wortführer (Mk 9,5). Gleichwohl stellen die Jünger nach der erfolgten Heilung des epilepsiekranken Kindes fest, dass sie im Unterschied zu Jesus nicht in der Lage waren, den bösen Geist auszutreiben (Mk 9,28). Die bleibende Differenz zwischen ihnen und Jesus bleibt trotz der persönlichen Nähe zu ihm erhalten. Auf die unmittelbar anschließende zweite Ankündigung der Auslieferung, Tötung und

Vgl. H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 188. Dazu s. u. 5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6. 159

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Auferstehung des Menschensohns in Mk 9,31 folgt paradoxerweise sogleich eine Debatte unter den Jüngern, wer von ihnen der bedeutendste sei. Das Verhältnis zwischen der Nachfolge Jesu unter bedrängenden Umständen und der neuerliche Vorausverweis Jesu auf sein kommendes Leiden, Sterben und Auferstehen in Mk 10,32–34 lösen wiederum ein Gespräch unter den Jüngern nach einer für sie verheißungsvollen Zukunft aus. Johannes und Jakobus, die mit Petrus gemeinsam Zeugen der Verklärung Jesu waren, bringen ihre Sehnsucht nach einer Führungsrolle zur Sprache (Mk 10,37). Seit der durch Jesus angestoßenen Frage, für wen ihn die Leute halten (Mk 8,29), kreisen die Gespräche im Jüngerkreis um die Relation zwischen Jesu angekündigtem Leiden und Sterben, ihrer eigenen bedrohten Existenz als seine Nachfolger und den erhofften Perspektiven für eine siegreiche Zukunft, die ihnen eine persönliche Entschädigung für die erlittenen Entbehrungen bietet. Das Quartett der vier erstberufenen Jünger aus Mk 1,16–20 begegnet als Hörer der Endzeitrede Jesu in Mk 13,3 wieder. Die Namensreihenfolge Petrus, Jakobus, Johannes, Andreas spiegelt dabei wider, dass die drei erstgenannten wiederholt in zentraler Rolle begegneten, während das für Andreas nicht gilt. Durch die Aufzählung der vier Jüngernamen wird ein rahmender Zusammenhang zwischen dem Beginn und dem sich ankündigenden Ende des Wirkens Jesu hergestellt.161 Der Eingang in die Passion in Mk 14,1–11 zeigt die Risse, die sich im engsten Jüngerkreis auftun. Vor dem Hintergrund der manifesten Tötungsabsicht der Hohepriester und Schriftgelehrten (Mk 14,1–2) zeigen die Jünger Verständnislosigkeit für den Akt der Salbung Jesu mit dem kostbaren Nardenöl. Während für die glaubende Leserschaft zweierlei transparent wird: zum einen die vorauslaufende Totensalbung, zum anderen die Salbung des Christus, nehmen die Jünger auf der Oberfläche lediglich die scheinbare Geldverschwendung wahr. Das tiefe Nichtbegreifen, wen sie in Person Jesu vor sich haben, dringt in die Passionsgeschichte ein. Judas Iskarioth geht hin und verrät Jesus an die Hohepriester (Mk 14,10). Die teilweise brüchige Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern steht im Begriff zu zerbrechen. Am Passaabend sind alle ein letztes Mal in Tischgemeinschaft vereint. Auch Judas ist einbezogen (Mk 14,17–25), wobei sein Name in V.17–21 nicht eigens genannt wird.162 Mit dem nächtlichen gemeinsamen Gang zum Ölberg beginnt die Separierung Jesu von seinen Anhängern. Petrus liefert unter Zustimmung der

161 Alle vier Namen werden außerdem noch in Mk 1,29 genannt. Jesus kommt in das Haus des Simon und Andreas, in Begleitung von Jakobus und Johannes. Auch in der Jüngerliste in Mk 3,16–19 erscheinen alle vier Namen; Andreas wird jedoch deutlich nach hinten abgesetzt aufgeführt. 162 Zum Verhältnis von Verrat und Herrenmahl in der Passionsgeschichte vgl. C.D. P, Die Entstehung der Leidensgeschichte. Eine traditionsgeschichtliche und historische Untersuchung des Werdens und Wachsens der erzählenden Passionstradition bis zum Entwurf des Markus, Diss. theol. masch., Heidelberg 1965, 87–95.

5.9 Der Beitrag Jesu zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft

187

übrigen einen Treueschwur, bei dem er sich selbst überschätzt (Mk 14,26–31). In Gethsemani wacht und betet Jesus allein (Mk 14,32–42). Anschließend überantwortet Judas Jesus den Häschern mit einem Kuss (Mk 14,43–50). Eine spezielle Diskussion über den Charakter der Jesusgruppe hat die Beobachtung angestoßen, dass die Jünger Jesu laut Mk 14,49.50 bewaffnet waren und einer von ihnen bei der anstehenden Verhaftung Jesu sein Schwert benutzte. Diese Facette des Kreises um Jesus wird in Mt 26,52 dadurch gemildert, dass Jesus solches gewaltsame Handeln zurückweist. In Lk 22,50.51 stoppt er das aggressive Vorgehen und macht den entstandenen Schaden wieder gut. Dennoch bleibt offen, aus welchem Grund zumindest einige der Jünger offenkundig bewaffnet in Jerusalem unterwegs sind. Ist Jesus also der Anführer einer bewaffneten Bande junger galiläischer Männer? Immerhin provoziert er durch sein aggressives Verhalten im Tempelbezirk (Mk 11,11–27), sagt die Zerstörung des Tempels voraus (Mk 13,2) und wird mit der Anklage konfrontiert, er selbst wolle den Tempel niederreißen (Mk 14,58). Erwartet er den Anbruch apokalyptischer Ereignisse und bereitet sich auf einen Endkampf vor, bei dem eine Engelarmee ihn und seine Jünger unterstützen wird? Da es zudem im römischen Reich verboten oder zumindest unüblich war, waffentragend durch eine Stadt zu gehen, wäre nachvollziehbar, dass die römischen Besatzer solche Personen gerade in dem Unruheherd Jerusalem verhafteten.163 Dieser These wurde mit dem Hinweis widersprochen, man könne nicht von einem generellen römischen Waffenverbot reden, es gälten unterschiedliche lokale Gepflogenheiten. Darüber hinaus seien mit µα χαιραι Opfer- bzw. Schlachtmesser bezeichnet, die gerade am Passafest viele Männer trugen; dies stellte keinen Grund für eine Verhaftung oder Hinrichtung dar.164 Die Annahme eines Endkampfes unter Beistand von Engelheeren sei unwahrscheinlich, für sie gäbe es keine Belege.165 Als Bestätigung für den Gemeinschaftsverlust innerhalb des Jüngerkreises und die eingetretene Distanz zu Jesus kräht wie angekündigt nach der dritten Verleugnung des Petrus zum zweiten Mal der Hahn (14,66–72). Mit dem Tod Jesu treten die drei Frauen Maria, die Magdalenerin, Maria, die Mutter von Jakobus und Joses sowie Salome in das Zentrum der Handlung. Ab dem Gottessohnbekenntnis des römischen Centurio in Mk 15,39 sind sie die maßgeblich handelnden Personen.166 Sie erleben als Augen- und Ohrenzeuginnen das Sterben Jesu und das geistgewirkte Bekenntnis des Hauptmanns mit. Sie beobachten, wo Jesus beigesetzt wird, sie gehen am Morgen der Auferweckung

163 So die These von D.B. M, Jesus in Jerusalem: Armed and not Dangerous, JSNT 37(1) (2014), 3–24, 3–9. 164 P. F, Arms and The Man: A Response to Dale Martin’s ‘Jesus in Jerusalem: Armed and Not Dangerous’, JSNT 37(3) (2015), 312–325, 315.323–324. Vgl. auch die Kritik von F.G. D, Dale Martins’s Swords for Jesus: Shaky Evidence? JSNT 37(3) (2015), 326–333, 327–331. 165 D, Dale Martins’s Swords for Jesus (s. Anm. 164), 330–331. 166 Vgl. Mk 15,40; 15,47 ohne Nennung von Salome; 16,1.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

zum Grab Jesu, um ihn zu salben. An sie ergeht der Auftrag des jungen Mannes am Grab, den Jüngern und Petrus zu sagen, dass der Auferweckte nach Galiläa vorausgehen wird und sie ihn dort sehen werden, wie er selbst zu Lebzeiten angekündigt hat. Narrativ wird vermittelt, dass mit dem Tod Jesu die Trennung der Geschlechter in der Gemeinschaft der Christusglaubenden ihre Bedeutung verloren hat. Aus der männerdominierten Gemeinschaft des Irdischen ist mit seinem Tod ein Gemeinschaftsverhältnis entstanden, für das das Wirken der Frauen konstitutive Bedeutung besitzt. Was bei Paulus zwanzig Jahre zuvor in der Wendung anklang: In Christus ist weder männlich noch weiblich (Gal 3,28), findet bei Markus seine erzählerische Ausformulierung. Die Frauen übernehmen die Pflicht der Pietät, den Leichnam des Verstorbenen zu salben. Sie erhalten eine zentrale Rolle bei der Vermittlung der Osterbotschaft und geben den männlichen Anhängern Jesu den Impuls, der diesen die Christusbegegnung erst ermöglicht. Was im Wirken Jesu mit der Erstberufung der vier männlichen Jünger in Mk 1,16–20 begann, wird durch das Werk der drei Frauen am Ende in die nachösterliche Phase des Christusglaubens hinübergetragen. Frauen wie Männer sind Teil der neu entstandenen Christusgemeinschaft. Beide sind auf je ihre Weise mit den Anfängen und der Entstehung der Gemeinschaft der Christusglaubenden verbunden.

5.9.5 Jesu Lehre als Exorzismus: Mk 1,21–28 Im Anschluss an den ersten Akt der Vergemeinschaftung in Mk 1,16–20 wird das Wirken Jesu in Wort und Tat als Lehre thematisiert. Jesu Lehre selbst ist ein Exorzismus. Seine verbalen Äußerungen in der Synagoge von Kapharnaum sorgen für Entsetzen. Als Grund wird angeführt, dass seinem Lehren eine Vollmacht innewohnt, die die Leute von den Schriftgelehrten nicht kennen. Offenkundig ist es die Art und Weise, wie Jesus lehrt, die Aufregung verursacht. Nicht gesagt wird, ob auch das was seiner Äußerungen zu der Unruhe beiträgt (Mk 1,21–22). Die Was-Frage steht hingegen im Anschluss an den unmittelbar folgenden Exorzismus im Mittelpunkt des Interesses. Die abwehrende Geisteshaltung der Hörerschaft in Mk 1,22 spiegelt sich in V.23–26 im Auftreten eines Mannes, der von einem unreinen Geist besessen ist. Die geräuschvolle Austreibung dieses Dämons wirft unter den Augenzeugen des Geschehens die Frage auf: Was ist dieses? Und der Erzähler lässt die Leute die Antwort gleich selbst aussprechen: Eine neue Lehre in Vollmacht; und den unreinen Geistern befiehlt er, und sie gehorchen ihm (Mk 1,27). Die Austreibung des unreinen Geistes ist die in Vollmacht vollzogene neue Lehre Jesu. Jesu vollmächtiges Reden und sein Handeln richten sich auf das gleiche Ziel: Die Austreibung von Geistern, die dem göttlichen Geist Jesu entgegenstehen.167 Am Ende der Episode in der Synagoge hat sich der Jesus innewohnende Geist durchgesetzt. 167 Zur Auslegung von Mk 1,21–28 im Einzelnen vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 216–222: „Die Lehre Jesu als Exorzismus“ (216).

5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6 189

Das ergänzende Gegenstück zur Austreibung des widergöttlichen Geistes am jüdischen Versammlungsort ist die Exorzismusszene am Ostufer des Sees Genezareth in heidnisch konnotiertem Gebiet. Auf gerasenischem Territorium hält sich Jesus in einem Gräberfeld auf. Dort befreit er einen schwer gezeichneten Menschen, der von einer Legion unreiner Geister besessen war (Mk 5,15), von seinen Dämonen. Widergöttliche Geister, so die Botschaft der Exorzismusszenen, begegnen innerhalb wie außerhalb jüdischer Gemeinschaften und Gebiete. Jesu dämonenaustreibendes Wirken besitzt eine transnationale Ausrichtung.168

5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6 Die für das Zusammenleben der christusglaubenden Gemeinden der siebziger Jahre grundlegenden theologisch-ethischen Normen entwickelt der markinische Erzähler in Mk 2,1–3,6. Sie sind erzählerisch mit dem machtvollen Agieren Jesu in Wort und Tat verwoben und werden aus konkreten Situationen heraus entwickelt und der Leserschaft nahegebracht. Anders formuliert: Der Erzähler entfaltet die für die Gemeinschaft der Christusglaubenden nach dem Jahr 70 geltenden Normen in narrativer Weise in Episoden aus der Lebenszeit Jesu am Ende der zwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts. In einem Zyklus von fünf Konfliktszenen imaginiert er traditionell anmutende Szenen. Sie bringen den Neuheitscharakter der mit der Person Jesu verbundenen Botschaft zum Ausdruck. Sie lassen auch die Differenz gegenüber den ethisch-theologischen Auffassungen erkennen, die in nicht an Jesus Christus gebundenen jüdischen religiösen Gruppierungen gelten. Deren Sichtweisen werden in den Erzählungen von religiösen Repräsentanten des Judentums zur Zeit des irdischen Jesus vorgetragen. Mit ihnen und ihren Standpunkten setzt sich Jesus in den geschilderten Szenen auseinander. Als Anknüpfungspunkt für strittige Fragen dienen Situationen, in denen Jesu Verhalten Befremden bei seinen jüdischen Gesprächspartnern auslöst. Die mediale Funktion der gegen Jesus vorgebrachten Einwände ist derjenigen vergleichbar, die auf heutigen Internetseiten den frequent asked questions zukommt. Die Fragen werden auf der Grundlage realen oder vermuteten Erklärungsbedarfs von den Antworten her formuliert. FAQs wollen nicht über die Vorgeschichte einer neu eingeführten Verfahrensweise informieren, sondern konkret den Übergang in eine neue Praxis erleichtern. Der markinische Erzähler setzt die Pharisäer und Schriftgelehrten, die Jesus in 2,1–3,6 wiederholt zur Rede stellen, dazu ein, der Leserschaft Auskunft über die neuen ethisch-theologischen Grundlagen des Christusglaubens zu geben. Die kurzen Episoden erschließen sich, wenn man sich die jeweilige Frage vergegen-

168

Vgl. dazu H, Jesu Weg (s. Anm. 42), 186–189.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

wärtigt, die für die Kommunikation des Erzählers mit der Leserschaft von Bedeutung ist.169 In Mk 2,1–12 sieht sich Jesus dem stummen Einwand einiger Schriftgelehrter ausgesetzt. Sie beargwöhnen seinen Zuspruch der Sündenvergebung an den Gelähmten als Blasphemie. Jesus habe ein Recht für sich in Anspruch genommen, das Gott allein zukommt. Wer kann Sünden vergeben außer einer – Gott?170 Auch wenn Jesus seinen Zuspruch in V.5b in der 3. Person Plural Passiv formuliert und damit im Sinne eines passivum divinum Gott als zuständige Instanz anführt, besitzt ihr Einwand ein relatives Recht darin, dass für sie ungeklärt ist, ob Jesus die Berechtigung – die Vollmacht (V.10) – besitzt, eine solche Zusage Gottes auszusprechen. Sie problematisieren die geistliche Kompetenz Jesu. Die Erzählung in Mk 2,1–12 besteht aus zwei Handlungssträngen. Der eine erzählt von Sündenvergebung und Heilung eines gelähmten Mannes, der andere von einem Disput mit kritischen Schriftgelehrten, in dem freilich allein Jesus explizit das Wort erhebt. Eingespannt ist die Gesamterzählung in den Rahmen eines umfassenden Lähmungszustandes. Während die eine behinderte Person in körperlicher Paralyse erstarrt ist, verharrt die Gruppe der Schriftgelehrten reglos und stumm in geistiger Abwehrhaltung gegenüber dem Handeln Jesu. Der Vergebungszuspruch Jesu verweist auf einen vorausliegenden Unheilszusammenhang. Nach mythischer Auffassung besitzen körperliche Gebrechen ihre Ursache in einem geistlich-geistigen Fehlverhalten. Wo Krankheit vorliegt, lässt sich auf Schuld zurückschließen; denn Krankheit gilt als Strafe für die Sünde. Mit seinem Zuspruch der Sündenvergebung bewegt sich der markinische Jesus innerhalb des Rahmens eines mythischen Verstehenszusammenhangs. Unter der Voraussetzung eines geistlich-leiblichen Verstrickungszustands behandelt Jesus das körperliche Handicap an der Wurzel, d.h. dem vorausgesetzten Verschulden. Sein Verhalten fügt sich dem mythischen Weltverständnis ein. Körperlich materielle Zustände gelten darin als Spiegel immaterieller und spiritueller Vorgänge. In theologischer Hinsicht vergewissert Jesus den Mann auf der Bahre seines bereinigten Gottesverhältnisses. Mit dem Vergebungswort behauptet er eine geistliche Realität, die dem Augenschein widerspricht. Trotz der körperlichen Behinderung sagt er dem gelähmten Mann zu, sich in einer guten Gottesgemeinschaft zu befinden. Damit diese Feststellung nicht im luftleeren Raum bleibt, muss der Erzähler – den mythischen Verknüpfungsregeln Rechnung tragend – die Begebenheit weiterführen. Bliebe der Gelähmte auf seiner Matte liegen, wäre der Zusammenhang zwischen körperlicher Befindlichkeit und geistlichem Zustand nicht gewahrt, da sich nach mythischer Logik das eine im anderen spiegelt. Demzufolge ist es konsequent, dass Jesus den Mann über die Sündenvergebung hinaus

169 Vgl. P.-G. K, Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 74–92, 91–92. 170 Mk 2,7.

5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6 191

für alle Zeugen des Geschehens sichtbar auch körperlich in Bewegung setzt (Mk 2,11–12). Die Paralyse der Schriftgelehrten besteht primär in ihrer Ablehnung des Verhaltens Jesu. Sie sehen sich als Wahrer der Gott vorbehaltenen Vergebungsmacht. Daher verschließen sie sich dem Vergebungszuspruch. Der Erzähler stellt sie als verhärtete Verteidiger der Souveränität Gottes dar. Sie meinen, einer religiösen Pflicht nachzukommen, wenn sie Gott vor einer vermeintlichen Grenzüberschreitung durch Jesus schützen. Bis in ihre Körperhaltung und Stummheit hinein gleichen sie dem körperlich gelähmten Mann. Dessen Heilung setzt am Ende der Episode auch sie körperlich und geistlich in Bewegung. Mit allen anderen vereinen sie sich am Schluss der Erzählung im gemeinsamen Gotteslob (V.12). In ihr Gottesverhältnis ist neues Leben gekommen. Auch ihre Erstarrung hat sich gelöst. Ohne die Regeln mythischen Erzählens grundsätzlich zu verlassen, präsentiert der Erzähler Jesus als den, der verlorengeglaubte Gottesgemeinschaft wiederherstellt. Mit dem einen Gelähmten wird gleichzeitig die Gruppe geistlich Verhärteter aus ihrer Selbstisolierung herausgeholt. Die Erzählung handelt in der Summe von einem umfassenden Reintegrationshandeln Jesu. Alle Personen in der Erzählung finden in eine lebendige Gottesgemeinschaft zurück. Der Erzähler setzt seine christologische Perspektive soteriologisch um. Jesus ist derjenige, der Menschen in die für sie heilsame Gottesbeziehung zurückbringt.171 Das integrierende Handeln Jesu kennzeichnet auch die anschließende Perikope in Mk 2,13–17. An die Restitution verlorengeglaubter Gottesbeziehung in Mk 2,1–12 schließt sich die Reintegration sozial ausgeschlossener Personen an. Auf die theologische Vertikale, die Klärung der Gott-Mensch-Beziehung, folgt auf horizontaler Ebene die Stiftung zwischenmenschlicher Gemeinschaft. Beide Perikopen sind von dem sie verbindenden soteriologischen Anliegen durchdrungen. Die Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft ermöglicht die Revitalisierung der zuvor erstarrten Personen. Die Aufnahme des Levi in die Jesusnachfolge und die Eröffnung der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern bricht die vorherige Isolierung dieser ausgegrenzten Personengruppe auf. In Mk 1,21–28 war die Lehre Jesu als die tathafte Durchsetzung des ihn erfüllenden Geistes entfaltet worden. In Mk 2,13 beginnt die Szene wiederum unter Hinweis auf die Lehrtätigkeit Jesu. In diesem Kontext wirkt die anschließende Berufung wie eine weitere Illustration des Lehrinhalts. Jesus lehrt das Volk und beruft in 2,14 en passant Levi von der Zollstätte weg in die Nachfolge. Damit verstößt er gegen das in der erzählten Welt geltende Distanzierungsgebot. Dieses schrieb vor, sich von dem als Kollaborateur mit der römischen Besatzungsmacht geltenden Zolleinnehmer fernzuhalten. Diese Erzähllinie wird in der anschlie-

171 Vgl. K, Begründung geltender Normen (s. Anm. 169), 80–82. Vgl. zur Interpretation der Erzählung im Einzelnen auch K, Die Heilung eines Gelähmten (s. Anm. 120), 135–139.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

ßenden Schilderung des Zöllnergastmahls in 2,15–17 weitergeführt. Die Zahl zu meidender Personen wird vergrößert. Es sind viele, die Jesus in die Tischgemeinschaft aufnimmt; und viele folgen ihrerseits ihm (V.15). Die Frage, die hier verhandelt wird, bringen die Schriftgelehrten der Pharisäer vor. Was soll das, dass er mit Zöllnern und Sündern isst? (V.16). Die jüdischen Schriftgelehrten sprechen Jesu Jünger auf das Problem der zu vermeidenden Gemeinschaft mit Unreinen an. Im Rahmen einer Erzählung der 70er Jahre des 1. Jahrhunderts übersteigt diese Anfrage den situativen Kontext. In der Verkündigungssituation des markinischen Evangeliums ist eine Antwort auf die Frage gefordert: Welchen Personenkreisen darf sich die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus öffnen? Die Überschreitung des jüdischen Rahmens und die Integration sog. Heiden ist zur Zeit des Markusevangeliums bereits seit Jahrzehnten Praxis. Mit welcher Begründung ist das erlaubt?172 Eine „überzeugende Argumentation“ im Blick auf die „jüdische Synagogengemeinde“ ist in Mk 2,13–17 „nicht mehr angestrebt“173. In der Retrospektive des Christusglaubens hat sich bereits Jesus selbst zu Lebzeiten gegen die theologisch-ethisch begründete Separierung von Menschen, die nicht der geltenden Norm entsprachen, gestellt. Sein Doppelargument in V.17, mit dem er innerhalb der Erzählung seine eigene Praxis begründet, besitzt überzeitlichen Charakter. Es lässt sich unmittelbar auf Argumentationszusammenhänge einer späteren Zeit unter veränderten Rahmenbedingungen beziehen. Der Bezug des Logions auf das Verhältnis zwischen einem Arzt und dem Kranken in V.17a transportiert zweierlei. Zum einen ist für den Beruf des Arztes gerade nicht der Rückzug vom Kranken, sondern die heilende Hinwendung zu ihm charakteristisch. Christusglaubende, die sich unter dem Bild des Arztes hinter Jesus versammeln, werden in seine Bewegung zu den Desintegrierten hineingenommen. Für sie ist dem Berufsbild des Arztes folgend die Bedürftigkeit das Kriterium dafür, wem sie sich zuwenden, und die Beziehungsaufnahme die Norm, der sie in ihrem Sozialverhalten folgen. Zum anderen wird Jesus dadurch, dass sein Gemeinschaft stiftendes Verhalten dem Heilen eines Arztes gleichgestellt wird, als Person eine besondere Stellung eingeräumt.174 Seine besondere 172 F. V, Die Entwicklungsgeschichte der jesuanischen Chrien und didaktischen Dialoge des Markusevangeliums, in: D.-A. Koch/G. Sellin/A. Lindemann (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche, FS Willi Marxsen, Gütersloh 1989, 45–56, 52, äußert zutreffend, „daß die Einwände der Pharisäer ihre Funktion darin erschöpfen, daß sie Gelegenheit zur christlichen Unterweisung geben“. 173 Die „Argumentation [hat] nur im innerchristlichen Bereich“ „Überzeugungskraft“. So mit Recht D.-A. K, Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern. Erwägungen zur Entstehung von Mk 2,13–17, in: D.-A. Koch/G. Sellin/A. Lindemann (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche, FS Willi Marxsen, Gütersloh 1989, 57–73, 72. 174 Vgl. R.  B, Christus der Arzt. Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums (Teil I), BZ NF 54 (2010), 36–53, 51.

5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6 193

Autorität wird durch die abschließende Ich-bin-Formulierung in V.17b unterstrichen. In Mk 2,5 überwindet Jesus den Trennungscharakter der Sünde durch den Zuspruch und die Vergewisserung der Vergebung. In 2,13–16 praktiziert er ein grenzüberschreitendes Verhalten, das Menschen aus ihrer Isolation im Milieu der Sünder herausholt. Er bringt durch sein gemeinschaftsstiftendes Verhalten eine Norm zur Geltung, die den Rahmen der zuvor geltenden ethisch-religiösen Ordnung verlässt. Der christusglaubenden Leserschaft wird vermittelt, dass die Überwindung der Distanz zu Personen, die als Sünder marginalisiert werden, zu den Kennzeichen des Gemeindelebens im Zeichen des Jesus-Christus-Glaubens gehört. Die Debatte über die Notwendigkeit des Fastens zwischen Jesus und den Johannesjüngern und Pharisäern in Mk 2,18–22 weist ebenfalls über das historische setting hinaus, in dem der Erzähler sie präsentiert. Auch in dieser Erzählung erschließt sich die Vermittlungsabsicht von ihrem Ende her. Verhandelt wird zum einen die Bedeutung von Kontext und Zeitumständen für die Geltung einer Norm. Was für die Zeit des Wirkens Jesu galt, muss nicht gleichlautend unter anderen Umständen in einer späteren Generation genauso praktiziert werden. Zum anderen wird die Grundlage, auf der die Einhaltung einer Norm eingeklagt wird, kontrovers diskutiert. Das ist von zentraler Bedeutung für die Frage, auf welcher Basis Gemeinschaftsbildung unter der Perspektive des Glaubens erfolgt. Die Jünger des Johannes und die der Pharisäer beklagen sich bei Jesus darüber, dass die Praxis seiner Jünger in puncto Fasten von der ihren abweicht. Während die Johannes- und Pharisäerjünger fasten, tun die Jünger Jesu dieses nicht. Die Kontroverse über gleiches und ungleiches Verhalten rührt an das Thema der Gruppenzugehörigkeit und der Gemeinschaftsbildung. Wenn die Kritiker Jesu dessen Jüngern ein gleichartiges Verhalten abverlangen, dann setzen sie voraus, dass Jesu Jünger Teil der sie alle umschließenden Gemeinschaft vor dem Hintergrund übereinstimmender Glaubensüberzeugungen in zentralen Dingen sein und bleiben möchten. Die Gleichartigkeit des Verhaltens in der Fastenfrage wird damit zum Testfall für die Zugehörigkeit zur Gesamtgruppe jüdischer Glaubender. Der Kritik der Gruppe um Johannes und die Pharisäer liegt die Anschauung zugrunde, dass der Einhaltung der Fastenregel gemeinschaftsstiftende Bedeutung zukommt. Dieser Vorstellung von religiöser Gruppenbildung widerspricht die Erzählung. Jesus begründet das abweichende Verhalten seiner Anhänger implizit christologisch mit der Anwesenheit des Bräutigams bei der Hochzeitsfeier. Die Gemeinschaft mit ihm bildet die Norm. Daher ist das Fest kein Fastentag! Abgesehen davon ist zu anderen Zeiten und in anderen Verhältnissen das Fasten ein normaler Vorgang. Das heißt, die Gegenwart Jesu, des Bräutigams, setzt die bis dato geltende Regel der Gemeinschaftsbildung außer Kraft. Die Zugehörigkeit zu Jesus ist das Maß des Gebotenen. Die Bindung an ihn präjudiziert den Umgang mit geltenden Normen. Sie eröffnet den Raum zu eigenen neuen Bewertun-

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gen. In der Hauptsache bildet sie das gemeinschaftsbildende Zentrum für seine Gefolgschaft. Die Erzählung thematisiert die grundsätzliche Verhältnisbestimmung zwischen alt und neu. Sie präsentiert ein Kriterium, mit dem die Leserschaft angesichts eines Normenkonflikts zu einer Entscheidung gelangen kann. Neue Umstände erfordern eine neue Beurteilung. Alte Regeln und Gebräuche passen nicht auf veränderte Verhältnisse. Die Episode propagiert den Vorrang gegenwärtiger neuer Anforderungen in veränderter Zeit gegenüber der Traditionswahrung. Sie weist die Einforderung des bisher Gültigen zur Regelung gegenwärtiger Verhältnisse zurück. Neue Gegebenheiten erfordern neue Normen. Diese grundsätzliche und eher weisheitliche Einsicht unterstreicht die christologisch unterlegte Zentralbotschaft der Erzählung. An die Stelle des gemeinsamen Rückbezugs auf die jüdische religiöse Tradition tritt als gemeinschaftsstiftende Mitte der Jesusbezug. Die Bräutigamsmetapher weist die Jesus-Christus-Bindung als die Grundlage der Gemeinschaftsbildung der Glaubenden aus. Darüber hinaus ist sie das Kriterium, das die Freiheit zur Gewinnung eigener Normen eröffnet. In einem Normenkonflikt entwickelt die Erzählung ausgehend von dem durch Repräsentanten des Judentums vorgetragenen Vorschlag zur Bildung einer übergreifenden Gemeinschaft zwischen ihnen und der Jesusgruppe auf der Basis der Befolgung der traditionellen Fastenregelung einen Alternativvorschlag. Die gemeinschaftsstiftende Mitte der Glaubenden ergibt sich für die markinische αÆ ρχη aus der Jesus-Christus-Bindung. Diese setzt ein neues Verständnis von Normativität aus sich heraus. Angesichts der Tatsache, dass Christen nach dem Jahr 70 vielerorts gefastet haben, dient die Erzählung zugleich rückschauend zur Begründung des jetzigen Normalzustands.175 Der Verzicht auf das Fasten gilt als eine christologisch begründete grundsätzliche Möglichkeit. Er muss aber nicht zum verbindlichen Dauerzustand werden.176 Die Erzählung vom Ährenraufen der Jünger am Sabbat in Mk 2,23–28 erhebt das Wohl des Menschen zum Kriterium des Verhaltens in einer ethischen Entscheidungssituation. Ein weiteres Mal ist es die Pointe am Ende, die die Richtung des vorhergehenden Gedankens zusammenfasst. Wie in Mk 2,17 bündelt in V.27 und 28 ein Doppellogion im Munde Jesu die Intention in einer memorierbaren Formulierung. Mit der Terminierung der Szene auf einen Sabbat insinuiert der Erzähler wie bereits in Mk 1,21 sowie im unmittelbaren Anschluss an diese Episode in Mk 3,1 einen bevorstehenden Konflikt. Zwei Wahrnehmungsperspektiven prallen auf175 Als sprechendes Beispiel vgl. Did 8,1: Eure Fasttage sollen nicht sein mit den Heuchlern. Sie fasten nämlich am zweiten Tag (Montag) und am fünften (Donnerstag). Ihr aber sollt fasten am vierten (Mittwoch) und am Rüsttag (Freitag). Einerseits wird hier die für die Christen geltende Praxis genannt. Andererseits macht die Verschiebung der Fastentage gegenüber dem Judentum das Bedürfnis nach Abgrenzung und Eigenständigkeit deutlich. 176 Zur Darstellung insgesamt vgl. K, Begründung geltender Normen (s. Anm. 169), 84–87.

5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6 195

einander. Zu einer Zeit, in der die Sabbatthematik für eine christusglaubende Gemeinde „nicht mehr strittig ist“177, gibt die Feststellung eines Sabbatbruchs durch Jesu Jünger und die anschließende Verteidigung ihres Verhaltens durch Jesus der Erzählung das zeitgenössische Kolorit am Ende des zweiten Jahrzehnts. Auf der Ebene der Erzählwelt der siebziger Jahre ist auch diese Erzählung transparent für die ethische Orientierung der christusglaubenden Gemeinde jener Zeit. Unter jüdischen Voraussetzungen ist die Kritik der Pharisäer am Verhalten der Jünger, die am Sabbat Ähren ausraufen, eindeutig. Es handelt sich um eine nach dem Gesetz verbotene Handlung. Die Rechtfertigung Jesu in V.25 und 26 ist von ihrem religiösen Vorverständnis her wenig plausibel. Zum einen enthält der auf 1 Sam 22,20 und 2 Sam 15,35 bezugnehmende Verweis auf David einen Fehler. Die Begebenheit fand nicht zur Zeit Abjatars, sondern bereits unter dessen Vater Ahimelech statt.178 Zum anderen liegt bei den Jüngern Jesu die David unterstellte Notlage gerade nicht vor.179 Der Vergleichspunkt der Bezugnahme Jesu auf David liegt an einer anderen Stelle. Wie David nimmt Jesus aus eigener Vollmacht eine autoritative Setzung vor. David vergriff sich seinerzeit verbotenerweise an den Schaubroten. Er beging einen Regelverstoß. Möglich war ihm das aufgrund seiner Machtposition. Jesus eröffnet seine eigene doppelte Argumentation in V.27 mit einer weisheitlichen Sentenz. Sein Kriterium für die Einhaltung einer bestehenden Norm ist ihre Menschendienlichkeit. Das situativ Gebotene steht über dem Einhalten des fixierten Kodex. Wenngleich der Sabbat als solcher zum Schutz des Menschen gegeben wurde und das Sabbatgebot grundsätzlich im Dienste des Menschenwohls steht, ist seine Einhaltung am konkreten Einzelfall zu bemessen. Innerhalb der erzählten jüdischen Welt seiner Zeit darf Jesus mit dieser Sabbatauslegung nicht auf Verständnis rechnen. Innerhalb der Erzählwelt, auf die hin das markinische Werk zielt, entspricht dieser Umgang mit der Norm der christologischen Orientierung der Adressatenschaft. Konsequenterweise ruft V.28 exakt diese letztinstanzliche Begründung auf. Die Orientierung an Jesus führt bei der christusglaubenden Gemeinde zu ethischen Weichenstellungen, die sie in Opposition zu traditionell jüdisch begründeten Verhaltensweisen bringt. Das normsetzende Auftreten Jesu provoziert innerhalb der Erzählung eine sich steigernde Spannung gegenüber den Vertretern der im Judentum geltenden Ordnung. Dieses Charakteristikum des Auftretens

D. L, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 65. Vgl. A. L, „Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden …“. Historische und theologische Erwägungen zur Traditionsgeschichte der Sabbatperikope Mk 2,23–28 parr., in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 15–39, 18, und S, Saat (s. Anm. 31), 109–142, 124 Anm. 53. 179 D.M. C-S, An Analysis of Jesus’ Arguments Concerning the Plucking of Grain on the Sabbath, in: C.A. Evans/ S.E. Porter (Eds.), The Historical Jesus, BiSe 33, Sheffield 1995, 131–139, 135, und L, Sabbat (s. Anm. 178), 18. 177

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Jesu bildet eine signifikante Erzähllinie innerhalb des Markusevangeliums. Sie macht plausibel, warum Jesus bei seinen Zeitgenossen so viel Widerstand erzeugte. Den christusglaubenden Rezipientinnen und Rezipienten im achten Jahrzehnt dient die Szene der Selbstvergewisserung bei der Anwendung des aus der Christologie abgeleiteten ethischen Maßstabs.180 Ihr gegenwärtiger Umgang mit Normen ist eine Folge des Wirkens Jesu. In der Anwendung der durch Jesus eröffneten ethischen Perspektive lebt dieser Anfang in ihrer Gemeinschaft weiter.181 Mk 3,1–6 führt als Abschluss des Zyklus von fünf konfliktuösen Begebenheiten exemplarisch eine ethische Dilemmasituation vor Augen. Wie in Mk 1,21 wird die Szene in 3,1 und 3,2 lokal und zeitlich durch den Doppelhinweis auf die Synagoge und den Sabbat eröffnet. Damit erfolgt ein weiteres Mal ein Vorverweis auf eine anschließende Auseinandersetzung um das Verhältnis von alter und neuer Lehre. In der Synagoge trifft Jesus auf einen Menschen, der ähnliche Krankheitssymptome zeigt wie der gelähmte Mann in Mk 2,1–12. Er leidet an einer vertrockneten, erstarrten, nicht gebrauchsfähigen Hand. Durch das Verb παρατηρε ω wird, bevor Jesus überhaupt mit der behinderten Person zusammentrifft, bereits am Anfang von V.2 konstatiert: Jesu Verhalten wird mit argwöhnischen Blicken begleitet. Die Subjekte des Belauerns werden erst nachträglich in V.6 ausdrücklich benannt. Es handelt sich um Pharisäer, die den Schulterschluss mit Herodianern suchen. In der Begebenheit geht es darum, ob Jesus den Mann heilen wird und damit seinen Kritikern einen Angriffspunkt liefert, ihn der Übertretung des Sabbatgebots zu überführen. Jesus spricht den Mann, dessen Beeinträchtigung in V.3 noch einmal ausgesprochen wird, mit dem Imperativ εÍ γειρε an. Das Verb gehört der Auferweckungsterminologie an und kündigt die Bedeutung des nachfolgend Erzählten an. Jesus eröffnet die Kontaktaufnahme zu der gehandicapten Person mit einer Veränderung der Standorte im Raum. Die Aufforderung an den Mann, in die Mitte zu treten, impliziert: Der Hilfebedürftige steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (V.3). Sein Wohlergehen bildet das Zentrum der Erzählung.182 Die lauernden Pharisäer rücken im Erzählarrangement an die Peripherie des Geschehens. Ihre übelmeinende Einstellung und ihr Standort im erzählten Raum werden parallel geführt. Das eine findet seinen Ausdruck im anderen. Ihre Distanzierung von Jesus bildet sich darin ab, dass sie an den Rand der Szene rutschen. 180 V, Entwicklungsgeschichte (s. Anm. 172), 47, weist zutreffend darauf hin: „Die Erzählung ist in einem christlichen Milieu entstanden.“ 181 Zur Auslegung der Perikope insgesamt vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 175–180, und K, Begründung geltender Normen (s. Anm. 169), 87–89. 182 Vgl. M. B, Feiertagsarbeit? (Der Kranke mit der ,verdorrten Hand‘) – Mk 3,1–6, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. Band 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 248–256, 255.

5.10 Die Entwicklung normativer Maßstäbe des Zusammenlebens: Mk 2,1–3,6 197

Mit einer Doppelfrage wendet sich Jesus in V.4 an die Umstehenden. Darin eröffnet er beide Male eine Alternative. Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Schlechtes zu tun, Leben zu retten oder zu töten? Die zuspitzende zweite Frage irritiert deshalb, weil es in der Szene gar nicht um die Alternative zwischen Lebensrettung und Tötung oder Sterbenlassen geht. Der Mann leidet unter einer Behinderung, die ihn schon lange, vielleicht seit seiner Geburt begleitet. Es geht um keinen lebensbedrohenden Zustand und insofern ist auch keine Eile geboten. Das deutet darauf hin, dass die Formulierung der Frage Jesu über den unmittelbaren Erzählkontext hinausweist. In der Erzählung schweigen die Angesprochenen. Was hätten sie auch sagen sollen? Aus ihrer Sicht ist die Antwort eindeutig. Jesus soll am Sabbat weder Gutes noch Schlechtes tun, sondern beides unterlassen und nichts unternehmen, was in den Bereich von Arbeit gehört und die Sabbatruhe stört. Die zweite Fragehälfte wirkt aus dieser Perspektive verstörend. Ein Fall von Lebensrettung liegt nicht vor; und das Töten ist nicht nur am Sabbat, sondern an allen Wochentagen verboten. Es geht lediglich um die Heilung einer verkrüppelten Hand; und Jesus formuliert „eine Alternative, die sich gar nicht unmittelbar auf den konkreten Anlaß bezieht“183. Von Jesus wird als Reaktion auf das Schweigen ein emotionaler Ausbruch in einer sonst unbekannten Intensität geschildert. Er blickt sich zornig um, agiert also aus der Mittelpunktstellung.184 Er ist betrübt über die Verhärtung ihrer Herzen und reagiert traurig auf ihr Verhalten, das als Verstockung beschrieben wird. Πω ρωσις ist der Begriff für den Zwitterzustand von Verhängnis und Schuld. Einerseits gilt Verstockung als eine Haltung, die über den Menschen kommt und der er sich nicht entziehen kann. Das bekannteste Beispiel ist die Verstockung, die Gott laut Ex 8–11 über den ägyptischen Pharao verhängt. Gleichzeitig enthebt die Verstockung den Menschen nicht der Verantwortung für sein Tun. Dass Menschen Verstockung widerfährt, steht in direktem Zusammenhang mit der Haltung, die sie einnehmen. Auf der Ebene der Erzählwelt und unter dem Aspekt der Vermittlung einer orientierenden Norm für die christusglaubende Gemeinde der siebziger Jahre spricht die gesteigerte doppelte Alternativfrage ein ethisches Grundsatzproblem an. Dieses übersteigt die Frage nach dem Einhalten des jüdischen Sabbatgebots. Die Sabbatanordnung bietet keinen Spielraum, der grundsätzlichen Alternative, Gutes oder Schlechtes zu tun, Leben zu retten oder zu töten, zu entgehen. Unter Rekurs auf die Sabbatvorschrift ist dem Dilemma nicht zu entkommen, dass ein Stillhalten oder eine Unterlassung genauso Tatcharakter besitzen wie ein aktiver 183 A. L, Jesus und der Sabbat. Zum literarischen Charakter der Erzählung Mk 3,1–6, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 40–54, 47. 184 In der nächtlichen Verhörszene in Mk 14,60 kehrt sich diese räumliche Verortung gegen Jesus. Der Hohepriester tritt in die Mitte und damit rückt Jesus an den Rand. Das ist der Auftakt zu seiner Verurteilung.

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Verstoß. Angesichts der konkreten ethischen Anforderung gibt es keinen neutralen Raum, um die Handlungsentscheidung zurückzustellen. Der Erzähler verschiebt damit das Thema der Erzählung. Er weitet den im jüdischen Kontext der zwanziger Jahre nachvollziehbaren Konflikt um eine Sabbatübertretung Jesu zu der grundsätzlichen Überlegung aus, dass es in einer akuten Notsituation keine Neutralität gibt. Jedes Verhalten, das tatkräftige Einschreiten wie das Unterlassen einer Aktivität, trägt die Option in sich, zur guten oder zur bösen Tat zu werden, zur Rettung oder Tötung von Leben beizutragen. Die Zeugen der Szene verharren laut V.5 in schweigender Erstarrung. Darin kommt ihr Verhalten in geistig-geistlicher Hinsicht dem körperlichen Zustand des behinderten Mannes nahe. Ähnlich wie in Mk 2,1–12 besteht ein Entsprechungsverhältnis zwischen körperlich-materieller und geistig-geistlicher Ebene. Der Unterschied liegt darin, dass anders als in 2,1–12 die beteiligten Personen in 3,2–5 nicht die beiden Dimensionen körperlicher und geistlicher Paralyse in sich vereinen. Der Mann mit der gelähmten Hand wird nicht auf einen Zustand vergebungsbedürftiger Gottesferne angesprochen. Die Pharisäer werden nicht als regungslos dargestellt. Zwar bleiben sie auf die Fragen Jesu hin stumm. Aber ihre lauernde Haltung zeigt eine erkennbare Aktivität. In der zweiten Hälfte von V.5 ergreift Jesus mit einem weiteren Imperativ erneut die Initiative. Er fordert den behinderten Mann auf, seine Hand auszustrecken. Dieser gehorcht und unverzüglich tritt die Heilung resp. Wiederherstellung ein. Folgte die Erzählung der gleichen mythischen Gesetzmäßigkeit wie die Episode von der Heilung des Gelähmten, wäre zu erwarten, dass anschließend die freudige Zustimmung der ablehnenden Pharisäer erzählt würde. Genau das aber geschieht nicht! Im Gegenteil verschärft sich die feindliche Ablehnung in aggressiver Weise. Die Pharisäer tun sich mit den Herodianern zusammen, d.h. mit Personen, die in das Umfeld des Tetrarchen Herodes Antipas gehören. Mit ihnen beraten sie darüber, Jesus umzubringen. Im Blick auf die Begebenheiten, die in 2,1–3,5 erzählt werden, konstatiert Mk 3,6 ein ernüchterndes Zwischenergebnis. In wiederholten Anläufen hat es Jesus unternommen, seinen jüdischen Zeitgenossen die ethisch-theologischen Vorstellungen zu vermitteln, für die er einsteht. Dies ist ihm zunächst offenkundig gelungen (2,1–12). Auch die Stellungnahmen, die er in den Debatten in 2,13–17 und 2,18–22 abgibt, bleiben zumindest nach außen hin unwidersprochen. Genauso ist es mit 2,23–28. Innerhalb von 3,1–5 deutet sich allerdings bereits ab V.2 ein Umschwung an. Es gelingt Jesus nicht mehr, die Skeptiker zu überzeugen oder zumindest ruhig zu halten. Der Widerstand schlägt in offene Aggression um (3,6). In fünf Situationen führt der markinische Jesus der christusglaubenden Gemeinde der siebziger Jahre vor Augen, für welche ethisch-theologischen Normen er sich stark gemacht hat. Zu den Essentials ethisch-theologischer Orientierung für die Christusglaubenden einer späteren Zeit zählen die Vergewisserung der heilenden Gottesgemeinschaft, selbst wenn der äußere Anschein das nicht vermuten lässt (2,1–12). Ein zentrales Element glaubenden Lebensvollzugs ist die

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Hineinnahme desintegrierter Personen in die eigenen Gemeinschaftsvollzüge (2,13–17). Die Freiheit, unter neuen Bedingungen zu eigenständigen Regeln der Lebensgestaltung zu gelangen, ohne dies vor den überlieferten Normen rechtfertigen zu müssen, wird am Umgang mit der Fastenfrage illustriert (2,18–22). Die Vorordnung der Situation vor der Norm gehört ebenfalls zu dem Freiheitsraum, den Jesus der christusglaubenden Gemeinde eröffnet hat (2,23–28). Die Bedeutung der eigenverantworteten ethischen Entscheidung angesichts akuter Not, die weder Neutralität noch Aufschub duldet (3,1–5), schließt den Zyklus ab. Das Markusevangelium liefert in 2,1–3,5 in kompakter Form ein ethisches Programm. Es dient der Ausbildung eigener theologisch begründeter ethischer Maßstäbe. Jesus tritt als Archeget des im Christusglauben begründeten Selbstverständnisses auf. Seine starke Rolle ist zugleich mitverantwortlich dafür, dass seine Lebensgeschichte auf ein tödliches Ende zuläuft. Die normsetzende Autorität, mit der Jesus agiert, provoziert zunehmend den Widerstand derer, die sich anderen Wertvorstellungen verpflichtet sehen (3,6). Sein gewaltsamer Tod beginnt sich abzuzeichnen.185

5.11 Jesu Lehre in Gleichnissen: Mk 4,1–34 Nachdem Jesus in Mk 2,1–3,6 seine Anliegen in konfliktuösen Begegnungen und strittigen Dialogen vertreten hat, entfaltet er in Mk 4,1–34 seine Lehre in Gleichniserzählungen.186. In Szenen aus dem Erfahrungsraum des bäuerlich-ländlichen Alltags bringt er die Grundzüge seiner Reich-Gottes-Verkündigung zur Sprache. Neben dem narrativen Inventar ist dabei die Kommunikationsform der Gleichniserzählung von Bedeutung. Über die erzählten Inhalte und die Möglichkeit der „produktiven Rezeption“ hinaus sind „der Lebensbezug, die Notwendigkeit der Überzeugung, das Werben um die Gesprächspartner“187 von besonderer Wichtigkeit. Während Jesus seiner Lehre an anderen Stellen des Markusevangeliums durch Exorzismen und Heilungen Ausdruck und Anschauung gibt, führt er sie in Mk 4 in Gestalt von παραβολαι vor Augen. Sein Reden in Gleichnissen ist eine weitere Mitteilungsform für die theologische Sache, die er selbst in seiner Person ver-

185 Zu den Vorarbeiten der Darstellung vgl. K, Begründung geltender Normen (s. Anm. 169), 89–92; K, Mythos (s. Anm. 17), 181–188; P.-G. K, Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 151–164, 153–154. 186 Auf die Analogie zwischen Jesu Reden in Gleichnissen und seinem machtvollen und wundertätigen Handeln als die beiden Seiten ein und derselben Medaille weist J. R, Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese, WUNT 2/458, Tübingen 2017, 334, hin. 187 Beide Zitate von H. S, Jesus als Gleichniserzähler, in: M. Hofheinz/N. Neumann (Hg.), Fragen nach Jesus, Leipzig 2022, 123–135, 135.

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körpert. In der Summe lässt der markinische Erzähler Jesus in unterschiedlicher Weise agieren, um zu vermitteln, was das Evangelium von Gott bedeutet. Die Szenen in Mk 4,3–20; 26–29 und 30–32 rekurrieren allesamt auf natürliche und regelhafte Vorgänge in der vorderorientalischen Landwirtschaft. Sie handeln vom Vorgang der Aussaat, beziehen sich auf die Wachstumsphase und einzukalkulierende Misserfolge ebenso wie auf die Erfolgsaussichten bei der Ernte. Der theologisch-sachliche Bezugspunkt ist die βασιλειÄα τουÄ θεουÄ . Diesem Zentrum ordnen sich im Rahmen der Gesamtkomposition auch die Logien in V.21–25 zu. Unspektakuläre und natürliche Regelhaftigkeit bestimmen in Mk 4 den Erzählstoff, auf den Jesus sich mit seiner Lehre bezieht. Allseits bekannte, logische und in sich kohärente Vorgänge des agrarischen Lebens bilden die Basis zum Verstehen der βασιλειÄα Gottes. Der markinische Jesus knüpft mit seiner Botschaft an die Alltagserfahrungen der Hörerinnen und Hörer in der erzählten Welt wie seiner gegenwärtigen Leserschaft an. Seine Lehre εÆ ν παραβολαιÄς zielt darauf, im Bekannten und Vertrauten zu entdecken, worin die Gottesherrschaft besteht. Das Selbstverständliche zur Wirkung und Reife gelangen zu lassen, gibt der Gottesherrschaft ihren Raum. Ungeachtet der grundsätzlichen inhaltlichen Übereinstimmung zwischen den Einzelepisoden erzählen diese nicht alle das gleiche. Bei identischer innerer Mitte und Konstanz der Thematik lässt sich ein allmählicher Gedankenfortschritt beobachten. Insofern ist die Reihenfolge, in der die Gleichnisse präsentiert werden, nicht austauschbar. Die Einzelabschnitte tragen sukzessive dazu bei, den zentralen Gesamtgedanken von V.1–34 voranzubringen. Jesus vermittelt, worin die Gottesherrschaft besteht und wie sie zu den Menschen gelangt. Den Ausgangspunkt der vergleichsweise langen Ausführungen Jesu bildet Mk 4,3–8. Entgegen der Meinung, hier läge ein sog. „Kontrastgleichnis“188 vor, dessen Pointe in dem Gegensatz von bescheidenen Anfängen samt allgegenwärtiger Bedrohungen des Ertrags und dem endlichen überwältigenden Erfolg läge,189 ist festzuhalten: Die Erzählung bildet eher die tatsächlichen Verhältnisse zwischen Aussaat und Ernte auf einem Acker im östlichen Mittelmeerraum des 1. Jahrhunderts n. Chr. ab.190 Die Boden-, Witterungs- und Wachstumsverhältnisse werden in ihrem Risikocharakter nüchtern beschrieben. Die auf guten Boden gefallene Saat geht auf und trägt Frucht. Die Zahlenverhältnisse geben nicht das Verhältnis von eingesetzter gesamter Saatmenge und einem spektakulären Gesamtertrag wieder.191 In dieser Hinsicht wäre mit einem realistischen Verhältnis 188 Terminus bei J. J, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984, 148 u.ö. Nach Jeremias behandeln die Gleichnisse das Gegenüber von „hoffnungslosen Anfängen“ und „herrliche[m] Ende“ (150). 189 Vgl. auch L, Markusevangelium (s. Anm. 177), 80, der in dem „Kontrast von klein und riesig“ die Spitze der Erzählung sieht. 190 H. C/A. L, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 14 2014, 112, wenden gegen die Bezeichnung als „Kontrastgleichnis“ ein, „daß im erzählten Bild oft ganz ausdrücklich vom ,Wachsen‘ der Pflanze die Rede ist“. 191 Vgl. P.  G, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1993, 218.

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von 1:3,75–1:7,5 zu rechnen. Die Zahlenangaben 30, 60 und 100 geben stattdessen wirklichkeitsnah das Verhältnis zwischen dem einzelnen aufgegangenen Samenkorn und der Zahl der Körner in der Ähre in seiner Schwankungsbreite wieder. In der Schilderung der drei Gründe für das Ausbleiben der Frucht findet eine Entschleunigung statt. Die Vögel fressen die Saat unmittelbar vom Boden weg. Die Sonne vertrocknet binnen Kurzem das, was aufgrund des Felsbodens keine nährenden Wurzeln bilden kann. Die Saat im Dornengestrüpp wird durch die Dominanz dieser Konkurrenzpflanzen erstickt. Das Ergebnis ist in allen drei Fällen gleich. Die Saat wird vernichtet, die Frucht bleibt aus. Will man einen Kontrastaspekt benennen, dann besteht dieser zwischen ungeeignetem und günstigem Boden. Die Frucht hängt von dem Boden ab, auf den der Same gefallen ist.192 Der dreifachen Aufzählung des Vergehens der Saat korrespondiert die dreifache Erfolgsmeldung in Mk 4,8. Dem gestaffelten, gebremsten und dennoch unabänderlichen Vergehen steht die aufsteigende Linie des dreigegliederten Erfolgs gegenüber.193 Die Aufforderung zum Hören in V.9 spricht den Appellcharakter, den die Szene ohnehin in sich trägt, ausdrücklich aus. Was soll gehört werden? Gestoßen werden Hörerinnen und Hörer wie Leserinnen und Leser auf die regelhafte Normalität beim Vorgang von Aussaat und Ernte. Im Selbstverständlichen liegt der Schlüssel zum Verstehen der Gleichnisse vom Reich Gottes. Vom Boden hängt ab, ob die Saat aufgehen und zur Ernte heranreifen kann, oder nicht. Enthüllt V.3–9 damit nichts Ungewöhnliches oder lüftet ein bis dato unzugängliches Geheimnis, mutet die Frage der Begleiter Jesu in V.10 wie ein Rückfall an. Indem die Jünger samt weiterer Personen Jesus nach der Bedeutung der Gleichnisse fragen, wird deutlich, dass die Redeform, die Jesus wählte, um in metaphorischer Weise etwas zu vermitteln, selbst erklärungsbedürftig erscheint. Den Begleitern Jesu hat sich nicht erschlossen, was seine Erzählung eröffnen sollte. So bitten sie um Erläuterung der für sie dunkel gebliebenen Erzählung. Mit seiner Antwort in V.11 nimmt Jesus eine Unterscheidung zwischen zwei Personengruppen vor. Dem um ihn versammelten inneren Kreis nahestehender Menschen macht er mit der Anrede υë µιÄν eine Zusage. Er zieht damit eine Trennlinie zu denen εÍ ξω. Diesen müsse alles εÆ ν παραβολαιÄς vermittelt werden – mit der eigentümlichen Folge, dass sie auf diese Weise nur umso tiefer in ihr Unverständnis verstrickt werden sollen (V.12). Ein Geheimnis, das gegeben, d.h. gelüftet ist, hat seinen Geheimnischarakter verloren. Das Erfragen der Erklärung der Gleichnisse signalisiert ein Nichtverstehen der Begleiter und Jünger Jesu. Sie realisieren nicht, dass für sie kein Geheimnis mehr besteht. Sie verdecken die Klarheit, indem sie nach einem verrät192 Vgl. T. H, Gleichnisse kontextuell gelesen. Eine redaktionsgeschichtlich-narratologische Untersuchung der Gleichniserzählungen vom Sämann, vom Senfkorn und von den bösen Winzern, Leipzig 2022, 79–84, hier 79 und 84. 193 Zur Einzelexegese der Perikope vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 191–195.

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selten Hintersinn der Gleichnisse forschen. Der Wunsch nach Erklärung verstellt, was nach Jesu Aussage offenkundig ist. Die Jünger stehen bereits seit der Antrittspredigt Jesu unter der Herrschaft Gottes, ohne dass ihnen das klar geworden ist. Denen, die außerhalb stehen, soll das Reden in Gleichnissen den Zugang zur Gottesherrschaft ermöglichen. Das führt de facto jedoch zum Gegenteil. Das Reden als solches erschließt das Verständnis gerade nicht. Im Gegenteil: Diejenigen, denen das Geheimnis nicht gegeben ist, rutschen tiefer ins Unverständnis und rücken der Vergebung immer ferner, so Mk 4,12 unter Zitation von Jes 6,9.10. Ihnen erscheint die παραβολη als verschlüsselte Rätselrede, zu der sie keinen Zugang finden.194 Sie werden durch die παραβολαι nur auswegloser in ihre Verständnislosigkeit eingeschlossen. Der Zugang zum Verständnis der Lehre Jesu εÆ ν παραβολαιÄς eröffnet sich nur dem vorausgehenden Begreifen. Er lässt sich nicht einlinig aus der Erzählung ableiten. Aus dem Unverständnis führt kein direkter Weg zum Verstehen. Umgekehrt tritt dem verstehenden Hören und Lesen der Gehalt unverstellt vor Augen. Was verständnislosen Außenstehenden selbst durch viele Worte nicht vermittelt werden kann und ihr Unverständnis nur vertieft, ist für den Kreis der Eingeweihten etwas unspektakulär Selbstverständliches. Ihnen erzählt Jesus in einem einprägsamen Bild das vom Reich bzw. der Herrschaft Gottes, was sie längst wissen bzw. sie schon ergriffen hat. Denjenigen, denen sich die βασιλειÄα τουÄ θεουÄ noch nicht erschlossen hat resp. die von der Herrschaft Gottes noch nicht erreicht wurden, bleibt sie ein µυστη ριον.195 Unter der Voraussetzung der Erklärungsbedürftigkeit des Gleichnisses in V.3–8 und damit unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung an solche Personen, die außen stehen, erfolgen die Erläuterungen der Verse 13–20. Sie tragen den Erklärungsbedürfnissen der Unverständigen Rechnung. Der Erzähler macht auf diese Weise ein Angebot an beide Typen von Lesern: Solchen, denen sich der Gehalt von V.3–8 bereits erschlossen hat und solchen, die einer Aufschlüsselung dessen bedürfen, das als solches ursprünglich bereits Verweischarakter in sich trägt. V.3–8 hat das Gottesreich in einem vertrauten ländlichen Lebensvollzug entdeckt und es in dem vor aller Augen liegenden Natürlichen und Nahen anwesend verkündet. Ab V.13 richtet sich der Verstehensvorgang auf die Explikation der von Jesus gewählten Worte und Motive. Vor das Verstehen des Sachverhalts selbst legt sich der Wunsch nach Erklärung der Bildsprache. Dem trägt die allegorisierende Deutung Rechnung. Dabei verschiebt sich der Fokus der Erzählung. Nicht der Charakter des Gottesreiches, sondern die Eigenheiten der Personen, an die sich die Gottesreichverkündigung richtet, stehen in V.14–20 im Vordergrund. Auf ihre Identifikation richtet sich das Auslegungsinteresse. Zu Eingang wird das Thema der Erzählung genannt. Es geht um die Aussaat des Wortes. Das Schicksal der Verkündigung hängt von den Bedingungen ab,

194 195

Zur Kritik an der sog. Parabeltheorie vgl. H, Gleichnisse (s. Anm. 192), 85. Vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 195–199.

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unter denen sie erfolgt, konkret: auf wen sie trifft. Dreimal werden diejenigen, in die das Wort gesät wurde, vom Wort getrennt oder trennen sich von ihm: In V.15 durch den Satan, in V.16.17 durch mangelnde innere Festigkeit, in V.18.19 durch übergroße Selbstbezogenheit. Als auf gutes Land Gesäte erweisen sich laut V.20 die, die das Wort hören, annehmen und Frucht bringen. Am Ende richtet sich der Blick nicht auf das, was aus dem Wort wird, sondern auf die fruchtbringenden auf guten Boden gesäten Menschen. Mit V.14 wird das Entsprechungsverhältnis von Frucht und Bodenbeschaffenheit, von dem V.3–8 handelt, aufgenommen und weitergeführt. Ιn den naturhaften Zusammenhang, von dem das Gleichnis erzählt, wird der λο γος eingezeichnet. Auf diese Weise wird die Evangeliumsverkündigung zu den unspektakulären Abläufen in der Natur in Beziehung gesetzt. Sie wird nicht bei allen Menschen an ein positives Ziel gelangen. Aber sie wird verlässlich zur Ernte reifen, wo sie auf günstigen Boden gefallen ist und Menschen in ihrem Sinne Frucht bringen. Die weisheitlichen Sentenzen in Mk 4,21–25 durchbrechen aufgrund ihrer sprachlichen Gestalt die Folge der Gleichniserzählungen.196 Aber ähnlich wie sich Mk 4,10–12 zwischen das Gleichnis vom vierfachen Acker und seine Allegorisierung gelegt hat, bildet auch Mk 4,21–25 ein die Reflexion des Dargestellten anregendes Zwischenstück. Die Logien beziehen ihre Plausibilität aus der normativen Kraft des Faktischen. Das Wort vom Licht, das nicht verdeckt, sondern zum Leuchten aufgestellt wird, ist selbstevident und wird daher auch an anderen Stellen als Plausibilitätsstütze verwendet.197 V.22 unterstützt die Aussage im Sinne einer „Erfahrungsregel“198. V.23 bildet wie bereits V.9 die Brücke von den Adressatinnen und Adressaten in der erzählten Welt zu denen in der Erzählwelt der markinischen Gemeinde. Das Wort vom Maßanlegen, das als Erfahrungswert ebenfalls auf unmittelbare Zustimmung treffen dürfte, wird um eine verheißungsvolle Zusage ergänzt.199 V.25 lässt sich im Kontext von Mk 4 auch als Kommentar zu dem in 4,11.12 Ausgesagten verstehen. Der Misserfolg, d.h. hier das Unverständnis, nährt weiteres Nicht-Verstehen, während das Besitzen – hier: das Verstehen – zusätzliches Empfangen eröffnet.200

196 T. S, Das Geheimnis des Gottesreiches. Die Sendung Jesu in der Kraft des Heiligen Geistes nach dem Markusevangelium, in: G. Tejerina/J. Yusta (Hg.), Deus Semper Maior. Teologı´a en el horizonte de su verdad siempre ma´s grande. Miscela´nea homenaje al Prof. Santiago del Cura Elena, Salamanca 2021, 463–480, 478. 197 Vgl. Mt 5,15 par Lk 8,16; 11,33. Vgl. dazu K. D, Lieber eine Leuchte als ein unscheinbares Licht (Die Lampe auf dem Leuchter/Vom Licht auf dem Leuchter) Q 11,33 (Mk 4,21/Mt 5,15/Lk 8,16f.; 11,33; EvThom 33,2f.), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 133–138, 133. 198 J. G, Das Evangelium nach Markus (EKK II/1 und 2), Leipzig 1980, 179. Vgl. Mt 10,26; Lk 8,17; 12,2. 199 Vgl. L, Markusevangelium (s. Anm. 177), 89. 200 Vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 203–204.

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Ein weiterer naturhafter Vorgang, der sich ebenfalls bruchlos in die mythische Weltwahrnehmung des Markusevangeliums einfügt, wird mit dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat in Mk 4,26–29 erzählt. Der automatische (V.28) Prozess von Wachstum und Fruchtbringen endet mit der Ernte. Ebenso gewiss wird das Reich Gottes zur Vollendung kommen.201 Strukturell gleicht die Erzählung dem Gleichnis und seiner Auslegung in V.1–20. Wieder steht am Anfang der Akt des Säens durch einen Menschen. Dem Zusammenhang von Boden und Frucht in V.1–20 entspricht in 4,26–29 die fraglose Zusammengehörigkeit von Wachstum und Ernte.202 Auch in V.28 wird der Ernteertrag in einer dreigestaffelten Aussage benannt: Nach dem Aufwachsen von Halm und Ähre bildet sich der volle Weizen in der Ähre. Eine Akzentverschiebung zwischen beiden Gleichnissen liegt darin, dass in 4,26–29 die Gewissheit der Ernte die Erzählung so stark dominiert, dass die Misserfolgsszenarien, die für Mk 4,1–20 charakteristisch sind, entfallen. Während in 4,1–20 das Erzählinteresse darauf liegt, den Weg der Saat zum (teilweisen) Erfolg zu zeigen, stellt sich in 4,26–29 dieser Prozess als Automatismus dar. Entscheidend im Blick auf die βασιλειÄα τουÄ θεουÄ ist: Wo die Saat aufgeht, kommt es zur Ernte. Mit dem Beginn der Gottesherrschaft steht bereits auch ihre Vollendung am Horizont. Mk 4,30–32 wird durch die Frage nach der Möglichkeit einer gleichnishaften Darstellung der βασιλειÄα τουÄ θεουÄ eröffnet. Innerhalb des Gleichniszyklus von Mk 4 könnte diese Erzählung am ehesten als Pointe die Kontrastierung zwischen unscheinbarem Anfang und überwältigendem Schlusserfolg nahelegen. So wird es in der Literatur auch zumeist wahrgenommen.203 Allerdings ist im Kontext des bisher Erzählten diese Interpretation nicht zwingend. Gerade weil beim Stichwort Senfkorn die Kleinheit der Saat und die Größe des Gewächses in einem sprichwörtlichen Zusammenhang stehen, kann auf diesen Sachverhalt als einen feststehenden Motivzusammenhang aufgebaut werden. Das Wachstum eines Senfkorns von sehr kleinem Beginn bis zu einem überaus großen Resultat ist dann gerade nicht das Außergewöhnliche, sondern ein allgemein bekannter und geläufiger Vorgang.204 Die überwältigende Vollendung der βασιλειÄα τουÄ θεουÄ ist in V.32 mit dem Schutzmotiv aus dem Schöpfungspsalm 103,12 LXX konnotiert. Das verleiht dem Gedanken der endgültigen Durchsetzung der βασιλειÄα einen verheißungsvollen Beiklang.205 Vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 204–206. Vgl. A. D, Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29) im Licht neuerer exegetischer Ansätze, in: J. Frey/E.M. Joas (Hg.), Gleichnisse verstehen, BThSt 175, Göttingen 2018, 67–96, 94: Ziel ist es, der Leserschaft zu „ermöglichen, inmitten ihres Lebens- und Erfahrungshorizontes das Geheimnis der Gegenwart Gottes neu zu erahnen“ (Kursivierung von A.D.). 203 Vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 208 Anm. 262. 204 Dass das Senfkorn zu einem Baum aufwächst, ist eine übertreibende Formulierung. Es bleibt eine Staude;  G, Vegetationsmetaphorik (s. Anm. 191), 198. 205 Vgl. H, Gleichnisse (s. Anm. 192), 161: „Das Senfkorngleichnis […] dient […] als Zuspruch.“ 201 202

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Innerhalb des Gleichnisses nimmt der Erzähler selbst eine Pointierung vor. Durch die doppelte wortgleiche Verwendung des Nebensatzes οÏταν σπαρηÄì in V.31b und 32a werden sowohl die Kleinheit als auch die Größe des Senfkorns mit dem Augenblick der Aussaat in Verbindung gebracht. Beides fällt damit ineinander, in der Winzigkeit ist die Größe angelegt, die ausgewachsene Pflanze im Korn präsent. In dieser Anschauung des Naturvorgangs spiegelt sich die das mythische Denken prägende Auffassung über die Einheit von Teil und Ganzem. In der mythischen Vorstellung von Qualität und Quantität ist in jedem Einzelelement das Ganze vollständig enthalten.206 Entsprechend ist mit dem Anbruch der Gottesherrschaft in mythischer Perspektive ihre Vollendung bereits gegeben. Der Anfang impliziert die Präsenz des Endes. Der Beginn der βασιλειÄα τουÄ θεουÄ trägt ihre vollständige Durchsetzung in sich. Der markinische Erzähler lässt in Mk 4,1–34 Jesus schrittweise seine Lehre über die im Anbruch befindliche βασιλειÄα τουÄ θεουÄ entwickeln. Zunächst erzählt Jesus, dass das Spezifikum der βασιλειÄα τουÄ θεουÄ in ihrer unspektakulären Normalität liegt und den einfachen, regelhaften Abläufen, wie sie aus der Landwirtschaft bekannt sind, folgt. Darin liegt ihr Verheißungscharakter. So wie zwischen Bodenbeschaffenheit und Fruchtbringen ein elementarer Sachzusammenhang besteht, liegt der Appellcharakter für die Adressatenschaft der Gottesreich-Verkündigung darin, auf guten Boden gefallene, fruchtbringende Menschen zu sein, bei denen die Lehre Jesu zum Ziel kommt (Mk 4,3–8 und 14–20). Dass das der Fall ist, steht unbezweifelbar fest – so wie auf die Aussaat das Aufwachsen des Samens und die anschließende Ernte folgt (Mk 4,26–29). Die Perspektive für die Gegenwart besteht darin, dass mit dem Anbruch der Herrschaft Gottes deren Vollendung sichergestellt ist, weil der Anfang bereits das Ende in sich trägt (Mk 4,32–34). Die auf Vergewisserung und Bestärkung ausgerichtete Gottesreichverkündigung in Gleichnissen ist die dominierende Linie in Jesu Rede von Gottes Herrschen. In der Dramaturgie der Erzählung findet diese Verkündigung in der Eröffnungsphase des Wirkens Jesu statt. Die ersten drei Kapitel des Markusevangeliums haben Jesus als den Agenten Gottes gezeichnet, der mit ausdrucksstarken Handlungen wie Heilungen und Exorzismen und in pointierten verbalen Zuspitzungen ethisch-theologische Richtlinien formuliert. Mit Mk 4 tritt eine ausführliche inhaltliche Explikation seiner Reich-Gottes-Botschaft hinzu, für die Jesus eine metaphorische Ebene wählt. Im Schlussdrittel der Erzählung, nachdem Jesus in Jerusalem eingetroffen ist, folgen konfliktträchtige Debatten mit innerjüdischen Opponenten, die Jesus dort antrifft (Mk 11,15–12,44). In diesem Zusammenhang erzählt Jesus ein weiteres Gleichnis. Die Erzählung von den Weingärtnern in Mk 12,1–12 unterscheidet sich in Inhalt und Tonlage von den Gleichnissen in Mk 4. Sie handelt von einer Gewalttat; und das Umfeld, in dem Jesus sich befindet, wirft bereits einen bedrohlichen Schatten auf seine eigene Lebensgeschichte. 206

Vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 93.208–209.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

5.12 Theologische Konflikte und Klärungen: Mk 11,11–12,34 Zu den Normen, die Jesus zu Anfang seines Wirkens in ethisch-theologischer Hinsicht entwickelt und die der Orientierung im Gemeinschaftsleben der Christusglaubenden dienen, treten im Verlauf der Erzählung weitere theologische Positionierungen. Sie führen Jesus in Auseinandersetzungen mit Vertretern abweichender Auffassungen im Judentum seiner Zeit. Auch diese Kontroversen sind erzählerisch im Kontext der endzwanziger Jahre situiert. Ihre theologischen Gehalte weisen jedoch wie bereits die in Mk 2,1–3,6 erzählten Debatten über diesen Rahmen hinaus.207 Sie dokumentieren das theologische Selbstverständnis, das der Erzähler seiner christusglaubenden Leserschaft zu vermitteln sucht. Durch die Ankunft in Jerusalem und die dramatischen Ereignisse im dortigen Tempel, die in Mk 11 geschildert werden, ist ein Szenario vorgebaut, das die in Kapitel 12 geschilderten Episoden überschattet. Die aggressive Grundstimmung, die mit den Szenen von der Verfluchung des Feigenbaums und dem folgenschweren Wutausbruch Jesu im Tempel verbunden sind – nach Mk 11,18 fällt hier die Entscheidung von Hohepriestern und Schriftgelehrten, Jesus umzubringen –, bildet den Hintergrund für die Parabel in Mk 12,1–12. Charakteristisch für die Komposition von Mk 11,11–27 ist die Verschachtelung der in Bethanien situierten Verfluchung des lebendig grünenden und dabei fruchtlosen Feigenbaumes in Bethanien mit dem geschäftigen, in den Augen Jesu freilich unfruchtbaren Treiben im Tempel. Jesus bewegt sich mit seinen Jüngern auf einer West-OstAchse zwischen dem östlich von Jerusalem gelegenen Bethanien und dem Tempel hin und her. Der Naturvorgang um den Feigenbaum und das kulturbedingte Gebaren im Tempelbezirk kommentieren sich wechselseitig. Die nach außen hin suggerierte Lebendigkeit des Geschehens bleibt vordergründig. Sie trägt keine Frucht – weder am Baum noch im Tempel.208 Die atmosphärischen Spannungen der Szene bilden die Folie für die Diskussionen mit theologisch sachkundigen jüdischen Gesprächspartnern über Jesu Vollmacht in Mk 11,27–33, die Steuerfrage in Mk 12,13–17, das Thema der Totenauferstehung in Mk 12,18–27, die Frage nach dem höchsten Gebot in Mk 12,28–34, das hierarchische Verhältnis zwischen David und Christus in Mk 12,35–37, die Invektiven Jesu gegen Schriftgelehrte in Mk 12,38–40 und die abschließende Exponierung der armen Witwe als Gegenmodell zu den zuvor dargestellten Autoritäten. Ein Klima von Gereiztheit liegt über den Szenen. Die bevorstehende Schlussphase der Passion Jesu beginnt sich abzuzeichnen.

207 R, Poetik (s. Anm. 186), erfasst gut den theologischen Verweischarakter von Einzelelementen der markinischen Jesusdarstellung. Er bezeichnet „die hintergründige Wahrheit“ mit dem Terminus „Emergenz“ (263). Das den Erzählungen innewohnende Konfliktpotential schreibt er allerdings weniger einer Debatte zur Zeit des Markusevangelisten als den in der Erzählung agierenden jüdischen Autoritäten zu (249–250). 208 Vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 243–249.

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Das Gleichnis von den kriminellen Pächtern des Weinbergs präsentiert im Erzählduktus die metaphorische Antwort Jesu auf die in Kapitel 11 geschilderten Ereignisse und die Ablehnung, die ihm entgegenschlägt. Erzählt wird, wie ein Mensch einen Weinberg anlegt und mit allen für die spätere Vinifizierung notwendigen Anlagen ausstattet. Anschließend verpachtet er den neu angelegten Weinberg an Bauern und geht außer Landes. Zu gegebener Zeit schickt der Besitzer nacheinander zunächst drei Abgesandte, um die ihm zustehende Pacht einzuholen. In sich steigernder Gewalt werden die ersten beiden seiner Gesandten geschlagen und beleidigt, der dritte getötet. Anschließend schickt der Besitzer noch viele weitere Knechte. Stets münden die Aussendungen in einen Gewaltakt. Die einen werden geschlagen, die anderen getötet. In der Geschichte der Auslegung hat man hierin wiederholt eine verklausulierte Unheilsgeschichte Israels gelesen.209 Immer wieder habe Gott Boten gesandt, um von seinem Weinberg Israel210 die ihm zustehenden Früchte zu erhalten. Stets sei er mit diesem Anliegen gescheitert. Nun sendet er als letzten seinen Sohn in der irrigen Hoffnung, ihn würden die Pächter respektieren. Genau das geschieht jedoch nicht. Die Weingärtner wollen den Weinberg endgültig in ihren eigenen Besitz bringen und töten den Sohn. Was wird die Reaktion des Weinbergbesitzers sein? V.9 formuliert die Frage und liefert unmittelbar die Antwort. Der Besitzer wird blutige Vergeltung üben.211 V.10 liefert mit dem Zitat aus Ps 118,22 dazu einen Verstehenshorizont. Das Wort vom Eckstein wurde von der christusglaubenden Gemeinde als christologisches Grunddatum gelesen. Gerade der von seinen Zeitgenossen verworfene Jesus ist als Christus zum Fundament einer auf ihn bezogenen Glaubensgemeinschaft geworden.212 Die Szene erzählt als Ant209 T. O, Spiralen der Gewalt (Die bösen Winzer). Mk 12,1–12 (Mt 21,33–46/Lk 20,9–19/EvThom 65), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 352–365, 352: „Über die Jahrhunderte wurden die bösen Winzer zum Bild für die mörderische Haltung der Juden, die Gottes Propheten missachten und schließlich Gottes Sohn umbringen.“ 210 Diese Deutung ergibt sich aus dem Bezug auf das traditionelle Bildfeld aus Jes 5,1–7. Zur Bedeutung des Weinbergliedes für Mk 2,1–12 vgl. J.S. K, Egyptian Viticultural Practices and the Citation of Isa 5:1–7 in Mark 12,1–9, in: Ders., Synoptic Problems. Collected Essays, WUNT 329, Tübingen 2014, 409–433. Nach Kloppenborg verdankt sich die Anspielung auf Jes 5 dem Septuagintaeinfluss auf den Text, geht jedoch weder auf den masoretischen Text noch auf einen hebräisch-aramäischen Sprachgebrauch zurück, wie er für den historischen Jesus anzunehmen ist (432). 211 Die Auslegungsgeschichte zu diesem Vers referiert umfassend J.S. K, SelfHelp or Deus ex Machina in Mark 12:9? In: Ders., Synoptic Problems. Collected Essays, WUNT 329, Tübingen 2014, 434–457. Vor dem Hintergrund der in hellenistisch-römischer Zeit geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen hätte sich der Weinbergbesitzer eines kriminellen Handelns schuldig gemacht, wenn er das Recht in dieser Weise in seine eigenen Hände genommen hätte (454.455). Kloppenborg folgert daraus, dass dieser Zug der Erzählung, der den Rahmen des „realistic story-telling“ (455) übersteigt, in den Rahmen des Redens über Gottes strafendes Handeln an Übeltätern gehört. Eine realistisch wirkende Szene schwenkt um in den „orbit of the gods“ (455). 212 Andere Zuschreibungen identifizieren den Eckstein mit Israel (so L. S, Die

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wort auf die Tempelreinigung und den anschließenden Todesbeschluss gegen Jesus das Schicksal des Christus, der verworfen und getötet213 und gleichwohl zum Eckstein eines neuen Gebäudes wurde. In der erzählten Welt stachelt die Erzählung auf der einen Seite die Feindschaft der Gegner gegen Jesus an. Auf der anderen Seite sehen seine Opponenten sich dem Risiko ausgesetzt, zwischen die Fronten zu geraten. Sie fürchten die Volksmeinung. Ausdrücklich hält der Schlussvers 12 fest: Jesu Widersacher verstehen die Botschaft des Gleichnisses als auf sie gerichtet. Als Konsequenz entfernen sie sich, ohne etwas gegen Jesus zu unternehmen. Für den Fortgang der markinischen Erzählung wird damit in narratologischer Hinsicht Raum geschaffen, weitere Begebenheiten und Diskussionen mit Repräsentanten des Judentums an die konfliktuöse Situation anzuhängen.214 Innerhalb des Erzählverlaufs halten seine Gegner Tuchfühlung zu Jesus. V.13 kündigt bereits die nächste Konfliktszene an. Eine Abordnung aus einigen Pharisäern und Herodianern wird mit dem fragwürdigen Auftrag zu Jesus gesandt, ihn mit Worten zu fangen, d.h. ihm eine Falle zu stellen. Die Erzählung in Mk 12,1–12 selbst stellt weniger eine Allegorie auf eine als verdammungswürdig dargestellte Geschichte der Verwerfung der Gottesboten in Israel dar.215 Die Pointe ergibt sich vielmehr vom Ende der Erzählung her. Nachdem sich am Schluss der dramatischen Tempelszene in Mk 11,18 die kommende Tötung Jesu ankündigt, nimmt die παραβολη in Mk 12,8 dieses Ende in metaphorisierter Weise vorweg. Die Erzählung bleibt dabei nicht in der Anklage stecken, sondern wendet sich in einen Verheißungsaspekt. Das Ende des Sohnes ist zum Anfang und zur Grundlage eines neuen Gebäudes geworden. In diesem wundersamen Vorgang kann die christusglaubende Gemeinde die Urszene ihrer Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 27–43, 37–39) oder König David (A.A. M, A Fresh Analysis of the Parable of the Wicked Husbandmen in the Light of Jewish-Christian Dialogue, in: C. Thoma/M. Wyschogrod (Eds.), Parable and Story in Judaism and Christianity, New York 1989, 81–117, 108; abweichend vom Inhaltsverzeichnis steht in der Überschrift des Aufsatzes: „Jewish-Catholic Dialogue“) oder Johannes dem Täufer (D. S, Jesus’ Parables from the Perspective of Rabbinic Literature: The Example of the Wicked Husbandmen, in: C. Thoma/M. Wyschogrod (Eds.), Parable and Story in Judaism and Christianity, New York 1989, 42–80, 66–68). Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei O, Spiralen der Gewalt (s. Anm. 209), 361. Oldenhage selbst lässt die Bedeutung offen. 213 Die passionstheologische Bedeutung des Psalmzitats betont A. W, Jesus und das Schicksal der Propheten. Das Winzergleichnis (Mk 12,1–12) im Horizont des Markusevangeliums, BThSt 61, Neukirchen-Vluyn 2003, 40–42. 214 Vgl. J.S. K, The Tenants in the Vineyard. Ideology, Economics, and Agrarian Conflict in Jewish Palestine, WUNT 195, Tübingen 2006, 37–38. 215 Zu den wirkungsgeschichtlichen Folgen, die die anti-jüdische Deutung der Parabel nach sich gezogen hat, vgl. O, Spiralen der Gewalt (s. Anm. 209), 352–353 und 364–365. T. S/K. L, Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu, Göttingen 1986, 22–42, 34–35, rekonstruieren unter Rekurs auf EvThom 65.66 eine Grundfassung des Gleichnisses, die sowohl frei von unrealistischen Zügen als auch von anti-jüdischen Invektiven ist.

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eigenen Genese entdecken. Nicht die Abrechnung mit Juden, die den Christusglauben nicht annehmen, ist das Thema der Erzählung. Dargestellt wird die von Gott initiierte wunderbare Wendung, durch die das Sterben des Sohnes zur Basis der auf ihn bezogenen Glaubensgemeinschaft wurde (Mk 12,11.12). Zahlreiche Auslegungen der Erzählung arbeiten sich daran ab, das Gewaltpotential der vermeintlichen „Horrorgeschichte“216 loszuwerden. Das hat zu teilweise massiven Uminterpretationen der Erzählung und ihrer Einzelzüge geführt. Der Weinbergbesitzer sei keinesfalls mit Gott zu identifizieren. Im Gegenteil stehe er selbst wegen seiner ausbeuterischen Praxis am Pranger.217 Die verbrecherischen Knechte seien nicht mit dem Volk gleichzusetzen, sondern mit „der jüdischen Führungselite“218. Die antijüdischen Deutungen aus der Wirkungsgeschichte stellten eine sekundäre „Maske“ dar.219 Diese sei über einen Text gebreitet worden, der von solchen Tendenzen nichts erkennen lasse. Eine fatale Wirkungsgeschichte habe Besitz von einer Erzählung ergriffen, die daran selbst mehr oder weniger unschuldig ist.220 Deutlich ist das apologetische Bemühen solcher Erklärungsversuche. Das unerwünschte Bild eines womöglich gewaltbereiten Gottes bzw. seine Nähe zu einem „profit-gesteuerten“221 Weinbergbesitzer soll vermieden werden. Ebenso wird dem Eindruck entgegengetreten, unterprivilegierte Arbeiter könnten aus Eigenmotivation Gewalttaten verübt. Stattdessen wird insinuiert, sie hätten unter dem Druck der äußeren Verhältnisse gehandelt, die ihnen der Repräsentant „eines ungerechten Wirtschaftssystems“222 oktroyiert habe. In den sich emanzipatorisch gebenden Ausführungen ist der Wunsch nach einer unanstößigen Grunderzählung vom fürsorgenden Gott und anständigen kleinen Leuten spürbar. Da in der Tat böswillige Verzerrungen christlicher Ausleger eine fatale Wirkungsgeschichte der Judenfeindschaft losgetreten haben, wird die Episode so umgedeutet, dass ihr narratives Inventar erträglich wird. Methodisch basieren diese Versuche einer Rettung der Erzählung für die christliche Rezeption auf einer allegorisierenden Lektüre des Textes. Zwar wird dieser Zugang eigentlich abgelehnt, weil die allegorisierende Auslegung gerade die Ursache für die judenfeindliche Rezeption der Erzählung war. Dennoch werden Stück für Stück die Einzelzüge des Erzählablaufs einer für wünschenswert erachteten Neudefinition unSo S, Gleichnisse (s. Anm. 212), 17. Vgl. S, Gleichnisse (s. Anm. 212), 27–43. 218 M, A Fresh Analysis (s. Anm. 212), 110. Anders S, Gleichnisse (s. Anm. 212), 37, nach deren Darstellung die Parabel das Problem der Ausbeutung jüdischer Bauern durch vermögende Großgrundbesitzer behandelt. Zur Darstellung der Forschungsdiskussion vgl. O, Spiralen der Gewalt (s. Anm. 209), 361–362. 219 M, A Fresh Analysis (s. Anm. 212), beide Zitate 110f. (dargestellt bei O, Spiralen der Gewalt [s. Anm. 209], 361–362). 220 Vgl. M, A Fresh Analysis (s. Anm. 212), 91. 221 O, Spiralen der Gewalt (s. Anm. 209), 363. 222 O, Spiralen der Gewalt (s. Anm. 209), 363. 216

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terzogen. Das gilt für die Person des Weinbergbesitzers. Er zieht angeblich das städtische Wohlleben der ländlichen Existenz vor223 und lässt statt traditioneller Bodenfrüchte das „Luxusgut“224 Wein anbauen. Das brutale Verhalten der γεωργοι , die den Weinberg bearbeiten, sei psychologisch erklärbar. „Sie handeln böse, weil sie verzweifelt sind.“225 Aufgrund ihrer prekären Lebensverhältnisse und ihrer „aussichtslosen wirtschaftlichen Lage“226 können sie de facto nicht anders, als zu Gewalt und Mord zu greifen. Die Neuzuschreibungen sind von dem Bestreben geleitet, die Einzelzüge und den Kern der Erzählung einem modernen christlichen Normalbild einzuzeichnen. Gewalt, Selbstsucht, autokratisches und dissoziales Verhalten bieten keine positiven Identifikationsmöglichkeiten. Sie werden umerklärt und dem Ideal von Befreiung und Egalität dienstbar gemacht. Unterschwellig wirkt in diesem Umgang ein Schriftverständnis nach, das die gegenwärtige Auslegung als in Übereinstimmung mit der Aussageabsicht des neutestamentlichen Textes präsentieren möchte. Nach wie vor wird die Legitimität einer Interpretation dadurch zu erweisen versucht, die Kontinuität zwischen der neutestamentlichen Textgrundlage und der eigenen zeitgenössischen Interpretation darzulegen. Das Problem besteht darin, dass auf diese Weise die eigene Auffassung als in Übereinstimmung mit der des Textes befindlich konstruiert wird. Hier meldet sich aus dem dogmatischen Erbe der Zeit nach 1918 das deus dixit an, das seinen Widerhall in den Worten der ersten Zeugen gefunden habe und von diesen schriftlich festgehalten und tradiert wurde. Für die Zeugen zweiter Ordnung gelte es, ihre Gedanken auf der vorgegebenen Linie in Kontinuität weiterzuentwickeln. Die jüngere Auslegungsgeschichte zu Mk 12,1–12 zeigt, dass es nicht die sozialgeschichtliche Methodik als solche ist, die die Texte durch Uminterpretationen für gesellschaftspolitische Interessen dienstbar macht. Entscheidender ist, dass durch die Fokussierung dieses Ansatzes auf die ökonomischen Verhältnisse in den ersten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts aus dem Blick gerät, dass es sich beim Markusevangelium um einen literarischen Text aus den 70er Jahren handelt. Sozialgeschichtlich wären also primär die Verhältnisse nach dem desaströsen Ende des jüdisch-römischen Kriegs und die vielfachen Versuche neuer religiöser und gesellschaftlicher Identitätssuche und -bildung in den Blick zu nehmen und deren Einfluss auf die Präsentation der erzählten Inhalte zu untersuchen. Unter diesem Blickwinkel stellt sich die Frage nach der Bedeutung des blutigen Erzählinventars in anderer Weise. Zu verarbeiten gilt es zu Beginn des achten Jahrzehnts für alle Überlebenden in Israel den mörderischen Untergang Jerusalems und seines Tempels und den Verlust selbst eines Minimums an SelbstVgl. S, Gleichnisse (s. Anm. 212), 28. O, Spiralen der Gewalt (s. Anm. 209), 358. 225 O, Spiralen der Gewalt (s. Anm. 209), 359. 226 O, Spiralen der Gewalt (s. Anm. 209), 358, unter Bezug auf W. S, Gerechtigkeit lernen. Beiträge zur biblischen Sozialgeschichte, hg. v. F. Crüsemann/R. Kessler, Gütersloh 1999, 189–190. 223

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5.12 Theologische Konflikte und Klärungen: Mk 11,11–12,34

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bestimmung. Vor dieser Folie erzählen die sich etablierenden christusglaubenden Gemeinschaften die ebenfalls in einer Bluttat endende Geschichte ihres Protagonisten Jesus. Damit ist die Gewaltfrage nicht nur in der Erzählung von Mk 12,1–12 bleibend virulent: Im Zentrum der Evangelienschriften insgesamt steht eine Gewalttat. Die Hinrichtung Jesu narrativ plausibel als Resultat seiner Lebensgeschichte zu schildern, ist die zentrale literarische Herausforderung für die Verfasser der Evangelienschriften. Die Kreuzigung des von den Glaubenden als ihren Erlöser bekannten Jesus Christus wirft zwangsläufig die Frage auf, wie Gott darauf reagieren wird. Der Rachegedanke liegt bei einem Tötungsdelikt, wie es Mk 12,1–12 erzählt, nahe. Allerdings braucht eine narrativ denkbare Lösung, von der die Geschichte erzählt, von niemand identifikatorisch auf leibhaftige Menschen und den real geglaubten Gott in Einzelzügen übertragen zu werden. Es gehört zum Genus von Schreckensgeschichten, dass Blut fließt. Entsprechend würde es an der Jesusgeschichte vorbeiführen, wenn die Tatsache der gewaltsamen Tötung Jesu und die Emotionen, die diesen Vorgang begleiten, nicht auch erzählerisch behandelt würden. Insofern kann es nicht darum gehen, solche als unliebsam erachteten Züge im Interesse eines zu rettenden Gottes- und Gesellschaftsbildes zu entschärfen oder zu beseitigen. Dass in der Wirkungsgeschichte Christen sich durch die Berufung auf Erzählungen wie die in den neutestamentlichen Evangelien ermächtigt und berechtigt fühlten, reale Gewalt gegen anders glaubende Menschen auszuüben, stellt eine schuldhafte Grenzüberschreitung dar. Die Geschichte von Mk 12,1–12 als Aufruf zu vernichtendem Handeln an Jüdinnen und Juden zu lesen, ist das grundlegende Verbrechen. Eine literarische Erzählung – und sei es eine Erzählung im Munde Jesu – als Legitimation für eigenes verbrecherisches Handeln heranzuziehen, ist nicht zu rechtfertigen. Wenn Christen dies dennoch getan haben, liegt das jedoch auf einer anderen Ebene, als wenn ein Erzähler wie Markus seinen Protagonisten Jesu, der einen gewaltsamen Tod erlitten hat, eine gewalthaltige Geschichte erzählen lässt. Theologisch ist die Antwort des Christusbekenntnisses, wie Gott auf die Tötung Jesu reagieren wird, ohnehin eine andere als die der Blutrache gewesen. Im Zuge der Bekenntnisbildung ist die Auferweckung Jesu von den Toten zur Signatur Gottes geworden. Es erübrigt sich daher, der Bibelexegese ein vermeintlich humaneres Gottes- und Menschenbild zu verordnen, dem die Texte dienstbar gemacht werden. Statt den Erzählinhalt einer christlichen Normaldogmatik gefügig zu machen, empfiehlt es sich, die Erzählung mitsamt ihrer emotionalen Wucht von der christologischen Pointe her zu lesen. Dazu ist es nicht zielführend, in die allegorisierende Umsprechung der Einzelzüge zurückzufallen. In dem literarischen Kontext von Mk 11,15–12,44, in dem Aggression und Gereiztheit wabern und die Atmosphäre der Erzählungen mitbestimmen, lässt der Erzähler in einer drastischen Parabel das Schicksal Jesu vor dem inneren Auge aufsteigen. Er ruft damit niemanden auf, Rache zu üben oder jüdische Menschen zu attackieren, wie das unter Berufung auf diese Erzählung in der

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Geschichte geschehen ist. In Mk 12,1–12 macht der Erzähler mit erzählerischen und dramatischen Mitteln das Gewicht der Tötung Jesu im Blick auf Gott anschaulich. Die Hinrichtung Jesu ist kein Geschehen, welches Gott unberührt lässt, so die Aussage. Dieses Ereignis zieht vielmehr gewaltige Veränderungen und Umwertungen nach sich. Bei den Christusglaubenden hat es mit dem Auferweckungsbekenntnis zu einem eigenständig konturierten Gottesglauben geführt. In sozialer Hinsicht hat dieses Ereignis die Herausbildung einer Glaubensgemeinschaft bewirkt, die sich um das Jahr 70 erkennbar aus dem Kreis der jüdischen Community herauszuentwickeln begonnen hat. Die Fragen nach seiner Haltung zu Kaisersteuer und Auferstehung der Toten sollen Jesus vor ein logisches Dilemma stellen. In Mk 12,13–17 formulieren einige aus dem Lager der Pharisäer gemeinsam mit Herodianern ihre Anfrage. Bereits die Personenkonstellation kündigt an, dass sie nicht aus sachlichem Interesse fragen. Exakt Vertreter dieser gemischten Gruppe hatten bereits in Mk 3,6 darüber beraten, wie sie Jesus aus dem Weg räumen könnten. So legt bereits ihre Nennung nahe, dass sie aus strategischen Interessen Jesus eine Falle stellen wollen. Die Brisanz der Frage nach dem Umgang mit der Kaisersteuer liegt darin, dass die Haltung dazu bereits ein Schibboleth unter den diversen religiös-politisch motivierten Gruppen innerhalb des Judentums darstellte. Für strikt theokratisch argumentierende Fanatiker ließ sich hieraus die Alternative formulieren, ob die eigene Loyalität Jahwe allein gilt oder sich durch einen angeblich faulen Kompromiss zwischen Gott und dem Kaiser als korrumpiert erweist. Die als Alternative vorgetragene Entweder-oder-Frage muss Jesus zwangsläufig vor eine Aporie stellen. Stimmt er der Zahlung der Kaisersteuer zu, setzt er sich dem Vorwurf aus, die exklusive Gottesbindung aufzugeben. Damit würde er sich in den Gegensatz zu einer radikalisierten pharisäischen Position begeben, wie sie in zelotischen Kreisen vertreten wurde. Spräche er sich gegen die Steuerabgabe aus, würde er sich aufgrund seines Plädoyers zur Verweigerung der Steuerpflicht als Untertan einer besetzten römischen Provinz angreifbar machen. Damit würde er den staatstragenden Herodianern in die Hände spielen. Die Dilemmafrage lässt deutlich werden, welch‘ eine perfide Allianz das gemeinsame Auftreter der Pharisäer und der Anhänger des Herodes darstellt. Die grundsätzlich theologisch orientierte Gruppe und die pragmatisch politisch operierenden Vertreter sind ein Bündnis eingegangen, um Jesus aus zwei einander entgegengesetzten Richtungen dingfest zu machen. Jesu Antwort besteht darin, das Dilemma durch einen überraschenden dritten Weg aufzulösen. Jesus weist die Ausgangsposition der Fragesteller zurück und tritt dem Totalanspruch einer der beiden Perspektiven entgegen. Weder die eine noch die andere erwartete Antwort ist seine Lösung. Der Königsweg, den er offeriert, eröffnet eine Win-win-Situation. Jesus nimmt eine Unterscheidung der Ebenen vor. Kaiserlicher und göttlicher Herrschaftsbereich bestehen nebeneinander. Beide besitzen ihre Rechte. In der reformatorischen Theologie ist der

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Sachverhalt 1500 Jahre später im Rahmen der Zwei-Reiche- bzw. Zwei-Regimenten-Lehre begrifflich ausformuliert worden. Die Souveränität, in der der Erzähler Jesus seine Prüfung bestehen lässt, erweist sich unter anderem in einer feinen Ironie, die er in die Szene einfließen lässt. In scheinbar respektvoller heuchlerischer Manier erzeugen die Fragesteller Druck auf Jesus, indem sie ihn ausdrücklich auf seine Wahrhaftigkeit und die Unabhängigkeit seines Urteils ansprechen und damit fixieren. Du schaust nicht auf das προ σωπον (Angesicht) der Menschen; das heißt, du urteilst unabhängig vom Ansehen der Person (Mk 12,14). Genau unter Bezug auf das Äußere eröffnet Jesus jedoch seine Antwort. Er, als derjenige, der das Ansehen nicht achtet, zeigt auf das Bild (ειÆ κω ν) des Gesichts des Kaisers. Die Spitze der Szene liegt darin, dass Jesus sich von seinen Opponenten einen Denar bringen lässt. Sie halten also selbst das Konterfei des Herrschers in Händen; die radikaltheokratische Distanzierung fällt damit bereits in sich zusammen. Jesu Frage, wessen Bild und Aufschrift sie sehen, entlarvt, dass sie darum wissen. Ein Nebenzug der Erzählung besteht darin, dass Jesu Gegner die Abbildung auf der Münze zwar als das Gesicht des Kaisers identifizieren. Offen gehalten wird vom Erzähler jedoch, um welchen Kaiser es sich gehandelt hat. Das Amt als solches wird benannt – und damit bleibt die theologische Frage als solche zeitungebunden. Der markinische Jesus führt die Frage nach Loyalität gegenüber weltlichen Herrschaftsansprüchen und die Glaubensbindung an Gott aus einem Gegensatz heraus. In Mk 12,17 plädiert er für die Vereinbarkeit zwischen beidem. Die Frage nach der Auferstehung der Toten in der Situation nach der Tempelzerstörung des Jahres 70 in der Rückschau ausgerechnet mit Sadduzäern erörtern zu lassen, beinhaltet bereits ein Urteil über das, was zur Diskussion ansteht (Mk 12,18–27). Die Sadduzäer rechneten den Glauben an die Auferstehung zu den Neuerungen jüdischen Glaubens, die nach ihrer Auffassung im Laufe der Zeit zu Unrecht Eingang in die Frömmigkeit gehalten hatten. Nach ihrer primär auf die Tora begrenzten Auffassung gibt es keine Auferstehung. Diese Grundüberzeugung wird zur Markierung ihrer Position vom Erzähler in Mk 12,18 unmittelbar vorangestellt. Unter dieser Voraussetzung steht das folgende Gespräch zwischen ihnen und Jesus. Das Priestergeschlecht der Sadduzäer wurde bei der Eroberung Jerusalems von den römischen Legionären vollständig ausgelöscht. Nach dem Jahr 70 tritt es nicht mehr in Erscheinung. Die Sadduzäer sind gemeinsam mit dem Tempel untergegangen. Sie als ehemals einflussreiche Priester kommen aus den Ruinen Jerusalems nicht mehr zurück. Ausgerechnet mit ihnen lässt der Erzähler Jesus über die Auferstehungsthematik debattieren. Sie glaubten an keine Auferstehung und historisch gab es für sie keine Wiederkehr. Das Beispiel, mit dem sie Jesus vorführen wollen, trägt burleske Züge. Es entspringt einer handfesten metaphysischen Phantasie. Eine Frau war nacheinander mit sieben Brüdern verheiratet und starb kinderlos. Wessen Frau wird sie bei der Auferstehung sein (Mk 12,23)? Jesus weist diese Gedankenführung in doppelter Weise zurück. Sie verrate Unkenntnis der Schriften wie der Kraft Gottes (V.24). Überdies gelten im Bereich der Auferstehung andere Gesetzmäßig-

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keiten als die von den Sadduzäern beigebrachten (V.25). In puncto Schriftverständnis rekurriert Jesus auf den von den Sadduzäern anerkannten Pentateuch und hält seinen Kontrahenten eine eigenwillige Auslegung von Ex 3,6 und 3,15 entgegen. Gott stelle sich dem Mose im Dornbusch als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vor (V.26). Da Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten sei (V.27), sei in Ex 3,6.15 offensichtlich vorausgesetzt, dass Gott in einem aktuellen Verhältnis zu den als lebend vorgestellten Patriarchen stehe. Das zugrundeliegende Verständnis der bestehenden Gottesbeziehung unabhängig von der historischen Chronologie, für die der Tod die entscheidende Zäsur darstellt, und die davon geleitete Schriftauslegung bilden die Basis, von der her der markinische Jesus seinen Opponenten gegenübertritt. Auferstehung ist hier als das bleibende Verhältnis Gottes zu den Vätern jenseits ihres Todes und der chronologisch davor liegenden Lebensgeschichte verstanden. Ein einzelner Schriftgelehrter, dessen Zugehörigkeit zu einer der dominierenden Parteien des Judentums ungenannt bleibt, weiß Jesus Auskunft wertzuschätzen und stellt Jesus die Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12,28–34). Die Antwort Jesu besteht im Kern aus der Nebeneinanderstellung zweier Zentralstellen des Alten Testaments. Daraus ergibt sich ein neues Drittes, das mehr ist als die Summe beider Einzelelemente. Das Gebot der unumschränkten und intensivstmöglichen Gottesliebe (Dtn 6,4.5) und der Aufruf zur Nächstenliebe (Lev 19,18) spannen Gottes- und Menschenverhältnis zusammen. Das eine gehört an die Seite des anderen. Die Denkbewegung, die der Erzähler Jesus vollziehen lässt, besteht im Rekurs auf zwei Pole, die in ihrer Bezogenheit aufeinander erkannt werden sollen. Wieder geht es darum, zwei Wirklichkeitsbereiche zusammenzuhalten, die unter einseitiger Betrachtung in der Gefahr stehen könnten, auseinandergerissen zu werden. Die gedankliche Linie, die der markinische Jesus beschreitet, verläuft jenseits von theokratischem Enthusiasmus wie ethischer Selbstüberschätzung. Im parallelen Bezug auf Gott wie auf die Menschen wird der Anspruch Gottes auf das menschliche Leben realisiert. Die Gottesbeziehung impliziert die liebende Zuwendung zu den Menschen; der Gedanke, zu lieben wie sich selbst, bemisst und begrenzt sich am Verhältnis zu Gott. Mit der Zusammenbindung der beiden Aspekte von Gottes- und Menschenliebe legt der markinische Jesus den Grund für eine norma normans zur Urteilsbildung in theologischen und ethischen Fragen. Der Schriftgelehrte stimmt Jesu Antwort zu und rekapituliert die Aussage mit eigenen Worten. Dazu verwendet auch er noch einmal die Worte aus Dtn 6,4.5 und Lev 19,18. In einem Halbsatz schließt er daran eine Erweiterung an. Diese impliziert eine Wertung. Die Überordnung der Gottes- und Nächstenliebe über Brandopfer und andere Opfer stellt einen Bezug zum kultisch-rituellen Vollzug des Glaubens her. Diese Nachordnung ist transparent für die Situation nach 70. Im Gespräch mit Jesus stellt bereits ein jüdischer Schriftgelehrter die zweitrangige Bedeutung des Tempelkults fest. In der Situation des achten Jahrzehnts ist damit für die Christusglaubenden das Signal gesetzt, dass der Verlust der tempelgebundenen Religionsausübung keinen theologischen Substanzverlust bein-

5.13 Jesus im Spannungsfeld von Erhöhung und Erniedrigung

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haltet. Dem Schriftgelehrten bestätigt Jesus abschließend, dass er mit seiner Einsicht dem Gottesreich nicht mehr fern ist (V.34).

5.13 Jesus im Spannungsfeld von Erhöhung und Erniedrigung Eine auffällige Erzähllinie im Markusevangelium besteht in der Beschreibung des Wechselverhältnisses von Hoheit und Niedrigkeit Jesu und den Erhöhungs- und Herabsetzungsversuchen unterschiedlicher Personen und Geister ihm gegenüber. Charakteristisch ist, dass Jesus alle Avancen, ihm einen exponierten Hoheitsstatus anzudienen, zurückweist. Als ihm das nach seiner Verhaftung beim Verhör durch den Hohepriester in Mk 14,61.62 schließlich nicht mehr gelingt, ist dies der Auslöser für sein Todesurteil. Bereits bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in der Synagoge von Kapharnaum schreit ihm der dort befindliche unreine Geist sein Wissen entgegen. Ich weiß, wer du bist, der Heilige Gottes (Mk 1,24). Jesu umgehender Verstummungs- und Austreibungsbefehl bringt diesen Dämon zum Schweigen. Diese Handlung ist mehr als ein Appell, still zu sein. Sie bedeutet die Vertreibung, wenn nicht Vernichtung des bösen Geistes. Die schiere Wortwahl, Jesus als den Heiligen Gottes anzusprechen, wirkt auf den ersten Blick unanstößig. Die Jesus offerierte Titulatur erweckt einen seriösen Eindruck. Das ändert aber nichts an der vergifteten Substanz der Anbiederung. Im Mund eines unreinen Geistes wird das Erhöhungsangebot selbst zu einer unsauberen Angelegenheit. Jesus vernichtet den Geist, der es vorbringt, und weist damit die Sache selbst, die an ihn herangetragene Erhöhung seiner Person, zurück. Mk 1,34 führt das Motiv in summarischer Weise weiter. Die Heilung vieler Kranker durch Jesus ist begleitet von der Austreibung zahlreicher Dämonen, die Jesus zum Verstummen bringt. Damit verhindert er, dass die Krankenheilungen zu einer Steigerung seiner Popularität und der zwangsläufigen Statuserhöhung seiner Person führen. Der Sinn des Schweigegebots an den von der Lepra geheilten Mann in Mk 1,44 erschließt sich vom Fortgang der Erzählung her. Der Mann hält sich nicht an Jesu Aufforderung, sondern erzählt seine Geschichte überall herum. Die Folge ist, dass Jesus so bekannt wird, dass er sich nicht mehr öffentlich zeigen kann und an entlegene Orte ausweicht. Seine Prominenz verhindert Jesu ungestörte Wirksamkeit. In Mk 2,7 wiederum sieht sich Jesus dem Vorwurf ungebührlicher Selbstüberhöhung ausgesetzt. Mit der Auflösung der körperlichen wie geistlichen Erstarrung aller in der Szene anwesenden Personen gelingt es Jesus, diese schweigend vorgetragene Anschuldigung zu entkräften. Die Du bist Gottes Sohn – Schreie, die Jesus nach Massenheilungen entgegenschallen und sogar in Proskynese vorgebracht werden, schreibt der Erzähler in Mk 3,11 unreinen Geistern zu. Jesus wehrt ihnen, damit sie ihn nicht zu einer öffentlichen Berühmtheit machen. Dabei geht es nicht darum, die Berechtigung

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

der Gottessohntitulatur für Jesus als solche zu bestreiten. Die Episode richtet sich dagegen, Jesus als Person zu exponieren. Der unreine Geist in Mk 5,7 ist wie der in 1,24 von der Differenzerkenntnis zwischen ihm selbst und Jesus getrieben. Angesichts seiner bevorstehenden Austreibung, ergo: seiner Vernichtung, erweist auch er Jesus die größte ihm denkbare Referenz. Er tituliert ihn als Sohn des höchsten Gottes. Möglich ist, dass die Anerkennung des extremen Statusunterschieds zwischen ihm und Jesus auch diesem Dämon wie zuvor dem in 1,24 als letzter Ausweg erscheint, Verschonung zu erlangen. Dass sein Schreien eine Beschwörung Jesu darstellt, spricht er selbst aus. V.8 macht deutlich: Die Intensität der Jesus ins Gesicht geschrienen Erhöhung resultiert aus der Verzweiflung in allerletzter Sekunde; denn Jesus hatte seinen Ausfahrbefehl bereits ausgesprochen. Dem von seinem Dämon befreiten Menschen gibt Jesus den Auftrag, nach Hause zu gehen und dort zu erzählen, was der κυ ριος ihm Gutes getan und wie er sich seiner erbarmt hat (Mk 5,20). Damit verweist Jesus von sich selbst weg auf Gott als den Urheber des Geschehens. Indem aber V.20 berichtet, der Befreite bezeuge in der Dekapolis, was Jesus ihm getan hatte, klingt auch die christologische Implikation des κυ ριος-Titels an. Kaum alleingelassen stellt der Geheilte Jesus in den Mittelpunkt seines Erzählens. Diese Erhöhung erfolgt allerdings an entferntem Ort und schlägt noch nicht unmittelbar auf Jesus zurück. Die Auferweckung der Tochter des Jaı¨rus soll auf Jesu ausdrücklichen Wunsch nicht bekannt gemacht werden. Das Schweigegebot in 5,43 richtet sich dezidiert auf diesen Vorgang. Jesus lenkt den Blick der Anwesenden auf das Mädchen und sucht auf diese Weise zu verhindern, selbst zum Gegenstand der Gespräche zu werden. In Mk 7,36 agiert Jesus in gleicher Weise. Er ordnet an, dass die Leute niemandem von der soeben durchgeführten Heilung des Taubstummen erzählen sollen. Aber jetzt setzt der bekannte Mechanismus ein: Je mehr die Verbreitung des Ereignisses untersagt wird, desto stärker dehnt sich die Kunde aus. Im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem Wunsch Jesu, ihn nicht hochzujubeln, wächst seine Popularität. Der Befehl zu schweigen, verstärkt das Redebedürfnis. Damit wird ausgesprochen, dass Jesus in eine Dynamik der Aufwertung seiner Person gerät, die er nicht sucht, auf die Dauer aber nicht verhindern kann. An zentraler Stelle in der Mitte des Markusevangeliums, in Mk 8,29, spricht der erstberufene Jünger, Petrus, die gültige Hoheitsbezeichnung für Jesus aus: συÁ ειË οë χριστο ς. Der Sprecher ist unverdächtig, die Titulatur seit der Werküberschrift in Mk 1,1 eingeführt. Gleichwohl bricht an ihrem Verständnis eine Differenz auf. Offenkundig interpretiert Petrus den Christustitel im Sinne einer Statuserhöhung für Jesus. Die Replik Jesu verweist jedenfalls darauf, dass Jesus eine hoheitliche Auslegung des Christustitel ablehnt. Zuerst gebietet er seinen Jüngern in V.30, dass sie niemandem von ihm sagen sollen. Was genau damit gemeint ist, wird nicht ausgesprochen. Eine Möglichkeit besteht darin, dass Jesus die Jünger damit anweist, ihn in der Öffentlichkeit nicht mit diesem Titel in Zusammenhang zu bringen. Er selbst verwendet im Anschluss die Bezeichnung nicht für

5.13 Jesus im Spannungsfeld von Erhöhung und Erniedrigung

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sich. Stattdessen redet er von dem Sohn des Menschen, der vieles erleiden muss, und von den Ältesten und den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen wird und der getötet wird und nach drei Tagen aufersteht. Diese aus Sicht des Petrus offenkundig als beklemmend empfundene Aussicht auf das Schicksal Jesu will der erstberufene Jünger nicht so stehen lassen. Er erhebt Widerspruch gegen die Perspektive Jesu (Mk 8,32). Das wiederum bringt Jesus zu einer starken Zurechtweisung des Petrus. Er schickt ihn hinter sich und tituliert ihn als Satan. Seine Worte seien nichtgöttlichen Ursprungs. In der harschen Zurückweisung des petrinischen Christusbekenntnisses ist insbesondere das Matthäusevangelium in Mt 16,16–18 der Markusvorlage nicht gefolgt. Der Fortgang der markinischen Jesuserzählung gibt jedoch Aufschluss, warum es exakt in der Mitte der Gesamtdarstellung zu diesem Eklat kommt. Für das mit der ersten Leidensankündigung ausgesprochene weitere Schicksal Jesu kommt diesem Disput sachliche Bedeutung zu. Geographisch spielt sich die Szene in der erzählten Welt an dem von Jerusalem am weitesten entfernten Punkt in der Umgebung von Cäsarea, der pagan geprägten Hauptstadt der Tetrarchie des Philippos,227 ab. Die Brisanz des von Petrus ausgesprochenen Christusbekenntnisses bricht in der Erzählung kurze Zeit später bezeichnenderweise in Jerusalem auf. Nach seiner Verhaftung in Jerusalem konfrontieren die Hohepriester und das Synhedrion Jesus beim nächtlichen Verhör mit diversen Anschuldigungen. Diese stimmen jedoch nicht überein. So kommt es zunächst zu keinem Urteilsspruch. Schließlich tritt der Hohepriester in die Mitte (Mk 14,60). Diese Formulierung besaß bereits in Mk 3,3 Signalcharakter. Dort stellte Jesus den Mann mit der gelähmten Hand in die Mitte der Szene. Die lauernden Pharisäer gerieten dadurch an den Rand des Geschehens. Dies betraf sowohl ihre Lokalisierung im Raum als auch ihren Status in der geschilderten Episode. Sie wurden von Jesus zu Randfiguren gemacht. Der erzählerische Impuls in Mk 14,60 signalisiert dementsprechend: Jetzt wird die Mittelpunktposition im Raum durch den Hohepriester besetzt und Jesus gerät an den Rand des Geschehens. Die Besetzung der räumlichen Positionen kündigt das folgende Geschehen an. Die erste Frage des Hohepriesters wehrt Jesus schweigend ab. Daraufhin setzt der Hohepriester erneut an. Er konfrontiert Jesus in exakt gleichem Wortlaut wie Petrus in Mk 8,29 mit der Frage: συÁ ειË οë χριστο ς (Mk 14,61) und fügt ergänzend hinzu: οë υιë οÁ ς τουÄ ευÆ λογητουÄ .228 Im Mund des Hohepriesters wird das Christusbekenntnis zur Waffe gegen Jesus.229 227 Zu Cäsarea Philippi vgl. J. Z, Galiläa, in: K. Erlemann u.a. (Hg.), NTAK 2, 109–111, 109; J. Z, Nichtjuden in Palästina, in: K. Erlemann u.a. (Hg.), NTAK 3, 53–58, 54; R. F, Art. Caesarea 2., LAW I, 538. 228 Vgl. S. S, Gesalbter und König. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung in frühjüdischen und urchristlichen Schriften, BZNW 105, Berlin/New York 2000, 511: „Der Gesalbte wird durch den Titel des Gottessohnes hinsichtlich seiner besonderen Beziehung zu Gott näher erläutert“. 229 B, Mark (s. Anm. 146), 307, spricht von einem „deeply ironic statement“, denn der

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Jesus antwortet verhalten zustimmend. Seinem εÆ γω ειÆ µι in 14,62 fügt er unmittelbar als Ergänzung eine Menschensohnaussage hinzu. Ähnlich hatte er in 8,31 das Christusverständnis des Petrus pariert. Während er gegenüber Petrus das Motiv des leidenden Menschensohns formulierte, hält er dem Hohepriester den aus Dan 7,13 bekannten zum Gericht kommenden Menschensohn entgegen (Mk 14,62). Aber wie Jesus Petrus in 8,31 auf diese Weise nicht argumentativ überzeugen konnte, so greift auch in der Verhörsituation dieser letzte Versuch, die Interpretationsmacht über die Aussage zu behalten, nicht. Dem Hohepriester reicht die erste kurze Bestätigung Jesu. Damit hat er sein Ziel erreicht. In einem wilden dramatischen Ausbruch triumphiert er und nimmt Jesu Zustimmung als Beleg für eine Gotteslästerung. Das bringt Jesus das Todesurteil ein (Mk 14,63.64). In der Rückschau erschließt sich auf der Ebene der Erzählung der Zusammenhang mit dem Christusbekenntnis des Petrus in 8,29. Jesus fällt über die Aussage des Petrus. Im Mund des Hohepriesters entfalten seine Worte eine tödliche Wirkung. In dem Augenblick, in dem Jesus den Versuch angetragener Erhöhung seiner Person und den Verdacht einer unstatthaften Selbsterhöhung nicht mehr entkräften kann, bedeutet das sein Todesurteil. Jesus stirbt an dem Wechselspiel von Statuserhöhung und Erniedrigung, an dem Aggressionspotential, das sich in dem Ineinander von Erhebung und Destruktion austobt. Eine dramatische Zuspitzung erhält die Verhörszene durch ihre Verschachtelung mit der zeitgleich erfolgenden Verleugnung Jesu durch Petrus. Das Verhör Jesu in Mk 14,53.55–64 ist gerahmt von der im Vorhof stattfindenden Begegnung des Petrus mit dem Dienstpersonal (Mk 14,54.66–72). Während Jesus den Anschuldigungen diverser Falschzeugen und des Hohepriesters ausgesetzt ist, „verhört“ im Vorhof eine Magd Petrus.230 Während Jesus die Vernehmung mit einem εÆ γω ειÆ µι zum Abschluss bringt, beharrt Petrus bis zum Schluss auf seinem ουÆ κ οιËδα.231 Bevor es in der Passionsgeschichte zu diesem Ende kommt, läuft im Anschluss an Mk 8,27–33 die Erzählung noch ein Stück weiter. Die Verklärung Jesu in Mk 9,2.3 vor den Augen seiner Jünger und im Kontext der Erscheinung Elias mit Hohepriester verwendet die Ehrentitel für Jesus und Gott, die die frühen Christen in ihrer Verkündigung des Evangeliums als zentral angesehen haben. 230 C.C. B, The Kije´ Effect. Revenants in the Markan Passion Narrative, in: R.M. Calhoun/D.P. Moessner/T. Nicklas (Eds.), Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospel Genre(s), WUNT 451, Tübingen 2020, 273–305, 283, stellt die korrespondierenden Elemente der Vernehmungen Jesu und Petri in 14,55–65 und 14,53–54.66–72 einander gegenüber. 231 Die parallele Gestaltung beider Szenen analysiert A. W, Ironie dramatique et constructions par enchaˆssement: Le cas de Marc 14,53–72, in: G. Van Oyen (Ed.), Reading the Gospel of Mark in the Twenty-First-Century. Method and Meaning, BETL 301, Leuven/ Paris/Bristol, CT 2019, 811–819, 816.819. Vgl. auch G. V O, Intercalation and Irony in the Gospel of Mark, in: F. Van Segbroeck/C.M. Tuckett/G. Van Belle/J. Verheyden (Eds.), The Four Gospels 1992, FS Frans Neirynck, 3 Volumes, Volume II, BETL 100, Leuven 1992, 949–974, 965–972.

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Mose sowie die Worte der Himmelsstimme, die ihn als Sohn ausweisen, stellen einen Vorgang der Erhöhung Jesu dar. Die Szene präsentiert Jesus unwidersprochen in seiner Würde. Einzig die öffentliche Bekanntgabe des Geschehens wird durch eine Anordnung Jesu auf die Zeit nach der Auferstehung des Menschensohns gelegt. Wie in Mk 8,29–31 der Christustitel wird auch die Sohnesbezeichnung im Munde Jesu – selbst in der indirekten Rede (Mk 9,9) – in das Reden vom Menschensohn transformiert. Mit der Erzählung von der Verklärung Jesu bekommt die Erhöhungsthematik eine neue Wendung. Bis dahin war Jesus vornehmlich damit befasst, direkte Statuserhöhungen seiner Person von sich zu weisen. Jetzt muss er sich mit den Statusbedürfnissen seiner Jünger befassen (Mk 9,33–35), mit ihrem Wunsch nach Belohnung für ihre Entbehrungen (Mk 10,28–31) und ihren Machtansprüchen (Mk 10,35–44). Diese Erläuterungsbedarfe münden in das λυ τρον-Wort in Mk 10,45. Darin wird die soteriologische Dimension der Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn zum Ausdruck gebracht und den Jüngern die Umkehrung der in der Nachfolge Jesu geltenden Maßstäbe vor Augen geführt (Mk 10,45). In der anschließenden Erzählung von der Heilung des blinden Bartimäus in Jericho ist das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Anreden für Jesus signifikant. Der markinische Erzähler führt ihn in V.47 als Jesus von Nazareth in die Handlung ein. Bartimäus schreit: Jesus, Sohn Davids. Kurz danach ruft er ihn ein weiteres Mal als Sohn Davids (V.48) und als ρë αββουνι (V.51) an. Auch hier klingt der Respekt gegenüber Jesus durch, es unterbleibt jedoch die jedes menschliche Maß übersteigende Überhöhung. Dies ist vordergründig bei Jesu Einzug in Jerusalem anders. Die Menge feiert ihn überschwänglich (Mk 11,9.10). Die Rituale des Herrscherkults begleiten die Szene (V.8). Dass die enthusiastischen ωë σαννα -Rufe die Kehrseite des wenige Tage später gebrüllten kreuzige ihn darstellen (Mk 15,13.14), ergibt sich zwar erst aus der folgenden Lektüre. Aber es wirft in der Rückschau einen bedrückenden Schatten auf den nur scheinbar zustimmenden Jubel. Vom Ende des Lebens Jesu her betrachtet legt die Szene in drastischer Weise die Oberflächlichkeit und Unwahrhaftigkeit des Erhöhungsrituals offen. Jesus als Mensch geht im Markusevangelium an Erhöhungsbestrebungen unter, die an ihn herangetragen oder ihm unterstellt werden. Sein Wirken ist davon geprägt, solche Versuche zu durchbrechen. Am Ende seines Lebens gelingt ihm das nicht mehr. Er wird zum Opfer eines Mechanismus, zu dessen Regeln die Statuserhöhung und der Sturz des Gefeierten gehören. Jesus kämpft darum, einen solchen ritualisierten Umgang miteinander außer Kraft zu setzen. In menschlicher Hinsicht scheitert er daran.232 Für die durch das Bekenntnis seiner Auferweckung begründete Gemeinschaft der Christusglaubenden bleibt dieser Impuls mit seinem Verzicht auf Statusdifferenzierungen und die Hierarchisierung des Zusammenlebens ein bleibendes Vermächtnis. 232 Zur Darstellung vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), Kapitel 3.3.3 Jesu Abwehr von Erhöhungsversuchen, 109–113.

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5.14 Leidensdimension und Auferweckungsperspektive Charakteristisch für das Wirken des markinischen Jesus sind die Statusrelativierungen. Jesus praktiziert Vorstellungen von Hoheit und Niedrigkeit, die sich nicht mit den Erwartungen seiner Umgebung decken.233 Das betrifft sowohl das Unverständnis in seinem eigenen Anhängerkreis als auch die Sichtweisen der Kritiker, die ihn auf sein Verhalten ansprechen. Die Neubestimmung von Statuszuweisungen, die Jesus vornimmt, berühren unmittelbar geltende hierarchische Verhältnisse. Das gilt in sozialer wie in theologischer Hinsicht. Jesus als die Personifikation gelebter Zuwendung wendet sich durchgängig Personen zu, die hilfebedürftig sind. Erkrankte, besessene und körperbehinderte Frauen und Männer zählen ebenso dazu wie marginalisierte Personen. Fehlende Gesundheit, Armut, Unreinheit, zweifelhafte berufliche Tätigkeiten verwehren ihnen die Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Umfeld, dessen Wertvorstellungen ihnen die Anerkennung als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft verweigert. Jesu Hinwendung zu allen diesen Personen erschöpft sich nicht in hilfreichem Individualbeistand. Alle Erzählungen über sein zugewandtes Handeln sind transparent für eine Wahrnehmung, die über die Kenntnisnahme der geschilderten Einzelfälle hinausweist. Der markinische Erzähler präsentiert Jesus als jemanden, der einer christusglaubenden Gemeinschaft Wege weist. Über sein ethisch bedeutsames Handeln vermittelt Jesus theologische Maßstäbe, die ein entsprechendes Handeln unter veränderten zeitgenössischen Umständen möglich machen. Das gleiche gilt für die Wortbeiträge Jesu im Markusevangelium. Sie zielen darauf, angesichts scheinbarer Gottesferne die Nähe Gottes im Alltagsgeschehen zu identifizieren. Insbesondere die an naturhafte Vorgänge der agrarischen Umwelt angelehnten Gleichniserzählungen vermitteln: Gott übt seine Herrschaft unter den Bedingungen von Alltagserfahrungen aus. Die Kunst des Glaubens besteht darin, sein Wirken in solchen Vorgängen zu erblicken. Die Eigenständigkeit seiner theologischen Normsetzung wird Jesus in der erzählten Welt des Markusevangeliums zu seinen Lebzeiten zum Verhängnis. Sein normsetzendes Verhalten, die Autorität, die er dafür beansprucht, werden ihm als Selbstüberhebung angekreidet. Eine der zentralen Erzähllinien der markinischen Gesamtdarstellung besteht darin, zu beschreiben, wie von Tat zu Tat und von vollmächtigem Wort zu energischer Stellungnahme Stück für Stück Jesu Todesgeschick näherrückt. Sein Wirken ist begleitet von dem Vorwurf, sich über das einem Menschen zustehende Maß hinaus über die geltenden religiösen Regeln hinwegzusetzen und eigene – nicht kodifizierte und nicht autorisierte – Normen

233 G. G O, Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 39, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1999, beschreibt das „Positionswechselaxiom“ im Detail unter Bezug auf einschlägige Texte der Jesusüberlieferung (163–184) sowie im Rahmen des Markusevangeliums (184–198).

5.14 Leidensdimension und Auferweckungsperspektive

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aufzustellen. Das berührt nicht zuletzt die Frage nach seinem eigenen Status im Verhältnis zu Gott. Während die Erzählung pro Jesus verkündet: Jesus sieht seine Aufgabe darin, Menschen in die verlorengeglaubte heilsame Gottesbeziehung zurückzuführen und ihn unter christologischem Vorzeichen als Vermittler der gelingenden Relation zu Gott präsentiert, läuft unterschwellig ein zweiter Erzählstrang contra Jesus. Was Jesus aus der Perspektive von Christusglaubenden, die sich mit ihm identifizieren, auszeichnet, ist genau das, was Personen mit anderer Wahrnehmung zuwider ist. Sein Ziel, die Statusfragen zwischen Gott und Mensch und im menschlichen Miteinander so zu bestimmen, wie er das tut, führen zu einer Konkurrenz zu den bestehenden Wertordnungen. Der am Wirken Jesu orientierte Christusglaube provoziert den Einspruch derer, die die hierarchischen Verhältnisse zwischen Gott und Menschen sowie die Rangordnung unter den Menschen anders bestimmen. Auf diesen zentralen Widerspruch läuft die Passion Jesu am Ende zu. Im Verhör vor dem Hohepriester als dem höchsten geistlichen Repräsentanten des Judentums seiner Zeit wird genau diese Statusfrage zum entscheidenden Punkt der Verurteilung Jesu (Mk 14,53–65). Es ist unter dem Gesichtspunkt der fatalen Verfolgungsgeschichte, der Jüdinnen und Juden über Jahrhunderte von christlicher Seite ausgesetzt waren, und die nicht zuletzt unter Hinweis auf die Verurteilung Jesu durch das Synhedrion, wie sie die Passionsgeschichten der Evangelien schildern, zu legitimieren versucht wurde, eine Anfechtung, zu lesen, dass die Verurteilung Jesu face to face durch den höchsten geistlichen Vertreter des Judentums erfolgte. Unter Berücksichtigung der erzählstrategischen Gesamtanlage der markinischen Schrift steht aber auch dieser ultimative Konflikt im Dienst der Begründung des eigenständigen theologischen Weges der christusglaubenden Gemeinschaft nach dem Jahr 70. In der erzählten Welt kommt der Grundkonflikt mit dem entscheidenden zeitgenössischen Repräsentanten des Judentums zum Austrag. Gleichwohl kommt die Erzählung im Anschluss auf die Rolle des Pilatus als des entscheidenden Vertreters der nicht-jüdischen Welt, d.h. der römischen Besatzungsmacht zu sprechen. Das Recht der Kapitalgerichtsbarkeit liegt bei den Römern. Unter ihrer Zuständigkeit wird der im bisherigen Verlauf der Erzählung von jüdischen Vertretern geäußerte Vernichtungswillen zur Tat. Standen im Mittelpunkt des Verhörs durch den jüdischen Hohepriester der religiös-nationale Christustitel und das Sohnesverhältnis Jesu, also der Status und das Verhältnis Jesu zu Gott, befragt ihn der römische Präfekt auf die für einen Repräsentanten der Besatzungsmacht relevante politische Außenseite. Ihn interessiert Jesu machtpolitische Bedeutung für die Bevölkerung der besetzten Provinz. Auf seine Frage: Du bist der König der Juden? entgegnet Jesus ihm mit einem vielsagenden: Du sagst es (Mk 15,2). Anders als gegenüber dem Hohepriester in 14,61 macht Jesus sich die Frage des Pilatus nicht zueigen. Dem Hohepriester hatte er auf dessen durchschaubare Absicht mit einer Ich-Aussage geantwortet und zugleich seine Zustimmung mit einer Menschensohnaussage modifiziert. Pilatus gibt er die Frage mit einer Du-Botschaft zurück. Das lässt sich als Zustimmung lesen. Genauso aber kann es bei einer Betonung des du als

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Zurückweisung der Anfrage gedeutet werden. Was das du, also Pilatus, meint, muss keinesfalls mit der Sicht des Angeklagten übereinstimmen. Pilatus als ein Vertreter nicht-jüdischer Personen, mit denen Jesus im Markusevangelium unmittelbar konfrontiert ist, bekommt vom Erzähler die Rolle, den Status Jesu unter Absehung von dessen Gottesbeziehung zu thematisieren. Seine Titulierung Jesu als König der Juden reduziert Jesus auf ein – möglicherweise ironisch – unterstelltes Herrschaftsverhältnis unter den ÆΙουδαι οι. Da die Überstellung des Gefangenen an Pilatus durch die führenden Vertreter der jüdischen Jerusalemer Einwohnerschaft erfolgt und die Hohepriester, Ältesten und Schriftgelehrten sowie das ganze Synhedrion explizit genannt werden (Mk 15,1), liegt es nahe, dass der Vertreter der römischen Staatsmacht dem Verdacht nachgeht, ob es sich bei dem Inhaftierten um den subversiv tätigen Anführer unterer Bevölkerungsschichten handeln könnte. Zielte das Verhör vor dem Synhedrion darauf, Jesus religiöser Unkorrektheit zu überführen, richtet sich die Pilatusszene auf den Nachweis politischer Untragbarkeit. Auf Jesu mehrdeutige Antwort hin versuchen die Hohepriester, wie schon in der Nacht bei ihrem eigenen Verhör, Eindeutigkeit zu erzwingen. Sie springen dem Präfekten mit Anschuldigungen zur Seite. Den gleichen Vernichtungswillen zeigen sie auch in Mk 15,11. Dort agieren sie als diejenigen, die das Volk aufwiegeln und die Aggression schüren. Pilatus fragt Jesus ein weiteres Mal (Mk 15,4). Der reagiert mit Schweigen. Auf diese Weise klingt seine nicht eindeutig fassbare Aussage von V.2 um so intensiver nach. Jesus bezieht zu der von Pilatus eingebrachten glaubens- und gottesfernen Frage nach seinen politisch innerweltlichen Ambitionen keine weitere Stellung, sondern quittiert sie mit Schweigen. Die zeitgenössischen Religionsvertreter geben sich und ihre Autorität dafür her, den religiös uninteressierten römischen Präfekten zu unterstützen. Die in der erzählten Welt bei den jüdischen Hohepriestern wie bei dem heidnischen römischen Präfekten vorliegenden religiös und politisch begründeten Versuche, den Status und die Rolle Jesu herauszufinden, zielen ins Leere. Über beide Zugänge, so die Botschaft an die Leserschaft einer späteren Zeit, lässt sich die Besonderheit Jesu nicht erfassen. In Mk 15,4.12 und 13 taucht insgesamt dreimal das Adverb πα λιν auf, zweimal in der Eröffnung einer Frage des Pilatus (V.4 und 12) und einmal im Munde des Volkes (V.13). Πα λιν ist ein charakteristisches Vorzugswort des Markusevangeliums. Es wird insgesamt 28mal verwendet. In rund der Hälfte der Fälle erscheint das Adverb in den Eingangsversen von Perikopen. In der Mehrzahl der Belegstellen begleitet πα λιν eine Aktivität Jesu. Signifikant ist jedoch, dass Jesus in Gethsemani (Mk 14,39.40) letztmalig das Subjekt einer mit πα λιν verbundenen Handlung ist. Ab Mk 14,61 liegt das Gesetz des Handelns, sofern es durch πα λιν als ein wiederholtes gekennzeichnet ist, bei anderen Menschen. Nur noch vom Hohepriester (Mk 14,61), von der jungen Frau im Hof während des Verhörs (Mk 14,69), Petrus (Mk 14,70), ungenannten Dabeistehenden (14,70), Pilatus (Mk 15,4.12) sowie der Volksmenge (Mk 15,13) werden Handlungen und Aussagen erzählt, die mit πα λιν verbunden sind.

5.14 Leidensdimension und Auferweckungsperspektive

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Von Mk 2,1 bis 14,40 kennzeichnet πα λιν in der Mehrzahl ein wiederholtes Verhalten Jesu. Es unterstreicht das besondere Bemühen und die Intensität seines Wirkens. Wieder und wieder geht Jesus auf Menschen in besonderen Lebenslagen zu. Mit seiner Verhaftung wechselt das Adverb die Seiten. Diente es bisher der Qualifizierung des unermüdlichen Wirkens Jesu, unterlegt es ab jetzt die Massivität des Wirkens derer, die auf Distanz zu ihm gehen oder auf seine Vernichtung aus sind. Wie in 14,61 der Hohepriester in einem erneuten Anlauf Jesus wiederum fragt, so in Mk 15,4 und 12 auch Pilatus. Das Wiederholungsmotiv und die Zweizahl strukturieren ebenfalls den anschließenden Wortwechsel zwischen Pilatus und der aufgebrachten Volksmenge über die Freigabe Jesu, den König der Juden (Mk 15,9), und Barrabas. Wie der Wiederholung anzeigende Gehalt von πα λιν sich zu verselbstständigen beginnt und das Adverb zum Synonym für Permanenz und Eindringlichkeit wird, dokumentiert Mk 15,13. Wieder schreit das Volk kreuzige ihn – obwohl es das zuvor noch gar nicht gerufen hatte. Trotzdem insinuiert der Erzähler durch das πα λιν, dass es sich um eine wiederholte Handlung und ein tiefsitzendes Ressentiment handelt. Das Motiv der Wiederholung im Handeln Jesu, über dem der Schatten der Vergeblichkeit liegt, fügt sich innerhalb des mythischen Rahmens bei Markus in die zyklisch gestaltete Erzählung ein. Der Übergang des Wiederholungsmotivs von Jesus auf die Personen, die sein Lebenswerk zu zerstören trachten, breitet eine Schwere über die erzählte Handlung, in die alle handelnden Personen einbezogen sind. Die Wiederholung lastet als eine überindividuelle Gesetzmäßigkeit auf dem Geschehen.234 In der Abfolge der Verhörszenen vor dem Hohepriester und Pilatus sowie in der Wut der Volksmasse und dem Spott der römischen Soldaten bricht eine Gewaltspirale auf, die Jesus verschlingen wird. Der Widerstand gegen das normative Auftreten Jesu ist dabei nicht etwas, das der Erzähler einseitig dem Judentum und seinen Vertretern anlastet. Pilatus und seine Soldaten verkörpern in ihrer Brutalität und Kälte die heidnisch-römische Haltung. Ihre Aggression ist ungleich handfester. Sie attackiert Jesus nicht mit Worten, sondern spricht das Todesurteil, ordnet die Überführung zur Hinrichtung an, foltert seelisch und körperlich und tötet (Mk 15,15–20). Sowohl aus derjenigen Sicht, für die in der Erzählung die jüdischen Hohepriester stehen, als auch aus der Perspektive, die 234 Zur Bedeutung von πα λιν für das Markusevangelium vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), Kapitel 3.3.8 πα λιν: Die Wiederkehr des Gleichen bei Markus, 140–143. Aufschlussreich zu erforschen wäre, wie das durch πα λιν getragene Wiederholungsmotiv bei Markus durch das Adverb ευÆ θυ ς respondiert und in eine Waage gebracht wird. Die Kontinuität der Wiederholung und das Punktuelle des jeweiligen Moments stehen in einer kommunikativen Wechselbeziehung. Dieses Verhältnis ist in den Debatten um Raumkonstruktionen bereits erörtert worden: G. D/F. G, Tausend Plateaus, Berlin 1992, Kapitel 14 „Das Glatte und das Gekerbte“, 657–693, 658, erörtern den Wechsel zwischen Umgrenzung und Öffnung von Räumen, das Phänomen, wie sich „der glatte Raum“ „in einen gekerbten Raum“ verwandelt. Vgl. dazu B/K/S, Raumkonzepte (s. Anm. 41), 9–25.

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der römische Präfekt repräsentiert, löst Jesus etwas aus, das sie übereinstimmend dazu bringt, ihn hinzurichten. Die Motive der handelnden Protagonisten sind mehrschichtig. Vordergründige, auf den eigenen Machterhalt bezogene Gründe, sind eingebunden in religiöse bzw. politische Überzeugungen. Unter theologischer Betrachtung verschränkt der markinische Erzähler Aspekte, die sich vordergründig tagesaktuellem machtpolitischen Kalkül zurechnen und historisieren lassen, mit tieferliegenden Beweggründen, die in der geistigen Herkunft und dem Selbstverständnis der jüdischen priesterlichen Gruppe und dem Selbstverständnis der imperialen römischen Weltmacht liegen. Das Ende Jesu wird eingeleitet durch eine lange religiöse und geistesgeschichtliche Vorgeschichte, aus der die Repräsentanten der Feinde Jesu für sich das Recht zu dieser Gewalttat ableiten. Die Jesuspassion bei Markus lässt sich nicht erschöpfend durch die historische Frage nach der Schuld am Tod Jesu klären. Sie hat gleichermaßen die geistigen Voraussetzungen mitzubedenken, die in der Sicht des Erzählers das gewaltsame Ende Jesu erst möglich gemacht haben. Die Eröffnung der Kreuzigung Jesu steigert den Vernichtungswillen, der Jesus entgegenschlägt. Mitleidloser Spott und Häme über sein Ende begleiten ihn in den Tod. Brutalität und Hassgefühle triumphieren (Mk 15,22–32) und zeigen Menschen jedweder Provenienz von ihrer zerstörerischen Seite. Die Kreuzigungsszene ist im Stil einer Ringkomposition mit der Taufszene in Mk 1,9–11 verknüpft.235 Der Erzähler schafft einen Verstehenszusammenhang zwischen beiden Begebenheiten.236 Er bezieht den Beginn der Wirksamkeit und den Abschluss des irdischen Wirkens Jesu aufeinander. Die Komposition unterstützt den zyklisch-zirkulären Aufbau der Gesamterzählung, der bereits durch den Rückverweis des Erzählschlusses in Mk 16,7.8 auf den Beginn der Erzählung in Mk 1,1 angelegt ist. In fünffacher Hinsicht verknüpft der Erzähler durch seine Wortwahl die Taufmit der Kreuzigungserzählung. Im Zentrum steht die Geistthematik. In Mk 1,10 wurde Jesus das Pneuma verliehen; in Mk 15,37 verlässt es ihn im Moment seines Todes wieder. Die Darstellung läuft auf die Frage zu: Was wird aus dem Geist, der Jesus zu Beginn seines Wirkens von Gott verliehen wurde? Wohin verschwindet er? Neben dem πνευÄ µα, das in der Sterbeszene mit dem Verb εÆ ξε πνευσεν in Mk 15,37 und 39 aufgegriffen wird, korreliert die Richtungsangabe von oben bis unten beim Zerreißen des Tempelvorhangs in Mk 15,38 mit den durch die Präpositionen αÆ να und κατα in den beiden Partizipien αÆ ναβαι νων und καταβαιÄνον formulierten Bewegungsrichtungen. Das σχι ζειν der Himmel von Mk 1,10 findet 235 Zur Korrelation beider Szenen vgl. auch J.U. B, Verstehen als Aneignung. Hermeneutik im Markusevangelium, ABG 53, Leipzig 2016, 289–291. 236 Die Beziehung zwischen Tauf- und Sterbeszene behandelt auch J.E. A C, Je´sus ou le “Fils de Dieu” (Mc 1,1) dans le cadre historique et la structure narrative de l’evangile de Marc, in: J.E. Aguilar Chiu/K.J. O’Mahony/M. Roger (Eds.), Bible et Terre Sainte. Me´langes Marcel Beaudry, New York u.a. 2008, 219–232, 229–230.

5.14 Leidensdimension und Auferweckungsperspektive

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seine Entsprechung im σχι ζειν des Tempelvorhangs αÆ π’ αÍ νωθεν εÏ ως κα τω in Mk 15,38. In beiden Szenen meldet sich eine ϕωνη zu Wort: In 1,11 ist es die Stimme Gottes, in 15,34 und 37 die Jesu. Den Höhepunkt beider Szenen bildet übereinstimmend die Bezeichnung Jesu als Sohn (Mk 1,11; 15,39). Die Hinrichtung Jesu wird in ihrer entscheidenden Phase vom Erzähler unter Verwendung mythischer Gestaltungselemente als ein soteriologisches Geschehen präsentiert. Exakt in der Mitte des Tages neigt sich das Schicksal Jesu dem Ende zu. Mittags um 12 Uhr zieht für drei Stunden eine Finsternis über die ganze Erde. Statt diese Mitteilung neo-rationalistisch aufzulösen, indem man darüber sinniert, wie weit die territoriale Ausdehnung der Dunkelheit zu denken ist – ob über Jerusalem, über ganz Judaä, über den gesamten östlichen Mittelmeerraum oder die ganze damals bekannte Welt – empfiehlt es sich, sie als Sachaussage über das geschilderte Geschehen zu begreifen. Die Dunkelheit taucht – paradox formuliert – das Handeln der beteiligten Personen in das entsprechende Licht. Die Menschen vollziehen ein finsteres Geschehen (V.33). Unter anthropologischem Gesichtspunkt ist es die dunkle Stunde der Menschheit, die soeben dabei ist, den Gottessohn zu töten. Auf die Angabe des drei Stunden umfassenden Zeitraums folgt zu Beginn von V.34 die unvermittelte Nennung des Zeitpunkts in der dritten Stunde. Die Abfolge von Chronos und Kairos signalisiert eine Zäsur. Das Handeln der Menschen, die im Begriff stehen, Jesus zu töten, gehört in die Phase der Dunkelheit. Mit der neuerlichen Zeitangabe springt die Blickrichtung auf Jesus um. Sein Schrei der Gottverlassenheit erfolgt im Hellen. Diese Feststellung lässt sich durch die Beobachtung stützen, dass alles nachfolgend Erzählte Sichtverhältnisse voraussetzt, insbesondere die detailliert beschriebene Durchführung der Essigtränkung. Der Blickwechsel vom verwerflichen menschlichen Handeln zum Sterben Jesu ist mit dem Wechsel der Lichtverhältnisse verknüpft. Jesus stirbt im Hellen, und das macht sein Sterben zu einem lichten Geschehen. Die Art der Inszenierung zeigt, in welchem Licht sich das Geschehen für den Erzähler darstellt. Folgte Markus hier der antiken mythischen Konvention, dann hätte er den Tod Jesu in die Finsternis hineinplatziert; denn nach geläufiger Überzeugung ist die Verdunkelung des Himmels beim Tode bedeutender Persönlichkeiten ein Ausdruck der Trauer der Natur. So wird es vom Tod Julius Cäsars erzählt, und in diesem Sinne schreibt auch Lukas in 23,45 die markinische Szene um.237 Mit dem Hellwerden im Moment des Todes Jesu gibt Markus seiner Darstellung des Geschehens eine soteriologische Pointe. Den Schrei im Munde Jesu formuliert der markinische Erzähler in einer finalen Formulierung. Statt kausal mit einem lauten warum? nach einer Ursache und Begründung für sein Geschick zu fragen, schreit der sterbende Jesus ein

237 Belege für Sonnenfinsternisse beim Tod eines Herrschers finden sich bei Vergil, Gorgica I, 463–467; Plutarch, Pelopidas. 295a, Dionysius Halicarnassensis, Antiquitates Romanae II 56,6; Diogenes Laertius, Karneades 4.9.64; Josephus, Antiquitates XIV, 309.

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finales wozu? aus sich heraus.238 Auch wenn hier Psalm 21,2 LXX aufgerufen wird, beruht das Verständnis der letzten Worte Jesu nicht darauf, ob man den Vers als Verzweiflungsschrei auf Grundlage einer isolierten Zitation des Verses interpretiert oder mit ihm die Gesamtheit des Vertrauenspsalmes abgerufen sieht.239 Die Formulierung zielt auf den künftigen Horizont. Wozu Jesus in Verlassenheit stirbt, erfährt er selbst als Sterbender nicht mehr. Seine letzten Worte lassen den irdischen Jesus im Modus der Frage zurück. Die Antwort ist den Menschen vorbehalten, die als Lebende auf seinen Tod blicken. Sie werden sich darauf zurückbeziehen. Die Szene zielt auf die Reaktion der Leserschaft. Die glaubende Gemeinde einer späteren Zeit hat in ihrem Credo das erlösende Werk Jesu reflektiert. Sie hat nach Ostern die Bedeutung des Todes Jesu für das Gottesverhältnis in ihre Christologie aufgenommen. In V.37 schreit Jesus ein weiteres Mal. Sein letzter Ausruf besteht nur noch aus einem unartikulierten Laut. Der wortlose Schrei besiegelt sein Lebensende.240 Als Wort für sterben verwendet der Erzähler das Verb εÆ κπνε ω. Der Aorist εÆ ξε πνευσεν drückt die Vorstellung vom Entströmen des Geistes aus. Im Moment des Todes Jesu verlässt ihn das bei der Taufe von Gott verliehene Pneuma. Es war ihm bei der Taufe in dem Augenblick von oben her verliehen worden, in dem er selbst aus dem Wasser wieder nach oben aufstieg. Die Frage bleibt: Wohin entweicht das Pneuma des soeben Verstorbenen? V.38 bringt unvermittelt einen Orts- und Perspektivenwechsel in die Golgotha-Szene hinein. Plötzlich richtet sich der Blick auf ein Ereignis im mehrere

238 Auch W. S, Das Evangelium nach Markus, Kapitel 9,2–16,8 (ÖTK 2/2), Gütersloh und Würzburg 1979, 697, interpretiert das warum im Sinne eines wozu. Er sieht richtig, dass die letzten Wort Jesu auf eine Reaktion der Leserschaft zielen. Die Antwort auf diesen Ruf laute – so Schmithals in bultmannscher Diktion: „Dazu hat Gott seinen Sohn verlassen, damit wir dessen Kreuz auf uns nehmen und in Anerkennung des Gerichtes Gottes an Gottes Gnade appellieren“. Vgl. auch T. S, Das Evangelium nach Markus (ThHK 2), Leipzig 2022, 444. 239 S, Last Words (s. Anm. 81), 329–331, zeichnet die letzten Worte Jesu in den Kontext letzter Worte bedeutender Persönlichkeiten in griechisch-römischen Biographien ein. Verglichen mit der antiken noble death-Tradition stirbt Jesus bei Markus aus griechischrömischer Perspektive einen schlechten Tod. Dieser Eindruck werde jedoch durch die anerkennenden letzten Worte des Centurio und Jesu Auferstehung gemildert. Beides gemeinsam führe zu einer Rekontextualisierung des Todes Jesu in den größeren Rahmen seines Lebens. 240 Die Feststellung von S, Last Words (s. Anm. 81), 330: „The loud cry made at death is also problematic (15:37)”, verkürzt die Bedeutung des Verses. Bei Smith unterstreicht der Vers lediglich den Aspekt, dass Jesus hier einen schlechten Tod – „a bad death“ – stirbt. Die theologische Dynamik, die dem Wortlaut des Verses sachlich innewohnt, bleibt dabei ausgeblendet. Das gleiche gilt für die Funktionalisierung des Gottessohnbekenntnisses von V.39 und des leeren Grabes in 16,6 durch Smith. Das inhaltliche Eigengewicht aller drei Stellen bleibt unbeachtet, weil den Orientierungspunkt für Smith die Gattungsvorgaben der griechisch-römischen Biographie bilden. Ihnen ordnet er die markinischen Aussagen mit dem Ergebnis zu: “Jesus’s death is not a bad death, but a noble […] death given the entire context of his life as presented by Mark.” (331).

5.14 Leidensdimension und Auferweckungsperspektive

227

hundert Meter entfernten Innersten des Tempels. Für die Personen in der Szene ist aufgrund der Stadtmauer der Blick versperrt. Auf Golgotha und in das Tempelinnere zu schauen, ist nur dem Erzähler und der Leserschaft möglich. Sie bringen die beiden Orte in Beziehung zueinander. Auf einer geraden Blickachse von West nach Ost, von der Hinrichtungsstätte zum Tempel, erzählt V.38 das Zerreißen des Tempelvorhangs von oben nach unten. Die Richtungsangabe aus der Taufszene ist unvermittelt wieder gegenwärtig. Die Botschaft ist eindeutig: Das Geschehen von oben verweist auf göttliches Eingreifen. Was örtlich miteinander verbunden ist, ist auch inhaltlich verknüpft. Geschildert wird eine doppelte Katastrophe. Der Protagonist der christusglaubenden Gemeinde, Jesus, der Gottessohn und Christus, ist getötet worden. Für jüdisch Glaubende wird durch das Zerreißen des Vorhangs vor dem Allerheiligsten der Ort der Anwesenheit Gottes entblößt und profaniert. Unter der Perspektive des Christusglaubens geschieht ein weiteres: Mit dem Sterben Jesu wird der bis dahin vom Tempelvorhang verdeckte Blick auf Gott frei. Der Tod Jesu öffnet den Zugang zum Allerheiligsten und ermöglicht die unverstellte Gotteserkenntnis.241 Theologisch bestimmt der Erzähler den Gottesgedanken damit von der Christologie her. Die Golgotha-Perspektive definiert das theologische Thema. Dass hier unter dem Richtungsaspekt von West nach Ost erzählt wird, ist nicht selbstverständlich. Es verstößt gegen die Regeln mythischen Denkens. Lukas, der in hellenistisch-aufgeklärter Weise mit mythischen Motiven spielen kann, hat das erkannt. Er stellt in seiner Darstellung des Sterbens Jesu die Erzählrichtung konsequent um. Lk 23,44–49 erzählt die Szene aus Ost-West-Perspektive. Warum Markus hier einen eigenen Weg einschlägt, obwohl er seine Jesuserzählung insgesamt unter mythischen Voraussetzungen entfaltet, hat mit seiner Bewertung des Todes Jesu zu tun. Sobald er auf den Tod Jesu zu sprechen kommt, verstößt Markus wiederholt gegen die Leseerwartung.242 Es wirkt, als verweigere er sich dem Versuch, Jesus in das zyklische Modell einer sterbenden und auferstehenden Gottheit einzuzeichnen. Auch wenn er sich mythischer Darstellungsformen bedient, wahrt er eine Grenze, sobald es um die Menschlichkeit und Geschichtlichkeit der Person des irdischen Jesus geht.243 Zwischen V.35 und V.39 klingt ein weiteres unterschwellig kommuniziertes Geschehen durch. Mittels des Verbs παρι στηµι wird ein Verhältnis zwischen den dabeistehenden Hinrichtungszuschauern und dem römischen Centurio hergestellt. Während die mit der Frage nach Elia und der Essigtränkung befassten Dabeistehenden von V.35 in einem nicht ausgerichteten Verhältnis zu dem Gekreuzigten stehen und in dieser Positionierung ihre Unverbundenheit zum Aus241 Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten vgl. B, Mark (s. Anm. 146), 331–332, der sich gegen eine Festlegung ausspricht. 242 Konkret gilt das für Mk 3,6; 15,33; 15,38. 243 Zur Grenze des mythischen Erzählens bei Markus vgl. K, Mythos (s. Anm. 17), 312–314.

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druck kommt, wird der Hauptmann durch die Feststellung seiner Ausrichtung Jesus gegenüber in die Handlung eingeführt. Er befindet sich in einem exakten, direkten Verhältnis zu Jesus. Gerade weil die historische Wahrscheinlichkeit gegen diese Positionierung von Angesicht zu Angesicht spricht, kommt der szenischen Gestaltung erzählerische Bedeutung zu. Das bestätigen die Worte, die der Römer spricht. Sie wären aus dem Mund jeder anderen Person eher zu erwarten gewesen als von ihm. Er ist der Leiter des Hinrichtungskommandos, das soeben Jesus umgebracht hat, und Offizier der römischen Besatzungsmacht. Religiös betrachtet ist er ein Heide. Nichts qualifiziert ihn zu der solennen Aussage, in dem soeben Hingerichteten den Sohn Gottes zu erkennen. Seine Aussage in V.39 ist motiviert durch das Sehen des Aushauchens Jesu. Dem Entgeisten Jesu folgt das Bekenntnis des denkbar unberufensten Zeugen. Ausgerechnet er tituliert als erster Mensch Jesus öffentlich als Gottessohn und stellt den gekreuzigten Jesus in die direkte Beziehung zu Gott. Der Zusammenhang von Geistaushauchung und Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu legt nahe, dass der Jesus zu Beginn seines Wirkens vertikal verliehene Geist sich horizontal unter die Menschen auszubreiten begonnen hat. Der römische Hauptmann als der entferntest vorstellbare Zeuge spricht einen Satz von österlicher Qualität aus. Das Pfingstgeschehen ereignet sich im Markusevangelium am Karfreitag. Was in späterer Zeit dogmatisch als das Ineinander von Geist und Bekenntnis, als Zusammengehörigkeit von fides quae und fides qua creditur, bezeichnet wurde, kündigt sich in dieser Szene narrativ an. Wenn in der Sache Ostern und Pfingsten bei Markus bereits als Kern des Karfreitagsgeschehens formuliert werden, stellt sich die Frage, was mit einer eigenständigen Auferweckungserzählung inhaltlich noch folgen soll. Unter christologischem Aspekt liegt das Zentrum der Auferweckungsperikope Mk 16,1–8 in V.6. Anders als in der von Paulus in 1Kor 15,3b–5 gewählten chronologischen Reihenfolge von Tod, Begräbnis, Auferweckung und Sehen des Auferstandenen rückt die markinische Ostererzählung Kreuzigung und Auferweckung Jesu unmittelbar nebeneinander. Erst danach erfolgt der Hinweis auf die Grablege. Das Sehen des Auferweckten in Galiläa soll den Jüngern und Petrus erst durch Vermittlung der Frauen bekannt gemacht werden. Die theologische Pointe der markinischen Darstellung besteht darin, dass zwischen der Feststellung des Todes Jesu durch Kreuzigung und der Behauptung seiner Auferweckung kein Bindeglied steht. Die Formulierung: Jesus sucht ihr, den Nazarener, den Gekreuzigten bringt in einer hochverdichteten Zusammenfassung die biographischen Eckdaten der Person Jesu auf den Punkt: Sie nennt seinen Namen, seinen Herkunftsort und die Ursache seines Todes. Von diesem Menschen wird die Auferweckung ausgesagt. Dabei bringt die passivische Wendung zum Ausdruck: Es handelt sich um eine von Gott vorgenommene Handlung. Das nachgestellte er ist nicht hier bezieht sich auf die Abwesenheit des Auferweckten. Ihn brauchen die Frauen nicht auf einem Jerusalemer Friedhof des Jahres 30 zu suchen. Der Ort der Be-

5.15 Evangelium ohne Geheimnis

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gegnung mit dem Auferweckten ist nicht seine Grabeshöhle.244 Die Auferweckung Jesu wird nicht topographisch festgemacht. Sie ist an die personale Begegnung von Menschen gebunden, die ihn in ihrer Lebensgeschichte antreffen. Entsprechend erfolgt der deiktische Hinweis des angelus interpres im Grab: Sieh, die Stelle, wo sie ihn hinlegten. Der weißgewandete und damit Günstiges verheißende junge Mann deutet mit seiner Formulierung in der dritten Person Plural auf das vorherige Geschehen der Hinrichtung Jesu zurück. Sie legten ihn hin. Er spricht damit die Verantwortung für den Tod Jesu an. Menschen brachten Jesus wortwörtlich ins Grab. Die Grabeshöhle auf dem Friedhof erinnert an die Phase, die zu seinem Tod führte. Das Bekenntnis der Auferweckung Jesu durch Gott – ein Gottesbekenntnis – richtet den Blick auf eine zukünftige Christusgemeinschaft, die nicht auf dem Friedhof, sondern in den Lebensgeschichten der Glaubenden ihren Platz hat. Die Implantierung der Auferweckungsbehauptung in die Glaubensgeschichte von Menschen hinein führt zu einer Biographisierung der Osterbotschaft. Der gekreuzigte Nazarener Jesus wurde von Gott erweckt und lässt sich von denen sehen, mit denen er Gemeinschaft hat. Das Bekenntnis der Auferweckung Jesu durch Gott ist die bestätigende Zustimmung, das Amen der glaubenden Gemeinde, das sich dem lebenstiftenden Handeln Gottes verdankt. In Mk 16,6 und 7 prallen Destruktion und Neuschöpfung unmittelbar aufeinander. Am Tiefpunkt menschlicher Zerstörung eröffnet Gott mit seinem auferweckenden Handeln eine neue Gemeinschaftsmöglichkeit. Das Sehen des Auferweckten wird zur Basiserfahrung der Christusglaubenden, die ihre Glaubensgemeinschaft auf Jesus, den Christus, ausrichten. Nimmt man Galiläa (V.7) als Chiffre für Heimat, erreicht auch die grenzüberschreitende Perspektive der gesamten Erzählung ihren Höhepunkt. Das Bekenntnis der Auferweckung verknüpft Jesus nicht mit einem lokalisierbaren Ort, nicht mit einer geographischen Region, nicht mit einer nationalen Grenze. Es verbindet sich mit den Lebensgeschichten von Glaubenden. Der Glaube an die Auferweckung Jesu durch Gott ist eine transnationale Angelegenheit und zielt auf eine grenzüberschreitende Rezeption. Biographisierung und Internationalisierung bilden die beiden Aspekte, unter denen Markus seine Osterbotschaft entfaltet.

5.15 Evangelium ohne Geheimnis Das Markusevangelium erzählt die Lebensgeschichte Jesu aus der Rückschau einer späteren Zeit. In chronologischer Hinsicht liegt zwischen den beiden Zeitstufen die Entstehung des Glaubens an die Auferweckung Jesu von den Toten. In den vier Jahrzehnten nach der Hinrichtung Jesu hat der Osterglaube zur Ent244 Vgl.  B, „Er ist nicht hier“ (s. Anm. 93), 64. Der historischen Feststellung des Todes Jesu hält der markinische Erzähler ein theologisches Bekenntnis entgegen.

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stehung eines weit verzweigten Netzes christusglaubender Gemeinden im Mittelmeerraum geführt. Diese lebten ohne eine zusammenhängende Darstellung der Lebensgeschichte Jesu. In diese Lücke tritt das Markusevangelium. Es erzählt die vorösterliche Geschichte Jesu aus der Perspektive eines Erzählers, der den Glauben an die Auferstehung Jesu voraussetzt. Wer Jesus, der Christus, in den Augen der Glaubenden ist und was er für sie bedeutet, wurde in den vier Jahrzehnten zwischen 30 und 70 n. Chr. in Glaubensformeln, Hymnen, Liedern, Logien, vielleicht Einzelerzählungen entwickelt. Die Aufgabe des Jahres 70 liegt darin, nachvollziehbar zu erzählen, wie der als Christus geglaubte Jesus zu Lebzeiten als Mensch agierte. Eine solche Erzählung musste zudem plausibel machen, wie der Kultherr der christusglaubenden Gemeinden in die Situation geraten konnte, als Verbrecher gekreuzigt zu werden.245 Das warf viele Fragen auf; zuallererst die, wie die Rolle Gottes bei diesem Vorgang zu interpretieren war. Eine prominent gewordene Deutung des schöpferischen Vorgangs, der mit der Entstehung der ersten Gesamterzählung des Lebens Jesu verbunden ist, legte im Jahr 1901 in einer aufstrebenden Phase der kaiserlichen Monarchie in Deutschland William Wrede vor. Wredes Untersuchung über Das Messiasgeheimnis in den Evangelien246 wurde unter den Voraussetzungen der historischen Jesusforschung des 19. Jahrhunderts geschrieben. Da Wrede sich mit seiner Studie dem Grundproblem der zwei Zeitebenen im Markusevangelium stellte, wurde seine These auch unter veränderten exegetischen Rahmenbedingungen in der späteren Forschungsgeschichte immer wieder adaptiert, leicht angepasst und als Erklärungsmuster für das, was das Markusevangelium geleistet hat, prinzipiell beibehalten. Nach wie vor findet sich die Idee des Messiasgeheimnisses in nahezu jedem Lehrbuch referiert. Wredes These ist quasi die letzte Hypothese des monarchischen wilhelminischen Deutschlands, die in der neutestamentlichen Wissenschaft mit leichten Modifikationen nach wie vor in Geltung steht. Sie spiegelt im exegetischen Gewand etwas von dem politischen Messianismus des 19. Jahrhunderts wider und hat mehr Anteil am Zeitgeist jener Epoche, als im Regelfall durchschaut wird.247 Nach Wrede ist die Lebenszeit Jesu von der Phase der ersten christlichen Gemeindebildung, die auf die Kreuzigung Jesu zurückblickt und dem Glauben 245 Nach C. S, Die Königsmacher. Wie die synoptischen Evangelien Herrschaftslegitimierung betreiben, BBB 186, Göttingen 2019, zielt die markinische Darstellung auf eine „aretalogisch-charismatische“ (107.150) Legitimierung Jesu. Die für eine Aretalogie signifikante Erfolgsdimension werde durch ein Programm der dienenden Herrschaft Jesu ersetzt. Jesus agiere als „Krypto-König im Gegenüber“ (149) zu Herodes als dem offiziellen Amtsinhaber. 246 W. W, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 41969 (ursprünglich 1901). 247 Zur Einzeichnung von Wredes Hypothese in die kulturgeschichtliche und politische Situation des deutschen Kaiserreichs im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. P.-G. K, William Wredes kaiserzeitliche Messiasgeheimnistheorie, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 175–190.

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an die Auferstehung Jesu entspringt, zu unterscheiden. Auf diese beiden Zeitstufen schaut das Markusevangelium zurück. Es bildet damit bereits eine dritte Phase ab, lässt aber noch gut erkennen, was sich in der Vorphase der frühchristlichen Gemeinde nach Ostern abspielte und wie man dort auf das Leben Jesu zurückblickte. Für Wrede sind es drei Elemente, die aus der Bezugnahme der frühchristlichen vormarkinischen Gemeinde auf das Leben Jesu hervorstechen: Erstens die Schweigegebote Jesu an Jünger, Dämonen und Geheilte,248 zweitens das Unverständnis der Jünger gegenüber Jesus249 und drittens die „Parabeltheorie“ in Mk 4,10–12250. Diese drei Stränge fügen sich nach Wredes Ansicht zu einer Theorie zusammen, mit der die frühe Gemeinde nach Ostern, die durch die Auferstehung Jesu zum Glauben an ihn als den Messias gekommen war, ein schwerwiegendes Problem zu lösen versuchte. Wie war es möglich, dass die Messianität Jesu zu seinen Lebzeiten vor Ostern noch nicht sichtbar gewesen ist? Die Antwort lautete: „[W]ährend seines Erdenlebens ist Jesu Messianität überhaupt Geheimnis und soll es sein; […] mit der Auferstehung aber erfolgt die Entschleierung.“251 „Jesus hat bis zur Auferstehung seine Messianität und Gottessohnschaft verborgen“.252 Der „Gedanke der geheimen Messianität“253 Jesu und die Vorstellung seiner „bewusste[n] Selbstverhüllung“254 spiegeln nicht die geschichtliche Wirklichkeit wider, sondern seien Ausdruck „eine[r] theologische[n] Vorstellung“255. Der mit dem Glauben an die Auferstehung Jesu verbundene Gedanke seiner Messianität wird nach Ostern sukzessive in die Darstellung seines Lebens hineingelesen.256 Nach Ostern trat sehr schnell neben das Wissen um das unmessianische Leben Jesu die Deutung seiner Lebensgeschichte im Licht des Osterglaubens. Im Urchristentum setzte sich die Auffassung durch, der nachösterlich als Messias Geglaubte habe bereits vorösterlich diesen Status besessen, ihn aber verborgen. Bis Ostern habe er ein Geheimnis über seine Person gebreitet. Dieses sei erst mit seiner Auferstehung für die nachösterliche Gemeinde gelüftet worden. Die Idee der unerkannten Hoheit Jesu, die Wrede mit seiner Theorie zur Geltung bringt, knüpft an theologie- und geistesgeschichtliche Voraussetzungen an. In dogmatischer Hinsicht gab es im frühen 17. Jahrhundert eine Auseinandersetzung zwischen der Tübinger und der Gießener Theologischen Fakultät um die Frage nach den Majestätseigenschaften Jesu Christi im Stande seiner Erniedri-

W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 9–51. W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 101–110. 250 W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 51–65, zum Begriff „Parabeltheorie“, 64. 251 W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 67. 252 W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 208. 253 W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 114. 254 W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 65. 255 W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 66. 256 W, Messiasgeheimnis (s. Anm. 246), 227, spricht vom „Zurücktragen der Messianität ins Leben Jesu“. 248 249

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gung. Die Tübinger Fakultät vertrat die Auffassung, dass Jesus in statu exinanitionis nur verhüllt von seinen hoheitlichen Eigenschaften Gebrauch machte. Die Gießener Fakultät plädierte im Gegensatz dazu darauf, dass hinsichtlich seiner menschlichen Natur Jesus Christus sich seiner Majestätseigenschaften enthalten habe.257 Theologisch ging es in dieser Debatte im Kern darum, in welcher Weise die volle Leidensfähigkeit Christi besser darzustellen ist. Der Streit wurde offiziell 1624 in der Decisio Saxonica beigelegt. Bei Wrede wirkt er unausgesprochen sachlich nach. Wrede sieht zwischen dem Leben Jesu und der Endfassung des Markusevangeliums eine frühe Gemeindetheologie am Werk, die den irdischen Jesus als den darstellt, der seine hoheitlichen Züge verbirgt. Diese Wahrnehmung liegt auf der Linie, die die Tübinger Position charakterisiert hatte. Wredes eigene von einem rein historischen Wahrnehmungsinteresse geprägte Darstellung dürfte eher in der Nähe der Gießener Position anzusiedeln sein, sofern solche dogmatisch-christologischen Bestimmungen überhaupt in Wredes Blickfeld lagen.258 In geistes- und kulturgeschichtlicher Hinsicht verweist Wredes Theorie auf ein gesellschaftliches Klima des 19. Jahrhunderts. Die Jesusinterpretation Wredes fügt sich in den damaligen Diskurs über Herrscherrepräsentation in den monarchisch verfassten Gesellschaften Mitteleuropas und Deutschlands ein. Bereits die Verwendung des Begriffs Messias wird von Wrede weder eingeführt noch begründet,259 sondern als selbstverständlich vorausgesetzt und verwendet. Dabei hätten die Titel Christus oder Gottessohn von der Sache her näher gelegen. Wrede aber setzt die Terminologie bei seiner Leserschaft als vertraut voraus. Zur Wirkungsgeschichte des Geniekults zählte in Deutschland im 19. Jahrhundert die sprunghaft wachsende Aufstellung von Denkmälern für herausragende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Politisch richteten sich „nationalmythisch-messianische Hoffnungen“ auf Kaiser Wilhelm I., in dem „die zeitgenössische Meinung […] den erhofften nationalen ,Messias‘ sah“.260 Wrede konnte in seinem Sprachgebrauch zwanglos an einen allgemein verbreiteten Sprachgebrauch anschließen. Die Verknüpfung messianischer Erwartungen mit dem Motiv der Heimlichkeit und des Geheimnisses war ebenfalls im politischen Diskurs der Zeit vorbereitet. Hoffnungen richteten sich auf das Kommen einer idealen Führungspersönlichkeit, den „,heimlichen Kaiser‘“, der durch die „deutsche Grundtugend der ,Bescheidenheit‘“261 ausgezeichnet sein sollte. Die öffentlichen Herrscherdarstellungen in der bildenden Kunst hatten die Aufgabe, die Bezie-

Vgl. dazu S-H, Markusevangelium (s. Anm. 134), 114–116. Vgl. K, Wredes kaiserzeitliche Messiasgeheimnistheorie (s. Anm. 247), 181–182. 259 Vgl. S-H, Markusevangelium (s. Anm. 134), 250–251. 260 W. T, Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien, Wien/Köln/Weimar 2010, 149. 261 Vgl. zu dem nur wenige Jahre als Wrede älteren Julius Langbehn D. B, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, 308–312, Zitate 311. 257

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hung zwischen den Herrschern und ihren Untertanen in einer günstigen Weise abzubilden. So sollte ein Loyalitätsverhältnis gestärkt werden, das insbesondere die Identifikation der Bevölkerung mit den Herrscherhäusern und eine positive Einstellung gegenüber dem Königs- resp. Kaiserhaus ermöglichte. Mit der Änderung politischer Verhältnisse geht im Fortlauf der Geschichte üblicherweise der Denkmalsturz einher. In neuen gesellschaftlichen Konstellationen wirken die Abbildungen vergangener Verhältnisbestimmungen zwischen oben und unten überholt, zumal dann, wenn die abgebildeten Personen inzwischen Anlass zu Ressentiments geben oder schlicht vergessen sind. Wrede bringt im Rahmen seiner Messiasgeheimnistheorie das Bild Jesu als eines bescheidenen Herrschers zur Geltung, der seinen hoheitlichen Status nicht hervorkehrt, sondern ihn im Gegenteil nach Kräften zu verhüllen trachtet. Jesus betont seine Überlegenheit gegenüber seinen Anhängern nicht. Aus Sicht der frühen nachösterlichen Gemeinde braucht er das auch nicht, da ihn seine christusglaubenden Nachfolger und Nachfolgerinnen ohnehin als Messias verehren. Wrede zeichnet Jesus als heimlichen Herrscher ohne hoheitliche Attitüde. Erhöhungsversuche wehrt er ab.262 Seine überlegene Würde erschließt sich in Gänze erst aus der Rückschau auf sein Leben und Werk. Dogmatisch formuliert nimmt die frühe Gemeinde in der von Wrede konstruierten Sicht Jesus im status exaltationis wahr. Sie kleidet ihn jedoch in ihrem Bild des vorösterlichen Jesus in das Gewand der Niedrigkeit. In ihren Erzählungen von seinem Leben und Wirken zeichnen sie ihn im status exinanitionis. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland Größen des Geisteslebens wie „Dürer, Luther, Gutenberg, Goethe, Wieland, Lessing und Kant“ oder den Brüdern Grimm „Individualdenkmäler“263 errichtet. Wredes Theorie über das Jesusbild des frühen Christentums fügt sich auf dem Feld neutestamentlicher Geschichtsdarstellung in den „,Denkmalkult‘“264 seiner Epoche ein. Mit seiner Darstellung setzt Wrede Jesus ein literarisches Individualdenkmal. Abgesehen von diesem weltanschaulichen Verstehenskontext bearbeitet das Markusevangelium die Machtfrage diametral entgegengesetzt zu der in Wredes Theorie unterlegten Grundannahme. Nicht eine vorausgesetzte Hoheit Jesu wird verschleiert. Auch wird sie nicht einer passionstheologischen Korrektur unterworfen, wie es die formgeschichtliche Rezeption der Messiasgeheimnistheorie unter dialektisch-theologischen Vorzeichen annahm. Vielmehr ist es umgekehrt: 262 ´ F, The Motif of Containment in the Gospel According to Mark. A Vgl. G. O Literary-Critical Study, London 2018, 21–27.257–269. Laut S-H, Markusevangelium (s. Anm. 134), 126, scheint es so, als verheimliche Jesus in Mk 1,32–34; 1,40–45; 3,7–12; 5,37–43; 7,24; 7,31–37; 8,11–13; 8,29–30; 9,7–10; 9,30; 11,27–33 seine Sache. Dem ist aber nicht so (127). Es handelt sich nur um „[v]ermeintliche Geheimnismotive“ (131). Weder habe Jesus „als erstes […] seine eigene Person im Blick, noch gehe es ihm darum, „sein Wesen als Christus vor anderen zu verbergen“ (238). 263 Beide Zitate T, Das 19. Jahrhundert (s. Anm. 260), 147. 264 T, Das 19. Jahrhundert (s. Anm. 260), 142.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

Jesus wehrt sich permanent gegen die Erhöhung und Überhöhung seiner Person.265 Das Erhöhungsansinnen wird im Markusevangelium als satanischen bzw. dämonischen Ursprungs gebrandmarkt. Der markinische Jesus versucht die Hierarchisierung des Gemeinschaftslebens durch Statuszuweisungen gerade zu durchbrechen. So wie er für sich selbst die Erhöhungsversuche zurückweist, bemüht er sich um die Reintegration derer, die durch Statusverlust und Ausgrenzung marginalisiert sind. Sie holt er durch geistliches und soziales Tun in seine Gemeinschaft und damit in den Bereich göttlicher Zugehörigkeit zurück. Die markinische Erzählung zeigt, wie sich der Prominentenstatus, den Jesus durch sein aufsehenerregendes Wirken erlangt, für ihn zur tödlichen Gefahr entwickelt. Je mehr er integrierend Menschen um sich versammelt, die an anderer Stelle aus der anerkannten Hierarchie herausgefallen sind, je deutlicher er sich mit seinen eigenen theologischen Normen verständlich macht, um so stärker wächst der Widerstand. Sein Verhalten wird ihm schließlich als Selbstüberhöhung vorgeworfen. Die Verhörstrategie des Hohepriesters bei seiner Verurteilung zielt darauf, Jesu Wirken als unerlaubte Inanspruchnahme eines exponierten messianischen Status zu desavouieren. Die soteriologische Präsentation der Christologie, die Markus mit seiner Darstellung der Person Jesu betreibt, wird von dem Hohepriester in einen personalen Hoheitsstatus umdeklariert, den Jesus sich angemaßt habe, und als Beleg für die Berechtigung des Todesurteils reklamiert. Der Hohepriester drängt Jesus in die Rolle, sich zu einer angeblichen Selbsterhöhung erklären zu müssen, und bereitet damit den von ihm intendierten Denkmalsturz vor. Jesus geht daran zugrunde, dass sein Versuch der Aufweichung des hierarchischen Gefüges zwischen Menschen von den Amtsinhabern seiner Zeit als Bedrohung ihres eigenen Status und ihrer Deutungshoheit in theologischen Fragen wahrgenommen wird. Im Rahmen der markinischen Erzählung verkörpert Jesus den Anspruch, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Stellung in der unmittelbaren Gottesgemeinschaft zu vereinen.266 Dies möglich werden zu lassen, ist der Inhalt des Evangeliums. Es liegt ohne Geheimnis offen zutage.

265 Vgl. T. S, Der Gottessohn aus Nazareth. Das Menschsein Jesu im Neuen Testament, Freiburg 2006, 39–40. 266 Zum Einfluss zeitgeschichtlicher Einflüsse auf exegetische Ergebnisse vgl. K, Wredes kaiserzeitliche Messisasgeheimnistheorie (s. Anm. 247), 190. Die narrative Verzahnung der Christologie bei Markus besteht laut N, Jesus überwindet Grenzen (s. Anm. 77), 33–34, darin, die beiden Fragen „,Wer ist Jesus?‘ und ,Auf wen geht Jesus zu?‘“ (33), d.h. die Frage nach seiner Person mit der nach seiner „Zielgruppe“ (34) zu verbinden.

5.16 Die Gemeinschaft der Christusglaubenden im Geist Gottes

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5.16 Die Gemeinschaft der Christusglaubenden im Geist Gottes Die markinische Erzählung von der Ausbreitung des göttlichen Geistes innerhalb und außerhalb jüdischer Kerngebiete zielt auf die Zusammenführung von Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft im Christusglauben. Die traditionelle nationale und religiöse Grenzen überschreitende Gemeinschaft, die Menschen im Zeichen des Christusglaubens im beginnenden achten Jahrzehnt praktizieren, wird zurückgeführt auf das Wirken des irdischen Jesus. Wie unter Jesu jüdischen Zeitgenossen bis in seinen engsten Freundeskreis hinein der Christustitel auslegungsbedürftig war und zu Differenzen im Verständnis führte, so war auch die Sohn-Gottes-Bezeichnung kein eindeutiger Hoheitserweis; denn sie erfolgte aus dem Mund dämonisch Besessener und wurde von dem römischen Leiter des Hinrichtungskommandos Jesu verwendet. Im Zuge der Lektüre des Markusevangeliums aber bestätigt sich am Ende das, was die Überschrift des Gesamtwerkes in Mk 1,1 vorangestellt hatte: Das Evangelium kündet von Jesus, dem Christus, dem Sohn Gottes267. Der von Markus erzählte Jesus ist der Christus und der Gottessohn. Über diesen Sachverhalt liefert das Markusevangelium nicht die Erstinformation. Gemeinden aus ethnisch und religiös gemischten Personenkreisen waren seit der paulinischen Mission längst etabliert. Die markinische Erzählung vom Ursprung der christusglaubenden Gemeinschaft vergegenwärtigt den Glaubenden ihre Verwurzelung im Wirken des irdischen Jesus. Sie vergewissert sie der Hineinnahme in die Geistgemeinschaft, die von Gott selbst durch das Wirken Jesu gestiftet worden ist. Jesus hat dem Pneuma, das ihm bei der Taufe verliehen wurde, in den Begegnungen mit den Menschen seiner Zeit zur Ausbreitung verholfen. Mit seinem Tod hat sich dieser Geist über das Bekenntnis im Modus des Christusglaubens über Ländergrenzen hinweg ausgebreitet. Die Glaubenden des achten Jahrzehnts sind auf diese Weise Teil der Wirkungsgeschichte des Gottesgeistes geworden. Der in Jesus wirkende Geist Gottes setzt sich in den Zusammenstößen mit widerständigen Dämonen, die die Welt bevölkern, durch. Wohin Jesus kommt, treten ihm widergöttliche Geister personal oder in atmosphärischer Gestalt entgegen. Außer in besessenen Menschen sind sie in Form von Abwehr, Konkurrenz, Angst, körperlichen Krankheiten, geistlichen Defiziten präsent. Ebenso begegnen sie in menschlich-allzumenschlichen Phänomenen wie Geltungsbedürfnis, Karrierewünschen, Verrat oder einem Klima von Ausgrenzung, Rechthaberei und dem Insistieren auf dem herkömmlich Überlieferten und traditionell Geltung Beanspruchenden. Die markinische Erzählung vom Wirken des irdischen Jesus ist so konzipiert, dass sie zur Leitlinie für das Leben der christusglaubenden Gemeinde nach 70 267 Der textkritisch nicht so stark belegte Zusatz gibt aus der Rückschau einer späteren Zeit die Pointe der markinischen Gesamterzählung zutreffend wieder.

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werden kann. Entsprechend bietet sie Orientierung unter theologischen und ethischen Gesichtspunkten. Aufs Ganze gesehen stellt das Markusevangelium ein narratives Handbuch für das Zusammenleben einer christusglaubenden Gemeinschaft in dem durch Jesus vermittelten Geist Gottes dar. Es vergewissert diese Gruppierung ihrer Ursprünge und orientiert sie über die Maximen für ihr Gemeinschaftsleben. Die Vergegenwärtigung der Vergangenheit steht im Dienst der künftigen Gestaltung gemeindlicher Bezüge.

5.17 Die sakramentale Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi Über die Wiederherstellung und Vermittlung der Gottesbeziehung durch den erzählten Jesus hinaus kommt auch der sakramentalen Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi im Abendmahl bereits in den Erzählungen vom irdischen Jesus Bedeutung zu. Die von der nachösterlichen Christologie als Rückschau auf das Leben Jesu geformte markinische Jesuserzählung hat den Graben überwunden, der von der späteren Evangelienforschung lange in dem unvermittelten Aufeinandertreffen von historischem Jesus und nachösterlichem Christus gesehen wurde. Das Markusevangelium bindet die Differenz zwischen dem verkündigenden Jesus, den die liberaltheologische Forschung favorisierte, und dem verkündigten Christus, den die Dialektische Theologie exponierte, in dem Erzählbild vom verkündigten Jesus zusammen. Diese Darstellung folgt den christologischen Einsichten des beginnenden achten Jahrzehnts. Diese strukturieren das markinische Bild von Jesus als einer Persönlichkeit am Ende der zwanziger Jahre. Die Verschmelzung der beiden Zeitebenen erfolgt erzähltechnisch durch theologische Rückprojektionen aus der späteren Zeit in die Lebensgeschichte Jesu. In umgekehrter Richtung werden auf verschiedene Arten in dem erzählten Leben Jesu Verweise auf das Kommende angelegt. Zu ihnen zählen die drei Ankündigungen des Leidens, Sterbens und Auferstehens Jesu in Mk 8,31; 9,31 und 10,32, der eschatologische Vorausblick in Mk 13 sowie die Sendung der Frauen in Mk 16,7 vom Jerusalemer Grab Jesu weg in ihre galiläische Heimat. Dort werde jenseits der erzählten Welt in der Lebensgeschichte der Frauen wie der Leserschaft des Markusevangeliums die Begegnung mit dem Auferweckten erfolgen. Ein weiterer signifikanter Zug der markinischen Erzählung besteht in Jesu Hinweisen auf seine eigene Selbstvergegenwärtigung. In ihnen spiegeln sich die christologischen Überzeugungen einer späteren Zeit.268 Bei diesen Fingerzeigen Jesu spielt mehrfach die Brotmetaphorik eine Rolle. In den Erzählungen von der Speisung der fünftausend in Mk 6,30–44 und der von der Sättigung der viertausend in Mk 8,1–10 klingt eucharistische Terminologie an.269 Die Verbfolge in Mk 268 Auch die auf Jesus angewandten Titel lassen sich unter dieser Perspektive ordnen. Sie zeigen ebenfalls nachösterliche Wahrnehmungen der Person Jesu. 269 R. F, Loaves and Fishes. The Function of the Feeding Stories in the Gospel of

5.17 Die sakramentale Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi

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6,4: Er nahm … und blickte auf … und dankte … und brach … und gab lässt den Austeilungsvorgang der Elemente beim Abendmahl aufscheinen. Das gleiche wiederholt sich in Mk 8,6: Er nahm … und dankte … und brach … und gab … . Die Massenspeisung wird damit innerhalb der Erzählung zu einer Zeichenhandlung. Jesus teilt Brot aus, und dieser Akt wird transparent für seine Selbsthingabe. Die Speisung der vielen verweist auf ihn als den Geber zurück. Die Abendmahlsszene in Mk 14,22–25 bringt dies auf den Punkt. Mit der Austeilung des Brotes gibt Jesus sich selbst. In diesem Sinn ist er selbst das Brot, das er gibt. Jesus nahm das Brot, dankte und brach und gab (es) ihnen und sagte … (Mk 14,22). Im Vollzug der Handlung erweist sich die Besonderheit Jesu als eines einzigartigen Gebers, der selbst als Gabe Gottes qualifiziert ist.270 Die Relation zwischen dem Charakter der Person Jesu und seinem Werk ist eine wechselseitige. Weder qualifiziert das herausragende Handeln Jesu ihn einlinig als Gottessohn und Christus; noch wird ein Sonderstatus zur Voraussetzung seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten deklariert. Die markinische Christologie steht jenseits der polarisierenden Alternative, ob Jesus der Christus ist, weil er heilsam handelt oder ob er heilsam handelt, weil er der Christus ist. Der Erzähler vertritt weder eine rein funktionale Christologie noch argumentiert er einseitig zugunsten einer ontologischen Qualität Jesu. Die Besonderheit Jesu erwächst aus dem filigranen Wechselspiel zwischen Jesu Handeln und dem, was verschiedene Stimmen angefangen beim Alten Testament über diverse Menschen, sogar Besessene, bis hin zu einem römischen Centurio und nicht zuletzt Gott selbst ausdrücklich über seine Person geäußert haben. In einem zarten Gewebe tritt eine Jesusgestalt hervor, deren Tun und Reden auf eine vom Geist Gottes erfüllte Persönlichkeit verweisen. Sie eröffnet den von ihm und seinem Wirken berührten Menschen neue Horizonte der Gottesbegegnung.271

Mark, SBL.DS 54, Chico, CA 1981, 132–147. Ob die Speisungsgeschichten von der Abendmahlsthematik her gestaltet wurden oder die Wahrnehmung einer solchen Beziehung sich erst der späteren Rezeptionsgeschichte verdankt, wird allerdings unterschiedlich beurteilt, vgl. dazu P. D, Das Markusevangelium (ThKNT 2), Stuttgart 2007, 191 Anm. 264. Auf die Beziehung zwischen gemeindlicher Abendmahlsfeier, dem letzten Mahl Jesu und den Speisungen während seines irdischen Wirkens weist J. S, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, SBS 210, Stuttgart 2006, 46, hin. 270 Zu der Frage, inwieweit die synoptischen Mahlerzählungen Opferkonnotationen beinhalten, vgl. T. K, Sacrificial Interpretation in the Narrative of Jesus’ Last Meal, in: D. Hellholm/D. Sänger (Eds.), The Eucharist – Its Origins and Contexts. Sacred Meals, Communal Meal, Table Fellowship in Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity, Volume I Old Testament, Early Judaism, New Testament, WUNT 376, Tübingen 2017 (Unrevised Paperback Edition 2018), 477–502, 477.496–498. 271 Das schließt ein, dass sich Menschen diesem Zugang zur Wirklichkeit auch verweigern.

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5 Die Pneumatheologie nach Markus

5.18 Die Verschränkung von Zukunft und Gegenwart Von den drei Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist im Markusevangelium die Gegenwart die dominierende. Sie ist die entscheidende – kritische – Phase für die Menschen. In ihr bricht die Gottesherrschaft an. Sie saugt die beiden übrigen Zeitstufen in sich auf. Die Zukunft steht im Markusevangelium im Begriff, in die Gegenwart einzutreten (1,14.15). Die Gegenwart ihrerseits ist die Schwelle des Übergangs in die Zukunft (16,7). Die Vergangenheit, die je und je in Bezugnahmen auf die Schriften Israels aufgerufen wird, dient dazu, Licht auf das zu werden, was sich gegenwärtig zu vollziehen begonnen hat. In 16,7 wird zudem auf die in 14,28 von Jesus selbst getätigte Ankündigung zurückverwiesen. Jesu vorausweisendes Wort zu Lebzeiten legt die Grundlage für die Zukunft. Die Zukunft wird auf mehrfache Weise in die Erzählung des gegenwärtigen Geschehens einbezogen. Bereits das Konzept der Wanderungen Jesu in verschiedene Richtungen und in unterschiedlich konnotierte Regionen weist auf die Ausbreitung des Christusglaubens jenseits der erzählten Welt voraus. Zu Beginn des achten Jahrzehnts hat sich die Gemeinschaftsbildung christusglaubender Personen in weiten Teilen des Mittelmeerraums vollzogen. Jesu Bewegungen auf jüdischem Territorium und sein Agieren in heidnischen Gebieten zeigen die grenzüberschreitende Entwicklung der neuen Glaubensgemeinschaft an. Der Blick in die Zukunft verbindet sich in Mk 13,25–27 mit der Erwartung des Kommens des Menschensohns. Dessen Sammlungsbewegung ist durch eine allumfassende Umfangsbestimmung gekennzeichnet. Aus allen vier Himmelsrichtungen und vom Ende der Erde bis zum äußersten Ende des Himmels wird er seine Auserwählten zusammenführen. Die desaströsen Zustände des Jahres 70 geben in Mk 13 den Rahmen für die Schilderung der erwarteten bedrängenden Endzeitverhältnisse ab. Wie in der Antrittspredigt des irdischen Jesus die Gottesherrschaft als aktuell im Anbruch befindlich charakterisiert wird, so wird durch die Auferweckungsaussage am Grab Jesu auf Neues vorausverwiesen. Initiiert wird die baldige Begegnung mit dem Auferweckten, der nicht in der Grabeshöhle einer Jerusalemer Begräbnisstätte des Jahres 30 zu finden ist. Sein Ort der Vergegenwärtigung ist die Lebensgeschichte derer, die ihn in ihrer eigenen Heimat treffen. Auf diesen Modus der Begegnung verweist der Deuteengel am Grab die Frauen und eröffnet ihnen und den Jüngern den neuen Raum für das künftige Leben in der Gemeinschaft mit dem Auferweckten (Mk 16,6.7). Auch die Gleichnisse von Aussaat und Ernte in Mk 4 beinhalten eine Vergewisserung im Blick auf die Zukunft. So gewiss der auf guten Boden gefallene Samen zu seiner Zeit Frucht bringt und zur Reife und Ernte gelangt, so gewiss befindet sich das Reich Gottes bereits in der Entfaltung. Wie im anfänglichen kleinen Samenkorn bereits die Frucht in Größe und Fülle enthalten ist, so ist im Beginn der Herrschaft Gottes, die mit dem Anfang des Wirkens Jesu einhergeht, deren Vollendung gewährleistet. Teil und Ganzes, Anfang und Ende fallen ineinander. Die Zukunft der Gemeinde der siebziger Jahre hat in der Gegenwart der

5.18 Die Verschränkung von Zukunft und Gegenwart

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Lebensgeschichte Jesu begonnen. Das von Markus erzählte Leben Jesu trägt das Gemeinschaftsleben der christusglaubenden Jesusanhänger späterer Jahre in sich.272

272 Vgl. das Fazit von B, Mark (s. Anm. 146), 361–362, zum Abschluss seiner Markuskommentierung: Der markinische Jesus erzählt nicht lediglich Gleichnisse. Er ist selbst eine Parabel für das Königreich Gottes, das er verkündigt. Mit dem Markusevangelium als solchem tritt Jesu Herbeirufen des Gottesreiches in die Lebensgeschichte der Leserschaft.

6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus Der Verfasser des Matthäusevangeliums hat in seiner Überarbeitung der Markusvorlage die markinische Deutung der Person Jesu nicht stehengelassen. Charakteristisch für das matthäische Werk ist der veränderte Blick auf Jesus. Trotz vordergründiger Ähnlichkeit mit dem markinischen Jesus steht Jesus bei Matthäus in theologischer Hinsicht für eine andere Perspektive als bei Markus.1 Der matthäische Jesus verkörpert eine vom Markusevangelium unterschiedene Gestalt des Christusglaubens im letzten Viertel des 1. Jahrhunderts. Stilisierte Markus Jesus zum Protagonisten der internationalen Ausbreitung des Christusglaubens über Israel hinaus und zum ersten Missionar der Völkerwelt, zeichnet Matthäus Jesus als einen Hermeneuten, der die alttestamentlich-jüdische Tradition für den Christusglauben reaktualisiert und den sich weltweit ausbreitenden Christusglauben als die Verlängerung einer in der Geschichte Israels verankerten Gottesgeschichte präsentiert. Zur Entfaltung seiner Jesusdarstellung bezieht sich Matthäus auf eine gegenüber der Markusvorlage verbreiterte Quellenbasis. Dazu zählt in erster Linie die Einbeziehung der Logienquelle Q. Darüber hinaus integriert Matthäus Stoffe unbekannter Herkunft, das sogenannte Sondergut. Teile davon könnten auf der Linie seines Darstellungsinteresses auch vom Erzähler selbst geschaffen sein. Ähnlich wie neben ihm Lukas nimmt auch Matthäus teilweise deutliche Änderungen an der Markusfassung vor, um sein eigenes Anliegen hervorzuheben. Das, was Matthäus an der markinischen Version der Lebensgeschichte Jesu nicht akzeptiert, bearbeitet er auf unterschiedliche Weise. Er kürzt oder erweitert Szenen. Er streicht ganze Perikopen und fügt an anderer Stelle neue hinzu. Er sortiert einzelne Erzählzüge um und verschiebt die Pointen von Erzählungen. Mit seiner Neuordnung und Reformulierung der markinischen Vorgaben und der Integration weiterer Stoffe kreiert er ein Erzählwerk, dessen theologische Leitlinien sich von denen des Markusevangeliums unterscheiden.

1 Zahlreiche Einzelzüge, in denen Matthäus sich von Markus abhebt, listet R.A. C, The Place of Matthew in Early Christianity, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 149–183, 152–159, auf.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

6.1 Erzählung mit gestraffter Perspektive Wie das Markusevangelium ist auch das Matthäusevangelium aus der Sicht eines allwissenden Erzählers gestaltet. Dennoch gibt es im Vergleich zu Markus einen charakteristischen Unterschied. Zwar ist die Stofffülle, die Matthäus präsentiert, ungleich höher als die des Markusevangeliums. Auch verkürzt er keineswegs ständig die Vorgaben, die er aus Markus übernimmt, sondern erweitert sie im Gegenteil teilweise sogar durch Einschübe alttestamentlicher Zitate und weiterführender Ergänzungen. Gleichwohl wohnt seiner Darstellung in stilistischer Hinsicht eine Tendenz zur Straffung inne. In einer bestimmten Weise sind die Erzählungen über Jesus kühler gehalten, unpathetischer formuliert und ergebnisorientierter auf den Punkt gebracht als die gleichen Stoffe bei Markus. Während die markinische Darstellungsweise aufgrund ihrer Affinität zu mythischen Anschauungen zum Assoziieren und Verknüpfen einlädt, verengt Matthäus durch seine Form der Darstellung den Interpretationsspielraum. An vielen Stellen vereindeutigt er die Pointe, auf die eine Perikope im Rahmen seines Jesusbildes zielt. Die matthäischen Versionen von Erzählungen, die von Markus übernommen sind, zielen auf eine direktere Leserlenkung. Sie versuchen, die Möglichkeiten der Bedeutungsgenerierung klarer in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Pragmatik ist eindeutiger greifbar. Der Appell an die Leserschaft ist exakter zu erkennen und zu reformulieren. Daraus ergibt sich in vielen Erzählungen des Matthäusevangeliums eine deutliche Handlungsorientierung. Während Markus seinen Leserinnen und Lesern einen Verstehensraum öffnet,2 will Matthäus etwas von der Leserschaft selbst. Konkret versucht er, sie in der Beurteilung eines von ihm als defizitär eingestuften Toraverständnisses auf seine Seite zu ziehen und ein Einverständnis für seine christologische Sicht auf Jesus und dessen Gesetzesauslegung zu erzielen.3

6.2 Die Dehnung der Zeit Das Matthäusevangelium weitet seine Markusvorlage in mehrfacher Hinsicht aus. Rein äußerlich wächst der Umfang des Werkes an. Durch die Integration der Logienquelle und der Sondergutüberlieferungen erhält das von Jesus gezeichnete Bild zahlreiche neue Facetten. Die Vorgeschichte in Mt 1–2 kontextualisiert das Auftreten Jesu gegenüber Markus neu. Die Nachgeschichte ab Mt 28,9 öffnet den Rahmen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht über den Wirkraum Jesu in

2 Vgl. J. U. B, Verstehen als Aneignung. Hermeneutik im Markusevangelium, ABG 53, Leipzig 2016, 497–501: „Verstehen als Aneignung“ (497). 3 Vgl. R. P, Allgegenwärtiger Konflikt im Matthäusevangelium. Exegetische und sozialpsychologische Analyse der Konfliktgeschichte, NTOA/StUNT 111, Göttingen 2017, 109–111.

6.2 Die Dehnung der Zeit

243

Israel hinaus und stellt die Erzählung mit Mt 28,18–20 in eine Welt- und Ewigkeitsperspektive.4 Im Verständnis der Zeit ist bei Matthäus eine deutliche Veränderung gegenüber Markus zu beobachten. Matthäus zieht die bei Markus auf die kurze Gegenwart des jeweiligen Jetzt-Moments konzentrierte erzählte Zeit zu einem Kontinuum auseinander. Allein zwei Kapitel widmet er der Herkunft und Kindheit Jesu und seiner frühesten Familiengeschichte. Der Täufer und seine Botschaft erhalten in Mt 3 mehr Raum als bei Markus. Die Verkündigung Jesu streckt Matthäus zu fünf großen Redekomplexen in Mt 5–7 (Bergpredigt), 10 (Aussendungsrede), 13 (Gleichnisrede), 18 (Jüngerrede) und 23–25 (Rede an Pharisäer und Schriftgelehrte). Die quantitative Ausdehnung beinhaltet ein qualitatives Urteil. Matthäus stellt Jesus ein erhebliches Zeitkontingent für die Entfaltung seiner Lehre zur Verfügung. Zugleich legt die Komposition von fünf großen Reden den Gedanken an den Pentateuch nahe und stellt auf diese Weise eine gedankliche Beziehung zu Mose, dem Gesetzeslehrer Israels, her. Bereits die Stilisierung Jesu zu einer Person, die durch umfängliche Reden auf ihre Umgebung einwirkt und sich dabei inhaltlich immer wieder auf Vorgaben aus der Tora bezieht, legt nahe, dass Matthäus Jesus als Lehrer der christusglaubenden Gemeinde zeichnen möchte. Die Gedanken des matthäischen Jesus kreisen schwerpunktmäßig um die Auslegung jüdischer Glaubensüberzeugungen.5 Das lässt Jesus als einen Traditionshermeneuten erscheinen, der die Gedanken der jüdischen Überlieferung in die Welt des Christusglaubens hinein vermittelt. Die Entscheidung des Matthäus, Jesus als Redner und Prediger zu charakterisieren, zeugt von seinem enormen Vertrauen in die Kraft des gesprochenen Wortes. Jesus überzeugt vor allem durch sein Lehren. Das bedeutet nicht, dass er aufhört, durch die praktische Tat zu wirken. Viele der markinischen Wunderhandlungen Jesu tauchen auch bei Matthäus auf, allerdings mit Akzentverschiebungen. 4 Vgl. F. W, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin/New York 2002, 110: Matthäus liefert eine „konsequent fortschreitende Erzählung“. 5 C.R. H, The Gospel of Matthew Within the Context of Second Temple Judaism, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 101–126, betrachtet das Matthäusevangelium als eine jüdische Schrift innerhalb einer breiten literarischen Bewegung, der jüdische Schriftsteller mindestens ein Jahrhundert lang angehört haben (122–123). Matthäus wurde von einem Juden für eine jüdische Hörerschaft geschrieben (102/103). Unbeantwortet bleibt mit dieser traditionsgeschichtlichen Einordnung allerdings die Frage, ob und welche Impulse Matthäus selbst setzt, um aus diesem Kontext herausführen und gerade jenseits des Judentums rezipiert zu werden. Zu den Brücken, die von Matthäus zu seiner Rezeption führen, vgl. T. N, From Gospel Book to Virtual Reality. A Neglected Aspect of the Gospel of Matthew’s Ancient Reception History, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 17–28, 18.28.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Der Ausbau der Redeanteile Jesu durch die Aufnahme der Q-Überlieferung und das Sondergut wirkt sich auf die Gesamtkomposition des Matthäusevangeliums so aus, dass die Passions- und Auferstehungsgeschichte bei Matthäus im Verhältnis zum Gesamtumfang weniger Raum einnimmt als bei Markus. Matthäus verschiebt den Fokus vom Leiden, Sterben und Auferstehen auf das Lehren Jesu. Zudem bilden die Kapitel Mt 22–25 ein retardierendes Moment. Sie zögern nach dem Einzug Jesu in Jerusalem den Eintritt der Passion Jesu hinaus. Inhalt zeigt sich in diesem Zwischenstück der Erzähler um seine Adressaten besorgt. Er bereitet sie auf das Gericht vor. Die eschatologische Perspektive, die damit aufgerufen ist, beansprucht Zeit und Raum. Matthäus schiebt seiner Leserschaft zuliebe den Ausgang der Schilderung des persönlichen Schicksals Jesu auf. Eine Dehnung erfährt die Jesusgeschichte auch am Ostertag. Die Glaubhaftigkeit der Auferstehungsbotschaft, die Gerüchte über einen angeblichen Leichendiebstahl (Mt 28,11–15) und die Frage, wie es in Zukunft mit der Gemeinde weitergehen soll, beschäftigen den Erzähler. Die offene Zeitperspektive bis zum Ende der Welt gibt den Horizont an, in den das Wirken des Auferstandenen und der Gemeinde gestellt ist. Der Zeitraum bis zum Ende steht im Zeichen der bleibenden Gegenwart des Auferstandenen (Mt 28,20). Was sich für die Wartenden zu einem Zeitraum dehnt,6 ist für den Auferstandenen selbst ein Moment ständiger Gegenwart. Hier kommt bei Matthäus ein Zeitverständnis zum Vorschein, bei dem der irdisch-chronologische Zeitablauf in eine christologisch qualifizierte Gotteszeit eingebettet ist.7 Die für Markus charakteristische Akzentuierung der Zeit, die den Jetzt-Moment des Anbruchs der Gottesherrschaft im Glauben bezeichnet, wandelt sich bei Matthäus zu dem Raum und Weltzeit überspannenden Kontinuum einer Gotteszeit. In ihm wird Gottes Gegenwart von der Frühzeit der Geschichte Israels bis zum Ende der Welt geglaubt. Auf der Linie dieses Zeitverständnisses liegt, dass Matthäus den für die Antrittspredigt Jesu bei Markus konstitutiven Zusammenhang von καιρο ς und µετα νοια tilgt. Als Jesus sich in Galiläa an die Öffentlichkeit richtet (Mt 4,17), ist weder vom καιρο ς noch vom Glauben die Rede. Jesu Botschaft besteht hier in dem nicht näher ausgeführten Aufruf zum µετανοειÄν. Diese Forderung ist durch den Hinweis auf das Kommen der Himmelsherrschaft begründet. Nicht der καιρο ς erfordert das Nachsinnen. Die Himmelsherrschaft verlangt eine Umkehr. Anders als bei Markus richtet Jesus in der matthäischen Dramaturgie seine ersten Worte überdies nicht an eine breite Hörerschaft, sondern in 3,15 zunächst an Johannes den Täufer und in 4,4 an den Satan. 6 A. S, Das Matthäus-Evangelium, EdF 275, Darmstadt 1991, 131, spricht von der „Zeit der Gemeinde“ als einer „Zeit ,dazwischen‘“. 7 Zur Darstellung in diesem Abschnitt vgl. P.-G. K, Geglaubte und gemessene Zeit. Das Zeitverständnis der synoptischen Evangelien, in: C. Landmesser/D. Schlenke (Hg.), Ewigkeit im Augenblick. Zeit und ihre theologische Deutung, Leipzig 2024, 37–54, 42–43.

6.2 Die Dehnung der Zeit

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Das Interesse an chronologischer Kontinuität anstelle der für Markus signifikanten punktuellen Verdichtung und Vergegenwärtigung vermittelt Matthäus bereits durch die geballte Nennung von Namen innerhalb einer langen Generationenfolge. Alle in der Überschrift und im Stammbaum genannten Personen stehen unter der Maßgabe einer geglaubten Verknüpfung (Mt 1,1–17). Das gilt auch für die historischen Persönlichkeiten, die genannt werden. Das in dreimal 14 Personen gegliederte Geschlechtsregister dient dazu, Jesus Christus in einen epochenübergreifenden geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Der damit eröffnete geglaubte Zeithorizont ist theologisch bedeutsam. Matthäus fügt die Lebensgeschichte Jesu in eine umfassende Gottesgeschichte ein, die bis auf Abraham zurückführt. Unter der Perspektive der gemessenen Zeit legt Mt 2,1 den Anfang des Lebens Jesu in die Regierungszeit Herodes des Großen. Jesu frühkindliche Ägyptenphase endet erst kurz nach dessen Tod (Mt 2,15). Die historische Verankerung verknüpft Matthäus mit der geglaubten Wirklichkeit. An das Ägyptenmotiv und die Mitteilung vom Tod des Herodes heftet der Erzähler ein Erfüllungszitat. Die chronologische Angabe wird durch die Zitierung von Hos 11,1 aus Ägypten rief ich meinen Sohn zum Datum einer Glaubenserzählung. Der Name Herodes liefert das Stichwort, um Jesus in das für Israel bedeutsame Ägyptenmotiv einzubinden.8 Jesus wird zum Zielpunkt prophetischer Weissagung erhoben. Matthäus vereinnahmt die für das Selbstverständnis Israels konstitutive Ägyptenphase christologisch. Jesus, nicht Israel, wurde aus Ägypten berufen.9 Die Erwähnung des Archelaos (Mt 2,22), der zum Ethnarchen herabgestuft10 seinem Vater Herodes als Herrscher in Judäa nachfolgte, steht bei Matthäus im Dienst der literarischen Lösung eines Darstellungsproblems. Matthäus verbindet Jesu Geburt mit Bethlehem (Mt 2,1). Die auf Archelaos projizierten Befürchtungen machen plausibel, warum die Familie Jesu nach Nazareth in Galiläa, also in den Herrschaftsbereich des Herodes Antipas weiterzieht (Mt 2,22–23). Damit schafft Matthäus die erzählerische Basis, um an den Markusfaden anschließen zu können. Es folgt die Verknüpfung der Lebensgeschichte Jesu mit der Johannes des Täufers (Mt 3). Über Markus hinaus findet sich bei Matthäus in der Hauptsache nur noch eine weitere Angabe gemessener Zeit. In der Passionsgeschichte datiert Matthäus den Tötungsbeschluss der Hohepriester und Ältesten in die Amtszeit des Hohe-

8 Vgl. auch G. S, Die Diaspora in Ägypten, in: NTAK 1, Neukirchen-Vluyn 2004, 198–201, 200: „Das ,Neue‘ der Jesuserzählung wird in die Geschichte der vertrauten Überlieferung Israels, vor allem in Erinnerung an den rettenden Exodus, eingebettet.“ 9 Vgl. K, Geglaubte und gemessene Zeit (s. Anm. 7), 47. 10 Vgl. M. S, Innerjüdische Ereignisabläufe bis zum Bar Kochba-Aufstand, in: K. Erlemann (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 1. Prolegomena, Quellen, Geschichte, Neukirchen-Vluyn 22004, 188–194, 190. Archelaos erhielt über Judäa hinaus auch Samarien und Idumäa zugewiesen. Vgl. zum Folgenden K, Geglaubte und gemessene Zeit (s. Anm. 7), 48. 2

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

priesters Kaiaphas (Mt 26,3). Dieser wird auch als die maßgebende Person beim Verhör Jesu genannt (Mt 26,57). Eine tiefe Beunruhigung verbindet sich für das Matthäusevangelium mit der Erwartung der Ankunft des Menschensohns. Der entscheidende Moment seines Kommens lässt sich nicht vorherbestimmen. Er kündigt sich zwar zeichenhaft an; von jenem Tag aber und der Stunde weiß niemand.11 Die Macht über den Augenblick liegt allein bei Gott. Sich auf dieses Ereignis einzustellen, ist das Gebot der Stunde. Anders als Markus beschäftigt Matthäus nicht der Zeitpunkt als solcher. Sein Thema ist das mangelnde Bereitsein. In der entscheidenden Sekunde nicht präpariert zu sein, stellt das höchste Lebensrisiko für die Glaubenden dar. Die gelebte Gegenwart ist eine Zeit der Vorbereitung. Die eschatologische Erwartung der kommenden Krisis verlangt Wachsamkeit und eine ethisch ausgewiesene Bereitschaft im Jetzt (Mt 25,31–46). Zwei Tage vor dem Passahfest kündigt Jesus selbst seinen Kreuzestod an. Der anschließende Todesbeschluss der Hohepriester und Ältesten unter Leitung des Kaiaphas wird damit in seiner Bedeutung herabgestuft. Er gilt im Verlauf der Erzählung lediglich als die Umsetzung dessen, was Jesus selbst bereits ausgesprochen hatte (Mt 26,2–4). Jesus bleibt auch hinsichtlich seines Lebensausgangs der eigentliche Herr des Verfahrens. Er trägt die Kenntnis des Kommenden in sich und behält die Definitionsmacht über sein künftiges Schicksal. Die genannten Personen sinken in die Rolle von Ausführungsgehilfen zurück. Als Figuren der historischen Wirklichkeit werden sie bei Matthäus zu Komparsen der göttlichen Geschichtslenkung. Der zeitliche Schirm über dem Matthäusevangelium umspannt eine geglaubte Chronologie, die von Abraham bis zum Weltende reicht. Das matthäische Zeitverständnis ist vom Glauben an die Bedeutung der Person Jesu geleitet. Es bildet eine Funktion der Christologie.

6.3 Die conditio humana in der matthäischen Welt Die Welt, in der Jesus nach matthäischer Darstellung wirkt, ist ein Ort permanenter Gefährdungen.12 Matthäus zeichnet eine Welt voller affektgeladener Menschen, die zum Risiko für andere, insbesondere für Jesus werden. Starke Gefühle zwischen Machtgier und Todesangst leiten unterschiedliche Personen in ihrem Handeln und lassen sie zu einer Gefahr für sich und andere werden. Selbst die 11 Auch nicht die Engel in den Himmeln, auch nicht der Sohn, sondern allein der Vater (Mt 24,36). 12 Zu den machtpolitischen und sozio-ökonomischen Hintergründen unter römischer Herrschaft vgl. W. C, Matthew: Empire, Synagogues, and Horizontal Violence, in: E.-M. Becker/A. Runesson (Eds.), Mark and Matthew I. Comparative Readings: Understanding the Earliest Gospels in their First-Century Settings, WUNT 271, Tübingen 2011, 285–308, bes. 298–303.

6.3 Die conditio humana in der matthäischen Welt

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Natur ist im Matthäusevangelium ein Unruheherd. Das galiläische Meer wallt unversehens im Sturm auf, die Erde in Jerusalem bebt, Gräber brechen auf. Eine Atmosphäre von Bedrohung liegt über der Handlung. Darin eingebettet erscheint die Person Jesu als eine vom Erzähler in vielerlei Hinsicht ausgezeichnete Figur. Zahlreiche Fingerzeige erweisen Jesus als souverän und rational agierende Persönlichkeit. Er ist umhüllt von einer Aura, die ihn unantastbar macht. Ein göttlicher Schutzschirm umgibt ihn. Jesus ist der Exponent einer langen, in die Vergangenheit zurückreichenden, heilvollen Geschichte Gottes mit Israel. In der Verlängerung von Traditionen, die auf Abraham und David zurückreichen, ist er der Repräsentant einer neuen Epoche. Mit seiner grundlegenden Revision jüdischer theologischer Traditionen steht der matthäische Jesus für eine Neuinterpretation des jüdischen Erbes und insbesondere der Tora. Im Zusammenspiel von Traditionsauslegung und eigenen Anordnungen mit normativem Anspruch wird der matthäische Jesus zum Archegeten einer christusglaubenden Gruppe, die ihn als das Erbe Israels vollendenden Kultherrn verehrt. Revitalisierung und Neuausrichtung der theologischen Traditionen Israels durch Jesus gehen Hand in Hand. Der auf Taufe und Lehre beruhenden christusglaubenden Gemeinschaft stellt das Matthäusevangelium das Bild des die Tradition interpretierenden und lehrenden Jesus lebendig vor Augen. Anschaulich präsentiert es die jeden Rahmen sprengende Persönlichkeit Jesu. In Kontinuität zu den von Jesus verkündeten Anfängen lebt das von ihm empfangene Erbe in der Jesus-Christus-Gemeinde im Zeichen des Christusglaubens fort. Jesu Leben ist im Matthäusevangelium von Anfang durch Unwägbarkeiten und Gefahren bedroht. Schon kurz nach seiner Geburt müssen seine Eltern außer Landes nach Ägypten fliehen, damit das neugeborene Kind nicht von Herodes‘ Schergen ermordet wird (Mt 2,13–16). Not durch Fluchterfahrung lastet als erste Beschwer gleich zu Lebensbeginn über Jesus und seiner Familie (Mt 2,16–23).13 Obwohl Gott lebenslang seine schützende Hand über Jesus hält, wird er am Ende als Opfer eines Justizverbrechens zum Tode verurteilt und gekreuzigt (Mt 26,57–27,54). Druck in geistlicher Hinsicht erzeugt der Diabolos zu Beginn der Wirksamkeit Jesu. Er stellt die Festigkeit von Jesu Gottesbindung auf die Probe (Mt 4,1–11). Anforderungen, Anfechtungen, grenzwertige Schwierigkeiten und Katastrophen des menschlichen Lebens spricht Jesus in umfassender Weise in der Bergpredigt an. Wovon Menschen bedrückt und gequält sind und ebenso, worauf sich ihre Sehnsucht richtet, weil Mangel herrscht, fassen die Seligpreisungen zusammen (Mt 5,3–12). Auch Jesu gegenwartsorientierte Auslegung der Tora in den Antithesen lässt als Hintergrund ein Problem aufscheinen: Die Not der unverstandenen biblischen Tradition. Die alttestamentliche Überlieferung wird von Jesus nicht lediglich rezitiert, sondern auf die Gegenwart hin aktualisiert. Der matthäi-

13 Vgl. P, Konflikt (s. Anm. 3), 61: Die Kindheitsgeschichte nimmt Jesu Konfrontation „mit den feindlichen Mächten, bis hin zu ihrer Klimax in der Passion“ vorweg.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

sche Jesus wirkt dem Problem entgegen, dass die Traditionsvermittlung in Wiederholung erstarren könnte. Damit sie nicht als Ballast, der an gegenwärtigen Anforderungen vorbeigeht, auf den Hörenden lastet, unterzieht Jesus sie einer Revision und erschließt sie für die Gegenwart neu. Im Rahmen der matthäischen Erzählung stellt diese Neuinterpretation Jesu eine hermeneutische Leistung dar, die der Neuorientierung der christusglaubenden Gemeinschaft in den Jahrzehnten nach 70 n. Chr. dient. Jesu Ausführungen in der Bergpredigt bleiben nicht im Rahmen einer kleinteiligen Binnenlogik religiöser Selbstvergewisserung. Im Zentrum stehen substantielle Schwierigkeiten gelebten menschlichen Lebens. Sie betreffen das Gelingen und Scheitern des ehelichen Zusammenlebens (Mt 5,27–32), das wahrhaftige Reden, die Fragen von Rache, Entgegenkommen und Versöhnung (Mt 5,33–48), die persönliche religiöse Praxis, die sich nicht von selbst versteht (Mt 6,1–18), das alltägliche Sorgen im Leben (Mt 6,19–34), das menschlich-allzumenschliche Problem gegenseitiger Verurteilungen (Mt 7,1–5). Nachvollziehbarer Kleinglaube in den Stürmen des Lebens (Mt 8,26 und 14,31), die Befürchtung von Verfolgungen (Mt 10,16–23), die Erfahrung von Zurückweisung aufgrund nationaler Herkunft (Mt 15,21–28), die Feststellung der Diskrepanz zwischen Worten und Taten (Mt 23,3), das Beiseiteschieben fundamentaler ethisch-religiöser Verhaltensweisen, konkret von κρι σις14, εÍ λεος und πι στις zugunsten eines auf Äußeres gerichteten Formalgehorsams (Mt 23,23),15 der Widerspruch zwischen innerer Haltung und äußerem Auftreten (Mt 23,26), Katastrophen, die auf das kommende Ende vorausweisen (Mt 24,1–31), die vorzeitige Ermüdung beim Warten auf das Ende (Mt 24,32–25,30), alle diese Erlebnisse und Feststellungen zeichnen ein Bild von Menschen in bedrängter Lage.16 Ignoranz gegenüber Bedürftigen (Mt 25,31–46) und perfides Verhalten sind allgegenwärtig: Die Hohepriester und Ältesten beabsichtigen, Jesus mit List zu ergreifen und zu töten. Gleichzeitig möchten sie vermeiden, dass durch eine Hinrichtung am Passafest das Volk in Aufruhr gerät (Mt 26,5). Tiefgreifende Selbstwidersprüche brechen in der Person des Petrus auf: Bei ihm klaffen persönliche Selbsteinschätzung und Blindheit gegenüber den eigenen inneren Abgründen auseinander. Er verkündet vollmundig: Und wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich auf keinen Fall verleugnen (Mt 26,35). Nur wenige 14 Κρι σις bezeichnet hier das Vermögen der Unterscheidung zwischen Zentralem und Peripherem. Die Übersetzungen in der Lutherbibel von 2017 und der Einheitsübersetzung von 2016 bemühen sich darum, eine in sich konsistente Übersetzung der Trias vorzulegen und übersetzen κρι σις demzufolge mit Recht (Lutherübersetzung) bzw. mit Gerechtigkeit (Einheitsübersetzung). 15 Vgl. C. L, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9–13, WUNT 133, Tübingen 2001, 141. 16 U. L, Das Evangelium nach Matthäus, 4. Teilband, Mt 26–28 (EKK I/4), Düsseldorf/ Zürich/Neukirchen-Vluyn 2002, 465, spricht von einer „inklusiven Geschichte“, in der Jesu Schicksal mit dem seiner Jünger und den Erfahrungen der Gemeinde verflochten ist.

6.4 Die Bedeutung der Taufe Jesu: Mt 3,13–17

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Stunden später wird ihm schmerzlich bewusst, wie weit Anspruch und Wirklichkeit bei ihm auseinanderliegen (Mt 26,75). Die Bereitschaft, gegen Geld Verrat zu üben, demonstriert, wie weit Menschen in ihrem Verhalten gehen können und zieht die Schraube menschlicher Verwerflichkeit um eine weitere Umdrehung an (Mt 27,3). Der Blutdurst des Pöbels entfaltet seine zerstörerische Wirkung (Mt 27,22–24). Das Bemühen des Pilatus, die Verantwortung für das Todesurteil gegen Jesus von sich zu schieben, dokumentiert den abstoßenden Versuch, sich den Folgen des eigenen Handelns zu entziehen (Mt 27,24–26). Die Schäbigkeit der Lüge und des Betrugs melden sich selbst nach dem Ostersonntag zurück. Die Hohepriester bestechen Soldaten. Um die Auferstehungsbotschaft ad absurdum zu führen, sollen diese verbreiten, die Jünger hätten den Leichnam Jesu aus dem Grab gestohlen (Mt 28,11–15). Die Welt, in der Jesus nach Auskunft des Matthäusevangeliums gelebt hat, ist von Verwerflichkeit gezeichnet. Aber die Geschichte von Bedrückung und Leid läuft einem Ende entgegen. Das Gericht wird kommen; dann wird das letzte Wort gesprochen (Mt 25,31–46).17

6.4 Die Bedeutung der Taufe Jesu: Mt 3,13–17 Zwei entscheidende Ereignisse bei der Taufe Jesu im Markusevangelium bildeten die Verleihung des vertikal vom Himmel herabkommenden Geistes und die direkte Zusage der Gottessohnschaft an Jesus durch die Stimme aus den Himmeln. Mit den korrespondierenden Richtungen – von oben steigt das Pneuma herab bei gleichzeitigem Aufstieg Jesu aus dem Jordanfluss –, dem Motiv des Spaltens, dem bedeutungsvollen Ausruf der ϕωνη sowie der Gottessohnbezeichnung erschienen fünf Elemente, die in der Hinrichtungsszene in Mk 15,33–39 aufgegriffen wurden und beide Perikopen miteinander verbanden. Die Verknüpfung von Herabkommen und Ausströmen des Geistes bildete eine Klammer um das Wirken Jesu und schuf in literarischer Hinsicht eine Ringkomposition. Markus setzte mit der Erzählung von der Taufe Jesu das Thema, das mit dem Tod Jesu zu einem relativen Abschluss gelangte: Die Geschichte des durch Jesus vermittelten Wirkens des Geistes Gottes unter den Menschen. Diese ringkompositorische Gestaltung löst die matthäische Fassung der Erzählung von der Taufe Jesu auf. An ihre Stelle treten andere Verschränkungen innerhalb des Gesamtwerks. Sie betreffen zum einen die Einführung des Topos der Gerechtigkeit in Mt 3,15, durch den eine Brücke über die Bergpredigt hinweg zu Mt 21,32 gebaut wird.18 Zum anderen verbinden sie über das im passivum 17 Zur Zusammenstellung der Beobachtungen in diesem Teilkapitel vgl. P.-G. K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung. Der Beitrag der synoptischen Evangelien, ThLZ 143 (2018), 859–872, 862–863. 18 Die weiteren Stellen, an denen bei Matthäus von δικαιοσυ νη gesprochen wird, sind Mt 5,6.10.20; 6,1.33.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

divinum verwendete Verb αÆ νοι γω die Öffnung der Himmel mit der Öffnung der Gräber im Moment des Todes Jesu in Mt 27,52. In beiden Fällen wird das Handeln Gottes in entscheidenden Augenblicken der Lebensgeschichte Jesu zur Sprache gebracht. Die Verleihung des Gottesgeistes an Jesus bleibt damit zwar Thema. Aber die herausragende Bedeutung, die dieses Ereignis für die markinische Darstellung besaß, wird zurückgenommen. Der Akzent der Initiation Jesu verlagert sich. An die Stelle des pneumatologischen Skopus tritt eine christologische Akzentuierung der Szene, die den Blick auf das machtvolle Handeln Gottes richtet. Erhalten bleibt gleichwohl der innere Bezug zwischen Taufe und Tod Jesu.19 Die Richtungen im Raum, die auf den Zusammenhang zwischen oben und unten anspielen, das Öffnungsmotiv, der Geist, die Stimme, die Sohnesbezeichnung, alle fünf Kernelemente der Tauferzählung, erscheinen wie in der Markusvorlage auch in der matthäischen Erzählung vom Sterben Jesu in Mt 27,45–56.20 Sie werden durch die Verbindung mit der Gerechtigkeitsthematik jedoch neu gewichtet und einer deiktischen Christologie zugeordnet, d.h. einer Christologie des Fingerzeigs, die auf die besondere Qualität und Bedeutung Jesu hinweist und ihn in dieser Weise innerhalb der erzählten Welt und vor der Leserschaft präsentiert. Die Taufszene wird in Mt 3,13–15 mit einer Debatte zwischen dem Täufer und Jesus über die Legitimität und Berechtigung der Taufe Jesu durch Johannes eröffnet. Die hierarchische Frage, die damit angesprochen ist, wird durch ein Machtwort Jesu entschieden. Der Vorgang ist nach Jesu Auffassung so, wie er geplant ist, richtig. Jesus fordert Johannes auf, einzuwilligen und sich zu fügen. Mit dem Empfang der Johannestaufe ordnet sich Jesus nicht dem Täufer unter.21 Die Handlung des Täufers stellt eher einen dem Willen Jesu und Gottes entsprechenden Dienst an Jesus dar. Gleichwohl fügt Jesus eine Begründung an, die sich als Leitmotiv durch die matthäische Jesusdarstellung hindurchziehen wird. Das Ziel des Wirkens Jesu, das ihn eng mit dem Täufer verbindet, ist die Erfüllung der Gerechtigkeit. Damit ist ein Schlüsselthema des Matthäusevangeliums benannt.22 19 Die Auffassung von L, Matthäus (EKK I/4) (s. Anm. 16), 214, derzufolge keine Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Passion Jesu besteht, wirkt angesichts der zahlreichen Verbindungen zwischen beiden Perikopen an den Text herangetragen. 20 Vgl. im Einzelnen P.-G. K, Weg vom Grab! Die Richtung der synoptischen Grabeserzählungen und das „heilige Grab“, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 71–105, hier 83–87. 21 Jesu „übergeordneter Status“ wird dadurch durchaus nicht „verdeckt“. So allerdings M. K, Die Taufe des Gottessohnes. Erwägungen zur Taufe Jesu im Matthäusevangelium (Mt 3,13–17), in: Ders., Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. A. Euler, WUNT 358, Tübingen 2016, 201–218, 216. 22 Vgl. J. M, John the Baptist in the Gospel of Matthew, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018,

6.4 Die Bedeutung der Taufe Jesu: Mt 3,13–17

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Gerechtigkeit gilt bei Matthäus als ein von Gott ausgehender Himmel und Erde umschließender Zustand. In der Gerechtigkeit verbinden sich göttliches Wirken und menschliches Handeln. Gerechtigkeit beinhaltet eine eschatologische Zielrichtung ebenso wie einen ethischen Anspruch. In dem Maße, wie Gerechtigkeit die von Gott stammende Perspektive auf die Welt ist, geht es im Leben der Menschen darum, in diesen gottgegebenen Rahmen zurückzukehren und ihm zu entsprechen.23 In der Gerechtigkeit ist von Seiten Gottes eine Vollendung mitgesetzt, die unter den Bedingungen tatsächlich gelebten Lebens regelmäßig unterlaufen wird. Die Erfüllung der Gerechtigkeit meint, den Vollendungszustand, der immer schon bei Gott vorhanden ist, angesichts der Tatsache des faktischen Zurückbleibens der Menschen dahinter, zurückzugewinnen. Jesus gilt für das Matthäusevangelium als die Person, die dieser Vision allen irdischen Anfechtungen und Problemen zum Trotz entsprochen hat. Er verkörpert in Person die Erfüllung, die der Gerechtigkeit Gottes entspricht. In ihm kommt die Gerechtigkeit Gottes im Rahmen seiner einzigartigen menschlichen Lebensführung zum Ziel.24 Die Perspektive des Wirkens Jesu liegt nach matthäischer Darstellung darin, andere Menschen – während seiner Lebenszeit zunächst im Kontext des zeitgenössischen Judentums und anschließend nach Ostern über diesen hinaus – in die Verwirklichung der göttlichen Gerechtigkeit unter den Bedingungen gelebten Lebens hineinzuführen. Aufschlussreich ist, dass Matthäus in V.13 die dezidierte Zuweisung Jesu an den Ort Nazareth aus Mk 1,9 tilgt. An ihre Stelle tritt die generelle Territorialbezeichnung Galiläa. Der Vorgang wiederholt sich in vergleichbarer Weise in der matthäischen Auferweckungsperikope. Der Erzähler streicht die konkrete Verbindung Jesu zu Nazareth. Während Mk 16,6 den weißgekleideten jungen Mann die Auferweckung des gekreuzigten Nazareners verkünden lässt, löst Mt 28,6 den Auferstandenen von seinem Herkunftsort. In matthäischer Sicht hat Jesus als Auferstandener die Bindung an seine konkrete lokale Herkunft hinter sich gelassen. In der Schilderung der äußeren Umstände während der Taufe legt die matthäische Darstellung gegenüber der Markusvorlage Wert darauf, Gott und Jesus als die handelnden Subjekte in dem Geschehen in den Vordergrund zu heben. Die Himmel spalten sich nicht von selbst wie in Mk 1,10. Sie werden laut Mt 3,16 WUNT 459, Tübingen 2021, 217–231, 218–219: “‘Fullfill’ and ‘righteousness,’ however, are two of Matthew’s most characteristic terms”. 23 Vgl. K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung (s. Anm. 17), 863–865. Vgl. auch unten Kap. 6.6 Die Durchsetzung von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit: Mt 5,3–10. 24 P.F. E, The Righteousness of Joseph: Interpreting Matt 1.18–25 in Light of Judean Legal Papyri, NTS 68 (2022), 326–343, 343, arbeitet heraus, dass im Rahmen des matthäischen Darstellungsinteresses bereits Joseph als Vorabbildung solcher Gerechtigkeit dient. Indem Joseph den Erwartungen seines zeitgenössischen Umfeldes entgegen die Ehe mit Maria trotz deren Schwangerschaft vollzieht, werde er bei Matthäus zum „prototype of righteousness“.

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geöffnet, und das passivum divinum im Verb ηÆ νεωÂì χθησαν verweist auf Gott als den Urheber des Ereignisses. Fast gleichlautend beschreibt Mt 27,52 die Öffnung der Gräber der entschlafenen Heiligen im Moment des Todes Jesu. Die Verbindung zwischen Taufe und Tod akzentuiert bei Matthäus insbesondere das Wirken Gottes in den beiden geschilderten Ereignissen. Bei der Beschreibung des Herabsteigens des Geistes Gottes während des Taufvorgangs fügt Matthäus in V.16 das Verb des Sehens ειËδεν ein. Damit weist er Jesus eine aktive Rolle als Rezipient des Geschehens zu. Es geschieht nicht etwas an Jesus, bei dem dieser ausschließlich Objekt der Handlung wäre. Indem Jesus bewusst mit seinen Sinnen aufnimmt, was auf ihn zukommt, wird er an dem Geschehen beteiligt. Die christologische Umakzentuierung der Szene wird am direktesten in der Einführung der Worte der Himmelsstimme greifbar. Während bei Markus sich die Stimme direkt an Jesus wendet und nur von ihm vernommen wird, präsentiert Mt 3,17 Jesus vor der Öffentlichkeit. In dem einleitenden καιÁ ιÆ δου klingt aus dem Alten Testament vertraute Offenbarungsterminologie an. Das bei Matthäus wiederholt an Schlüsselstellen wie der Verklärung Jesu in Mt 17,5 und dem Votum des Hauptmanns über den soeben verstorbenen Jesus in Mt 27,54 auftauchende absolut gebrauchte Demonstrativpronomen ουÎ τος spielt auf den besonderen Charakter an, den Jesus als Gottessohn bei Matthäus besitzt. Die Ansage der Gottessohnschaft Jesu stellt in Mt 3,17 bereits vorab eine Proklamation dar. Die Stimme verweist in der dritten Person und im Dativ auf Jesus. Dieser ist der Gottessohn, und an ihm hat Gott Wohlgefallen.25 Mit dieser Aussage stellt Matthäus seiner Jesusdarstellung die christologische These voran, die im Folgenden Erzählung für Erzählung verifiziert wird. Im Unterschied zum Markusevangelium, in dem die Feststellung der Gottessohnschaft für die Öffentlichkeit sich in voller Breite erst am Ende des Lebens Jesu offenbart, stellt Matthäus den definitiven Status Jesu seiner Lebensgeschichte voran.

6.5 Die Steigerung der Versuchungen Jesu: Mt 4,1–11 Das Matthäus- wie das Lukasevangelium bauen die knappe Versuchungsszene aus Mk 1,12.13 narrativ aus. Dabei verändern beide gegenüber Markus die Pointe der Erzählung. Bei Markus wurde mit der Begegnung zwischen Jesus und dem Satan eine polare Weltsicht über die Erzählung gebreitet. Der Träger des Geistes Gottes und der Repräsentant der widergöttlichen Mächte stoßen im Verlauf der Erzählung wiederholt aufeinander. Die Welt bildet den Kampfplatz für den Machtkampf

25 Vgl. P, Konflikt (s. Anm. 3), 82: Auf diese Weise „wird die Taufszene erst bei Matthäus wirklich zu einer Epiphanie, einer Enthüllung einer bisher verborgenen Würde“ (Kursivierung bei P.).

6.5 Die Steigerung der Versuchungen Jesu: Mt 4,1–11

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beider Geister um die Herrschaft über die Menschen. Markus stellt seine Jesuserzählung von Beginn an unter eine pneumatologische und anthropologische Perspektive. Das Matthäusevangelium profiliert Jesus in dieser initialen Szene als versierten Schriftausleger. Der mit griechischer Bezeichnung als δια βολος – Durcheinanderwerfer – eingeführte Versucher (V.1) unternimmt drei Anläufe, um Jesus zu einem bestimmten Verhalten zu provozieren. Die drei Versuchungen nehmen zu unterschiedlichen Erwartungen an die vorausgesetzte Gottessohnschaft Jesu Stellung. Mit ihnen wird aus Erzählerperspektive via negationis zum Ausdruck gebracht, welches Verständnis von Gottessohnschaft Jesus selbst in dieser Szene als inadäquat abweist. Die Erfüllung der drei an Jesus herangetragenen Verlockungen würde seiner besonderen Sohnesqualität gerade nicht entsprechen. Matthäus stellt den Anfang des Wirkens Jesu in den Horizont der christologischen Frage.26 Er folgt damit der Spur, die er bereits durch den Eingangsvers des Gesamtwerks in Mt 1,1 angelegt hat. In Mt 4,2 fällt gegenüber der Markusvorlage aus Mk 1,13 auf, dass Matthäus in der Zuordnung der 40-Zahl eine Verschiebung vornimmt. Während Markus davon spricht, dass Jesus während seines vierzigtägigen Wüstenaufenthalts vom Satan versucht wurde, erzählt Matthäus unter zweifacher Nennung der 40-Zahl ein vierzigtägiges Tag und Nacht umfassendes Fasten, in dessen Anschluss ihn hungerte. In dieser Änderung zeigt sich ein von Markus abweichendes Verständnis des Widersachers. Nicht die Permanenz des widergöttlichen Handelns in der Welt, mit der der markinische Jesus sich auseinandersetzt, sondern das punktuelle Auftreten und Eingreifen des diabolischen Versuchers beschäftigt das Matthäusevangelium. Nicht die allgegenwärtige Anwesenheit unreiner Geister, sondern der gezielte Zugriff des Versuchers als Störfaktor in einer geordneten Welt ist das Thema im Matthäusevangelium. Die erste Versuchung zielt darauf, Jesus zu provozieren, seine Gottessohnschaft durch eine einseitig sozial-karitative Tat unter Beweis zu stellen. In der Fähigkeit, Brot für die Massen herbeizuschaffen, würde sich die Qualität einer sozialrevolutionär agierenden Rettergestalt zeigen. Die Festlegung und Verengung der Gottessohnschaft auf die Fähigkeit, materielle Versorgung im großen Stil zu gewährleisten, weist Jesus mit dem Zitat aus Dtn 8,3 zurück. Entschei26 A. L, Die Versuchungsgeschichte Jesu nach der Logienquelle und das Vaterunser, in: D.-A. Koch/G. Sellin/A. Lindemann (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche, FS Willi Marxsen, Gütersloh 1989, 91–100, 91, verweist darauf, dass neben Untersuchungen der Perikope, die den Fokus auf das christologische bzw. messianologische Thema legen, eine zweite Auslegungslinie zu beobachten ist, die die exemplarische bzw. paränetische Ausrichtung hervorhebt. Allerdings lasse sich das eine laut Lindemann nicht scharf gegen das andere abgrenzen. Bereits nach R. B, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970, 274, seien „[a]lle drei Versuchungen […] keine spezifisch messianischen, sondern solche, in denen grundsätzlich jeder Gläubige steht“. Die „gehorsame Beugung des Willens unter Gott [charakterisiert] den Messias wie die Gemeinde“.

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dender noch als die körperliche Nahrung ist der Empfang des Gotteswortes. Das Angesprochensein von Gott überbietet die rein körperliche Ernährung. Mit seiner Antwort aus dem Deuteronomium rezitiert Jesus das traditionelle Verständnis Israels. Seine Entgegnung stellt ausdrücklich keine aus der Situation geborene Neuerung dar. Jesus begegnet dem Diabolos unter Hinweis auf die israelitischjüdischen religiösen Voraussetzungen. Seine Entgegnung „ist ein performativer Akt“27. Während Jesu Wirken bei Markus aus der Taufe geboren wird, legt sich bei Matthäus zwischen die Taufe Jesu und die Auseinandersetzung mit dem Versucher der Schriftbezug. Er dient als Quelle für die Reaktion auf die Herausforderung, vor der das Wirken Jesu steht. Dieser Verschiebung der Grundlage der Argumentation entspricht die veränderte Rolle, die die Tauferzählung für das Verständnis der Person Jesu in den beiden Evangelienschriften besitzt. Bei Markus bildete die Taufe den Ausgangspunkt für die Verbreitung des göttlichen Geistes durch Jesus in der Welt; und die Geistesgabe wird zur Auslöserin für den Zweikampf der Geister in der Welt. Bei Matthäus begründet die Taufe den durch Gott bestätigten Sohnesstatus Jesu. Sie besitzt eine christologische Pointe. Entsprechend verwandelt Matthäus in 3,17 die an Jesus gerichtete Gottesrede des Markusevangeliums in Mk 1,11 du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen in die proklamatorische Aussage dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Die zweite Versuchung stellt Jesus einen Triumph im religiösen Zentrum des Judentums in Aussicht. Am höchsten Punkt des Tempels soll für alle sichtbar sein Sonderstatus markiert werden. Er soll seine körperliche Unantastbarkeit selbst durch die extreme Herausforderung des Todes unter Beweis stellen. Damit stellt der Erzähler die Frage nach Jesu Gottessohnschaft in einen messianischen Kontext. Körperliche Unantastbarkeit und das Überleben angesichts von Todesgefahr soll ihn im religiösen Herzen des Judentums als Messias qualifizieren. Der Versucher verlangt ihm eine Demonstration seiner Durchsetzungsfähigkeit ab. Erfolgreich auch in schier auswegloser Lage zu bleiben, wird zum Gütekriterium erhoben. Der Diabolos tritt dabei mit Unschuldsmiene als Schriftkenner auf. Sein Anliegen soll arglos, weil in Übereinstimmung mit Ps 91,11.12 stehend wirken. Er nimmt bereits vorweg, dass Jesus die erste Versuchung durch einen Hinweis auf die Schrift zurückwies. Die Absicht bei der zweiten Versuchung ist, Jesus bereits bei der Argumentationsstrategie entgegenzutreten.28 Die Forderung, Jesus möge seine vom Versucher messianisch interpretierte Gottessohnschaft durch einen unzweideutigen Machterweis demonstrieren, begründet der Durcheinanderwerfer argumentativ auf derselben Ebene, die zuvor Jesus beschritten hatte. Er gibt seinem inhaltlichen Anliegen nun die Form, mit der er Jesus beizukommen hofft. Die Antwort Jesu erfolgt wiederum mit einem Deuteronomiumzitat. Die HerP, Konflikt (s. Anm. 3), 85: Sie ist „selbst ein Gotteswort“. M. K, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 55: Der Teufel versucht, „Jesus mit dessen eigenen Waffen zu schlagen, indem auch er sich auf die Schrift beruft“. 27

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6.5 Die Steigerung der Versuchungen Jesu: Mt 4,1–11

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meneutik, der Jesus durch die Anführung von Dtn 6,16 folgt, berücksichtigt eine Hierarchie der Schriftworte. Nicht die Schrift als Formalautorität ist das entscheidende Argument. Vorrang erhält die inhaltliche Stoßrichtung eines Schriftworts. In diesem Fall bildet die Integrität Gottes den Höchstwert, den die Argumentation mit der Schrift zu beachten hat. Die Schutzfunktion Gottes für den Menschen, von der das Psalmzitat zeugt, kann nicht als Druckmittel gegen Gott verwendet werden. Der Gottheit Gottes entspricht, dass Gott sich nicht testen lässt und dem Zugriff des Menschen entzogen bleibt. Die dritte Versuchung übersteigt das Maß messianischer Ansprüche. Der Diabolos bietet Jesus die Chance an, anstelle Gottes selbst die Herrschaft über die Welt zu übernehmen. Diese Versuchung führt an die Grenze messianischer Größenvorstellungen. Käme hier die messianisch gedachte Christologie durch ein zustimmendes Votum Jesu zur Vollendung, wäre die Frage nach dem Verhältnis des matthäischen Christus zu Gott selbst aufgerufen. Der Ruf Jesu υÏ παγε, σαταναÄ nimmt die von Jesus in Mt 16,2329 gegen Petrus verwendete Zurückweisung vorweg. Die Christologie, so die Auskunft des Matthäusevangeliums, stellt nicht den alleinigen Herrschaftsanspruch Gottes in Frage. Die hohe Christologie des Matthäusevangeliums findet ihre Grenze an der Exklusivität der Weltherrschaft Gottes. Ihr ordnet sich Jesus willig ein und unter. Die unter messianischen Vorzeichen zum höchsten denkbaren Punkt geführte Christologie wird als diabolische Versuchung zurückgewiesen. Jesus verweigert sich ihr explizit mit weiteren Worten aus Dtn 6,13 und 10,20: Den Herrn deinen Gott sollst du auf Knien anbeten und ihm allein dienen (Mt 4,10). Die Szene endet in V.11 mit einer weiteren Pointe. Jesus ist es gelungen, den Diabolos loszuwerden. Dieser zieht sich zurück. Die Engel treten anschließend zu Jesus und dienen ihm.30 Erst nach dem Bestehen der Probe darf Jesus auf ihre Unterstützung zählen. Damit belohnen die Engel Jesu erfolgreichen Widerstand gegen die Verlockungen des Verführers. In Mk 1,13 hatten die Engel hingegen noch zu den Mächten gezählt, die Jesus während der vierzigtägigen Phase der Versuchung durch den Satan umgeben hatten. Waren sie dort seine Begleiter in einer schweren Phase der Anfechtung und Auseinandersetzung, werden sie bei Matthäus zu den ersten Unterstützern, die sich an seine Seite stellen, nachdem er zuvor seine Kontroverse siegreich bestanden hat. Es liegt nahe, bei der Auslegung der Perikope das standhafte Verhalten Jesu als Modell intensivster Gottesbindung in seiner Vorbildlichkeit für die glaubende

29 Laut H.M. P, “Arrie`re de moi, Satan! Tu m’es en scandale!” (Mt 16.23). Analyse de l’ajout du re´dacteur dans son contexte juif, NTS 66 (2020), 1–20, 1.19, verweist der redaktionelle Zusatz in Mt 16,23 σκα νδαλον ειË εÆ µου auf eine Tendenz in jüdischen Quellen, den Begriff Anstoß auf Sünde zu beziehen und eine diabolische Figur als Ursache des σκα νδαλον zu benennen. 30 Aus der Tatsache, dass die Engel in der Lukasversion fehlen, zieht B, Geschichte der synoptischen Tradition (s. Anm. 26), 271, den Schluss, dass dieser Zug der Erzählung aus der Markusvorlage in die ursprüngliche Q-Überlieferung eingedrungen sei.

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Gemeinde zu betonen. Auch ergibt sich unter dieser Wahrnehmung eine inhaltliche Nähe zu weiteren Überlieferungen in den synoptischen Evangelien, insbesondere zum Vaterunser in Mt 6,9–1331 und zur Leidensgeschichte Jesu in Mt 26–27.32 Eine solche Interpretation erfolgt vom Standpunkt einer positiven Identifikation mit dem moralisch-ethischen Verhalten Jesu aus. Die Fokussierung auf Jesus als „Vorbild“33 und die Hervorhebung seines „Gehorsams“34 beinhaltet allerdings eine Abstraktion von der auf der Erzählerebene konkret geführten Debatte. In dieser geht es um die Abweisung für unzulänglich befundener messianischer Vorstellungen. Die Auseinandersetzung Jesu mit den Angeboten des Versuchers beinhaltet einen kritischen Impuls gegenüber jüdischen messianischen Vorstellungen.35 Der matthäische Erzähler hält sein christologisches Konzept von Implikationen frei, die seiner Präsentation der Person Jesu entgegenstehen. Die Zuordnung zu jüdisch wie christlich bruchlos integrierbaren ethischen Allgemeinbegriffen stellt diese Differenzbestimmung zurück. Der interpretative Bezug auf Jesu vorbildliches, gehorsames Verhalten sieht über den kritischen Kernpunkt der Perikope hinweg. Dieser Zugang überführt die inhaltliche Auseinandersetzung um die messianisch richtige Vorstellung in ethische Allgemeinbegriffe und integriert die Szene über die narrativ entfaltete Momentaufnahme hinausgehend in ein begrifflich gelenktes Gesamtkonzept. Das matthäische Bemühen, die Christologie in Unterscheidung von jüdischen messianischen Vorstellungen zu formulieren, wird damit leiser gestellt. Freilich bietet der abstrahierende Zugang für die spätere Rezeption der Erzählung und ein auf Aktualisierung gerichtetes Interesse gerade dadurch, dass er aus dem Kontext einer innerjüdischen Debatte herausführt, Aneignungsmöglichkeiten.

6.6 Die Durchsetzung von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit: Mt 5,3–10 Neben äußere Bedrängnisse und innere Anfechtungen ist das menschliche Zusammenleben nach dem Matthäusevangelium einer weiteren gravierenden Belastung ausgesetzt. Sie betrifft die tiefgreifende Störung im Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Tatsache, dass die Himmelsherrschaft36 und der Gott und

Vgl. L, Versuchungsgeschichte Jesu (s. Anm. 26), 97–99. K, Taufe des Gottessohnes (s. Anm. 21), 215. 33 K, Taufe des Gottessohnes (s. Anm. 21), 215. 34 K, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 28), 55. 35 Dies entspricht dem Anliegen des Matthäusevangeliums, zu einer „Neuinterpretation des Judentums aus der Perspektive des Christusgeschehens“ zu gelangen. U. S, Die getrennten Wege von Römern, Juden und Christen. Religionspolitik im 1. Jahrhundert n. Chr., Tübingen 2019, 125. 36 Terminologisch könnte laut K. W, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 40, das matthäi31

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6.6 Die Durchsetzung von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit: Mt 5,3–10

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Mensch umschließende Gerechtigkeitszustand nur noch als gebrochen erlebt werden, stellt den sachlichen Ausgangspunkt für die Bergpredigt in Mt 5–7 dar. Die Seligpreisungen in Mt 5,3–10 reagieren auf die Einsicht, dass das Gemeinschaftsverhältnis zwischen Gott und den Menschen wie das der Menschen untereinander verlorengegangen ist. In religiöser wie sozialer Hinsicht stehen die Menschen vor den Trümmern des von Gott gestifteten gelingenden Miteinanders. In dieser Situation lenkt der Bergprediger den Blick auf einen Horizont, der diese Bedürftigkeit umfängt. In den Seligpreisungen wird die βασιλει α τωÄ ν ουÆ ρανωÄ ν den Armen εÆ ν τωÄì πνευ µατι und den um der δικαιοσυ νη willen Verfolgten zugesagt. Darüber hinaus geben die Himmelsherrschaft und die Gerechtigkeit den Rahmen für alles ab, was an Leidensfähigkeit und Gerechtigkeitssehnsucht erhofft wird. Auch das, was durch Sanftmut, Barmherzigkeit, Herzensreinheit und Friedfertigkeit geschaffen wird, steht unter dem Schutzschirm des Wirkens Gottes. Die Seligpreisungen stellen sowohl die von Menschen erlittene Not als auch das gelingende Leben in die Himmelsperspektive der Herrschaft Gottes und der göttlichen Gerechtigkeit. Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit bilden im Matthäusevangelium eine innere Einheit. Das göttliche Wirken und seine Realisierung in den zwischenmenschlichen Beziehungen lassen sich daher nicht voneinander trennen. Himmlische und irdische Realität sind in einem umfassenden Sinnzusammenhang miteinander verbunden. Daher greift die Abgrenzung einer eschatologischen bzw. christologischen von einer ethischen Dimension im Gerechtigkeitsverständnis zu kurz. Beide Aspekte bilden keine Alternativen, sondern fallen ineinander.37 Ulrich Luz hebt in seiner Auslegung des matthäischen Gerechtigkeitsverständnisses den menschlich-ethischen Aspekt pointiert hervor. Gerechtigkeit sei „für Matthäus […] das, was Gott in seiner Liebe vom Menschen verlangt. ,Gerechtigkeit‘ meint den menschlichen Weg, den die Jünger/innen Jesu zu gehen haben“.38 Dieses Verständnis ist im Blick auf den in der menschlichen Realität

sche Reden von der Himmelsherrschaft statt vom Reich bzw. der Herrschaft Gottes vom Sprachgebrauch des rabbinischen Judentums beeinflusst sein. 37 Zur Verschränkung von Gottesherrschaft und Gerechtigkeit und dem inneren Zusammenhang von ethischer und eschatologischer Dimension in den Seligpreisungen vgl. P.-G. K, Das Glück der frühen Christen, in: T. Hoyer (Hg.), Vom Glück und glücklichen Leben. Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge, Schriften des Sigmund-Freud-Instituts, Reihe 2, Band 6, Göttingen, 2007, 143–161, 152–154. W. P, Die Gerechtigkeitstradition im Matthäus-Evangelium, ZNW 80 (1989), 1–23, 1–2, listet die einander entgegenstehenden Forschungspositionen auf, die entweder für eine ethische oder eine soteriologische bzw. eine imperativische oder eine indikativische Auffassung votieren. Popkes selbst stellt die Gerechtigkeitsthematik in engen Bezug zur Taufunterweisung (9.13.16.18.20). 38 U. L, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 166. H. W, Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 1985, 154, akzentuiert anders, indem er Jesu Forderung als „eschatologische Ethik“ bezeichnet, die „ganz und ausschließlich der Gottesherrschaft verpflichtet ist“.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

faktisch erlebten Gerechtigkeitsverlust zwar nachvollziehbar. Aber angesichts des in Gottes Wirken gegründeten Zusammenhangs von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit zielen der Zuspruch und die Einforderung von Gerechtigkeit auf die Rückkehr in das nach wie vor bestehende und von Gott gestiftete Relationsgeschehen zwischen Himmel und Erde.39 Die ethische Forderung wird bei Matthäus an den Glaubensvollzug gebunden.40 Ebenfalls empfiehlt es sich nicht, im Widerspruch gegen die ethische Deutung eine exklusive Gerechtigkeitserfüllung für Jesus zu postulieren.41 Zwar stellt in der erzählten Welt die Erfüllung des Gesetzes ein einzig Jesus vorbehaltenes Merkmal dar. Aber die im Gottesbezug vorgegebene umfassende Zusammengehörigkeit von βασιλει α τωÄ ν ουÆ ρανωÄ ν und Erfüllung des Gotteswillens impliziert, dass in die δικαιοσυ νη mit Jesus auch die Glaubenden einbezogen sind.42 Jesus besitzt bei Matthäus in puncto Gottesnähe einen Sonderstatus; und zugleich 39 So zutreffend bei P. F, Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006, 84: Der „einheitliche Verstehens-Horizont“ hinsichtlich der Gerechtigkeit der Jünger und der Gottes ergibt sich daraus, dass die Gerechtigkeit „sich primär von Gottes Verhalten her [bestimmt]“. „Wenn sich der Mensch in seinem Verhalten davon bestimmen lässt, dann ist er selbst einer, der Gerechtigkeit verwirklicht […]. Auf diese Weise ist die menschliche Gerechtigkeit von derjenigen Gottes nicht zu trennen, sondern ist und bleibt durch sie gestiftet und ermöglicht.“ „Dieser einheitliche Verstehens-Horizont ist bei Mt christologisch akzentuiert.“ Zur Darlegung der Differenz zwischen den beiden Auffassungen von Gerechtigkeit im Matthäusevangelium vgl. die „Kontroverse: ,Gerechtigkeit‘ bei Matthäus: Ethisch oder christologisch?“ zwischen R. D, Gerechtigkeit, die zum Leben führt. Die christologische Bestimmtheit der Glaubenden bei Matthäus, ZNT 36 (2015), 46–56, und M. V, Die Ethik der ,besseren Gerechtigkeit‘ im Matthäusevangelium, ZNT 36 (2015), 57–63. Zum Verhältnis zwischen eschatologischer und ethischer Auslegung im Blick auf die Namensheiligung in der ersten Vaterunserbitte vgl. K. J, „Geheiligt werde dein Name“. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung zur Namensheiligung im Vaterunser, ABG 50, Leipzig 2015, hier 329–358 und 359–437. 40 Gegen die Reduzierung der δικαιοσυ νη auf den ethischen Aspekt und für den bleibenden Zusammenhang mit der Theologie vgl. auch K.-W. N, Gerechtigkeit und Rechtfertigung bei Matthäus und Jakobus. Eine Herausforderung für gegenwärtige lutherische Hermeneutik in globalen Kontexten, ThLZ 140 (2015), 1329–1348, 1341. Vgl. auch C. L, Gerechtigkeit und Leben. Ambiguität und Ambivalenz eines Grundbegriffs bei Matthäus und Paulus, in: C. Landmesser/E.E. Popkes (Hg.), Gerechtigkeit verstehen. Theologische, philosophische, hermeneutische Perspektiven, Leipzig 2017, 51–70. Landmesser spricht von der „relationalen Dimension der Gerechtigkeit“ (62), der „die soteriologische Dimension“ (63) vorausgeht. 41 Vgl. R. D, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT 177, Tübingen 2005, 128.132, in Anknüpfung an Mt 3,15. Zu der Kontroverse zwischen Deines und Luz vgl. K, Taufe des Gottessohnes (s. Anm. 21), 202. E. L, Das Evangelium des Matthäus, hg. v. W. Schmauch (KEK Sonderband), Göttingen 21958, 51, verweist auf die Beziehung zwischen Tora und Taufe: Die „Taufe [ist] die letzte und höchste Forderung, die Gott jetzt zu allen Geboten des Gesetzes noch auferlegt; mit ihr ist dann ,alle Gerechtigkeit erfüllt‘“. 42 Vgl. H. G, Christliches Handeln. Eine redaktionskritische Untersuchung zum δικαιοσυ νη-Begriff im Matthäusevangelium, EHS.T 181, Frankfurt a.M./Bern 1982, 40.

6.6 Die Durchsetzung von Himmelsherrschaft und Gerechtigkeit: Mt 5,3–10

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führt er die Menschen, an die er sich wendet, mit seinem Wirken in ebendiese Beziehung hinein. Δικαιοσυ νη meint auf Seiten des Menschen „das dem Willen Gottes entsprechende Verhalten“.43 Der Tataspekt, der der Gerechtigkeit innewohnt, ist hinsichtlich der menschlichen Beteiligung jedoch nicht als Werk herabzusetzen.44 Gerechtigkeit bezeichnet bei Matthäus weder eine exklusiv ethische Handlungsweise noch eine vom Verhalten zu abstrahierende rein innere Einstellung. Sie wird als Ausdrucksform des Glaubens getan.45 So gewiss jedoch der Tatcharakter in der matthäischen Gerechtigkeitskonzeption hohe Bedeutung besitzt, so sehr stellen der vorbildliche Gehorsam Jesu und seine Bereitschaft, sich dem Willen Gottes einzufügen, die Außenseite des auf der Innenseite von Gott gestifteten Gesamtzusammenhangs der Himmel und Erde umschließenden Gerechtigkeit dar.46 Die Gerechtigkeit geht nicht im Tun der richtigen Dinge auf. Sie bezeichnet die Gesamtausrichtung des auf den Willen Gottes bezogenen Lebens im Glauben.47 Zwischen der göttlichen Vorgabe und der antwortenden Erwiderung im Lebensvollzug besteht ein Resonanzverhältnis. In ihm verschränken sich die vertikale und die horizontale Ebene, ein Vorgang, der die Beziehung von Gottesherrschaft und Gerechtigkeit ausmacht.48 Glaube als eine Lebenshaltung mit Tatcharakter bedeutet im Matthäusevangelium die Rückkehr in den Ursprungszustand des intakten Gemeinschaftsverhältnisses zwischen Gott und Mensch sowie unter den Menschen.49 43 H.-J. E, Die ,bessere Gerechtigkeit‘. Zur Ethik Jesu nach dem Matthäusevangelium, ThBeitr 32 (2001), 299–316, 304. 44 L, Jesusgeschichte (s. Anm. 38), 165, setzt diesbezüglich Matthäus in einen scharfen Gegensatz zu Paulus. 45 Vgl. N, Gerechtigkeit und Rechtfertigung (s. Anm. 40), 1341. Vgl. auch U. L, Das Evangelium nach Matthäus (ZBK NT 1), Zürich 1993, 36. 46 K, Taufe des Gottessohnes (s. Anm. 21), 203, plädiert darauf, die matthäische Gerechtigkeitskonzeption nicht durch paulinische Prämissen zu überfrachten. Das menschliche Handeln sei bei Matthäus durchaus „in ein Heilshandeln Gottes eingebettet“ und solle „in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes“ stehen. Lediglich „die Rede von einer heilschaffenden Gerechtigkeit Gottes“ sei nicht das matthäische Thema. In der matthäischen Gerechtigkeitskonzeption bestehe eine „ethisierende Tendenz“ (205). 47 Vgl. K.-W. N, Matthew’s Idea of Being Human. God’s Righteousness and Human Responsibility according to the Gospel of Matthew, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 329–343, 334–335. 48 Vgl. U. L, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: C. Breytenbach/H. Paulsen (Hg.), Anfänge der Christologie. FS Ferdinand Hahn, Göttingen 1991, 221–235, 232.235. 49 L, Gerechtigkeit und Leben (s. Anm. 40), 55.62–63, verbindet Gerechtigkeit, Person Jesu und den Ertrag für die Glaubenden mit einer christologischen Pointierung. Nach K, Taufe des Gottessohnes (s. Anm. 21), 217, bezeichnet Gerechtigkeit „den Gehorsam gegen Gottes Willen“. „Solcher Gehorsam ziemt sich für alle Menschen.“ Das mindert jedoch nicht den Sonderstatus, den Jesus als Gottessohn gegenüber Gott einnimmt.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

6.7 Der starke Indikativ: Mt 5,13–16 Am Anfang der Verse 13 und 14 steht jeweils ein starker Indikativ. Den beiden Anreden in der zweiten Person Plural folgen zwei kräftige Zusagen: Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt. Der matthäische Jesus zeigt sich hier als Vertreter einer optimistischen Anthropologie. Er sieht etwas Verheißungsvolles in den Hörerinnen und Hörern, er traut ihnen etwas zu. Die Feststellung hat etwas Kontrafaktisches; denn welcher Mensch würde von sich selbst behaupten wollen, er sei eine Leuchte? Mit seinem starken Indikativ bestätigt Jesus seine Hörerschaft ihres wirklichkeitsbestimmenden Potentials. Er übergeht die kritische Selbstsicht reflektierter Menschen, die solches aus verschiedenen Gründen nicht für sich in Anspruch nehmen würden.50 Offensichtlich hat der Erzähler keine Scheu, hier einem als überzogen angesehenen Selbstbild das Wort zu reden und zu riskieren, unangebrachte Größenphantasien zu befeuern.51 Die Frage ist, auf welcher Grundlage dies möglich sein kann. Die beiden tiefgreifenden Zusagen in V.13 und 1452 gehören in den Rahmen der vorangegangenen Seligpreisungen, die sich an Menschen in geistlichen und existentiellen Notlagen richteten. Jesus sprach darin Leuten, denen alles genommen wurde und solchen, denen die Grundlagen schon immer fehlten, Großes zu. Er eröffnete ihnen eine Zukunft und schenkte ihnen eine Perspektive, die das Weiterleben ermöglicht. Die auf den ersten Blick vom Glück Ausgeschlossenen, die Verzagten, Verzweifelten, Verlorenen wurden gegen den Anschein seliggepriesen. Jesus spricht ihnen eine Zukunft zu, die anderen Augen verborgen bleibt. Er sieht Qualität und Substanz in diesem Personenkreis. Für den Alltagsblick wirkt das paradox. Gerade bei denen, bei denen scheinbar nichts zu holen ist, werden Schätze behauptet, nach denen sich alle sehnen!? Diese geglaubte Wirklichkeit lässt sich als Ausdruck angewandter Kreuzestheologie bei Matthäus bezeichnen. Die Überzeugung des Christusglaubens, derzufolge sich Gott durch sein Erscheinen in dem gekreuzigten Christus in größter Klarheit gerade dort gezeigt hat, wo niemand (einen) Gott vermutete, hat die Ränder des menschlichen Lebens geadelt. Mt 25,37–40 wird darauf zurückkom-

50 H.D. B, Die Makarismen der Bergpredigt (Matthäus 5,3–12). Beobachtungen zur literarischen Form und theologischen Bedeutung, in: Ders., Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985, 17–33, 31 betont unter Verweis auf Mt 5,3, dass für die Bergpredigt „der Mensch überhaupt anthropologisch ein armseliges Wesen ist“. 51 Mt 5,13–16 redet keinem „heimliche[n] Triumphalismus“ das Wort, vgl. W, Regierungsprogramm (s. Anm. 36), 60. 52 Im Lichtwort könnte sich das jüdische Selbstverständnis widerspiegeln, in religiöser und kultureller Hinsicht zur Erleuchtung der Welt beizutragen. So H.D. B, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3–7:27 and Luke 6:20–49) (Hermeneia), Minneapolis 1995, 160.

6.7 Der starke Indikativ: Mt 5,13–16

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men. Beim Weltgericht werden die Gerechten fragen: Wann haben wir dich hungrig gesehen … oder durstig … oder nackt … oder krank oder im Gefängnis? … Und der König wird ihnen sagen: … Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Die Krisenzonen menschlichen Zusammenlebens werden zu Orten der Offenbarung Gottes. Das ist die erzählte Umsetzung der Kreuzesbotschaft im Matthäusevangelium. Gott und geistlich verwahrloste Menschen, Christus und materiell Verarmte in einem Atemzug zu nennen und zusammenzubringen, versteht sich nicht von selbst. Auch innerhalb des Neuen Testaments ist es nicht an der Tagesordnung, Menschen so Großes zuzusprechen, so groß von ihnen zu denken. Die Erwartung, Menschen könnten übermütig, stolz oder lässig werden, führt schon im Vorfeld zu Gegensteuerungen. Bloß jemanden gar nicht erst zu hoch von sich denken lassen. Die austarierte Balance zwischen dem schon jetzt des Heils und dessen ausstehende endgültige Realisierung, die mit dem noch nicht offengehalten wird, ist unter ethischer Perspektive bereits für Paulus der Königsweg durch unterschiedliche Problemkonstellationen gewesen. Christlich gewandet begegnet diese Haltung gelegentlich in einem Demutsideal. Das hat eine Tradition, die ebenfalls ins Neue Testament zurückführt und in der christlichen Frömmigkeitsgeschichte ihre Spuren hinterlassen hat.53 Mt 5,13 und 14 stellen keinen Appell dar. Der Imperativ mit moralischem Anspruch, der auf ethische Korrektheit zielt, bleibt im Hintergrund.54 Argumentiert wird von der unmöglichen Möglichkeit her: Wenn das Salz als Torheit entlarvt wird, wenn es also dumm wird, womit soll man salzen? Aber wird Salz dumm? Salz bleibt doch Salz, es könnte höchstens in Wasser so lange aufgelöst werden, bis man es nicht mehr schmeckt.55 Entsprechend kann auch eine Stadt auf dem Berg sich nicht verstecken. Jeder sieht sie. Die von der Botschaft Jesu angesprochenen Menschen können nicht nicht dasein, denn sie sind ja da! Die durch sie hindurch gegangene Verkündigung kann nicht wirkungslos sein, denn sie wirkt bereits, indem sie vernommen wird.

53 Unter den Evangelisten kultiviert insbesondere Lukas die Körperhaltung des gesenkten Kopfes. Seine Zöllner stellen Vorbilder an Demut und Reue dar. Das Diktum von Lk 18,14: Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden, ist zum geflügelten Wort geworden. Weil der Spruch auch bei anderen Gelegenheiten passt, lässt Lukas Jesus den Satz zugleich als Regel für die Sitzordnung bei Tisch zitieren (Lk 14,11). Bei Matthäus hält Jesus den Satz den Pharisäern und Schriftgelehrten als Warnung vor (Mt 23,12). 54 Es empfiehlt sich daher, nicht zu schnell dem Vorschlag von U. L, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband Mt 1–7 (EKK I/1), Düsseldorf/Zürich/Neukirchen-Vluyn 5 2002, 301, zu folgen, demzufolge Matthäus hier „Indikativ und Imperativ zusammen“ denkt. Auch scheint mir der Drohcharakter des Logions V.13 von Luz überbetont zu sein, ebd. 299. 55 L, Matthäus (EKK I/1) (s. Anm. 54), 298–299, neigt gegenüber der erstgenannten Alternative dennoch zu dieser Auffassung. Nach seiner Darstellung liegt der Realitätsgehalt dieser Deutung darin, dass Salz in Gestalt von Gemischen verkauft wurde, die unter Feuchtigkeitseinfluss Geschmackseinbußen erhalten haben könnten.

262

6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Die Formulierung vom dummen Salz klingt nur beim ersten Hören widersinnig. Hinter dem Ausdruck steckt eine Anspielung. Von Dummheit ist bereits im ersten Korintherbrief die Rede. Paulus schreibt von einer Torheit, die verheerende Folgen nach sich zieht. Dumm erscheint laut Paulus vielen Menschen die Botschaft vom Kreuz: Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verlorengehen, formuliert er 1 Kor 1,18. Uns aber, denen, die gerettet werden, ist es eine Gotteskraft. Das Substantiv µωρι α, Torheit, Dummheit in 1Kor 1,18 und das Verb µωραι νω, törichtmachen in Mt 5,13 gehen auf denselben Wortstamm zurück. Auch das Bildwort vom Licht besitzt einen Resonanzboden in den Paulusbriefen. In Röm 2,19 rekurriert Paulus auf das Selbstverständnis eines Juden, Hodeget der Blinden und ein Licht derer in der Finsternis zu sein.56 Vor diesem Hintergrund wird transparent, worauf im Blick auf die Christusgemeinde mit dem Salz und dem Licht angespielt wird. Die Angesprochenen gelten als die Träger der Jesusbotschaft. Unter der paulinischen christologischen Prämisse ist das die Verkündigung des Kreuzes Jesu als der Heilstat Gottes, die ihre Wirkung im gelebten Christusglauben der Adressatinnen und Adressaten entfaltet. Matthäisch handelt es sich in Erzählung umgesetzt um die Botschaft, für die Jesus wirbt. Als Salz und Licht bezeichnet Jesus Menschen als Trägerinnen und Träger der Verkündigung. Die bei ihnen angekommene Botschaft macht sie würzig und hell. Auf diese Weise bekommt buchstäblich die Ausstrahlung eine theologische Qualität. Selbst wer sich faktisch nicht für den Hellsten oder die Hellste hält oder halten darf, bleibt doch hell als Trägerin und Träger des JesusChristus-Evangeliums. Dass diese Botschaft, wie Paulus vermerkt, von Ignoranten und Verlorenen als dumm zurückgewiesen wird, fällt auf sie selbst zurück. Wenn nun aber das Salz selbst als eine solche Torheit entlarvt würde, wenn die Verkündigung samt den Verkündigern Unsinn produziert hätte, was sollte der Welt dann noch Gutes gesagt werden? Solches Salz würde, wie alles, was unnütz ist und kraft- und wertlos bleibt, weggeworfen und von den Leuten zertreten werden. Das jedoch kann nicht passieren – so wie eine Stadt, die vor aller Augen auf einem Berg liegt, sich nicht verbergen kann. Auch Vers 15 argumentiert von einer Selbstverständlichkeit her. Licht wird bekanntlich nicht privatisiert, so dass es keiner zu sehen bekommt. Es wird nicht unter einen Scheffel gestellt. Es wird nicht in verschlossenen Räumen angezündet, in denen sich niemand aufhält. Dann könnte man es gleich löschen. Der Sinn von Lichtquellen besteht darin, dass sich Menschen ihrer Leuchtkraft bedienen. Darum gehört das Licht auf den Leuchterstock. Das ist bis heute der Zweck von Lichtschaltern im Raum. Was der matthäische Jesus vermittelt, ist die einfache und elementare Einsicht: Christusglaubende leben mit ihrer Botschaft nicht, um sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Vielmehr strahlt ihr Glaube durch sie hindurch. Auf diese Weise sind sie in die Weitergabe der Christusbotschaft einbezogen.57 Die Fortführung 56 57

Vgl. B, Sermon on the Mount (s. Anm. 52), 161. Vgl. W, Regierungsprogramm (s. Anm. 36), 58: Ausgedrückt wird, „dass in ihrem

6.7 Der starke Indikativ: Mt 5,13–16

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des Gedankens in V.16, entsprechend leuchte euer Licht, meint: Unter Verzicht auf die Selbstzurücknahme werden die Botschaft der Verkündigung und die Wirkung des Glaubens sich entfalten. Die Formulierung des Halbverses 16b beinhaltet eine überraschende Perspektive: So leuchte euer Licht, damit sie eure schönen Werke sehen und euren Vater in den Himmeln preisen. Der Satz beinhaltet eine Umkehrung der Blickrichtung. Das Bild von der Kerze auf dem Leuchterstock in V.15, mit dem die Finsternis erleuchtet wird, galt über Jahrhunderte im christlich geprägten Kulturkreis als ein missionarisches Leitmotiv. In der Nachfolge Jesu machen Christinnen und Christen die Welt hell, so das Selbstverständnis. Bis V.15 wäre diese Überzeugung auch durch den Text abzudecken. Aber V.15 ist lediglich das vorletzte Wort des Abschnitts. V.16 stellt den Gedanken des Ausleuchtens in eine überraschende Perspektive. Nicht die Glaubenden sollen die anderen Menschen in ihrem Lichtkegel anschauen. Vielmehr sollen sie ihre Lichtquelle den Menschen so vorhalten, dass der Schein auf ihr eigenes Tun fällt. Im Lichte des Evangeliums sollen die übrigen Menschen die Glaubenden gut erkennen können. Im Kegel dieses Lichtes sollen sie deren schöne Werke sehen. Das griechische Adjektiv καλο ς in V.16 heißt üblicherweise gut bzw. schön. Das Adjektiv gut in Verbindung mit Werken ist allerdings im Protestantismus ein verbrannter Begriff. Von den guten Werken können evangelische Christinnen und Christen seit der Polemik der Konfessionskämpfe der Reformationszeit nur noch in Anführungsstrichen und mit Kommentar sprechen. Der Ausdruck ist aber auch aus optischen Gründen unbrauchbar. Gute Werke zu sehen, ist schwer möglich, denn gute Werke sind im eigentlichen Sinn eine geistliche Qualität, die für das Auge unsichtbar bleibt. Sehen kann man allenfalls die Resultate guter Werke. Schöne Werke dagegen setzen Sichtbarkeit voraus. Sie erfordern eine gute Lichtquelle. Die Bergpredigtperspektive richtet den Lichtkegel auf die Gemeinschaft der Christusglaubenden selbst. Ihr Lebensstil und ihr Umgang untereinander, ihre Fähigkeit, miteinander etwas zu bewerkstelligen, soll im Schein dieses Lichts nach außen hin sichtbar werden. Zeichenhafte Existenz ist ein großes Wort. Aber die Christusglaubenden des 1. Jahrhunderts, denen wir die Jesuserzählung des Matthäusevangeliums verdanken, trauen dem modellhaften Leben unter dem Evangelium Außenwirkung zu.

Wirken Gott so zum Leuchten kommt, dass er darin auch von anderen wahrgenommen werden kann“.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

6.8 Die Aktualisierung der Tora: Mt 5,21–48 Jesus gewinnt innerhalb der Erzählung des Matthäusevangeliums seine normativen Aussagen aus der verstehenden Aneignung der jüdischen Tora. Im Konzert der Stimmen christusglaubender Gemeinschaften im Mittelmeerraum in den letzten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts ordnet Matthäus die Christologie einem jüdischen Vorstellungsrahmen zu. Während Jesus bei Markus auf die Verflechtung von jüdischen mit nicht-jüdischen Christusglaubenden hinwirkt, erschließt der matthäische Jesus das Potential der jüdischen Überlieferung für einen internationalen Adressatenkreis, der ebenfalls über das Judentum hinausreicht. Darin liegt der Keim einer Entwicklung, die das Matthäusevangelium über kurz oder lang aus einer innerjüdischen Akzeptanz herausführt. Auch wenn das Matthäusevangelium selbst sich weder als eine außerhalb des Judentums stehende Stimme verstand, noch die Intention hatte, aus dem zeitgenössischen Judentum herauszuführen, bahnte sich nicht zuletzt durch die Öffnung für unbeschnittene nichtjüdische Glaubende eine Rezeptionsgeschichte an, die unumkehrbar wurde und in der das Matthäusevangelium schließlich sogar zu einer Stimme der Opposition zum Judentum werden konnte.58 Eine Signatur des matthäischen Jesus besteht darin, die intendierte Innovation der Gottesbindung der Tora zu entnehmen. Das Erschließen der heilsamen Ursprungsbedeutung der Tora bildet die zentrale Leistung Jesu. Er eröffnet der Verkündigung der matthäischen Gemeinde damit ein Traditionsreservoir, das zur Quelle für die Lehre unter allen Völkern (Mt 28,19) wird. Der matthäische Gottessohn wird zum Katalysator der Tradition Israels in der Völkerwelt.59 Das Matthäusevangelium reagiert auf diese Weise implizit auf eine denkbare Kritik während der Expansionsphase des frühen Christentums gegen Ende des

58 Vgl. M. K, Matthäus im Kontext. Eine Bestandsaufnahme zur Frage des Verhältnisses der matthäischen Gemeinde(n) zum Judentum, in: Ders., Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. A. Euler, WUNT 358, Tübingen 2016, 3–42, 36–37. 59 Die von M. K, Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium, in: Ders., Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. A. Euler, WUNT 358, Tübingen 2016, 288–315, 288, aufgeworfene Frage, „ob sich Jesu Antithesen gegen Toragebote selbst richten oder gegen deren Verständnis in bestimmten jüdischen Strömungen“ wird damit im letzteren Sinn beantwortet. Allerdings ist m.E. die bei Konradt u.a. zu beobachtende Fixierung auf eine pharisäische Synagoge als das gedachte Gegenüber der matthäischen Gemeinde der Christusglaubenden zu problematisieren; denn auf diese Weise wird der in der erzählten Welt des Matthäusevangeliums dominierenden Gruppe der Pharisäer eine Bedeutung für die Zeit zwischen 70 und 90 n.Chr. zugesprochen, die historisch schwer zu verifizieren ist. Meines Erachtens ist es zweckvoller zu formulieren, dass die Pharisäer der erzählten Welt der Zeit um das Jahr 30 für jüdische und vielleicht sogar jüdischchristusglaubende Positionen neben der matthäischen Gemeinde stehen, die im Findungsprozess der Jahre nach der Tempelzerstörung in ähnlicher Weise von unterschiedlichen jüdischen wie jüdisch-christusglaubenden Autoritäten vertreten sein dürften, aber nicht eins zu eins als pharisäisch identifiziert werden können.

6.8 Die Aktualisierung der Tora: Mt 5,21–48

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ersten Jahrhunderts. Keinesfalls ist die Überlieferung Israels mit dem neuen Christusglauben überholt und vergangen. Als Quelle der Erneuerung behält sie ihren Wert. Das Neue der Verkündigung Jesu beruht zu bedeutenden Teilen gerade auf ihr. Der matthäische Jesus stellt sich dem Eindruck bzw. Verdacht entgegen, die biblische Tradition Israels könnte ihre Lebendigkeit und erschließende Kraft verloren haben. Das Gegenteil ist der Fall. Für die Rückkehr in das durch Gerechtigkeit gekennzeichnete und unter der Herrschaft Gottes stehende Gemeinschaftsverhältnis bleibt sie in Geltung. Der matthäische Jesus ist der Hermeneut, der ihre Relevanz aufschließt und ihre Verbindlichkeit sichert.60 Dass damit zugleich ein formalisiertes Missverständnis im Umgang mit der Tora abgewiesen und der missbräuchliche Bezug auf die Tora als Alibi für sozial unverträgliches Handelns ausgeschlossen werden, ist ein Nebeneffekt der Torainterpretation Jesu. Die Argumentationsweise Jesu ist insbesondere angesichts der sog. Antithesen in Mt 5,21–48 verschiedentlich als halachische Diskursform bezeichnet worden.61 Sie stelle Jesus in eine rabbinische Tradition der Schrifthermeneutik, mit der Regelungen der Tora auf eine gegenwärtige Lebenspraxis hin aktualisiert werden. Entsprechend sei das dominante ich aber sage euch nicht als eine steile christologische Aussage zu verstehen, sondern als „eine diskursive Redeformel des Lehrdisputs“.62 Die aus jüdischen Diskussionszusammenhängen vertraute Auslegungstradition sollte allerdings nicht als Gegensatz zu den christologischen Vorentscheidungen des Matthäusevangeliums verstanden werden. Auch ist sie nicht einseitig für ein Kontinuitätsprogramm zu beanspruchen, das die Lehre Jesu als die ungebrochene Fortentwicklung jüdischer Voraussetzungen zeichnet. Christologisch belangvoll ist in den Antithesen die wiederkehrende Unterscheidung zwischen der zurückliegenden Zeit der Alten und der Jetzt-Zeit der Toraauslegung 60 C. B, Basileia is Gaining Space. God’s Will, Mimesis of Christ, and the Spatial Shaping of the Basileia in Matthew’s Gospel, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 345–364, 356, betont, dass die Erschließung des göttlichen Willens durch Jesus auf die gelebte Praxis zielt und verweist auf das übereinstimmende Votum von M. K, „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir!“ (Mt 11,29): Mt 11,28–30 und die christologische Dimension der matthäischen Ethik, ZNW 109 (2018), 1–31, 25. Vgl. ebenfalls C. B, Basileia im Matthäusevangelium, WUNT 416, Tübingen 2019, 282. Zur Bedeutung der Praxis für die matthäische Auffassung vgl. auch R. F/H. S, Menschwerdung, TOBITH 2, Tübingen 2018, 270. 61 Vgl. M. V, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs, WMANT 95, Neukirchen-Vluyn 2002, 412; L. B, Theologie des Neuen Testaments. Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung, Göttingen 2017, 268–270. 62 So B, Theologie (s. Anm. 61), 269, im Widerspruch zu U. S, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 22014, 120, und N.T. W, Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott 2. Jesus und der Sieg Gottes, Marburg 2013, 342.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Jesu. Sie unterstreicht die Neuheit und Verbindlichkeit der Interpretation Jesu. Im Lichte des ich aber sage euch erweist sich die traditionelle Überlieferung als revisionsbedürftig. Zu beachten ist auch eine zweite zeitliche Differenz. Sie besteht zwischen der Periode, in der Jesus wirkte, und der Phase, in der die Evangelienschrift ihren Ursprung besitzt und ihre Wirkung entfaltet. In der erzählten Welt ist es Jesus, der im Rahmen der jüdischen Auslegungstradition einen neuen Blick auf alte Regeln wirft. Der Impuls, ihn in dieser Rolle zu zeichnen, entstammt jedoch der Erzählwelt des Matthäusevangeliums.63 In der Rückschau entwirft Matthäus das Bild eines Jesus, der unter Bezug auf die jüdische Tradition eine neue theologisch-ethische Sichtweise entfaltet, die ihre Wirkung im Kontext der Jahrzehnte nach 70 entfaltet. In dieser Zeit hat der Christusglaube den Rahmen des Judentums längst überschritten. Die christologische Entwicklung bildet die sachliche Voraussetzung, Jesus in der Weise als Toraausleger argumentieren zu lassen, in der Matthäus dies tut. Das Bemühen Jesu, den Vorgaben der Tora in Mt 5,21–48 mittels Antithesen auf den Grund zu gehen und ihren Ursprungssinn zutage zu fördern, impliziert den Widerstand gegen Versuche, sich durch den formalen Rekurs auf Althergebrachtes der Verantwortung gegenüber der Situation und der ethischen Herausforderung in Gestalt aktueller Anforderungen und konkreter Mitmenschen zu entziehen. Die sechs Antithesen in Mt 5,21–48 werden in der Regel in zwei Gruppen auseinandergelegt. Für die Antithesen eins, zwei und vier wird eine Verschärfung der vorgegebenen Norm konstatiert. Sie betreffen die Themen Töten, Ehebruch und Schwurverbot. Die Antithesen drei, fünf und sechs plädieren demgegenüber für eine Aufhebung der bestehenden Regelungen. In ihnen geht es um das Recht der Ehescheidung, der Vergeltung und das Gebot der Feindesliebe. Das verbindende Element beider Sichtweisen jenseits der Unterscheidung von Überbietung und Aufhebung besteht in der Einsicht, dass es Jesus um eine Radikalisierung der Tora gegangen ist.64 Gemeint ist, dass er der Überlieferung auf den Grund – an die Wurzel65 – gegangen ist und ihren intentionalen Ursprung freigelegt hat. Von einer Auflösung des Gesetzes kann unter diesem Gesichtspunkt nicht die Rede sein (Mt 5,17). Es geht im Gegenteil darum, das Gesetz zu einer dem Willen Gottes entsprechenden Entfaltung kommen zu lassen.66 In der Tatsache, dass es 63 Die Brechung, die mit diesem Rezeptionsvorgang verbunden ist, wird unterlaufen, wenn man die Antithesen unmittelbar in einen „jüdischen Diskurs um das Gesetz“ einzeichnet, an dem der historische Jesus beteiligt war, wie T. K. H, Bergpredigt, in: L. Bormann (Hg.), Neues Testament. Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn 2014, 91–109, 104, es voraussetzt. 64 Vgl. J. R, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn 1977, 112–113; vgl. F. V, Je´sus et la loi selon la tradition synoptique, Le Monde de la Bible, Gene`ve 1988, 300–301. 65 Von lateinisch radix, Wurzel. 66 Vgl. W, Regierungsprogramm (s. Anm. 36), 66: Es geht nicht „um ein Annullieren der Tora […], sondern ihr Aufrichten“. Vgl. auch W, Rede der Reden (s. Anm. 38), 154: Jesu Forderung zielt darauf, dass das Verhalten der Menschen „sich ganz von Gott bestim-

6.8 Die Aktualisierung der Tora: Mt 5,21–48

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Jesus ist, der mit seiner Lehre den Gotteswillen neu formuliert, spricht sich sowohl die „Kontinuität“ mit dem jüdischen Erbe als auch eine „christologische Sinndimension“ aus.67 Der Christusglaube des Matthäusevangeliums stellt als eine herausragende Leistung des irdischen Jesus dessen Reformtätigkeit als Aktualisierer der jüdischen Tora heraus. Damit steht das Matthäusevangelium selbst für die Wiedergewinnung des Situationsbezugs bei der Auslegung der Schriften Israels. Das lässt sich als ein gradueller, aber nicht prinzipieller Unterschied gegenüber den Auslegungsbestrebungen eines ebenfalls auf Innovation bedachten Judentums außerhalb des Christusglaubens in den Jahrzehnten nach 70 n. Chr. verstehen. Gleichzeitig ist jedoch deutlich, dass der matthäische Zugang aus einer Phase resultiert, in der der Christusglaube bereits über die Grenzen des Judentums und seiner theologischen Tradition hinausgegangen und die Person Jesu zu einer Grundlage der Verkündigung bei den Völkern außerhalb des Judentums geworden ist. Dies ließe sich cum grano salis als ein Beitrag zur Universalisierung des Judentums bezeichnen. Allerdings ist einschränkend zu fragen, ob diese Ausdehnung aus der Sicht des Judentums selbst noch als universalisiertes Judentum zu bezeichnen ist. Für den matthäischen Jesus gilt jedenfalls: Der zu seinem eigenen Schaden lebende Mensch hat es versäumt, die ihm bekannte jüdische religiöse Tradition zu aktualisieren. Der Bergprediger übernimmt diese hermeneutische Aufgabe.68 Er führt vor, wie die Vergegenwärtigung der Vorgaben aus den Schriften Israels für die Jetzt-Zeit des Matthäusevangeliums relevant wird.69 Er bringt die Horizonte von alt und neu zum Verschmelzen. Er setzt die Leben stiftenden Potentiale der Überlieferung erneut frei. Auf diese Weise bringt er die Tora zur Erfüllung, d.h. zu ihrem Vollsinn. In seiner gegenwarts- und situationsbezogenen Auslegung kann die religiöse Tradition des Judentums ihre Fülle und Weite entfalten. Die Antithesen halten die auf die menschliche Lebensführung zugeschnittene Auslegung anhand einschlägiger Beispiele bereit. An diese Qualität der Auslegung reicht nach matthäischer Darstellung das Verständnis der Pharisäer und Schriftgelehrten, der „wichtigsten Gegner Jesu in

men“ lasse. Vgl. auch P, Konflikt (s. Anm. 3), 164: „Jesus tritt als einer auf, der dem Gesetz grundsätzlich seinen wahren Sinn verleiht“. 67 K, Erfüllung der Tora (s. Anm. 59), 290–291, Zitate 290. 68 H.D. B, Die hermeneutischen Prinzipien in der Bergpredigt (Mt 5,17–20), in: Ders., Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985, 34–48, 35, bezeichnet „die Darstellung der Lehre Jesu in der Bergpredigt als eine durchaus eigenständige theologische Leistung“. In ihr werde nicht nur versucht, „die Lehre Jesu als rechtgläubig im Sinne damaliger jüdischer Theologie zu erweisen, sondern auch, diesen Nachweis in die Form einer Epitome und somit einer Art von systematischer Theologie zu kleiden“. 69 Vgl. M. K, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, WUNT 215, Tübingen 2007, 380: „(M)aßgebliche Instanz“ für die Auslegung der Tora ist „die Unterweisung Jesu als des einen und wahren Lehrers“.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Lehrangelegenheiten“70, nicht heran. Der Komparativ in Mt 5,20 zielt nicht auf die quantitative Steigerung der Gerechtigkeit. Es geht um keine Vermehrung oder Perfektionierung des eigenen Tuns. Gefordert ist laut Jesus ein qualitatives Umdenken. Die bessere Gerechtigkeit ist die von Jesus „zur Geltung gebrachte ,Gerechtigkeit Gottes‘“71, die an das himmlische Herrschen Gottes gebunden ist. Das matthäische Denken über die Gerechtigkeit Gottes zielt darauf ab, die Gottesbindung als den Ermöglichungsgrund für Gerechtigkeit transparent zu halten. Menschen verfügen nicht über die δικαιοσυ νη. Die Gerechtigkeit ist daher nicht vordergründig durch menschliche Umsetzung zu verwirklichen. Vielmehr bildet die Verwirklichung der Gerechtigkeit unter den Menschen den Resonanzraum für das himmlische Herrschen Gott, das im Handeln der Menschen Gestalt gewinnt. Gerechtigkeit im Matthäusevangelium gehört zur Himmelssphäre Gottes. Zugleich ist sie die Kontaktzone, in die der Mensch in seinem Bemühen um Gottesbegegnung eintritt und dabei mit anderen Menschen zusammentrifft.

6.9 Jesu eigene Anordnungen Die zweite Säule, auf der die Vermittlungstätigkeit Jesu neben der Traditionsaktualisierung beruht, besteht aus seinen eigenen εÆ ντολαι . In ihnen vertritt Jesus seine Anliegen in direkter thetischer Aussage. Wie im Rahmen seiner Toraauslegung geht es auch bei den vielfältigen religiösen Einzelhinweisen um die pointierte Formulierung des Willens Gottes. Damit setzt Jesus mit seinen eigenen εÆ ντολαι das fort, was hermeneutisch in seiner Auslegung in der Bergpredigt angelegt ist, nämlich dem Anspruch Gottes in einem Entsprechungsverhältnis gerecht zu werden.72 Die Fülle von Einzelregularien erfasst ein breites Spektrum. Der matthäische Jesus versucht, die vielgestaltige Wirklichkeit, der er nicht zuletzt durch Anfragen und Kritik von Gegnern gegenübersteht, durch normative Anweisungen zusammenzuhalten und zu lenken. Auf den Erzähler bezogen wird in dieser Verhaltensweise der Versuch sichtbar, durch ethische Konkretionen prägend auf die Wirklichkeitsgestaltung einzuwirken. Das Reden und Argumentieren ist der bevorzugte Modus der Einflussnahme Jesu auf seine Zuhörerinnen und Zuhörer. Lehrhafte Sätze bilden das favorisierte Medium. Jesu Vermittlungsbemühungen sind primär argumentierend, also kognitiv geleitet. Überzeugungen aus Glauben werden über das Aussprechen und die Annahme der richtigen Lehre weitergegeben. Das Matthäusevangelium lässt Jesus den Glauben in pädagogisch-didaktischer Weise vermitteln. Leitend ist die Überzeugung, dass die Weitergabe des Glaubens sich auf dem Weg der Belehrung vollzieht. P, Konflikt (s. Anm. 3), 106. E, Die ,bessere Gerechtigkeit‘ (s. Anm. 43), 307. 72 Vgl. B, Die hermeneutischen Prinzipien (s. Anm. 68), 48: Die „Gebote Jesu in der Bergpredigt“ sind „Lehranleitungen“, die die Jünger Jesu befähigen sollen, die sie „treffenden Forderungen Gottes selber zu erkennen“. 70

71

6.9 Jesu eigene Anordnungen

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Gegen die Bemühung des matthäischen Jesus, seine Hörerschaft über den Glauben zu belehren, lässt sich einwenden: Wo viel über den Glauben gelehrt wird, verbreitet sich die Lehre über den Glauben, jedoch nicht zwingend der Glaube selbst. Bei der Glaubensvermittlung dominiert bei Matthäus die fides quae creditur, die Weitergabe der mit dem Glauben verbundenen Inhalte. Matthäus stilisiert Jesus auf diese Weise zum Bringer von Evangelium73. Das Verhältnis zwischen den Geboten der Tora und den eigenen Weisungen Jesu wird im Matthäusevangelium nicht konfrontativ gelöst. Beide Aussage- und Ausdrucksweisen ergänzen sich. Die Weisungen Jesu formulieren direkt, was die Mosetora in der Interpretation des matthäischen Jesus auszusagen intendiert hat. Sie stehen ihrem Selbstverständnis nach in Kontinuität zur Tora in ihrem ureigenen Sinn, allerdings so, wie dieser sich dem matthäischen Jesus erschließt.74 In inhaltlicher Hinsicht werden die Impulse Jesu von dem Grundgedanken des Dienstes für andere und dem Motiv der Demut getragen und zusammengehalten.75 Unter Verweis auf die jüdische Art der Torainterpretation hat sich in der Forschung teilweise die Sprachregelung etabliert, die Argumentationsweise Jesu den „halachischen Diskursen“ zuzurechnen.76 Kontrovers debattiert wird in diesem Zusammenhang, ob die durch das Ich aber sage euch pointierte Hervorhebung der Position Jesu „eine diskursive Redeformel des Lehrdisputs“77 darstellt oder auf die Exponierung eines christologisch hergeleiteten Vollmachtsanspruchs verweist. Nach Udo Schnelle impliziert die autoritative Setzung Jesu, die gerade nicht aus dem Alten Testament abgeleitet wird, die „faktische Relativierung“78 der Tora. Im Hintergrund dieser Debatte ist die Vorentscheidung leitend, ob die matthäische Christologie exklusiv als kontinuierliche Weiterentwicklung jüdischer Prämissen interpretiert oder ihr ein Wesenszug beigemessen wird, der sie daneben in theologischer Hinsicht auch in ein Gegenüber zu ihren historischen

73 W. M, Einleitung in das Neue Testament. Eine Einführung in ihre Probleme, Gütersloh 41978, 154, hat das als das matthäische Dilemma angesehen. Als „Bringer“ des Evangeliums sei Jesus bei Matthäus nicht mehr dessen „Inhalt“. Vgl. dazu schon W. M, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 21959, 92.93. 74 Vgl. E, Die ,bessere Gerechtigkeit‘ (s. Anm. 43), 312. 75 Vgl. M. K, Following Jesus and Fulfilling the Law. Considerations on the Ethical Conception of the Gospel of Matthew, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 275–294, 290–294, der dazu insbesondere auf Mt 20,25–28 und Mt 18 verweist. 76 So B, Theologie (s. Anm. 61), 268–270, unter Bezug auf V, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ (s. Anm. 61), 412. 77 B, Theologie (s. Anm. 61), 269. 78 U. S, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 120–121, Zitat 121. Vgl. auch den Hinweis bei B, Theologie (s. Anm. 61), 269 Anm. 20.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Voraussetzungen treten lässt. Die erstgenannte Perspektive stellt die matthäische Aussageintention als das Resultat der jüdischen Vorgeschichte des Christusglaubens dar und folgt historisch konsequent einem gedanklichen Richtungspfeil von der Vergangenheit in die Zeit des matthäischen Jesus. Demgegenüber fragt der zweite Vorschlag vorrangig nach den Veränderungen, zu denen der Christusglaube im Blick auf den zeitgenössischen Herkunftskontext führt. Der Anspruch der Neuheit resultiert in diesem Fall aus der Wirkung, die sich von ihrer Herkunftsgeschichte gelöst hat.79 Für die Interpretation des Matthäusevangeliums bedeutet dies, dass die Aufnahme literarischer Traditionen aus dem Judentum – „die Genealogie, der Schriftbeweis, der halachische Diskurs und die Frömmigkeitslegende“ – mit dem unableitbaren Eigenanspruch des Christusglaubens in austarierter Weise zu vermitteln sind. Zu gewärtigen bleibt dabei, dass der christusglaubende Erzähler die Form der halachischen Auslegung als Stilmittel verwendet, um Jesus in der Rolle des autoritativen Toraauslegers zu zeigen. Die Perspektive des Christusglaubens ist der Darstellung Jesu als eines Torainterpreten vorgeschaltet. Das matthäische Spezifikum, einerseits an jüdische literarische Voraussetzungen anzuknüpfen und andererseits innerhalb der erzählten Welt in eine teilweise beißende Polemik gegenüber Schriftgelehrten und Pharisäern zu verfallen (Mt 23,1–36), deutet auf das Spannungspotential hin, das dieser Verhältnisbestimmung innewohnt. Als Leitlinien der matthäischen „Tora Jesu“80 dienen der Analogieschluss, wie er in Mt 12,10 verwendet wird, und das alttestamentliche Zitat, bevorzugt Hos 6,6.81 Sowohl beim Schluss a minore ad maius (qal wachomer) als auch bei der direkten Zitation kommt den Verweisen unterstreichende Bedeutung zu: Der Sachverhalt als solcher wird durch Jesus geklärt bzw. festgestellt und nachträglich durch einen Rekurs auf externe Autorität unterstrichen.82 Die Lehre Jesu, die in Übereinstimmung mit seiner Toraauslegung steht, hat die bessere Gerechtigkeit zu ihrem Inhalt. Sie formuliert das gewünschte Sozialverhalten als den integralen Bestandteil der Gottesbeziehung. Diese gibt die

79 P, Konflikt (s. Anm. 3), 397/398, formuliert diesen Ablösungsvorgang mit einer negativen Konnotation: Das Matthäusevangelium „ist als Mittel entstanden, um die Heidenmission zu befürworten, ohne aber die jüdische Orientierung der christlichen Gemeinde in irgendeiner Weise in Frage zu stellen und wird dann, wenn es in die Hände der Heidenchristen gerät zum Instrument der Abgrenzung von jeder Form des Juden-Christentums“. Das Matthäusevangelium ist jedoch nicht unfreiwillig in unerwünschte Hände gefallen, sondern war offen für die Rezeption durch Glaubende außerhalb des Judentums. Einmal in einem nicht-jüdischen Milieu angekommen, konnte es die neuen Adressaten nicht unter die seine Entstehung limitierenden jüdischen Verstehens- und Aneignungsvoraussetzungen zurückführen. Konkret: Die spätere nicht-jüdische Gemeinde lebte ihren Christusglauben nicht unter den Bedingungen des jüdischen Entstehungszusammenhangs des Matthäusevangeliums. 80 B, Theologie (s. Anm. 61), 279.280. 81 Mt 9,13; 12,7; vgl. auch 23,23. 82 Vgl. B, Theologie (s. Anm. 61), 270.

6.9 Jesu eigene Anordnungen

271

Voraussetzung für die ethische Verkündigung Jesu und zugleich den Horizont ab, auf den das menschliche Leben zuläuft. Die eschatologische Ausrichtung und das Endgericht bilden Leitlinien, innerhalb derer Jesus seine Lehre entfaltet. Das „,Mehr‘ an Gerechtigkeit“,83 auf das Jesus zielt, bezieht sich sachlich auf das Vorfeld des gewünschten und geforderten Verhaltens. Nicht erst die unerwünschte Handlung ist zu unterlassen, nicht nur eine quantitative Steigerung des Sozialverhaltens zu erbringen, sondern die innere Haltung, die solches möglich macht, ist gefragt. Wie diese zu gewinnen und ob dies willentlich oder durch Selbstdisziplin zu erreichen ist, ist eine eigene Frage. Der Bergprediger Jesus setzt jedenfalls eine große Zuversicht in das, was auf dem Weg des Wollens zu erreichen ist. Die sog. goldene Regel in Mt 7,12 sieht durch das Wollen alles möglich werden: Alles das nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut so auch ihr ihnen. Inwieweit das Wollen selbst wiederum in einen Ermöglichungszusammenhang einzuordnen ist, bleibt außerhalb des Horizonts der Darstellung. Gleichwohl ist dem Bereich der konkreten Handlungsanweisung ein Raum vorgeschaltet, der in der Formulierung von Mt 23,23 durch Recht (κρι σις), Barmherzigkeit (εÍ λεος) und Glaube (πι στις) gefüllt ist und aus dem „Personzentrum des Menschen“ heraus nach Verwirklichung drängt.84 Dogmatisch formuliert beschreibt dies die matthäische Auffassung der fides qua creditur. In Mt 18, der an die Jünger gerichteten sog. Gemeinderede, führt der matthäische Jesus exemplarisch vor, wie der Glaube im Gemeindeleben Gestalt gewinnt. Als Maßstab für menschliche Größe unter der Himmelreichperspektive gilt nach Mt 18,1–5 die unverstellte und arglose Offenheit von Kindern. Matthäus fügt in dieser kurzen Passage in geraffter Form Überlieferungen zusammen, die sich bei Markus in vergleichsweiser wortreicher Art an mehreren Stellen finden.85 Die Statusthematik, die das gesamte Markusevangelium durchzieht, wird in Mt 18,3–5 einer eindeutigen Bestimmung zugeführt. Das Ideal einer himmelreichentsprechenden Haltung, das Mt 18,1–5 entfaltet, ist freilich bedroht. Die Warnung in Mt 18,6–9, glaubenden Menschen ein Anstoß zum Abfall von ihrem Glauben zu werden, spricht die Sorge einer Gemeinschaft aus, die sich auf der Grundlage einer inneren Überzeugung, in diesem Fall dem Christusglauben, konstituiert. Die Drohkulisse entstammt einem traditionellen Abschreckungsrepertoire, das Matthäus bereits aus Mk 9,42–47 übernimmt. Ins Auge fällt eine Terminologie, die wie schon beim Begriff δικαιοσυ νη bei Paulus Prominenz erlangt hat. Laut 1 Kor 1,23 stellt die Verkündigung von Christus als dem Gekreuzigten für Juden ein σκα νδαλον dar. In den vier Versen von Mt 18,6–9 wird diese Begrifflichkeit gleich sechsmal verwendet: Je dreimal als Substantiv σκα νδαλον und als Verb σκανδαλι ζω. Damit geht Matthäus in doppelter Weise über seine Markusvorlage hinaus: In Mk 9,42–47 erscheint der

B, Theologie (s. Anm. 61), 284. Vgl. B, Theologie (s. Anm. 61), 285, Zitat 286. 85 Vgl. Mk 9,33–37; Mk 10,15.43.44.

83 84

272

6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Begriff nur viermal, und dort ausschließlich in der Verbform. Die dreimalige Verwendung des Substantivs σκα νδαλον signalisiert einen deutlichen Eingriff in die Vorlage. Der Skandal liegt für Matthäus in der Störung bzw. Zerstörung der Glaubensgemeinschaft. Matthäus und Paulus blicken aus zwei unterschiedlichen Richtungen auf das σκα νδαλον: Matthäus sorgt sich um die Glaubenden, denen unter äußerem Einfluss ein Ärgernis widerfährt. Sie werden in ihrem Glauben und der Zugehörigkeit zu ihrer Glaubensgemeinschaft irregemacht. Paulus verwendet den Begriff σκα νδαλον, um die Haltung derjenigen Juden zu bezeichnen, die mit Befremden auf die Christusverkündigung reagieren. Was trotz der Unterschiedlichkeit der Perspektiven die beiden Blickrichtungen verbindet, ist die Wahrnehmung des Christusglaubens unter dem Blickwinkel eines σκα νδαλον. In zweierlei Hinsicht gilt der Christusglaube als skandalbetroffen. Fragt man, an wen Matthäus als Verursacher der gemeindlichen Anfechtungen von V.6–9 gedacht haben mag, liegt es nahe, aufgrund der bewussten Einfügung des Substantivs σκα νδαλον an die gleiche jüdische Menschengruppe zu denken, die Paulus benannte, also diejenigen Juden, die den Christusglauben nicht teilen. Die in Mk 9,42–47 verwendete rein verbale Formulierungsweise bleibt dagegen im Blick auf konkrete Personenkreise offen. Der Sorge, Gemeindeglieder durch äußeres Einwirken und externe Verunsicherungen zu verlieren, korrespondiert in Mt 18,10–14 das Fürsorgemotiv. Die Parabel vom verlorenen Schaf aus der Q-Vorlage dient der Vergewisserung, dass dem Kollektiv keine Gefahr durch den Verlust eines Einzelnen droht. Die Bedeutung des Einzelnen für die Gemeinschaft ist der Grund für die Rettung durch den Vater im Himmel. Das bedeutet eine Akzentverschiebung gegenüber der Rolle der Parabel im Kontext von Lk 15. Dort steht in einer Kette von drei Parabeln jeweils die verlorene Einzelperson im Fokus. Sie wird gerettet werden; und das löst Freude in der Umgebung aus (15,5–7.9–10) oder sollte das zumindest tun (Lk 15,32!). Im Rahmen von Mt 18 liegt der Erzählung dagegen stärker am Erhalt des gemeindlichen Ganzen. Neben die Gefährdungen, die der Gemeinschaft durch ungute Außeneinwirkungen oder das eventuelle Herausfallen Einzelner aus dem Gesamtverband drohen, treten interne Schwierigkeiten innerhalb der Gemeinde (Mt 18,15–18). Bereits die Verwendung des Begriffs εÆ κκλησι α in V.17 zeigt an, dass die Szene unmittelbar aus der erzählten Welt heraus in die Realität der nachösterlichen Gemeinde springt. Der Erzähler verlässt den imaginierten Kontext der jesuanischen Jüngergemeinschaft. Seine Ausführungen gelten direkt der späteren Wirklichkeit der matthäischen Gemeinde. Jesus entwirft eine strukturierte Richtlinie für das Verhalten in einem innergemeindlichen Konflikt. Präsentiert wird dazu eine typische Situation. Jemand ist durch sein Fehlverhalten aufgefallen. Die erste Handlungsmaxime lautet: Führe ein Vieraugengespräch mit ihm und stelle ihn ohne Mithörer zur Rede (V.15). Wenn das nicht fruchtet, nimm ein oder zwei Personen als Gesprächszeugen mit (V.16). Sollte auch dieser Versuch scheitern, bringe den Vorgang vor die

6.10 Motivieren und disziplinieren: Das Endgericht

273

Gemeinde. Sie stellt die Letztinstanz dar (V.17). Wenn die betreffende Person auch hier keine Einsicht zeigt, hat sie ihre Gemeindezugehörigkeit verwirkt. Sie gilt dann als ausgeschlossen. Dieser Schritt besitzt auch eschatologische Konsequenzen. Er nimmt das Gericht bereits vorweg (V.18). Neben dieser das Gemeindeleben strukturierenden Regel wirft Mt 18,21.22 parallel die Frage nach der individuellen Vergebungsbereitschaft eines Glaubenden auf, der durch jemand einen persönlichen Schaden erlitten hat. Die Frage des Petrus: Reicht es bis zu siebenmal (V.21)?, steht für den Wunsch, dem persönlichen Zorn oder auch dem Bedürfnis nach Vergeltung ab einem bestimmten Punkt Raum geben zu dürfen. Dem hält der matthäische Jesus mit seiner Antwort die unbeschränkte Vergebungsbereitschaft entgegen (V.22). Er unterlegt diese Haltung mit einer drastischen Parabel über die Folgen verweigerter Vergebung (Mt 18,23–35).

6.10 Motivieren und disziplinieren: Das Endgericht Die Vorstellung vom Endgericht bildet den finalen Bezugspunkt der matthäischen Welt. Das menschliche Leben läuft auf eine endzeitliche Prüfung und Entscheidung zu. Das Bewusstsein dafür durchzieht die Lehre Jesu. Im Unterschied zu einer apokalyptischen Zwei-Welten-Lehre, die für eine Rettung im gegenwärtigen Äon im Prinzip keine Chance mehr sieht, zielt die futurische Perspektive im Matthäusevangelium gerade auf die Einschärfung eines gottgemäßen Lebens in der Gegenwart.86 Mt 18 zeigt, wie eng die Ausrichtung auf das Himmelreich und die irdische Lebensführung miteinander verflochten sind. Das eschatologische Ergehen hängt am Verhalten im Hier und Jetzt. Die Bildrede vom Kind und vom Himmelreich in Mt 18,1–5 erhebt das moralische Moment der Selbsterniedrigung zum Kriterium für die Aufnahme in das Himmelreich. Die Warnungen vor der Verführung anderer zum Bösen in Mt 18,6–9 sind mit drastischen Vernichtungsphantasien verknüpft. Den Schutz vor der Verachtung Kleiner hat laut Mt 18,10–14 Gott selbst übernommen – wer wollte hier einen Missgriff riskieren? Der disziplinierende Charakter, der sich mit der eschatologischen Perspektive verbindet, kommt auch in der Episode über den Umgang mit Querulanten und Abweichlern in der Gemeinde in Mt 18,15–18 zum Ausdruck. Die Szene ist bis in die Gegenwart stilbildend für den Umgang mit internen Konflikten nicht nur in 86 Vgl. die differenzierten Überlegungen von M. T, Matthew and Jewish Apocalypticism, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 127–148, 146–148, zu der Frage, ob es sich bei Matthäus um ein apokalyptisches Evangelium handelt (so D.A. H, “Apocalyptic Motifs in the Gospel of Matthew: Continuity and Discontinuity”, HBT 7 [1985], 53–82, 60). Laut Tilly ist gerade das unapokalyptische „‘already now’ of God’s saving action“ (148) charakteristisch für die matthäische Eschatologie.

274

6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

religiösen Gemeinschaften geworden. Kommt es innerhalb der Gemeinde durch jemanden zu einem Regelverstoß, soll dieser in einem gestuften Verfahren abzustellen versucht werden. Scheitern alle Vermittlungsbemühungen, kommt es zum consilium abeundi mit fatalen endzeitlichen Folgen. Erzählerisch entfaltet wird das Endzeit- und Gerichtsmotiv besonders anschaulich in den Gleichnissen von Mt 24,45–25,46. Hier begegnet die aus der Apokalyptik bekannte Aufgliederung in Gute und Böse und entsprechend die Aufteilung des postmortalen Raums in einen feurigen Bereich ewiger Strafe und die geschützte Welt des ewigen Lebens (Mt 25,41.46).87 Charakteristisch für die Episode über das Weltgericht in Mt 25,31–40 ist das Analogieverhältnis zwischen dem Verhalten im Diesseits und den Folgen, die daraus für die Entscheidung im Gericht resultieren. Das Verhalten gegenüber bedürftigen und angewiesenen Menschen wird insofern soteriologisch relevant, als es zum Ausdruck der Beziehung zum Menschensohn wird. Die Christusbindung zeigt ihren wahren Charakter im Sozialverhalten zu Lebzeiten.88 Dieses entscheidet über das individuelle Ergehen im Gericht. Die Gerichtsvorstellung wird im Matthäusevangelium als motivierender Faktor verwendet. Der bedrohliche Charakter des Gerichts soll helfen, unerwünschtes und selbstbezogenes Verhalten zu vermeiden.89 Er dient der Verstärkung des gewünschten Sozialverhaltens. Die Gerichtsperspektive soll anspornen und disziplinieren. Ihre innere Triebfeder besteht in der Mobilisierung des der Gemeinschaft dienlichen und förderlichen Verhaltens. Egoismus und Versuche der persönlichen Vorteilnahme werden als Schreckensszenario abgewiesen (Mt 18,23–35; 24,45–51).

87 Auf den jüdischen Versöhnungstag und Lev 16 als traditionsgeschichtlichen Hintergrund verweist H.M. M, The Final Judgement as Ritual Purgation of the Cosmos: The Influence of Scapegoat Traditions on Matt 25.31–46, NTS 67 (2021), 241–259, 241–244.258. 88 Der Zusammenhang von Christologie, Schriftauslegung und Eschatologie stellt laut R.A. C, The Foundations of Matthean Ethics, in: R.M Calhoun/D.P. Moessner/T. Nicklas (Eds.), Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels. Continuing the Debate on Gospel Genre(s), WUNT 451, Tübingen 2020, 359–379, 378, die Basis der matthäischen Ethik dar. 89 Vgl. P, Konflikt (s. Anm. 3), 379.382: In seinem teilweise schroffen Verhalten gegenüber Kontrahenten zeigt der matthäische Jesus keine Empathie und kaum Dialogbereitschaft. Seine Rede vom Gericht besitzt im Rahmen der matthäischen Konzeption „auch eine aggressionslegitimierende Funktion“ (Zitat 382).

6.12 Jesus im Spiegel seiner Titel

275

6.11 Das Personbild Jesu Die rhetorischen und hermeneutischen Fähigkeiten Jesu als eines begnadeten Lehrers machen einen bedeutenden Teil seiner Persönlichkeit, wie Matthäus sie beschreibt, aus. Darüber hinaus dienen alle Züge der Erzählung dazu, die Person Jesu in ein bestimmtes Licht zu setzen und auf besondere Art zu präsentieren. Dieses Ziel vermitteln sämtliche Szenen, die den zeitlichen, räumlichen, geistigen und religiösen Kontext betreffen, in dem Jesus bei Matthäus auftritt. Es betrifft gleichermaßen die Außenwahrnehmungen der Person Jesu, wie sie in den kommentierenden Erzählerbemerkungen und den Erzählungen über Jesus zum Ausdruck kommen. Sie transportieren innerhalb der erzählten Welt Informationen über Jesus. Darüber hinaus nehmen sie Bewertungen seiner Person und seines Handelns vor. Jesus steht im Matthäusevangelium im Mittelpunkt eines Kreises, der sich um ihn dreht. Alles, was rundum von ihm erzählt wird, bildet einen Fingerzeig auf ihn. Die Sterndeuter aus dem Osten suchen den König der Juden (Mt 2,2), den Herodes als den Christus identifiziert (Mt 2,4). Sie zitieren die Vorausschau des Micha auf Bethlehem in Juda als seinen Geburtsort (Mt 2,5) und machen die prophetische Stimme aus der Geschichte Israels zum Zeugen für Jesus (Mt 2,6). Jesus selbst qualifiziert sich durch seine Lehren wie durch außerordentliche Wundertaten, die ihm scheinbar selbstverständlich gelingen. Prophetische Verheißungen, die in den Erfüllungszitaten ihren Ausweis finden, stilisieren ihn zum Exponenten der Gottesgeschichte mit Israel. Am Ende seines Lebens legt gar die Natur selbst mit gewaltigen Erschütterungen Zeugnis von seiner einzigartigen Qualität und Bedeutung ab. Die Titulaturen, die der Erzähler Jesus beilegt, unterstützen diese Gesamtschau ebenfalls. Sie beinhalten Zuschreibungen unterschiedlicher Art und Herkunft. Vorrangig bringen sie die Hoheit Jesu in Begriffen zur Sprache,90 die Autoritätsbekundungen darstellen. Sie legen Jesus einen herausgehobenen Status bei, den vor ihm in einer langen Traditionsgeschichte andere prominente Träger dieser Titel besaßen.

6.12 Jesus im Spiegel seiner Titel In Mt 1,1 stehen mit der Christusbezeichnung für Jesus, dem Davidsohntitel und der Abrahamsohnschaft drei Titel nebeneinander, die Jesus zum Exponenten einer weit zurückreichenden glanzvollen israelitischen nationalen und religiösen Geschichte machen.91 Im Fortlauf der Erzählung freilich verknüpft Matthäus Vgl. S, Theologie (s. Anm. 78), 409. M. K, Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie, in: Ders., Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. A. Euler, WUNT 358, Tübingen 2016, 146–170: Mit der Davidsohnschaft ist „die Erfüllung der Israel gegebenen Heilsverheißungen“ (162/163) verknüpft. Die Abrahamsohnschaft verweist „auf die Universalität des Heils“ (163). 90 91

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

den Christustitel nicht noch einmal mit den David- und Abrahambezeichnungen. Stattdessen tritt als Signatur des matthäischen Christusverständnisses die Bindung an die Gottessohntitulatur in den Vordergrund.92 Aufschlussreich ist, dass bereits zu Beginn des Wirkens Jesu der Gottessohntitel zu einer zentralen Thematik wird. Der Teufel legt es darauf an, Jesus zu dem Nachweis zu provozieren, dass ihm dieser Titel zu Recht zukommt. Dazu verlangt er außergewöhnliche, übermenschliche Taten zu sehen. Dieses Ansinnen weist Jesus in der Weise zurück, dass er eine Unterscheidung zwischen dem einführt, was Gott zukommt, und dem, was den Menschen als Menschen begrenzt. Der Test des Teufels prallt an Jesus ab. Jesus entzieht sich dem Ansinnen, die mit der Titulatur insinuierte und an ihn herangetragene Größe zu demonstrieren (Mt 4,3.6). Grundlage dafür ist die bleibende Unterscheidung zwischen Gott und seinem eigenen Wirken. In zwei entscheidenden Szenen entfaltet Matthäus über die Markusvorlage hinaus den Christustitel in Relation zur Gottessohnbezeichnung. Im Petrusbekenntnis in Mt 16,16 prädiziert Petrus Jesus als Christus, den Sohn des lebenden Gottes. Damit ordnet Matthäus das Christusbekenntnis seinem Gottesverständnis zu. Einerseits nimmt er auf diese Weise eine Ausweitung des Bezugsrahmens vor. Der Christus wird explizit in die unmittelbare Nähe Gottes gerückt. Andererseits limitiert der Gottesbezug die Ausdehnung der Christologie. Gott ist es, der auch dem Christus Maß und Rahmen gibt. Die gleiche Argumentationsfigur begegnet im Verhör Jesu nach seiner Verhaftung. Hier ruft der Hohepriester Gott als die begrenzende Instanz auf den Plan. Er beschwört Jesus unter Verweis auf den lebenden Gott Stellung zu beziehen, ob er Christus, der Sohn Gottes sei (Mt 26,63). Der Erzähler weist Jesus an beiden Stellen einen hohen christologischen Status zu und zieht zugleich eine Sicherheitslinie, die der Unbegrenztheit Gottes ihren Raum lässt.93 Ihren Höhepunkt findet die Sohn Gottes-Bezeichnung wie bei Markus im Bekenntnis des römischen Hundertschaftführers in Mt 27,54. Allerdings kontrastiert der Titel dort gerade nicht den Hinweis, dass der soeben Gekreuzigte ein Mensch war. Stattdessen stellt der Erzähler durch das Weglassen des Wortes Mensch ein Korrespondenzverhältnis zwischen dem Titel Gottessohn und der Person Jesu her, das gerade auf die Besonderheit dieses – man ergänze: Einzigartigen – abhebt. 92 Auch P, Konflikt (s. Anm. 3), 362, sieht die Gottessohnschaft Jesu als das Zentrum der matthäischen Christologie an. Die „Anerkennung der Davidssohnschaft“ begründe noch nicht die Mitgliedschaft in der matthäischen Gemeinde. „Entscheidend für die Gruppenidentität bleibt die christologische Kategorie der Gottessohnschaft.“ Popa weist die Davidsohnbezeichnung einer „Outgroup-Christologie“ zu. Der Gottessohntitel gehöre demgegenüber zu einer „Ingroup-Christologie“ (366). 93 Vgl. P. F, The Depiction of God in the Gospel of Matthew, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 251–274, 273, der die Verschränkung von Theozentrik und Christozentrik in der matthäischen Erzählung hervorhebt.

6.12 Jesus im Spiegel seiner Titel

277

In signifikanter Weise stellt Matthäus Jesus auch über Mt 1,1 hinaus in die Davidtradition. Im Stammbaum fungiert die Nennung Davids als strukturierendes Element (Mt 1,6.17). Auch Josef wird explizit in die Linie mit David hineingestellt (1,20). Im Fortgang der Erzählung begegnet der Davidname in der Anrede an Jesus auffallend in Heilungserzählungen, insbesondere im Zusammenhang von Blindenheilungen.94 Der Erzähler erweckt den Eindruck, dass der fest in der messianisch-nationalen Tradition Israels verwurzelte Prediger Jesus in augenöffnender Weise unter Menschen wirkt, die mit Blindheit geschlagen sind.95 Hingegen scheint es, als sei die Rolle Abrahams mit der Hineinstellung Jesu in die durch diesen begründete Glaubensgeschichte für die Christologie ausgeschöpft.96 Liest man die wenigen Belege für Abraham in Mt 1,1.2.17; 3,9; 8,11; 22,32 nacheinander, sticht nach der fundierenden Einführung im Eröffnungsvers und anschließend im Rahmen des Stammbaums der mahnende Ausruf in Mt 3,9 heraus; denn hier wird von Johannes dem Täufer in der direkten Auseinandersetzung mit Pharisäern und Sadduzäern die Grenze der Berufung auf Abraham ausgesprochen. Der Rekurs auf die leibliche Abkunft wird abgewiesen. Die pure physische Abstammung rettet nicht. Gott kann sich auf andere Weise Kinder erwecken. Im Munde des Täufers setzt Matthäus den Gottesgedanken kritisch gegen ein aus seiner Sicht althergebrachtes Abrahamverständnis ein. Zur häufigsten Bezeichnung für Jesus entwickelt Matthäus den Menschensohntitel. Bei grundsätzlich gleicher Verwendungsweise wie im Markusevangelium – ausschließlich Jesus selbst spricht von sich als Menschensohn – steht dieser Titel als Ausdruck des jesuanischen Selbstverständnisses. Allerdings weitet Matthäus im Unterschied zu Markus seine Verwendung insbesondere um Worte vom kommenden Menschensohn aus.97 Mit dem Schriftzitat aus Jes 7,14 wird Jesus in Mt 1,23 als der Immanuel – in der matthäischen Übersetzung: der Gott mit uns – apostrophiert. Das verleiht der christologischen Wertschätzung bei Matthäus von Anfang an einen soteriologischen Beiklang. Κυ ριος begegnet einige Male als Anrede für Jesus, im strikt titularen Sinn jedoch nur in Mt 21,3 und 28,6.98

94 Mt 9,27; 12,23; 20,30.31; vgl. außerdem noch Mt 15,22; 21,9.15; 22,42.43.45. Vgl. P, Konflikt (s. Anm. 3), 62. 95 Vgl. S, Theologie (s. Anm. 78), 409; F. H, Theologie des Neuen Testaments, Band I, Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2002, 531. 96 B, Theologie (s. Anm. 61), 276: „Das Interesse des Matthäusevangeliums an Abraham ist […] beschränkt.“ 97 H, Theologie I (s. Anm. 95), 531; S, Theologie (s. Anm. 78), 410: Mt 13,41; 16,28; 19,28; 24,30a; 25,31. 98 Auch Mt 24,42 lässt sich hier ergänzen. „Als christologischer Titel ist κυ ριος (,Herr‘) bei Matthäus nicht von herausragender Bedeutung, er hat zumeist Ehrerbietungs- und Bekenntnischarakter“, S, Theologie (s. Anm. 78), 410. Vgl. ebenfalls H, Theologie I (s. Anm. 95), 531.

278

6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Insgesamt gilt, dass der matthäischen Verwendung von Titeln für Jesus ein offenes Bekenntnis zur Hoheit Jesu zugrundeliegt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die matthäische von der markinischen Darstellung. Die Auskunft, Matthäus löse sich von der markinischen Geheimnistheorie bzw. lasse das Messiasgeheimnis hinter sich,99 lässt allerdings aufgrund der nebelhaften Wredeschen Diktion den genauen Unterschied im Unklaren. Markus zeichnet einen Jesus, der die Statuserhöhung seiner Person zurückweist. Matthäus hingegen bestätigt Jesus seine christologische Vorzüglichkeit. Die Grenze zieht Matthäus bei der Verehrung Jesu. Der matthäische Jesus verweigert sich dem Ansinnen, ihm eine nur Gott zukommende Adoration zukommen zu lassen. Die Versuchungserzählung in Mt 4,1–13 führt vor Augen, dass Jesus nicht in die Position geraten möchte, als Gott verehrt zu werden. Die Einzigkeit Gottes gibt der personalen matthäischen Hoheitschristologie ihren limitierenden Rahmen. Zudem gilt, dass die matthäische Christologie nicht nur Jesus an und für sich exponiert. Die Sicht auf Jesus ist mit der Für uns/für euch-Perspektive verknüpft. Diese spannt den Bogen von 1,23 zu 28,20.100

6.13 Jesus im Licht seines Handelns in Wort und Tat Dem Ziel, den hoheitlichen Charakter Jesu herauszustellen, dienen auch die Lebensäußerungen, die von Jesus selbst ausgehen. Das gilt in herausragender Weise für seine verbale Lehrtätigkeit durch die Auslegung der Tora und seine Gleichniserzählungen. Es betrifft gleichermaßen die wundersamen Handlungen, die er im Laufe seiner erzählten Lebensgeschichte vornimmt. Wie die Gleichnisse Jesu sich als verbale Taten verstehen lassen, so stellen die Erzählungen seiner Wundertaten worthaltige Ereignisse dar. Reden und Handeln sind wechselseitig aufeinander bezogen. Das Reden Jesu ist eine Gestalt seines Tuns. Sein Handeln ist beredter Ausdruck seiner Verkündigung. Die Jesus zugeschriebenen Wunder beinhalten eine Aussage über die Besonderheit seiner Person. Sie verweisen auf seine Hoheit. Verweischarakter besitzen auch die Gleichniserzählungen. Sie zeigen Jesus als Hermeneuten der Himmelsherrschaft und der Gerechtigkeit Gottes. Beides, Jesu Reden und sein Handeln, verweist wechselseitig aufeinander.101 Jesu verbale und aktionale Handlungen bestätigen die herausgehobene Position, die

So H, Theologie I (s. Anm. 95), 532. Vgl. C.S. K, An Epitome of Matthean Themes: Matthew 28:18–20, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 233–250, 250. 101 Vgl. C, Foundations (s. Anm. 88), 360, der unter zustimmendem Hinweis auf R.A. B, Imitating Jesus: An Inclusive Approach to New Testament Ethics, Grand Rapids, 2007, 187, vermerkt, „that Matthew wrote a gospel that recounts not only what Jesus taught but what he did“. 99

100

6.13 Jesus im Licht seines Handelns in Wort und Tat

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ihm darüber hinaus durch Hoheitstitel und die Außensichten auf seine Person eingeräumt wird. Sie unterstreichen die Souveränität, mit der er agiert. In der Summe stellen die Einzelzüge der Erzählung Fingerzeige dar, die auf die besondere Größe und Bedeutung Jesu verweisen. Sie dienen als einander bestätigende Beweise für das, was mit jeder einzelnen Hoheitsbekundung en de´tail ausgeführt wird. So weisen die äußeren Umstände der Lebensgeschichte Jesu von der Rettung bei der Geburt vor Verfolgung bis zu den apokalyptischen Geschehnissen der Erdbeben und Totenerweckungen bei seiner Kreuzigung und Auferstehung, seine rhetorischen Fähigkeiten und die Souveränität seines Wunderhandelns daraufhin: Dieser ist ein besonderer (Mt 8,27; 27,54). Jesus ist für Matthäus der ausgewiesene und ausgezeichnete Gottesbote, der die Traditionen Israels für die Anhänger des Christusglaubens aktualisiert. Er steht in der größtdenkbaren Nähe zu Gott, ohne dessen absoluten Macht- und Wirkungsbereich einzuschränken.

6.13.1 Jesus als Gleichniserzähler Das Reden in Gleichnissen stellt wie bereits im Markusevangelium so auch bei Matthäus eine charakteristische Vermittlungsweise Jesu dar. Inhaltlich nimmt der Evangelist dabei Umakzentuierungen gegenüber den Lehrinhalten Jesu bei Markus vor. Im Zuge der Übernahme von Mk 4 in Mt 13 zeigt Matthäus ein Verständnis der Gottesreich-Botschaft, das sich von dem des Markus unterscheidet. In Mt 20 präsentiert er seine charakteristische Auffassung von der δικαιοσυ νη θεουÄ in Gestalt einer Parabel. 6.13.1.1 Die Himmelreichgleichnisse: Mt 13 Die Eröffnung dieses großen Redeabschnitts in Mt 13,1–2 erinnert in ihrer Diktion an den Beginn der Bergpredigt. Den autoritativen Ausführungen von oben in Mt 5–7 tritt in den Seeerzählungen die Botschaft Jesu erzählerisch von unten zur Seite. Jesus setzt sich ans Ufer. Um ihn schart sich die größer werdende Menschenmenge. Er steigt daraufhin in ein Boot und legt einige Meter vom Ufer ab. So gelangt er wieder in die für den Redner wichtige Position eines Gegenübers. Dann begann er vieles εÆ ν παραβολαιÄς zu reden, formuliert Mt 13,3 und vermeidet die markinische Formulierung, dass Jesus lehrte.102 Auch die matthäischen Gleichniserzählungen spielen im Großen und Ganzen in einem ländlichen Milieu. Sie handeln vom Ackerbau mit seinen Problemen, vom Brotbacken, greifen das Glückserlebnis eines Schatzes im Acker und den Perlenfund eines Kaufmanns auf und beziehen die angesichts des galiläischen Sees naheliegende Wirklichkeit Netze auswerfender Fischer mit ein. Den theologischen Bezugspunkt dieser Erzählungen bildet die βασιλειÄα τωÄ ν ουÆ ρανωÄ ν 102 Markus unterstreicht seine Akzentuierung der Lehre noch durch die Hinzufügung im Nachsatz in Mk 4,2: Er sagte ihnen in seiner Lehre.

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(Mt 13,11). Mit diesem Ausdruck für die Gottes- bzw. Himmelsherrschaft greift Matthäus die alttestamentliche Rede von der mimw Ïh tuklm auf. Mit ihr verbinden sich in der Geschichte Israels über einen langen Zeitraum hin Vorstellungen und Bilder. Das Erzählen εÆ ν παραβολαιÄς dient allerdings nicht der bloßen Illustration vorgegebener Inhalte. Es ist selbst ein wirklichkeitserschließender Akt. Im Modus der Erzählung wird ein Zugang zu der Wirklichkeit eröffnet, auf die die Erzählung verweist. Auch die spezifisch matthäische Vorstellung von der Himmelsherrschaft gewinnt ihr Profil nicht aus dem Rekurs auf die Tradition, sondern aus der Wirkung, die sie entfacht. Insofern lässt Matthäus Jesus ein einzigartiges und unverwechselbares Verständnis von der Himmelsherrschaft verkünden. Der Vergleich von Mt 13 mit Mk 4 zeigt, dass sich Matthäus zu einem großen Teil auf den Markusstoff stützt. V.1–9 bezieht sich auf Mk 4,1–9, V.10–15 nimmt die Parabeltheorie aus Mk 4,10–12 auf und schreibt sie zugleich weiter. Darüber hinaus integriert Matthäus Q-Stoffe. Dies gilt für die Verse 16 und 17, die charakteristischerweise mit einem Makarismus beginnen und auf diese Weise eine Beziehung zur Bergpredigt, konkret Mt 5,3–10, herstellen. Die Deutung des Gleichnisses vom Sämann in V.18–23 nimmt Mk 4,13–20 auf. Die Passage aus Mk 4,21–25 über das verständige Hören von Gleichnissen fehlt im Matthäusaufriss an dieser Stelle. Allerdings tilgt Matthäus das Wort vom Licht auf dem Leuchterstock, das man nicht unter einen Scheffel stellt, nicht ersatzlos. Es begegnete bereits in Mt 5,15 und stellt ein weiteres Indiz für die Verschränkung beider Redekomplexe durch Matthäus dar. Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat in Mk 4,26–29, das in besonderer Weise die markinische Auffassung von der naturhaften Selbstdurchsetzung des Reiches Gottes pointiert, streicht Matthäus. Offenkundig nimmt er diese Erzählung als seinem eigenen Verständnis entgegenstehend wahr, so dass auch eine Adaption durch Überarbeitung nicht mehr in Frage kommt. Das Gleichnis könnte aus matthäischer Sicht zu sehr danach klingen, als sei das Kommen des endzeitlichen Heils ein Selbstläufer, der es erlaubte, die Hände in den Schoß zu legen. Als Ersatz liefert Matthäus die Geschichte vom Unkraut unter dem Weizen in V.24–30. Sie entstammt seinem Sondergut. Mit 13,31–32 heftet sich Matthäus wieder auf die Spuren des Markus, konkret von Mk 4,30–32. Diesem Gleichnis vom Senfkorn fügt er in V.33 die kurze, analog gestaltete Erzählung vom Sauerteig hinzu. Mt 13,34–35 folgt im Ablauf wieder Mk 4,33–34, wo es um die Sinnhaftigkeit der Rede εÆ ν παραβολαιÄς geht. In Mt 13,36–43 präsentiert das Matthäusevangelium ein Alleinstellungsmerkmal. Bei diesem Zusatzstück handelt es sich um die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut, das in V.24–30 erzählt wurde. Strukturell wiederholt Matthäus damit das Verfahren, das er von Markus beim Umgang mit der Erzählung vom vierfachen Acker übernommen hat. Auch dort waren zwischen die Erzählung und ihre Deutung Überlegungen zum Verstehen und Nicht-Verstehen einge-

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schoben worden.103 Hier rücken jetzt die Verse 31–35 in die Rolle eines solchen Zwischenstücks. Dabei kommt insbesondere den Versen 34 und 35 hermeneutische Bedeutung zu. Der Erzähler fügt unter Zitierung von Ps 78,2 ein, dass Jesu Reden εÆ ν παραβολαιÄς die Erfüllung prophetischer Weissagung sei. Mit dieser Form der Verkündigung spreche er Dinge aus, die seit Anfang der Welt verborgen seien.104 Der Begriff παραβολη gewinnt damit im Deutschen eine Bedeutung, die eher in Richtung Parabel als auf ein Verständnis im Sinne von Gleichnis verweist. Das beinhaltet zugleich eine Differenz zwischen Matthäus und Markus. Während man die Erzählungen in Mk 4 im Sinne der seit Jülicher klassisch gewordenen Unterscheidung105 deshalb weiterhin als Gleichnisse bezeichnen sollte, weil sie gerade das vor aller Augen liegende Bekannte und Natürliche als Vergleichsgröße in Erinnerung rufen, geht es bei Matthäus im Sinne der Parabeldefinition darum, Neuland zu eröffnen. Während ein Gleichnis via Erinnerung und Bewusstmachung auf Zurückliegendes rekurriert, fungieren Parabeln als Sprungbretter, um auf der Grundlage von nachvollziehbaren Begebenheiten und Ereignissen neues und bis dahin unbekanntes Terrain und d.h. Verstehen zu ermöglichen.106 Vgl. Mt 13,10–15 plus 16–17. N-A28 verweist zu Recht auf den motivischen Anklang an 1 Kor 2,7: Wir reden Gottes im Geheimnis verborgene Weisheit. 105 A. J, Die Gleichnisreden Jesu. Zwei Teile in einem Band, Tübingen 21910 (ursprünglich 1886/1899, Nachdruck Darmstadt 1976): „Ich definiere das Gleichnis als diejenige Redefigur, in welcher die Wirkung eines Satzes (Gedankens) gesichert werden soll durch Nebenstellung eines ähnlichen, einem andern Gebiet angehörigen, seiner Wirkung gewissen Satzes.“ (80). „Der Allegorist schreibt jedes Wort im Blick auf das unsichtbare Modell, das er […] nachzubilden versucht“; „der Gleichnisredner richtet sich ganz nach seinem Material“. Die Allegorie schneidet „das ,Bild‘ auf den ,Gedanken‘“ zu, das Gleichnis lässt „das ,Bild‘ in seiner Naturfarbe […] unverletzt“ (81). Vgl. auch die prägnanten Definitionen in dem Lehrbuch von J. R, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn 1977, 91–94. 106 Vgl. das grundsätzlich hilfreiche Statement von R. Z, Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klassifikation in „Bildwort“, „Gleichnis“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“, in: R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT I/231, Studienausgabe Tübingen 2011, 383–419, das richtigerweise darauf rekurriert, dass im Griechischen mit dem Begriff παραβολη nur ein Terminus für die unterschiedlichen Erzählungen vorliegt. Gleichwohl lässt sich im Blick auf die Anwendung dieses einen Begriffs auf die verschiedenen Typen metaphorischer Erzählungen (παραβολαι ) in den synoptischen Evangelien mit der Binnendifferenzierung, die die deutsche Sprache ermöglicht, analytisch mehr Klarheit gewinnen, als dies bei einer Nivellierung der Nuancen möglich ist. P. M, Gleichnisse, bibeldidaktisch, in: WiReLex 2016, 1–19, 5 (http://www.bibelwissenschaft.de/sti chwort/100143/) (zuletzt abgerufen 30.6.2024, 18.47 Uhr), vermerkt in seiner Besprechung literarischer Interpretationsansätze unter Bezug auf Ricœur und Zimmermann, dass durch solche Zugänge „[e]inige Engführungen im Gefolge der Interpretationen Jülichers […] aufgehoben werden“ können. Dem ist nicht zu widersprechen. Allerdings ist auf der Gegenseite mit der Weite und Offenheit der Parabeldefinition Zimmermanns auch ein Verlust an Trennschärfe verbunden. Vgl. die sechs definitorischen Merkmale bei R. Z, Die Gleichnisse Jesu. Eine Leseanleitung zum Kompendium, in: Ders. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 3–46, 25. 103

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Die inhaltlichen Besonderheiten der matthäischen Gleichniserzählungen werden vor dem Hintergrund der Markusvorlage in Mk 4 deutlich. Für Markus bildete die Regelhaftigkeit von Naturvorgängen, die Natürlichkeit im Zyklus von Saat und Ernte, die Normalität der landwirtschaftlichen Welt des ersten Jahrhunderts den Bezugspunkt. Das Kommen des Reiches Gottes wurde in Analogie zu den Gesetzmäßigkeiten des agrarischen Lebens gestellt. So gewiss trotz aller Beschwer und Risiken die Ernte eintritt, so sicher setzt sich die Herrschaft Gottes durch. Bis es so weit ist, finden geregelte Abläufe statt. Es wird gesät und das Feld entsprechend bearbeitet. Risikofaktoren wie Saatgutverlust durch Vogelfraß, steiniger und tendenziell unfruchtbarer Untergrund, übermäßige Sonneneinstrahlung und Dürre mangels Regen, Überwucherung durch Dornengestrüpp reduzieren den Ertrag. Dennoch wird am Ende allen widrigen Umständen zum Trotz geerntet. Im Ergebnis hängt die Frucht vom Boden ab. Je nach seiner Beschaffenheit und dem Wachstumsverlauf fällt die Ernte aus. Ebenso gewiss wie dieses eherne Gesetz wird Gott am Ende mit seiner Herrschaft ans Ziel gelangen. Diesbezüglich gibt es für Markus kein Geheimnis. Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben (Mk 4,11). Den Verständigen erschließt sich das Verständnis des Gottesreiches. Die Unverständigen werden durch das Reden in Gleichnissen nur um so tiefer in ihre Verständnislosigkeit verstrickt (Mk 4,12). Matthäus hingegen räumt der didaktischen Vermittlung größere Chancen ein. Er korrigiert in V.11–15 die paradox anmutende markinische Parabeltheorie. Bei Matthäus wählt Jesus die Parabelrede als Mittel gegen das Unverständnis. Weil die Menschen außerhalb des Jüngerkreises die Geheimnisse (Plural!) des Gottesreiches nicht kennen, verwendet Jesus die Parabeln als Instrument der Wissensvermittlung. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen der markinischen und der matthäischen Sicht auf die Gottesherrschaft. Während Markus davon ausgeht, dass den Jüngern das Geheimnis der Gottesherrschaft gegeben ist – und es daher für sie kein Geheimnis mehr darstellt –, spricht Matthäus von der Kenntnis über die Geheimnisse der Himmelsherrschaft. Für Markus verbindet sich das Reden von der βασιλειÄα τουÄ θεουÄ mit einem existentiellen Vollzug. Bei Matthäus vermittelt Jesus Inhalte über die βασιλειÄα τωÄ ν ουÆ ρανωÄ ν. Der matthäische Optimismus basiert auf der Überzeugung, dass sich Unverständnis und Kenntnislosigkeit durch entsprechende didaktische Bemühungen überwinden lassen. Entsprechend versteht Matthäus die παραβολαι im Munde Jesu als sprachliche Möglichkeiten, ein bisher nicht vorhandenes Verständnis zu eröffnen. Klassisch formuliert dienen sie ihm als Parabeln, die unter Bezug auf eine besondere, wenngleich mitvollziehbare Situation ein neues Begreifen erschließen wollen. Neben dem Anknüpfen an ein Vorverständnis setzt der matthäische Parabeleinsatz auch auf das Motivieren der Adressatenschaft. Dies gelingt, indem Erfolgsperspektiven aufgezeigt werden. Die Annahme der Botschaft und die Bereitschaft zu ihrer tätigen Umsetzung werden durch günstige Aussichten auf Erfolg unterstützt. Konsequenterweise dreht Mt 13,8.23 die aus Mk 4,8

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und 4,20 vorgegebene Zahlenreihe um. An erster Stelle steht die maximale Erfolgschance, erst danach folgen die zweit- und die drittbeste Möglichkeit.107 Dass gelegentlich böswilliger Widerstand den Ernteergebnissen entgegensteht, ist Gegenstand der Sondergutparabel in Mt 13,24–30. Ein Saboteur hat Unkraut zwischen den Weizen gesät. Den Ruf nach Sofortmaßnahmen weist der Besitzer allerdings zurück. Der vorzeitige Versuch, die ungewünschten Pflanzen herauszureißen, könnte die Weizenernte selbst beschädigen. Stattdessen plädiert die Erzählung für eine aufschiebende Haltung und stellt eine finale Lösung in Aussicht. Damit erhält die Parabel einen drohenden Unterton. Dem Wachstum dem Reich der Himmel entgegen korrespondiert die Scheidung und damit das Gericht. Die Kehrseite gelingender Entwicklung kristallisiert sich heraus. Was sich als feindlich und nicht dem Himmelreich gemäß erweist, wird am Ende gerichtet werden. Dieser trennende Akt liegt jedoch nicht in der Hand der Akteure innerhalb der Erzählung. Er geschieht auf Anweisung des Landbesitzers. Matthäus implantiert damit den für ihn bedeutsamen Gerichtsaspekt, der insbesondere in Mt 25 breit ausgeführt wird, bereits in die Reihe der Parabelerzählungen in Mt 13.108 Das Endgericht als Teil der matthäischen Eschatologie ist integraler Bestandteil der Ekklesiologie des Matthäusevangeliums. Bevor Jesus in einer Zug um Zug allegorisierenden Auslegung in Mt 13,36–43 die Parabel vom Unkraut unter dem Weizen einer heftigen emotionalen Deutung unterzieht, fügt er seiner Aneinanderreihung in Mt 13,31–33 die beiden Parabeln vom Senfkorn und vom Sauerteig aus Mk 4,31–32 und Mk 13,20–21 ein. Das Ziel besteht darin, ein weiteres Mal die Erfolgsaussichten und die Größenvorstellungen zur Geltung kommen zu lassen,109 die die matthäische Himmelreicherwartung durchziehen. Es ist die Frage, ob man die Gleichnisse vom Senfkorn und Sauerteig in den Fassungen nach Markus und Matthäus der gleichen Interpretationsperspektive unterstellen soll. Dafür gibt es angesichts der hohen inhaltlichen Übereinstimmungen gute Gründe. Man könnte dann alle vier Perikopen als „Kontrastgleichnisse“110 der gleichen Aussageintention zurechnen. Aus kleinen, unscheinbaren Anfängen resultieren große beglückende Ergebnisse. In Verbindung mit den geistigen Gesamtkontexten scheint das auch die Pointe der matthäischen Versionen der Erzählungen zu sein. Nicht zwingend ist dagegen, dass diese Sicht schon für die Markusfassung leitend war. Nach meinem Dafürhalten zielen die beiden

107 Vgl. T. H, Gleichnisse kontextuell gelesen. Eine redaktionsgeschichtlich-narratologische Untersuchung der Gleichniserzählungen vom Sämann, vom Senfkorn und von den bösen Winzern, Leipzig 2022, 114–115. 108 Der Dreischritt von Anknüpfung, positiver Motivierung und mehr oder weniger subtiler Drohung dürfte aus heutiger pädagogischer Sicht vermutlich als schwarze Pädagogik auf Reserve stoßen. 109 H, Gleichnisse (s. Anm. 107), 172.173, weist darüber hinaus zu Recht auf „den Prozessgedanken“ hin, den das Doppelgleichnis zum Ausdruck bringt. 110 J. J, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984, 148 u.ö.

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Erzählungen im Markuskontext darauf, die Selbstverständlichkeit herauszustreichen, die Anfang und Ende der dargestellten Vorgänge verbindet. Das kleine Senfkorn wächst naturgemäß zu erstaunlicher Größe heran; ein wenig Sauerteig verändert die gesamte Backmischung. Demgegenüber fügt es sich in die matthäische Leseperspektive, gerade das Staunenswerte dieser Entwicklung herauszustreichen und als Vergleichspunkt der Parabel anzusehen. Die gleiche Erzählung stellt im Duktus des Markusevangeliums ein Gleichnis und bei Matthäus eine Parabel dar. Die ressentimentgeleitete allegorische Entfaltung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,36–43) erfolgt unter einer christologischen Perspektive. Als Sämann wird der Menschensohn genannt. In einem Gut-böse-Dualismus stellt der Erzähler οιë υιë οιÁ τηÄ ς βασιλει ας den υιë οιÁ τουÄ πονηρουÄ gegenüber. Erzählt wird aus der Identifikation mit den Söhnen des Reiches heraus. Als Gegenspieler des Menschensohns wird der δια βολος genannt. Erntezeitpunkt ist das Weltende. Die Schnitter, die in der Ausgangsparabel erst am Ende eingeführt werden, werden bereits in der Mitte der Erzählung angekündigt und als Engel identifiziert (V.40). Der Menschensohn wird sie aussenden, seine Feinde einzusammeln und am Ende einem Verbrennungsgericht auszuliefern. Das soll grell konstrastierend die Gerechten zum Leuchten bringen. Diese allegorische Auslegung lässt den matthäischen Vernichtungsphantasien freien Lauf. Die zwei kleinen Szenen vom verborgenen Schatz im Acker und der Perle in Mt 13,44 und 45.46 nehmen die Negativabgrenzung wieder heraus. Beide Parabeln fokussieren einseitig positiv den Wert und die Kostbarkeit des Himmelreichs. Angesichts der Größe des zu erlangenden Gutes erscheint der vollständige Einsatz der gesamten Habe als Selbstverständlichkeit. So als traute der Erzähler der intrinsischen Motivation seiner Leserschaft nicht, fügt er den beiden Erzählungen mit der Parabel vom Fischfang (Mt 13,47–50) eine weitere Szene hinzu, die wie bereits V.42 auf die drohende Verbrennung im Feuerofen hinausläuft (V.50). Matthäus verwendet seine drastische Schilderung der Geschehnisse im Endgericht als ein Mittel, um die eigenen Reihen zu schließen. Ob eine solche Art der Motivierung in Glaubensfragen tatsächlich anspornend ist, steht dahin. Nachvollziehbar ist, dass es Matthäus offensichtlich um eine Stabilisierung der eigenen Gruppe geht. Er versucht, der Selbstwirksamkeit des Christusglaubens durch die Gerichtspredigt Jesu eine unterstützende Komponente hinzuzufügen. 6.13.1.2 Die Gott eigene Gerechtigkeit: Mt 20,1–16 Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit ließe sich die Sondergutüberlieferung von den Arbeitern im Weinberg unschwer als Skandalparabel apostrophieren. Die Erzählung löst spontan Unbehagen aus; denn sie verstößt gegen das intuitive Rechtsempfinden. Die Szene bezieht sich auf das Verhalten eines Hausherrn, das freundlich ausgedrückt zum Diskutieren einlädt. Motiviert ist die Gleichniserzählung durch die vorangehende Erkundigung des Petrus, welcher Lohn ihm und den Jüngern für die Entbehrungen ihrer Nachfolge winkt. Jesu

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eschatologische Verheißung mündet in Mt 19,30 in die Umkehrung der Erfolgsaussichten zwischen den Ersten und den Letzten. Dieses Motiv schließt auch die anschließende Parabel in Mt 20,16 ab. Während die finale Zusage an Petrus mit dem verheißungsvollen Blick auf die Ersten schließt, endet die Parabel unter Bezugnahme auf die murrenden Arbeiter der ersten Stunde mit dem Hinweis, dass dieser scheinbare Vorteil sich in sein Gegenteil verkehren kann. In V.1 wird der Besitzer des Weinbergs als Bezugspunkt und Vergleichsgröße für den Charakter der Himmelsherrschaft in die Handlung eingeführt. Das Besondere seiner Person ist die Art des Umgangs mit den im Verlauf der Szene angeworbenen Tagelöhnern. Das Reich der Himmel sei einem Hausherrn zu vergleichen, der sich wie im Folgenden geschildert verhält. Der Tabubruch, mit dem die Parabel operiert, liegt in der Verletzung eines Grundsatzes, der für die Arbeitszufriedenheit abhängiger Lohnarbeiter und darüber hinaus für wirtschaftliche Zusammenhänge insgesamt elementar ist. Die von dem Hausherrn geübte Praxis verstößt gegen die Regel: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.111 Zwölf Stunden lang verausgaben sich die in der Frühe eingestellten Arbeiter in der glühenden Hitze des Tages. Für gerade noch eine Stunde vor Sonnenuntergang stoßen die zuletzt Angeworbenen hinzu. Die Auszahlung bei Arbeitsende beschert jedem einen Denar. So war es vereinbart. Mit jedem einzelnen hatte sich der Weinbergbesitzer auf diesen Betrag verständigt. Die Auszahlung überträgt er seinem Verwalter, den er mit einer klaren Instruktion gegen Abend losschickt (V.8). Wie zu erwarten, führt die Auszahlung des jeweils gleichen Lohns bei denen, die den gesamten Tag gearbeitet haben, zu einem Aufbegehren. Ihr Unmut richtet sich gegen den Hausherrn. Dessen Antwort besteht in einer Zurückweisung der Ansprüche. Der Besitzer zieht sich auf eine formaljuristische Ebene zurück. Die Auszahlung erfolgt vereinbarungsgemäß. Selbst wenn man sich diese Argumentation zueigen machte, bliebe der Verdacht, die Abhängigkeit und Notlage der Tagelöhner werde ausgenutzt. Zumindest der Maßstab der Fairness und der Leistungsgerechtigkeit wird verletzt. In V.15a rechtfertigt der Besitzer sein Verhalten zudem mit seiner Machtposition. Das macht das Argument eher noch schwächer. Denn so setzt er das Machtgefälle zwischen sich und den Arbeitern ein weiteres Mal gegen diese ein. Darüber hinaus macht er für diese Haltung auch noch moralische Überlegenheit geltend. Er hält den sich beschwerenden Arbeitern vor, dass es sein Gutsein ist, welches sie zu ihrem bösen Blick auf ihn und die Sache veranlasse (V.15b). Was dem Weinbergbesitzer fehlt, ist Empathie mit den abgearbeiteten Beschwerdeführern. 111 Vgl. schon die Überschrift bei J, Gleichnisreden (s. Anm. 105), 459: „Vom gleichen Lohn für verschiedene Arbeit.“ Vgl. auch W. H, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 21990, 189: „Eine Arbeitsvergütung, die ohne Rücksicht auf geltende Konventionen nur partiell großzügig verfährt, verletzt die Norm der Leistungsorientierung, auf die das alltägliche Leben in Wirklichkeit angewiesen ist.“ Anders L, Matthäus (s. Anm. 45), 220: „Der Leistungsgedanke spielt in dieser Gleichniserzählung keine Rolle.“

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Ein Versuch, der anstößigen Geschichte interpretatorisch einen positiven Aspekt abzugewinnen, besteht darin, die Perspektive von der geleisteten Arbeitszeit wegzulenken und auf den gleichbleibenden Denar als Lohn zu richten. Das wendet den Blick von den vermeintlich erworbenen Ansprüchen der Ganztagesarbeiter, mehr zu erhalten, auf die Lebenssituation damaliger Tagelöhner und ihrer Familien. Unter der Maßgabe, dass ein Denar zur Zeit Jesu in etwa die Grundsicherung einer armen Tagelöhnerfamilie für einen Tag ihres Lebens darstellt, erzählt die Geschichte von einem Hausherrn, der ohne sich um Leistungsunterschiede zu kümmern, jedem dieser bedürftigen Menschen die Grundlage gibt, um einen Tag lang zu überleben.112 Unter metaphorischer Wahrnehmung käme dann in dieser Parabel die Einsicht zur Sprache, dass sich die Lebenssicherung für mehr als einen Tag der eigenen Verfügung entzieht. Keinem der Arbeiter in der Erzählung ist es gelungen, durch stundenlangen Mehreinsatz und ein Mehrfaches an Körperbelastung mehr als die Sicherung eines einzigen Lebenstages herauszuholen. Dass diese Basis überhaupt geschaffen wurde, stellt die Erzählung bereits als einen Akt der Freiheit und Güte des Gebers heraus. Keiner der Arbeiter kann durch seine Anstrengung mehr als das ihm gewährte Fundament erreichen. Ansprüche, um durch eine erhöhte Entlohnung aufgrund der erbrachten Leistung über diese Basis hinauszugelangen, werden abgewiesen. Nimmt man die in der Parabel erzählte Welt als ein Bild für die conditio humana, dann handelt die Erzählung von der Unverfügbarkeit des Lebens. Alle Bemühungen und jede Arbeit zum Selbsterhalt finden ihre Grenze darin, dass das Leben selbst auf diese Weise nicht zu sichern ist. Der Erhalt des eigenen Lebens ist bereits eine täglich neue Gabe, die als solche nicht von der eigenen Leistungsfähigkeit abhängt. Die Abhängigkeit von einer fremden Güte zu realisieren, die den täglichen Kampf um das Überleben erst ermöglicht, ist eine Herausforderung dieser Erzählung. Nur innerhalb dieses Rahmens vollziehen sich die Binnendifferenzierungen von Einkommen, Status und Wohlleben. Die Parabel drängt jedoch von der vordergründigen Debatte, wie gerecht es ist, dass die einen sich mehr anstrengen müssen als die anderen und letztere es offenkundig leichter haben, an ihr Geld zu kommen, zu der tieferliegenden Überlegung nach dem alle Einzelunterscheidungen übersteigenden Rahmen hin. Das Überleben als solches wird als eine gütige Gabe entfaltet. Dieses grundsätzliche Geschenk hebt die zu Recht kritisierbaren Unterschiede nicht auf. Unter innerweltlichen Vergleichsmaßstäben bleibt das gelebte Leben skandalbehaftet. Die Ungleichheit der Lebensbedingungen behält ihre empörenden Züge. Insofern erledigt die Erzählung nicht die zwischenmenschliche Gerechtigkeitsfrage, die nach Antworten verlangt, die von den Mitgliedern eines Gemeinwesens als akzeptabel angesehen werden. 112 Vgl. J, Gleichnisse (s. Anm. 110), 33: „alle erhalten sie nur die Summe, die für das Fristen des Daseins notwendig ist, das Existenzminimum. Keiner erhält mehr!“ Vgl. L. S, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 277–278; vgl. F. A, Jedem das Seine? Allen das Volle! (Von den Arbeitern im Weinberg), Mt 20,1–16, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 461–472, 465–466.

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Der matthäische Erzähler verwendet die Erzählung einer als ungerecht empfundenen Verhaltensweise zur Verdeutlichung des theologischen Verständnisses von δικαιοσυ νη. Der persönliche Arbeitseinsatz führt nicht aus der Situation des existentiellen Angewiesenseins heraus. Die Grundlage des Lebens besteht darin, dass Menschen ihr Leben empfangen haben und es, solange sie leben, Tag für Tag erhalten. Dieses Faktum wird in der Parabel als Akt göttlicher Güte ausgelegt. Die Gerechtigkeit Gottes besteht darin, diese Gabe jedem einzelnen Menschen zur Verfügung gestellt zu haben. Persönliche Leistungsbereitschaft und -fähigkeit sind in dieser Hinsicht von nachgeordneter Bedeutung. Sie können der grundlegenden Gabe nichts hinzufügen, sie können ihren Bestand nicht erzwingen. Mit der Parabel entfaltet Matthäus ein weiteres Mal die Gerechtigkeit als theologisches wie soziales Thema. Gerechtigkeit unter der Perspektive des Glaubens resultiert aus dem Bezug zu Gott als dem tragenden Grund menschlichen Lebens.113

6.13.2 Jesus als Wundertäter Die Exponierung der Person Jesu durch staunenswerte Handlungen ist ein Element, das die gesamte matthäische Jesusdarstellung durchzieht. Sowohl in der kompositorischen Präsentation der durch Markus vorgegebenen Stoffe als auch bei deren Überarbeitung im Einzelnen lässt sich die matthäische Handschrift erkennen. Mt 8 und 9 fassen gebündelt Wundererzählungen zusammen, die Markus breiter gestreut lieferte. Dem liegt die matthäische Überzeugung zugrunde, dass in erster Linie wichtig ist, was Jesus zu sagen hat. Entsprechend hat zunächst der große Redekomplex der Bergpredigt in Mt 5–7 die programmatische Richtung vorgegeben. An Jesu grundlegende Lehre schließen sich in der Folge kurz getaktet eindrucksvolle Belege seiner außerordentlichen Fähigkeiten an. Der aus Mk 1,40–45 stammenden Erzählung von der Reinigung eines Leprakranken in Mt 8,1–4 folgt in 8,5–13 mit der Episode von der Heilung des gelähmten Knechtes eines Hundertschaftsführers eine der wenigen Erzählüberlieferungen aus der Logienquelle. Gegen die Reihenfolge der Markusvorlage schließt sich die Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus an. Signifikant ist, dass die konfliktuöse Szene, die bei Markus in 1,21–28 das Wirken Jesu eröffnet, von Matthäus nicht bzw. nur fragmentarisch und über das Evangelium verstreut aufgenommen wird. Die polarisierende Aussage, dass in der Synagoge von Kapharnaum ein unreiner Geist haust, den auszutreiben Jesu erste Aktion gilt, vermeidet Matthäus. Die Erzählsplitter aus dieser Begebenheit, die sich in Mt 4,13; 7,28–29 und 4,24 finden, beziehen sich ausschließlich auf die Ortsangabe und die Wirkung der Lehre Jesu. Sie unterlassen jeden Bezug auf ein exorzistisches Handeln Jesu im jüdischen Lehrhaus. Anders als das vom Gegen-

113 Zur Auslegung von Mt 20,1–16 vgl. P.-G. K, Diakonie und moderne Lebenswelt. Neutestamentliche Perspektiven, Karlsruhe 1998, 18–20.

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einander zweier rivalisierender Geister geprägte Markusevangelium setzt Matthäus früh das Signal: Jesu Lehren stellt keinen Exorzismus dar, der einen bösen Geist vertreibt. Keinesfalls eröffnet Matthäus wie Markus den Raum für eine Grundsatzdebatte, in der Jesu Handeln polemisch auf das nicht christusglaubende Judentum bezogen werden könnte; und erst recht stellt er keine solchen Überlegungen an den Anfang des wundertätigen Wirkens Jesu. Stattdessen tritt Jesus in Mt 8,2–25 dreimal hintereinander in individuellen Krankheitssituationen hilfreich auf. Die Seesturmgeschichte in Mt 8,21–27 weist sowohl in der Christologie als auch in der Ekklesiologie Eigenheiten gegenüber der Vorlage aus Mk 4,35–41 auf. Matthäus schwächt den scharfen Vorwurf Jesu an seine verängstigten Jünger aus Mk 4,40 ab. Aus dem schroffen habt ihr noch keinen Glauben wird die zurückgenommenere Anrede οÆ λιγο πιστοι in Mt 8,26. Der markinische Keinglaube mutiert zum Kleinglauben. Die am alles oder nichts orientierte Tendenz des Markus, die konsequente Entscheidungssituationen voraussetzt, ist einer konzilianteren Formulierung gewichen, die innergemeindliche Binnendifferenzierungen berücksichtigt, ohne zu stark zu polarisieren. Neben dieser ekklesiologischen Verschiebung ist die Rückfrage nach Jesus in den jeweiligen Schlussversen christologisch aufschlussreich. In Mk 8,27 wirft die Szene die Frage nach der Person des handelnden Jesus auf: Wer ist dieser? Der Matthäusschluss in V.26 fragt hingegen nach der Beschaffenheit dieses.114 Die Frage bringt den Qualitätsaspekt zur Sprache. Matthäus stellt die Überlegung an, was den Charakter Jesu im Besonderen ausmacht. Unterschwellig schwingt hier innerhalb der personalen Christologie der Gedanke nach den Attributen und der funktionalen Bedeutung Jesu mit. In Mt 8,26–39 greift Matthäus die Dämonenaustreibung aus Mk 5,1–20 auf. Diese Entscheidung unterstreicht, dass die Auslassung von Mk 1,21–28 nicht in dem exorzistischen Motiv begründet lag, sondern in der als dämonisch charakterisierten Situation in der Synagoge. Da dieser Exorzismus am heidnisch konnotierten Ostufer des Sees im Land der Gadarener lokalisiert ist, besteht für den Erzähler kein Hinderungsgrund, Jesus als Dämonenaustreiber darzustellen. Matthäus gestaltet zudem die Erzählung um. Jesus trifft im Unterschied zur markinischen Diktion nicht auf einen von einem unreinen Geist besessenen Menschen, sondern auf zwei δαιµονιζο µενοι, zwei von Dämonen besessene gefährliche Geisteskranke. Er entnimmt Jesus damit der Rolle, die dieser bei Markus innehatte. Ging es im ältesten Evangelium darum, dass Jesus den göttlichen Geist überall dort auszubreiten begann, wo ein gegengöttlicher Geist wirkte, ist er bei Matthäus in der Gefahrenabwendung für das Gemeinwesen tätig. Damit reiht sich dieser Exorzismus in die Reihe der vorangegangenen drei Heilungserzählungen ein. Die Themenverschiebung von Markus zu Matthäus wird dadurch unterstrichen, dass Mt 8, 32 auch die zweite Verwendung des Begriffs πνευÄ µα aus Mk 5,13 streicht. Mt 8,31.32 bleibt konsequent bei dem Terminus Dämonen für 114

Ποταπο ς εÆ στιν ουË τος: Ein wie Beschaffener/was für einer ist dieser?

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die Geister, welche Jesus in den Tod treibt. Die erheblichen Kürzungen, die Matthäus an der Markusvorlage insbesondere gegenüber Mk 5,9.10.15.16 vornimmt, bestätigen die Verlagerung des Fokus. Die Person des Besessenen ist weder vor noch nach dem Exorzismus von Interesse. Selbst den herausstechenden Namen Legion, der den zeitgeschichtlichen Bezug auf die die X. römische legio fretensis nahelegt, lässt Matthäus weg. Auch wie der von seinen Dämonen Befreite anschließend aussah, ist für die matthäische Version ohne Interesse. Im Zentrum steht allein die zielgerichtete Aktion Jesu. Mit einem einzigen Wort – υë πα γετε – bereinigt Jesus die Situation, indem er die Dämonen in den Untergang treibt. Nicht die geänderten Verhältnisse im Umfeld der Handlung Jesu bilden das Thema. Die machtvolle Potenz Jesu vorzuführen, der auch in diesem außerordentlichen Fall seine Dominanz unter Beweis stellt, ist das christologische Anliegen der Erzählung. Die soteriologische Relevanz seines Tuns, die Mk 5,18–20 breit ausführt, bleibt bei Matthäus unerwähnt. Aus dem Zyklus der fünf sog. Streitgespräche in Mk 2,1–3,6 übernimmt Mt 9,1–17 nur die ersten drei. Die in Mk 2,23–28 und 3,1–6 geschilderten Sabbatkonflikte ordnet Matthäus in 12,1–14 einem anderen Kontext zu. Bereits diese Unterscheidung lässt erkennen, dass er in Abweichung von der Markusvorlage die Erzählungen zwei unterschiedlichen Themenbereichen zuordnet. In Mt 9,1–17 folgen nicht fünf Ätiologien geltender Normen, sondern drei Machterweise Jesu stakkatoartig aufeinander. Das begründet den Ort dieser Erzählungen im Anschluss an die fünf Wundererzählungen in Mt 8. Im Übergang zu Mt 9,1 muss der Erzähler zunächst die geographische Verknüpfung wiederherstellen. Laut Mk 2,1 kommt Jesus wiederum nach Kapharnaum. Da Jesus sich nach matthäischer Darstellung zwischenzeitlich im Ostjordanland aufgehalten hat, muss Matthäus diese Beziehung erst wieder schaffen. Jesus kam in seine Stadt; und da Mt 8,5–13 und 14–16 Kapharnaum zum Schauplatz des Geschehens hatten, ist die Szene offenkundig erneut dort lokalisiert. Durch diese Hin-und-her-Bewegung löst Matthäus die sorgfältige geographische Komposition des Markus auf. Dieser hatte durch Doppelerzählungen, die einmal in jüdisch und einmal in heidnisch konnotierten Gebieten und Ortschaften spielten, eine kunstvolle Verknüpfung zwischen beiden Territorien hergestellt. Leitend war dabei der Gedanke, dass bereits Jesus selbst mit seinem Verkündigen und Wirken in völkerverbindender Mission unterwegs war. Diese Leitidee liegt jenseits des matthäischen Horizonts. Die matthäische Version der Erzählung in Mt 9,1–8 liest sich wie ein Schnelldurchgang durch die Markusvorlage. Der Erzähler kürzt den Ablauf und beschleunigt das Erzähltempo. Erzählerische Schleifen werden herausgeschnitten, Erzählwege begradigt. Was bleibt übrig? Eine unbestimmte Anzahl von Menschen legt Jesus einen Gelähmten auf einer Bahre vor die Füße. Jesus registriert den Glauben dieser Leute, richtet ein aufmunterndes Wort an den Gelähmten – θα ρσει – und spricht ihm die Vergebung seiner Sünden zu. Fünf markinische Eingangsverse reduziert Matthäus auf zwei.

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Über Jesu Zuspruch der Sündenvergebung empören sich schweigend einige der anwesenden Schriftgelehrten. Jesus sieht ihnen das an, denn er kann in sie hineinschauen und konfrontiert sie mit einer doppelten Alternativfrage: In Abweichung von der Markusvorlage disqualifiziert er ihre Gedanken durch eine Einfügung zunächst von vornherein als schlecht. Dann fordert er sie in gegenüber Markus gestraffter Weise auf zu entscheiden, ob es leichter ist zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben oder steh auf und wandle (V.5). Zum Erweis der Vollmacht des Menschensohns, auf der Erde Sünden zu vergeben, heilt Jesus sodann den Gelähmten (V.6.7). Die Volksmenge gerät daraufhin in Bewegung. Furcht und Lobpreis Gottes fallen ineinander. Ähnlich wie in Mt 15,31 angesichts der Heilungen vieler Kranker und in Mt 28,8 am Auferstehungsmorgen melden sich in dieser Reaktion die starken ambivalenten Gefühle, die auf eine göttliche Offenbarung als auslösendes Moment verweisen. Die bei Markus noch virulente Frage, wie sich die Schriftgelehrten verhalten haben, ist für Matthäus kein Thema. Im Verhältnis zum Gesamtumfang der Perikope nimmt Jesu Debatte mit den Schriftgelehrten um das Recht der Sündenvergebung den größten Raum ein. Die Heilungsfähigkeit Jesu ist als solche kaum von Belang. Sie wird vorausgesetzt und fließt quasi nebenbei mit ein. Im Vordergrund steht das Wortgeschehen. Die Tatverkündigung stellt einen Begleitaspekt dar. Entsprechend setzt V.8 einen anderen Höhepunkt als Mk 2,12. Die Pointe der Erzählung liegt in der Feststellung, dass Gott den Menschen, sprich: der matthäischen Gemeinde die Vollmacht zur Sündenvergebung gegeben hat. In diesem Motiv klingt bereits die matthäische Weiterinterpretation des Christusbekenntnisses des Petrus in Mt 16,19 mit der Verleihung der Schlüsselgewalt an. Die von Jesus in Vollmacht ausgeübte Sündenvergebung wurde nach matthäischer Darstellung an die Gemeinde weitergereicht. Jetzt besitzt sie die Vollmacht, die in der Erzählung von Jesus in Anspruch genommen wurde. Die Erzählung gibt dafür die Legitimation ab. Mt 9,1–8 enthält ein zentrales Kennzeichen matthäischer Wundererzählungen. Die Fähigkeit Jesu, Außerordentliches zu bewirken, steht im Vorhinein fest. Jesu Aktion dient der Untermauerung und Illustration seiner Wortverkündigung. Sie bildet zugleich das Sprungbrett, um die Leserschaft in die erzählte Handlung einzubeziehen, ihr zu theologischer Einsicht zu verhelfen und sie zu eigenständig verantwortetem Handeln in der Weiterführung des von Jesus begonnenen Werkes zu befähigen. Bei Mt 9,9–13 handelt es sich nicht um eine Wundergeschichte, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass ein die Kausalitätsvorstellungen sprengendes Ereignis geschildert wird. Gleichwohl geht es um ein grenzüberschreitendes Verhalten Jesu. Der Tabubruch seiner Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern ist legitimationsbedürftig und rechenschaftspflichtig. Anders als bei Markus fragen die Pharisäer nicht Jesus selbst nach einer Begründung. Imaginiert wird ein Gruppengespräch: Die Pharisäer suchen die verbale Auseinandersetzung mit der um ihren Lehrer gescharten Gruppe der Jünger. Die Formulierung euer Lehrer in V.11

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enthält das Zugeständnis, dass die Jesusgruppe als ein eigenständiger Schülerkreis neben anderen Gruppierungen, die sich um eine autoritative Lehrperson versammeln, wahrgenommen wird. Mit V.12 reagiert Jesus jedoch selbst. Ein kleiner hoheitlicher Wink steckt in der Formulierung: ëΟ δεÁ αÆ κουσας ειËπεν. Der Erzähler referiert nicht lediglich das faktische Geschehen; denn dann hätte er der Markusvorlage folgend den Namen Jesu als Subjekt stehengelassen. Indem er ihn auslässt und die Anknüpfung an die Bezeichnung διδα σκαλος erfolgt, erhält das Personalpronomen er eine Aura von Erhabenheit: Er aber, als er das hörte, sagte … . Was Jesus freilich in V.12 und 13 sagt, ist im Blick auf die aus Mk 2,17b übernommene Schlussformulierung, ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder, ergänzungsbedürftig. Gelernt werden soll die hoseanische Einsicht, dass Barmherzigkeit die Bedeutung des Opfers übersteigt (Hos 6,6). Die vom kultischen Reinheitsgebot gedeckte Segregation, die sog. Unreine von Reinen trennt, erfährt unter dem moralischen Kriterium eine Kritik. Die kritische Anfrage der Pharisäer gegen das Verhalten Jesu ist laut Jesu eigener Schriftverwendung prophetisch nicht gedeckt. Die Gestaltung der Gesamtszenerie durch Matthäus wirkt griffiger als die Markusvorlage. Das liegt daran, dass Matthäus den Einleitungsvers Mk 2,13 streicht und sofort in die Erzählung einsteigt. Auch die Wiederholungen und Umständlichkeiten der markinischen Verse 15 und 16 werden zurückgestutzt. Dadurch erhöht sich ein weiteres Mal das Erzähltempo. Das setzt wiederum Jesus als den Protagonisten der Handlung in Szene. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Wörter in V.9–13 kommt den Worten aus seinem Mund ein höherer Anteil an der Erzählung zu als bei Markus. Auf diese Weise kreiert Matthäus ein Bild von Jesus als demjenigen, der die Richtlinienkompetenz besitzt. Sucht man auch in dieser Szene nach einem wunderhaften Zug, dann besteht er in der Souveränität, in der Jesus einen Tabubruch als völlig der Ordnung entsprechend präsentiert. Auch in der Folgeszene Mt 9,14–17 kommt der Erzähler schneller auf den Punkt als der etwas gewundene Einstieg der Markusvorlage. Im Blick auf die Fastenpraxis richten die Johannesjünger unter Hinweis auf ihre Übereinstimmung mit den Pharisäern ihre Frage direkt an die Jünger. Aber auch hier antwortet wieder Jesus. Bei seinen Worten ist der Wechsel des Verbs aufschlussreich. Statt von fasten redet Jesus in V.15 von trauern. Er gibt damit dem Fastenritus eine eigenwillige Wendung. Das als Trauerritus bezeichnete Fasten ist für die hochzeitliche Gemeinschaft mit dem Bräutigam unangemessen. In späteren Zeiten wird es seine Bedeutung bekommen. Bei den weisheitlichen Sentenzen, die die Szene abschließen, folgt Matthäus weitgehend wörtlich den markinischen Vorgaben. Die Fähigkeit, Dinge voneinander unterscheiden zu können und zu verstehen, dass alt und neu nicht vermischt werden können, so wie auch Trauerphasen und Hochzeiten sich voneinander abheben, ist eine Lehre, bei der der matthäische Jesus dem markinischen weitgehend unverändert folgt. Wundersame Begebenheiten im engeren Sinn folgen erst wieder im Anschluss an die beiden in 9,9–17 erzählten lehrhaften Exkurse. In Mt 9,18–26 überliefert

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Matthäus die ineinander verschachtelten Begebenheiten von der Auferweckung der Tochter des Jaı¨rus und der Heilung der blutflüssigen Frau aus Mk 5,21–43. Dazu greift er tief in die ihm vorliegende Komposition ein und setzt auf diese Weise einen eigenen inhaltlichen Akzent. In inhaltlicher Hinsicht entdramatisiert er die Markusversion. Die Spannung erzeugenden retardierenden Ausführungen bei Markus, die besonderen Krankheitsumstände im Einzelnen, das magische Moment des Kraftabflusses durch Berührung streicht Matthäus. Im Ergebnis kürzt er die Länge der Erzählung von 23 Versen bei Markus auf neun Verse herunter. Die Doppelperikope wirkt auf diese Weise gerafft. Matthäus erzählt ergebnisorientiert. Er reiht die aus seiner Sicht relevanten Fakten aneinander, unter Verzicht auf das, was ihm als erzählerische Schnörkel erschienen sein mag. Ein Mitglied der Oberschicht – es handelt sich nicht zwingend um jemanden aus dem Kreis der Synagogenvorsteher, denn anders als die Markusvorlage lässt Matthäus seine soziale Zugehörigkeit unbestimmt – nähert sich Jesus kniefällig. Er spricht unverzüglich das aus, was im markinischen Duktus den Spannungsbogen der Erzählung ausmacht, bei dem die Leserschaft im Ungewissen gelassen wird, ob Jesus noch rechtzeitig am Krankenlager des Kindes eintreffen wird. Das Kind ist bereits verstorben. Dies tut jedoch der Zuversicht des Vaters keinen Abbruch, dass Jesus das Mädchen wieder zum Leben erwecken kann (V.18). Die Heilung der an langjährigem Blutfluss leidenden Frau erfolgt en passant. Deren Befindlichkeit im Einzelnen und ihre inneren Überlegungen, wie sie zur Heilung gelangen könnte (Mk 5,26–28), lässt Matthäus ebenso weg wie die Feststellung ihrer Heilung (Mk 5,29), die Reaktion Jesu auf die Berührung (Mk 5,30), das Verhalten der Jünger und Jesu (Mk 5,31–32) sowie die Furcht und das Zittern der geheilten Frau (Mk 5,33). Damit tritt Jesu Feststellung von der rettenden Macht des Glaubens (Mt 9,22 par Mk 5,34) in das Zentrum der Erzählung. Die Einsicht der Frau, dass die schiere Berührung des Gewandes Jesu sie retten werde, ist der Angelpunkt der matthäischen Version der Episode. Alle von Markus dazwischen eingefügten Facetten verstellen aus matthäischer Sicht diese grundlegende Erkenntnis und sind daher verzichtbar. Die von Gewissheit getragene Kontaktaufnahme mit Jesus wird von diesem als rettender Glaube qualifiziert. Im lärmerfüllten Haus des vornehmen Mannes, der Jesus um Hilfe gebeten hat, lässt Jesus mit dem Machtwort αÆ ναχωρειÄτε Ruhe einkehren. Vergleichbar der Beruhigung der Wellen auf dem Meer in Mt 8,26 erweist er seine Dominanz darin, für Stille um sich herum zu sorgen. Ohne Umschweife und ohne dramatische Begleitumstände nimmt Jesus durch Berührung die Auferweckung des Mädchens vor (V.25). Fast lapidar konstatiert der Erzähler im Schlussvers 26: Die Kunde von diesem Ereignis verbreitete sich in der ganzen Gegend. Die große Aufregung, die die Begebenheit verständlicherweise nach markinischer Aussage (Mk 5,42) auslöste, hat für Matthäus nicht stattgefunden. Ebenso ist das Verbreitungsverbot Jesu kein Thema (Mk 5,43). Jesus hat souverän sein Rettungswerk vollzogen. Das zieht seine Kreise. Die anschließende Erzählung von der Heilung zweier Blinder und eines Stummen vereint Motive in sich, die bei Markus auf mehrere Episoden verteilt er-

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schienen. Daher stellt auch die Perikope Mt 9,27–34 eine Summe von verstreuten Einzelfacetten bei Markus dar. Konkret hat Matthäus die erste der zwei markinischen Blindenheilungen in Mk 8,22–26 gestrichen. Er löst damit die Konzeption des Markus auf, der in Kapitel 8–10 die drei Leidens- und Auferstehungsankündigungen Jesu durch die zwei Blindenheilungen in Mk 8,22–26 und 10,46–52 gerahmt hatte. Gestrichen hat Matthäus auch die Erzählung von der Heilung eines Taubstummen in Mk 7,31–37. Dafür hat er in Mt 9,32 das Motiv der Stummheit als weiteres Krankheitsbild mit dem Thema Blindheit verbunden und das Stummsein zusätzlich mit dem Thema der dämonischen Besessenheit verknüpft. Auch in der Reaktion der Zeugen auf die wundersame Dämonenaustreibung schwingen Elemente aus der Markusüberlieferung, hier Mk 2,12 und auch Mk 3,22, mit. Aufs Ganze gesehen wirkt die Szene wie ein Kompendium von Einzelmotiven aus dem Markusevangelium, die Matthäus zu einer Gesamtkomposition zusammenführt. Jesus heilt Blindheit und auf Dämonie zurückgeführte Stummheit, löst damit Erstaunen in der Bevölkerung und gleichzeitig Kritik bei den Pharisäern aus (V.33.34). Sein wundertätiges Handeln polarisiert. Genau diesen Aspekt hebt auch die matthäische Bearbeitung der in Mk 11,11–27 ineinander verschachtelten Episoden von der Verfluchung des Feigenbaums und der Tempelreinigung durch Jesus hervor. Die wiederholte Hin- und Herwanderung zwischen Bethanien und Jerusalem auf einer Ost-West-Achse, die beide Szenen miteinander vernetzt, streicht Matthäus. Mt 21,10–17 und 18–19 handeln beide Begebenheiten im Block nacheinander ab. Zunächst erfolgt die Tempelreinigung, anschließend lässt Jesus mit seinem Machtwort den Feigenbaum vertrocknen. Die Schilderung der aggressiven Handlung Jesu im Tempel verknüpft Mt 21,14 mit dem Hinweis auf Heilungen Blinder und Lahmer, die Jesus im Tempelbezirk durchführt. Damit legt der Erzähler über Jesu Tempelaktion die Optik eines heilsamen Handelns. Die Vertreibung der Händler und ihrer Kunden, die Handgreiflichkeit gegen die Tische der Geldwechsler und Taubenhändler wird zu einer reinigenden, Gesundheit bringenden Tat umdeklariert. Die anschließende Zugrunderichtung des Feigenbaums dient der Untermauerung des autoritativen Anspruchs Jesu. Sie stellt eine Machtdemonstration dar, mit der der matthäische Jesus ein Beispiel für die Kraft des Glaubens gibt. Die durch Markus vorgegebene Verknüpfung von Tempelszene im Westen und Feigenbaumepisode im Osten unter dem Gesichtspunkt, dass die äußere Lebendigkeit die innere Fruchtlosigkeit kaschiert, löst Matthäus auf. Während es im Duktus des Markusevangeliums die normsetzende Autorität Jesu war, die auf Abwehr bei den religiösen Vertretern des Judentums stieß und letztlich zur Ursache seines Todes wurde, führt bei Matthäus das machtvolle Handeln Jesu bei den einen zu Bewunderung und bei den anderen zu Distanzierung. Wenngleich inhaltlich anders so doch strukturell mit Markus verwandt, konstruiert auch der matthäische Erzähler eine Polarität, die die Hinrichtung Jesu verständlich zu machen hilft.

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6.14 Autoritative Auslegungen des Sabbatgebots: Mt 12,1–14 Wie mittels Wundererzählungen, aber auch durch andere Begebenheiten aus der Lebensgeschichte Jesu Regelungen legitimiert werden, die für die matthäische Gemeinde von Belang sind, zeigen die beiden von Matthäus gegenüber Markus zurückgestellten Überlieferungen von Jesu Wirken am Sabbat in Mt 12,1–14. Beide Erzählungen haben Sabbatverletzungen Jesu zum Inhalt und stehen im Dienst der Verkündigungsinteressen der späteren Gemeinde des Matthäus. In methodischer Hinsicht lässt sich in beiden Darstellungen die gleiche Denkbewegung beobachten. Der Erzähler macht an der Person Jesu etwas deutlich und knüpft daran per Analogieschluss die Folgerung, dass Entsprechendes auch bei uns, d.h. in der Gegenwart seiner Gemeinde gilt. Die matthäische Version der Erzählung vom Ährenraufen am Sabbat in Mt 12,1–8 stellt eine sanfte, aber erkennbare Überarbeitung von Mk 2,23–28 dar. Während dort die Befindlichkeit des Menschen zum Maßstab der Sabbateinhaltung erhoben wird (Mk 2,27), legt Matthäus insofern eine kasuistische Perspektive über die Erzählung, als er gleich zu Anfang den Ausnahmetatbestand des Hungerns als Argument einführt (V.1). Damit verstärkt er die Bedeutung des Hinweises auf den Hunger Davids in Mt 12,3, ein Motiv, das bereits durch Mk 2,25 vorgegeben war. Durch die Streichung von Mk 2,27 halbiert Matthäus das in Mk 2,27.28 vorliegende Doppellogion. Er verlagert damit in 12,8 das Gewicht der Erzählung einseitig auf die aus Mk 2,28 entnommene christologische Aussage. Die Menschengemäßheit ist kein Kriterium für den Umgang mit dem Sabbatgebot. Dass der Sabbat um des Menschen willen gemacht ist und nicht umgekehrt der Mensch um des Sabbats willen, möchte Matthäus nicht von Markus wiederholen. Ein Kriterium, das sich an der Anthropologie orientiert, ist nicht das Seine. Durch das von Matthäus gegenüber Markus eingefügte begründende γα ρ wird die hoheitliche Christologie zur Trägerin der als Ausnahme charakterisierten Übertretung. Mt 12,8 erhält durch die Tilgung von Mk 2,27 eine Sonderstellung. Es ist der hierarchische Status Jesu, der den Regelverstoß in diesem Ausnahmefall rechtfertigt. Genau diese Sichtweise hatte der Erzähler in den Versen 5 und 6 bereits vorbereitet. Selbst für die Priester im Tempel gab es Ausnahmeregelungen. Nach Num 28,9.10 steht das Sabbatopfer über dem Gebot der Sabbatruhe. Wenn also die Priester am Sabbat das Opfer darbringen, brechen sie zwar den Sabbat, aber das ist billigend in Kauf zu nehmen. Im Falle von Jesus gilt darüber hinaus: Hier ist Größeres als der Tempel (V.6). Um Jesus in das Licht prophetischer Zustimmung zu stellen, führt V.7 überdies die ethisch-theologische Maxime aus Hos 6,6 an: Erbarmen will ich und nicht Opfer. Da es in der Episode vom Ährenraufen nicht um Opfergaben geht, wirkt das Zitat insbesondere über das Barmherzigkeitsmotiv. Die aus dem Glauben kommende ethische Bereitschaft ist das gewünschte Ideal. Die Negativabgrenzung, für die der Begriff Opfer steht, bezöge sich dann im Matthäuskontext auf eine formalisierte Gehorsamsforderung auf Kosten des situativ Gebotenen. Geopfert würde die Einsicht, dass der

6.14 Autoritative Auslegungen des Sabbatgebots: Mt 12,1–14

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christologische Hoheitsstatus Jesu die Übertretung des Sabbatgebots in einem nachvollziehbaren Ausnahmefall rechtfertigt. Die Vorlage für Mt 12,9–14 bildet die aus Mk 3,1–6 stammende Erzählung von der Heilung der verdorrten Hand am Sabbat. Auch in dieser Erzählung geben das Verhalten und Argumentieren Jesu das Muster für die Sichtweise ab, die der Erzähler zu vermitteln sucht. Die redaktionelle Bearbeitung der Markusvorlage lässt sich als Begradigung des leicht verschlungenen Verlaufs von Mk 3,1–6 verstehen. Mt 12,9–10 + 13–14 fassen die erzählte Handlung der sechs Markusverse zusammen. Sie stellen eine beschleunigte Version des erzählten Inhalts dar. Um so mehr Raum und Aufmerksamkeit kommt im Verhältnis dazu der in V.11.12 eingeschobenen Parabel zu.115 In der Matthäusversion wird die Erzählung unmittelbar zu einem weiteren Lehrstück über einen Ausnahmetatbestand. Der Testfall für Jesus wird in V.10 anders als in Mk 3,2 als direkte Frage an ihn gerichtet. Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen? Darauf entgegnet Jesus in schriftgelehrter Weise mit der Kurzparabel von einem in den Brunnen gefallenen Schaf. Die Selbstverständlichkeit, in dieser Notsituation helfend einzugreifen, gibt den Vergleichspunkt an. Anders ausgedrückt: Auf die Frage, ob es erlaubt sei, am Sabbat zu heilen, antwortet Jesus: Es kommt darauf an! Die Parabel steht für spezielle Notfälle, die eine unbarmherzige und mechanische Sabbatpraxis ausschließen. Der Schluss a minore ad maius in V.11 unterstreicht, dass der für die Rettung eines bedrohten Tierlebens geltende Maßstab erst recht auf menschliche Not anzuwenden ist. Die Analogie wird in V.12b zu der Folgerung erweitert: Aus diesem Grund ist es erlaubt, Gutes zu tun. Die Verwendung des Adverbs καλωÄ ς ruft dabei die Formulierung von den schönen Werken aus der Bergpredigt in Mt 5,16 auf. Jesus erhält die Rolle dessen, der die Auslegung festlegt. Ihm kommt die Definitionsmacht zu. Nachdem die Maßstäbe des Handelns geklärt sind, berichtet V.13 kurz und bündig von der erfolgten Heilung. Dabei lässt der Erzähler noch Raum für die Feststellung des absoluten Heilungserfolgs. Die vertrocknete Hand wurde nicht lediglich wiederhergestellt, sie wurde zu einhundert Prozent geheilt, wie die gesunde andere Hand! Dass Jesus die Gesundung des Mannes in Perfektion vornimmt, verwundert den Erzähler nicht. Diese Tat stellt er in V.13 als Faktum fest. Was er in den vier Versen 9–12 als hervorstechenden Zug Jesu entfaltet, ist dessen autoritative Klärung der Frage der Sabbateinhaltung. Im begründeten Ausnahmefall steht dem Gutestun am Sabbat nichts im Wege. Jesus ist für Matthäus der Ausleger, der dieses entscheiden darf. 115 Das Bildwort wird als Argument auch in den lukanischen Erzählungen über Sabbatkonflikte Jesu in Lk 13,15.16 und 14,5 verwendet. Zum Verhältnis von Mt 12,11 zu Lk 14,5 vgl. E. L, Jesu Worte über den Sabbat, in: W. Eltester (Hg.), Judentum, Urchristentum, Kirche, FS Joachim Jeremias, Berlin 1960, 79–89, 86–87, und J. R, Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien, Göttingen 1970, 66. Vgl. P.-G. K, Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 151–164, 161 Anm. 29.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Das Matthäusevangelium leitet aus Jesu autoritativer Entscheidung eine Legitimation für die Christusglaubenden ab. Sie können sich unter Bezug auf Jesus und seine Hermeneutik dessen normative Vorgabe zueigen machen. Für die Pharisäer in V.14 ist dies der Anlass, um über die Tötung Jesu zu beratschlagen. Der Streit um die sachgemäße Auslegung der Tora birgt ein Konfliktpotential, das schlussendlich die Gründe für die Hinrichtung Jesu in sich tragen wird.116

6.15 Das Christusbekenntnis des Petrus: Mt 16,13–20 Eine Schlüsselstelle im Matthäusevangelium bildet Mt 16,13–20. Wie in der Vorlage in Mk 8,27–30 geht es in der Sache um das Christusbekenntnis des Petrus. In titularer Hinsicht erweitert Matthäus jedoch das Spektrum der Zuschreibungen an Jesus. Jesus hält sich im Norden Israels in der Gegend von Cäsarea Philippi auf. Unterwegs erkundigt er sich bei seinen Jüngern, was die Leute von ihm reden. Konkret will er wissen, für wen ihn die Menschen halten. Anders als mit dem schlichten Personalpronomen im Akkusativ µε in Mk 8,27 spricht er bei Matthäus von sich als dem Menschensohn. In der Reihe der Antworten ergänzt V.14 über Johannes den Täufer, Elia und einen der Propheten hinaus den Namen Jeremia117. Auf Jesu Nachfrage nach der Auffassung der Jünger antwortet Petrus in V.16: Du bist der Christus und ergänzt diese Aussage über Mk 8,29 hinaus um den Zusatz der Sohn des lebendigen Gottes. Der Christustitel wird in die Inanspruchnahme der Gottessohnschaft für Jesus hineinverlagert. Die vor dem jüdischen Verstehenshintergrund naheliegende politisch-nationale messianische Deutung des Christustitels tritt zurück. Nach vorn schiebt sich der Anspruch der göttlichen Autorität Jesu. Die Antwort Jesu stellt eine Korrektur der markinischen Lesart der Szene dar. Während Jesus in Mk 8,30 Petrus ein schroffes Schweigegebot an die gesamte Jüngergruppe entgegenhält, belohnt er Petrus in Mt 16,17 mit einer Seligpreisung. Er würdigt dessen Erkenntnis als das Ergebnis einer Offenbarung Gottes. Zugleich verleiht er Petrus über ein Wortspiel eine gemeindefundierende Würdestellung (V.18). Des Weiteren überträgt er ihm die Schlüsselgewalt, d.h. die Vollmacht, bereits auf Erden Entscheidungen zu treffen, die im Himmelreich Relevanz besitzen (V.19). Auf theologischer Ebene werden damit eschatologi116 Bezeichnenderweise verschwinden in diesem Vers die in Mk 3,6 noch mitgenannten Herodianer. Den Streit um das richtige Sabbatverständnis führen bei Matthäus hier exklusiv die Pharisäer. 117 Ob und welcher Aspekt durch diese Namensnennung zusätzlich ins Spiel kommt, bleibt offen. Vgl. U. L, Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband Mt 8–17 (EKK I/2), Solothurn/Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 21996, 460. Vgl. jedoch die Zusammenstellung von Motiven, die einen gedanklichen Zusammenhang mit der Gestalt des Jeremia herstellen, bei K, Evangelium nach Matthäus (s. Anm. 28), 259.

6.16 Verurteilung und Kreuzigung Jesu: Mt 26–27

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sche Entscheidungen in die ekklesiologische Verantwortung hineingelegt. Aus dem Petrusbekenntnis resultiert ein Anwendungs- und Handlungsbezug, den die Gemeinde im Gefolge des Petrus für sich in Anspruch nimmt.118 Mit der Umformung der Szene beweist Matthäus didaktisches Geschick. Jesu Wertschätzung stellt Petrus in der Rolle des Schülers, der für seine richtige Antwort belobigt wird. Jesus selbst erscheint in der Rolle des Pädagogen, der eine Bewertung ausspricht. Jenseits der Didaktik löst Matthäus mit seiner Abkehr von der Markusversion die markinische Verknüpfung des Christusbekenntnisses mit der Verurteilung Jesu auf (Mk 14,61). Für Matthäus zählt die richtige Einsicht, die von dem Jesus nächststehenden Jünger geäußert wird. Der Lehr- und Vermittlungsprozess innerhalb der Jesusgruppe funktioniert. Im engsten Anhängerkreis ist angemessene Einsicht für den Status Jesu vorhanden. Die Aufforderung an die Jünger in V.20, nicht auszuplaudern, dass Jesus der Christus ist, liegt nicht an dem Gefahrenpotential dieser Zuschreibung. Vielmehr bleibt diese Erkenntnis einstweilen an den inner circle des Jüngerkreises gebunden. Das Christusbekenntnis ist an die Verbundenheit mit Jesus und seiner Botschaft geknüpft. Jesus betreibt mit dieser Szene sowie in den anschließenden Ausführungen über sein künftiges Leiden, seine Auferstehung (16,21–23) und die Kreuzesnachfolge (16,24–28) Jüngerbelehrung. Die Verkündigung Jesu ist gemeindebezogen, und die Jünger stehen für die εÆ κκλησι α. Das Matthäusevangelium verknüpft auf diese Weise ein weiteres Mal Christologie und Ekklesiologie. Die Gemeindebildung folgt aus dem richtigen Jesus-Christus-Bezug. Verklammert ist die matthäische Ekklesiologie mit der Eschatologie. Wie Mt 16,19 irdische Entscheidungen mit eschatologischen Konsequenzen verknüpft, so wird das Kriterium im Gericht laut Mt 25,40 sein, wie jemand Jesus Christus im geringsten Bruder begegnet ist.

6.16 Verurteilung und Kreuzigung Jesu: Mt 26–27 6.16.1 Die Ursache des Todes Jesu: Mt 26,63.64 Das Markusevangelium hatte als innerste Ursache des Todes Jesu dessen autoritatives normsetzendes Handeln und den Mechanismus von Erhöhung und Erniedrigung diagnostiziert. Jesu Wirken hatte permanent die Frage nach seiner Stellung zu Gott aufgeworfen. Sein Handeln führte zu Rückfragen nach der Berechtigung seines Tuns – zu Respekt und Bewunderung, aber auch zu Furcht vor ihm. Dämonen, Geheilte, Jünger wie Gegner hatten wiederholt Größenzuschreibungen vorgenommen. Statusfragen beschäftigten nicht zuletzt die Jünger

118 Vgl. P, Konflikt (s. Anm. 3), 336: Die „Antwort des Petrus“ ist „als überlegte Überzeugung im Namen der ganzen Gemeinde aufzufassen“.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

in seinem Umfeld (Mk 10,35–45). Jesus selbst hatte sich bemüht, der Exponierung seiner Person zu entgehen. Immer wieder wies er die Versuche zurück, ihn zu erhöhen. Als ihm das im finalen Verhör vor dem Hohepriester nicht mehr gelang, bedeutete dies sein Todesurteil. Von dieser Dramaturgie rückt Matthäus ab.119 Im Ergebnis sind es zwei Sachverhalte, die nach matthäischer Darstellung über kurz oder lang zum Tod Jesu führen. Die eine Triebfeder des Widerstands gegen Jesus ist seine Toraauslegung. Sie führt ihn in erbitterte Auseinandersetzungen mit Pharisäern, Schriftgelehrten und Sadduzäern. Dabei fungieren die Pharisäer als die „Hauptträger der Polemik gegen Jesus“120. Gemeinsam mit den beiden anderen Personengruppen greifen sie Jesu Lehre und Verkündigung an. In der Passionsgeschichte gehen dagegen Hohepriester und Älteste als die Hauptakteure gegen Jesus vor.121 Sie sehen sich durch die Gottessohnschaft Jesu provoziert und suchen Jesus aus diesem Grund zu Fall zu bringen. Gemeinsam erschweren beide Gegnergruppen „die Mission Jesu von Anfang bis zum Ende der Geschichte“122. Greifbar wird die veränderte Situation im Matthäusevangelium bei dem Umgang mit den für die Markusdarstellung zentralen Worten des Petrus. Dessen Bekenntnis συÁ ειË οë χριστο ς aus Mk 8,29 wird in identischer Formulierung im Mund des Hohepriesters in Mk 14,61 zum Auslöser der Verurteilung Jesu. Dagegen hatte Petrus in Mt 16,16 die absolute Christusbezeichnung erweitert und das Bedeutungsspektrum in eine bestimmte Richtung gelenkt. Der Christustitel ist in Mt 16,16 mit einer Aussage zum Gottessohnverhältnis Jesu und einer Gottesprädikation verknüpft: Du bist (der) Christus, der Sohn des lebenden Gottes. Die national und politisch enggeführte Interpretation des Christustitels wird einem deutlicher spirituell-religiösen Verständnis zugeführt. Die behauptete Gottessohnschaft Jesu markiert den zentralen Konfliktpunkt.123 Der das Verhör entscheidende Disput zwischen dem Hohepriester und Jesus in Mt 26,63.64 verschiebt gegenüber Mk 14,61.62 Worte aus dem Mund Jesu in den des Hohepriesters. Einführend nimmt zunächst der Hohepriester selbst den lebenden Gott, von dem in Mt 16,16 Petrus in Bezug auf Jesus gesprochen hatte, als Instanz für sich in Anspruch. Er zieht die Gottesprädikation von Jesus ab und ruft den lebenden Gott als Zeugen der Wahrheit gegen Jesus an. Damit löst er die Verbindung zwischen Gott und Jesus, die den Kern des Petrusbekenntnisses in 119 Das ist mehr als eine Akzentverschiebung. Anders T. S, Der König am Kreuz. Politik und Religion in der Passionsgeschichte, in: M. Bär/M.-L. Hermann/T. Söding (Hg.), König und Priester. Facetten neutestamentlicher Christologie, FS Claus-Peter März, EThS 44, Würzburg 2012, 89–120, 100: „Matthäus folgt in seiner Passionsgeschichte weitgehend Markus“ und unterstreicht „die markinische Grundlinie“. 120 P, Konflikt (s. Anm. 3), 104. 121 Vgl. P, Konflikt (s. Anm. 3), 107–109. 122 P, Konflikt (s. Anm. 3), 113. 123 Vgl. P, Konflikt (s. Anm. 3), 110.115 und 185: „von 26,63 her […] lässt sich erahnen, dass die göttliche Herkunft Jesu unterschwellig immer der wahre Grund der Feindschaft im Laufe der Erzählung war“.

6.16 Verurteilung und Kreuzigung Jesu: Mt 26–27

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16,16 ausmacht, auf. Er stellt Jesus in die Distanz zu Gott, indem er diesen zum Schiedsrichter gegen Jesus ausruft. Die direkte Frage an Jesus aus Mk 14,61 formt er in doppelter Weise zu einer indirekten um. Damit gibt er seiner Erkundigung bereits vorab einen hypothetischen Charakter: damit du uns sagst, ob … . Zugleich gibt der Hohepriester seinerseits dem Christustitel die für ihn relevante Zuspitzung der Sohn Gottes. Hier klingt noch das Wissen durch, dass die Inanspruchnahme des Christustitels als solche kein Sakrileg darstellt. Mit der Erweiterung der Aussage ändert sich das. Die unterstellte Inanspruchnahme der Gottessohnschaft stellt für den Hohepriester den ultimativen Tabubruch dar. Mit V.64 distanzieren sich sowohl der matthäische Erzähler als auch Jesus von dieser Zuspitzung. Die Antwort Jesu betont, dass es sich um eine Behauptung des Hohepriesters handelt. Die markinische Ich-Aussage εÆ γω ειÆ µι in 14,62 wird zu der Du-Botschaft συÁ ειËπας. Inhaltlich stellt der matthäische Jesus der Unterstellung des Hohepriesters durch πλη ν pointiert seine Menschensohnaussage als Gegenrede gegenüber. Auf diese Weise begrenzt er selbst den Hoheitsanspruch seiner Person. Die Menschensohnaussage von V.64 kontrastiert die überzogenen Hoheitszuschreibungen des Hohepriesters in V.63. Als Fazit ergibt sich: Die Nähe zum lebenden Gott, in die Petrus Jesus in 16,16 gerückt hatte, wird vom Hohepriester kritisiert. Der lebende Gott gilt ihm als die Jesus gegenübergestellte Instanz. Die Interpretation des Christustitels als Gottessohnaussage wird Jesus als verwerflich vorgehalten. Der Hohepriester unterstellt Jesus, eine zu große Nähe zu Gott für sich in Anspruch zu nehmen. Dem widerspricht Jesus mit seiner betonten Gegenüberstellung der Menschensohnaussage. Diese Reaktion findet jedoch kein Gehör mehr. Sie wird wie die Relativierung, die Jesus in Mk 14,62 vornimmt, überschrien.

6.16.2 Die Hinrichtung Jesu: Mt 27,45–54 Die Pointe der Sterbeszene Jesu bei Matthäus liegt darin, dass sie den Tod Jesu mit der Auferweckung Verstorbener verknüpft. Im Moment des Todes Jesu stehen andere Menschen vom Tode auf (Mt 27,52).124 In narrativer Weise wird die lebenstiftende Bedeutung des Sterbens Jesu für andere entfaltet. Paulus hatte in seinen tauftheologischen Gedanken in Röm 6,3.4 den Tod Jesu Christi und den Tod der Glaubenden parallelgeführt und anschließend eine Analogie zwischen der Auferweckung Christi und dem künftigen Lebenswandel der 124 Die Antwort auf die Frage, um wen es sich bei den genannten Heiligen handelt, sieht A. S, Resurrection of the Righteous Sufferers in the New Testament. The Case of Matthew 27:52–53, in: M. Seleznev/W.R.G. Loader/K.-W. Niebuhr (Eds.), The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, WUNT 459, Tübingen 2021, 365–380, mit 2 Makk 7 gegeben. Jesu Tod werde als Tod „of the righteous sufferer“ (366) verstanden, analog dazu seine Auferweckung als Auferweckung eines Gerechten. Matthäus selbst allerdings „does not specify who these saints are“ (370).

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Christusglaubenden formuliert. Die Taufe auf Christus bewirkt die Teilhabe an dessen Todesschicksal. Wie sich für Christus daran die Auferweckung anschloss, so gehen auch die Christusglaubenden einer neuen Zukunft entgegen. Allerdings vermeidet Paulus zu sagen, die Christusglaubenden teilen Christi Auferweckungswirklichkeit. Die Analogie bezieht sich auf die Lebensführung der ηë µειÄς, ihren Wandel. Dieser soll eine neue Qualität erhalten.125 Die Taufe in den Tod Jesu Christi hinein mündet bei Paulus in eschatologischer Hinsicht in die Einweisung in ein christusgemäßes Leben. Die Auferweckung der Christusglaubenden ist in diesem Zusammenhang für Paulus noch kein Thema. Mt 27 setzt in dieser Hinsicht einen anderen Akzent. Die Eröffnung der Sterbeszene Jesu in Mt 27,45–54 weicht in charakteristischer Weise von der Markusvorlage ab.126 Bereits der Beginn in V.45 mit αÆ ποÁ δε (von) akzentuiert über das allen drei Synoptikern gemeinsame εÏ ως (bis) hinaus, dass Matthäus primär daran interessiert ist, den Zeitraum des folgenden Geschehens zu benennen. Das entspricht der durchgängigen Tendenz des Matthäusevangeliums, in zeitlicher Hinsicht Bögen zu spannen. Konsequenterweise schleift Mt in V.46 die Exaktheit des Zeitpunkts durch ein περιÁ δε ab127: Um die neunte Stunde herum rief Jesus mit lauter Stimme. Mk hatte in 15,34 durch die erneute Zeitangabe τηÄì εÆ να τηì ωÏ ραì noch den Einschnitt in die laufende Zeit betont. Auch die für die Markusfassung konstitutive exakte Zuordnung der Lichtverhältnisse zu den geschilderten Ereignissen wird aufgegeben128. An die Stelle der strikt gegliederten Zeit tritt der alles umschließende Gesamtzeitrahmen. Anzunehmen ist, dass es nach matthäischer Wahrnehmung im Unterschied zu Markus zum Zeitpunkt des Todes Jesu dunkel ist. Die aramäisch formulierten letzten Worte Jesu werden bei Matthäus in V.46 leicht hebraisiert, d.h. an hebräische Sprachkonventionen herangeführt. Der Sinn liegt darin, dass die Wort Jesu auf diese Weise biblischer, sprich: den hebräischen Schriften Israels entsprechender klingen. Daneben fällt auf, dass Matthäus das markinische finale ειÆ ς τι : zu was/wozu hast du mich verlassen? in ein kausales ιë νατι umwandelt129. Gemeint ist: Auf welcher Grundlage und in diesem Sinne, damit was/warum hast du mich verlassen? Dies entspricht der für Matthäus typischen Tendenz, derzufolge im Leben Jesu nichts ohne Ursache geschieht und 125 Vgl. M. W, Der Brief an die Römer, Teilband 1: Röm 1–8 (EKK VI/1), Neukirchen-Vluyn/Ostfildern 2014, 374. 126 Der Einzeldurchgang durch den Text erfolgt in engem, teilweise wörtlichem Anschluss an K, Weg vom Grab! (s. Anm. 20), 83–87. 127 E. K, Das Matthäusevangelium (HNT 4), Tübingen 41971, 224: „die Zeitangabe durch περι [...] als ungefähre hingestellt“. 128 Vgl. L, Matthäus (EKK I/4) (s. Anm. 16), 334. 129 Im Blick auf die Zitation von Ps 22 ist nach L, Matthäus (EKK I/4) (s. Anm. 16), 342–343, nicht davon auszugehen, dass der gesamte Psalm einschließlich des lobpreisenden Schlusses anklingt. Wegen der zu beobachtenden Steigerung des Verlassenheitsmotivs sei ein „unterschwellige[r] Doppelsinn“ (343) nicht naheliegend.

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in theologischer Hinsicht alles seinen Grund besitzt. Auch dieses Sterben gründet in Gottes Vorgeschichte mit Israel. Das matthäische warum ist daher nicht als Verzweiflungsschrei zu deuten, selbst wenn man es sehr nahe an der Markusvorlage sieht und wie in den deutschen Bibelübersetzungen verbreitet beide Fassungen sogar gleich übersetzt.130 V.47 enthält durch das Adverb εÆ κειÄ eine Umstandsbestimmung des Ortes. Der deiktische Hinweis dort geht über die Markusvorlage hinaus. Er signalisiert ein matthäisches Interesse am Ort des Geschehens. Gleichzeitig tilgt Matthäus jedoch die für Markus konstitutive Bedeutung der Richtungszuweisungen. Aus den Dabeistehenden der Markusvorlage werden Stehende.131 Wie bei den Zeitangaben und den Lichtverhältnissen ist auch bei den räumlichen Zuordnungen bei Matthäus der Gesamtrahmen wichtiger als exakte Detailangaben132. Eine Vorbereitung für die matthäische Version des Bekenntnisses des Hauptmanns in V.54 stellt das absolute ουÎ τος am Ende von V.47 dar. Die Frage, wer dieser ist, bildet den roten Faden durch die gesamte matthäische Jesusdarstellung.133 Das Demonstrativum greift mit dem Ende seines Wirkens im Moment des Todes die Frage nach der Besonderheit Jesu ein weiteres Mal auf. Die Auslassung von οë αÍ νθρωπος und die an das Satzende verlegte Stellung des Demonstrativpronomens bewirken inhaltlich und atmosphärisch eine Akzentverschiebung. Betont wird von Matthäus die Gottessohnschaft dieses, der ausdrücklich nicht länger als ein Mensch bezeichnet wird. Was Jesus im Verhör von dem Hohepriester als Zentralvergehen angelastet wurde – die angebliche Inanspruchnahme einer ihm nicht zustehenden göttlichen Würde – unterstreicht der Erzähler mit seiner Umformulierung als die Jesus zukommende Wahrheit. Bemerkenswert ist ein Detail der Szene in V.48 und 49. Matthäus versteht in V.48 im Unterschied zu Mk 15,36 die Essigtränkung Jesu als eine zusätzliche Folter. Dies geht aus der Umkehrung der Aufforderung in dem Wortwechsel zwischen dem einen, der Jesus den Schwamm entgegenhält, und den übrigen beteiligten Personen hervor. In Mk 15,36 läuft der eine, tränkt einen Schwamm mit Essig, steckt ihn auf ein Rohr und lässt Jesus trinken. Dabei fordert er die 130 Eine Ausnahme bildet die revidierte Lutherübersetzung von 2017, die zu Mk 15,34 die alternative Übersetzungsmöglichkeit wozu vermerkt. 131 Aus den παρεστηκο τες von Mk 15,35, deren Herumstehen bei Mk sinnenfälliger Ausdruck ihrer inneren Verhältnislosigkeit Jesus gegenüber ist, werden in Mt 27,47 εë στηκο τες. Die Richtungslosigkeit der Statisten in der Szene, die für die markinische Darstellung von zentraler Bedeutung ist, da sie die Folie dafür abgibt, das spätere unvermittelte Heraustreten des Centurio aus seiner Richtungslosigkeit (Mk 15,39) zu verstehen, ist für die matthäische Aussageintention ohne Belang. 132 Entsprechend fehlt im Unterschied zu Mk 15,39 in Mt 27,54 sowohl die Bezeichnung des Hauptmanns als οë παρεστηκω ς als auch seine unmittelbar anschließende Zuordnung εÆ ξ εÆ ναντι ας αυÆ τουÄ . Zur Bedeutung des Herumstehens und der abschließenden Verortung des Hauptmanns in der markinischen Szene vgl. im einzelnen P.-G. K, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin/New York 2001, 273–274. 133 Vgl. u.a. Mt 3,17; 8,27; 10,23; 17,5; 21,10; 27,37.54.

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übrigen in der 2. Person Plural auf, lasst, wir wollen sehen, ob Elia kommt und ihn herabnimmt. Die Aktion des einen zielt auf einen Zeitgewinn, daher sollen die anderen ihn gewähren lassen. Der Sinn der Essigtränkung besteht darin, das Sterben Jesu hinauszuzögern. Der Trank kann dann nicht als Gift verstanden werden. Offensichtlich ist er als ein Aufputschmittel zur kurzfristigen Stabilisierung des Kreislaufs gedacht. Der zeitliche Aufschub brächte Klarheit, ob der zweifache ηλι-Ruf des sterbenden Jesus tatsächlich mit dem Kommen des Elia beantwortet würde. Der Wortwechsel in der Matthäusszene verläuft in umgekehrter Richtung: Und sogleich lief einer von ihnen und nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und tränkte ihn (V.48). Die übrigen aber sagten: Lass, wir wollen sehen, ob Elia kommt und ihn rettet (V.49: αÍ ϕες ιÍδωµεν). Hier fordert die Gruppe den einen mit einer Aufforderung in der 2. Person Singular auf, sein Handeln zu unterlassen. Der Zeitgewinn und die lebensverlängernde Maßnahme werden gerade darin gesehen, den Essig nicht zu trinken. Offenkundig gilt die Essigtränkung in diesem Zusammenhang als eine den Tod beschleunigende Maßnahme. Entsprechend versprechen sich die Schaulustigen die Verlängerung der Sterbephase dadurch, dass der eine die Essigtränkung unterlässt. Ob der Essig darüber hinaus als zusätzliche Quälerei verstanden ist oder als Erlösung, damit der Todeskampf Jesu schnell vorbei geht, bleibt offen. Jesus jedoch, wie schon in V.46 wiederum mit lauter Stimme schreiend, ließ das Pneuma los (V.50). Die Umschreibung des markinischen εÆ ξε πνευσεν – er geistete aus, er entgeistete – mit αÆ ϕηÄ κεν τοÁ πνευÄ µα – er ließ den Geist los – verstärkt bei Matthäus den Eindruck: Jesus beschließt sein Leben aktiv. Das Pneuma verlässt nicht ihn. Er selbst ist es, der sein Pneuma loslässt. V.51 beginnt zunächst fast genauso wie die Markusvorlage. Lediglich das siehe zu Beginn des Verses fügt Matthäus ein. Es handelt sich dabei um eine Aufmerksamkeit einfordernde alttestamentlich-biblische Einführungswendung. Und siehe deutet auf göttliches Wirken hin, wie schon in Gen 1,31. Und siehe, der Vorhang des Tempels wurde zerrissen/gespalten von oben bis unten. Bei Markus folgt auf diese Nachricht in Mk 15,39 unverzüglich das Bekenntnis des Hauptmanns. Matthäus liefert dieses ebenfalls, aber erst in V.54 nach einem Zwischenstück und mit der ihm eigenen Änderung. Die matthäische Erweiterung umfasst die Verse 51b bis 53.134 Die Konsequenz dieser erzählerischen Dehnung ist, dass das Zerreißen des Tempelvorhangs in V.51 in seiner Bedeutung zurückgenommen wird. Durch die Erweiterung wird dieses Ereignis auf die Rolle des ersten Teils eines weitergehenden apokalyptischen Szenarios reduziert135. Der Erzähler hebt auf dramatische Weise den su134 V.51b Und die Erde wurde erschüttert und die Felsen gespalten V.52 und die Gräber wurden geöffnet und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt und kamen aus den Gräbern heraus nach seiner Auferweckung und gingen in die heilige Stadt hinein und wurden vielen sichtbar. 135 Nach H. M, Die Jesusgeschichte – synoptisch gelesen, Stuttgart 1995, 217,

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pranaturalen Charakter des Geschehens hervor. Eine denkwürdige Begebenheit reiht sich an die andere. Innerhalb der Aufzählung fällt erneut das matthäische Interesse an Ortsangaben – der Erde, den Felsen, den Gräbern, der heiligen Stadt – auf. V.52 und 53 verbinden die Auferweckungsthematik mit dem Sterben Jesu136. Die Todesstunde Jesu wird zum Datum der Auferweckung vieler entschlafener Heiliger. Auf der Ebene des Erzählten bleibt dieses Geschehen für die Augen eventueller Zuschauer vor Ort verborgen. Die Auferweckten bleiben zunächst in ihren Gräbern. Zugang zu dem Ereignis haben nur die Leserinnen und Leser der Erzählung. Ihnen eröffnet der Erzähler die Möglichkeit der Verknüpfung des Todes Jesu mit der Auferweckung anderer Personen. Beide Geschehnisse erfolgen zeitgleich und stehen in einem inneren Sinn- und Sachzusammenhang. Mt 27,52.53 stellt die Beziehung zwischen dem Geschick Jesu und dem anderer Menschen in einer von Paulus unterschiedenen Weise dar. 1 Kor 15,20–23 orientiert sich an einer chronologischen Ordnung. Ihr zufolge wird Christus als Erster der Verstorbenen erweckt, anschließend – bei seiner Parusie – die, die zu ihm gehören. Mt 27,53 wahrt die christologische Korrektheit der Reihung durch ein retardierendes Moment. Das Öffentlichwerden der Auferweckung der vielen Leiber wird der Auferweckung Jesu erst folgen. Das Herausgehen aus den Gräbern und das Offenbarwerden in Jerusalem wird an Jesu vorherige Auferweckung geknüpft137. Matthäus riskiert damit die Pointe der Erzählung, denn die Darstellung nimmt bereits den Inhalt der Ostererzählung vorweg. Die Auferweckung Jesu ist in der Schilderung seines Todes am Kreuz bereits vorab erzählt138, obwohl sie im Duktus der Erzählung erst zwei Tage später am Ostermorgen erfolgt.139 Matthäus behält durch diese Verflechtung ein zentrales theologisches Anliegen der Markusvorlage bei. Der Tod Jesu setzt das Auferweckungsgeschehen unmittelbar aus sich heraus140. In der Sache steht auch bei Matthäus nach der könnte „hinter Mt 27,51–53 eine apokalyptische relecture von Ez 37“ stehen; vgl. auch J. G, Das Matthäusevangelium (HThK I/2) (Sonderausgabe), Freiburg, Basel, Wien 2000, 476–477. 136 L, Matthäus (EKK I/4) (s. Anm. 16), 356, hebt zu Recht die engen Bezüge von V.51–54 zur Osterperikope 28,1–10 hervor. 137 Der Weg der Auferweckten führt unmittelbar weg vom Grab. 138 Vgl. M. R, Auferstehung Jesu in der Stunde seines Todes? Zur Botschaft von Mt 27,51b-53, SBB 8, Stuttgart 1978, 75. 139 Laut S, Resurrection (s. Anm. 124), 369, fügt das der Passionsgeschichte „a paschal color“ hinzu. 140 Die bei L, Matthäus (EKK I/4) (s. Anm. 16), hervortretende Rationalisierung: „Warum sollten die auferstandenen Heiligen zwei Tage lang entweder in ihren offenen Gräbern warten oder wenigstens draußen vor der Stadt bleiben und sie erst nach der Auferstehung Jesu betreten?“ wird dem theologischen Sachverhalt bei Mt nicht gerecht, da sie die geschilderten Ereignisse unter den Gesichtspunkten der Faktizität und der chronologischen Stringenz in den Blick nimmt. Entsprechend erscheint Luz die Wendung µεταÁ τηÁ ν εÍ γερσιν als „wenig sinnvoll“ (366). Sie sei „an nicht ganz passender Stelle in den Text gerutscht“. Mt oder

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Erzählung vom Sterben Jesu nichts Entscheidendes mehr aus, das nicht bereits genannt wäre. Die Wirkung des Todes Jesu übersteigt in soteriologischer Hinsicht das Maß dessen, was mit Jesu eigener Auferstehung in Mt 28,1–8 noch folgt. Das Bekenntnis der Zeugen unter dem Kreuz – bei Matthäus kommen zu dem Centurio noch Wachleute (Plural) hinzu141 – ist bei Matthäus im Unterschied zu Markus nicht durch den Eindruck des Sterbens Jesu motiviert. Die Triebfeder bildet vielmehr die Furcht. Die römischen Soldaten werden von einem gewaltigen Schrecken über die Begleitumstände des Sterbens Jesu erfasst. Der ganze Kosmos gerät in Bewegung, apokalyptische Szenen spielen sich ab – der zwingende Eindruck fordert den Augenzeugen des Geschehens wie der Leserschaft das Zugeständnis ab: Hier hat unzweifelhaft Gott seine Hand im Spiel. Unterschwellig schimmert ein weiteres Mal die von Matthäus gelegentlich angewandte Technik der Motivierung durch Affektstimulierung durch. Die in der Szene agierenden Personen werden in Angst versetzt, um sie zur richtigen Einsicht zu bewegen. Das Weglassen von οë αÍ νθρωπος aus Mk 15,39 in V.54b wertet das Demonstrativum ουÎ τος zu einer christologischen Bezeichnung auf. Damit wird retrospektiv ein Bogen zu V.47 geschlagen: Den Elia ruft dieser, der Gottessohn. In der erzählten Welt bleibt Jesus einerseits ein Mensch. Im Rahmen der matthäischen Erzählintention und ihrer Bedeutungszuweisung dringt andererseits parallel die christologische Hochschätzung Jesu durch. Die Auslassung der Bezeichnung Mensch dokumentiert, dass es Matthäus gerade auf die Besonderheit Jesu im Unterschied zum bloßen Menschsein ankommt. Die zu Lebzeiten Jesu tödliche Bedrohung, die davon ausging, ihn als Gottessohn zu bezeichnen, ist nun durchgestanden. Erst vom Ende her und post mortem erhält der Status der Gottessohnschaft Jesu seine volle Geltung. Der Eingangsvers Mt 1,1 hatte über das Wirken Jesu die beiden titularen Zuordnungen der David- und der Abrahamsohnschaft gestellt, nicht jedoch wie die Markusvorlage auf die Gottessohnschaft abgehoben. Der Vorwurf der Inanspruchnahme der Gottessohnschaft war schließlich in Mt 26,63–66 zum Anlass für den Schuldspruch des Hohepriesters geworden. Die Verbindung Jesu mit der Königsbezeichnung hatte sein Leben von Geburt an von politischer Seite gefährdet. Sie wurde am Ende im titulus crucis in Mt 27,37 als Verurteilungsgrund protokolliert. Mit dem Bekenntnis des Hauptmanns unter dem Kreuz wird die Gottessohnschaft Jesu vollgültig aus Menschenmund bestätigt.

ein nachmatthäischer Glossator hätte sich „ungeschickt“ verhalten, der Verweis stünde „an falscher Stelle“ (367). Damit wird eine Rationalität, die nicht der Logik der erzählten Welt des Matthäus entspricht, zum Maßstab für die Sinnhaftigkeit der matthäischen Aussage gemacht. 141 Wenn damit auf die in Mt 27,27 genannte Kohorte angespielt wäre, kämen „sagenhafte 600–1000 Mann“ in den Blick! Vgl. U. P, Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium, BThSt 100, Neukirchen-Vluyn 2008, 95.

6.17 Die Auferstehung Jesu als Demonstration göttlicher Macht: Mt 28,1–8

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6.17 Die Auferstehung Jesu als Demonstration göttlicher Macht: Mt 28,1–8 Matthäus eröffnet die Schilderung der Geschehnisse am Ostertag in V.1 mit einer Verringerung der Zeitangaben. Gegenüber den vier Auskünften, die den morgendlichen Beginn des Tages in der Markusfassung anzeigen,142 beschränkt sich Matthäus auf zwei Hinweise. Der Gang der Frauen erfolgt nach dem Sabbat oder nach Ablauf des Sabbats; beim Anbruch bzw. Aufleuchten zum ersten Tag der Woche. Hier hängt viel von der Übersetzung des substantivierten Partizips εÆ πιϕωσκου σηì ab. Das Wort stammt von dem Verb εÆ πιϕω σκω und heißt übersetzt aufleuchten, hellwerden. Exakt übersetzen ließe sich die Formulierung mit: Während des Zeitraums der Nacht, der zum ersten Tag der Woche hin hell aufleuchtet. Gemeint wäre dann die Morgendämmerung des ersten Tages der Woche. Diese Übersetzung stände im Einklang mit der Markusvorlage, die von einem Geschehen am frühen Morgen berichtet. Rückt man den Lichtaspekt in dem Verb εÆ πιϕω σκω beiseite und übersetzt lediglich beim Anbruch des ersten Tags der Woche, könnte bereits der Samstagabend, konkret die Stunde nach dem Ende des Sabbats gegen 18 Uhr, gemeint sein. Da Matthäus das Motiv der morgendlichen Frühe und damit die eindeutige Zuordnung tilgt, ist nicht vollkommen auszuschließen, dass die Szene in Mt 28 tatsächlich in der Abenddämmerung nach dem Ende des Sabbats am abendlichen Beginn des neuen Tages situiert ist.143 Das Aufleuchten würde sich dann auf das Sichtbarwerden der drei Sterne beziehen, das am Abend den Anbruch des Sabbats markiert. Offenkundig ist in jedem Fall, dass Matthäus mit seiner Eröffnung der Erzählung in V.1 gegenüber Mk 16,1.2 die mythische Prägung und d.h. das einen Neuanfang ankündigende Schöpfungsmotiv reduziert144. An die Stelle der beabsichtigten Salbung Jesu durch die Frauen tritt bei Matthäus das Sehen des Grabes. Entsprechend spielt für Matthäus anders als für Markus und auch Lukas keine Rolle, woher die Frauen die Salbe nehmen: Bei Markus kaufen sie sie, bei Lukas fertigen sie sie selbst an. Der Akzent der Darstellung verlagert sich bei Matthäus von dem Anliegen der Frauen auf das Grabesgeschehen als solches. Nicht die intendierte Aktivität der Frauen, sondern der Ort des Geschehens rückt in das Blickfeld der Leserschaft. Unter dieser Perspektive ist für Matthäus auch der Hinweis verzichtbar, dass die zweite Maria in der Markusvorlage als die Frau des Jakobus bezeichnet wird. Die dritte Person, Salome, lässt er ganz unerwähnt.

142 Mk 16,1: Als der Sabbat vergangen war, 16,2: sehr früh, am ersten Tag der Woche, als die Sonne aufging. 143 So L, Matthäus (s. Anm. 45), 313; ebenso W. G, Das Evangelium nach Matthäus (ThHK 1), Berlin 41975, 568. Zu der Spannung zwischen den beiden Zeitangaben vgl. auch L, Matthäus (EKK I/4) (s. Anm. 16), 401, nach dessen Auffassung die Morgendämmerung gemeint ist. 144 Vgl. dazu K, Mythos (s. Anm. 132), 285–287.

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

Offenkundig genügt ihm, dass sich zwei Frauen auf den Weg zum Grab Jesu begeben. Darüber hinaus unterscheiden sich die beiden Marias in ihrer inneren Haltung von den drei Frauen bei Markus. Von sorgenvollen Überlegungen der Frauen über die Schwierigkeit der Grabesöffnung schweigt die matthäische Darstellung. Weder dieses Problem noch mit solchen Überlegungen befasste Jesusverehrerinnen passen nach matthäischer Darstellung zu den Geschehnissen am Auferweckungsmorgen. V.2 stellt entsprechend kurz die Faktenlage am Grab fest. Eventuelle Besorgnisse haben sich erübrigt. Der als Begründung nachgeschobene und irritierende Hinweis aus Mk 16,4, demzufolge der Stein vor dem Grab sehr groß war, hat auch Matthäus insofern beschäftigt, als er ihn an dieser Stelle weglässt. Allerdings hat er ihn im Sinne einer Vorausschau seiner Darstellung bereits in Mt 27,60 eingefügt und auf diese Weise das Problem beseitigt, worin der durch γα ρ angezeigte Begründungscharakter der Aussage liegen könnte. Der große Verschlussstein des Grabes lässt die Macht des Engels in Mt 28,2 umso größer erscheinen. Die Grabesöffnung als Problem erledigt sich auf diese Weise bei Matthäus. Der Vers wirkt, als entspringe er dem inneren Dialog des Erzählers mit Mk 16,3 und liefere dafür die sachgemäße Antwort. Jedenfalls kommt Mt 28,2 im Geschehensablauf lediglich noch die Aufgabe zu, prägnant die außerordentlichen Umstände der Grabesöffnung zu benennen. Wie schon bei der Kreuzigung Jesu (Mt 27,52–54) erschüttert ein großes Erdbeben den Ort. Das setzt in weiteres Mal ein Signal für die Leserinnen und Leser. Erneut kündigt sich unmittelbares göttliches Eingreifen an. Ein Engel steigt vom Himmel und rollt vor den Augen der Frauen und der Leserschaft den Stein weg. Anschließend setzt er sich obenauf. Seine demonstrative Haltung stellt eine Machtbekundung dar. Seht her! Schaut euch alles in Ruhe an! In der Matthäusversion der Erzählung dominiert himmlische Macht das Geschehen zu dämmriger Stunde am Grab. V.3 unterstreicht das durch weitere optische Informationen. Der Engel ist eine Lichtgestalt. Blitzend hell leuchtet sein Äußeres, gewandet ist er in einen schneeweißen Umhang. Auf einen Blick wird deutlich: Hier sitzt ein Repräsentant der himmlischen Welt. Der Eindruck auf die Wachposten ist entsprechend. V.4 teilt als erstes ihre Furcht vor dem Engel mit. Das äußere Beben schlägt auf ihren inneren Zustand durch. Dem Substantiv σεισµο ς in V.2 korrespondiert das Verb σει ω für ihre emotionale Verfassung. Die Grabeswächter fallen vor Erschütterung wie tot um. Das außergewöhnliche Geschehen wirft ein Licht auf die Besonderheit Jesu. Ungeheures bahnt sich an. In V.5 wendet sich der Engel an die Frauen. Er spricht sie mit der für göttliches Erscheinen wie die Auftritte von Himmelsboten charakteristischen Beruhigungsformel fürchtet euch nicht an. Ob das in der unheimlichen Szenerie verfängt, bleibt dahingestellt. Die Begründung, warum die Frauen sich nicht fürchten sollen, wirkt ambivalent. Der Engel verlautbart, er wisse schon, was sie an diesem Ort wollen. Er deutet an, dass er bereits auf sie gewartet habe. Ich weiß nämlich, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten sucht.

6.17 Die Auferstehung Jesu als Demonstration göttlicher Macht: Mt 28,1–8

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Bis zu dieser Stelle hält sich Matthäus relativ nah an die Markusvorlage. Lediglich ein Element streift er ab. Mit der Formulierung: Ihr sucht Jesus, den Nazarener, den Gekreuzigten präsentiert Mk 16,6 in komprimierter Weise den Lebenslauf Jesu. Der Mensch Jesus, gebürtig aus Nazareth, starb eines gewaltsamen Todes durch die Strafe der Kreuzigung. Matthäus nimmt dagegen durch die Auslassung von τοÁ ν Ναζαρηνο ν erneut die Feststellung des reinen Menschseins Jesu ein Stück weit zurück.145 Mk 16,6 schließt nach der Feststellung ihr sucht Jesus, den Nazarener, den Gekreuzigten übergangslos an: Auferweckt wurde er. Daran fügt er nicht ist er hier an. Diese Reihenfolge dreht Mt 28,5.6 um. Jesus den Gekreuzigten sucht ihr, nicht ist er hier, denn er wurde auferweckt; bzw. in der wörtlichen Abfolge auferweckt nämlich wurde er. Bei Markus stellt die Auferweckungsaussage ein theologisches Bekenntnis angesichts der beendeten Lebensgeschichte des irdischen Menschen Jesus dar. Das Bekenntnis der Auferweckung Jesu durch Gott erfolgt unabgeleitet und ohne Anknüpfung an eine greifbare Voraussetzung. Es bildet eine schiere Behauptung angesichts der historischen Kontingenz. Entsprochen wird ihr einzig im Glauben. Außerhalb des Glaubens an das auferweckende Handeln Gottes wird die Aussage durch nichts gestützt oder gesichert. Das lässt Matthäus nicht so stehen. Er leitet die Auferweckungsaussage aus dem Verschwinden Jesu von der Grabstelle ab. Die Verlassenheit des Ortes146 wird bei Matthäus zur Basis des Bekenntnisses der Auferstehung Jesu. Für das Matthäusevangelium liegt das Problem des Ostermorgens in der Abwesenheit Jesu aus dem Grab. Richtete sich bei Markus das Auferweckungsbekenntnis direkt und unvermittelt auf die Person des gekreuzigten Jesus, so bezieht sich die Auferweckungsaussage bei Matthäus auf den leeren Ort im Grab. Für dieses schwer begreifliche Phänomen bietet die Auferstehungsaussage eine plausible Begründung. Zur Unterstützung des Gedankens verweist der Engel147 bzw. der Erzähler auf die externe Autorität Jesu. Die kaum fassliche Vorstellung kann sich auf Jesu Wort berufen: wie er sagte. Der Erzähler entzieht damit eventuell aufkeimendem Zweifel bereits im Vorhinein den Boden. Was als Engelsbotschaft verkündet und vom Erzähler wiedergegeben wird, stützt sich auf das unbezweifelbare Wort Jesu selbst. Der Hinweis auf das von Jesus bereits früher Gesagte mindert zugleich das Überraschungsmoment und das Sensationelle der Aufer-

Signifikant in Mt 27,54: Wahrhaftig, Gottes Sohn war dieser. Vgl. G, Matthäusevangelium (s. Anm. 135), 495: „Mt akzentuiert das leere Grab.“ 147 Dass Mt 28,2.5 aus dem jungen Mann in Mk 16,5 einen Engel macht, entspricht der bei Matthäus durchgängig zu beobachtenden Tendenz, durch die Besonderheit der äußeren Umstände die Bedeutung des Geschehens hervorzuheben und Jesus zu exponieren. Zum Verhältnis von Angelophanie und Christophanie in Mt 28,1–10 vgl. R. K, Angelophanie – Christophanie in den synoptischen Grabesgeschichten Mk 16,1–8 par. (unter Berücksichtigung von Joh 20,11–18), in: C. Focant (Ed.), The Synoptic Gospels, Source Criticism and the New Literary Criticism (BEThL 110), Leuven 1993, 556–565. 145

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6 Die Gerechtigkeitstheologie nach Matthäus

stehungsbotschaft. Der Erzähler spannt den Bogen zurück zu den Leidens- und Auferweckungsankündigungen in Mt 12,40; Mt 16,21; 17,23 und 20,19 und stellt das Geschehen in Kontinuität zur Lebensgeschichte Jesu. Die matthäische Tendenz, dem Ort des Geschehens Bedeutung beizulegen, die bereits in der Hinrichtungsszene zu beobachten war,148 wird durch Mt 28,6b unterstrichen. Mk 16,6 formulierte am Ende in der dritten Person Plural: εÍ θηκαν αυÆ τοÂ ν – sie legten ihn – ins Grab. Markus hob damit den aktiven Anteil der Menschen hervor, die Jesus im wahrsten Sinne des Wortes ins Grab brachten. Demgegenüber verweist εÍ κειτο in Mt 28,6 direkt auf den Ort zurück, an dem Jesus lag. Seht den Ort, wo er lag bzw. in korrektem Deutsch: an dem er lag. In V.7 erfolgt ähnlich wie bei Markus mit den Worten des Engels gedanklich die Bewegung aus dem Grab heraus. Allerdings drängt die Erzählung auf das Tempo. Geht schnell und sagt seinen Jüngern Bescheid. An dieser Stelle folgt wieder eine Abweichung von der Markusvorlage. Der Übermittlungsauftrag an die Frauen lautet anders als bei Markus. Die Frauen sollen nicht zu den Jüngern und Petrus gehen und ihnen mitteilen, dass sie nach Galiläa in ihre Heimat gehen sollen, um dort den Auferweckten zu treffen. Es geht nicht primär um die Ankündigung des einstmals von Jesus selbst vorausgesagten Sehens in Galiläa. Der Deuteengel gibt bei Matthäus nicht den Anstoß zu der angestrebten Begegnung mit dem Auferweckten in der Heimat des Jüngerkreises. Er erteilt stattdessen den Auftrag, das zur Formel geronnene Bekenntnis der Auferweckung Jesu von den Toten weiterzusagen. Damit setzt Matthäus an die Stelle der soteriologischen Ausrichtung der markinischen Szene eine christologische Pointe. Jesus selbst steht im Mittelpunkt und soll unter der ihn auszeichnenden Besonderheit als der von den Toten Erweckte verkündigt werden. Sein Vorausgehen und das für die Lebensgeschichte seiner Nachfolger entscheidende anschließende Sehen rückt an die zweite Stelle (V.7 Ende). Anders als bei Markus stellt der Auftrag des Engels bei Matthäus auch nicht die durch Jesus selbst angestoßene Kontinuität zwischen ihm und seinen Jüngern her. Matthäus verwandelt am Schluss von V.7 die dritte Person Singular in die erste Person Singular. In Mk 16,7 hatte der Jüngling am Grab in der dritten Person Singular auf Jesu Ankündigung verwiesen: Wie er euch sagte. Der matthäische Erzähler lässt den Engel vollmächtig in der ersten Person Singular aussprechen: Siehe, ich sagte es euch. Die Jesusbegegnung wird bei Mt hierarchisch vermittelt angekündigt, nachdem die Verkündigung der Auferweckung Jesu von den Toten vollzogen ist. Primär geht es um den Status Jesu, erst danach um die nicht von Jesus selbst, sondern durch den Deuteengel vermittelte Zukunft der Nachfolgenden.149 148 Vgl. das εÆ κειÄ in Mt 27,47, mit dem Matthäus aus den markinischen Dabeistehenden dort Stehende macht. 149 Zwar bleibt das ιÆ δουÁ ειËπον υë µιÄν ein Rückverweis (Mt 26,32), aber es ist in 28,7 der Engel, der als Vermittlungsinstanz für die Herstellung der Kontinuität zwischen Jesus und den Jüngern sorgt. Nach G, Matthäusevangelium (s. Anm. 135), 494, der damit eben-

6.17 Die Auferstehung Jesu als Demonstration göttlicher Macht: Mt 28,1–8

309

V.8 nimmt das Adverb schnell von V.7 auf. Schnell leisten die Frauen der Aufforderung Folge, um den Auftrag des Engels zu erledigen. Ihr Weggehen vom Grab trägt bei Matthäus einen anderen Charakter als das offene Ende des Markus. Dort in 16,8 stand der Schluss im Zeichen des Tremendum als Folge von Offenbarung. Matthäus schränkt das Furchtmotiv ein. Er nimmt das εÍ ϕυγον aus der Darstellung heraus und mildert den Eindruck von Panik. Den starke Emotionen implizierenden Ausdruck τρο µος καιÁ εÍ κστασις reduziert er zu einem gemäßigteren ϕο βος. Damit harmonisiert er zugleich den Schluss der Perikope. Das bei Markus den Abschluss bildende Furchtmotiv (V.8 Ende) ist auf diese Weise bereits in seine Darstellung integriert. Gleichzeitig nivelliert er den Furchtaspekt durch den Hinweis auf die große Freude der Frauen. Das Fascinans, das bei Mk in den Gesamtkontext einwies und auf Mk 1,1 – den bannenden Namen Jesu Christi – zurückführte, wird bei Matthäus zum unmittelbaren Bestandteil der Perikope 28,1–8. Matthäus trägt damit der Gesamtanlage seines Werkes Rechnung: Die Grabeserzählung findet ihre Fortsetzung in 28,9–20; und Mt 1,1ff zielt nicht auf die Verkündigung des Schrecken bannenden Namens, sondern auf die Zuverlässigkeit versprechende Kontinuität des Stammbaums Jesu. Durch die veränderte Gestaltung führt Matthäus zugleich aus dem Dilemma, in das eine historisierende Lektüre des Markusschlusses zu geraten droht. Er sichert mit der vom Grab wegführenden Bewegung der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu die Kontinuität des Überlieferungsprozesses. Die Frauen verkündigen selbstverständlich das, was ihnen der Engel aufgetragen hatte. Bei Matthäus dienen die Sterbedarstellung wie die Auferweckungserzählung der Exponierung Jesu. Beide Ereignisse sind eine Demonstration göttlicher Macht. Die außerordentlichen Ereignisse bekunden die Besonderheit Jesu. Alle Geschehnisse im Zusammenhang seiner Hinrichtung wie seiner Auferweckung dienen dazu, Jesu Einzigartigkeit herauszustellen. Kreuzigung und Auferweckung Jesu besitzen im Rahmen des Matthäusevangeliums Verweischarakter. Vom Grab wegzugehen, beinhaltet als Richtungsangabe das Hin zu Jesus.150 Die matthäische Darstellung unterscheidet den Kreuzestod Jesu und das Bekenntnis zu Jesus als dem Auferweckten nicht in der Weise, dass ein historisches Geschehen neben eine Glaubensaussage tritt. In der matthäischen Welt stehen beide Ereignisse auf einer Ebene als Fakten nebeneinander. Beide gelten als von theologischer Bedeutung durchdrungene Ereignisse der Weltgeschichte, die zugleich eine Gottesgeschichte ist. Gemeinsam dokumentieren sie Gottes mächtiges weltveränderndes Wirken an Jesus.

falls auf die Bedeutung von Örtlichkeit abhebt, sichert Galiläa als „Stätte des Wirkens des Irdischen [...] dessen Identität mit dem Auferstandenen“. 150 Die Ausführungen zu Mt 28,1–8 erfolgen in enger, teilweise wörtlicher Anlehnung an K, Weg vom Grab! (s. Anm. 20), 87–91.

7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas 7.1 Der hellenistisch-jüdische Kontext der lukanischen Theologie Das Lukasevangelium präsentiert die Person Jesu im Rahmen von Vorgaben aus dem hellenisierten Judentum. Sprachlich und stilistisch steht Lukas in der Tradition der Septuaginta.1 Seine Art des historischen Erzählens schließt an die „biblisch geprägte hellenistisch-jüdische Tradition“2 an. Lukas verzahnt biblischjüdische und pagan-hellenistische Elemente.3 Er steht in der Schnittstelle zweier Traditionsströme der hellenistisch-jüdischen Literatur. Der erste dieser beiden Stränge bemüht sich darum, „den Anschluß an die griechische Hochliteratur“4 zu halten. Ihm werden jüdische Schriften wie der Tragiker Ezechiel, Pseudo-Phokylides, die jüdischen Sibyllinen, 2.3.4. Makkabäer sowie Philo und Josephus zugerechnet. Die zweite Traditionslinie versucht, die Septuaginta in Sprache und Stil nachzubilden. Zu ihr zählen die Bücher Tobit und Ester, der Brief Jeremias, 1. Makkabäer, Joseph und Aseneth, die Testamente der zwölf Patriarchen u.a.m.5 Auch wenn Lukas tendenziell eher der zweiten Linie zuzurechnen ist, steht er über bestimmte Motivzusammenhänge, seine Bekanntschaft mit außerjüdischen Topoi und die Formung signifikanter Denkbewegungen auch in direkter Verbindung mit hellenistischen geistigen Zusammenhängen. Gattungsmäßig lässt sich

1 Zur LXX-Rezeption im Lukasevangelium vgl. M. M, Das Alte Testament im lukanischen Doppelwerk, in: H.-J. Fabry/U. Offerhaus (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel, BWANT 153, Stuttgart 2001, 167–195. Vgl. M. R, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments, Paderborn u.a. 2001, 54–55.88. 2 R, Sprache (s. Anm. 1), 114. H. K, Das Lukasevangelium (KEK I/3), Göttingen 2006, 67, rechnet den Verfasser des Lukasevangeliums „dem engeren oder weiteren Umkreis der jüdisch-hellenistischen Synagoge“ zu. Laut F. B, Das Evangelium nach Lukas, 1. Teilband Lk 1,1–9,50 (EKK III/1), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1989, 19, „erinnert“ das Lukasevangelium „an die jüdische Geschichtsschreibung, die […] das Instrument der hellenistischen Historiographie reichlich benützt“. Gelegentlich nimmt das Lukasevangelium auch „die Regeln der antiken Biographie zu Hilfe“. 3 Vgl. R, Sprache (s. Anm. 1), 115; C. B, Das Evangelium nach Lukas (ThHK 3), Leipzig 2024, 4: „,Lukas‘ ist mit jüd. Theologie wie mit hellen. Bildung gleichermaßen vertraut“. 4 R, Sprache (s. Anm. 1), 96. 5 Vgl. R, Sprache (s. Anm. 1), 94–96.

312

7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

das Lukasevangelium „als eine hellenistische Biographie in alttestamentlichem Erzählgewand“6 bezeichnen.7 Die Jesusdarstellung des Lukasevangeliums spiegelt diese geistesgeschichtlichen Voraussetzungen wider. Der lukanische Christusglaube formt das Bild Jesu als einer hellenisiert-jüdischen Vorstellungen zugänglichen Retterpersönlichkeit. Die traditionelle an der Verfasserfrage orientierte Alternative, ob das Lukasevangelium auf einen Juden- oder einen Heidenchristen zurückgeht, stellt sich nicht. Lukas war weder ein Heidenchrist, der ohne Kontakt zum Judentum die Geschichte Jesu erzählte, noch ein vom Hellenismus unbeeinflusster Judenchrist. Das Lukasevangelium ist damit auch ein Zeugnis für die geistige Prägekraft des hellenistischen Judentums im 1. Jahrhundert. Die im Lukasevangelium vorliegende Synthese aus Hellenismus, Judentum und Christusglauben hat die weitergehende Geschichte des Jesus-Christus-Glaubens in hohem Maße mitbestimmt. Für die von griechischen Anschauungen geprägte Dogmenbildung des 4. und 5. Jahrhunderts in Nicäa und Chalcedon erwies sich die lukanische Christologie als anschlussfähig. Nicht zuletzt auch die Gleichniserzählungen des lukanischen Jesus haben bis in die Gegenwart große Bekanntheit behalten und nachhaltige Wirkung entfaltet.

7.2 Dehnung der Zeit und Öffnung des Raums Der Lukasprolog in Lk 1,1–4 gibt Auskunft über den zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Horizont des Doppelwerks aus Lukasevangelium und Apostelgeschichte. Dass Lukas die Lebensgeschichte Jesu als einen ersten Teilband an die Spitze eines zweibändigen Gesamtwerks gestellt hat, rief zu Beginn des 20. Jahrhunderts die massive Kritik Franz Overbecks hervor. Wie kommt Lukas dazu, die Geschichte des einzigartigen Welterlösers Jesus Christus um die Schilderung der Taten seiner mehr oder weniger (un)würdigen Nachfolgerinnen und Nachfolger zu ergänzen? Die „Urgeschichte“ der Christenheit mittels eines zweiten Bandes in die Geschichte der Christenheit hinein zu verlängern, heiße nicht anderes, als sie zu nivellieren. Overbeck geißelt dieses Verhalten als „eine Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen“.8 6 R, Sprache (s. Anm. 1), 105. Vgl. auch B, Lukas (EKK III/1) (s. Anm. 2), 19: Das lukanische „Werk ist mehr als eine historische Monographie und erinnert an die jüdische Geschichtsschreibung, die sich zwar in den Spuren des alttestamentlichen Schreibers bewegt, zugleich jedoch das Instrument der hellenistischen Historiographie reichlich benützt“. Lukas nimmt im ersten Teil seines Werkes „hier und da die Regeln der antiken Biographie zu Hilfe“. K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 43: „Seiner Gattung nach ist das dritte Evangelium […] der antiken Biographie vergleichbar“. 7 Zur Darstellung vgl. P.-G. K, Das Sterben Jesu als Schauspiel nach Lk 23,44–49, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 144–171, 166–167. 8 F. O, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen

7.2 Dehnung der Zeit und Öffnung des Raums

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Die Begründung für das lukanische literarische Projekt eines Doppelwerks erschließt sich aus dem Prolog. Wie Markus seiner Leserschaft die Geschichte ihrer Herkunft aus dem Leben und Wirken Jesu heraus vermittelt, zielt auch Lukas auf die Gegenwart seiner Adressatinnen und Adressaten. Für sie entwirft er eine Basiserzählung als „Vorgeschichte“9 der Gegenwart, in der sie leben. Dabei unterscheidet sich die lukanische von der markinischen Schöpfungsgeschichte der gegenwärtigen christusglaubenden Gemeinde durch ihr Zeitverständnis. Während die markinische αÆ ρχη auf die mythische Zirkularität zwischen Jesu Lebensgeschichte und der Gegenwart der Gemeinden nach 70 n.Chr. abhebt, führt Lukas durch ein historisierendes Verständnis von αÆ ρχη eine chronologische Ausrichtung am Zeitstrahl in seine Präsentation Jesu ein.10 Wie das Matthäusevangelium erweitert Lukas gegenüber dem Markusevangelium den Inhalt der Vita Jesu über die knappe Spanne von weniger als einem Jahr hinaus. Die erzählten Episoden führen bereits in die Zeit vor Jesu Geburt zurück. Vorgeschaltet ist ein Zeitraum der Erwartung, der unter anderem durch die Begegnung zwischen Elisabeth und Maria und die Geburt Johannes des Täufers gefüllt ist. Der Überlieferung von der Geburt des göttlichen Kindes durch seine jungfräuliche Mutter folgt die Erzählung von der außergewöhnlichen Weisheit des zwölfjährigen Jugendlichen.11 Die Schilderungen der Wirksamkeit des erwachsenen Mannes übersteigen den Umfang dessen, was Markus zu erzählen weiß. Sie bieten zudem zahlreiche Stoffe, die auch bei Matthäus nicht erwähnt werden. In besonderer Weise gilt dies für die wirkungsgeschichtlich einflussreichen Parabeln, die Jesus ausschließlich bei Lukas erzählt.12 Die Passionsgeschichte erweitert Lukas in Lk 23,6–12 um die Begegnung Jesu mit Herodes, lässt Jesus in Lk 23,44–49 in einer von Markus und Matthäus signifikant abweichenden Weise sterben und korrigiert in Lk 24 den Eindruck, der Ostermorgen könnte mit Furcht und Ratlosigkeit geendet haben. Der auferstandene Jesus wandert von Neuem los, seine irdische Lebensgeschichte findet eine postmorale Fortsetzung. Auf dem Weg nach Emmaus trifft Jesus laut Lk 24,13–35 in neuer Gestalt auf zwei seiner Anhänger. Wohin geht er in der Welt des Lukasevangeliums? Darüber lässt der Erzähler keinen Zweifel: Seine Auskunft lautet nach oben, zum Vater, in den Himmel. Aus der Sicht des Lukasevangeliums lassen Markus und Matthäus die Geschichte Jesu vor ihrem Höhepunkt abbre-

Theologie, aus dem Nachlass herausgegeben von C.A. Bernoulli, Darmstadt 21963 (ursprünglich Basel 1919), 78; zum Begriff Urgeschichte vgl. ebd. 24–25. P. V, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin/New York 1975, 404, hat die Kritik Overbecks übernommen. 9 M. W, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 29. 10 Vgl. dazu o. Kapitel 3.4.3. 11 Zum Vergleich von Lk 2,40–52 mit hellenistischer biographischer Literatur vgl. N. K (=N), Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2.40–52) und die biografische Literatur der hellenistischen Antike, NTS 50 (2004), 307–319. 12 Dazu zählen insbesondere Lk 10,25–37; 12,13–21; 15,11–32; 16,1–8; 16,19–31; 18,9–14.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

chen. Die Himmelfahrtepisode ist eine entscheidende Schaltstelle für das lukanische Doppelwerk. Sie bildet das Scharnier für die Eröffnung der Folgezeit.13 Mit der Himmelfahrt endet das Wirken Jesu auf Erden. Zugleich beginnt in der Apostelgeschichte mit der Himmelfahrt Jesu die Entwicklung des Gemeindelebens der Christusglaubenden. Wirkungsgeschichtlich hat Lukas mit dieser Strukturierung der Jesusgeschichte die Gestaltung des Kirchenjahres vorbereitet. In der Geschichte der Christenheit ist der am lukanischen Doppelwerk orientierte Ablauf des Kirchenjahres zu einer zentralen Sozialisationsinstanz geworden. Vom Advent über Weihnachten, entlang der Lebensgeschichte Jesu bis zu Passion, Ostern und Himmelfahrt, anschließend zu Pfingsten und dem offenen Ende in die Zeitgeschichte hinein bis zur Parusie Christi werden die zentralen Daten der Jesus-ChristusErzählung von Generation zu Generation vergegenwärtigt und eingeübt. Ohne die lukanische Chronologisierung der Jesus-Christus-Geschichte gäbe es aus dem Kreis der Evangelien lediglich die zeitlose mythische Vergegenwärtigung des Christusgeschehens in der Lebensgeschichte der Glaubenden bei Markus, den weitgespannten Bogen von Abraham bis zum Endgericht und Weltende bei Matthäus und die zu einem Punkt verdichtete Offenbarungsgeschichte des Johannes. Der getakteten Zeit im Ablauf der Jesusgeschichte entspricht die geordnete Erschließung des Raums in der Geschichte der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu. Laut Apg 1,8 nimmt die Territorialperspektive ihren Ausgang dort, wo die Jesusgeschichte endet. Von Jerusalem14 richtet sich der Blick über Judäa und Samaria hinaus auf die gesamte Erde. Mit der Verkündigung des Paulus in der Welthauptstadt Rom findet die Erschließung des Raums durch das Evangelium ihren vorläufigen Abschluss.

7.3 Der Prolog: Lk 1,1–4 Wie andere Schriftsteller der hellenistischen Epoche eröffnet auch Lukas sein Werk mit einem Proömium.15 Darin legt er die Maßstäbe des Werkes offen. Er nennt die Kriterien, die die Darstellung leiten, spricht aus, woran sich seine Erzählung orientiert und welches Ziel sie verfolgt. Sorgfältige Recherche bildet nach seiner eigenen Aussage die Voraussetzung und Grundlage für die Entfal13 B.J. K, Luke 10:38–42 and Acts 6:1–7: A Lukan Diptych on Διακονι α, in: B.J. Koet/E. Murphy/E. Ryökäs (Eds.), Deacons and Diakonia in Early Christianity, WUNT 2/479, Tübingen 2018, 45–63, bezeichnet die Beziehung zwischen Lk 10,38–42 und Apg 6,1–7 als ein Diptychon über Diakonie. 14 Vgl. L. B, Die Zukunft Jerusalems nach Lukasevangelium und Apostelgeschichte, NTS 69 (2023), 166–181, 175: „Die Bedeutung Jerusalems [tritt] in der lukanischen Erzählung zurück“ zugunsten der „Ausrichtung auf Rom“. 15 Vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 58–60; vgl. N. N, Lukas und Menippos. Hoheit und Niedrigkeit in Lk 1,1–2,40 und in der menippeischen Literatur, NTOA 68, Göttingen 2008, 130.

7.3 Der Prolog: Lk 1,1–4

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tung der Lebensgeschichte Jesu. Die Frage, ob der Lukasprolog bereits die Apostelgeschichte mit im Blick hat, hängt von der Einschätzung des zeitlichen Abstands zwischen beiden Werken ab und davon, ob der Autor des Lukasevangeliums von Beginn an auf die Abfassung eines Doppelbandes hinzielte. In inhaltlicher Hinsicht legt die Formulierung von den unter uns erfüllten Geschehnissen im ersten Vers nahe, dass die zeitliche Orientierung bis an den Rand der Gegenwart reicht und jenseits des in Apg 28 erreichten Termins liegt.16 Lukas bezeichnet sein literarisches Vorhaben in V.1 als eine διη γησις. Dies ist ein offener Terminus, der nicht zu festlegend mit „Bericht“17 übersetzt werden sollte, auch wenn er eine Nähe zur hellenistischen Geschichtsschreibung anzeigt. Die Historiographie beschränkt sich nicht auf die Wiedergabe sog. Fakten, sondern schließt das Erzählen gerade ein. Die narrative Schilderung von Geschehnissen zu deren erinnernder Vergegenwärtigung leitet die hellenistische Historiographie und ebenso die lukanische Jesuserzählung.18 V.1 Nachdem schon viele (πολλοι ) Hand angelegt (εÆ πεχει ρησαν/versucht) haben, eine Erzählung (διη γησιν) der Reihe nach aufzustellen (αÆ νατα ξασθαι) von den unter uns erfüllten (πεπληροϕορηµε νων) Ereignissen, V.2 wie [sie] uns [die] überlieferten (παρε δοσαν), die von Anfang an (αÆ π’ αÆ ρχηÄ ς) Augenzeugen (αυÆ το πται) und Untergeordnete [Diener] des Worts geworden sind, V.3 erschien es auch mir gut, nachdem ich von vorn (αÍ νωθεν) allem (παÄ σιν) genau (αÆ κριβωÄ ς) nachgegangen bin, es der Reihe nach (καθεξηÄ ς) dir zu schreiben, wertester Theophilos, V.4 damit du die Zuverlässigkeit (αÆ σϕα λειαν) der Worte (λο γων) erkennst, in denen du unterwiesen (κατηχη θης) wurdest. Viele haben schon die Hand daraufgelegt, lässt sich anders formuliert übersetzen als viele haben es versucht.19 Dieser Einstieg ist vielsagend. Offensichtlich kam bei den bereits erfolgten Versuchen nicht das heraus, was Lukas vorschwebt.20 Jedenfalls haben die vorliegenden Bemühungen seinen neuerlichen Anlauf nicht überflüssig gemacht. Im Gegenteil lassen sie Raum für die Darstellung nach den Kriterien, die der auctor ad Theophilum präsentiert. Zu den vielen, auf die Lukas anspielt, gehört in jedem Fall das Markusevangelium. In zweiter Linie ist an die Logienquelle Q zu denken, jedenfalls solange diese theoretisch erhobene zweite Quelle als existent betrachtet wird.21 Hinzu Vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 60–61.63. So jedoch W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 57. 18 Vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 60–62. 19 Vgl. P.-G. K, Der Nachhall hellenistischer Literatur bei Lukas, in: P.-G. Klumbies/I. Müllner (Hg.), Bibel und Kultur. Das Buch der Bücher in Literatur, Musik und Film, Leipzig 2016, 35–50, hier 36. 20 Vgl. W. S, Das Evangelium nach Lukas (ZBK NT 3.1), Zürich 1980, 18; vgl. B, Lukas (EKK III/1) (s. Anm. 2), 33–35. Laut E. K, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 31975, 2, steckt in dem εÆ πιχειρειÄν „an sich“ kein „Vorwurf“. Die Kritik liege allerdings darin, dass der Verfasser sich überhaupt veranlasst sieht, nach den Vorläuferwerken selbst „zur Feder“ zu greifen. 21 Zur grundlegenden Kritik an der Zweiquellentheorie vgl. W. K, Vom Ende der 16

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

kommen die zahlreichen Sonderüberlieferungen im Lukasevangelium, deren Herkunft ungewiss ist. Sie verweisen entweder auf eine mündliche Genese oder eine vorlukanische schriftliche Entstehung oder haben als Eigenkreation des Lukas zu gelten. Im Blick auf das Markusevangelium als einen der Vorläufer der lukanischen διη γησις lässt die Bewertung durch den Lukasprolog an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Vorwurf gegen Markus lässt sich den lukanischen Gütekriterien für eine gelungene Darstellung entnehmen. Wie kann man die Lebensgeschichte Jesu so fragmentarisch erzählen wie Markus? Dessen Evangelienschrift bietet nicht einmal einen vollständigen Jahresdurchlauf des Lebens Jesu. Sie offeriert lediglich Begebenheiten aus den letzten Monaten seines Lebens. Nach der Taufe durch Johannes steuert die markinische Vita Jesu binnen kürzester Zeit auf seine Passion und Hinrichtung zu. Wie es nach dem Auferstehungsmorgen mit Jesus weiterging, bleibt aus lukanischer Perspektive bei Markus unerzählt. Nach Kräften hilft Lukas den festgestellten Mängeln ab. Er ergänzt die Taufszene um eine vollständige Ahnentabelle. Der Stammbaum ordnet Jesus in eine Generationenkette ein, die in chronologischer Hinsicht bis an den Anfang der Menschheitsgeschichte, konkret: zu Adam und letztlich bis zu Gott selbst zurückreicht. Die kritische Sichtung der Lukas vorliegenden Überlieferung erweist sich auch in der Bearbeitung der Vorlagen. Sowohl die Behandlung des Markusevangeliums als auch der Umgang mit Q-Überlieferungen zeigen die Freiheit und Eigenständigkeit der lukanischen Redaktion. Die Erweiterung des Markusrahmens nach vorn mit der Vor-, Geburts- und Kindheitsgeschichte Jesu wie die Verlängerung nach hinten mit den Begebenheiten des Auferstehungstages und der Himmelfahrt unterstreichen die lukanische Auffassung: Jesus war anders, als Markus ihn zeichnet. Das lukanische Bild Jesu beinhaltet deutliche Korrekturen an der Markusdarstellung. Keinesfalls starb Jesus mit einem Verlassenheitsschrei – wie dies Mk 15,34 und auch Mt 27,46 darstellen. Er beschloss sein Leben vielmehr in der vorbildlich gefassten Haltung eines Märtyrers (Lk 23,46). Der Ostertag endet nicht mit Entsetzen und kopfloser Flucht der Frauen (Mk 16,8), sondern das leere Grab Jesu wird zu einem Erinnerungsort (Lk 24,8). Die Ostergeschichte mündet in das Gedenken Jesu und die neue Sammlung seiner Anhängerinnen und Anhänger (Lk 24,8–9). Der auferstandene Jesus trifft in veränderter Gestalt auf frühere Sympathisanten (24,13–35). Erst mit der Himmelfahrt endet seine Geschichte auf Erden. Aus lukanischer Sicht hat Markus die Geschichte des Auferstandenen vorzeitig enden lassen. Vielleicht, weil er es nicht besser wusste oder schlecht recherchiert hat. Lukas jedenfalls hat sich zur Aufgabe gemacht, Lücken in der Überlieferung zu schließen.

Zweiquellentheorie oder Zur Klärung des synoptischen Problems, in: C. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift Band II. Kultur, Politik, Religion, Sprache – Text, Stuttgart 2005, 404–442.

7.3 Der Prolog: Lk 1,1–4

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Die lukanische Haltung gegenüber den Vorgängerwerken ist insofern bemerkenswert, als sie dokumentiert, dass die Bezugnahme eines christusglaubenden Schriftstellers auf den anderen nicht von zurückhaltender Pietät geleitet ist. Die literarische Vorlage ist nicht sakrosankt. Keine Rede ist bei Lukas von einer Würdigung der markinischen Pionierleistung. Selbst Einzelzüge an entscheidender Stelle lässt er nicht unangetastet. Das gilt auch für seinen Umgang mit den Worten im Munde Jesu. In der Sterbeszene Jesu tauscht Lukas den von Markus vorgegebenen Psalmvers 21,2 LXX, mit dem Jesus stirbt, gegen Ps 30,6 LXX aus. An zahlreichen weiteren Stellen greift Lukas in die Einzelgestaltung ein. Er stellt Reihenfolgen um, korrigiert Einzelzüge und Formulierungen, streicht, ergänzt. Überall klingt durch: So, wie Markus Jesus darstellt, war er nicht. Die Jesusdarstellung des Lukasevangeliums ist durch ein von Markus abweichendes gedankliches Koordinatensystem geleitet.22 Die Zuverlässigkeit der Darstellung beruht für Lukas auf der Geschlossenheit der Überlieferungskette und der Verlässlichkeit der Informanden. Augenzeugenschaft und Loyalität gegenüber der Sache des Glaubens bilden laut V.2 die entscheidenden Voraussetzungen für die Qualität der Traditionsvermittlung. Augenzeugen sind die Personen, die von Anfang an dabei gewesen sind. In vielen Fällen werden sie mit den Dienern des Wortes identisch sein. Zwingend ist dies jedoch nicht. Apg 1,21.22 lässt die Möglichkeit offen, dass es Augenzeugen gegeben hat, die nicht zu Dienern des Wortes wurden. Ob diese freilich von Lukas als Informationsquelle betrachtet wurden, steht dahin. Ebenso gab es Verkündiger wie Paulus und andere, die keine Augenzeugen waren (Apg 8,4).23 Worauf es nach V.2 im Grundsatz ankommt, ist, dass bestimmte Personenkreise als Nachrichtenquelle für die Lebensgeschichte Jesu ausscheiden. Dazu zählen Zeitzeugen, die nicht dem Christusglauben anhängen, Personen, die der Verkündigung ablehnend, neutral oder indifferent gegenüberstehen, jüdische wie pagane Beobachter der Geschehnisse um Jesus herum, kurz: alle, die nicht in den Anhängerkreis der Jesusbewegung gehören, fallen für Lukas als verlässliche Übermittler aus. Die Ursache dafür liegt darin, dass die weltanschauliche Tendenz, d.h. die Bindung an den Christusglauben gerade kein Handicap, sondern die Voraussetzung für die Verlässlichkeit und Güte der Auskünfte darstellt. Von Jesus distanzierte Betrachter der Ereignisse kommen als Informationsquellen nicht in Frage. Sie hätten nichts zu seiner theologischen Bedeutung beizutragen. Im Übrigen dient der Verweis auf die Augenzeugen und die Wortverkündiger dazu, den zeitlichen Abstand zwischen dem Wirken Jesu und den Traditionen, 22 Vgl. P.-G. K, Rivalisierende Rationalitäten im Markus- und Lukasevangelium, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 5–24, 13–22. Vgl. O, Christentum (s. Anm. 8), 79: „So ist denn das Vorwort des Lukas in der Tat diejenige Stelle des Neuen Testaments, von der man sagen kann, daß darin die Welt am deutlichsten durchscheint, daß es sich hier mit der Welt am nächsten berührt.“ 23 Zum Verhältnis der genannten Personen zueinander vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 63.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

auf die sich die lukanische Darstellung bezieht, zu überbrücken und die Überlieferungskette zu schließen. Am Anfang der lukanischen Recherche steht nach eigener Auskunft die Selbsterkundung durch den Verfasser des Prologs. Er hat sich laut V.3 persönlich um die allumfassende Aufhellung der Sachlage bemüht. Vier Adverbien umreißen das lukanische Programm.24 Sie lassen auf ihrer Kehrseite die Defizite erkennen, denen Lukas mit seiner Erzählung abhelfen will. Von vorn an – αÍ νωθεν – erzählt Lukas. Im Unterschied zu Markus, der seine Erzählung des letzten Lebenshalbjahrs Jesu mit der Taufe durch Johannes den Täufer beginnen lässt, setzt Lukas bereits mit der Schilderung vorgeburtlicher Ereignisse ein, die das In-dieWelt-Kommen Jesu vorbereiten. Zu einer Vollbiographie im Sinne der lukanischen Lebensbeschreibung gehören die Signale aus der göttlichen Welt, die das Ereignis ankündigen. Lukas verlegt den zeitlichen Rahmen bis zu dem Punkt nach vorn, an dem der von Gott gesandte Engel Gabriel der Jungfrau Maria ihre kommende Schwangerschaft ankündigt (Lk 1,26–33). Diesem Ereignis wird zusätzlich eine weitere Halbjahresfrist vorangestellt, in der die Geburt des Vorläufers Jesu, Johannes, als Bezugspunkt für die Geschichte Jesu vorbereitet wird. In dem Adverb allem – παÄ σιν – schwingt die Distanz gegenüber dem aus lukanischer Perspektive selektiven Vorgehen der Vorgängerwerke mit. Das Pathos der Vollständigkeit konterkariert die als verkürzt wahrgenommene Bemühung des Markusevangeliums und der übrigen literarischen Vorversuche. Neben diversen Einzelüberlieferungen, die das Lukas- dem Markusevangelium voraushat, weiß es insbesondere weitere Einzelheiten über das Wirken Jesu nach seiner Auferstehung zu berichten. In der allumfassenden Perspektive schwingt auch bereits der Vorausblick auf die Apostelgeschichte mit. Lukas verfolgt die Geschichte Jesu bis in ihre Verlängerung hinein und beobachtet die Entwicklung der Anhängerschaft Jesu, nachdem ihr Protagonist die Welt verlassen hat. Dass Lukas größten Wert auf die Genauigkeit der Ausführungen legt, versteht sich nach dem bisher Gesagten von selbst. Akribisch – αÆ κριβωÄ ς – geht er vor. An der Exaktheit und Ordnung hängt die Richtigkeit der Sache. Daher kommt der Reihenfolge höchste Bedeutung zu. Entsprechend formuliert Lukas seinen Selbstanspruch: Geordnet – καθεξηÄ ς – verfährt er in seiner Darstellung. Auch das massive Insistieren auf die Bedeutung der Ordnung lässt sich als ein versteckter Seitenhieb gegen das Markusevangelium lesen. Markus ist bis in die Gründungsphase der Formgeschichte im 20. Jahrhundert immer wieder die Austauschbarkeit in der Stoffanordnung, die Beliebigkeit der Reihenfolge und die mangelnde Stringenz bei der Gestaltung des Erzählfadens vorgehalten worden. Das Markusevangelium habe alles irgendwie zusammengehalten. Letztlich seien die Einzelperikopen jedoch nur notdürftig und an der Oberfläche miteinander verknüpft worden.

24 Zur Interpretation der vier adverbialen Zuschreibungen vgl. K, Nachhall (s. Anm. 19), 36–37.

7.3 Der Prolog: Lk 1,1–4

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Das Ziel seiner Bemühung nennt der Prolog in direkter Anrede an seinen Adressaten. Dieser trägt einen sprechenden Namen: Θεο ϕιλος – Theophil, Amadeus, Gottlieb. Selbst wenn es sich dabei um eine konkrete Einzelperson gehandelt haben sollte, erlaubt die Namensgebung es jedem Gottesfreund und jeder Gottesfreundin, sich in diese Anrede einbezogen zu wissen.25 Beabsichtigt ist mit dem Werk, die Verlässlichkeit der Worte zu erweisen, in denen die Adressaten unterwiesen wurden. Die bereits erfolgte Katechese, durch die die Adressaten bereits im Christusglauben unterrichtet wurden,26 soll nachträglich mit der folgenden Jesuserzählung ein Fundament erhalten. Dabei geht es laut V.4 ausdrücklich darum, die Erkenntnis der αÆ σϕα λεια zu fördern. Die Richtigkeit und Stimmigkeit der Katechese als solcher ist nicht Gegenstand. Sie steht extra controversiam. Die lukanische Jesuserzählung dient dem begrenzten Zweck, Einsicht in die Verlässlichkeit der Unterweisung zu erzielen. Erreicht werden soll die innere Zustimmung durch die korrekte Darstellung der äußeren Fakten. Das Substantiv αÆ σϕα λεια geht auf das Verb σϕα λλω zurück. Ihm ist ein Alpha-Privativum vorangestellt. Übersetzen lässt es sich als weg vom Straucheln. Vermieden werden soll das Stolpern in puncto Katechese. Die genaue Darstellung soll Steine des Anstoßes beseitigen. Sie soll glätten, was zu Irritationen führen könnte. Trittsicheres Gehen auf geebnetem und gesichertem Weg zu ermöglichen, ist im Blick auf die gemeindliche Katechese das theologische Anliegen der lukanischen Jesuserzählung. Deren Zuverlässigkeit resultiert aus Vollständigkeit, Genauigkeit und Ordnung einer an Tatsachen orientierten Darstellung. Sicherheit durch Kontinuität und Vollständigkeit lautet das lukanische Programm. In der Sache zeigt sich Lukas als konsequenter Vertreter eines Traditionsprinzips. Die in der Vergangenheit liegenden Grundlagen müssen rekonstruiert werden. Sie bilden die Basis für die gegenwärtige Vermittlung der Gehalte des Christusglaubens. Die Erzählung der Vita Jesu ist die nachträgliche Legitimation für die Grundlagen der frühchristlichen Katechese. Deren Inhalte sind als Merksätze längst formuliert.27 Nun werden sie durch die retrospektive Erzählung des Lebens Jesu untermauert.

25 Vgl. N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 131: Das „erzählende Ich“ bietet „der idealen Leserschaft eine Identifikationsfigur“ an. Zu den auseinandergehenden Voten, ob die Adressatenangabe Theophilos einer literarischen Konvention folgt oder eine historische Person bezeichnet, vgl. auch K, Rivalisierende Rationalitäten (s. Anm. 22), 18–19; vgl. auch B, Lukas (s. Anm. 3), 6.25. 26 K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 43, spricht von einem „Repetitorium für Katechisierte“. 27 Vgl. N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 131–132. Zur Interpretation des Prologs insgesamt vgl. K, Nachhall (s. Anm. 19), 35–50, 35–38.

320

7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

7.4 Theologie der Rückbezüglichkeit Der Prolog gibt Auskunft über die Gestaltung des Lukasevangeliums. In der Hauptsache wird Rechenschaft über die Gewinnung der Stoffe, ihren Umfang und ihre Anordnung im Laufe der Erzählung abgelegt. Mit dem Stichwort αÆ σϕα λεια wird auch das theologische Ziel der Darlegung benannt. Die daran anschließenden Fragen lauten: Wie wird der Erzähler sein Programm im Einzelnen erzählerisch umsetzen? Worin besteht die Eigenart der lukanischen Darstellung in sachlich-inhaltlicher Sicht? In einer ganzen Reihe von Passagen des Lukasevangeliums klingen Motive aus der hellenistischen Literatur nach. Sie haben ihre Spuren insbesondere bei der Gestaltung der erzählerischen Rahmenstücke hinterlassen. Sowohl die lukanische Geburtsgeschichte als auch die Passions- und Himmelfahrtserzählung zeigen sich unmittelbar von literarischen Konventionen aus dem hellenistisch-römischen Umfeld des Erzählers beeinflusst. Darüber hinaus sind zahlreiche Einzelperikopen von wiederkehrenden Denkbewegungen durchzogen, die ihre Herkunft aus einem hellenistisch geprägten Milieu verraten. Hier ist der Einfluss indirekter, gleichwohl jedoch unübersehbar. Im Folgenden werden zunächst die literarischen Einflüsse hellenistischer Literatur auf die Gestaltung der lukanischen Rahmenerzählungen dargelegt. Anschließend wird an ausgewählten Texten gezeigt, wie diese geistigen Voraussetzungen dort nachwirken, wo sie zum Bestandteil der lukanischen gedanklichen Eigenleistung geworden sind. Will man den Einfluss des hellenistischen28 Denkens auf die lukanische Theologie zugespitzt zusammenfassen, lässt sich dies mit der Vorsilbe re (zurück) tun. Rückbezüglichkeit ist eine Signatur lukanischen Erzählens. Die Zurückschau steht im Zentrum lukanischer Theologie und Anthropologie. Im Blick zurück erschließt sich die Perspektive, die nach vorn in die Zukunft führt. Lukas re-flektiert Anfänge, er re-formuliert Tradition. Anknüpfung ist die grundlegende Bewegung im geistigen Horizont des Lukasevangeliums. Jesus bei Lukas greift auf Vorwissen zurück. Er erinnert an erlernte Inhalte. Er bezieht sich auf Bekanntes zurück. Der lukanische Jesus führt Menschen zu ihrem inneren Ursprung als dem Begegnungsort mit Gott. Mit seiner Darstellung Jesu zielt der lukanische Erzähler auf die µετα νοια (Lk 5,32),29 den Sinnes- und Richtungswechsel, den Vernunftwandel, die Um-Kehr seiner Adressatinnen und Adressaten. Die intendierten Lebenskehren betreffen die Bewusstseinsebene. Sie beziehen sich auf geistige und geistliche Wandlungen. Sie werden aber auch in äußerlichen Bewegungsabläufen sinnfällig gemacht.30 Der verlorene Sohn kehrt aus der Fremde, in der er 28 In Lk 5,32 ist die Differenz gegenüber der Markusvorlage in Mk 2,17 augenfällig. Jesus ruft in Lk 5,32 nicht die Sünder statt der Gerechten in seine Gemeinschaft (so Mk 2,17). Er richtet an die Sünder den Ruf zur µετα νοια im Sinne der Änderung ihres Verhaltens (V.32). 29 Zum Verständnis von µετα νοια im lukanischen Doppelwerk vgl. N. N, Μετα νοια in neutestamentlichen Handlungsstrukturen, BThZ 34 (2017), 25–46, 31–38. 30 N, Μετα νοια (s. Anm. 29), 44 Anm. 69, weist unter Bezug auf E.F. T,

7.5 Das Weihnachtsevangelium: Lk 1,5–2,40

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sich verloren hat, nach Hause zurück (Lk 15,20). Die Frauen, die der Hinrichtung Jesu von fern beiwohnen, kehren um und gehen nach Hause. In dem äußeren Wandel spiegeln sich innere Entwicklungen. Die Rückkehr zu heilsamen Ursprüngen wird innerhalb der erzählten Welt durch Jesu Wirken angestoßen. Für die Erzählwelt seiner Zeit wirkt der Erzähler auf dieses Ziel hin. Er lässt Jesus im Sinne seiner Erzählintention agieren. Die Rückführung zur eigenen Herkunft, die Aneignung der Tradition, die Hinwendung zur Vergangenheit folgen keinem archivalischen oder musealen Interesse. Sie dient der Re-Aktualisierung für die Gegenwart. Der lukanische Erzähler und die von ihm präsentierte Jesusgestalt beziehen sich auf Zurückliegendes in der Absicht, es für die gegenwärtige Orientierung dienstbar zu machen. In soteriologischer Hinsicht ist die Überzeugung leitend: Die Befreiung vom heillosen und die Hinführung zum heilsamen Leben resultieren aus Grundlagen, die in der Vergangenheit gelegt wurden. Zum Heil zu gelangen, bedeutet in der lukanischen Theologie, zu den Ursprüngen zurückzukehren.

7.5 Das Weihnachtsevangelium: Lk 1,5–2,40 Die Gestaltung der erzählten Weihnachtswelt von Lk 1,5 bis Lk 2,20 bzw. 40 ist durch hellenistische literarische Traditionen geprägt. Diese verweisen auf eine Literaturgattung aus dem Bereich des Kynismus, „die sog. ,menippeische Satire‘“31. Sie trägt ihren Namen nach dem kynischen Philosophen Menippos von Gadara, der im 3. Jahrhundert v. Chr. in Syrien lebte. Bereits seit der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts ist die menippeische Satire als literarische Gattung bekannt. Der römische Schriftsteller Marcus Terentius Varro verwendet die Bezeichnung „satyra menippea“32 als Sammelüberschrift zu 150 Werken, die er verfasst hat. Für Varro gilt Menippos als Schöpfer dieser Art von Literatur. Woran lässt sich die Verbindung mit der menippeischen Literatur erkennen? In Lk 1 und 2 ist ein auffälliger schneller Wechsel „zwischen prosaischen und versförmigen Abschnitten“33 zu beobachten. Dieses Verfahren ist in derart verdichteter Weise in der gesamten Bibel ohne Beispiel.34 Es stellt jedoch ein ChaΜετανοε ω and µεταµε λει in Greek Literature until 100 A.D. Including Discussion of their Cognates and of their Hebrew Equivalents, Chicago 1908, 26–29, und W. W, µετα νοια Sinnesänderung? ZNW 1 (1900), 66–69, 67, zu Recht darauf hin, dass die „Eingrenzung von µετα νοια auf einen Vorgang des Umdenkens, der sich vom etymologischen Ursprung des Begriffs her nahelegt, […] für die Texte des Neuen Testaments […] wenig Sinn [ergibt]. Vielmehr treten weitere Aspekte neben den kognitiven.“ 31 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 203. 32 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 205; vgl. ebenso N. N, Armut und Reichtum im Lukasevangelium und in der kynischen Philosophie, SBS 220, Stuttgart 2010, 31. 33 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 13. Vgl. auch 112.194.195. 34 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 203.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

rakteristikum der menippeischen Literatur dar.35 Darüber hinaus findet sich ein „Geflecht aus Ankündigungen und Bestätigung auf Seiten der erzählten Handlung“36. In formaler wie inhaltlicher Hinsicht bestehen deutliche Analogien zwischen Lk 1–2 und der kynisch satirischen Literatur. Für die kynische Literatur ist ein Merkmal bezeichnend, das auch für Lk 1–2 von Bedeutung ist. Die Kyniker verkehren teilweise „gesellschaftliche Wertvorstellungen in ihr Gegenteil“37. Reichtum, Ehre und eine vornehme Geburt stellen nach ihrer Auffassung Hindernisse auf dem Weg zur αÆ ρετη dar.38 Die Kyniker ziehen mit ihrem Armutsideal Sympathisanten aus unterschiedlichen sozialen Schichten an. Insbesondere auf ärmere Bevölkerungsgruppen wirken ihre Ansichten attraktiv. In einer Mischung aus Spaß und Ernst formulieren sie ihre Kritik an Reichen und Mächtigen. Dazu bedienen sie sich der Redeform der Diatribe. „Ernst (σπουδη ) und Spaß (γελοιÄον) verbinden sich in den Reden der Kyniker zur Figur des sog. σπουδογε λοιον.“39 Im Kontext des zum Christusglauben gelangten hellenistischen Judentums lässt sich als Verstehenshorizont der idealen Leserschaft des Lukasevangeliums die Kenntnis sowohl der Schriften Israels als auch eine Bekanntschaft mit hellenistischen Literaturtraditionen und die Kenntnis menippeischer Sichtweisen oder die Fähigkeit, dieser zu folgen, annehmen.40 Unter dieser Voraussetzung vermittelt Lk 1–2: In der Figur Jesu verbinden sich königliche Attribute mit einem niedrigen sozialen Status. Jesu Herrschaft beruht auf Weisheit. Eben deshalb tut seine Geburt in einem elenden Stall seiner Bedeutung keinen Abbruch. Weitere Züge fügen sich dieser Leseperspektive ein. Die Grenzen zwischen Himmel und Erde werden durch eine Botenfigur durchbrochen.41 Bei Lukas geschieht dies durch den Engel Gabriel. Er übernimmt die Mittlerrolle, die in der hellenistischen Literatur Hermes ausfüllt. Wie in vergleichbaren Erzählungen der hellenistischen Literatur Homerverse eingestreut werden, zitiert Lukas hier Psalmverse.42 Anlass zum Schmunzeln ist ebenfalls gegeben. Zwar verzichtet Lukas auf derbe Späße oder beißenden Spott, wie sie im kynischen Schrifttum nicht selten sind;43 aber dass himmlische Heere zu Viehhirten Kontakt aufnehmen, ist N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 31.203.267. N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 13; ähnlich 301. 37 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 208. 38 Statt αÆ ρετη durch Tugend zu übersetzen, ist es sachgemäßer, dafür den Begriff „Vorzüglichkeit“ zu wählen – so G. H, Glück und Vorzüglichkeit. Aristoteles über Solons Paradoxon, in: T. Hoyer (Hg.), Vom Glück und glücklichen Leben. Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge, Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Reihe 2, Band 6, Göttingen 2007, 79–102, 79. 39 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 209. Vgl. auch N, Armut und Reichtum (s. Anm. 32), 31. 40 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 306. 41 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 301. 42 Vgl. N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 306–307. 43 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 304–305. 35

36

7.6 Jesu Reden und Handeln

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ein Novum. Normalerweise treten Gottesboten in Verbindung mit ausgezeichneten Persönlichkeiten. Auch die Präsentation des in einer Notunterkunft geborenen Jesuskinds als Nachfolger des legendären Königs David mag zeitgenössischen Lesern ein Lächeln entlockt haben. Die „Dynamik aus Ankündigung und Bestätigung“ läuft auf einen überraschenden Höhepunkt in der lukanischen Darstellung zu. Sie mündet in die „paradoxe Äußerung Simeons“44. Der greise Simeon hat ein Leben lang scheinbar vergebens auf den Tröster Israels gewartet. Er richtet an Maria die Worte: Dieser, Jesus, ist gesetzt zum Fall und zum Aufstehen vieler in Israel und zum Zeichen, dem widersprochen wird (Lk 2,34).45 Jesus ist ein σηµειÄον αÆ ντιλεγο µενον. „An ihm werden sich die Geister scheiden.“46 Gerade der Widerspruch gegen ihn dient seiner Bestätigung.47 In der lukanischen Geburtsgeschichte von Jesus, dem Armeleutekind vom Lande, das zum Heil der Menschen gekommen ist, hallen kynisch-menippeische Anschauungen nach. Sie ermöglichen es dem Erzähler, die königliche Funktion Jesu und die Befreiung, die er bringt, in „Umwertung der bestehenden Vorstellungen“48 zu präsentieren.49

7.6 Jesu Reden und Handeln Reden und Handeln Jesu liegen bei Lukas so dicht beieinander, dass sie oft zwei Seiten ein und derselben Medaille bilden. Jesu rhetorische Gewandtheit ist bei Lukas ein zentrales Element seines machtvollen Handelns. In Lk 6,20–49 tritt dieser Zug Jesu in Gestalt der pointierten Feldrede in Erscheinung. Die gegenüber der Bergpredigt feststellbare Straffung ist bei Lukas mit einer inhaltlichen Konzentration auf die ethische Botschaft Jesu verbunden. Weniger die theologischen Inhalte wie das Reich Gottes oder die Gottesgerechtigkeit noch geistliche Themen wie das Gebet bestimmen seine Ausführungen. Im Vordergrund stehen soziale Belange, die arme Menschen und ihre Bedürftigkeit betreffen und harte Worte gegen Reiche hervorrufen. Innerhalb dieser Rede, in der das Lukasevangelium vorliegende Tradition übernimmt und überarbeitet, dominieren zudem Jesu direkte Anweisungen und Wertungen. Beide Zitate N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 317. Vgl. T. S, Das Zeichen des Widerspruchs. Die Prophetie des Simeon (Lk 2,34) und die lukanischen Deutungen des Todes Jesu, BZ 63 (2019), 49–70, 52–53, der zudem auf Jes 8,14f. als prophetischen Hintergrund hinweist (55). 46 B, Lukas (EKK III/1) (s. Anm. 2), 146/147. 47 Vgl. N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 201–202.301.317. 48 N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), 317. Vgl. dazu auch C. S, Die Königsmacher. Wie die synoptischen Evangelien Herrschaftslegitimierung betreiben, BBB 186, Göttingen 2019, 309–326. 49 Die Darstellung dieses Teilkapitels orientiert sich an K, Nachhall (s. Anm. 19), 38–40. Sie stellt die Ergebnisse der Untersuchung von N, Lukas und Menippos (s. Anm. 15), zusammengefasst dar. 44 45

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

Bei den Parabeln Jesu verschiebt Lukas gegenüber Markus den thematischen Schwerpunkt. Während das Markusevangelium Jesus als einen Gleichniserzähler präsentiert, der seine Bildwelt aus Vorgängen in der Natur und im bäuerlichen Leben schöpft, reduziert Lk 8 diesen Akzent gegenüber Mk 4. In den Parabelerzählungen des lukanischen Sonderguts stellt Jesus seine Fähigkeit unter Beweis, Menschen zur Erkenntnis ihrer selbst und zu einem Selbstverhältnis zu bringen. In diesen Erzählungen orientiert sich Jesus an menschlichen Einzelschicksalen. Er erzählt von Dilemmasituationen und besonderen Widerfahrnissen, die über sich hinausweisen und auf Erlebnisse übertragbar sind, die so oder ähnlich auch anderen Menschen bekannt sind. Die Dialogszene zwischen dem gesetzeskundigen Fragesteller und Jesus in Lk 10,25–29 lässt erkennen, dass Lukas bei seiner Darstellung Jesu methodische Grundlagen der Gesprächsführung aus der sokratischen Tradition zur Wirkung kommen lässt. Der kurze Wortwechsel zeigt Jesus als einen didaktisch gebildeten Lehrer, der die sokratische Methode der Maieutik anwendet, um bei seinem Gesprächspartner einen Bewusstseinsprozess anzustoßen.

7.6.1 Der Anspruch der Antrittsrede Jesu: Lk 4,16–30 Ein wiederkehrendes Muster innerhalb der lukanischen Darstellung liegt in dem Bemühen des Erzählers, an Voraussetzungen und Vorgaben anzuknüpfen. Der lukanische Erzähler ist ein Meister der Kontextualisierung. Stets ist er bemüht, die Geschichte mit bereits bekannten Daten und Ereignissen zu verknüpfen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Alte Testament. Die Schriften Israels bilden einen Resonanzraum, innerhalb dessen sich das Wirken Jesu entfaltet. Die programmatische Antrittspredigt Jesu in Lk 4,16–30 liefert dafür ein anschauliches Beispiel. Der Erzähler greift unterschiedliche Stränge der Überlieferung auf. Zu ihnen zählen Mk 6,1–6 und Jes 61,1–2 und 58,6.50 Im Zuge dieser Anknüpfung demonstriert Lukas einen dialogischen Umgang mit der literarischen Tradition, auf die er sich bezieht. Das erste mit einer konkreten Ortsangabe verknüpfte öffentliche Auftreten Jesu in Lk 4,16 verlegt das Lukasevangelium in Abweichung von der Markusvorlage von Kapharnaum nach Nazareth. Der summarische Hinweis auf Jesu anfängliche Wirksamkeit in Galiläa, dem Lk 4,14 im Anschluss an Mk 1,14 folgt, erfährt in 4,16 seine Konkretisierung. Lukas stilisiert Jesus unverzüglich zum Mann aus Nazareth. Der Verweis auf Kapharnaum in V.23 bildet dadurch im Lukasaufriss einen Anachronismus. Lukas steht beim Schreiben erkennbar in einem inneren Dialog mit der Markusvorlage. Darin beginnt die Darstellung in der Synagoge von Kapharnaum (Mk 1,21–28). Die weiteren dortigen Begebenheiten schildert Lukas dann erst im Nachgang in Lk 4,31–44.51 Die Erwähnung

50 51

Zur Zitatverarbeitung vgl. K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 184–186. B, Lukas (s. Anm. 3), 91.

7.6 Jesu Reden und Handeln

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der dort geschehenen außergewöhnlichen Geschehnisse stellt im Kontext der Antrittsrede eine Rückschau aus prophetisch vorweggenommener Zukunft dar.52 Ein zweiter Unterschied gegenüber der Eröffnung des Markusevangeliums liegt in der summarischen Erwähnung der Synagogen in Galiläa, in denen Jesus laut Lk 4,15 gelehrt hat. Sein dortiges Wirken ist von Erfolg begleitet. Entsprechend erscheinen die Synagogen als Versammlungsräume, in denen Jesus wirkt, in einem positiven Licht. Anders als Jesu initiales Wirken in der Synagoge von Kapharnaum sind die galiläischen Synagogen bei ihrer ersten Erwähnung im Lukasevangelium freundlich konnotiert. Im Unterschied zu Markus gelten sie Lukas nicht eo ipso als Orte, an denen ein unsauberer Geist herrscht. In Nazareth als dem Ort seiner Kindheit begibt Jesus sich am Sabbat in die Synagoge. Er beabsichtigt, dort aus der Schrift vorzulesen. Man reicht ihm das βιβλι ον des Propheten Jesaja. Er liest eine Passage aus Jes 61,1–2. In den beiden Versen spricht der prophetische Ich-Erzähler von sich: Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich salbte, Armen frohe Botschaft zu verkünden, hat er mich gesandt, Gefangenen ihre Freilassung zu verkünden und Blinden ihre Sehfähigkeit, zu senden Misshandelte in Freiheit, zu verkünden ein angenehmes Jahr des Herrn (Lk 4,18.19). Nach der Schriftlesung richtet sich die gespannte Aufmerksamkeit der Hörerschaft in der Synagoge auf die Interpretation, die Jesus der Passage geben wird.53 Gleich mit seinem ersten Satz setzt er eine Pointe, die auf eine christologische Spitzenaussage hinausläuft. Das prophetische Wort hat hier und heute in Jesu Person seine Erfüllung erfahren (V.21).54 Diese vollmächtige Inanspruchnahme löst zwar das Erstaunen und die Rückfrage unter den Zuhörern aus, wie dem Sohn des Josef eine solche Auslegungsgabe zukommen könne (V.22). Aber die Verwunderung schlägt noch nicht in massive Abwehr um. Dies geschieht erst im Anschluss an die weiteren Ausführungen Jesu. Jesus thematisiert die verhaltene Reserve seiner Zuhörer ihm gegenüber. Wenn hier in Nazareth keine besonderen Taten für ihn sprächen, läge das an der Einschätzung, derzufolge ein Arzt zwar anderen Menschen helfen könne, aber häufig nicht sich selbst und ein Prophet in seiner Vaterstadt keine Akzeptanz finde. So erkläre sich, dass an seiner Person nichts von dem besonderen Status erkannt werde, den er mit dem Schriftzitat für sich in Anspruch nimmt. Das heilvolle und erlösende Handeln, das sich in seiner Auslegung von Jes 61,1.2 auf ihn selbst bezieht, hat ihn in seiner Heimatstadt nicht zu einem erkennbar Großen gemacht. In der lukanischen Rezep-

52 Auf diese Weise vermeidet Lukas einen Erzählfehler; denn in seiner eigenen Erzählung wurde Kapharnaum zuvor nicht erwähnt. 53 „Die Voraussetzung zu der öffentlichen messianischen Wirksamkeit bildet das Ruhen des Heiligen Geistes auf Jesus.“ H.  B, Der Heilige Geist in den Lukasschriften, BWANT 39, Stuttgart 1926, 62. 54 „Indem Jesus das ,Heute‘ auf sich bezieht, sieht er […] in dem atl. Prophetenwort noch etwas Unabgegoltenes vorliegen“, G. N, Prophetische Züge im Bilde Jesu bei Lukas, BWANT 127, Stuttgart/Berlin/Köln 1989, 67.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

tion von Tritojesaja fallen gravierende Uminterpretationen auf, die nicht zuletzt auf Streichungen zurückgehen. „[S]o fällt ins Auge, daß Lukas gerade die Textteile wegläßt, die ihn [den Text; P.-G.K.] auf Israel und den Zion bezogen haben.“ Lukas „will mit diesen Streichungen und Weglassungen die alttestamentliche Verheißung aus ihrer partikularen Beschränkung befreien, er will sie öffnen über das alte Gottesvolk hinaus“.55 Die Hinzunahme und Einfügung von Jes 58,6 aus dem „klassischen Almosentext“56 Jes 58,1–12 am Ende von V.18 macht darüber hinaus den sozialen Charakter der Sendung Jesu stark.57 Die Erwähnung der Einzelerrettungen der Witwe aus Sarepta in 1 Kön 17 durch Elia und des Syrers Naaman in 2 Kön 5 durch Elisa stellt Jesus auf die Seite jener Propheten, denen erst in der Rückschau der Beifall der Menge und allgemeine Anerkennung zuteilgeworden sind. Zu ihrer Zeit hatten ihre Rettungstaten gesellschaftlichen Randgestalten wie der Witwe von Sarepta und dem Aramäer Naaman, einem ausländischen Soldaten, gegolten. Diese beiden gehörten aufgrund ihres sozialen Status bzw. ihrer Herkunft einer wenig geschätzten Minderheit an. Aber gerade diese beiden Personen waren für die Worte der Propheten empfänglich und ihnen gehorsam. Das gab ihrer Dankbarkeit ein besonderes Gewicht. Bei ihnen haben Elia und Elisa die gebührende Wertschätzung gefunden. Beide Propheten bewegten sich zu ihrer Zeit so wie inzwischen Jesus am Rande der Mehrheitsgesellschaft und waren letztlich an ihr abgeprallt. Ihre Rettungstaten kamen nur bei denen zum Zuge, die nach verbreiteter Auffassung als randständige Existenzen galten. Dass Jesus die Synagogenbesucher an die Seite derer rückt, die sich von Elia und Elisa distanziert hatten, ruft deren Zorn hervor. In V.22 hatten sie Jesu pointierte Zuspitzung der Jesaja-Passage auf seine eigene Person noch mit zurückhaltender, geradezu respektvoller Verwunderung quittiert. Ihre Frage, woher Jesus seine Auslegungsgabe zukomme, musste nicht unbedingt als despektierlich wahrgenommen werden. Der christologische Anspruch, der der Szene auf der Ebene der lukanischen Erzählung innewohnt, wird von den Gottesdienstbesuchern nicht als verwerflich abgetan. Dass sie jedoch in der Folge durch Jesu Monolog ab V.23 in die Rolle von Rettungsverweigerern und Prophetenwidersachern gerückt werden, löst Empörung bei ihnen aus. Von Jesus auf die Seite derer gestellt zu werden, die schon Elia und Elisa in ihrer Bedeutung verkannt hatten, macht sie aggressiv. Sie stoßen Jesus buchstäblich aus ihrer Mitte heraus. Sie vertreiben ihn aus der Synagoge, drängen ihn aus der Stadt und stellen ihn auf den Abhang am Stadtrand. Von dort oben wollen sie ihn zu Tode zu stürzen. Bereits dieser erste öffentliche Auftritt Jesu nimmt die Passionserzählung vorweg.58 Jesu Ansprache an das Auditorium enthält für die Ohren der Anwesenden 55 Beide Zitate von R. A, Die „Antrittspredigt“ Jesu im Lukasevangelium auf ihrem alttestamentlichen Hintergrund, ZNW 74 (1983), 182–206, 190. 56 A, „Antrittspredigt“ (s. Anm. 55), 204. 57 Vgl. A, „Antrittspredigt“ (s. Anm. 55), 198.200. 58 E. S, Suffering in Luke’s Gospel, AThANT 81, Zürich 1993, 25.45–48, iden-

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eine unerträgliche Spitze. Die Zuweisung zur Gruppe derer, die bereits Elia und Elisa ihre Zustimmung verweigerten, lassen sie Jesus nicht durchgehen. Sie reagieren als Menschen, deren religiöse Gefühle verletzt wurden. Mehr als gegen die Klage Jesu, ihn mit seiner Mission nicht zu erkennen, empören sie sich dagegen, von Jesus auf die Seite derer gestellt zu werden, die seinerzeit nicht die Bedeutung Elias und Elisas sahen. Der christologische Anspruch, der der Erstverkündigung Jesu in der Synagoge von Nazareth auf der Ebene der Gesamterzählung innewohnt, wird in Lk 4,21 auf dem Weg der Schriftauslegung erhoben. Ihr zufolge haben sich die Aussagen des Jesajabuches im Wirken Jesu erfüllt. Damit ist ein Bogen zu den unter uns erfüllten πρα γµατα aus Lk 1,1 geschlagen. Die inhaltlichen Motive, die Jesus im Verlauf des Lukasevangeliums als Anwalt armer und ausgegrenzter Menschen zeigen, sind mit Jes 61 ebenfalls benannt. Hermeneutisch beruht die adäquate Schriftauslegung aus Erzählerperspektive auf der christologischen Vorentscheidung. Die Ohrenzeugen können Jesu Ausführungen zunächst noch mit einiger Verwunderung hören und sogar würdigen. Dass sie im Folgenden durch Jesu weitergehenden Monolog in eine Reihe mit denjenigen gerückt werden, die schon Elia und Elisa ihre Zustimmung verweigerten, erbittert sie. Auf lukanischer Ebene steckt in dem christologischen Geltungsanspruch bereits der Keim für die Passion und den Tod Jesu. Die programmatische Erzählung führt ein kritisches Element der lukanischen Christologie vor Augen. Der Anspruch, mit dem Jesus auftritt, beinhaltet eine Entscheidungsforderung. Er forciert einen Trennungsprozess. Das Problem derer, die mit Ablehnung auf ihn reagieren, liegt aus lukanischer Sicht in ihrer hermeneutischen Begrenztheit. Sie lesen die prophetischen Passagen der Schrift, ohne deren Jesusbezug zu realisieren. Mit dieser unchristologischen Lektüre verfehlen sie ihren Sinn. Bei denjenigen, die sich damit auf der falschen Seite wiederfinden, löst diese Feststellung Aggression aus. Sie weisen Jesu Auftritt als diskriminierend zurück. Sie empfinden das Urteil über sie als Makel. Um das Stigma loszuwerden, wollen sie Jesus umbringen. Sie machen ihn verantwortlich für das Dilemma, in das sie durch ihre christologiefreie Schriftlektüre geraten sind. Die Erzählung endet in V.30 damit, dass Jesus von der tödlichen Feindschaft gegen ihn unberührt bleibt. Er ignoriert die Wirkung, die seine Selbstdeutung und die Beurteilung der Anwesenden auslöst. Mitten durch die versammelte Menschenmenge hindurch geht er weg.59 Die explizite Angabe der Mittelposition Jesu, der sich nicht als Verlierer aus der Gefahr herausstiehlt, sondern die prekäre tifiziert sechs Dimensionen des Leidens im Lukasevangelium und besonders auch in Lk 4,16–30: economic, physical, psychological, spiritual or religious, political sufferings, außerdem „concern for ostracised groups in society“ (48). 59 W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 199: Der Erzähler „überlässt es […] der Imagination der Leser, sich den Grund für Jesu Rettung vorzustellen“. B, Lukas (EKK III/1) (s. Anm. 2), 216: „Noch ist nicht die Zeit der Passion.“

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Situation souverän durchschreitet, verweist auf die Unantastbarkeit Jesu durch seine menschlichen Widersacher. Die Bemerkung kommt einem Statement gleich: Jesus geht durch den Widerstand hindurch. Der gleiche erzählerische Zug begegnet in der Eröffnung der letzten Phase des Lebens Jesu. Die Kreuzigungsszene beginnt in Lk 23,45 mit dem Hinweis, dass der Vorhang des Tempels mitten entzweiriss. Atmosphärisch wird die Unberührbarkeit Jesu durch das äußere Geschehen auch zur Folie des Hinrichtungsgeschehens. Jesu letzte Stunde wird ebenfalls zur Dokumentation seiner Größe werden.

7.6.2 Die Parabeln Jesu 7.6.2.1 Sokratische Maieutik: Lk 10,25–29 Im Mittelteil des Lukasevangeliums folgen in engem Takt die großen Parabelerzählungen Jesu aufeinander. Sie tragen wesentlich zur Wirkmächtigkeit des dritten Evangeliums bei. Die Erzählungen vom barmherzigen Samariter, reichen Kornbauern, verlorenen Sohn, reichen Mann und armen Lazarus, Pharisäer und Zöllner haben jahrhundertelang die Sozialisierung von Christinnen und Christen geprägt. Vorgelesen und nacherzählt, gemalt und in Kirchenfenstern verglast haben sie der Vergegenwärtigung der Kernelemente christlicher Lebensführung gedient. In Verbindung mit der lukanischen Weihnachts- und Ostergeschichte gehören diese Erzählungen zu den einflussreichsten Vermittlungsinstanzen bei der Weitergabe des christlichen Glaubens. Um so bedeutsamer ist es, die geistige Triebfeder der narrativen Vermittlung des dritten Evangeliums zu erfassen. Der ersten der paradigmatischen Erzählungen zwischen Lk 10 und Lk 18 stellt der Erzähler eine kurze Debatte zwischen Jesus und einem Gesetzeskundigen voran. Darin geht es um den Zugang zu einem komplexen theologischen Sachverhalt. Die Szene beinhaltet eine zentrale erkenntnistheoretische Weichenstellung, die in den anschließenden Beispielerzählungen und Parabeln zur Ausführung gelangt. Die Erzählung vom beispielgebenden Verhalten des barmherzigen Samaritaners in Lk 10,30–37 bereitet der lukanische Erzähler in Lk 10,25–29 mit einem stilisierten Dialog vor. Ein gesetzeskundiger Mann tritt mit einer Frage an Jesus heran, die vom Erzähler als Versuch charakterisiert wird, Jesus zu testen bzw. ihm eine Falle zu stellen. Der Gesetzeskundige billigt Jesus durch die Anrede Autorität zu. Er spricht ihn als Lehrer an und erkundigt sich nach seiner persönlichen eschatologischen Perspektive60: Was muss ich tun, um ewiges Leben zu ererben? (Lk 10,25). Damit wirft er die Frage nach dem Höchstwert auf, auf den sich das menschliche Leben beziehen kann. 60 Vgl. R.  B, Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium, BZNW 101, Berlin/ New York 2001, 147: Die Frage schließt sich folgerichtig der unmittelbar zuvor in Lk 10,17–24 behandelten „eschatologischen Perspektivik“ an.

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Drei unausgesprochene Axiome unterliegen dieser Fragestellung. Erstens richtet sich die Frage auf die Voraussetzungen, um zum ewigen Leben zu gelangen. Sichtbar ist, dass das ewige Leben ein noch ausstehendes und erst zu erlangendes Gut darstellt. Zum Zeitpunkt der Frage ist es für den Fragesteller noch nicht verfügbar. Der Gesetzeskundige erkundigt sich, wie er von seinem derzeitigen Standort außerhalb des ewigen Lebens zum ewigen Leben als dem angestrebten Ziel gelangt. Damit formuliert er ein Defizit als Ausgangspunkt seiner Frage. Zweitens heftet er seine Erwartung daran, dass der Weg zum ewigen Leben über ein Tun zu erreichen ist. Er fragt Jesus nach den Anforderungen für ein zielführendes Handeln. Drittens gibt er mit der Wahl des Verbs ererben zu verstehen, dass er von einem Rechtsanspruch auf das ewige Leben ausgeht. Allerdings ist der Empfang des Erbes an Voraussetzungen gebunden, die er von Jesus erfahren möchte. Anthropologisch ist die Standortbestimmung des Gesetzeskundigen aufschlussreich. In der Nomenklatur von Arnold Gehlen ausgedrückt definiert der Fragesteller sich selbst als „Mängelwesen“.61 Gegenwärtig verfügt er nicht über die Voraussetzungen zur Erlangung des ewigen Lebens. Den Ausgleich der defizitären Lage erwartet er sich von einem sachgemäßen Verhalten. In seiner Vorstellung handelt es sich beim ewigen Leben um eine zukünftige Gabe. Die gelebte Gegenwart erscheint als die Zeit, in der die Voraussetzungen zum Eintreffen der erwarteten Zukunft zu erfüllen sind. Jesus antwortet mit einer Doppelfrage (Lk 10,26). Er fragt, was im Gesetz geschrieben steht; und er möchte wissen, wie der Gesetzeskundige dies liest. Die Doppelfrage dient der Vergegenwärtigung des Kenntnis- und des Sachstands und daran anschließend der Erkundung der Verstehensleistung. Jesus fragt nach dem Wissen des νοµικο ς und seinem Verständnis der Schrift.62 Statt dem Fragesteller eine direkte Antwort zu geben, verweist Jesus ihn auf sich selbst zurück. Er spricht ihn auf seine Gelehrtheit an. Der Angesprochene reagiert auf dieser Ebene unverzüglich. Wie ein vom Lehrer aufgerufener Schüler rezitiert er seine Schriftkenntnisse. Den Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe sagt er, ohne zu stocken, aus dem Gedächtnis auf (Lk 10,27). Dafür erhält er von Jesus unmittelbar die bestätigende und würdigende Rückmeldung: Du hast richtig geantwortet. Jesus lobt im Stile des klugen Pädagogen die zutreffende Beantwortung der Frage. Anschließend fügt er einen Handlungsimpuls hinzu. Tu das, und du wirst leben. Der Dreischritt der Szene folgt dem Grundgesetz der sokratischen Maieutik. Die mit dem Namen des Sokrates verbundene sog. Hebammenkunst besagt, dass die Unterstützung auf dem Weg zur Erkenntnis darin besteht, einen Fragesteller bzw. eine Fragestellerin dort abzuholen, wo er oder sie sich derzeit geistig befin-

61 Vgl. die Darstellung bei W. P, Handbuch der Anthropologie. Die wichtigsten Konzepte von Homer bis Sartre, Darmstadt 32018, 108–114, Zitat 109. 62 Beide zitierte Begriffe bei K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 390.

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det. Der erste Schritt besteht in einem Impuls, der zur Selbsterkenntnis führen soll. Über die Erinnerung wird auf der Basis der Selbsterkenntnis Wissen gewonnen. Die Validität dieses Wissens erweist sich in einem sachgemäßen Handeln. Genau diese Trias aus Selbsterkenntnis – Wissen – Handeln findet in Lk 10,25–28 Anwendung. Jesus verweist den Fragesteller auf die Schrift als das Wissensgebiet, auf dem er sich bestens auskennt. Dort soll er nach einer Antwort auf seine Frage suchen. Dies tut er durch das Aufsagen des Erlernten, und sein auf dem Weg der Selbsterkenntnis reaktiviertes Wissen erhält eine Bestätigung. Diesem folgt der Aufruf zum entsprechenden Handeln. Darin spiegelt sich der hellenistische Grundsatz, demzufolge sich das richtige Verstehen im sachgemäßen Handeln ausdrückt. Die Bewegungslenkung durch den sokratisch stilisierten lukanischen Jesus zielt auf die Rückkehr zu dem bereits vorhandenen Wissen. Das klingt wie ein Nachhall des Leitspruchs des Orakels von Delphi γνωÄ θι σαυτο ν. Der Gesetzeskundige zielt mit seiner Frage darauf, geistiges Neuland kennenzulernen. Dazu bittet er Jesus als externe Instanz um Auskunft. Dieser verweist ihn jedoch an sich selbst zurück. Er spricht ihn auf die Wissensressourcen an, die in ihm vorhanden sind. Inhaltlich bedeutet das in diesem konkreten Gespräch: „Die jüdische Tradition genügt für den Weg zum ewigen Leben.“63 Dem Dialog zum Erlangen des ewigen Lebens liegt in kommunikativer Hinsicht das Motiv der Anknüpfung zugrunde. Jesus tritt nicht als der Offenbarer des bis dahin völlig Unbekannten auf. Er nimmt nicht die Rolle eines Verkündigers ein, der Wissen um ansonsten unbekannte religiöse Inhalte in sich trägt und weitergibt. Das Wissen um die letzten Dinge liegt vielmehr im Fragesteller selbst schon bereit. Die Rolle Jesu ist es, dies zu aktivieren. Einem solchen Rückverweis auf sich selbst will der Gesetzeskundige jedoch nicht folgen. Seine erneute Frage in Lk 10,29 dokumentiert: Er sieht ein weiteres Mal von sich selbst weg. Diesmal fragt er nicht nach etwas Anderem, sondern nach jemand Anderem. Und wer ist mein Nächster? Die Ausrichtung bleibt die gleiche wie in V.25. Von sich selbst weg schaut er auf ein Objekt, dem er seine Gedanken zuwendet.64 7.6.2.2 Nächster werden – die Perspektive des Opfers: Lk 10,36 Die Erzählung von dem Samaritaner, der anders als der Levit und der Priester dem unter die Räuber Gefallenen beisteht, gelangt in V.36 zu ihrem Höhepunkt. Wiederum vergewissert sich Jesus in einer Rückfrage bei dem Gesetzeskundigen, ob dieser verstanden hat, was er ihm vermitteln will. Analog zum vorherigen Dialog in V.26 liegt Jesu eröffnender Gesprächsbeitrag in der Frage: Wer von S, Evangelium nach Lukas (s. Anm. 20), 127. Die strukturelle Parallelität im Aufbau zwischen V.25–28 und V.29–37 beschreibt F. B, Das Evangelium nach Lukas 2. Teilband Lk 9,51–14,35 (EKK III/2), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1996, 83. 63

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diesen dreien scheint dir zum Nächsten geworden zu sein dem, der unter die Räuber gefallen ist? Aufschlussreich in dieser Bestimmung des Verhältnisses der genannten Personen ist die Blickperspektive. Jesus kehrt mit ihr die Frage nach dem Nächsten gegenüber V.30 um. Dort hatte der Gesetzeskundige aus einer Subjekt-Objekt-Beziehung gefragt, wer von seinem Standpunkt aus sein Nächster ist. Er setzte sich selbst zum Bezugspunkt, von dem aus er die Nähe oder Ferne eines anderen Menschen bemisst. Auf diese Weise platziert er den Nächsten in die Position eines Objekts.65 Mit der Umkehrung der Blickrichtung führt Jesus einen veränderten Maßstab ein. Vom Opfer her wird die Nähe eines Menschen bemessen. Wie nah jemand dem Opfer gekommen ist, bildet die neue Norm. Gleichzeitig wird durch die Veränderung des Verbgebrauchs die Statik des NächsterSeins in die Dynamik des Nächster-Werdens umgewandelt. Niemand ist Nächster; ob jemand Nächster wird, erweist sich aus der Perspektive des Opfers.66 Die Antwort des Gesetzeskundigen zeigt, dass er in kognitiver Hinsicht auch diesmal verstanden hat. Die Bewährung seiner Einsicht legt ihm Jesus wie in V.28 mit der Aufforderung in V.37 gehe und mache es genauso! nahe. Der erkenntnistheoretische Zugang des Lukas, wie er in Lk 10,25–37 vorgeführt wird, ist für die lukanische Ethik insgesamt von Bedeutung. Lukas verknüpft sein Barmherzigkeitsethos und seine Sensibilität für Menschen in existentiellen Notlagen damit, die Leserschaft aus der Zuschauerrolle heraus- und in eine von persönlicher Verantwortung geleitete Beteiligung hineinzuführen. Der Erzählfigur des Gesetzeskundigen in Lk 10,25–29.37 kommt dafür Modellcharakter zu. 7.6.2.3 Der Kurzschluss des Kornbauern: Lk 12,16–21 Die Erzählung vom reichen Kornbauern unterstützt in indirekter Weise die lukanische Theologie der Rückbezüglichkeit. Die zentrale Frage, die die Beispielerzählung aufwirft,67 resultiert aus dem Urteilsspruch, der dem Bauern am Ende mitgeteilt wird (V.20). Er wird als αÍ -ϕρων angesprochen, als Un-Verständiger. Das Substantiv bekundet seine Ferne von der Einsicht in das Geschehen. Er ist weg vom Verstehen. Für diese Nacht wird ihm sein Tod angekündigt. Daran knüpft sich die Frage, wem dann sein angehäufter Besitz gehören wird.

Vgl. B, Lukas (EKK III/2) (s. Anm. 64), 91–92. W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 397: In der „Verwendung des Perfekts γεγονε ναι […] steckt die These, dass die Relation des πλησι ον-Seins nicht vorgegeben ist, sondern durch punktuelle Entscheidungen und Handlungen von Menschen hergestellt wird und dann auch dauerhaft Bestand hat“. 67 Die exakte Gattungsbezeichnung – handelt es sich um eine Beispielerzählung oder eine Parabel – ist in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Vgl. dazu die Debatte bei B. K, Das letzte Hemd hat keine Taschen (Vom reichen Kornbauern) – Lk 12,16–21, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 564–572. 65

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Die zentrale Frage für die Interpretation der Erzählung lautet: Worin liegt im Kern der Fehler, besser: das Defizit an Erkenntnis bei dem wohlhabenden Bauern? Sachlich folgt er in angemessener Weise den Erwägungen einer vorausschauenden ökonomischen Vernunft. Um die reiche Ernte zu sichern, will er die zu klein gewordenen alten Kornspeicher abreißen und größere errichten. Im Sinne der Vorsorge und der Wahrung seines Besitzes ist das eine kluge Entscheidung.68 Als Gründe für das harte Urteil über den Großbauern wird häufig Habgier genannt. Auch eine in religiöser Hinsicht unangemessene Konzentration auf den Erwerb diesseitigen Reichtums wird ihm vorgeworfen. Er wolle über seinen Tod hinaus hamstern. Der Schlussvers 21 mit seinem unterschwellig nach leichter Schadenfreude klingenden Votum scheint in diese Richtung zu deuten. Die moralische Dimension erfasst jedoch den geschilderten und vom Erzähler negativ bewerteten Vorgang nicht in seiner Tiefe.69 Was dem als αÍ ϕρων titulierten Bauern vorgeworfen wird, ist sein mangelndes Verständnis.70 Er ist weg vom Denken, von vernünftiger Einsicht, wie es das Alpha-Privativum als Vorsilbe in αÍ ϕρων anzeigt.71 Sein Verständnisdefizit zeigt sich in seiner Fehleinschätzung der Zeit. Er richtet seine Gedanken in die Zukunft.72 Aber genau der Zeitraum, der für seine Überlegungen konstitutiv ist, steht ihm nicht zur Verfügung. Das weiß er nicht, und diesen Risikofaktor übersieht er. Dem lukanischen Erzähler gilt das Futur als eine fragile Zeitdimension. Dem Bauern steht die Zukunft, die er für seine Planungen benötigt, nicht offen. Er wird sie nicht erreichen, und das macht seine Planungen hinfällig. „Er hat das Entscheidende vergessen.“73 Auf die Zukunft kann er in der Gegenwart buchstäblich nicht bauen. Stattdessen gilt es, das „Leben im Bewußtsein des eigenen Todes aufzubauen“74. Diese zukunftsskeptische Perspektive des Lukasevangeliums unterstützt die Intention einer Vielzahl von Erzählungen bei Lukas, die gerade die stabilisierende Kraft der Vergangenheit und der in ihr gelegten Grundlagen hervorheben. Seien es die Fundamente in den Schriften Israels (Lk 4,18.19), sei es der Vorgang der Selbsterkenntnis (Lk 10,27.28) oder die schlichte Umkehr (Lk 5,32; 15,18), 68 W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 449: „In einer solchen Situation würde sich jeder andere ebenso verhalten.“ 69 W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 450, wendet daher zu Recht ein, ob das Anliegen der Erzählung „wirklich die Warnung vor der ,Habgier‘ (πλεονεξι α) ist oder nicht vielmehr die Warnung vor einer falschen Einschätzung der Situation“. 70 Vgl. N, Armut und Reichtum (s. Anm. 32), 73–83, 79: Der Narr leidet „an einer verkürzten Erkenntnis“. 71 Ein weiteres Mal nach Lk 6,11 diagnostiziert der lukanische Erzähler ein kognitives Defizit. Wie die Gegner Jesu in Lk 6,6–11 von Unvernunft (αÍ νοια) erfüllt sind, so fehlt dem reichen Kornbauern der benötigte Verstand. 72 K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 447: „Aber über diese Zukunft wacht Gott.“ 73 K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 447. 74 B, Lukas (EKK III/2) (s. Anm. 64), 287.

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stets sind es die Rückwendung zu und die Reaktivierung einer tragenden Basis, die die Rettung bzw. das Verständnis der Situation ermöglichen. Der Kornbauer überschätzt die Stabilität der Zukunft,75 um als Orientierungsmaßstab für gegenwärtiges Handeln dienen zu können. Während er nach vorn schaut, spricht Gott ihn auf seine Fehleinsicht an. Er verweist ihn zurück auf die Grundlagen seines gegenwartsgebundenen irdischen Lebens, und das ist in diesem Fall seine Sterblichkeit. Will man das ebenfalls als ein Re bezeichnen, dann ergeht hier der Ruf zur Rückwendung von der Zukunft hin zur Gegenwart. Um in einer fragilen Gegenwart Halt zu gewinnen, sind im Tenor des Lukasevangeliums der Blick zurück und die Wiedergewinnung der in der Tradition niedergelegten Einsichten von lebensrettender Bedeutung. 7.6.2.4 Die Spannung zwischen Annahme und Gerechtigkeit: Lk 15,11–32 Die Erzählung von dem unschuldig unter die Räuber Gefallenen in Lk 10,30–37 thematisierte die nicht erwartbare Rettung ausgerechnet durch einen Samaritaner. Sein Verhalten muss die beiden eigentlich hilfepflichtigen Personen beschämen, sind doch der Levit und der Priester durch die Volkszugehörigkeit und ihre religiöse Aufgabe im Tempeldienst in doppelter Weise zu Ersthelfern prädestiniert. Diese natürlich gegebene Nähe zu dem Opfer garantiert jedoch gerade nicht die notwendige Hilfeleistung. Demgegenüber wird die erlösende Annahme, von der Lk 15,11–32 erzählt, anders kontextualisiert. In diesem Fall steht ein junger Mann im Mittelpunkt des Interesses, der durch Leichtsinn und Fahrlässigkeit in eine selbst verschuldete Notlage gerät. Am Ende geht die Geschichte für ihn trotzdem glücklich aus. Er wird bei seiner Heimkehr von seinem Vater herzlich empfangen.76 Allerdings wird der freundliche Ausgang am Ende durch eine Kritik an der Berechtigung des väterlichen Verhaltens in Frage gestellt. Der ältere Bruder fordert Gerechtigkeit ein. Er bringt zur Sprache, dass eine bedingungslose Annahme, die die Vorgeschichte, die überhaupt erst zu der Notlage führte, ausblendet, zu einem Gerechtigkeitsproblem führt. Die Annahme eines Bedürftigen erweist sich spätestens in dem Moment nicht als Selbstverständlichkeit, in dem die Schuldlosigkeit an der Notlage nicht zweifelsfrei am Tage liegt. Der ältere Bruder gibt dem Verlangen nach einer Begründung der Annahme im Horizont der Gerechtigkeit eine Stimme.

75 Vgl. P.-G. K, Diakonie und moderne Lebenswelt. Neutestamentliche Perspektiven, Karlsruhe 1998, 25–26. 76 Die erbarmende Annahme des Vaters versteht sich zwar nicht von selbst, aber sie liegt auch nicht völlig außerhalb der Norm, ist es doch die väterliche Liebe, die die freudige Wiederaufnahme bewirkt. Vgl. L. S, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 184: „V.20 bleibt im Rahmen der Erzählung. Der Vater liebt sein Kind.“ Ähnlich W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 529: „Kein Leser […] wird vom Vater etwas anderes erwartet haben, als in V.20b-24 erzählt wird“.

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Die Erzählung als Ganze scheint in zwei Teile auseinanderzufallen. V.11–24 erzählt von der Wiederherstellung einer zerbrochenen Vater-Sohn-Beziehung. Der jüngere Sohn findet nach einem gescheiterten Lebensweg Rettung durch die liebende Wiederaufnahme, die ihm sein Vater schenkt. V.25–32 stellt einen Neueinsatz dar.77 Unter Bezug auf das soeben geschilderte Ereignis folgt eine Auseinandersetzung um die Frage nach der Berechtigung der bedingungslosen Annahme. Zugespitzt wird die Frage nach der Gerechtigkeit dadurch, dass der jüngere Sohn selbstverschuldet in seine missliche Lebenslage geraten ist. Die Wahrnehmung einer Zweiteilung der Erzählung hat unter literarkritischen Vorzeichen zur Unterscheidung zwischen zwei Traditionen geführt, die nachträglich zusammengeführt worden seien. Der Grunderzählung in V.11–24 sei eine Ergänzung durch die Verse 25–32 hinzugegeben worden.78 Diese Lösung besitzt den Vorteil, dass mit V.11–24 eine in sich stimmige Erzählung von der bedingungslosen Annahme eines in einem heillosen Leben versunkenen Sohnes durch seinen gütigen Vater vorzuliegen scheint. Sie ließe sich noch dazu mit der rechtfertigungstheologischen Sicht einer voraussetzungslosen Annahme des Sünders durch Gott, wie sie Paulus vorträgt, vereinbaren. V.25–32 könnte dann als ein verzichtbarer Anhang gelten, der die gelungene Grunderzählung unnötig belastet. Andererseits würde auf diese Weise die der Gesamterzählung inhärente Spannung der beiden „Konfliktfelder“79 des Verhältnisses des Vaters zu seinen beiden Söhnen und des Einspruchs des älteren Bruders aufgebrochen. Zudem hat die Interpretation die kontextuelle Einbindung der Parabel80 als Ganzer in ihrer Endfassung in den Erzählzusammenhang des Lukasevangeliums zu berücksichtigen.81 Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass schon der erste Teil der Erzählung in sich nicht spannungslos ist. Zu klären ist im Blick auf V.11–24, wie sich Selbsterkenntnis und Umkehr zueinander verhalten. Das Motiv einer bedingungslosen Annahme ist bereits in diesem Teil der Erzählung differenziert zu betrachten. V.16 erzählt, wie der jüngere Sohn im fernen Ausland als Schweinehüter am Tiefpunkt seiner sozialen und religiösen Existenz angekommen ist.82 Dort gelangt 77 J. J, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984, 131, bezeichnet die Erzählung als ein „zweigipflig[es]“ Gleichnis. 78 So urteilt K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 528. Für Klein „paßt“ der zweite Teil „zum ersten nicht in der erwünschten Weise“ (527). 79 C. L, Die Rückkehr ins Leben nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, ZThK 99 (2002), 239–261, 245. 80 Laut G. S, Allegorie und „Gleichnis“. Zur Formenlehre der synoptischen Gleichnisse, in: W. Harnisch (Hg.), Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft, WdF 575, Darmstadt 1982, 367–429, 422, ist das Kennzeichen einer Parabel die Verbindung zwischen „Metaphorik“ und „Erzählcharakter“. In Lk 15,11–32 überlagert das Erzählerische das Metaphorische so deutlich, „daß man beinahe vergessen kann, daß es sich um eine Parabel handelt“ (424). 81 Darauf weist bereits K.-W. N, Kommunikationsebenen im Gleichnis vom verlorenen Sohn, ThLZ 116 (1991), 481–494, 483–487, hin. 82 Er lebt αÆ σω τως, fern vom Heil (V.13). Als Jude Schweine hüten zu müssen, markiert auch in religiöser Hinsicht sein Desaster.

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er zu einer weitreichenden Einsicht.83 Er will zu seinem Vater mit dem Eingeständnis seiner Verfehlung zurückkehren und aussprechen, dass er gegenüber dem Himmel und dem Vater gesündigt hat (V.18).84 Mit einer Demutsbezeugung will er um Hilfe bitten (V.19). Genau dies tut er anschließend in der Dramaturgie der Erzählung auch.85 Er begibt sich auf den Heimweg, der Vater sieht ihn von ferne kommen, läuft ihm entgegen, schließt ihn in die Arme, und im gleichen Moment spricht der Sohn die Worte der Reue aus, genauso, wie er es sich vorgenommen hat. In der Szenenfolge bekommt der Vater diese Worte freilich erst zu hören, nachdem er dem Jungen bereits entgegengeeilt ist und ihn in seine Arme geschlossen hat. Auf der Ebene des Erzählten nimmt der Vater den Sohn ohne Kenntnis von dessen innerer Einsicht an.86 Die Zuspitzung auf die Alternative, ob in dieser Erzählung die Reue der Annahme vorangeht oder ob die Wiederaufnahme durch den Vater bedingungslos erfolgt, geht letztlich an der Erzählung vorbei. Sie erweist sich als Scheinalternative. Auf der Ebene der handelnden Figuren weiß der Vater nicht, was in der Ferne im Sohn vorgeht; und der Sohn kann nicht kalkulieren, wie sein Vater auf

83 F. B, Das Evangelium nach Lukas, 3. Teilband Lk 15,1–19,27 (EKK III/3), Düsseldorf/Zürich/Neukirchen-Vluyn 2001, 47: „Für das hellenistische Judentum und das Frühchristentum ist das In-sich-Gehen eine wichtige Etappe der µετα νοια, der ,Umkehr‘, der Rückkehr zu Gott.“ 84 Nach H. W, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, FRLANT 120, Göttingen 31984, 255 Anm. 49, „bedeutet der Ausdruck“ ειÆ ς εë αυτοÁ ν δεÁ εÆ λθωÂ ν „die Rückkehr des Sohnes zur Vernünftigkeit“. L, Rückkehr ins Leben (s. Anm. 79), 250: „Die Wendung ειÆ ς εë αυτοÁ ν δεÁ εÆ λθω ν beschreibt mit der folgenden Einsicht in die Sünde einen kognitiven Prozeß“. Der Vorgang verschärft laut Landmesser jedoch die Lage des jungen Mannes; denn „die Einsicht in die eigene Sünde ist hier nicht die Rettung und […] auch nicht der erste Schritt zur Besserung, sie beschreibt vielmehr das tiefste Elend“ (251). 85 N. N, Bewegungen im Dreieck: Heil als Begegnung im erzählten Raum des lukanischen Sonderguts, Bib. 97 (2016), 375–394, 382, weist darauf hin, dass in der Erzählung zwar „[d]as lukanische Lieblingsmotiv der µετα νοια fehlt“. „Jedoch macht der Kontext deutlich (vgl. Lk 15,7.10), dass der Evangelist auch das Verhalten des jüngeren Sohnes als Ausdruck der Umkehr verstanden wissen will.“ Vgl. auch G. S, Lukas als Gleichniserzähler: die Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37), ZNW 65 (1974), 166–189, 182–184. 86 L, Rückkehr ins Leben (s. Anm. 79), 254: „Der Vater vergibt […] dem Sohn voraussetzungslos. Das Bekenntnis, gegen Gott und den Vater gesündigt zu haben, spricht der Sohn erst nach dem Akt der Vergebung aus (V.21).“ Vgl. auch  B, Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ (s. Anm. 60), 332. Anders J.-W. T, Der Mensch und sein Heil. Studien zum Bild des Menschen und zur Sicht der Bekehrung bei Lukas, StNT 14, Gütersloh 1982. Laut Taeger sollte man gerade nicht „auf die dem Sündenbekenntnis zuvorkommende Vergebung des Vaters verweisen“; denn den Lesern wurde bereits in V.17–20 „eindringlich vor Augen geführt […], wem der Vater vergibt, nämlich dem, der bereits zu Sündenbekenntnis und Umkehr gefunden hat“ (205). „Die Geschichte ist eine Einladung zu der Selbsterkenntnis, zu der der jüngere Sohn fand, der seine durch ein ζηÄ ν αÆ σω τως herbeigeführte Situation überwand.“ (206).

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seine Rückkehr reagieren wird.87 Aus der Erzählerperspektive und damit auf der Ebene der Erzählung, wie sie der Leserschaft zugänglich ist, zeigt sich hingegen eine Parallelführung der mit den beiden Personen verbundenen Handlungsstränge. Die Annahme von Seiten des Vaters bleibt unabhängig von dem Verhalten des Sohnes und ist unverfügbar. Gleichzeitig vermittelt der Erzähler auf der anthropologischen Ebene: Ohne Einsicht und ohne Rückkehr gibt es keine Annahme. Erzählt wird ein und derselbe Vorgang in theologischer und unter anthropologischer Hinsicht. Im Moment der Begegnung fallen Selbsterkenntnis und bedingungslose Annahme ineinander. Sie bilden zwei Momente ein und derselben Bewegung aufeinander zu.88 Werden die beiden Erzählstränge von V.11–24 und V.25–32 ohne literarkritische Scheidung als die zwei Züge einer Gesamterzählung beieinander gehalten, tritt die besondere Dynamik des Geschehens zutage. Sie führt aus der Einlinigkeit einer Erzählung von Rückkehr und unerwarteter Annahme heraus. Sichtbar wird das spannungsvolle Verhältnis von Vergebung und Gerechtigkeit. Ins Blickfeld treten zwei unterschiedliche Maßstäbe für den Umgang unter Menschen.89 Der bedingungslosen Annahme, wie sie in der Erzählung von dem Vater repräsentiert wird, liegt das Bild eines jüngeren Sohnes zugrunde, der in seinem jugendlichen Überschwang biographisch scheitert. Diese Situation, die als Stereotyp urbildlichen Charakter besitzt, kann auf die emotionale Anteilnahme der Leserschaft rechnen. Entsprechend wird auch das glückliche Ende der Episode in V.24 die Mitfreude der Lesenden auslösen. Scheitern als Grunderfahrung im Leben ruft in praktisch jeder Lebensgeschichte nach Mitgefühl und Erlösung. Aus der Identifikation mit dieser schmerzhaften Erfahrung heraus erfüllt das Handeln des Vaters die Sehnsucht aller, die sich in das Scheitern des Sohnes hineinfühlen. Vergebende Annahme, auch wenn sie in formaler Hinsicht unverdient erscheint, ist als Ausdruck der Größe des Gebers und der Bedürftigkeit des Empfängers ein Sehnsuchtsmotiv menschlichen Zusammenlebens. Dieser Wunsch wird mit V.24 eingelöst. Ein anderer Blick auf die Szene verbindet sich mit dem Protest des älteren Bruders ab V.25.90 Dieser Sohn verweist auf sein bisheriges Handeln (V.29) und führt die Ebene des Vergleichs zwischen seinem Tun und dem seines Bruders ein (V.30). Während die personale Akzeptanz nicht primär von den aufweisbaren 87

141.

Vgl. G. P, Das Sondergut des Evangeliums nach Lukas (ZWKB), Zürich 1990,

88 Vgl. P.-G. K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung. Der Beitrag der synoptischen Evangelien, ThLZ 143 (2018), 859–872, 870–871. In der Pointierung bei L, Rückkehr ins Leben (s. Anm. 79), 258 Anm. 80, demzufolge nach Lk 15,11–32 „allein der Vater das Subjekt der µετα νοια“ ist, dominiert die auf der Ebene des Erzählten mit der Person des Vaters verbundene Perspektive. Dies bringt tendenziell eine eher paulinische Sicht auf den lukanischen Text zum Tragen. 89 Vgl. K, Diakonie und moderne Lebenswelt (s. Anm. 75), 27–28. 90 B, Lukas (EKK III/3) (s. Anm. 83), 41, weist auf die analoge Figurenkonstellation von Kain und Abel als rivalisierenden Brüdern hin.

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Qualitäten eines Menschen geleitet ist und die Person als solche würdigt, gelten auf der Handlungsebene Kriterien, die Vergleiche zulassen. Die Regelung menschlicher Beziehungen hängt wesentlich an den Verhaltensweisen der Beteiligten. Ein Belohnungssystem setzt Richtlinien, die teils unausgesprochen, teils festgeschrieben gelten. Die Bewertung einer Person in ihrem gesellschaftlichen Umfeld hängt in hohem Maße von ihrem Beitrag für das gesellschaftliche Umfeld, den von ihr erbrachten Leistungen und ihrem Nutzen für andere ab. Wie dieses System im Einzelnen ausgestaltet wird, ist das Resultat von Aushandlungsprozessen. In sie hinein spielt auch die Berücksichtigung der Überlegung nach dem Stellenwert eines Menschen jenseits des Leistungsvermögens. Gleichwohl sind die Fragen nach der Relevanz einzelner Tätigkeiten für das übergeordnete Ganze und der Bereitschaft der Einzelnen zur produktiven Mitwirkung von herausragender Bedeutung. Genau auf dieses Verdienst seiner eigenen Bemühungen verweist der ältere Bruder. Er tut dies mit gutem Recht. Schließlich sichert sein unermüdliches Wirken den Fortbestand des väterlichen Besitzes. Dieser Aufgabe hat er sich bis dahin klaglos gewidmet. Dafür hat er auch keine Belobigung erwartet. Nun aber sieht er sein Bemühen durch das Verhalten des Vaters gegenüber dem aus seiner Sicht destruktiven Verhalten seines Bruders entwertet. Wenn die Logik des Vaters gegenüber dem jüngeren Sohn gilt, ist sein Einsatz vergebens.91 Dann wird eine Bewertungsgrundlage für menschliches Verhalten aufgestellt, die seiner Kraftanstrengung den Boden entzieht. Aus Sicht des älteren Bruders, der sich am Maßstab der am Handeln ausgerichteten Gerechtigkeit orientiert, setzt die bedingungslose Annahme des Tunichtguts sein eigenes auf Erhalt und Entwicklung des Bestehenden gerichtetes Wertesystem außer Kraft. Die Weisheit der Antwort des Vaters liegt darin, den älteren Sohn zunächst seiner vollständigen Zuwendung zu vergewissern. Auch das Aufbegehren des Älteren hebt die Zusage der ungebrochenen Gemeinschaft mit ihm nicht auf (V.31). Zwischen dem Vater und seinem älteren Sohn bleibt es bei der ungeteilten Einheit.92 Damit bestätigt der Vater dem Sohn seinen Anspruch auf Gerechtigkeit.93 Dieser Maßstab soll durch die bedingungslose Annahme des jüngeren Sohnes nicht außer Kraft gesetzt werden. An dem jüngeren Sohn wurde ein davon unabhängiger auf dessen persönliche Situation gerichteter Akt der Annahme vollzogen. Zu ihm führt keine gerade Linie. Er ist nicht aus seiner Lebensgeschichte oder einem Anspruch ableitbar. Dem bildlich gesprochen toten Bruder wurde ein Auferstehungserlebnis zuteil. Seine Wiederannahme ist ein Geschenk. Entsprechend wünscht sich der Vater, Es geht also um mehr als ein vordergründiges Neidgefühl. Vgl. K.-H. O, Dabeisein ist alles (Der verlorene Sohn) – Lk 15,11–32, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 618–633, 620. 93 S, Gleichnisse Jesu (s. Anm. 76), 186: „Die Erzählung will nicht darauf hinaus, den Älteren als Negativcharakter zu zeichnen, sondern seinen Zorn verständlich zu machen“. 91

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dass sein Geschenk Grund zu allgemeiner Freude wird; gerade weil es dem Älteren nichts nimmt; denn dessen am Handeln ausgerichtete Werthaltung wird nicht angetastet. Sie bleibt in Geltung. Die Erzählung behandelt in zweifacher Weise Ambivalenzen, die sich an der Praktizierung bedingungsloser Annahme entzünden. In V.11–24 findet die scheinbare Alternative zwischen Reue und Annahme ihre Auflösung darin, dass im Moment der Begegnung zwischen Vater und Sohn die Selbsterkenntnis und Reue des Sohnes mit der vorbehaltlosen gütigen Akzeptanz des Vaters ineinanderfällt. Beides sind unter theologisch-anthropologischem Blick zwei Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen. Geschildert wird das Ereignis des Nachhausekommens. In dem Motiv der Rückkehr in die Heimat ist narrativ bereits das theologische Thema der Rückbezüglichkeit angelegt. Die Re-Flexion des Sohnes in der Fremde fügt sich diesem Gedankenmuster ebenso ein wie die Rückfrage des älteren Bruders nach dem Verhältnis der Annahme zur Gerechtigkeit.94 7.6.2.5 Rettung durch Re-Lektüre: Lk 16,19–31 Die Gegenüberstellung zwischen dem reichen Mann und dem armen Lazarus in Lk 16,19–31 impliziert eine Konstellation, die im Lukasevangelium als solche ein Problemfeld markiert. Die Opposition von Reichtum und Armut bildet mehrfach das Thema unterschiedlicher Erzählungen oder ist für deren Kontextualisierung von Bedeutung. Jesus wird auf seinen Wanderungen wiederholt mit der Armut von Menschen konfrontiert. Ebenso begegnet er reichen Menschen und erzählt vom Reichtum als der anderen Seite sozialer Wirklichkeit. Dabei macht er wiederholt auf das Gefahrenpotential aufmerksam, das dem Reichtum innewohnt. Das gilt neben Lk 16,19–31 für Lk 12,16–21; 15,11–32; 16,1–13; 18,18–27 und 19,11–27. Auch die Gegenüberstellung von integrierten Persönlichkeiten wie dem Richter in Lk 18,1–8 oder dem Pharisäer in Lk 18,9–14 mit an den Rand gedrängten Personen wie der Witwe und dem Zöllner bildet einen festen Zug in der Jesuserzählung des Lukasevangeliums. Ein Ziel dieser Erzählungen liegt darin, bewusst zu machen, dass die schwächere Seite in der Gefahr steht, verlorenzugehen. Die beati possidentes verweist der lukanische Jesus im Gegenzug auf die Vergänglichkeit ihrer privilegierten Position.95 94 Bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts wirft J. K, Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, Biblische Zeit- und Streitfragen zur Aufklärung der Gebildeten, Gr. LichterfeldeBerlin 1909, die Frage auf, wie sich das von Jesus in dieser Parabel Erzählte zur Person Jesu insgesamt verhält. „Ist er lediglich der Verkündiger der Wahrheit Gottes?“ (19). Eine Antwort Kögels lautet, dass Jesus mit dieser Erzählung „sein eigenes Tun […] rechtfertigen“ wollte (21). Auch wenn Kögels Überlegung die Zuordnung zum Leben des historischen Jesus zugrunde liegt, gilt seine Rückfrage prinzipiell auch für die Einzeichnung in das literarische Gesamtbild Jesu im Lukasevangelium. Deutlich ist, dass die Erzählungen im Munde Jesu der Gesamtsicht auf seine Person korrespondieren, auch unabhängig von Kögels Gedanken einer Selbstrechtfertigung Jesu. 95 So außer in Lk 16,19–31 auch in Lk 12,16–21; 18,18–25. Vgl. dazu im Einzelnen N-

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Die parabolische Erzählung in Lk 16,19–31malt ein anschaulich geschildertes postmortales Geschehen im Jenseits vor die Augen der Leserschaft. Das herrliche Luxusleben eines reichen Mannes kippt nach seinem Tod in sein Gegenteil. Im Hades findet er sich in einem qualvollen Zustand wieder. Demgegenüber wird das erbarmungswürdige Leidensschicksal des armen Lazarus96 auf Erden durch Engel, die ihn in Abrahams Schoß tragen, in ein erlöstes Dasein umgewandelt. Die Motivik der Erzählung besitzt eine umfangreiche Vorgeschichte in der kynisch-menippeischen Literatur.97 Für die lukanische Adaption charakteristisch ist die Art und Weise des Gesprächs zwischen dem reichen Mann und Abraham. Der gepeinigte Reiche bittet Abraham darum, dass Lazarus ihm Linderung seiner Qualen bringen möge.98 Das weist Abraham mit dem Argument zurück, dass im Hades nur ein gerechter Ausgleich gegenüber den Verhältnissen zu Lebzeiten vorgenommen werde. Auch gebe es im Hades keine Verbindung zwischen den Erlösten und den Verworfenen. Der ehemals reiche Mann akzeptiert diese Auskunft. Aber er verhandelt nach (V.27). Er bittet darum, dass Lazarus seinen fünf Brüdern eine warnende Nachricht zukommen lassen soll. Diesen Wunsch weist Abraham mit einem ersten Hinweis auf Mose und die Propheten ab. Die Schrift als Informationsquelle hält alle diesbezüglich notwendigen Hinweise bereit. Das jedoch bezweifelt der leidende Reiche. Er wünscht ein aus seiner Sicht durchschlagenderes Zeichen. Wenn jemand von den Toten zu seinen Brüdern käme, würde dies deren Umkehr bewirken. An diesem Punkt widerspricht ihm Abraham. Wenn sie nicht auf Mose und die Propheten, also auf die Überlieferung Israels hören, würde auch die Auferstehung eines Toten keine Wirkung erzielen. Wie bereits in Jesu Antrittspredigt in Nazareth in Lk 4,17–19 und in dem Gespräch mit dem Gesetzeskundigen in Lk 10,26 stellt die Tradition Israels die Grundlage für die Gewinnung rettender Erkenntnis dar.99 Die Botschaft der Erzählung lautet, dass die Entscheidung über das postmortale Ergehen im Hier und Jetzt fällt. Der Zustand im Hades ist nur die Folge dessen, was zu Lebzeiten geschehen ist. Weder gibt es die Möglichkeit, nachträglich etwas an dem dann eintretenden Zustand zu verändern, noch ergehen Sonderoffenbarungen jenseits der für alle geltenden Wissensquelle der Schriften. Die , Armut und Reichtum (s. Anm. 32), 73–83.96–117. Vgl. K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung (s. Anm. 88), 869. 96 Lazarus ist ein sprechender Name und bedeutet „,Gott hat geholfen‘“, vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 558. Zu den Implikationen der Namensgebung vgl. R. B, Looking für Lazarus: Assigning Meaning to the Poor Man in Luke 16.19–31, NTS 66 (2020), 51–67, bes. 56–64. 97 Vgl. dazu N, Armut und Reichtum (s. Anm. 32), 96–108. 98 B, Lukas (EKK III/3) (s. Anm. 83), 122, erkennt in dieser Bitte die Einsicht des Reichen, einen Fehler begangen zu haben. Er bitte daher nur um „eine leichte Linderung“. Offenkundig kommt seine Erkenntnis jedoch post mortem zu spät, um eine Änderung seines Schicksals zu ermöglichen. 99 K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 556: „Die Schrift bleibt […] die Basis.“ Vgl. S, Evangelium nach Lukas (s. Anm. 20), 171.

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Rekapitulation und Wiedervergegenwärtigung der Schrift, der Rekurs auf das Bekannte, werden als Weg in eine sichere Zukunft empfohlen. Der lukanische Erzähler setzt zur Sicherung der künftigen Existenz auf das hermeneutische Verfahren der sachgemäßen Schriftauslegung. Die Interpretation der religiösen Schrifttradition öffnet den Blick für den heilvollen Zukunftsraum. 7.6.2.6 Bei-sich-Bleiben vs. Abgrenzung: Lk 18,9–14 Der Pharisäer und der Zöllner in Lk 18,9–14 dienen als Modellfiguren. Der Erzähler verwendet sie, um zwei einander entgegenstehende Verhältnisbestimmungen der Gott-Mensch-Beziehung vorzuführen. Aufschlussreich dafür sind die Angaben über die Standpositionen der beiden Personen. Wie der Pharisäer und der Zöllner sich im Raum aufstellen, ist Ausdruck der inneren Haltung, für die sie stehen. Der Pharisäer stand für sich (selbst) (V.11). Er beginnt sein Gebet mit der Anrede: Gott, ich danke dir. Inhaltlich richtet sich sein Dank darauf, nicht so zu sein wie andere. Auf diese schaut er in abwertender Weise. Die Angabe seines Standorts dokumentiert die Selbstbezogenheit, die er durch die Distanzierung von anderen vornimmt. Räumlich betrachtet wandert sein Blick im Geist von dem Platz, an dem er steht, weg zu den Menschen, von denen er sich abgrenzt. Sein Für-sich-Stehen ist dadurch charakterisiert, dass er in seinen Gedanken und Worten gerade nicht bei sich bleibt. Er sieht von sich weg zu entfernten anderen. Wer er ist, beschreibt er durch ein Subtraktionsverfahren unter Bezug auf die genannten Personen. Er markiert seinen Status durch die Aufzählung seiner Nicht-Zugehörigkeiten zu Leuten, mit denen er nichts gemein zu haben meint. Dafür dankt er Gott. Seinen Abstand zu diesen Menschen interpretiert er als eine Gabe, für die er Gott dankt. Diese Haltung unterstreicht er, indem er seine respektablen eigenen Verhaltensweisen hinzufügt. Diese verstärken die Distanz zu den genannten Personen. Er fastet über das Gebotene hinaus zweimal in der Woche, er gibt den Zehnten von allem, was er kauft und besitzt. Die auf Abgrenzung beruhende Standortbestimmung im Gebet als ein Geschenk Gottes zu überhöhen, markiert die Position des Pharisäers. Demgegenüber wird der Standort des Zöllners nicht durch ein Näheattribut charakterisiert. Im Gegenteil: Der Zöllner steht von ferne. Auch erhebt er seine Augen nicht. Das bedeutet räumlich gesehen: Er schaut nach unten. Er sieht allenfalls den Boden und seine eigenen Fußspitzen. Er bleibt auch mental an dem Platz, auf dem er steht. Der Zöllner ist im wahrsten Sinne des Wortes bei sich.100 Sein Gestus unterstreicht dies. Er schlägt sich an die Brust und bringt verbal seine innere Verfassung zum Ausdruck. Sein Auf-sich-selbst-Schauen dokumentiert innere Ein- und Umkehr (V.13). Seine Gebetsformulierung beginnt wie die des 100 K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung (s. Anm. 88), 871. B, Lukas (EKK III/3) (s. Anm. 83), 212, deutet die Selbstdistanzierung des Zöllners als ein Sich-Fernhalten vom „sakralen Raum“.

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Pharisäers mit οë θεο ς. Im Unterschied zu dessen Gebet beginnt sein Gebetswunsch jedoch in der 2. Person Singular des Imperativs. Nicht er eröffnet seine Gebetsperspektive. Vielmehr bittet er Gott um dessen heilvolle Beziehungsaufnahme zu ihm. Gott, sei mir gnädig! Als wen er sich selbst betrachtet, geht aus der attributiven Zuschreibung τωÄì αë µαρτωλωÄì hervor. In seiner Wahrnehmung sind nicht andere Menschen die negativ Bewerteten. Er bringt sich in direkter Differenz zum Pharisäer selbst unter dem Aspekt seines Sünderseins und seiner Versöhnungsbedürftigkeit zur Sprache. In der abschließenden Bewertung von V.14a kommt in dem Resümee Jesu die Erzählerstimme zu Wort. In dem passivischen Partizip Perfekt δεδικαιωµε νος – gerechtfertigt – wird das göttliche Urteil zusammengefasst.101 Hier fließen in der lukanischen Theologie die anthropologische und die theologische Perspektive ineinander. Dem Bei-sich-Bleiben des glaubenden Menschen gilt der Zuspruch der göttlichen Rechtfertigung. Selbsterkenntnis und von Gott gerechtgesprochen zu werden, bilden die zwei Seiten ein und derselben Medaille.102 In der Selbsterkenntnis vollzieht sich das Von-Gott-erkannt-Werden. Die Beziehung Gottes zum Menschen realisiert sich in der menschlichen Selbstbeziehung. Lukas präsentiert in dieser Erzählung zum wiederholten Male unter anthropologischer Wahrnehmung eine Theologie der Selbstfindung des Menschen. Wer zurückkehrt (15,18–20) oder bei sich bleibt (18,12), der ist von Gott gefunden und errettet. In theologischer Optik kommt darin eine Suchbewegung Gottes zum Ziel. In soteriologischer Hinsicht scheint in der wechselseitigen Durchdringung von menschlichem und göttlichem Handeln ein hellenistisches Erbe durch. Dieses führt auf das γνωÄ θι σαυτο ν des Orakels von Delphi zurück. Das zentrale Thema vom Verlorengehen und Gefunden- bzw. Errettetwerden im Lukasevangelium verweist in anthropologischer Hinsicht auf eine ausbalancierte Relation von Aktivität und Passivität beim Menschen. Ohne eine irgendwie geartete tätige Teilnahme des Menschen, dem Heil widerfährt, kommt es nicht zur Erfahrung des befreienden Wirkens Jesu bzw. Gottes. Umgekehrt verfügen die Menschen nicht darüber, dass ihnen die göttliche Zuwendung zuteilwird.103 Diese bleibt immer geschenkte Gnade.

Vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 592. Vgl. K, Diakonie und moderne Lebenswelt (s. Anm. 75), 31. 103 Dieser Abschnitt stammt in enger Anlehnung aus K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung (s. Anm. 88), 871. 101

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7.7 Das souveräne Handeln Jesu In einer Vielzahl von Szenen schreibt der lukanische Erzähler Jesus eine hoheitliche Rolle zu. Bereits die Schilderung der Umstände rund um seine Geburt besitzt Verweischarakter. Sie zeigt an: Hier tritt ein außergewöhnlicher Repräsentant Gottes in die Menschengeschichte ein. Bereits als zwölfjähriger Junge verströmt er eine Klugheit, die die Zuhörer seines Gesprächs mit den Lehrern im Tempel über sein Verständnis und seine Antworten staunen lässt (2,47).104 Am Ende seiner Antrittspredigt in Nazareth zieht Jesus versehen mit der Aura des Unberührbaren mitten durch die ihm feindlich gesonnene Menge davon (4,30). In der lukanischen Darstellung besonderer Taten Jesu liegen verbale und physische Aktivitäten oft dicht beieinander. Teilweise sind sie so eng aufeinander bezogen, dass das praktische Wirken Jesu zur Ausdrucksform seiner Worte wird und die worthaften Auseinandersetzungen eine konkrete Aktion bedeuten. Die erste Wundertat Jesu im Lukasevangelium in Lk 4,31–37 greift den aus Mk 1,21–28 bekannten Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum auf. In der Dramaturgie des Markusevangeliums ist diese Erzählung einer Dämonenaustreibung im jüdischen Lehrhaus mit dem ersten Besuch Jesu in einer Synagoge verbunden. Dort beinhaltet sie eine Polemik gegen den in der Synagoge herrschenden Geist. Diesen abgrenzenden Zug nimmt Lukas zurück. Erstens handelt es sich im Lukasaufriss schon um Jesu zweiten geschilderten Synagogenbesuch, und die Programmatik Jesu war bereits in seiner Antrittspredigt in Nazareth ausgesprochen worden. Zweitens tilgt Lukas den Seitenhieb aus Mk 1,22 gegen die Schriftgelehrten,105 und drittens geht dem Ausfahren des Dämons ein Schubs voran, mit dem der Dämon Jesus in die Mitte des Raums stößt. Erst nach dieser christologisch belangvollen Richtungsänderung, die die Mittelpunktstellung Jesu herstellt, fährt der unreine Geist aus. Das anschließende bestürzte Staunen der Anwesenden richtet sich bei Lukas auf die Frage nach dem λο γος, der hier von Jesus ausging, während in der Markusfassung nach dem Charakter des Geschehenen selbst gefragt wurde. Lukas greift die Szene also auf, um eine erste Machtdemonstration Jesu zu schildern und identifiziert als Zentrum des Geschehens die Bedeutung des Wortes des im Mittelpunkt stehenden Jesus. Diese Tendenz zeigt sich auch in der unmittelbar anschließenden Perikope von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus. Während Mk 1,31 und Mt 8,15 die Bedeutung der körperlichen Berührung für die Heilung ansprechen, tilgt Lukas diesen Zug der Handlung. Jesus agiert ausschließlich wortmächtig. Er persona-

104 Der Vergleich mit Jugendepisoden anderer antiker Persönlichkeiten wie Augustus, Apollonius und Pythagoras zeigt genretypische Merkmale. Zu ihnen zählen das jugendliche Alter der Protagonisten, eine Reise, auf der sie im Gespräch mit Lehrern ihre geistige Kraft unter Beweis stellen sowie ihre außergewöhnliche Weisheit. Vgl. dazu K (s. Anm. 11), 308–311. 105 Vgl. B, Lukas (s. Anm. 3), 93.

7.7 Das souveräne Handeln Jesu

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lisiert das Fieber und bedroht es, und diese Aktion zeigt sofort Wirkung. Die Frau steht unverzüglich auf.106 In umgekehrter Weise verfährt der Erzähler bei der Schilderung der Berufung des Petrus in Lk 5,1–11. Der Ruf in die Nachfolge steht zwar als Höhepunkt am Ende der Szene (V.10.11). Das worthafte Geschehen wird jedoch durch eine ausführlich beschriebene Wunderhandlung eingeleitet (V.4–7).107 „Für Jesus gehören Wort und Tat zusammen.“108 In der Erzählung von der Heilung eines leprakranken Mannes in Lk 5,12–16 lässt Lukas wie auch Mt 8,1–4 die in der Markusvorlage Mk 1,40–45 überlieferten starken emotionalen Wallungen Jesu unberücksichtigt. Weder die starke Gefühlsregung des Mitleids als Ausgangspunkt für die Heilung noch die Heftigkeit, mit der Jesus den Mann nach der Reinigung anfährt und wegschickt, werden von den beiden Seitenreferenten übernommen. Dafür überträgt die Lukasfassung in der Eröffnung der Szene einen emotionalen Zug auf den an Lepra Erkrankten. Er ist voller Aussatz, und er fällt auf sein Angesicht. Sein erbarmungswürdiger Zustand veranlasst ihn zu einer verzweifelten Demutsgeste. In seiner Bearbeitung der Gelähmtenheilung in Mk 2,1–12 verschiebt Lk 5,17–26 mittels kleiner Veränderungen den Skopus der Erzählung. Thema ist nicht die soteriologische Pointe des Markus, derzufolge die allgemeine Erstarrung aller Personen sich im Gotteslob auflöst (Mk 2,12).109 Lukas stellt die Szene in den Dienst der Christologie. Jesus setzt mit seinem Handeln in der Auseinandersetzung nicht nur mit Schriftgelehrten wie bei Markus, sondern darüber hinaus mit Pharisäern und Gesetzeskundigen (V.17.21), also einem breiten Spektrum von Gegnern, ein Zeichen (ση µερον, V.26). Er legitimiert mit seinem Heilungswunder seine Berechtigung zur Sündenvergebung.110 Wie die Schwiegermutter des Petrus in Lk 4,39 steht auch dieser ehemals Hilfebedürftige sofort nach dem Eingriff Jesu auf (παραχρηÄ µα, V.25). Anders als in der Markusvorlage stattet in Lk 5,25 der Geheilte seine Dankesschuld mit einem Gotteslob ab.111 Die 106 Die lukanische Szene ist ein passendes Beispiel für die Sprechakttheorie von J.L. A, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Deutsche Bearbeitung von E. von Savigny, Ditzingen 1985 (ursprünglich Oxford 1962). 107 B, Lukas (s. Anm. 3), 99: Die „Verquickung von Berufungs- und Wundergeschichte“ gibt der Überlieferung ihr „Profil“. 108 B, Lukas (s. Anm. 3), 102. 109 Bezeichnend ist der Umgang des Lukas mit einem Detail. Die Sitzposition der Schriftgelehrten wird bei Markus erst in 2,6 genannt. Ihre Körperhaltung ist dort Ausdruck ihrer geistlichen Erstarrung, zudem bleiben sie stumm. In Lk 5,21 wird dieser Hinweis genau in sein Gegenteil verkehrt. Über die Schriftgelehrten und Pharisäer wird mitgeteilt, dass sie sich hörbar zu äußern anfingen, also in Bewegung gerieten. Ihre Sitzhaltung wird bereits der Szene vorangestellt. Laut Lk 5,17 sitzen sie als Teil eines breiten Publikums da, um sich die anstehende Heilung wie ein Schauspiel anzusehen. 110 B, Lukas (s. Anm. 3), 108. 111 Das entspricht der Reaktion des Hauptmanns unter dem Kreuz in Lk 23,47. Auch er richtet sein Lob zunächst an Gott, bevor er sich würdigend über Jesus äußert. Gemeinsam ist beiden Stellen, dass die christologische Hochschätzung Jesu nicht die absolute Größe Gottes überlagert.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

Verschränkung von physischer und geistlicher Befindlichkeit, von der die Markusfassung erzählt, wird bei Lukas zur einlinig erzählten Tat Jesu, mit der er ein weiteres Mal seine Qualität als Wundertäter unter Beweis stellt.112 Die Berufung des Levi und das anschließende Zöllnergastmahl (Lk 5,27–32) dienen dazu, die Autorität Jesu und sein missionarisches Anliegen hervorzukehren. Dem Ruf Jesu folgt der Zöllner unverzüglich – er verlässt ohne weitere Rückfrage alles (V.28). Der Zusatz ειÆ ς µετα νοιαν am Ende von Vers 32 macht deutlich: Anders als in der Markusfassung des Logions (Mk 2,17) geht es dem lukanischen Jesus nicht darum, Sünder zu berufen. Er zielt ausdrücklich auf die µετα νοια als eine Korrektur der Lebensausrichtung.113 In der lukanischen Fassung der Erzählung vom Ährenausraufen am Sabbat (Lk 6,1–5) ist insbesondere die Auslassung im Schlussvers 5 aufschlussreich. Gegen die Markusvorlage aus Mk 2,27 streicht Lukas die anthropologisch-soteriologisch fundierte Begründung für die Erlaubnis Jesu.114 Für Markus galt das Menschenwohl als Verhaltenskriterium; und die Lizenz des Menschensohns resultierte aus diesem Grundsatz: ωÏ στε … . Demgegenüber kommt es Lukas einzig auf das christologische Argument an.115 Die Sabbatübertretung Jesu ist dadurch abgedeckt, dass (οÏτι) der Menschensohn Herr auch über den Sabbat ist. Sabbatkonflikte in Synagogen wie in Lk 4,31–37 und letztlich bereits in 4,16–30 beschäftigen Jesus im Fortgang des Lukasevangeliums auch über die Markusvorlage hinaus. Wieder greifen wort- und tathaftes Handeln Jesu ineinander. In drei konflikthaften Auseinandersetzungen mit jüdischen Autoritäten über sein heilendes Handeln am Ruhetag demonstriert der lukanische Erzähler in Lk 6,6–11; 13,10–17 und 14,1–6 Jesu argumentative und kognitive Überlegenheit über seine Kontrahenten. Der Streit in Lk 6,6–11 über die Zulässigkeit der Wiederherstellung der verdorrten rechten Hand eines Mannes, die Jesus in der Synagoge vornimmt, endet damit, dass der Erzähler den Schriftgelehrten und Pharisäern αÍ νοια, d.h. Unvernunft, bescheinigt116 und diese als den Grund für ihre Planungen nennt, Jesus Vgl. B, Lukas (s. Anm. 3), 106: Es geht vor allem „um die Autorität Jesu“. B, Lukas (s. Anm. 3), 111, vermerkt zu Recht, dass mit dem Gastmahl des Levi eine Reihe von Gastmahlgeschichten eröffnet wird. Dabei lässt er überraschenderweise die für das lukanische Sakramentsverständnis aufschlussreiche Emmausszene in Lk 24,29–32 weg (ebd. Anm. 251). 114 Ebenso Mt 12,8. 115 Zutreffend B, Lukas (s. Anm. 3), 116: Die Pointe […] besteht in einer christologischen Aussage über die Autorität Jesu.“ Allerdings bleibt die theologische Verschiebung gegenüber der Markusvorlage unberücksichtigt, wenn Mk 2,27 nur als „verallgemeinernde[s] Wort“ angesehen wird. So bei B, Lukas (s. Anm. 3), 115. 116 Der Verlust der Vernunft auf Seiten der Gegner Jesu kontrastiert die kognitive Überlegenheit Jesu in dieser Szene, so dass αÍ νοια im Zuge der Übersetzung nicht auf einen Gefühlsausbruch wie Wut oder blinden Zorn reduziert werden darf. Vgl. dazu P.-G. K, Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 151–164, 157 Anm. 24. Vgl. ähnlich K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 236 Anm. 29. 112

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etwas anzutun (Lk 6,11). In Lk 13,10–17 entzündet sich der Konflikt daran, dass Jesus einer seit achtzehn Jahren verkrümmten Frau zur Gesundung verhilft. Die Kritik, die ihm dafür von dem Synagogenvorsteher zuteilwird, weist Jesus durch den Vergleich mit dem akzeptierten Vorgang zurück, dass auch das Vieh am Sabbat zur Tränke geführt wird. Seine Widersacher, schreibt der Erzähler, wurden dadurch beschämt. Die dritte Erzählung des Zyklus in Lk 14,1–6 handelt von der Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat. In dieser Szene kommen die Gegner Jesu gar nicht erst zu Wort. Jesus selbst antizipiert ihren Widerstand und nimmt ihre unausgesprochene Frage, ob es erlaubt sei, am Sabbat zu heilen oder nicht, selbst vorweg. Er heilt den Kranken und konfrontiert die Kritiker mit einer rhetorischen Frage, auf die sie nicht zu antworten vermögen (V.5). Die Trias der Erzählungen von Auseinandersetzungen mit Gegnern über das Recht der Heilung behinderter oder kranker Menschen am Sabbat enthält eine Steigerung, was die Sicht auf die Gegner Jesu angeht. Der Erzähler bescheinigt ihnen am Ende der Szenen Unvernunft, Scham, Schweigen. Jesu souveränes Handeln und sein erläuterndes Reden taucht seine Gegner in ein unvorteilhaftes Licht. Seiner kognitiven und rhetorischen Überlegenheit haben sie nichts entgegenzusetzen. Agieren sie beim ersten Mal in Lk 6,11 fern von Vernunft aggressiv, bleiben sie beim zweiten Mal in Lk 13,17 beschämt zurück und verstummen in der dritten Szene laut Lk 14,6 ganz. Am Ende handelt und spricht Jesus in der Szene vollkommen allein.117 Durchgängig sind die Szenen von einem christologischen Darstellungsinteresse geleitet. Jesus ist der überlegene Akteur, der sein heilendes Handeln auch gegen unverständige Ablehnung zur Geltung bringt und durchsetzt. Jesu besondere Fähigkeiten zu wundersamen Taten erweisen sich in einer Vielzahl von Heilungen erkrankter und behinderter Menschen. Eine Steigerung erfährt sein Wunderhandeln durch die Auferweckung des jungen Mannes aus Naı¨n von den Toten in Lk 7,11–17.118 In dieser Erzählung wird auch die Mitleidsregung des als κυ ριος betitelten Jesus als auslösendes Motiv für sein Handeln überliefert.119 Sein machtvolles Wort, das die Auferweckung bewirkt (V.14b), wird durch eine vorherige Berührung, in diesem Fall der Bahre (V.14a), vorbereitet. Die 117 Zur Zusammengehörigkeit der drei Sabbatheilungen Jesu im Lukasevangelium vgl. K, Sabbatheilungen (s. Anm. 116), 161–164. Mit dem Anwachsen der Dominanz Jesu gegenüber seinen Gegnern wird deren Rolle immer beschränkter, bis sie schließlich wortlos zurückbleiben. 118 In traditionsgeschichtlicher Hinsicht sind die Bezüge zur Elija- und Elischa-Tradition in 1 Kön 17,17–24 bzw. 2 Kön 4,18–37 sowie einer vergleichbaren Erzählung bei Philostrat, Vit. Ap. 4,45 deutlich. Vgl. B, Lukas (s. Anm. 3), 142 und U. M, Auferstanden in Naı¨n (Auferweckung des Sohnes einer Witwe aus Naı¨n). Lk 7,11–17, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 1, Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 571–582, 577–578. 119 Ein solches Berührtwerden begegnet auch in Lk 10,33 und 15,20. Dort beschreibt es die emotionale Betroffenheit des Samaritaners und die des Vaters, der seinen heimkehrenden Sohn sieht. Vgl. M, Auferstanden in Naı¨n (s. Anm. 118), 572.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

hoheitliche Bezeichnung Jesu mit dem Gottesprädikat der Septuaginta wird im Nachgang dadurch ausbalanciert, dass Jesus nach erfolgter Auferweckung des jungen Mannes von der Menge als Prophet gefeiert wird. Der Lobpreis hingegen richtet sich auch hier wie in Lk 5,25, 23,47 und 24,53 an Gott selbst. Im Ergebnis bleibt es bei einer subordinatianischen Verhältnisbestimmung zwischen Jesus und Gott. Die Geschichte von der Stillung des Seesturms (Mk 4,35–41//Mt 8,18.23–27//Lk 8,22–25) wird bei Lukas gegenüber der Markusvorlage leicht gestrafft und entdramatisiert. Die Details des Bedrohungsszenarios und die einzelnen Spannungselemente nimmt Lukas heraus. Auf diese Weise tritt der ruhig und besonnen handelnde Jesus ins Zentrum der Erzählung. Er hat den doppelten Notschrei εÆ πιστα τα εÆ πιστα τα, wir sind verloren (V.24), vernommen und handelt entsprechend. Jesu abschließende Rückfrage an die verängstigten Jünger läuft anders als bei Markus und Matthäus nicht auf die Alternative Keinglaube oder Kleinglaube hinaus. Der lukanische Jesus fragt nach dem Verbleib des Glaubens der Jünger angesichts der drohenden Gefahr: Wo ist euer Glaube? (V.25). Es handelt sich um die für Lukas typische Frage nach der verschütteten Quelle, die wieder freigelegt werden muss. In ihrer Replik heben die Jünger die Befehlsgewalt Jesu und den Gehorsam der Elemente hervor. In der Erzählung von der Befreiung des besessenen Geraseners oder Gergeseners oder Gadareners von seinen Dämonen120 stechen in der lukanischen Version unter theologischem Gesichtspunkt am Ende der Perikope drei Änderungen gegenüber dem Markustext hervor. In V.36 verwendet der Erzähler mit dem Verb σω ζειν soteriologische Terminologie, um die Erlösung des Besessenen von seinen Dämonen zu qualifizieren. In V.37 erweitert Lukas die Markusvorlage aus Mk 5,17 durch den begründenden Nebensatz denn sie wurden von großer Furcht ergriffen. Damit liefert er eine psychologisierende Erklärung für die befremdliche Reaktion der Zeugen des Geschehens, die Jesus bitten, nach dieser außerordentlichen Machtdemonstration die Gegend zu verlassen. In V.39 nimmt Lukas eine direkte theologisch motivierte Korrektur an der markinischen Aussage vor. In Mk 5,19 entlässt Jesus den geheilten Gerasener mit dem Auftrag, zu verkünden, was alles der κυ ριος ihm getan und wieviel Erbarmen er mit ihm gehabt hat. Der Geheilte setzt das laut Mk 5,20 um, indem er anfängt in der Dekapolis zu verbreiten, was Jesus an ihm tat. Das könnte nahelegen, dass die Erzählerstimme die Gottesbezeichnung mit dem Namen Jesus identifiziert. Einem solchen möglichen Verständnis tritt Lukas in Lk 8,39 entgegen. Der Auftrag an den Geheilten ist eindeutig. Er soll erzählen, was Gott an ihm tat. Der Gerettete allerdings verkündet, was Jesus an ihm wirkte. In der Rezeption der Erzählungen von der Auferweckung der Tochter des Jaı¨rus und der Heilung der blutenden Frau beschränkt sich die theologische Bearbeitung durch Lukas auf wenige Akzente.121 Dreimal zeigt die Einfügung des 120 121

Mk 5,1–20//Mt 8,28–34//Lk 8,26–39. Die Ortsangabe ist textkritisch variantenreich. Hinweise zum synoptischen Vergleich gibt M. S, Im Stress Wunder wirken (Die

7.7 Das souveräne Handeln Jesu

347

Adverbs παραχρηÄ µα in V.44, 47 und 55 die von Jesus ausgehende Wirkung bzw. die sofortige Umsetzung seines Handelns auf. Die soteriologische Bedeutung des Glaubens hebt Jesus in V.50 durch Verwendung des Verbs σω ζειν hervor.122 In beiden Überlieferungen ist neben dem Wort die Berührung von Bedeutung.123 Abgesehen von Straffungen im Handlungsablauf bleibt die lukanische Version der Erzählung von der Speisung der Fünftausend (Lk 9,10–17) in theologischer Hinsicht nahe an der Markusvorlage in Mk 6,30–44. Offenkundig entspricht die markinische Darstellung hier weitgehend den christologischen Vorstellungen des dritten Evangelisten. Lediglich die summarische Erweiterung in Lk 9,11, dass Jesus Menschen heilte, die eine Heilung nötig hatten, vervollständigt die für Lukas bedeutsame Zweiheit aus wort- und tathaftem Handeln.124 Die besondere Formulierung der Zeitangabe in Lk 9,12 der Tag aber fing an sich zu neigen schafft eine Verbindung zu der Mahlszene des Auferstandenen mit den Emmausjüngern in Lk 24,29. An beiden Stellen spielt die Speisung bzw. das Essen auf das am Abend von Jesus eingesetzte sakramentale Mahl (Lk 19), an. In Lk 9,16 spiegelt sich der liturgische Vollzug des Brotworts, und ähnlich ist es in Lk 24,30. In der Erzählung von der Heilung des epilepsiekranken Kindes in Lk 9,37–45 stellt Lukas gegenüber Markus insofern einen geradlinigen Handlungsablauf her, als bei ihm nicht der Eindruck entstehen kann, hier seien zwei „ursprünglich selbständige“ Überlieferungen ineinandergeflossen.125 Jesus heilt den Jungen, dessen Erkrankung auf einen unreinen Geist zurückgeführt wird (Lk 9,39.42), und übergibt ihn dem Vater. Die Umstehenden geraten daraufhin außer sich über die Größe Gottes. Die Handlung Jesu bleibt auch für die Augenzeugen innerhalb der Erzählung transparent für das Wirken Gottes. Gleichwohl gilt das Erstaunen der Menge aber auch dem Handeln Jesu selbst, u.z. in einer diesen Einzelfall übersteigenden umfassenden Würdigung (Lk 9,43). Im Ergebnis wahrt der Erzähler gleichwohl die Hierarchie zwischen Gott und Jesus. Wie sehr die Dominanz Jesu, die sich neben den genannten in vielen weiteren Einzelszenen im Lukasevangelium findet,126 die Grundlage der hoheitlichen Heilung der blutenden Frau und die Auferweckung der Tochter des Jaı¨rus). Lk 8,40–56, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 1, Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 583–592, 591–592; vgl. ebenfalls B, Lukas (s. Anm. 3), 175. 122 So bereits in Lk 8,36. 123 Lk 8,44–47 und 54. 124 Vgl. B, Lukas (s. Anm. 3), 186 Anm. 402. 125 So die Annahme von D.-A. K, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin/New York 1975, 114–129, hier 115–116, Zitat 115 zu Mk 9,14–29. Zum Vergleich der drei Szenen in Mk 9,14–29, Mt 17,14–20 und Lk 9,37–43, vgl. P.-G. K, Die Dämonisierung der Epilepsie in Mk 9,14–29 parr., in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 170–174, 171–173. 126 Vgl. Lk 11,14; 17,11–19; 18,35–43; 19,47–48; 20,1–8; 20,20–26; 20,27–40; 22,47–53; 23,34.43.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

Christologie des Lukasevangeliums bildet, zeigt die sog. große Auslassung bei Lukas. Mk 6,45–8,26 fehlen im Lukasevangelium. Bis einschließlich Lk 9,17 folgt das Lukasevangelium der Markusvorlage, die in Mk 6,30–44 die Erzählung von der wundersamen Speisung der 5000 bietet. Bedingt durch die umfangreiche Auslassung folgt in Lk 9,18–22 im Anschluss an die Speisungserzählung unmittelbar die Szene mit dem Christusbekenntnis des Petrus. Während im erzählerischen Ablauf des Markusevangeliums das Petrusbekenntnis eine verschlungene Vorgeschichte besitzt, in deren Verlauf es zu mehreren scheinbar doppelt erzählten Vorgängen kommt,127 antwortet in der lukanischen Erzählfolge das Christusbekenntnis unmittelbar auf die Großtat Jesu. Der, der 5000 Menschen gespeist hat, wird direkt im Anschluss von Petrus als der Christus Gottes bekannt (Lk 9,20). Lukas präsentiert das Christusbekenntnis als Antwort auf das außergewöhnliche Handeln Jesu.128 Das Bekenntnis folgt ungebrochen auf die souveräne Tat Jesu. Jesu Dominanz macht die Erkenntnis seiner wahren Natur zwingend. Seine Größe muss sich durchsetzen, und sie tut es auch.129 Zum Bild des tatkräftigen und überlegen agierenden Jesus gehört auch, dass Lukas von Markus vorgegebene Überlieferungen übergeht, die sein Bild von Jesus stören könnten. Dies betrifft sowohl Szenen, in denen Markus handfeste drastische Heilungsmaßnahmen Jesu schildert als auch Aktionen, die Jesus in ein unvorteilhaftes Licht setzen könnten. Konkret geht es um die Heilung eines Taubstummen in Mk 7,31–37 und die Blindenheilung in Mk 8,22–26. Bei beiden Vorgängen schildert Markus detailliert, wie Jesus durch direktes Wirken mit seinen Händen und durch Spucken tätig wird. Möglicherweise sind es solche Maßnahmen aus dem Repertoire der sympathetischen Magie, einer archaische Weise der Heilkunst, die Lukas zum Verzicht auf die beiden Episoden nötigen. Vielleicht haben ihn auch ästhetische Gründe bewogen, seiner Leserschaft beide Szenen zu ersparen. Die kunstvolle Verknüpfung der Erzählungen von der Verfluchung des fruchtlosen Feigenbaums mit der aggressiven Tempelaktion Jesu in

127 Vgl. dazu P.-G. K, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin/New York 2001, 238: In Mk 8,22–26 und 10,46–52 umrahmen zwei Blindenheilungen die Thematik des Christusbekenntnisses im Horizont der Leidens- und Auferstehungsankündigungen. Zweimal ist von wunderbaren Massenspeisungen die Rede (Mk 6,30–44; 8,1–9), zweimal von Unverständnis, u.z. dem der Pharisäer (Mk 8,10–13) und dem der Jünger (Mk 8,14–21). Zweimal fragt Jesus nach, bis die klare Auskunft des Petrus erfolgt (Mk 8,27–29). 128 K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 338: „Geschenkwunder gelten den Aposteln, die auf diese Weise innerlich überwunden werden und nachfolgen wie in 5,1–11.“ 129 Mit der Auslassung tilgt das Lukasevangelium auch die scheinbare Doppelung durch zwei Speisungswundererzählungen. Die Speisung der 4000 aus Mk 8,1–10 entfällt. Damit korrigiert Lukas gerade auch die für die markinische Darstellung charakteristische Tendenz, derzufolge Jesu Wirken sowohl jüdischen wie „heidnisch“ konnotierten Adressatinnen und Adressaten gilt. Vgl. D. H, Jesu Weg zu den Heiden. Das geographische Konzept des Markusevangeliums, ABG 63, Leipzig 2019, 141–145. Vgl. auch S, Evangelium nach Lukas (s. Anm. 20), 111: „Lukas will jeden Anschein vermeiden, als habe Jesus das Evangelium vom jüdischen Volk weggeführt.“

7.8 Die Hoheitstitel Jesu

349

Jerusalem in Mk 11,11–27 löst Lukas auf und überliefert das Ereignis in Lk 19,45–48 nur rudimentär. Geradezu emotionslos und ohne die bei Markus überlieferten Einzelheiten zu übernehmen, berichtet er in 19,45, dass Jesus in den Tempel hineinging und anfing die Händler hinauszutreiben. Den Wutausbruch, den Jesus an dem Feigenbaum abreagiert, verschweigt Lukas seiner Leserschaft und tilgt die Episode vollständig. Den Fortgang der Begebenheit erzählt V.47 so beiläufig, als stelle der Vorfall im Tempel keine Zäsur dar. Damit trennt sich Lukas von der Darstellungsabsicht der Markusvorlage. Sah diese ein weiteres Mal den in diesem Fall krassen Traditionsbruch Jesu als Auslöser dafür, dass Jesus auf die Straße des Todes geriet, besitzt die Tempelaustreibung bei Lukas nicht die Wucht, die ihr im Markusaufriss zukommt. Scheinbar unbeirrt lehrt Jesus im Tempel weiter. An die Stelle des bunten Treibens im Tempelbezirk tritt er selbst mit seiner Lehre. Er füllt den gereinigten Platz, der nun für ihn frei ist. Die Szene kommt einer Umwidmung des Zentralortes der jüdischen Gottesverehrung gleich. Lediglich im Erzählerkommentar wird mitgeteilt, dass die Gruppe der Autoritäten aus Hohepriestern, Schriftgelehrten und Ersten des Volkes ihn zwar zu töten versuchen, aber keine Mittel dafür finden. Theologisch stellt Lukas damit gegenüber Markus fest, dass es nicht das umstürzlerische Handeln Jesu ist, welches seinen Tod verursacht. In diesem Fall steht Jesu Ansehen beim Volk einem solchen Vorhaben im Weg. Nicht Jesus bietet den Anlass, der ihm das Todesurteil einbringt. Die Jesus zugebilligte unantastbare Hoheit130 macht es der Leserschaft jedoch zunehmend schwerer zu begreifen, wieso dieser überlegene Charakter am Ende in die Hände von Häschern gerät, verurteilt und hingerichtet wird. Mit jeder Szene, die die Größe und Besonderheit Jesu erweist, wird es schwieriger, plausibel zu erzählen, worin der Stolperstein liegt, der Jesus ins Straucheln bringt und an dem er am Ende stirbt. Deutlich wird in jedem Fall: Die Ursache für das tödliche Ende Jesu am Kreuz sieht der lukanische Erzähler an anderer Stelle als Markus.

7.8 Die Hoheitstitel Jesu Kognitive Überlegenheit, souveränes Argumentieren, machtvolles Handeln bilden die inhaltliche Basis für die Titel, die das Lukasevangelium für Jesus bereithält. Die vom Erzähler und den Personen innerhalb der Erzählung für Jesus verwendeten Titel bilden vornehmlich die Größe und die Vorzüge Jesu ab. Sie beziehen sich auf die ihm zugeschriebenen Fähigkeiten. Jesus wird im Unterschied zu Matthäus nicht in einen titularen Rahmen eingespannt, der einer israeltheologischen Idee folgt. Jesus wird nicht in Gottes Weg mit Israel eingepasst. Die Christologie wird weniger von der Geschichte Israels und mehr von der 130

Laut P, Sondergut (s. Anm. 87), 221, ist Jesus bei Lukas „der göttliche Mensch“.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

ausgezeichneten Persönlichkeit Jesu und ihrem Auftreten her gestaltet. Die Umkehrung des Richtungsverlaufs im Stammbaum Jesu in Lk 3,1–38 gegenüber Mt 1,1–17 ist bereits ein früher Beleg dafür. Der lukanische Stammbaum nimmt seinen Ausgangspunkt bei dem gegenwärtigen Jesus, von dem die Darstellung handelt, und führt diesen als Person über Adam bis auf Gott selbst zurück. Jesus ist der direkte Abkömmling Gottes, das ist die Botschaft der lukanischen Genealogie. Bei Matthäus hingegen ist Jesus der Exponent einer bei Abraham beginnenden und von Repräsentantinnen mit teilweise fragwürdiger gesellschaftlicher Zugehörigkeit durchzogenen Geschichte Israels. Die Titulaturen bei Lukas bilden Zuschreibungen, die aus dem einzigartigen Charakter Jesu resultieren. Entsprechend werden je nach Erzählsituation die geeigneten Titel auf ihn angewandt. Der Hoheitsstatus, der Jesus bei Lukas durchgängig eingeräumt wird, erwächst aus seinem wortmächtigen und tatkräftigen Wirken, und die ihm beigelegten Titel unterstreichen dies. Die Differenz gegenüber dem matthäischen Bild von der Besonderheit Jesu besteht darin, dass Matthäus seiner Darstellung den titularen Status Jesu voranstellt. Bereits der erste Vers seiner gesamten βι βλος kündigt an (Mt 1,1), wer dieser ist, von dem das Buch handelt. Die Nennung der David- und Abrahamsohnschaft zeichnet die Bahn vor, auf der sich Jesus durch die erzählte Handlung hindurchbewegt, bis die titulare Zuschreibung in Mt 27,54 zu ihrem Höhepunkt gelangt. Für Lukas erweist sich der Status Jesu sukzessive aus seinen Aktionen heraus.131 Das schließt die umfangreiche Vorgeschichte bereits insofern ein, als sie die besonderen Umstände der Herkunft Jesu beschreibt und auf diese Weise vorankündigt, dass hier ein Besonderer in die Welt der Menschen eintritt.132 So wird er bereits vorgeburtlich in Lk 1,32 vom Engel Gabriel als Sohn des Höchsten133 angekündigt. Ihm wird der κυ ριος οë θεο ς den Thron seines Vaters David geben und ihn damit zum König erheben. In 1,35 wird ihm ebenfalls bereits vorgeburtlich und lange vor seiner Taufe zugesagt, dass heiliger Geist auf ihn kommen wird. Darüber hinaus sagt der Engel ihm die Kraft des Höchsten134 zu und be-

131 Das entspricht den von Aristoteles in seiner Poetik formulierten Gesetzen dramatischer Darstellung. Vgl. dazu K. L, Das Geschichtswerk des Lukas. Band I: Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse, UB 455, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, 15: „Die Personen im Drama und in der Erzählung charakterisieren sich durch ihr Handeln. Sie handeln nicht deshalb, weil sie Charaktere darzustellen haben, sondern umgekehrt stellen sie Charaktere dar, indem sie handeln“. 132 Vgl. H. G, Der Heilige Geist bei Lukas. Theologisches Profil, Grund und Intention der lukanischen Pneumatologie, WUNT 2/389, Tübingen 2015, 58. 133 Zur Verwendung des Epithetons υÏ ψιστος in der paganen Religiosität und im antiken Judentum, insbesondere der Septuaginta, vgl. R. F, „Der Höchste“. Das Gottesprädikat Hypsistos in der paganen Religiosität, in der Septuaginta und im lukanischen Doppelwerk, in: Ders., Der Höchste. Studien zur hellenistischen Religionsgeschichte und zum biblischen Gottesglauben, WUNT 330, Tübingen 2014, 135–150, 138–140 und 140–144. 134 In den fünf lukanischen Belegstellen (Lk 1,32.35; 1,76; 6,35; 8,28) wird υÏ ψιστος als Namensäquivalent für Gott verwendet. Lukas kann durch dieses Gottesprädikat an die Ver-

7.8 Die Hoheitstitel Jesu

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zeichnet ihn als Sohn Gottes. Eben dieser Titel wird ihm im Moment seines Todes am Kreuz bezeichnenderweise von Lukas im Unterschied zu Markus und Matthäus vorenthalten. In Lk 23,47 nennt ihn der römische Hundertschaftsführer einen δι καιος (Gerechten). Diese ehrenvolle Bezeichnung rückt Jesus in eine Linie mit jüdischen Märtyrern,135 bedeutet allerdings eine noch vorläufige Zurücknahme der größtmöglichen Aussage über ihn. Diese behält sich der Erzähler bis zur Himmelfahrt als der Apotheose Jesu, also der Verleihung des definitiven göttlichen Status, vor. Lk 24,50–53 krönt das Lebenswerk Jesu durch seine Aufnahme bei Gott. Motiv- und traditionsgeschichtlich stützt sich Lukas dabei auf einen Akt aus der römischen Kaiserideologie.136 Der Gedanke, Lukas von dem Motiv eines übergreifenden Plans Gottes her zu interpretieren, der durch Hans Conzelmann137 prominent und in jüngerer Zeit revitalisiert138 worden ist, überschätzt die einmalige Verwendung des Begriffs βουλη im Rahmen einer Polemik gegen Pharisäer und Gesetzeskundige in Lk 7,30, die sich der Johannestaufe verweigern.139 Laut Conzelmann verknüpft der „Plan Gottes“140 das irdische Geschehen mit dem Handeln Gottes. Der Geschichtsverlauf werde zu einem Element der Gotteszeit.141 Tatsächlich jedoch verhält es sich umgekehrt: Lukas fügt die Geschichte Jesu in den Rahmen einer unabhängig vom Glauben bestehenden Zeit ein. Die Zeit des Glaubens erhält ihren Platz innerhalb der profanen Zeit.142 Eine Triebfeder für das lukanische Jesusbild bildet das hellenistische Ideal der αÆ ρετη , der Vorzüglichkeit.143 Die αÆ ρετη speist sich im Falle Jesu aus dessen bestehensvoraussetzungen einer jüdisch geprägten Leserschaft anknüpfen; zugleich ist diese Bezeichnung für hellenistisch vorgebildete Personen rezipierbar, vgl. F, „Der Höchste“ (s. Anm. 133), 144–145. 135 Vgl. den Hinweis auf 2 Makk 6,18–7,42 und 4 Makk bei L. B, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2017, 309. 136 Siehe dazu unten Kapitel 7.15. 137 H. C, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen 61977 (ursprünglich 1954), 141–144. 138 J. T. S, The Plan of God in Luke-Acts, SNTSMS 76, Cambridge 1993, 1–14. B, Theologie (s. Anm. 135), 306, favorisiert dieses Verständnis ebenfalls. Stark betont auch C. B Basileia bei Lukas. Studien zur erzählerischen Entfaltung der lukanischen Basileiakonzeption, HBS 84, Freiburg/Basel/Wien 2016, 251, die „Vorstellung eines göttlichen Heilsplans“. 139 Der zweite Beleg in Lk 23,51 bezieht sich gerade nicht auf Gottes Willen, sondern den Beschluss derer, die Jesus hingerichtet haben. Die übrigen drei Belege für das Wort stammen ausschließlich aus der Apostelgeschichte und liefern einen rückschauenden Blick auf die Jesusgeschichte, während die nachpfingstliche Zeit bereits weiterläuft: Apg 2,23; 13,36; 20,27. Eben diese Deutung fehlt in der lukanischen Jesuserzählung selbst. 140 C, Mitte der Zeit (s. Anm. 137), 141. 141 So C, Mitte der Zeit (s. Anm. 137), 142, unter Verweis auf Apg 17,26. 142 Vgl. P.-G. K, Geglaubte und gemessene Zeit. Das Zeitverständnis der synoptischen Evangelien, in: C. Landmesser/D. Schlenke, Ewigkeit im Augenblick. Zeit und ihre theologische Deutung, Leipzig 2024, 37–54, 51. 143 Zur Begründung der Übersetzung von αÆ ρετη mit Vorzüglichkeit statt Tugend vgl. G.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

sonderen rhetorischen Fähigkeiten und außergewöhnlichen Taten. Jesus demonstriert von Jugend an seine gesamte Lebensgeschichte hindurch seine verbale und tätige Überlegenheit vor staunenden Zuhörern (Lk 2,41–52; 6,20–49 u.ö.), gegenüber Gegnern und Anfeindungen, in der Bewältigung von Schwierigkeiten bis hin zu einer Totenerweckung (Lk 7,11–17), angesichts von Rückschlägen durch Verrat und Verleugnung in der Passionsgeschichte und die beispielhafte Ergebung in seinen schicksalhaften Tod. Die Tatsache, dass der Begriff αÆ ρετη in den Evangelien nicht fällt und im Neuen Testament insgesamt nur fünfmal verwendet wird,144 steht dem nicht entgegen. Offenkundig teilt dieser Terminus der hellenistischen Philosophie das Schicksal seines Korrespondenzbegriff ευÆ δαιµονι α.145 Das Wort ευÆ δαιµονι α wird im Neuen Testament gänzlich vermieden, begegnet der Sache nach aber in dem Terminus µακα ριος an prominenter Stelle, u.a. in der matthäischen Bergpredigt und der lukanischen Feldrede.146 Wird also im Sprachgebrauch der christusglaubenden Gemeinden im Ausgang des ersten Jahrhunderts die Anwendung der philosophischen Begrifflichkeit auf Jesus vermieden, ist deren geistiger Einfluss dennoch spürbar. Im Jesusbild des Lukasevangeliums kommt der Impetus in dem zielgerichteten Handeln Jesu besonders zum Ausdruck. Jesus dringt darauf, Menschen und ihre Lebenslagen zu verändern. Die µετα νοια der Sünder, die Sinnesänderung und der Wunsch, sie zur Umkehr zu bewegen (Lk 5,32), ist ebenso sein Anliegen wie die Eröffnung neuer Lebenschancen für die, die in sich gehen.147 Der Zielgerichtetheit des Wirkens Jesu entspricht als zweites Charakteristikum die wiederholt angesprochene Rückbezüglichkeit. Menschen werden in der Begegnung mit Jesus von ihm im sokratischen Stil zur Selbsterkenntnis motiviert und auf das in ihnen schlummernde Wissen angesprochen. Anthropologisch gilt der Mensch im Lukasevangelium als „corrigendus“,148 und Jesus ist die Person, die den Optimierungsvorgang anstößt. Auf der Linie des hellenistisch vorgezeichneten Ansatzes sind die Titulaturen für Jesus im Lukasevangelium Ausdruck seiner Dominanz und Größe. Die Bezeichnung σωτη ρ fügt sich diesem Zusammenhang unmittelbar ein. Bekannt als Götterbezeichnung bei Griechen und Römern sowie als Ausdruck herrschaftlichen Selbstverständnisses wurde die Zuschreibung antiken Herrschernamen beiH, Glück und Vorzüglichkeit. Aristoteles über Solons Paradoxon, in: T. Hoyer (Hg.), Vom Glück und glücklichen Leben. Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge, Schriften des Sigmund-Freud-Instituts, Reihe 2/Band 6, Göttingen 2007, 79–102, 79. 144 Phil 4,8; 1 Petr 2,9; 2 Petr 1,3 und 2 Petr 1,5 (2x). 145 Vgl. P.-G. K, Das Glück der frühen Christen, in: T. Hoyer (Hg.), Vom Glück und glücklichen Leben. Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge, Schriften des Sigmund-Freud-Instituts, Reihe 2/Band 6, Göttingen 2007, 143–161, 148–151. 146 Paulus verwendet in Gal 4,15 und Röm 4,6 und 4,9 das Substantiv µακαρισµο ς insgesamt dreimal. 147 Vgl. K, Glück (s. Anm. 145), 150; vgl. T, Der Mensch (s. Anm. 86), 226; vgl. auch B, Theologie (s. Anm. 135), 311. 148 T, Der Mensch (s. Anm. 86), 225.226.

7.8 Die Hoheitstitel Jesu

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gegeben.149 Innerhalb der synoptischen Evangelien erscheint der Begriff nur zweimal. In ihrem Lobgesang ruft Maria in Lk 1,47 Gott als Retter aus, und in Lk 2,11 wird der neugeborene Jesus, der Christus κυ ριος, als σωτη ρ verkündet. Darüber hinaus macht Lukas vom Christustitel eher zurückhaltend Gebrauch. Erst im Kontext der Passion in Lk 22,67; 23,2.35.39 sowie im Zusammenhang der Geschehnisse am Ostertag in Lk 24,26 und 46 tritt er verstärkt hervor.150 Der alttestamentlich als Gottesbezeichnung verwendete Kyriostitel kommt bei Lukas unmittelbar zur Anwendung auf Jesus, wird also christologisch adaptiert. Ungeachtet dessen steht die Kyriosbezeichnung insbesondere in der lukanischen Vorgeschichte des Lebens Jesu in hoher Anzahl als Wort für Gott in Geltung151 und bleibt als Gottesbezeichnung in den alttestamentlichen Zitaten durchgängig erhalten. Des Weiteren spricht Lk 5,17 von der δυ ναµις κυρι ου, die das Heilen Jesu ermöglicht, und in Lk 10,21 verwendet Jesus selbst in Verbindung mit der Vater-Bezeichnung das κυ ριε als Anrede an Gott. Unberührt von dieser wechselweisen Verwendung des Begriffs κυ ριος für Gott und Jesus bleibt jedoch das Unterordnungsverhältnis, das zwischen Jesus und Gott besteht, in Geltung.152 Die Größe der Titulatur für Jesus führt nicht dazu, dass Jesus auch nur ansatzweise an die Stelle Gottes rückt.153 Lukas vermeidet trotz seiner hoheitlichen Christologie den Verdacht, Jesus zum zweiten Gott neben Gott dem Vater zu erhöhen. Auch die relativ häufige Verwendung der Menschensohnbezeichnung fügt sich dieser Tendenz ein. Genau an der Stelle, an der sich das Schicksal Jesu auf Erden zu vollenden beginnt – in der Passions- und Ostergeschichte – setzt Lukas zudem der Größe Jesu insofern eine Grenze, als er in der Kreuzigungsszene einen subordinationschristologischen Zug einbaut. Jesus übergibt seinen Geist in die Hände Gottes, und der römische Hauptmann als Zeuge der Szene blickt zuerst nach oben und erweist Gott seine Referenz. Erst danach folgt seine finale Aussage über Jesus, wirklich, dieser Mensch war ein Gerechter (Lk 23,47). Dass an dieser Schlüsselstelle Jesus als Gerechter und nicht als Gottessohn tituliert wird, mag seinen Grund darin haben, dass die finale Vergottung Jesu mit seiner Himmelfahrt noch aussteht. Es zeigt aber auch das Bemühen des Erzählers, Jesus nicht einseitig als Exponenten einer hellenisierten Geisteswelt zu prä-

Häufig bei den Herrschern der Antigoniden, Ptolemäer und Seleukiden. Vgl. R. F/H. S, Menschwerdung, TOBITH 2, Tübingen 2018, 263. Ansonsten begegnet die Christusbezeichnung bei Lukas noch in 2,26; 3,15; 4,41; 9,20 und 20,41. 151 B, Theologie (s. Anm. 135), 302 Anm. 13 führt die Stellenbelege auf. Vgl. zur Sache auch ebd. 304. 152 B, Basileia bei Lukas (s. Anm. 138), führt die „theozentrische Leitperspektive“ (156 Anm. 556), durch die „Gott auf der Ebene der Geschichte (in Abhebung von der Ebene der Präsentation der Erzählung) unangefochten die schlechthin handlungsbestimmende Figur bleibt“ (153), auf das Nachwirken der „frühjüdischen Basileiakonzeption“ (103) zurück, die hinter der „lukanischen Basileiakonzeption“ stehe (156). 153 Vgl. C.M. T, Luke, Sheffield 1996, 78. 149

150

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

sentieren.154 Der Erzähler hält ihn in dieser Szene mit dem jüdischen Theologumenon Gerechtigkeit (δικαιοσυ νη) in Verbindung, das in den Parabeln wiederholt präsent ist.155 Dazu passt, dass Jesus wiederholt als Prophet bezeichnet wird und damit in eine Reihe mit den prophetischen Protagonisten gerückt wird,156 deren Bedeutung im Laufe der Gesamterzählung auf unterschiedliche Weise und wiederholt sichtbar gemacht wird.

7.9 Die Ursache des Todes Jesu: Lk 22,1–23,25 Auf den ersten Blick gibt es keine Gründe, aus denen die Lebensgeschichte Jesu im Lukasevangelium tödlich enden müsste. Das Handeln und Verhalten Jesu liefert keine Anhaltspunkte, auf welcher Grundlage seine Gegner seiner habhaft werden könnten. Zu souverän schreitet Jesus durch die erzählte Handlung. Der Verlauf der Geschehnisse erweckt den Anschein, als hätten die Zeitgenossen Jesu innerhalb der erzählten Welt ebenso wie die Leserschaft es mit einer unantastbaren Siegergestalt zu tun. Von Anfang an ragt Jesus aus der Niedrigkeit, in die er hineingeboren wurde, heraus. Alle Züge der Erzählung dienen der Qualifizierung seiner Person. Seinen Gegnern ist er überlegen. Seine Anhänger und Sympathisantinnen dürfen sich mit der Leserschaft über seine großen Taten und die Einsichten, zu denen er mit seinen Erzählungen und Gesprächen beiträgt, freuen. Eine hypothetische Frage könnte deshalb sein, ob Lukas auf die Hinrichtung Jesu hätte verzichten können, wenn nicht seine Markusvorlage ihn gezwungen hätte, den Lebensweg Jesu auf dieses Ereignis zulaufen zu lassen. Die Frage der beiden weißgekleideten Gestalten an die Frauen am Ostermorgen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? (Lk 24,5) lässt zumindest die Rückfrage zu, inwieweit der Tod Jesu für die Botschaft und Christologie des Lukasevangeliums eine konstitutive Grundlage darstellt. Die Passionsgeschichte im engen Sinn eröffnet Lk 22,1–2 ähnlich, aber nicht genauso wie das Markus- und das Matthäusevangelium. Sachlich übereinstimmend mit Markus schildert Lukas, dass die Hohepriester und Schriftgelehrten Jesus beseitigen wollen. Allerdings kürzt Lukas gegenüber Markus ab. Die Über-

154 In dem Wort δι καιος in Lk 23,47 werden „weisheitliches Denken und hellenistische Ethik zusammengeführt“, L. B, Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium, StUNT 24, Göttingen 2001, 347. 155 Eine jüdisch sozialisierte Leserschaft mag darin auch eine Anspielung auf den leidenden Gerechten aus Jes 52,13–53,12 erblicken. 156 N, Prophetische Züge (s. Anm. 54), 68, verweist darauf, dass Jesus in seiner Antrittspredigt in Lk 4,16–30 „als eine Art eschatologischer Prophet vor Augen [tritt], und zwar […] in der Tradition des ,Propheten Jesaja‘ bzw. in jes Tradition prophetischer Funktionen“. Laut U. S, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 455, ruft Lk 22,37 mit dem expliziten Verweis auf Jes 53,12 das Motiv vom leidenden Gottesknecht auf und stellt Jesus damit in die Tradition „vom leidenden Propheten“.

7.9 Die Ursache des Todes Jesu: Lk 22,1–23,25

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legung aus Mk 14,1, ihn mit List zu ergreifen, lässt das Lukasevangelium weg. Gleiches gilt für die Erwägung der religiösen Autoritäten in Mk 14,2, Jesus nicht am Passafest zu töten, um Unruhe in der Bevölkerung zu vermeiden. Diesen Gedanken formuliert Lukas in die psychologisch motivierte Bemerkung um, dass Jesu Feinde so handeln, weil sie das Volk fürchten. Dies ist eine eigentümliche Begründung. Die Autoritäten wollen Jesus aus Furcht vor dem Volk töten.157 Soll das bedeuten, dass die Hohepriester und Schriftgelehrten nicht aus eigenem innerem Antrieb handeln? Dann hätte der lukanische Erzähler hier einen Versuch zu ihrer Entlastung vorgenommen und die Rolle des Volkes bei dem Geschehen stärker hervorgehoben. Diese Interpretation passt allerdings nicht mit der Bedeutung zusammen, die den religiösen Autoritäten des Judentums im Lukasevangelium zukommt. Sie sind die Träger der Ablehnung gegen das Auftreten Jesu. Daher wird der Hinweis auf ihr Handlungsmotiv so zu verstehen sein, dass sie aus Furcht vor den Folgen, die das Wirken Jesu unter der Bevölkerung auslösen könnte, zu handeln beginnen. Sie wollen verhindern, dass das Volk auf die Seite Jesu tritt. Als den eigentlichen Akteur des Passionsgeschehens führt der Erzähler in Lk 22,3 den Satan ein. Der Widersacher Gottes wird zum Initiator der Vernichtung Jesu. Das Lukasevangelium bringt die Frage nach der Ursache des Todes Jesu damit auf eine Ebene, auf der numinose Mächte agieren. Das näher rückende Ende Jesu wird weder durch dessen eigenes Handeln noch unmittelbar durch das seiner Gegner herbeigeführt. Die unableitbare satanische Gegenmacht bricht plötzlich in die Handlung ein, nachdem sie seit dem Beginn des Wirkens Jesu laut Lk 4,13 aus seiner Lebensgeschichte entwichen war.158 Der Satan ist der Akteur, der die Handlung in die unausweichliche Richtung der Kreuzigung Jesu treibt. Dazu bedient er sich auf der Handlungsebene der Person des Judas. Der unfassbare Verrat dieses Jüngers Jesu ist nach lukanischer Darstellung nicht anders als durch die Einwirkung des Satans zu verstehen (Lk 22,4). Das Versprechen der finanziellen Belohnung erfolgt erst im Nachgang. Geld ist nicht das treibende Motiv für Judas (Lk 22,5). Jesus nennt nach dem Verzehr des Passalamms, dem Dank über dem Brot und dem Kelch beim letzten Mahl mit den Jüngern und vor dem nächtlichen Aufbruch zum Garten Gethsemane selbst das zentrale Motiv für seinen bevorstehenden Tod. Im Anschluss an den Dialog mit Petrus über dessen bevorstehende Verleugnung sagt er in Lk 22,37: Dieses Geschriebene muss (δειÄ) an mir vollendet werden. Als Beleg dazu zitiert Jesus Jes 53,12: Und er wurde zu den Gesetzlosen159 157 W, Lukas (s. Anm. 9), 693, entschärft das Dilemma, indem er γα ρ adversativ übersetzt. 158 In Lk 4,13 ist allerdings nicht vom Satan, sondern vom δια βολος die Rede. Nach C, Mitte der Zeit (s. Anm. 137), 22, beginnt mit Lk 4,13 „die satansfreie Zeit“, die bis 22,3 dauert. Sie bilde „eine Epoche sui generis in der Mitte des ganzen Ablaufes der Heilsgeschichte“ (Kursivierung von C.). 159 Wörtlich: zu denen ohne Gesetz, denen, die weg vom Gesetz sind, den Verbrechern.

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gerechnet und fügt dann unter Bezug auf sich selbst hinzu: Und nämlich das über mich Geschriebene hat ein Ziel (τε λος). Das tödliche Ende des Wirkens Jesu steht unter einem göttlichen muss.160 Der Abschluss seiner Wirksamkeit ist nach Darstellung des Lukasevangeliums im Licht von Deuterojesaja zu lesen. Was dort über den Gottesknecht ausgesagt wird, dient bei Lukas zur Interpretation des Todesgeschicks Jesu. In ihm kommt eine Notwendigkeit zur Vollendung, die die Lebensgeschichte Jesu überragt und über ihr steht.161 In der Sphäre des Numinosen wird damit die Balance wiederhergestellt, die durch das unableitbare Eingreifen des Satans aus dem Gleichgewicht geraten zu sein schien. Jetzt wird sichtbar: Ein göttlicher Wille,162 der einer Langzeitperspektive gleichkommt,163 gelangt im Schicksal Jesu zur Vollendung.164 In der Schilderung des nächtlichen Gebetskampfs Jesu in Gethsemane schildert Lukas die Schwere des inneren Leidenskampfes Jesu detaillierter als Markus (Lk 22,43); gleichzeitig steht Jesus bereits ein Engel vom Himmel stärkend zur Seite. Das Geschehen ist sichtbar in den Bereich des Willens Gottes eingebunden. Durch die Stärkung des Engels behält Jesus seine Fassung. Die bewahrt er auch in der Verhaftungsszene. Judas ist kein Triumph vergönnt. Anders als in der Markusversion kann er Jesus mit seinem verräterischen Kuss nicht überraschen. Bevor er Jesus küsst, hat dieser die perfide Aktion aufgedeckt. Indem er die Absicht des Judas ausspricht, nimmt er der bösen Tat ihre Spitze (Lk 22,47–48). Eine Steigerung erfährt das souveräne Agieren Jesu in der Verhaftungsszene unmittelbar anschließend dadurch, dass Jesus nach einem kurzen Scharmützel mit Schwertern das abgeschlagene Ohr des Dieners des Hohepriesters heilt. Hier stilisiert der Erzähler die Großmütigkeit Jesu in schrillem Kontrast zu dem, was ihm selbst in diesem Augenblick widerfährt. Dass dabei abgesehen von einem zwischenmenschlichen Machtkampf zwischen Freunden und Feinden Jesu ein Duell auf höchster Ebene zwischen überweltlichen Mächten zum Austrag kommt, spricht Jesus in Lk 22,53 aus: Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis. In diesem Moment behält die satanische Macht die Oberhand; aber in

160 Vgl. K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 62: „Hinter dem ,Muß‘ seines Weges ins Leiden zur Auferstehung (9,22.44; 18,32; 24,26) steht Gott selbst“. 161 Nach E. S, Das Evangelium nach Lukas (NTD 3), Leipzig 1983 (Nachdruck Göttingen 1982), 219, „ist es geradezu die Funktion des Christus, daß er ,leiden muß‘“. Jesus wird als „der leidende Prophet gesehen“. 162 J. E, Lukas. Ein theologisches Portrait, Düsseldorf 1985, 109: „Gott hat es so gewollt!“ 163 Dennoch stellt m.E. die These von B, Basileia bei Lukas (s. Anm. 138), 248, derzufolge dem δειÄ, also der „Vorstellung eines göttlichens Müssens“, „die Auffassung zugrunde“ liegt, „dass sich Gottes Handlungshoheit und uneingeschränkte Souveränität darin manifestieren, dass sämtliche Geschehensabläufe auf seinem Geschichtsplan fußen und gänzlich seinem Willen folgen“, eine Überpointierung dar, die heilsgeschichtliche Vorstellungen der späteren Theologiegeschichte in das Lukasevangelium zurückprojiziert. 164 In die lukanische Erzählung ragt das Theodizeeproblem hinein. Es wird jedoch nicht als solches thematisiert.

7.9 Die Ursache des Todes Jesu: Lk 22,1–23,25

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der Szene selbst erscheint Jesus deshalb keineswegs als machtlos und geduckt. Er entlarvt das Ansinnen des Judas, und er heilt unbeeindruckt von der Gewalt, die ihm entgegengebracht wird, den verletzten Diener des Verhaftungstrupps.165 Mit dieser Szene nimmt in der Lukaspassion ein unaufhaltsames und sich steigerndes Geschehen seinen Lauf. Es geht Schlag auf Schlag. In schneller Abfolge sieht sich der lukanische Jesus der Distanzierung durch seinen engsten Freundeskreis und der Verurteilung durch das Synedrium ausgeliefert (Lk 22,54–71). Er wird zum Spielball des Pilatus und des Herodes (Lk 23,1–12). Am Schluss gibt das Gebrüll der entfesselten Menschenmenge den Ausschlag. Pilatus lässt Jesus dem Willen des Mobs entsprechend hinrichten (Lk 23,18–25). Jesus ist in der lukanischen Darstellung in eine sich steigernde Gewaltspirale eingezwängt. Die Attacken prasseln im Stakkato auf ihn ein. Von seiner Ergreifung (ab Lk 22,47) bis zu dem Moment, in dem Pilatus dem Druck der Masse nachgibt (Lk 23,25), rollt eine Lawine der Aggression über Jesus hinweg und reißt ihn ins Verderben. Nach dem hinterhältigen Verrat aus dem Kreis seiner engsten Vertrauten heraus ist es ausgerechnet Petrus als der erstberufene Jünger, der sich von Jesus distanziert (Lk 22,54–62). Allerdings mildert Lukas verglichen mit Markus den Abstand zwischen Jesus und Petrus ab. Jesus bleibt in der Beziehung zu Petrus (V.61), Petrus dient nicht als Kontrastfigur, sondern wird in einer „Korrespondenzrelation“166 mit Jesus gehalten. In Mk 14,53–54 und 14,66–72 legt sich die Verleugnungsszene in zweigeteilter Form um das Verhör Jesu im Hof des Hohepriesters (Mk 14,55–65). Durch diese Verschachtelung stellt der markinische Erzähler einen Sachzusammenhang zwischen der petrinischen Formulierung συÁ ειË οë χριστο ς aus Mk 8,29 und den gleichlautenden Worten im Munde des Hohepriesters in Mk 14,61 her. Die Wiederkehr der Christusaussage in diesem Moment besiegelt nach Markus das Todesurteil über Jesus. Das Lukasevangelium löst diesen inneren Zusammenhang auf. Die Verleugnung des Petrus bezeugt ein weiteres erbärmliches moralisches Versagen und bestätigt damit die Vorhersage Jesu wenige Stunden zuvor (Lk 22,34). Die Wortwahl des Petrus ist in der lukanischen Version (Lk 22,57.60) gegenüber der Markusvorlage (Mk 14,68.71) allerdings moderater gehalten.167 Der lukanische Petrus flucht und schwört im Unterschied zum markinischen Petrus nicht.168

165 Zu der Debatte, ob das Tragen von Waffen im Jüngerkreis Rückschlüsse auf militante Ziele der Jesus-Gruppe erlaubt oder das erwähnte Faktum von untergeordneter Bedeutung ist, vgl. Kapitel 5.9.4 Gemeinschaftsbildung als Konsequenz der Verkündigung: Mk 1,16–20; vgl. auch die dort angeführte Literatur. 166 I. J, Passio Christi, Tribulatio Discipuli. Eine exegetische und narratologische Untersuchung zu den Leidensvorstellungen des lk Doppelwerks, NTOA/StUNT 125, Göttingen 2020, 53. 167 Vgl. F. B, Das Evangelium nach Lukas, 4. Teilband Lk 19,28–24,53 (EKK III/4), Neukirchen-Vluyn/Düsseldorf 2009, 352. 168 J, Passio Christi (s. Anm. 166), 53.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

Das anschließend geschilderte Verhör vor dem Synedrium (Lk 22,66–71) läuft auf eine andere Pointe hinaus als die entsprechende markinische Szene.169 Jesus stirbt bei Lukas nicht an den Worten, die ursprünglich im Munde des Petrus das Christusbekenntnis zum Ausdruck brachten. Die Frage, ob Jesus der Christus ist, wird im der lukanischen Verhörszene zur vorletzten Frage zurückgestuft (Lk 22,67–69). An ihrer Beantwortung entscheidet sich das Schicksal Jesu noch nicht. Die finale Frage im Rahmen des Lukasevangeliums ist die nach der Gottessohnschaft Jesu. Sie wird im Verhör zum Schibboleth. An ihr scheiden sich die Geister. Von ihrer Beantwortung erwarten sich die Ältesten des Volkes, die Hohepriester, die Schriftgelehrten, alle versammelten Akteure (Lk 22,66.70) bei diesem Gerichtsverfahren eindeutigen Aufschluss. Ähnlich wie in der markinischen Prozessdarstellung fällt auch bei Lukas Jesu Reaktion verhalten aus. Letztlich gibt Jesus die eindeutige Beantwortung der Frage an die Fragesteller zurück: Ihr sagt, dass ich es bin. Das bleibt zweideutig. Jesus weist die Zuschreibung nicht zurück; aber er beansprucht sie auch nicht aktiv für sich (Lk 22,70). Seinen Anklägern reicht die erzwungene Antwort jedoch aus. Sie bewerten seine Aussage als Inanspruchnahme der Gottessohnschaft. Die religiöse Begründung der Verurteilung Jesu vor dem Synedrium spielt in der anschließenden Szene vor Pilatus (Lk 23,1–5) keine Rolle. Aufwiegelung der Bevölkerung und Aufruf zur Steuerverweigerung lauten dort die beiden ersten Vorwürfe. Hinzu komme der Königsanspruch, der kurzschlüssig aus einem national interpretierten Christustitel abgeleitet wird (Lk 23,2). Alle drei politisch folgenreichen Vorwürfe sind so gehalten, dass ein römischer Präfekt gezwungen wäre, einzuschreiten. Pilatus jedoch beschränkt seine Rückfrage – in historisch betrachtet unwahrscheinlicher Reduktion – auf den dritten Punkt; und selbst die Königsfrage grenzt er in ihrem Geltungsbereich ein. Er befragt Jesus, ob er der König der Juden sei. Wieder reicht Jesus wie zuvor beim Verhör vor den jüdischen Autoritäten die Antwort in zweideutiger Weise an den Fragesteller zurück: Du sagst es (Lk 23,3). Ein weiteres Mal bleibt damit offen, wieweit sich Jesus offen mit dem Inhalt der Aussage identifiziert oder ob er lediglich die Fremdzuschreibung nicht zurückweist. Im Ergebnis jedenfalls nimmt Pilatus die Antwort in der Weise zur Kenntnis, dass er das Problem als eine innerjüdische Angelegenheit auf sich beruhen lassen kann. Er interpretiert die Titulatur König der Juden als eine im Rahmen der für die indigene Bevölkerung einer besetzten römischen Provinz geltenden begrenzten Selbstorganisation zulässige Bezeichnung; möglicherweise minimiert er sie auch zu einer religiösen Titulatur und bezieht sie damit auf den Christustitel zurück. 169 Zu den Veränderungen, die das Lukasevangelium an der Markusvorlage vornimmt, gehört u.a. die Änderung der Angabe zur Tageszeit. Während Markus von einem nächtlichen Verhör im Haus des Hohepriesters schreibt, verlegt Lukas die Befragung Jesu auf den Morgen des neuen Tages. Damit korrigiert Lukas ein Sachproblem der Markusversion; denn nach dem Prozessrecht der Mischna ist ein solches Verfahren bei Tage durchzuführen. Vgl. dazu J. B, Das Synedrium von Jerusalem und die Strafprozessordnung der Mischna, ZNW 52 (1961), 54–65, 60.61; K, Mythos bei Markus (s. Anm. 127), 258–259.

7.10 Jesu letzte Botschaften auf dem Weg zum Kreuz: Lk 23,26–43

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Die Überstellung Jesu an Herodes Antipas, der als galiläischer Landesherr zum Passa nach Jerusalem gereist ist, fungiert im Rahmen der Erzählung als Versuch des Pilatus, die Verantwortung für den Ausgang des Verfahrens weiterzureichen (Lk 23,6–12). Für Jesus bedeutet sie eine weitere Umdrehung in der gegen ihn gerichteten Gewaltspirale. Er wird der Beurteilung des Potentaten seiner Heimatregion ausgesetzt, allerdings ohne dass dabei in der Sache Substantielles herauskäme (Lk 23,9). Umso mehr schlagen Jesus emotionale Ablehnung und psychische Gewalt entgegen (Lk 23,10–11). Während Pilatus und Herodes zu Freunden werden, ist es um Jesus einsam geworden (Lk 23,12). Dies bestätigt sich in dem anschließenden lautstarken Finale. Pilatus und Herodes sind übereingekommen, Jesus nicht töten zu lassen (Lk 23,13–16). Aber diese Entscheidung wird durch das Gebrüll der tobenden Masse weggeschrien (Lk 23,18). Die brüllende Menschenmenge fordert Jesu Kreuzigung, und Pilatus gibt ihrem Willen schließlich nach (Lk 23,25). Die Wut und der Vernichtungswille einer gesichtslosen Volksmenge besiegeln das Schicksal Jesu, das von einer einzelnen Person auf Betreiben des Satans losgetreten wurde.

7.10 Jesu letzte Botschaften auf dem Weg zum Kreuz: Lk 23,26–43 Auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte und zu seiner Kreuzigung begegnet Jesus einer Reihe von Menschen. Sie stehen in verdichteter Weise für Lebenshaltungen, die im Verlauf der Gesamtdarstellung an anderen Stellen thematisiert wurden. Der Abschnitt Lk 23,26–49 vergegenwärtigt und bündelt auf dem letzten Weg Jesu die Verhaltensweisen, auf die Jesus zeit seines Lebens hingewirkt hat.170 Auf die Information, dass Simon von Kyrene gezwungen wird, Jesus das Kreuz nachzutragen (V.26), setzt Lukas über Markus hinausgehend seiner Darstellung eine längere Passage hinzu. Jesus erhält in der lukanischen Passionserzählung Raum, um für kurze Zeit noch weiterzuwirken und wichtige Dinge festzuhalten.171 Zunächst stellt der Erzähler fest, dass Jesu Gang zum Kreuz unter großer Anteilnahme einer zahlreichen Öffentlichkeit erfolgte (V.27).172 Ihr gehören auch klagende und weinende Frauen an.173 Jesus wendet sich zu ihnen um und spricht

170 K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 655, konstatiert die Nähe der Lukaspassion zur „Tragödie“. „Am Anfang ist schon alles klar“. 171 Laut W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 751, hat der Erzähler in 23,23–49 „ein ,erzählerisches Sammelbecken‘ geschaffen, das aus einer Vielzahl von Teilszenen besteht“. So Wolter unter Bezug auf E. L, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 61975, 73. 172 W.E. C, Reading the Gospel of Luke’s Walk to Calvary as a Funeral Procession: A Study of Luke 23.27–8, NTS 70 (2024), 51–60, 51.53–56, identifiziert in V.27–28 eine vorweggenommene Beerdigungsprozession. 173 Vgl. C.A. R, Women’s Emotion, Community, and Politics: Interpreting Tears in Luke 23.27–31, NTS 69 (2023), 400–413: Zum einen ehren die Frauen in Lk 23,27 mit ihrem

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sie an. Ein weiteres Mal stehen damit Frauen im Fokus der Darstellung.174 Trotz der kräfteraubenden Lage, in der Jesus sich befindet, wendet er Energie auf, um stehenzubleiben, sich umzudrehen und den Frauen seine Botschaft zu hinterlassen. In einem prophetischen Ausblick stellt Jesus schreckliche Zeiten und Ereignisse vor Augen (V.29–31), die über die Frauen und ihre Nachkommen hereinbrechen werden. Das apokalyptische Szenario dient ihm zur Begründung seiner Eingangsaufforderung: Weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder (V.28). In der für den lukanischen Jesus typischen Art werden die Frauen angehalten, nicht von sich wegzusehen, sondern auf sich selbst zu schauen. Sie sollen bei sich bleiben,175 denn ihr künftiges Schicksal wird alle ihre Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch nehmen. Bereits an das Kreuz fixiert richtet Jesus seine Gedanken auf das Geschick der beiden Verbrecher zu seiner Rechten und Linken. Seinen eigenen Tod vor Augen ist er noch damit befasst, das Schicksal der Menschen zu wenden, die sich in seiner Nähe befinden. Seine Bitte an Gott, den beiden zu vergeben, begründet er mit deren Nichtwissen (V.34). Sein gesamtes Wirken hindurch hatte Jesus in sokratischer Manier versucht, bei den Menschen den Prozess der Selbsterkenntnis anzuregen. Daraus resultierte das gesuchte Wissen und mit ihm die Chance, in das richtige Handeln zu gelangen. In dem äußersten Moment der Hinrichtung bleibt keine Zeit mehr, einen maieutischen Vorgang anzustoßen. Das Nichtwissen kann nicht mehr produktiv umgewandelt werden. Jesu Bitte um Vergebung bildet daher angesichts des bevorstehenden Todes der Gekreuzigten die ultima ratio, noch versöhnt und befriedet aus dem Leben gehen zu können. Für eigene Aktivität ist es zu spät, aber die Vergebung Gottes hebt das fatale Ende in Nichtwissen in sich auf. Die Schaulustigen der Szene bekommen von ihren Oberen die zynische Umkehrung der Maieutik vorgeführt: Andere rettete er; rette er sich selbst (V.35). Freilich geht dieser Spott an der Sache vorbei, denn keine Hebamme und kein Geburtshelfer bringt sich selbst zur Welt. Deren Aufgabe ist es gerade, Neugeborenen, und d.h. anderen den Schritt in das Leben zu ermöglichen. Die schadenfrohen Hinrichtungszeugen meinen den Gekreuzigten lächerlich zu machen, indem sie ihm ihr Verständnis des Christustitels als Maßstab entgegenhalten. Sie halten Jesus sein schauriges Ende als Beleg dafür vor, dass er nicht der Erwählte Gottes sein kann. Damit verbarrikadieren sie sich in ihrem zerstörerisch triumphierenden Unverständnis.

Weinen Jesus (400.413) und begehren gegen seine Hinrichtung auf (411). Zum anderen bringen ihre Tränen prophetischen Protest zum Ausdruck. Unter Verweis auf Jer 9,17–22 bezieht Reeder das Klagen der Frauen auf die Zerstörung Jerusalems und die Ungerechtigkeiten des Krieges (413). 174 Vgl. zuvor bereits Lk 7,36–50; 8,1–3; 10,38–42; 18,1–8 u.ö. 175 Die Untersuchung von R, Women’s Emotion (s. Anm. 173), 402–412, zur öffentlichen Funktion und politischen Intention des Weinens von Frauen hilft zu erkennen, dass die erkenntnisbezogene Rückwendung bei Lukas nicht auf passive Privatheit zielt.

7.11 Das Sterben Jesu als Theorie: Lk 23,44–49

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Auch der eine der beiden gekreuzigten Übeltäter bezieht sich auf die mit Macht konnotierte Interpretation des Christustitels. Noch im eigenen Tode ist er mit der Distanzierung von Jesus befasst. In drastischer Weise sieht er von sich weg, statt bei sich selbst zu bleiben und auf sich zu schauen. Demgegenüber gleicht der zweite gekreuzigte Verbrecher dem Zöllner aus Lk 18,13. Er bleibt bei sich und seinen eigenen Taten. Er geht nicht so weit, um Rettung zu bitten, auch nicht in der βασιλει α Jesu. Bescheiden wünscht er sich, dass Jesus an ihn denken möge (V.42). Ihm gilt Jesu unverzügliche Zusage, noch heute mit ihm im Paradies zu sein (V.43). Für den zweiten Verbrecher realisiert sich also noch am Lebensende die Wahrheit, dass dem ungeschönten Bei-sich-Bleiben die rettende Annahme durch Gott bzw. Jesus zugesagt ist.

7.11 Das Sterben Jesu als Theorie: Lk 23,44–49 Aus der Schilderung des Sterbens Jesu am Kreuz sticht in V.48 das Wort θεωρι α (theoria) als neutestamentliches Hapaxlegomenon hervor. Das Lukasevangelium bezeichnet das Sterben Jesu als eine Theorie. Zu fragen ist, was sich nach antikem Verständnis mit dem Terminus verbindet. Das Bedeutungsspektrum für θεωρι α in der Literatur der Antike ist weit.176 Lexikalisch bedeutet θεωρι α in erster Linie „das, was man anschaut, das Schauspiel“177. Gleichzeitig bezieht sich der Begriff auf den Akt des Zuschauens.178 Θεωρι α bezeichnet in diesem Fall das Anschauen, die Betrachtung, die Untersuchung, die wissenschaftliche Erkenntnis und im weiteren Verlauf die Theorie. Der Bogen von der visuellen Wahrnehmung eines Geschehens zu seiner geistigen Verarbeitung ist Teil der Begriffspalette. In der griechischen Philosophie bedeutet θεωρι α eine Erkenntnishaltung und Lebensform. Platon bestimmt die θεωριÂ α „als ein Schauen, durch das die Seele das Seiende in seiner Wahrheit erfaßt“.179 Höchste Erkenntnis und praktischmoralische Anwendung verbinden sich. Dieser Gedanke ist auch für Aristoteles signifikant. In seiner Erkenntnistheorie bezeichnet θεωρι α ebenfalls sowohl „die höchste Stufe menschlichen Erkennens“ als auch eine praktische Lebenshaltung.180 176 Die Ausführungen in diesem Abschnitt erfolgen in enger und teilweise wörtlicher Anlehnung an K, Sterben Jesu (s. Anm. 7), 144–149. 177 W. B, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6. völlig neubearbeitete Auflage hg. v. K. Aland und B. Aland, Berlin 1988, 732. 178 S.C. S, Art. Θεωρι α, in: Griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testamente, 5. Aufl. neu bearbeitet von T. Eger, Giessen 1893, 193. 179 F. V, Art. Theoria (2), in: DNP 12/1 (2002), 401–403, 401, unter Hinweis auf Platon, Phaidr 247c3-e4; d4. 180 H. B, Art. Theoria, in: LAW 3, Augsburg 1994 (unveränd. Nachdruck von 1965), 3059.

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Im Kontext der Beziehungen der griechischen Poleis untereinander kommt dem Begriff θεωρι α eine weitere Bedeutung zu. Er dient als Bezeichnung für die Teilnahme an einem Fest. Er kann auch das Fest selbst oder einen Festzug bezeichnen.181 Als terminus technicus steht θεωρι α zur Bezeichnung „für staatliche Festgesandtschaften zu Festen benachbarter oder verwandter Städte und Staaten sowie zur Befragung eines Orakels“.182 Mit der θεωρι α verbindet sich damit auch die Vorstellung einer Pilgerschaft. Gesandte der griechischen Poleis begeben sich „zu nichtlokalen Heiligtümern“183 und bringen Opfergaben dar. In der hellenistisch-jüdischen Literatur wird in ApcBar(gr) 3 θεωρι α für das Aussehen eines Menschen verwendet.184 3 Makk 5,24 erzählt von einem erbarmungswürdigen Schauspiel, zu dem sich die Volksmenge am frühen Morgen nach dem Krähen des Hahnes versammelte. Ptolemäus IV. Philopator hatte die ägyptischen Juden in die Rennbahn von Alexandria gebracht, um sie dort von 500 wütend gemachten Elefanten zertrampeln zu lassen. In der Erzählung kehren sich die Elefanten jedoch gegen die Soldaten des Königs. Die geretteten Juden wenden sich spontan an Gott. Ihre Haltung findet in der Reaktion des Hauptmanns unter dem Kreuz in Lk 23,47 eine Entsprechung. Das äußere Geschehen schlägt sich unmittelbar in der inneren Einstellung nieder. Im ersten Drittel des Aristeasbriefs ist achtmal von einer θεωρι α die Rede.185 Dabei wird ein breites Bedeutungsspektrum sichtbar. Als θεωρι αι werden die im jüdischen Gesetz ausgesprochenen Ansichten bezeichnet. Sie gelten als heilig und ehrwürdig (Arist 31). Auch die Blicke von Menschen, die einen prächtigen Tisch bestaunen, werden θεωρι α genannt (Arist 59). Der Anblick eines schönen rautenförmigen Netzwerks, das einen tiefen Eindruck auf die Betrachter macht (Arist 67), gilt ebenfalls als eine θεωρι α. Ebenso ist der Anblick hinsichtlich seiner Wirkung gemeint, wenn von dem Eindruck von silbernen und goldenen Mischgefäßen die Rede ist. Die Wirkung ihres Anblicks wird als Eindruck eines Schauspiels beschrieben, das freudiges Staunen hinterlässt (Arist 77.78). Eine erkennbare Nähe der lukanischen Darstellung des Sterbens Jesu zum Aristeasbrief zeigt Arist 83–91. Dort finden sich in einer Beschreibung des Jerusalemer Tempels exakte Richtungsangaben zu seiner Ost- und Westausrichtung. Es ist die Rede von der Bewegung des Tempelvorhangs, der vom Wehen des Windes bewegt wird, und zwar charakteristischerweise von unten nach oben. Das Spiel des Windes mit dem Tempelvorhang wird als ein schönes Schauspiel ge-

181 Langenscheidts Wörterbuch der Griechischen und Deutschen Sprache, Erster Teil Altgriechisch-Deutsch, begründet von H. Menge, Neubearbeitung 1986, K.-H. Schäfer und B. Zimmermann, Berlin u.a. 1986, 219. 182 H. B, Art. Theoria (s. Anm. 61), 3059. 183 I.C. R (übers. von S. Krauter), Art. Theoria (1), in: DNP 12/1 (2002), 398–400, 398. 184 ApcBar(gr) 3 schildert eine Szene aus dem zweiten Himmel. Dort bezeichnet θεωρι α das Aussehen der Menschen, die dazu raten, den Turm zu Babel zu bauen. 185 Arist 31; 59; 67 (2x); 77; 86; 99; 103.

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schildert, von dem man sich ungern trennte. Darüber hinaus werden auch die Feier eines Gottesdienstes (Arist 99) und die Besichtigung einer Jerusalem benachbarten Burg als θεωρι α bezeichnet. In der Summe bezeichnet im Aristeasbrief θεωρι α sowohl den Blick auf etwas als auch das Erblickte, den Anblick, selbst, u.z. hinsichtlich der Wirkung auf den Betrachter. Zusammengefasst gelten als θεωρι α visuell zugängliche Szenen, die betrachtet werden, außerdem Ereignisse, an denen Personen im Zusammenhang von Prozessionen und Gesandtschaften teilnehmen. Zu den θεωρι αι zählen ebenso innere Ansichten, etwa im Blick auf das Gesetz. In einer θεωρι α kommen äußere Sinneseindrücke und die geistige Verarbeitung des Gesehenen zusammen.186 Der genaue Gegenstand, den Lk 23,48 mit der Verwendung des Wortes θεωρι α auf den Begriff bringt, ergibt sich aus der Darstellung des Sterbens Jesu. Diese weicht in mehrfacher Hinsicht von der Markusvorlage ab. Das gilt bereits für die Eröffnung der Szene in den Versen 44 und 45. Zwar ist wie in Mk 15,33 von einem dreistündigen Zeitraum die Rede, in dem sich eine Finsternis über die ganze Erde legt. Aber Lukas weicht die Exaktheit der doppelten markinischen Zeitangabe auf. Markus hatte nach der Erwähnung des Zeitraums einen präzisen Zeitpunkt genannt, an dem die Finsternis endete und mit den letzten Worten Jesu Neues begann (Mk 15,33). Die Begründung, warum Lukas hier ein ungefähr einfügt und damit eine gewisse Verschwommenheit in die Zeitangabe bringt, ergibt sich aus seiner nachgeschobenen Erklärung für das Phänomen der Dunkelheit. Lukas deduziert die Finsternis anders als Markus nicht aus einer theologischen Wahrnehmung. War es bei Markus dunkel, weil hier die dunkle Stunde der Menschheit erzählt wird, die im Begriff steht, den Gottessohn umzubringen, ergibt sich die lukanische Deutung des Geschehens aus einer empirisch-rationalen Sicht auf das Geschehen. Die Ursache der Dunkelheit liegt für Lukas in einer Sonnenfinsternis. Diese ist gewiss kein alltägliches Ereignis, zumal, wenn sie genau in die letzten Stunden des Lebens Jesu hineinfällt.187 Aber sie ist auch kein vollkommen außerweltliches Geschehen. Über das Phänomen als solches braucht sich nach lukanischer Darstellung niemand zu wundern. Bedeutungsgeladen ist in erster Linie, dass und warum die Sonnenfinsternis genau in diesem Moment auftritt. Die Vagheit der Auskunft ungefähr die sechste Stunde hebt also auf die Übergangsphase am Rand einer tatsächlichen Sonnenfinsternis ab, die sich nicht auf die Minute genau eingrenzen lässt.

186 Die Darstellung nimmt die Ausführungen von K, Sterben Jesu (s. Anm. 7), 146–149, auf. 187 Auch beim Tod anderer bedeutender Persönlichkeiten der Antike treten in hellenistisch-römischer Literatur Sonnenfinsternisse auf. So verfinstert sich beim Tod von Julius Cäsar der Himmel als Zeichen für die Trauer der Natur über dieses Geschehen. Belege bei Vergil, Georgica I, 463–467; Plutarch, Pelopid. 295a; Dionysius Halicarnassensis, Antiquitates Romanae II 56,6; Diogenes Laertius, Carnead. IV, 33,12; Josephus, Antiquitates XIV, 309. Vgl. o. Kap. 5.14 zu Mk 15,34, Seite 225 Anm. 237.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

Die erste Information, die Lukas nach der Feststellung der Lichtverhältnisse verkündet, gilt anders als bei Markus nicht den letzten Worten Jesu. In V.45b zieht Lukas das Zerreißen des Tempelvorhangs, das in Mk 15,38 die theologische Pointe der Szene darstellt, an den Anfang seiner Darstellung.188 Dadurch verändert sich die Funktion des Vorhangs für die Erzählung. Stand dieser bei Markus für das theologische Motiv des durch den Tod Jesu eröffneten Gottesverhältnisses, setzt Lukas mit der Richtungsangabe, dass der Vorhang nicht von oben nach unten, sondern mitten hindurch zerriss, eine christologische Pointe. Die Veränderung impliziert den Rückverweis auf den programmatischen Beginn des Wirkens Jesu in der Synagoge von Kapharnaum in Lk 4,16–30. Jesus schreitet durch die Todesdrohung, die sich bereits in der Eröffnungsszene über sein Leben legt, in 4,30 im wahrsten Sinne des Wortes souverän hindurch. Mit seiner Gestaltung der Szene konzipiert Lukas vor den Augen der Leserschaft einen imaginären Raum. In diesem ist es dunkel, nachdem soeben das Sonnenlicht erloschen ist. Nun öffnet sich der Vorhang und die Szenerie wird freigelegt – nicht unähnlich der Öffnung des Vorhangs vor einer Theaterbühne. In Abwendung von der Markusvorlage präsentiert der Erzähler als erstes Bild in Großaufnahme Jesus, der seine letzten Worte mit lauter Stimme ausruft. Die Hinrichtungstouristen, die die markinische Szene bevölkern, werden ersatzlos gestrichen. Die hektischen Reaktionen auf den Eli-Ruf Jesu und die Essigverabreichung fehlen. Lukas tilgt diese dramaturgischen Spannungselemente des markinischen Erzählers. Er setzt unvermittelt eine christologische Pointe.189 Im Zentrum steht Jesus, der mit unmissverständlichen und klaren Worten in gefasster Weise sein Leben beschließt. Mit den Worten aus dem Vertrauenspsalm 31,6 gibt er in souveräner Manier den ihm innewohnenden Geist an Gott, seinen Vater, zurück. Er „hat das Geschehen in seiner Regie“190. Die Szene spiegelt die gegenüber dem Markusevangelium hoheitliche Christologie des Lukasevangeliums wider.191 Jesus ragte zu Lebzeiten weit über die übrigen Menschen hinaus. Im Augenblick seines Todes ist bei Lukas für unwürdige Nebendarsteller, die sich an Jesu Sterben weiden und ihm mit einer Stange einen Essigschwamm in den Mund drücken, kein Platz.192 Die lukanische Sterbeszene wahrt die Würde Jesu und dokumentiert seine einzigartige Besonderheit. 188 Die Erzähldramaturgie legt nahe, sowohl im Blick auf Markus als auch im Blick auf Lukas an den zweiten der beiden Tempelvorhänge zu denken, der das Allerheiligste verdeckt. Vgl. B, Lukas (EKK III/4) (s. Anm. 167), 490. 189 Vgl. G. S, Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 11–24 (ÖTK 3/2), Gütersloh/ Würzburg 1977, 487: „Die Streichung von Mk VV34–36 (abgesehen von V 36a par Lk V 36) ist wohl in erster Linie auf christologische Motive zurückzuführen“. 190 P. P, Theologie der lukanischen Schriften, FRLANT 174, Göttingen 1998, 149. 191 Vgl. P.-G. K, Himmelfahrt und Apotheose Jesu in Lk 24,50–53, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 172–196, 184. 192 Die Lukasdarstellung zieht das Essigmotiv vor. In Lk 23,36 verabreichen die Soldaten dem Gekreuzigten den Essig.

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Das Leben Jesu mündet in ein gefasstes, heroisches Sterben. Lukas verwendet für die erzählerische Ausgestaltung die Mittel der antiken Poetik. Ein letztes großes Wort krönt die Lebensgeschichte der herausgehobenen Persönlichkeit.193 Genau dies ist nach Lukas bei Jesus der Fall. Schon vorgeburtlich war Jesus als Geistträger angekündigt und ausgezeichnet gewesen. In der Taufe wurde die Übergabe des Geistes an ihn vollzogen. Der Geistbesitz blieb während des Lebens Jesu eine Jesus vorbehaltene Gabe.194 Nun reicht er den ihm verliehenen Geist dorthin zurück, von woher er ihn empfangen hatte.195 Die Frage, was aus dem Geist Jesu am Ende seines Lebens wird, beantwortet Lukas in Differenz zu Markus nicht so, dass Jesu Geist sich im Moment seines Todes horizontal auf dem Weg über das Bekenntnis unter die Menschen auszubreiten begonnen habe. Der Tod Jesu ist bei Lukas noch nicht der Moment, in dem der Jesus von Gott verliehene Geist auf diejenigen übergeht, die in einer Beziehung zu ihm stehen. Das ist einem Ereignis der späteren Zeit und dem Einstieg in die nachösterliche Geschichte des Christusglaubens in Apg 2 vorbehalten. Der Geist konstituiert im Lukasevangelium bis zum Schluss die exklusive Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn. Das vorläufige Finale der Geistthematik endet nach Lukas auf Golgotha mit der Auskunft, dass Jesus den Geist vertikal nach oben zurückgibt, von wo er ursprünglich zu ihm gekommen war. Der Hundertschaftsführer reagiert auf dieses Geschehen. Bevor er jedoch seine Aussage über den soeben verstorbenen Jesus trifft, schiebt der Erzähler über die Markusvorlage hinaus einen Hinweis von theologischer Bedeutung ein. Die erste Reaktion des römischen Offiziers ist der Lobpreis Gottes. Bildlich gesprochen geht sein Blick zunächst nach oben. Nachdem er Gott gepriesen hat, wendet er sich anschließend mit den Worten wirklich, dieser Mensch war ein Gerechter, dem Verstorbenen zu (V.47). Die Szene dokumentiert damit eine subordinatianische Christologie. Gott und Jesus stehen in einem Verhältnis von Über- und Unterordnung. Dies kommt auch in den Worten des Centurio direkt

193 Zu Wortlaut und Bedeutung des Zitats aus Ps 31,6 in Lk 23,46 vgl. E. B, Das Sterbewort Jesu nach Lk 23,46 und sein alttestamentlicher Hintergrund, BZ NF 38 (1994), 93–101. 194 Vgl. A. C, Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium, NET 23, Tübingen 2016, 289. 195 Nach G, Der Heilige Geist (s. Anm. 132), 354–355, verbindet die lukanische Rede vom Heiligen Geist jüdische und griechische Verstehensvoraussetzungen. Für die jüdische Leserschaft komme darin das personale Handeln des Geistes zum Ausdruck, hellenisierte Leserinnen und Leser nähmen stärker das substanzhafte Element wahr. Dem Lukasevangelium diene die Vorstellung dazu, die christusglaubende Leserschaft aus unterschiedlichen geistigen und kulturellen Milieus zusammenzuführen. Ausgerechnet die pointierte Verwendung des πνευÄ µα-Begriffs in V.46 schließt G, Der Heilige Geist (s. Anm. 132), 101–102 Anm. 206, jedoch aus ihrer Interpretation aus. Mit der Begründung, es müsse bei der Interpretation zwischen göttlichem und menschlichem Geist unterschieden werden und in V.46 sei πνευÄ µα mit Seele zu übersetzen, gliedert sie diese zentrale Stelle aus ihrer Darstellung aus.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

zum Ausdruck. Er spricht Großes über Jesus aus. Er hebt den verstorbenen Jesus jedoch nicht in die Höhe eines Gottessohnes. Eine vollständige Vergöttlichung Jesu, die ihn absolut aus dem Kreis der Sterblichen herausheben würde, findet nicht statt.196 Diese – im Vergleich zu Markus – minimale Depotenzierung Jesu bei Lukas dürfte eine doppelte Ursache haben: Zum einen lässt der Erzähler nicht ausgerechnet den für die Hinrichtung Jesu verantwortlichen römischen Soldaten zum wichtigsten Zeugen der Bedeutung und des wahren Status Jesu aufsteigen. Zum anderen wird damit in der lukanischen Gesamtgestaltung der Jesusgeschichte die Hinrichtung Jesu in theologischer Hinsicht zu einer vorletzten Angelegenheit umgewandelt.197 Keinesfalls fallen hier bei Lukas wie in der Markusvorlage Karfreitag, Ostern und Pfingsten an einem Nachmittag und in einem Ereignis zusammen. Die lukanische Erzählung legt die punktgenaue Konzentration des Markusevangeliums mit ihrem Höhepunkt in Mk 15,39 in eine chronologische Abfolge auseinander, die am Zeitstrahl erzählt wird. Mit der Kreuzigung ist das Werk Jesu bei Lukas noch längst nicht ans Ziel gelangt. Die Passion und Tötung Jesu stellen Etappen auf dem Weg einer weiterlaufenden Geschichte dar. Die Begebenheiten am Auferstehungstag überragen bei Lukas in ihrer Bedeutung den Karfreitag. Selbst mit den Osterereignissen wird die Darstellung noch nicht an ihr Ziel kommen. Der lukanische Erzähler entwickelt seine Christologie entlang einer aufsteigenden Linie, die durch Kreuz und Auferstehung hindurch auf die Himmelfahrt als dem krönenden Abschluss des Werkes Jesu zuläuft. Laut Lk 23,48 schlug die Gesamtheit der zusammengeströmten Menschenmenge, d.h. ausnahmslos alle (πα ντες), die die θεωρι α der Hinrichtung Jesu gesehen und miterlebt haben, sich an die Brust und kehrten um. Die rituelle Geste bekundet Einsicht und Zustimmung.198 Die Menge, die dem Schauspiel beigewohnt hat, gibt durch diese Akklamation zu erkennen: Das Geschehen ist in ihrem Inneren angekommen. Sie hat verstanden, wer und was ihnen hier vor Augen gestellt wurde. Dem Zuschauen unterliegt in diesem Fall eine starke aktive Beteiligung.199 Das Verb υë ποστρε ϕω (umkehren) unterstreicht die Bekundung Vgl. K, Himmelfahrt und Apotheose Jesu (s. Anm. 191), 185. B, Lukas (EKK III/4) (s. Anm. 167), 493, nimmt zu Recht an, dass die Zurücknahme der christologisch starken Antwort bei Markus durch Lukas darin begründet liegt, dass letzterer „Ostern und den Zeitpunkt abwarten [wollte], zu dem die apostolische Verkündigung auftaucht“. 198 Auch dieser Zug knüpft an zeitgenössische literarische Konventionen an. Die Bekundung der Betroffenheit durch die Anwesenden, die mit ihrem Verhalten Einsicht, Reue und Umkehrbereitschaft signalisieren, dokumentiert die Wirkung, die von dem soeben verstorbenen Jesus ausgeht. Vgl. B, Lukas (EKK III/4) (s. Anm. 167), 494: Die Geste deutet auf eine „Bußbewegung“. Laut M. C, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Darmstadt 2001, 116, gab es „in der senatorischen Oberschicht allgemeine Erwartungen an die Art zu sterben“. 199 Vgl. dazu J. R, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, 100–101. 196

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von Begreifen und In-sich-Gehen. Vordergründig drückt es aus: Die Zuschauerinnen und Zuschauer kehrten nach Hause zurück. Aber in dem Motiv der Rückkehr schwingen auch die Umkehr und das Zu-sich-Kommen mit. Die Zeugen der Handlung haben den inneren christologischen Gehalt des Geschehens verstanden. Sie dokumentieren ihre gewonnene Einsicht mit dem Gestus der Reue. Am Ende führt ihr Weg von der Teilnahme an der θεωρι α sie wieder zu sich zurück nach Hause.200 Der die Szene abschließende Vers 49 setzt einen Akzent in emotionaler Hinsicht. Die Einsamkeit des Helden kommt in der Bemerkung zum Ausdruck, dass alle seine Bekannten, selbst die Frauen, Jesus in diesem Moment haben allein sterben lassen. Lukas inszeniert das Sterben Jesu als ein Schauspiel, das auf die Betroffenheit der Zuschauerinnen und Zuschauer zielt. Die Augenzeuginnen und Augenzeugen des geschilderten Geschehens geben das Modell für die Haltung ab, die der Erzähler bei seiner Leserschaft zu erzeugen versucht. Die Leserinnen und Leser werden im Zuge ihrer Lektüre in den Bann der Szene gezogen. Sie verschmelzen mit den vor Ort anwesenden Personen zu einer großen Gruppe. Wie sie selbst standen auch die Zeitzeugen des damaligen Geschehens – obgleich an der Hinrichtungsstätte anwesend – von ferne. Die Wirkung des geschilderten Ereignisses erfasst jedoch beide Personenkreise in gleicher Weise. Dem Sehen des Geschehenen sei es visuell wie in der erzählten Welt, sei es mit dem inneren Auge bei der Lektüre, wird zugetraut, Einsicht und Richtungsänderung in der Lebensführung zu bewirken. Die Frage, ob Lukas eine solche Inszenierungsfähigkeit und damit ein Wissen um die Regeln der antiken Theatertheorie zuzutrauen ist, kann bejaht werden. Im Lukasevangelium werden neben der Kenntnis antiker Rhetorik201 und hellenistischer Biographie202 auch Einflüsse der auf Aristoteles zurückführenden Poetik greifbar. Für die antike Dichtungstheorie ist die Frage nach der intendierten Wirkung zentral. Nach Aristoteles will die Tragödie Mitleiden und Furcht bzw. Jammern und Schaudern (εÍ λεος καιÁ ϕο βος) hervorrufen mit dem Ziel der Reinigung (κα θαρσις) von derartigen Affekten (παθη µατα).203 Die lukanische Inszenierung 200 Zur Verortung der lukanischen θεωρι α in der antiken griechisch-römischen Dichtungstheorie vgl. K, Sterben Jesu (s. Anm. 7), 165–171. 201 Vgl. R. M, Lukas und Quintilian. Rhetorik als Erzählkunst, Zürich 1993; W. V, Die Passion Jesu im Lukasevangelium, in: Gottes Volk 3/1995, 83–92. 202 D. F, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst, TANZ 22, Tübingen 1997, 478–500; W. R, Das Lukas-Evangelium, EdF 261, Darmstadt 1988, 51–52. 203 A, Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von M. Fuhrmann, Stuttgart 1999, Nachwort 144–178, hier 161–166, hier Kapitel 6. Zur Diskussion über die sachgemäße Übersetzung und das Verständnis von εÍ λεος und ϕο βος vgl. W. S, Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Band 4. Unter Mitwirkung von M. Schadewaldt. Herausgegeben von I. Schudoma, Frankfurt a.M. 31996, 10–20; M. F, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ,Longin‘. Eine Einführung,

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der Passion und des Sterbens Jesu wirkt wie ein Widerhall dieses aristotelischen Leitgedankens. Das Drama von Golgotha zeigt Wirkung.204 Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind sichtbar ergriffen. Das Stück hat sie gepackt und aufgerüttelt. Sie kehren als veränderte Menschen nach Hause zurück. Die Grundsätze der aristotelischen Poetik wurden in der Antike über die Ars Poetica des Horaz205 und die ursprünglich anonym überlieferte und „PseudoLonginus“ zugeschriebene Schrift Vom Erhabenen (ΠεριÁ υÏ ψους) weitervermittelt. Zeitlich rückt die Schrift über die Erhabenheit in die Nähe des Lukasevangeliums. Sie wird auf die Zeit zwischen 25 und 40 n.Chr. datiert, wurde also ein bis zwei Generationen vor dem Lukasevangelium verfasst.206 Das Substantiv υÏ ψος aus dem Titel der Schrift Vom Erhabenen wird im Neuen Testament insgesamt sechsmal verwendet. Nur zwei der sechs Stellen finden sich in den Evangelien, u.z. bezeichnenderweise im Lukasevangelium. Dort stehen sie im Eröffnungs- und im Schlussteil der Jesuserzählung. Im Eingangsteil des Lobgesangs des Zacharias, einem poetisch-hymnischen Text, wird in Lk 1,78 die αÆ νατολη , das aufstrahlende Licht aus der Höhe, gepriesen. Lk 23,49 verweist unmittelbar vor der anschließenden Himmelfahrt Jesu auf die kommende δυ ναµις, die Kraft aus der Höhe. Die rahmende Verwendung des Terminus υÏ ψος könnte eine Referenz an die Erhabenheitsthematik des Pseudo-Longinus darstellen. Sie stellt die Lebensgeschichte Jesu unter den aufgespannten Schirm der Erhabenheit. Unter traditionsgeschichtlichem Gesichtspunkt bildet Pseudo-Longinus‘ Schrift Vom Erhabenen ein Bindeglied zwischen dem Lukasevangelium und der hellenistisch-römischen Theater- und Dichtungstheorie.207 Für Lukas als den Repräsentanten eines zum Christusglauben gelangten hellenistisch aufgeklärten Judentums wäre die Kenntnis dieser Literatur nicht unwahrscheinlich. Bereits Darmstadt 21992, 24.30.38; H.-D. G, Die Tragödie. Theorie und Geschichte, KVR 1570, Göttingen 1995, 15–17. 204 F, Dichtungstheorie (s. Anm. 203), 38: Die Wirkungen, auf die Aristoteles abhebt, müssen „in der Handlung selbst enthalten sein und von ihr selbst ausgehen; indirekt wird hiermit zum Ausdruck gebracht, daß es der erkennende Mitvollzug des Zuschauers ist, aus dem sich seine affektische Beteiligung ergibt“. 205 Q H F, Ars Poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von E. Schäfer, Stuttgart 1998, Nachwort 55–67. Horaz lebte von 65–8 v. Chr. 206 Vgl. L, Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von O. Schönberger, Stuttgart 1997, Nachwort 135–155, hier 135–136. 207 Die Schrift des „Pseudo-Longinus“ Vom Erhabenen ist das einzige Werk der paganen hellenistischen Literatur, das einen Bezug auf die LXX beinhaltet. In Kapitel 9,9 wird sinngemäß Gen 1,3 und 1,9 angeführt. Mit Lukas verbindet die Schrift Vom Erhabenen auch der gemeinsame Bezug auf den stoisch-hellenistischen Dichter Arat (vgl. Apg 17,28). In stilistischer Hinsicht verbindet Lukas und Pseudo-Longinus das Interesse, dem Pathos innerhalb der Darstellung atmosphärisch Raum zu geben. Vgl. zu letzterem F, Dichtungstheorie (s. Anm. 203), 168. Zum detaillierteren Vergleich zwischen Lukas und Pseudo-Longinus vgl. K, Sterben Jesu (s. Anm. 7), 170.

7.12 Das leere Grab als Erinnerungsort: Lk 23,56b–24,12

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der Aristeasbrief dokumentiert den Kontakt des hellenistischen Judentums zur antiken Theaterwelt und zum Schauspiel. Der Autor des Aristeasbriefs gibt sich als glühenden Verehrer von Theaterbesuchen zu erkennen. Auf die Frage, was man in seiner Freizeit tun solle, erteilt er in Arist 284.285 den Rat: „,Es ist angebracht und auch für das Leben nützlich, wenn man sich anständige Theaterstücke ansieht und würdevoll gespielte Szenen aus dem Leben.‘“208 Der lukanische Erzähler rückt damit sowohl in die Nachbarschaft eines theateraffinen hellenistischen Judentums als auch die eines paganen Dichtungstheoretikers.209 Antike Rhetorik, biographisch-historiographische Prägung, kynischmenippeische literarische Vorbilder und die Poetik in aristotelischer Tradition greifen in der lukanischen Erzählung des Lebens Jesu ineinander. Der Glaube an Jesus Christus, den Gottessohn, bildet die Klammer, mit der die weitgefassten literarischen und geistigen Traditionen im Lukasevangelium zusammengehalten werden. Eine naheliegende Frage im Anschluss an die lukanische Präsentation der Passion Jesu lautet: Wenn das Sterben Jesu die θεωρι α ist, worin besteht dann die Praxis, die aus der Theorie folgt? Mittelbar lässt sich die Antwort den Reaktionen und Haltungen der vom Erzähler wertgeschätzten Personen innerhalb der gesamten Erzählung entnehmen. Sie lässt sich auch aus dem Verhalten der Augenzeugen im Anschluss an den Tod Jesu ablesen. Das In-sich-Gehen, Bei-sich-Bleiben und die Umkehr stellen die adäquaten Reaktionen auf das vom Erzähler geschilderte Wirken Jesu dar. Darüber hinaus findet sich eine kongeniale Antwort auf das lukanische θεωρι α-Konzept in der Überschrift der Apostelgeschichte. Sie wurde im Laufe des 2. Jahrhunderts dem Werk vorangestellt. Der Herausgeber tituliert das Buch als πρα ξεις αÆ ποστολωÄ ν, Taten der Apostel. Bildet das Sterben Jesu als Abschluss seiner Lebensgeschichte die Theorie des Christusglaubens, so führt die anschließende Geschichte der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu die Praxis vor Augen, die aus dieser Theorie gefolgt ist.

7.12 Das leere Grab als Erinnerungsort: Lk 23,56b–24,12 Der Fokus der lukanischen Auferstehungsperikope liegt auf der Frage nach dem Verbleib des σωÄ µα des Kyrios Jesus (Lk 24,3). Nach der Kreuzabnahme wohnen die Frauen der Grablegung des Leibes Jesu bei. Wegen des unmittelbar bevorstehenden Sabbats kehren sie nach Haus zurück. Sie finden jedoch noch die Zeit, Aromata und Salben zuzubereiten, bevor sie der Sabbatruhe Rechnung tragen (Lk 23,55.56).

208 Übersetzung von C.P. T, Ein Fisch für den römischen Kaiser. Juden, Griechen, Römer: Die Welt des Jesus Christus, München 1998, 44. 209 Vgl. K, Sterben Jesu (s. Anm. 7), 171.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

In Lk 24,1 stellt der Erzähler die ihm in Mk 16,2 vorgegebene Reihenfolge der Zeitangaben um. Er rückt die Angabe am ersten Tag der Woche an den Anfang und stellt damit einen an der Chronologie orientierten geradlinigen Zeitablauf her. Das fügt sich in seine Bemühungen ein, die für Markus konstitutive mythisch-zyklisch gefasste Zeitstruktur in eine lineare Chronologie umzuwandeln.210 In inhaltlicher Hinsicht wiederholt der Erzähler seinen Hinweis, dass die Frauen zur frühen Morgenstunde mit selbst zubereiteten Ölen und Salben – und nicht, wie in der Markusvorlage erzählt, mit gekauften Aromata – zum Grab gingen. Das wirkt wie eine Überbietung. Lukas würdigt den persönlichen Einsatz der Frauen bei der Herstellung der Salböle. Zudem haben sie in seiner Version der Erzählung über die Aromata hinaus zusätzliche µυ ρα mitgebracht. Der Sorgenpunkt der markinischen Frauen, wie sie den Stein vor dem Grab beiseiteschieben könnten (Mk 16,3), ist bei Lukas getilgt. Dieses Problem besteht nicht. Der Stein ist bereits weggewälzt. Auch der enigmatische Nachsatz in Mk 16,4 über die Größe des Steins entfällt bei Lukas. Die Handlung führt in Lk 24,3 unmittelbar auf die für Lukas zentrale Verstehensschwierigkeit. Die Frauen gehen in das Grabmal hinein und finden den Leichnam Jesu nicht. Mit der Hinzufügung des Attributs κυ ριος zum Namen Jesus bleibt der Hoheitsstatus, der Jesus nach lukanischer Darstellung schon zu Lebzeiten zugekommen ist, durch seinen Tod unbeeinträchtigt. Das Nicht-Finden des σωÄ µα Jesu stürzt die Frauen in eine Aporie (αÆ πορειÄσθαι). Das Verschwinden des Leichnams macht sie ratlos.211 In dieser „Grenzsituation“212 treten ihnen zwei Männer in leuchtendem Gewand gegenüber.213 Bereits deren plötzliches Auftreten wie die Besonderheit ihres Aussehens lassen eine Offenbarungsszene erahnen (Lk 24,4). Die Reaktion der Frauen unterstreicht dies. Furcht befällt sie. Sie neigen die Gesichter zu Boden und nehmen eine Demutsgeste an (Lk 24,5). Die beiden Lichtgestalten richten eine Frage an die Frauen, die eine Kritik impliziert. Sie nehmen Anstoß an der Suchperspektive der Frauen. Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?214 Die Himmelsboten kritisieren die Bemühung der Frauen, Jesus auf einem Friedhof zu suchen. Sie formulieren als Vorwurf, dass die Frauen Jesus für tot halten und seinen Körper in einem Grab wähnen. Damit stellen sie das Wirklichkeitsverständnis der Frauen als eine Fehleinschätzung hin. Die beiden Himmelsgestalten 210 Für die Markusfassung liegt die Pointe in dem auf Neuschöpfung deutenden Hinweis auf die morgendliche Frühe. Vgl. P.-G. K, Weg vom Grab! Die Richtung der synoptischen Grabeserzählungen und das „heilige Grab“, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, 71–105, 96. 211 Anders als in der Markus- und der Matthäusversion der Szene sind es bei Lukas die Frauen und nicht die himmlischen Boten, die das Verschwinden des Leichnams Jesu konstatieren. 212 B, Lukas (EKK III/4) (s. Anm. 167), 525. 213 K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 721: „Das ,blitzartige‘ Gewand ist Kennzeichen der Gottesboten.“ 214 K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 723: Damit bezeichnen sie den „Weg der Frauen als Irrweg“; vgl. B, Lukas (EKK III/4) (s. Anm. 167), 526.

7.12 Das leere Grab als Erinnerungsort: Lk 23,56b–24,12

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konfrontieren die Frauen mit einem kontrafaktischen Realitätsverständnis. Ihr sucht einen Toten, während Jesus in ihrer Perspektive zu den Lebenden gehört. Dass die Frauen diese Wirklichkeitswahrnehmung nicht teilen, halten sie ihnen vor. In V.6 setzen die beiden himmlischen Gesandten zu einer Erläuterung ihrer brüsken Frage an. Ihr ουÆ κ εÍ στιν ωÎ δε stimmt wortwörtlich mit der Aussage des weißgekleideten jungen Mannes in Mk 16,6 überein. Gleichwohl gibt Lukas durch die Kontextualisierung des kurzen Satzes der Aussage eine andere Akzentuierung. Bei Markus bezieht sich der Hinweis nicht ist er hier auf das unmittelbar voranstehende ηÆ γε ρθη und verweist des Weiteren zurück auf den gekreuzigten Nazarener. Der gekreuzigte Auferweckte ist nicht auf dem Jerusalemer Friedhof zu finden. Bei Lukas bezieht sich das Nicht-hier-Sein auf die Abwesenheit des Lebenden. Dessen Auferweckung ist damit bereits vorausgesetzt und erklärt sein Fehlen an diesem Ort. Die Auferweckung Jesu begründet bei Lukas sowohl das Wegsein des Lebenden als auch das Verschwinden des Leichnams.215 Markus pointiert: Dem Faktum der Kreuzigung Jesu steht unvermittelt das Credo seiner Auferweckung gegenüber. Zwischen beiden besteht kein Ableitungsverhältnis. Das Reden von der Auferweckung Jesu ist eine Glaubensbehauptung angesichts einer tödlichen historischen Faktizität. Bei Lukas ist die Tödlichkeit des Todes und die Härte der Hinrichtung durch Kreuzigung dadurch gemildert, dass im Munde der Himmelsboten Jesus unmittelbar als Lebender apostrophiert wird. Als Lebender – und darin liegt eine Übereinstimmung mit Markus – ist er nicht auf einem Jerusalemer Friedhof des Jahres 30 zu finden. Das Reden von seiner Auferweckung durch Gott wird von Lukas jedoch im Unterschied zu Markus einer Funktion zugeführt. Es begründet in nachgestellter Satzposition die Abwesenheit des Leichnams Jesu. Die Auferweckung Jesu durch Gott fungiert als Erklärung für das Verschwinden seines Leibes und die Verlassenheit der Grabkammer.216 Mit seinem Zugang hat Lukas den Status der Auferweckungsaussage gegenüber Markus verändert. Markus galt die Aussage als unableitbare Behauptung des Glaubens angesichts einer entgegenstehenden Wirklichkeit. Bei Lukas schmiegt sich die Auferweckungsaussage in einen Begründungszusammenhang, der auf der vorgängigen Behauptung ruht, dass Jesus lebt. Das könnte zu der befremdlich klingenden Rückfrage verleiten: Wie tot war Jesus im Rahmen der lukanischen Erzählung, bzw. für wie lange, wenn er bereits am Ostermorgen als auferweckter Lebender in die Handlung eingeführt wird? Die lukanische Erzählung insinuiert den Gedanken einer lediglich kurzen Todesphase Jesu.

215 Insofern trifft die Zusammenfassung von S, Evangelium nach Lukas (s. Anm. 20), 12, tendenziell zu: „Jesus ist leiblich auferstanden“, obwohl die lukanische Schilderung dies nicht direkt so ausspricht. 216 Vgl. auch W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 772.

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

Der Nachsatz in Lk 24,6b nimmt das Erinnerungsmotiv auf. Erinnert euch, wie er zu euch redete, als er noch in Galiläa war. Die Rückwendung der Gedanken via Erinnerung erschließt das gegenwärtige Geschehen. Der Schlüssel zum Verstehen liegt in der Vergangenheit. Diese wird in der Erinnerung aktualisiert. Die Bedeutungsgenerierung erfolgt mittels der Erinnerung an Zurückliegendes. Wieder wird das lukanische Verständnis über die erschließende Bedeutung von Tradiertem gewonnen. In diesem Fall sind es die Worte Jesu zu seinen Lebzeiten. Seine Aussage in Lk 9,22 im Rahmen der ersten Leidensankündigung hat bereits den Grund zum Verstehen des gegenwärtigen Geschehens gelegt. Wem diese Jesusworte in Erinnerung geblieben sind, den können die Ereignisse des Karfreitags und des Ostersonntags nicht überraschen (Lk 24,7).217 Mit dem Aufgreifen der Leidensankündigung gelangt das Verb αÆ ναστηÄ ναι in die Erzählung hinein. Das legt es nahe, die Verbform ηÆ γε ρθη in Lk 24,6 rückschauend im Sinne von er ist auferstanden statt als passivum divinum er wurde (von Gott) auferweckt zu übersetzen. Auf diese Weise wird die passivische ursprünglich theo-logische Aussage als ein christologisches Datum markiert. Jesus wird die Position des handelnden Subjekts bei seiner eigenen Auferstehung zugesprochen.218 Die Erinnerung sichert der Osterbotschaft des Lukasevangeliums ihre Basis im Reden Jesu. Für die handelnden Personen wie für die Leserschaft der Evangelienschrift erhält die Erinnerung soteriologische Bedeutung. Die Frauen erweisen sich laut V.8 als zugänglich für den Impuls der Himmelsboten. Sie erinnern sich an Jesu Worte. Auch sie gelangen damit wie andere vor ihnen zur Selbsterkenntnis. Diese ruft das in ihnen vorhandene Wissen ins Gedächtnis zurück. Die Konsequenzen folgen auf dem Fuße. Die Frauen schreiten zur Tat. Sie wenden sich vom Grab weg und verkünden dieses alles den Elf und allen Übrigen. Wie im Anschluss an die Kreuzigungsszene wird auch am Ende der Auferweckungsperikope die Vollumfänglichkeit der erzielten Wirkung durch die Verwendung des Indefinitpronomens παÄ ς herausgestrichen – in V.9 gleich in doppelter Weise. Eigentümlich unbestimmt bleibt, was genau dieses alles (ταυÄ τα πα ντα) umfasst, das die Frauen verkündigten. Die Szenenfolge lässt sich nicht auf einen Begriff bringen, sondern liefert ein Geflecht ineinandergreifender Aspekte: Das Weg-Sein des Leichnams, der Fehlschluss, einen Lebenden in einer Grabhöhle zu suchen, das Faktum, dass der Lebende zuvor auferweckt wurde, Jesu Vorabhinweis zu seinen Lebzeiten auf die kommenden Ereignisse. Gleichwohl lässt sich cum grano salis sagen: Die lukanische Auferstehungsbotschaft besteht in der Verkündigung von Jesu Überwindung des Todes und seiner gegenwärtigen Lebendigkeit. Der Tod Jesu interessiert Lukas nur als inzwischen überwundenes Fak-

217 Lk 24,7 zitiert die Leidensankündigung über Lk 9,22; 9,44 und 18,32.33 hinaus ein viertes Mal. 218 Vgl. dazu K, Weg vom Grab (s. Anm. 210), 100–101.

7.13 Memoria und sakramentale Vergegenwärtigung: Lk 24,13–35

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tum. In der sieghaften Durchsetzung Jesu gegenüber dem Tod bestätigt sich die überlegene Haltung, in der Jesus in sein Sterben hineinging. Die Auferstehungswirklichkeit überstrahlt den Kreuzestod Jesu.219 Mit V.10 läuft die erzählte Handlung übergangslos weiter. Unmittelbar an die Szene am leeren Grab schließt sich an, wie es den Frauen mit ihrer Botschaft erging und was die Meldung bei Petrus auslöste (Lk 24,10–12). Der Auferweckungsmorgen wird dadurch in die weitergehende Geschichte der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu eingezeichnet. Gegenüber der Markusvorlage verliert er seinen Höhepunktcharakter als krönender Abschluss des Gesamtwerks. Das einzigartige Geschehen der Auferstehung Jesu wird wie zuvor die Kreuzigung auf Golgotha zur Zwischenetappe einer weiterlaufenden Ereignisfolge nivelliert. Was Lukas mit seiner Darstellung der Geschehnisse vom Auferweckungsmorgen gegenüber Markus erreicht, ist, die Zyklizität der mythisch geformten markinischen Jesuserzählung zu durchbrechen. Die Szene am Grab ist anders als bei Markus nicht die Initialzündung zu einer Begegnung mit dem Auferweckten in der galiläischen Heimat. Der von Markus angelegte Lesekreislauf, der über das Stichwort Galiläa an den Anfang der Erzählung zurückverweist, wird von Lukas aufgelöst. Die lukanische Ostererzählung überträgt die Ereignisse auf einen chronologisch verlaufenden Zeitstrahl. Das Grab Jesu wird bei Lukas zu einem Erinnerungsort. Der Impuls zur Verkündigung stammt aus der Rückbesinnung der Frauen auf die Ankündigung Jesu in Lk 9,22. Das Grab Jesu in Jerusalem – nicht die galiläische Herkunftsgegend seiner Anhängerschaft – wird zum Ausgangspunkt der nachösterlichen Verkündigung. Galiläa bleibt für Lukas die Herkunfts-, aber nicht die Zukunftsregion Jesu und seiner Anhängerschaft.220

7.13 Memoria und sakramentale Vergegenwärtigung: Lk 24,13–35 Die anschließende Emmaus-Episode bestätigt und verstärkt die geographischregionale Umorientierung, die das Lukasevangelium gegenüber der Markusvorlage vornimmt. Statt der Rückwendung nach Galiläa, wie sie Mk 16,7 vorsieht, verlegt Lukas 24,13–35 die Handlung nach Judäa. Erzählt wird die Geschichte einer verdeckten und unerkannten Offenbarung des Auferstandenen vor zwei trauernden Sympathisanten des irdischen Jesus. Ihnen nähert sich der auferstandene Jesus und schaltet sich in ihr Gespräch ein. Die Redevorgänge bezeichnet der Erzähler in V.14 und 15 zweimal mit dem Verb οë µιλειÄν. Das hebt die Wechselseitigkeit der Wortbeiträge und das vertiefende Eindringen in den Gegenstand des Gesprächs hervor. V.15 betont die Dialogizität der Unterhaltung durch die Hinzufügung des Verbs συζητειÄν. In klassischer Weise unterlegt der Erzähler die

Vgl. K, Weg vom Grab (s. Anm. 210), 102. In der programmatischen Zusammenfassung der Ausbreitungsgebiete des Evangeliums in Apg 1,8 spielt Galiläa keine Rolle mehr. 219

220

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

Szene mit dem dialogischen Prinzip, das Jesus in sokratischer Weise zu Lebzeiten gepflegt hatte.221 Jesus eröffnet das Gespräch mit ihnen, indem er sie nach dem Inhalt ihres intensiven verbalen Austauschs fragt (V.17). Diesmal sind sie es, die mit einer Gegenfrage antworten (V.18). Dazu gibt der auferstandene Jesus ihnen keine Auskunft. Er reagiert mit einer erneuten Frage und bittet um genauere Erläuterung (V.19). Daraufhin rekapitulieren die beiden Männer, dass der Nazarener Jesus ein in Werk und Wort vor Gott und dem ganzen Volk mächtiger Prophet war (V.19); ihn lieferten unsere Hohepriester und Herrschenden der Verurteilung zum Tode aus und kreuzigten ihn (V.20). Gemeint „ist das Synedrium“.222 Sie selbst hatten von ihm die Erlösung Israels erhofft (V.21). Nun habe sie die Nachricht von Frauen erschreckt, die erzählten, dass sie sein σωÄ µα nicht gefunden hatten und eine Erscheinung von Engeln ihnen gesagt hätte, dass er lebe (V.22.23). Andere Bekannte von ihnen hätten die Aussage der Frauen nach eigener Überprüfung bestätigt, aber Jesus nicht gesehen (V.24). Diese ausführliche Wiedergabe der faktischen Ereignisse weist Jesus als Fehleinschätzung zurück. Er stellt demgegenüber die Ereignisse in den Horizont von Mose und den Propheten. Seine Schriftauslegung offenbart den wahren Charakter des Geschehens. Der auferstandene Jesus macht sich selbst zum Hermeneuten des irdischen Jesus.223 Wer dieser in Wahrheit gewesen ist, erschließt sich im Horizont der Schrift. Das bedeutet in der Konsequenz: Weder die Erinnerung an die tatsächlichen Geschehnisse noch die Erwartungen und Hoffnungen, die seine Sympathisanten auf den Irdischen projizieren, eröffnen dessen wahren Charakter. Die Schriftauslegung auf Christus hin ist der Schlüssel zum angemessenen Verständnis Jesu und seines Werkes. Die Verabschiedungsszene in V.28–32 fügt dieser Richtungsanzeige Jesu am Auferstehungstag einen zweiten theologischen Impuls hinzu. Die Schilderung des gemeinsamen Abendessens der drei ist von eucharistischer Terminologie geprägt.224 Jesus nahm das Brot, sprach den Segen, brach und gab ihnen (V.30). Im selben Moment wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn (V.31). Gleichzeitig wird er selbst unsichtbar vor ihnen. Die unmittelbare und unvermittelte Anschauung seiner Person verschwindet. Sie ist überflüssig geworden, denn die vorherige leibhafte Gegenwart des auferstandenen Jesus hatte nicht zu seiner Erkenntnis geführt. Erst die mediale Vermittlung im sakramentalen Mahl eröffnet die Erkenntnis. Wie es keine direkte Gotteserkenntnis gibt, so auch keine unverstellte Sicht auf den Auferstandenen. Dieser vergegenwärtigt sich den Emmausjüngern selbst im Rahmen der sakramentalen Handlung.225 Jetzt in der Vgl. Lk 10,25–29. K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 730: „Die Hochgestellten der jüdischen Religion erscheinen als die entscheidenden Feinde Jesu.“ 223 Das Verb διερµηνευ ειν spricht dies direkt aus. 224 Vgl. B, Lukas (EKK III/4) (s. Anm. 167), 563. 225 Vgl. E.E. P, Die verborgene Gegenwärtigkeit Jesu. Bezüge zu eucharistischen Traditionen in Lk 24* und in den johanneischen Schriften, in: D. Hellholm/D. Sänger (Eds.), 221 222

7.13 Memoria und sakramentale Vergegenwärtigung: Lk 24,13–35

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Rückschau erinnern sich die beiden Jünger daran, dass die Schriftauslegung Jesu etwas in ihnen ausgelöst hatte, ohne dass sie das zu dem Zeitpunkt hätten einordnen können (V.32). War für das Wirken des irdischen Jesus die sokratische Maieutik die Weise, theologische Einsicht zu gewinnen, werden mit seiner Auferstehung die Memoria – die Erinnerung an Jesu Worte –, die Schriftauslegung und das Sakrament des Abendmahls zu media salutis. Die Auslegung der Schrift mit der auf Jesus Christus bezogenen Hermeneutik ermöglicht dessen wahre Erkenntnis. Das Abendmahlssakrament dient als das Medium seiner Vergegenwärtigung. Beides vermittelt der Auferstandene seiner Anhängerschaft selbst. Die Einsetzung des Abendmahls am Vorabend der Verhaftung Jesu in Lk 22,15–20226 findet ihren Widerhall in der Emmausperikope in Lk 24,30.227 Mit dem Ausdruck Brotbrechen in 24,35 erschafft der lukanische Erzähler zugleich einen in die Zukunft weisenden Terminus.228 In Apg 2,42; 20,7.11 wird der Vorgang substantivisch oder verbal ausgedrückt – κλα σις τουÄ αÍ ρτου/κλωÄ ντες αÍ ρτον/κλα σαι αÍ ρτον/κλα σας τοÁ ν αÍ ρτον – zur Bezeichnung für die Abendmahlsfeier der Christusglaubenden.229 Mit ihrer neuen Erfahrung und Einsicht ausgestattet kehren die beiden Emmausjünger nach Jerusalem zurück. Die Eröffnungen des Auferstehungstages, denen zufolge Christuserkenntnis durch Schriftauslegung und Christusvergegenwärtigung durch das Sakrament erfolgen, werden in das Jerusalemer Zentrum der lukanischen Welt implantiert. Dort treten sie neben das Bekenntnis der AufThe Eucharist – Its Origins and Contexts. Sacred Meals, Communal Meal, Table Fellowship in Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity, Volume I Old Testament, Early Judaism, New Testament, WUNT 376, Tübingen 2017 (Unrevised Paperback Edition 2018), 503–512, 505–506. 226 Zum Vergleich der synoptischen Abendmahlsüberlieferungen im Einzelnen vgl. K.O. S, Jesus’ Last Meal According to Mark and Matthew. Comparison and Interpretation, in: D. Hellholm/D. Sänger (Eds.), The Eucharist – Its Origins and Contexts. Sacred Meals, Communal Meal, Table Fellowship in Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity, Volume I Old Testament, Early Judaism, New Testament, WUNT 376, Tübingen 2017 (Unrevised Paperback Edition 2018), 453–475, 467–473. 227 Vgl. A. D /I. V W, Tamid and Eucharist in Luke – Acts, in: B.J. Lietaert Peerbolte/C. Vander Stichele/A. van Wieringen (Eds.), Themes and Texts in Luke–Acts, Essays in Honour of Bart J. Koet, STAR 31, Leiden/Boston 2023, 61–73, 69. 228 Vgl. G.A.M. R, Breaking the Bread and Communal Meals in Luke and Acts, in: B.J. Lietaert Peerbolte/C. Vander Stichele/A. van Wieringen (Eds.), Themes and Texts in Luke–Acts, Essays in Honour of Bart J. Koet, STAR 31, Leiden/Boston 2023, 74–91, 82–83.89. Vgl. auch J. S, Nicht nur eine Erinnerung, sondern eine narrative Vergegenwärtigung. Erwägungen zur Hermeneutik der Evangelienschreibung, ZThK 108 (2011), 119–137, 125. 229 J. S, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, SBS 210, Stuttgart 2006, 52; R.L. K, J., Meals with Jesus in Luke’s Gospel, HBTH 17 (1995), 123–131, 130, beschreibt die Kontinuität im Wandel. Der irdische Jesus, der zu Lebzeiten Gast verschiedener Mahlfeiern war, wird am Ende zum Gastgeber. “So the transition has begun, from the Passover […] to Eucharist, from Last Supper to Lord’s Supper.”

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

erstehung Jesu. Gleichzeitig wird Simon (Petrus) als erster Auferstehungszeuge benannt. In Analogie zu seiner Stellung als Erstberufener zu Jesu Lebzeiten (Lk 5,1–10)230 bestätigt ihn die Würdigung als erster Osterzeuge in seiner exponierten Position. Entgegen Mk 16,7 wird Petrus in Lk 24,34 von einem galiläischen in einen Jerusalemer Auferstehungszeugen verwandelt.

7.14 Leiblichkeit – Schriftauslegung – Jerusalemzentrierung: Lk 24,36–49 Der auferstandene Jesus selbst fasst in einer Abschiedsrede in Lk 24,36–49 vor dem nachösterlichen Jüngerkreis die zentralen Inhalte zusammen, auf die es der lukanischen Darstellung ankommt. Gegenüber dem Verdacht einer vergeistigten Auferstehung legt er die Betonung auf deren Leiblichkeit. Dazu scheut er sich auch nicht vor einer magisch anmutenden Demonstration. Damit wird die σω Ä µα-Thematik aus der Auferstehungsperikope noch einmal aufgegriffen und zugespitzt (Lk 24,39–43). Anschließend ruft der Auferstandene unter Anknüpfung an die Antrittspredigt in Nazareth231 die Hermeneutik ins Gedächtnis, die ihn und sein Geschick verstehen lässt. Die auf ihn fokussierte Lektüre der Schrift – also die christologische Re-Lektüre – öffnet den Jüngern die Augen. In einem hermeneutischen Zirkel wird deutlich: Der unverstellte Blick auf Jesus als die von Gott ausgezeichnete Person führt zum Verstehen der Schrift. Im Licht der christologischen Schriftlektüre erschließt sich das Verständnis für das Werk und das Schicksal des Christus (Lk 24,44–47). Lk 24,47–49 fixiert die Transformation des galiläazentrierten Markusevangeliums232 in das jerusalembasierte Lukasevangelium. Von hier soll die Verkündigung ihren Ausgangspunkt nehmen. Anstelle des Sees Genezareth wird bei Lukas Jerusalem zum Mittelpunkt Welt. Die lukanische Christusverkündigung wird damit in topographisch-geographischer Hinsicht in die Geschichte Israels

230 Lk 5,1–11 baut Mk 1,16–20 narrativ aus. Bei Markus gelangt Petrus dort gleich zu Beginn des Wirkens Jesu in die Handlung. Durch die Ausweitung und Verschiebung der Szene bei Lukas kommt in Lk 4,38–39 die Erzählung von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29–31) noch vor die Perikope von der Berufung der ersten Jünger zu stehen. Zur traditionsgeschichtlichen Entwicklung von Mk 1,16–20 und Lk 5,1–11 vgl. G. K, Die Berufung des Petrus, in: Ders., Rekonstruktion und Interpretation, Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament, BEvTh 50, München 1969, 11–48. 231 Lk 24,44 verweist auf Lk 4,21. 232 Dem mythisch orientierten Markusevangelium gilt das galiläische Meer, der See Genezareth, als der „Omphalos der erzählten Welt“; P.-G. K, Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium, in: Ders., Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018, 55–73, 64.

7.15 Himmelfahrt und Apotheose Jesu: Lk 24,50–53

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eingeordnet. Das traditionelle religiöse Zentrum des Judentums wird zum Ausgangspunkt für die Bezeugung des Christusglaubens.233

7.15 Himmelfahrt und Apotheose Jesu: Lk 24,50–53 Der Abschiedsrede Jesu folgt als letzte Szene der lukanischen Erzählung die Herausnahme des Auferstandenen aus der erzählten Welt. Die postmortalen Begebenheiten des Auferstehungstages gehören für das Lukasevangelium noch zum erzählten Leben des irdischen Jesus. Erst die Episode von der Himmelfahrt beendet und krönt das Wirken Jesu auf Erden. Zweimal hatte das Lukasevangelium zuvor den Höhepunkt seiner Jesuserzählung nach hinten verschoben. Anders als bei Markus liegt die theologische Pointe im Lukasevangelium nicht im Sterben Jesu auf Golgotha.234 Für das Markusevangelium trug die Kreuzigung Jesu das Oster- wie das Pfingstgeschehen bereits in sich. Bei Lukas ist aber auch mit der Vorstellung von der Auferstehung Jesu und dem Verschwinden seines Leibes aus dem Grab noch nicht die Spitze des christologisch über Jesus Aussagbaren erreicht. Die Erzählung läuft weiter. Für den Weg des Auferstandenen kreiert der Erzähler eine Welt, in der dieser die Verhältnisse der Zurückbleibenden im Blick auf die Wahrung seines Andenkens und seine zukünftige Vergegenwärtigung ordnet. Erst mit der Emporbringung zum Himmel lässt der Erzähler Jesus aus der erzählten Handlung heraustreten und führt seine Darstellung zum Höhepunkt.235

Vgl. W, Lukasevangelium (s. Anm. 9), 793. Dieser Feststellung versucht T. S, The Lukan Assumption Stories (Luke 24:50–53; Acts 1:9–11). Their Narrative Function and Theological Relevance within the Lukan Corpus, in: T. Nicklas/K.-W. Niebuhr/M. Seleznev, WUNT 447, Tübingen 2020, 373–384, 377–378.382–383, mit seiner Verhältnisbestimmung der zwei lukanischen Himmelfahrtserzählungen entgegenzuwirken, indem er bei Lk 24,51 für die textkritisch mögliche Kurzversion plädiert und im Blick auf Lk 9,51, Apg 1,2 und 1,22 behauptet, die absolut verwendeten Worte αÆ ναλαµβα νω und αÆ να ληµψις seien im frühen Christentum noch keine termini technici für die Himmelfahrt. Ursprünglich stellten die Begriffe Rückverweise auf den Tod Christi dar. Demzufolge gebe es nur eine Himmelfahrtserzählung, u.z. die in Apg 1,9–11. Das wirkt allerdings wie ein Kunstgriff, mit dem die theologische Unausgeglichenheit zwischen dem Markus- und dem Lukasevangelium nivelliert und der Höhepunkt der lukanischen Darstellung getilgt wird. Zu einer Alternative der Verhältnisbestimmung zwischen beiden lukanischen Varianten, die die unterschiedliche narrative Gesamtausrichtung von Lukasevangelium und Apostelgeschichte berücksichtigt, vgl. P.-G. K, The Ascension of Jesus in Luke’s Gospel and Acts, in: B.J. Lietaert Peerbolte/C. Vander Stichele/A. van Wieringen (Eds.), Themes and Texts in Luke–Acts, Essays in Honour of Bart J. Koet, STAR 31, Leiden/Boston 2023, 92–103. 235 Diese Pointe geht verloren, wenn man wie C, Mitte der Zeit (s. Anm. 137), 86, zu dem „Schluß“ gelangt, „daß Lc 24,50–53 nicht zum ursprünglichen Bestand des Evangeliums gehört“. Mit dieser Einschätzung bleibt allerdings gerade der Spannungsbogen der Gesamterzählung außer Betracht. 233

234

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

Mit dem Motiv der Himmelfahrt knüpft der Erzähler an literarische Konventionen an. Jüdischer Leserschaft waren durch das Alte Testament Entrückungserzählungen bekannt.236 In den Zusammenhang des hellenistischen Herrscherund des römischen Kaiserkults gehören sowohl der Gedanke der göttlichen Verehrung eines lebenden Herrschers als auch die Praxis der Vergottung eines verstorbenen Regenten.237 Im römischen Herrscherverständnis im 1. Jahrhundert n. Chr. galt der Kaiser als deus praesens. Um post mortem unter die Staatsgötter aufgenommen zu werden, war im Senat ein geregeltes Verfahren vorgesehen. Für dessen Vollzug waren bestimmte Voraussetzungen vonnöten. Insbesondere musste der Vorgang der Himmelfahrt des Verstorbenen bezeugt sein. Im Falle des Augustus gab es Leute, die nach seinem Tod schworen, dass sie ihn zum Himmel hatten auffahren sehen.238 Daraufhin erfolgte der Divinisierungsbeschluss des römischen Senats und die anschließende consecratio, die Erhebung zum Staatsgott.239 Dieser Aufstieg konnte sinnenfällig auch in dem symbolischen Akt der Verbrennung des Leichnams dargestellt werden.240 Jesus war selbstverständlich kein Thema für den römischen Senat. Die Schilderung seiner Himmelfahrt bei Lukas enthält jedoch Züge, die wie ein innerer

236 Vgl. Henochs Entrückung in Gen 5,24 und die Entrückung Elias in 2 Kön 2,11. Weitere Belege Am 9,2; Ps 139,8; AssMos; AscJes; TestIss 10. Vgl. dazu J. E, Das Evangelium nach Lukas (RNT), Leipzig 1983, 453; G. S, Das Evangelium nach Lukas, Kapitel 11–24 (ÖTK 3/2), Gütersloh und Würzburg 1977, 505–506. Nach Darstellung von E. B, Die römische Kaiserapotheose, in: A. Wlosok (Hg.), Römischer Kaiserkult, WdF 372, Darmstadt 1978, 82–121, 84, 98, 121, bildet die Entrückung, die in der Regel als Himmelfahrt vorgestellt wurde, die Grundlage für die anschließende Kaiserapotheose. Die Konsekration erfolgt posthum. Zum religionsgeschichtlichen Umfeld vgl. auch R. F, Henoch, Herakles und die Himmelfahrt Jesu, in: Ders., Der Höchste. Studien zur hellenistischen Religionsgeschichte und zum biblischen Gottesglauben, WUNT 330, Tübingen 2014, 216–227, 219–221. 237 Zum biblischen und griechisch-römischen Hintergrund der Himmelfahrtsvorstellung vgl. auch F/S, Menschwerdung (s. Anm. 150), 261–262. 238 Zuvor bei Cäsar wurde das siebentägige Leuchten eines Kometen als Hinweis für die Aufnahme seiner Seele in den Himmel und als Voraussetzung seiner Konsekration gedeutet. Vgl. H.-J. K, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis, Stuttgart u.a. 1996, 48. 239 Zur Darstellung der Einzelheiten des Verfahrens und zu den zahlreichen Abweichungen, Ausnahmen und Sonderregelungen bei der Durchführung vgl. C, Kaiser und Gott (s. Anm. 198), hier 26.57–75. Zu Details und Einzelnachweisen vgl. K, Himmelfahrt und Apotheose (s. Anm. 191), 172–177. 240 Hinsichtlich der Reihenfolge der Vorgänge sind zwei voneinander abweichende Verfahrensweisen aus der römischen Kaiserzeit bekannt. Die eine Praxis sieht den Divinisierungsbeschluss und die Konsekration nach dem Begräbnis vor. Ab Claudius besteht auch die umgekehrte Reihenfolge. In diesem Fall geht der Divinisierungsbeschluss dem Begräbnis voran, und die Konsekration wird daran anschließend oder im Zusammenhang damit vollzogen. Staatsbegräbnis und Divinisierung werden in einem Akt vom Senat beschlossen. Vgl. C, Kaiser und Gott (s. Anm. 198), 362–363. Vgl. K, Himmelfahrt und Apotheose (s. Anm. 191), 191.

7.15 Himmelfahrt und Apotheose Jesu: Lk 24,50–53

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Dialog des Erzählers mit den Gegebenheiten des römischen Kaiserkults im Ausgang des 1. Jahrhunderts n. Chr. wirken. Zu den gattungstypischen Elementen im Zusammenhang der Schilderung einer consecratio/αÆ ποθε ωσις gehören Zeugen. Sie haben die Tatsächlichkeit der Himmelfahrt zu garantieren.241 Bei der in Lk 24,50–53 geschilderten Himmelfahrt Jesu sind es die Jünger, die als die µα ρτυρες (Zeugen) (V.48) gegenwärtig sind. Die Szene findet in Bethanien statt, einem Dorf nahe bei Jerusalem und in süd-östlicher Richtung gelegen. Von dort war Jesus eingangs der Passionserzählung (Lk 19,29) nach Jerusalem gezogen, letztlich um dort zu sterben. Nun kehrt sich die Bewegung von West nach Ost und damit in die mit Heil konnotierte Richtung hinein um.242 Nach antiker Vorstellung bildet die Himmelfahrt die sachliche Voraussetzung für die Vergottung der Herrscherpersönlichkeit. Sie leitet die consecratio/αÆ ποθε ωσις ein. In der Jesuserzählung nach Lukas bildet die Himmelfahrt den krönenden Abschluss des Wirkens Jesu.243 Sie vollendet nach Passion, Tod und Auferstehung sein irdisches Wirken. Die Ehrenbezeugung durch die Proskynese der Jünger bekundet den göttlichen Status Jesu. Der lukanische Erzähler lässt sein Werk auf die Vergottung Jesu als Höhepunkt und Pointe der Darstellung zulaufen.244 Eine weiterreichende Erhöhung ist für keinen Menschen denkbar. Gleichwohl bleibt selbst in diesem Moment größtmöglicher Statuserhöhung die Subordination Jesu unter Gott gewahrt. Der abschließende Lobpreis der Jünger (V.53) richtet sich an Gott. Mit der Erwähnung der Rückkehr der Jünger in die religiöse Welthauptstadt Jerusalem245 zitiert der Erzähler ein weiteres Merkmal aus dem Kaiserkult. Einem neu ausgerufenen Staatsgott wurde eine eigene Kultstätte samt Priester eingerichtet. Dies ist bei Jesus nicht der Fall, denn er wird nicht zu einem weiteren Gott neben anderen Göttern. Aber sein Wirken zu Lebzeiten hatte im Tempel begonnen, und hier findet die erzählte Handlung ihren Abschluss. Die Jünger zelebrie241 Zu den gattungstypischen Zügen antiker Entrückungserzählungen vgl. S. B, Entrückung – Himmelsreise – Himmelfahrt. Eine biblisch-exegetische Betrachtung, in: H.J. Milchner (Hg.), Himmelfahrt – die Nähe Christi feiern. Predigten und liturgische Entwürfe, DAW 72, Göttingen 1996, 14–27, 18: „Anwesenheit von Zeugen/Zuschauern an genau bezeichnetem Ort; verhüllende bzw. tragende Wolke; Begleiterscheinungen wie Gewitter, Sonnenfinsternis oder Erdbeben, himmlische Bestätigung durch Auftreten himmlischer Personen; kultische Verehrung des Entrückten, dessen irdisches Leben nun definitiv abgeschlossen ist.“ 242 Für Lukas rücken Bethanien und der Ölberg eng aneinander. Die in Apg 1,12 geschilderte Himmelfahrt Jesu findet am Ölberg statt. Zu der hier teilweise auch wörtlich übernommenen Darstellung vgl. K, Himmelfahrt und Apotheose Jesu (s. Anm. 191), 192–196. 243 N. G, Commentary on the Gospel of Luke (NICNT), Grand Rapids, Michigan 1956, 646: “His ascension in divine glory was the final proof that He was truly the Christ, the Son of God”. 244 Vgl. K, Lukasevangelium (s. Anm. 2), 743: Mit seiner Aufnahme in den Himmel wird Jesus „vergöttlicht“. 245 B, Lukas (EKK III/4) (s. Anm. 167), 620: „Das Evangelium hat in Jerusalem begonnen, in Jerusalem endet es.“

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7 Die Erkenntnistheologie nach Lukas

ren ihr Gotteslob im Tempel als dem einen herausgehobenen Ort der Gottesverehrung. Die Apotheose Jesu findet bei Lukas ihre Grenze am Monotheismus des Christusglaubens. Mit der Übertragung der römischen Apotheose-Verstellung auf Jesus begibt sich Lukas in ein spannungsgeladenes Zwiegespräch mit den weltanschaulichen geistigen Rahmenbedingungen seiner Zeit. Er fügt seine Jesusdarstellung einem Vorstellungsrahmen ein, der für den Kaiserkult charakteristisch ist. Er hebt Jesus damit auf eine Stufe mit vergotteten römischen Kaisern. Diese Adaption einer aus dem politischen Bereich stammenden Anschauung lässt sich als eine subkutane Kritik am Kaiserkult lesen. Derjenige, dem allein nach lukanischer Lesart die Ehre der Apotheose mit Recht zukommt, ist Jesus. Der lukanische Jesus ist nicht die provinzielle Kultfigur einer unbedeutenden religiösen Gemeinschaft in einer entlegenen östlichen Region des Imperium Romanum. Er verkörpert vielmehr den universalen Herrschaftsanspruch Gottes auf der Erde und im Himmel. Das beinhaltet die Distanzierung von der römischen Kaiserverehrung und von den auf den regierenden Herrscher bezogenen Größenvorstellungen. Die Apotheose eines Menschen ist aus lukanischer Perspektive ausschließlich für Jesus geltend zu machen.246 Gleichwohl bleibt es auch in diesem einzigartigen Fall bei der Unterordnung des vergöttlichten Jesus unter den einen Gott.247

246 247

Vgl. K, Nachhall (s. Anm. 19), 44. Vgl. K, Himmelfahrt und Apotheose Jesu (s. Anm. 191), 196.

Resümee: Auf Jesus bezogene Christologie Die Gemeinsamkeit der drei ersten Evangelien und zugleich ihr Alleinstellungsmerkmal gegenüber den übrigen Schriften des Neuen Testaments liegt in ihrer auf die Person Jesu bezogenen Christologie. Der narrativ entfaltete Bezug auf den irdischen Jesus macht Jesus zum „personhafte[n] Repräsentant[en] der Gottesherrschaft“.1 Anders als im Johannesevangelium überstrahlt der Glaube an den erhöhten Christus das Bild des irdischen Jesus nicht vollständig. Die synoptischen Jesuserzählungen verfolgen das Ziel, die Christologie der Erzählzeit des letzten Drittels des 1. Jahrhunderts aus der erzählten Zeit und Welt des Wirkens Jesu herauszuentwickeln. Rückschauend konstruieren sie Ursprungserzählungen, die der Fundierung gegenwärtiger christologischer Überzeugungen dienen. Sie formulieren mit ihren Darstellungen vom Leben und Wirken Jesu die für ihre Gemeinden geltenden Grundlagen des Glaubens. Darin wird die Entstehung des Glaubens an die Auferweckung Jesu und bei Lukas auch die postmortale Himmelfahrt zum Bestandteil der erzählten Lebensgeschichte Jesu. Im Ausgang des 1. Jahrhunderts ist der Christusglaube in Gestalt der synoptischen Evangelien Literatur geworden. Der theologische Anspruch der Interpretation der drei Werke besteht darin, die sprachlichen Ausformulierungen des Glaubens so in den Blick zu nehmen, dass der Glaube, der die Verschriftlichungen leitete, erfasst wird. Zu versuchen ist, das im Kern Unaussprechliche, das immer neu gesagt werden muss, in Worte zu fassen.2 Paulinisch gesprochen besteht die theologische Aufgabe darin, den Schatz in irdenen Gefäßen (2 Kor 4,7) zu bergen. Dabei ist die Wechselbeziehung zu berücksichtigen, dass einerseits die hinter den Evangelien stehende zeitgeschichtliche Realität die Darstellungen prägt und andererseits der in den Erzählungen dokumentierte Glaube das Bild einer gottgeleiteten Wirklichkeit formt, von der die Erzählungen zeugen. Im Rückblick auf die drei erzählten Lebensgeschichten Jesu lässt sich festhalten: Bei Markus ist Jesus in Wort und Tat als Agent der Herrschaft Gottes tätig. Er kämpft darum, den Geist Gottes unter den Menschen auszubreiten. Er 1 Die Formulierung stammt von J. R, Art. Jesus Christus I.1 Jesus von Nazareth, RGG4 4 (2001) (Ungekürzte Studienausgabe 2008), 463–467, 466, der damit allerdings das Selbstverständnis Jesu meint. 2 Vgl. P.-G. K, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 14. 148. Vgl. M.E. F/M. H/N. N, Christus predigen – narrativ! Ein Plädoyer für das Erzählen von Christus in Predigten, in: Dies., Unterwegs in die Fremde. Narrative Christologie im Gespräch der Disziplinen, Stuttgart 2021, 117–168, 152.

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wirkt auf die Atmosphäre des zwischenmenschlichen Zusammenseins ein, er prägt die Beziehungen untereinander, er ermöglicht Heilung und heilsames Aufgehobensein in der Gottesgemeinschaft. Seine irdische Geschichte mündet in das Aushauchen des ihm bei der Taufe verliehenen Geistes. Der Übergang des Geistes auf den römischen Centurio markiert das Ende den Lebensgeschichte Jesu und zugleich den Beginn der auf ihn bezogenen Geschichte der Glaubenden und ihres Glaubens. Mit der Erzählung vom Auferweckungsmorgen in Mk 16,1–8 kommt die nachösterliche Perspektive zur Geltung: Der Auferweckte lebt zukünftig in den Lebens- und Glaubensgeschichten derer, die ihm in ihrer Heimat begegnen. Er vergegenwärtigt sich in den Biographien der Glaubenden. Matthäus hebt die Besonderheit und Dominanz Jesu als Person hervor. Seine rhetorischen Fähigkeiten, die didaktisch reflektierte Vermittlung traditioneller Lehrinhalte, seine eigenen neuen Lehrimpulse, die Souveränität seines Wunderhandelns, die äußeren Begleitumstände seines Lebensweges: Rettung bei der Geburt vor Verfolgung, apokalyptische Geschehnisse verweisen darauf: Dieser ist ein Besonderer. Noch im Tod findet das irdische Wirken Jesu bei Matthäus eine letzte übernatürliche Beglaubigung. Der Himmel bürgt für ihn, die Erde bebt, sein Sterben setzt die Auferstehung Toter frei und sprengt die Gräber. In diesem Augenblick unterliegt auch das Bekenntnis seiner Gottessohnschaft keinerlei Einschränkungen mehr (Mt 27,54). Der auferweckte Jesus regelt den Fortbestand seiner Anhängerschaft. Sein Wirken kommt in der Gemeinschaftsbildung zum Ziel, die im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes konstituiert wird (Mt 28,18–20). Lukas kleidet Jesus in das philosophische Gewand eines Sokrates. In Jesu Dialogverhalten lebt die Maieutik weiter. Jesus spricht die Menschen auf die Quellen der Erkenntnis an, die in ihnen liegen. Erlösung finden sie durch Rückbesinnung und Einkehr bei sich selbst. Wer bei sich bleibt, ist bei Gott angekommen. Heimzukehren ist die Herausforderung in der nach vorn weiterlaufenden Weltzeit. Jesu eigenes irdisches Wirken findet im Augenblick seines Todes ein gefasstes und beispielsetzendes Ende. Er gibt den Geist an Gott zurück, von dem er ihn empfangen hat. Der lukanische Jesus verkörpert die ideale Zweisamkeit der Glaubensbeziehung in der Einheit zwischen Gott und Mensch. Am Ende kommt Jesus als Vergotteter bei seinem Vater im Himmel an. Sein nachösterliches Wirken mündet in Himmelfahrt und Apotheose. Das Lukasevangelium präsentiert Jesus vor der Folie des römischen Kaiserkults als den größten Herrscher, den die Welt gesehen hat. Er ist der wahre vergottete Mensch auf Erden. In allen drei synoptischen Evangelien kulminiert die Sicht auf den nachösterlichen Christus in drei Ankünften. Sie begründen nach der irdischen Lebenszeit Jesu die bleibende Beziehung mit dem Auferweckten. Markus fokussiert die Ankunft des auferweckten Christus in den Lebensgeschichten der Einzelnen, Matthäus die Gemeinschaft der als Gemeinde verstandenen Glaubenden mit dem Gottessohn, Lukas die ungebrochene Zweisamkeit im Verhältnis zu Gott. Der vorösterliche Jesus bahnt dieser Programmatik in seinem Wirken den Weg unter

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seinen Zeitgenossen. Der nachösterliche Christus gibt der glaubenden Leserschaft die Richtung vor, in der die Gottesbeziehung künftig realisiert wird. Die drei Wege Jesu stellen perspektivisch unterschiedliche Verwirklichungen des Bezuges auf Gott dar.3 Alle drei Evangelien bauen eine Brücke, damit die durch Jesus gestiftete Gottesgemeinschaft nach seinem irdischen Leben bestehen bleibt. Laut Markus wandert der Jesus zu Lebzeiten erfüllende Geist in die Gemeinschaft der Glaubenden ein. Für Matthäus geben das Sakrament der Taufe und die Lehre Jesu der Gemeinde die Richtung vor. Die Erinnerung an Jesus und seine sakramentale Selbstvergegenwärtigung weisen den lukanischen Christusglaubenden den weiteren Lebensweg. Die Apostelgeschichte als Folgeband des Lukasevangeliums wird auch den Geist und seine Verbindung mit dem Taufsakrament in den Horizont des Christusglaubens integrieren. Fragt man nach der Qualität der Wirklichkeit in den drei Evangelien, zeigt sich, dass die Welt im Markusevangelium ein Ort des Konflikts und beschädigten Lebens ist. In dem Kampf der zwei um die Weltherrschaft ringenden Geister tritt Jesus als derjenige auf, der durch die Ausbreitung des ihm verliehenen Gottesgeistes die Verhältnisse befriedet und auf ein Klima des Ausgleichs hinwirkt. Sein Anliegen ist, Menschen in die schon verlorengeglaubte heilsame Gottesbeziehung zurückzuführen. Im Wirklichkeitsverständnis des Matthäusevangeliums ist die Gegenwart durch unabsehbare Widrigkeiten gefährdet. Diese betreffen das Schicksal Jesu und charakterisieren die conditio humana als solche. Die heilsame Lehre Jesu richtet sich entsprechend darauf, die Menschen der Himmelsherrschaft Gottes zuzuführen und ihnen ein durch Gerechtigkeit gekennzeichnetes Miteinander mit Gott und untereinander zu ermöglichen. Matthäus korreliert innerweltliche, biographische Gefährdungserfahrungen mit dem Erleben geistlicher Defizite. Die Heilung der Verhältnisse hängt an der Restitution der Gottesbeziehung. Mangelerfahrungen und Verluste prägen auch die Wirklichkeitswahrnehmung bei Lukas. Der soteriologische Ansatz ist im Lukasevangelium eng mit der Anthropologie verknüpft. Der lukanische Jesus dringt auf die verstehende Aneignung der Tradition und setzt auf die Selbsterkenntnis als Grundlage für Wissen und Handeln. Bei Markus vollzieht sich die Personwerdung Gottes in der Weitergabe des Gottesgeistes von Jesus über den römischen Centurio und den Eingang des Auferweckten in die Biographien der Glaubenden. Die pneumatologische Christologie des Markusevangeliums ist soteriologisch ausgerichtet. Nach Matthäus wird die Gottesbeziehung durch die Lehre Jesu und das gemeindegründende Taufsakrament ermöglicht. Das personale christologische Interesse des Matthäusevangeliums stellt die einzigartige Besonderheit Jesu als Vermittler des Gottesverhältnisses in den Vordergrund. Im Zentrum der matthäischen Christologie 3 Jeder der drei Wege hat in der Rezeptionsgeschichte Wirkungen entfaltet. Die weitergehende Theologiegeschichte ließe sich auch unter dem Gesichtspunkt der Wirkungsgeschichte der drei unterschiedlichen christologischen Ansätze nachzeichnen – wobei Johannes und Paulus einflussreiche Alternativen für die Rezeption entwickelten.

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stehen Eschatologie, Ethik und Ekklesiologie, die um die beiden Pole Gerechtigkeit und Gericht herum entfaltet werden. Die lukanische Christologie ist anthropologisch akzentuiert. Sie führt über die Didaktik Jesu Menschen zu sich selbst und auf diese Weise in die Einheit mit Gott zurück. Im Selbstverhältnis verwirklicht sich nach lukanischer Darstellung die Gottesbeziehung. Zugleich stiften nachösterlich der sakramentale Vollzug des Brotbrechens und die Memoria die bleibende Verbundenheit mit dem Auferweckten. Gemeinsam ist allen drei Evangelien, dass in ihnen der Christusglaube durch den Bedrohungscharakter, unter dem das menschliche Leben steht, gefordert ist. Übereinstimmend zeichnen sie Jesus als einen Protagonisten, der auf diese Situation reagiert. Die von ihm entwickelten Normen praktiziert er selbst. Er steht Modell für die Glaubenspraxis der Späteren. Indem er die gelebte Gottesbeziehung verkörpert, bekommt Gott in den Evangelien eine Gestalt. In Jesus wird sichtbar, wie die Gottesbeziehung unter den Bedingungen gelebten Lebens ein menschliches Gesicht erhält. Alle drei Evangelien halten fest, dass der Kern ihrer Soteriologie in einem Akt der Zuwendung besteht. Das Verhalten Jesu bringt die Bewegung Gottes zum Menschen zur Geltung. Der nucleus des Glaubens besteht in dem Vorgang heilsamer Relationierung.4 Bei allen drei Synoptikern findet das Wirken Jesu in Israel und den benachbarten Territorien statt. Gleichzeitig sind die geographischen und regionalen Zuordnungen transparent gehalten. Sie bilden Länder und Regionen anderer Weltgegenden und späterer Zeiten vorab und erlauben späteren Leserinnen und Lesern eine Identifikation mit den in Israel verorteten Geschehnissen. Die Internationalisierung des Christusglaubens seit der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts ist in die geographische Gestaltung des erzählten Raums bereits eingedacht. Für Markus ist die Verknüpfung jüdischer Gebiete mit als heidnisch konnotierten Regionen ein wichtiger Programmpunkt der Darstellung. Für Matthäus bilden die Geschichte und das Territorium Israels die Grundlage für das Kommen Jesu und die Basis für die anschließende weltweite Ausbreitung des auf ihn bezogenen Christusglaubens. Im Lukasevangelium gleicht die Darstellung der Reisetätigkeit Jesu dem Knüpfen eines Netzes zwischen Ort- und Landschaften. Hinzu tritt eine äußerlich invisible Reiseroute. Sie lässt den Weg Jesu auf Erden in die Himmelfahrt und seine Apotheose münden. Lukas verbindet auf diese Weise das Wirken Jesu in der Welt mit dem Weg in eine himmlische Realität. Die geographisch vermessbare Welt bildet die Basis für Jesu Reise zu seinem himmlischen Vater. Wie die Welt bei den Synoptikern in räumlicher Hinsicht unterschiedlich konstruiert und konnotiert ist, so differiert auch das Verständnis von Zeit. Das zeigt sich in der Gewichtung der Zeitstufen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit ihr verbunden sind unterschiedliche Richtungsangaben für das Wir-

4 Vgl. P.-G. K, Soteriologische Wirklichkeitserschließung. Der Beitrag der synoptischen Evangelien, ThLZ 143 (2018), 859–872, 871–872.

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ken Jesu, die sich präpositional formulieren lassen. Markus lässt Jesus von Gott her agieren. Die zentrale Zeit im Markusevangelium ist die Gegenwart. Im Hier fällt die Entscheidung, jetzt ist der καιρο ς. Karfreitag, Ostern und Pfingsten fallen in einem Moment ineinander. Im gegenwärtigen Augenblick gilt es, dem Gottesgeist Raum zur Entfaltung zu geben. Matthäus lässt Jesus auf Gott hin reden und handeln. Die bestimmende Zeit ist die Zukunft. Am Ende werden das Gericht und die Scheidung zwischen Gerechten und Ungerechten vollzogen. Die Jetztzeit ist eine allerdings entscheidende Etappe auf dem Weg in die Zukunft. Sie ist vom Blick nach vorn bestimmt. Mit dem Gericht als Prüfung vor Augen kommt man durch die Gegenwart. Dabei helfen die Aktualisierung der Überlieferungen der Väter und die Weisungen Jesu. Lukas lässt Jesus Menschen zu Gott zurückführen. Die dominierende Zeitstufe ist die Vergangenheit. In der Erinnerung liegt das Heil beschlossen. Rückkehren und Aufbewahren der Memoria verbürgen das gegenwärtige Überleben. Re-Flexion im umfassenden Sinn garantiert die Bewältigung der Gegenwart und das Erreichen des ewigen Lebens. Zwischen Vergangenheit und Zukunft stellen Umkehr und Erinnerung den Königsweg durch das gegenwärtige Leben dar. Alle drei Evangelien stellen eine Beziehung zwischen der messbaren und einer geglaubten Zeit her. Bei Markus verschmelzen die geglaubte Gotteszeit und die durch wenige Parameter bestimmte irdische Zeit der Geschichte Jesu in der αÆ ρχη des Evangeliums zu einer Einheit. Der schöpferische Anfang (Mk 1,1) vergegenwärtigt sich in der Gegenwart der Glaubenden je und je neu. Für Matthäus umschließt die in Gott gegründete geglaubte Zeit die gemessene Zeit irdischer Vorgänge. Die gemessene Zeit ist in die geglaubte Zeit integriert. Die Gotteszeit reicht von Abraham bis zum Jüngsten Tag. Lukas zieht demgegenüber die geglaubte Zeit in die gemessene Zeit hinein. Die Weltzeit, die sich über Personenkonstellationen und Ereignisse ordnen lässt, gibt der geglaubten Zeit ihren Platz. Der Glaube stiftet anders als bei Markus und Matthäus die Zeit nicht selbst, sondern nimmt sie als vorgegebene Größe, auf die er sich bezieht. Die geglaubte Zeit wird in ein innerweltliches Raster eingezeichnet. Während das markinische und das matthäische Zeitverständnis Funktionen des Christusglaubens sind, implementiert Lukas die Jesusgeschichte via Anknüpfung in einen unabhängig vom Glauben bestehenden zeitgeschichtlichen Rahmen. Fragt man, was geschähe, wenn die geglaubte Zeit aus den Darstellungen der Synoptiker entfernt würde, ergäben sich die Antworten: Bei Markus entfiele mit der geglaubten Ursprungszeit der αÆ ρχη als einer allen Entwicklungen vorgeschalteten und in Gott gegründeten Zeit die Basis der normativen theologischen und ethischen Inhalte, auf die die Evangelienschrift hinwirkt. Würde sich die matthäische geglaubte Zeitvorstellung, in der die Welt in die von Abraham bis zum Gericht reichende Zeit Gottes eingespannt ist, auflösen, ginge der Horizont verloren, auf den die Gemeinde hinlebt. Sie könnte nicht mehr sagen, worauf sie zugeht und auf welchem Weg sie sich dorthin bewegt. Bei Lukas dagegen bleibt das Zeitverständnis auch unabhängig vom Christusglauben in Geltung. Sollten bei ihm die christologischen Eierschalen abfallen, meldete sich ein stabiles Gerüst

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hellenistisch-römischer Zeitorientierung zurück. Bei Lukas gibt die Zeit dem Glauben Raum. Bei Markus und Matthäus formt der Glaube die Zeit.5 Die Tragik, dass das von Jesus vermittelte Geschenk der Gottesgemeinschaft nicht angenommen worden und er selbst schließlich dem Hass von Menschen zum Opfer gefallen ist, wird durch das Bekenntnis der Auferstehung Jesu von den Toten nicht einfach aufgehoben. So unfassbar es bleibt, wie Menschen das, was für sie heilsam ist, aggressiv zurückweisen, so unerklärlich und vieldeutig bleibt, warum Jesus hingerichtet wurde. Im Unterschied zur kausalen Frage eröffnet die finale Überlegung, wozu Jesus dieses tödliche Ende erlitten hat, einen öffnenden Sinnhorizont. Der sterbende Jesus selbst ist ohne Antwort, aber in der Gottesbindung geblieben. Die Frage nach der Bedeutung seines Sterbens richtet sich in der Folge an die Zeugen des Geschehens und die Leserschaft. Sie sind zur Antwort herausgefordert. Ihre Lebensgeschichten bilden ab dem Moment des Todes Jesu den Resonanzraum, in dem die mit Jesus begonnene Gottesgeschichte weitergeht.

5 Die Ausführungen zum Zeitverständnis sind eng angelehnt an P.-G. K, Geglaubte und gemessene Zeit, Das Zeitverständnis der synoptischen Evangelien, in: C. Landmesser/D. Schlenke (Hg.), Ewigkeit im Augenblick. Zeit und ihre theologische Deutung, Leipzig 2024, 37–54, 53–54.

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Register Stellen Hebräische Bibel und Septuaginta Genesis 1,3 1,9 1,31 2,4 5,1 5,24 7,4 7,17

368 368 302 86, 87 86, 87 378 181 181

Exodus 3,6 3,15 8–11 23,20 24,18

214 214 197 84, 137, 180 181

Leviticus 19,18

214

Numeri 14,33 28,9 28,10

181 294 294

Deuteronomium 6,4 6,5 6,13 6,16 8,3

214 214 255 255 253

10,20 21,23

255 75

1. Samuel 22,20

195

2. Samuel 7,11–14 15,35

87 195

1. Könige 17 17,17–24

326 345

2. Könige 2,11 4,18–37 5

378 345 326

Psalter 2,7 21,2 LXX 30,6 LXX 31,6 78,2 89,27–28 91,11 91,12 103,12 LXX 118,22 139,8

87 226, 317 317 364, 365 281 87 254 254 204 207 378

416 Jesaja 5 5,1–7 6,9 6,10 7,14 8,14f. 40,3 52,13–53,12 53,12 58,1–12 58,6 61 61,1–2

Register

207 207 202 202 277 323 84, 137, 139, 142, 157, 180 354 354, 355 326 324, 326 327 324, 325

Ezechiel 37

303

Daniel 7,13

218

Hosea 6,6 11,1

270, 291, 294 245

Amos 9,2

378

Maleachi 3,1

84, 137, 139, 180

Neues Testament Matthäus 1,1–4,16 1–2 1,1–17 1,1ff 1,1 1,2–25 1,2–17 1,2–16 1,2 1,6 1,17 1,18–25 1,18 1,20 1,23 2,1 2,2 2,4 2,5 2,6 2,13–16 2,15 2,16–23 2,22–23 2,22 3 3,9 3,13–17

88 242 245, 350 309 82, 86, 88, 275, 277, 304, 350 88 88 88 277 277 277 88 88 88, 277 278 245 275 275 275 275 247 245 247 245 245 243, 245 277 249

3,13–15 3,13 3,15 3,16 3,17 4,1–13 4,1–11 4,1 4,2 4,3 4,4 4,6 4,13 4,17 4,24 5–7 5,3–12 5,3–10 5,3 5,6 5,10 5,13–16 5,13 5,14 5,15 5,16 5,16b 5,20 5,21–48 5,27–40

250 251 244, 249 251, 252 252, 254, 301 278 247, 252 253 253 276 244 276 287 244 287 243, 257, 279, 287 247 256, 257, 280 260 249 249 260 260, 261, 262 260, 261 262, 263, 280 263, 295 263 249, 268 264, 265, 266 260

417

Stellen 5,27–32 5,33–48 6,1–18 6,1 6,9–13 6,19–34 6,33 7,1–5 7,12 7,28–29 8 8,1–4 8,2–25 8,5–13 8,11 8,14–16 8,15 8,18 8,21–27 8,23–27 8,26–39 8,26 8,27 8,28–34 8,31 8,32 9 9,1–17 9,1–8 9,1 9,5 9,6 9,7 9,9–17 9,9–13 9,11 9,12 9,13 9,14–17 9,15 9,18–26 9,18 9,22 9,25 9,26 9,27–34 9,27 9,32 10

248 248 248 249 256 248 249 248 271 287 287, 289 287, 343 288 287, 289 277 289 342 346 288 346 288 248, 288, 292 279, 301 346 288 288 287 289 289, 290 289 290 290 290 291 290, 291 290 291 291 291 291 291 292 292 292 292 293 277 293 243

10,16–23 10,23 10,26 12,1–14 12,1–8 12,1 12,3 12,5 12,6 12,7 12,8 12,9–14 12,9–12 12,9–10 12,10 12,11 12,12 12,12b 12,13–14 12,13 12,14 12,23 12,40 13 13,1–9 13,1–2 13,3 13,8 13,10–15 13,11–15 13,11 13,16–17 13,16 13,17 13,18–23 13,23 13,24–30 13,31–35 13,31–33 13,31–32 13,34–35 13,34 13,35 13,36–43 13,40 13,41 13,42 13,44 13,45

248 301 203 289, 294 294 294 294 294 294 294 294 162, 295 295 295 270, 295 295 295 295 295 295 296 277 308 243, 279, 280, 283 280 279 279 282 280, 281 282 280 281 280 280 280 282 280, 283 281 283 280 280 281 281 280, 283, 284 284 277 284 284 284

418 13,46 13,47–50 13,50 14,31 15,15 15,21–28 15,22 15,31 16,13–20 16,14 16,16–18 16,16 16,17 16,18 16,19 16,20 16,21–23 16,21 16,23 16,24–28 16,28 17,5 17,14–20 17,23 18 18,1–5 18,3–5 18,6–9 18,10–14 18,15–18 18,15 18,16 18,17 18,18 18,21 18,22 18,23–35 19,28 19,30 20 20,1–16 20,1 20,8 20,15a 20,15b 20,16 20,19 20,30 20,31

Register 284 284 284 248 203 248 277 290 296 296 217 276, 296, 298, 299 296 296 290, 296, 297 297 297 308 255 297 277 252, 301 347 308 243, 271, 272, 273 271, 273 271 271, 272, 273 272, 273 272, 273 272 272 272, 273 273 273 273 273, 274 277 285 279 284, 287 285 285 285 285 285 308 277 277

21,3 21,9 21,10–17 21,10 21,14 21,15 21,18–19 21,32 22–25 22,32 22,42 22,43 22,45 23–25 23,1–36 23,3 23,12 23,23 23,26 24,1–31 24,30a 24,32–25,30 24,36 24,42 24,45–51 25 25,31–46 25,31–40 25,31 25,40 25,41 24,45–25,46 25,46 26–27 26,2–4 26,3 26,5 26,32 26,35 26,52 26,57–27,54 26,57 26,63–66 26,63 26,64 26,75 27 27,3 27,22–24

277 277 293 301 293 277 293 249 244 277 277 277 277 243 270 248 261 248, 271 248 248 277 248 246 277 274 283 246, 248, 249 274 277 297 274 274 274 256, 297 246 246 248 308 248 187 247 246 304 276, 297, 298, 299 299 249 300 249 249

419

Stellen 27,24–26 27,27 27,37 27,45–56 27,45–54 27,45 27,46 27,47 27,48 27,49 27,50 27,51–54 27,51 27,51–53 27,51b–53 27,51b 27,52

28,6b 28,7 28,8 28,9 28,9–20 28,11–15 28,18–20 28,19 28,20

249 304 301, 304 250 299, 300 177 300, 302, 316 301, 304, 308 301, 302 301, 302 302 303 81, 302 303 302 302 250, 252, 299, 302, 303 306 303 252, 276, 279, 301, 302, 307, 350, 382 304 306 303, 307 304, 305, 309 305 306, 307 306 306 306, 307 154, 251, 277, 307, 308 308 308, 309 290, 309 242 309 244, 249 243, 382 264 244, 278

Markus 1,1–16,8 1–10 1 1,1–15 1,1–13

84 146 84, 138, 163 84, 143 84

27,52–54 27,53 27,54 27,54b 27,60 28,1–10 28,1–8 28,1 28,2 28,3 28,4 28,5 28,6

1,1–8 1,1–3 1,1 1,2 1,3 1,4–8 1,4 1,7–8 1,9–11 1,9 1,10 1,11 1,12–13 1,12 1,13 1,14–15 1,14 1,15 1,16–20 1,17 1,21–28 1,21–22 1,21 1,22 1,22b 1,23–26 1,24 1,27 1,29–31 1,29 1,31 1,32–34 1,33 1,34 1,35 1,39 1,40–45 1,40

138 84 82, 83, 84, 85, 86, 179, 216, 224, 235, 309, 385 84, 137, 138, 142, 180 84, 137, 138, 139, 142, 157, 180 84, 138, 142 139, 157, 181 177 157, 224 84, 138, 251 157, 177, 224, 251 88, 142, 157, 225, 254 177 139, 156, 157, 252 157, 166, 181, 252, 253, 255 161, 177 140, 178, 179, 184, 238, 324 84, 150, 179, 181, 182, 183, 184, 238 183, 186, 188, 357, 376 180 148, 149, 158, 160, 161, 162, 188, 191, 287, 288, 324, 342 161, 188 194, 196 188, 342 161 188 162, 215, 216 161, 188 148, 165, 376 147, 186 166, 342 174, 233 148 215 148 148, 162 166, 233, 287, 343 166

420 1,41 1,44 1,45 2,1–3,6 2,1–3,5 2,1–12 2,1 2,3 2,4 2,5 2,5a 2,5b 2,6–9 2,6 2,7 2,10 2,11–12 2,11 2,12 2,13–17 2,13–16 2,13 2,14 2,15–17 2,15 2,16 2,17 2,17a 2,17b 2,18–22 2,23–28 2,25 2,26 2,27 2,28 3,1–6 3,1–5 3,1 3,2–5 3,2 3,3 3,4

Register 166 215 148, 166, 174 169, 175, 183, 185, 189, 199, 206, 289 198, 199 149, 166, 168, 184, 190, 191, 196, 198, 343 223, 289 170 170 152, 167, 169, 193 166 190 169 167, 343 80, 167, 190, 215 190 191 167 80, 167, 168, 191, 290, 293, 343 184, 191, 192, 198, 199 193 191, 291 191 192 147, 192, 291 149, 192, 291 192, 194, 320, 344 192 193, 291 193, 198, 199 194, 198, 199, 289, 294 195, 294 195 194, 195, 294, 344 194, 195, 294 149, 168, 196, 289, 295 198, 199 162, 168, 194, 196 169, 198 162, 196, 198, 295 196, 217 197

3,5 3,6 3,7–12 3,7–10 3,11 3,13–19 3,14 3,15 3,16–19 3,20 3,21 3,22 3,31–35 3,31 3,33 3,34 3,35 4 4,1–34 4,1–20 4,1–9 4,3–20 4,3–9 4,3–8 4,2 4,8 4,9 4,10–12 4,10 4,11 4,12 4,13–20 4,13 4,14–20 4,14 4,15 4,16 4,17 4,18 4,19 4,20 4,21–25 4,22 4,23 4,25

198 149, 153, 168, 169, 198, 199, 212, 227, 296 233 174 215 184 184 184 186 149 149 149, 293 149 184 293 293 184 199, 200, 203, 205, 238, 279, 280, 281, 282, 324 183, 199, 200, 205 204 280 200 201 200, 202, 203, 205 279 201, 282 201, 203 203, 231, 280 201 201, 203, 282 201, 202, 203, 282 202, 280 202 202, 205 203 203 203 203 203 203 203, 283 200, 203, 280 203 203 203

421

Stellen 4,26–29 4,28 4,30–32 4,31–32 4,31b 4,32 4,32a 4,32–34 4,33–34 4,33 4,35–5,43 4,35–41 4,40 4,41 5 5,1–20 5,1–13 5,7 5,8 5,9–13 5,9 5,10 5,13 5,15 5,16 5,17 5,18–20 5,18 5,19 5,20 5,21–43 5,21–24 5,21 5,22–24 5,25–34 5,26–28 5,27–31 5,29 5,30 5,31–32 5,33 5,34 5,35–43 5,36 5,37–43 5,41 5,42

200, 204, 205, 280 204 200, 204, 280 283 205 204 205 205 280 280 183 150, 170, 175, 184, 288, 346 288 149 163 158, 160, 162, 170, 180, 288, 346 149 162, 216 216 162 289 289 288 162, 189, 289 289 346 289 162 346 162, 216, 346 292 150, 164 170 170 169 292 174 292 292 292 292 169, 292 164, 170 150 233 150 292

5,43 6,1–10 6,1–6 6,4 6,7 6,11 6,12 6,14–29 6,15 6,16 6,21–29 6,30–44 6,41 6,45–8,26 6,45–52 6,54–56 6,56 7 7,1–23 7,5 7,17–23 7,24–30 7,24 7,25–29 7,27 7,28 7,29 7,31–37 7,31 7,32 7,36 8–10 8 8,1–33 8,1–10 8,1–9 8,6 8,10–13 8,10 8,11–13 8,11 8,13–22 8,14–21 8,14 8,16 8,17 8,21

216, 292 150 150, 184, 324 237 184 150 150, 184 180 142 142 150 170, 172, 175, 184, 236, 347, 348 184 348 150, 170, 175 170, 174 175 99, 150, 185 175 99 150 150, 163, 170 233 163 163 162 163, 164 170, 233, 293, 348 185 170 216 174, 293 185 173 172, 236, 348 170, 184, 348 184, 237 348 170 233 172 170 175, 348 151, 173 172 173 151

422 8,22–26 8,22 8,23 8,25 8,26 8,27–33 8,27–30 8,27–29 8,27 8,28 8,29–31 8,29–30 8,29 8,30 8,31–33 8,31 8,32 8,33 8,34–38 9 9,2–29 9,2–9 9,2 9,3 9,4 9,5–6 9,5 9,7–10 9,7 9,9 9,11–13 9,14–29 9,17–24 9,17 9,22 9,24 9,25 9,28 9,29 9,30–32 9,30 9,31 9,33–50 9,33–37 9,33–35 9,34

Register 151, 171, 172, 293, 348 171 171 171 171, 172 173, 185, 218 296 348 288, 296 142, 147, 173 219 233 149, 151, 153, 173, 186, 216, 217, 218, 296, 298, 357 173, 216, 296 173 173, 218, 236 173, 217 173 185 164, 185 151 185 218 218 142 151 185 233 88, 142 219 142 163, 164, 347 163 164 164 80, 164 164 165, 185 165 174 233 186, 236 152 271 219 174

9,35 9,42–47 10 10,1 10,2–12 10,3 10,10–12 10,15 10,17–27 10,28–31 10,32–34 10,32 10,35–45 10,35–44 10,35–40 10,37 10,38–40 10,43–44 10,43 10,44 10,45 10,46–52 10,47 10,48 10,51 11 11,3 11,8 11,9 11,10 11,11–12,34 11,11–27 11,11 11,15–12,44 11,15 11,17 11,18 11,27–33 11,27 11,30 12 12,1–12 12,8 12,9 12,10 12,11 12,12 12,13–17

174 271, 272 174, 185 152 175 142 152 271 175 219 174, 186 236 298 219 174, 180 186 174 174 271 271 165, 166, 219 174, 293, 348 174, 219 174, 219 219 146, 206, 207 162 219 219 219 206 187, 206, 293, 349 152 205, 211 152 162 152, 153, 206, 208 206, 233 152 152 206 152, 205, 206, 208, 211, 212 208 207 207 209 208, 209, 210 175, 206, 212

423

Stellen 12,13 12,14 12,17 12,18–27 12,18 12,23 12,24 12,25 12,26 12,28–34 12,35–44 12,35–37 12,38–40 13 13,2 13,3 13,5 13,9 13,14 13,20–21 13,25–27 13,27 13,33–36 14,1–11 14,1–2 14,1 14,2 14,3–9 14,8 14,10 14,17–25 14,17–21 14,18 14,22–25 14,22 14,26–31 14,28 14,32–42 14,32 14,39 14,40 14,43–50 14,49 14,50 14,53–65 14,53–54 14,53 14,54 14,55–65

208 213 213 175, 206, 213 213 213 213 214 214 175, 206, 214 152 206 206 152, 236, 238 152, 187 186 152 152 132, 180 283 238 147, 155 152 186 186 355 355 153 153 186 186 186 153 175, 184, 237 184, 237 187 238 187 153 222 222, 223 187 187 187 221 357 218 151, 218 153, 218, 357

14,55–64 14,58 14,60 14,61 14,62 14,63 14,64 14,66–72 14,68 14,69 14,70 14,71 15,1–15 15,1 15,2 15,4 15,9 15,11 15,12 15,13 15,14 15,15–20 15,22–32 15,33–39 15,33 15,34–36 15,34 15,35 15,36 15,36a 15,37 15,38 15,39 15,40 15,41 15,46 15,47 16,1–8 16,1 16,2 16,3

218 187 197, 217 151, 153, 215, 217, 221, 222, 223, 297, 298, 299, 357 215, 218, 298, 299 218 218 153, 175, 187, 218, 357 357 222 222 357 180 222 221, 222 222, 223 223 222 222, 223 219, 222, 223 219 223 224 146, 154, 249 177, 225, 227, 363 364 154, 225, 300, 301, 316, 363 142, 159, 227, 301 301 364 156, 158, 224, 225, 226 81, 154, 224, 225, 226, 227, 364 88, 156, 158, 187, 224, 225, 227, 228, 301, 302, 304, 366 187 166 154, 300 187 137, 164, 228, 382 187, 305 154, 305, 370 306, 370

424 16,4–6 16,4 16,5 16,6–7 16,6 16,7 16,8 16,8b Lukas 1–2 1 1,1–4 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5–2,40 1,5–2,20 1,26–33 1,30 1,32 1,35 1,47 1,76 1,78 2 2,11 2,26 2,34 2,40 2,41–52 2,47 2,52 3,1–38 3,15 3,21–23 4,13 4,14 4,15 4,16–30 4,16 4,17–19 4,18

Register 141 306, 370 307 140 140, 154, 229, 238, 251, 307, 308, 371 139, 140, 141, 146, 155, 224, 229, 236, 238, 308, 376 139, 141, 224, 309, 316 141 322 321 89, 312, 314, 315 82, 89, 315, 327 89, 317 89, 318 319 321 321 318 81 350 350 353 350 368 321 353 353 323 81 352 342 81 350 353 89 355 324 325 162, 324, 327, 344, 354, 364 324 339 325, 326, 332

4,19 4,21 4,22 4,23 4,30 4,31–44 4,31–37 4,38–39 4,39 4,41 5,1–11 5,1–10 5,4–7 5,10 5,11 5,12–16 5,17–26 5,17 5,21 5,25 5,26 5,27–32 5,28 5,32 6,1–5 6,5 6,6–11 6,11 6,20–49 6,32–34 6,35 7,11–17 7,14a 7,14b 7,30 7,36–50 8 8,1–3 8,16 8,17 8,22–25 8,24 8,25 8,26–39 8,28 8,36 8,37 8,39 8,44–47

325, 332 325, 327, 376 81, 325, 326 324, 326 327, 342, 364 324 342, 344 376 343 353 343, 348, 376 376 343 343 343 343 343 343, 353 343 343, 346 343 344 344 320, 332, 344, 352 344 344 162, 332, 344, 345 332, 345 323, 352 81 350 345, 352 345 345 351 360 324 360 203 203 346 346 346 346 350 346, 347 346 346 347

425

Stellen 8,44 8,47 8,50 8,54 8,55 9,10–17 9,11 9,12 9,16 9,17 9,18–22 9,20 9,22 9,37–45 9,37–43 9,39 9,42 9,43 9,44 9,51 10 10,17–24 10,21 10,25–37 10,25–29 10,25–28 10,25 10,26 10,27 10,28 10,29 10,30–37 10,30 10,33 10,36 10,37 10,38–42 11,14 11,33 12,2 12,13–21 12,16–21 12,20 12,21 13,10–17 13,15 13,16 13,17 14,1–6

347 347 347 347 347 347 347 347 347 348 348 348, 353 356, 372, 373 347 347 347 347 347 356, 372 377 328 328 353 313, 331 324, 328, 331, 374 330 328, 329 329, 330, 339 329, 332 331, 332 330 328, 333 331 345 330 331 314, 360 347 203 203 313 331, 338 331 332 162, 344, 345 295 295 345 162, 344, 345

14,5 14,6 14,11 15 15,5–7 15,7 15,9–10 15,10 15,11–32 15,11–24 15,13 15,16 15,18–20 15,18 15,19 15,20 15,20b–24 15,24 15,25–32 15,25 15,29 15,31 15,32 16,1–13 16,1–8 16,19–31 16,27 17,9 17,11–19 18 18,1–8 18,9–14 18,11 18,12 18,13 18,14 18,14a 18,18–27 18,18–25 18,32 18,33 18,35–43 19 19,11–27 19,29 19,45–48 19,45 19,47–48 19,47

295, 345 345 261 272 272 335 272 335 313, 333, 336, 338 334, 336, 338 334 334 341 332, 335 335 321, 345 333 336 334, 336 336 336 337 272 338 313 313, 338, 339 339 81 347 328 338, 360 313, 338, 340 340 341 340, 361 261 341 338 338 356, 372 372 347 347 338 379 349 349 347 349

426 20,1–8 20,20–26 20,27–40 20,41 22,1–23,25 22,1–2 22,3 22,4 22,5 22,15–20 22,37 22,43 22,47–53 22,47–48 22,47 22,50 22,51 22,53 22,54–71 22,54–62 22,57 22,60 22,61 22,66–71 22,66 22,67–69 22,67 22,70 23,1–5 23,1–2 23,2 23,3 23,6–12 23,9 23,10–11 23,12 23,13–16 23,18–25 23,18 23,25 23,23–49 23,26–49 23,26–43 23,26 23,27–28 23,27 23,28 23,29–31 23,34

Register 347 347 347 353 354 354 355 355 355 375 354, 355 356 347 356 357 187 187 356 357 357 357 357 357 358 358 358 353 358 358 357 353, 358 358 313, 359 359 359 359 359 357 359 357, 359 359 359 359 359 359 359 360 360 347, 360

23,35 23,36 23,39 23,42 23,43 23,44–49 23,44 23,45 23,45b 23,46 23,47 23,48 23,49 23,51 23,55.56 23,56b–24,12 24 24,1 24,3 24,4 24,5 24,6 24,6b 24,7 24,8–9 24,8 24,9 24,10–12 24,10 24,13–35 24,14 24,15 24,17 24,18 24,19 24,20 24,21 24,22 24,23 24,24 24,26 24,28–32 24,29–32 24,29 24,30 24,32 24,34

353, 360 364 353 361 347, 361 227, 313, 361 363 81, 177, 225, 328, 363 364 365 343, 346, 351, 353, 354, 362, 365 363, 366 367, 368 351 369 369 309 370 369, 370 370 354, 370 371, 372 372 372 316 316, 372 372 373 373 313, 316, 373 373 373 374 374 374 374 374 374 374 374 353, 355, 356 374 344 347 347, 374, 375 375 376

427

Stellen 24,35 24,36–49 24,39–43 24,44–47 24,44 24,46 24,47–49 24,48 24,50–53 24,51 24,53

375 376 376 376 376 353 376 379 351, 377, 379 377 346, 379

Apostelgeschichte 1,2 1,8 1,9–11 1,12 1,21 1,22 2 2,23 2,42 6–7 6,1–7 8,4 13,36 15 15,1 15,5 17,26 17,28 20,7 20,11 20,27

377 314, 373 377 379 317 317, 377 365 351 375 117, 118 185, 314 317 351 117 95 95 351 368 375 375 251

Römer 1,16 2,19 4,6 4,9 4,24 6,3 6,4 8,11

67 262 352 352 75 299 299 75

10,9 10,17 14,9

75 55 76

1. Korinther 1,18 1,23 2,7 6,14 15,3b–5 15,3 15,5 15,15 15,20–23

262 271 281 75 140, 141, 228 140 140, 141 75 303

2. Korinther 4,7 4,14

111, 381 75

Galater 1,1 2,1–10 2,7–9 2,11–14 2,13 3,13 3,28 4,15 5,13–25

75 117 119 117 118 75 188 352 95

Philipper 4,8

352

1. Thessalonicher 1,10 4,14

75 76

1. Petrus 2,9

352

2. Petrus 1,3 1,5

352 352

428

Register

Frühchristliche Schriften und Alte Kirche Didache 8,1

194

Thomasevangelium 65 208 66 208

Euseb von Cäsarea Kirchengeschichte II 16 132 II 24 132

Jüdische Literatur Aristeasbrief 31 59 67 77 78 83–91 86 99 103 284 285

362 362 362 362 362 362 362 362, 363 362 369 369

Griechische Baruch-Apokalypse 3 362 Syrische Baruch-Apokalypse 21,3–10 125 21,11–12 126 21,12 126 21,13 126 21,14–15 126 21,16–21 126 22,2–8 126 23,1–2 127 23,7 127 24–28 127 24,1–2 127 29–30 127 31–32 127 85,3 127

4. Esra 3,32 3,33 3,34 3,36 4,1–21 4,26 4,33 4,34 5,23–30 5,39–40 6,55–59 7,1–16

124 124 124 124 124 125 125 125 124, 125 125 124 125

Josephus Antiquitates Judaicae XIV, 309 225, 363 2. Makkabäer 6,18–7,42 7

351 299

3. Makkabäer 5,24

362

Testamente der Zwölf Patriarchen TestIss 10 378

429

Stellen

Griechische Autoren Aristoteles Peri Hermeneias 1,1–2 1,3–5

44 44

Diogenes Laertius 4.9.64

225

Dionysios Halicarnassensis Antiquitates Romanae II 56,6 225, 363 Philostrat Vita Apollonii 4,45

345

Platon Phaidros 247c–e4 247d4

361 361

Plutarch Pelopidas 295a

225, 363

Pseudo-Longinus Vom Erhabenen 9,9

368

Vergil Georgica I, 463–467

225, 363

Namen und Sachen Abendmahl 236, 237, 375 Abjatar 195 Abraham 87, 88, 95, 214, 247, 275, 276, 277, 304, 350, 385 Adam 350 Ahimelech 195 Alexandria 132, 133 Ananus II. 119 Antiochia 117, 133 Apokalyptik, apokalyptisch 122, 178, 274, 279, 360, 382 Apotheose 351, 377, 379, 380, 382, 384 Arat 368 ἀρχή 83–87, 89, 90, 120, 133, 138, 139, 194, 385 Archelaos 245 Aristides von Athen 102 Aristoteles 10, 27, 28, 32, 44, 350, 361, 367 Aufklärung 103 Bethanien 206 Bethsaida 170, 171 Cäsarea Philippi 217, 296 Cardo 145 Chalcedon 312 Christologie 1, 22, 29, 36, 37, 39, 67, 76, 79, 92, 96, 100, 102, 107, 133, 136, 139, 144, 145, 157, 227, 234, 236, 237, 250, 255, 256, 264, 269, 276, 278, 288, 297, 343, 348, 349, 353, 365, 366, 381, 383, 384 Christuskerygma 23, 34, 37, 38, 77 Chronos 181, 225 Clemens von Alexandrien 10, 119 consecratio 378, 379

David 88, 195, 206, 247, 275, 276, 277, 304, 323, 350 Davidsohnschaft 87, 174 Decisio Saxonica 232 Decumanus 145 Dekapolis 146, 149, 151, 162, 170 Delphi 330, 341 Deuterojesaja 138, 139, 356 Dialektische Theologie 12, 20, 23, 36, 38, 236 Differenzkriterium 25 Diskontinuität 20, 37, 77, 79 Elia 142, 151, 218, 302, 304, 326, 327 Elisa 326, 327 Entmythologisierung 10, 11 Erhöhung 215 Erniedrigung 215 Etrusker 145 Eusebius von Cäsarea 132, 133 Evangelium/εὐαγγέλιον 83, 84, 85, 86, 87, 120, 137, 138, 139, 178, 179, 181, 182, 234, 263, 269 Exegese 13, 41, 51, 104 Festus 119 Formgeschichte 20, 21, 74 Fragment 20 Galiläa 96, 140, 145, 146, 151, 155, 162, 178, 229, 325, 373 Gebet 340 Gegenständlichkeit 60, 134 Geheimnis 229, 231, 232, 234, 278, 282 Genezareth 149, 150, 170, 172, 376 Gerasa 149, 151, 170, 189, 346 Gerechtigkeit 241, 249, 250, 251, 256– 259, 268, 271, 278, 284, 286, 287, 333–338, 354

Namen und Sachen Gericht 249, 261, 271, 273, 274, 284, 385 Gott 74, 75, 112, 113, 126, 159, 168, 179, 180, 181, 211, 212, 220, 252, 255, 299, 341, 347, 353, 380, 384, 385 Gott-Mensch-Beziehung 5, 166, 168, 191, 221, 383 Gottes-/Himmelsherrschaft 178, 179, 180, 181, 182, 183, 200, 202, 204, 205, 244, 256–259, 278, 280, 282, 285, 381, 383 Gottesknecht 356 Gottessohn/Sohn Gottes 88, 143, 159, 215, 216, 227, 228, 232, 235, 249, 253, 254, 276, 298, 299, 304, 366, 382 Herodes der Große 245 Herodes Antipas 150, 177, 178, 180, 198, 245, 359 Herodianer 168, 198, 212 Herodias 180 Hegesipp 119 Himmelfahrt 316, 320 Historischer Jesus 22, 26, 29, 34, 35, 36, 37, 77 Horaz 368 identity markers 93 Inkarnation, inkarnatorisch 1, 27, 63, 66 Inspiration 62, 92 Interpretation 41, 43, 44, 46, 47, 58–60, 63, 68, 70, 82, 114, 325 Jaïrus 216 Jesuskerygma 37, 38, 77 Johannes der Täufer 139, 142, 150, 177, 178, 180, 250, 277, 318 Josephus 119, 311 Judäa 146, 152, 155, 373 Julius Cäsar 225, 363, 378 Kaiaphas 246 Kairos/καιρός 181, 182, 225, 244 Kanon, Kanonisierung 67 Kapharnaum 149, 151, 152, 158, 215, 289, 324, 325, 342, 364 Kerygma 10, 12, 20, 24, 35, 36, 37, 38

431

Kohärenzkriterium 26 Konstruktivismus 30–34 Kontinuität 20, 21, 24, 37, 74, 75, 77, 78, 79, 91, 100, 103, 210, 319 Krisis 181 Kyrios/κύριος 216, 353, 369 Leben-Jesu-Forschung 17, 20, 30 Liberale Theologie 12, 22, 23, 27, 36–38 linguistic turn 31 Literarkritik 17, 21 Logos 92, 163 Longinus 368 Luther, Martin 32 Machairos 150 Maieutik 324, 328, 329, 375 Maleachi 138, 139 Menippos von Gadara 321 Menschensohn 145, 217, 218, 219 Messiasgeheimnis 230, 231, 233 Metanoia/μετάνοια 181, 182, 244, 344 Micha 275 Mose 98, 142, 151, 181, 219, 243 Mythos, mythisch 10, 11, 16, 47, 56, 86, 133, 134, 135, 144, 157, 169, 176, 177, 190, 191, 198, 205, 225, 227, 232, 305 Naaman 326 narrative criticism 12, 21 Narrativität 2, 10, 11, 13, 14, 16 Narratologie 13 Nazareth 148, 150, 325, 327 New Perspective 92–94 Nicäa 99, 312 Ontologie, ontologisch 28, 31–35, 42, 56, 135 Osterglaube 20, 74, 75 Ostern 20, 36, 38, 74–78, 108, 140, 228, 229, 231, 251, 305, 328, 354, 366 Parabeltheorie 231 Paulus 11, 15, 16, 55, 75, 76, 92–95, 106, 188, 262, 272, 299, 300, 303, 314, 317, 334 Peräa 146, 152

432 Petrus 186, 188, 216, 217, 218, 296–299, 342, 343, 348, 357, 376 Phänomenologie 28 Pharisäer 98, 168, 173, 195, 198, 212, 267, 270, 277, 290, 298, 340, 341, 351 Philippos 180, 217 Philo 311 Platon 361 Plausibilitätskriterium 25 Plutarch 142 Pneuma/Geist 131, 145, 155–159, 160, 224, 226, 235, 249, 250, 252, 254, 302, 365, 381, 382, 383, 385 Pontius Pilatus 154, 180, 221, 222, 223, 358, 359 Ptolemäus IV. Philopator 362 Rationalität 16, 135, 177 Realismus 30–35, 42, 59, 60 Redaktionsgeschichte 12, 13, 21 Resonanz 55, 61 Rhetorik 121, 141, 367, 369 Sadduzäer 213, 277 Satan 244, 252, 355 Schöpfung 229, 305 Scholastik 32 Schrift 66, 67, 340 Sepphoris 148 Septuaginta 86, 311, 346 Sokrates 329, 382

Register status exaltationis 233 status exinanitionis 232, 233 Sünde 193, 290, 335 Synagoge 148, 162, 325 Syrien 146 Taufe 89, 142, 148, 155, 157, 249– 251, 253, 300, 316, 318, 382, 383 Tertullian 102 Text 4 Theodizee 125 Theologiebegriff 2, 9–14, 16 third quest 25, 26, 29, 38, 92 Thomas von Aquin 32 Tiberias 148 Tora 95, 98, 242, 264, 266, 267, 269, 270, 296 Tyros 150, 151, 170 Unähnlichkeitskriterium 26 Ursprünglichkeit 108–110 Varro 321 Vierfacher Schriftsinn 62 Vollmacht 161, 290 Wirklichkeit 79, 80 Within Judaism 91, 93, 98, 104–110 Zebedäus 180, 184 Zöllner 340, 361 Zwei-Reiche/Regimenten-Lehre 213

Autorinnen und Autoren Adorno, T.W. 54, 56 Ágel, V. 148 Aguilar Chiu, J.E. 158, 159, 224 Aland, B. 281, 361 Aland, K. 133, 281, 361 Albertz, R. 326 Alkier, S. 138 Alloa, E. 65 Anderson, J.C. 100 Anderson, P.N. 100, 101, 102 Arendt, H. 54 Assmann, A. 72 Austin, J.L. 343 Avemarie, F. 286 Bachmann, M. 93 Backhaus, K. 26 Bär, M. 76, 298 Baer, H. von 325 Balch, D.L. 96 Barner, W. 27, 42, 103 Barth, G. 12 Bartsch, H.W. 10, 24 Bauer, G.L. VII, 2, 18, 19 Bauer, W. 361 Baumgärtner, I. 80, 143, 148, 223 Bauspieß, M. 22, 24, 35 Bazzana, G.B. 156 Beck, J.U. 86, 224, 242 Becker, E.-M. 95, 96, 105, 131, 246 Becker, M. 196 Bendemann, R. von 148, 158, 165, 192, 229, 328, 335 Benjamin, W. 148 Bergler, S. 379 Bermes, C. 50, 51, 64, 65 Bernoulli, C.A. 313 Betten, A. 45 Betz, H.D. 260, 262, 267, 268

Beutel, A. 19 Bickermann, E. 378 Black, C.C. 83, 84, 179, 183, 217, 218, 227, 239 Blinzler, J. 358 Blumenberg, H. 54 Blumenthal, C. 138, 142, 265, 351, 353, 356 Boccacini, G. 99, 101, 122, 124, 125 Boehm, R. 28, 49 Böttrich, C. 311, 319, 324, 342, 343, 344, 345, 347 Bons, E. 365 Borchmeyer, D. 232 Bormann, L. 14, 265, 266, 269, 270, 271, 277, 314, 351, 353, 354 Bornkamm, G. 9, 12, 23, 78 Bosenius, B. 139, 146, 177 Bovon, F. 89, 90, 311, 312, 315, 323, 327, 330, 331, 332, 335, 336, 339, 340, 357, 364, 366, 370, 374, 379 Boyarin, D. 94, 96, 98, 99, 100, 102, 104, 113 Braunert, H. 361, 362 Bredenhof, R. 339 Breytenbach, C. 259 Brinker, K. 45 Brooke-Rose, C. 59 Brucker, R. 25 Bruns, P. 133 Büttner, G. 14 Bultmann, R. 2, 10, 11, 22, 23, 24, 27, 29, 33, 35, 36, 37, 55, 77, 78, 111, 253, 255 Burchard, C. 78 Burger, C. 88 Burridge, R.A. 87, 278 Calhoun, R.M. 137, 138, 154, 218, 274 Carter, W. 246

434 Cassirer, E. 16, 47, 48, 49, 56, 65, 135, 144, 145 Claesges, U. 64 Clauss, M. 366, 378 Closterman, W.E. 359 Cohn-Sherbok, D. M. 195 Collini, S. 59 Collins, A. Y. 105, 149, 156 Collins, J.N. 166 Conzelmann, H. 12, 15, 25, 29, 35, 54, 200, 351, 355, 377 Cornelius, A. 365 Crüsemann, F. 210 Culler, J. 59 Culpepper, R.A. 100, 101, 102, 241, 274, 278 Dalferth, I.U. 32, 45, 60, 61, 66, 67, 75 Danz, C. 31 David, Ph. 147 Deines, R. 119, 258 del Cura Elena, S. 203 Deleuze, G. 223 Denaux, A. 375 Derrida, J. 65 Dettwiler, A. 204 Deuser, H. 55 Dibelius, M. 9 Dinkler, E. 24, 78 Dollinger, H. 112 Dormeyer, D. 152 Downing, F. G. 187 Dronsch, K. 203 Drube, J. 75 Dschulnigg, P. 237 Dünne, J. 51, 80 Dunn, J.D.G. 13, 14, 92, 93 du Toit, D. 25 Ebeling, G. 9, 10, 23, 29, 35, 78 Eckey, W. 139 Eckstein, H.-J. 75, 259, 268, 269 Eco, U. 58, 59, 106 Edsall, B.A. 101 Eger, T. 361 Ehrensperger, K. 93 Eisen, U.E. 13 Eisler, Ph. F. 251 Elmer, I.J. 85, 99, 131

Register Elsenbast, V. 14 Eltester, W. 295 Engberg-Pedersen, T. 131 Erlemann, K. 217, 245 Ernst, J. 356, 378 Erne, T. 147 Etzelmüller, G. 176 Euler, A. 73, 88, 96, 250, 264, 275 Evans C.A. 195 Evers, D. 69 Fabry, H.-J. 311 Felder, E. 28, 30, 59, 80 Feldmeier, R. 66, 76, 265, 350, 351, 353, 378 Feldt, L. 156 Fellmann, R. 217 Ferraris, M. 31, 60 Fiedler, P. 87, 88, 258 Figal, G. 42, 45, 46, 57, 58, 60, 63, 64, 108, 109 Fix, U. 45 Flashar, H. 27 Fludernik, M. 135 Focant, C. 158, 307 Foster, P. 276 Foucault, M. 43 Fowler, R. 236 Frederiksen, P. 93, 94, 95, 187 Freudenberger-Lötz, P. 14 Frey, J. 101, 102, 204 Frickenschmidt, D. 85, 367 Fuchs, M.E. 150, 381 Fuhrmann, M. 367, 368 Gabler, J.Ph. VII, 2, 18, 19, 50 Gabriel, M. 30, 31, 34, 80 Gadamer, H.-G. 44, 60 Gärtner, H.A. 132 Gardt, A. 28, 30, 45, 57, 59, 60, 62, 80 Geldenhuys, N. 379 Gelfert, H.-D. 368 Gemünden, P. von 200, 204 Genette, G. 47, 135 Gerber, J. 122 Geyer, C.-F. 27, 28 Giesen, H. 258 Giuliani, R. 28, 49 Gnilka, J. 203, 303, 307, 308

Autorinnen und Autoren Gondek, H.-D. 65 Grabbe, L.L. 122 Grappe, C. 141 Grønbech, V. 85 Gröschner, R. 55 Grohmann, M. 107 Grotius, H. 112 Grundmann, W. 305 Guattari, F. 223 Günzel, S. 51, 80 Gunkel, H. 350, 365 Guttenberger, G. 153, 157, 220 Haase, D. 143, 146, 147, 163, 170, 171, 177, 185, 189, 348 Haase, M. 145 Häfner, G. 26 Hägglund, B. 133 Haeuser, Ph. 132 Hagner, D. A 273 Hahn, F. 13, 259, 277, 278 Hahn, U. 22 Hammann, K. 23, 27 Harenberg, W. 24 Harnack, A. 11, 23, 36 Harnisch, W. 123, 285, 334 Hays, R. 13 Heckel, Th. K. 266 Heidegger, M. 27, 35 Heinemann, G. 322, 352 Heinze, A. 23 Held, H.J. 12 Held, S. 148 Hellholm, D. 237, 374, 375 Hengel, M. 131 Hentschel, A. 166 Henze, M. 99, 122, 124, 125 Hermann, M.-L. 76, 298 Herzog, R. 17 Hörisch, J. 53 Hofheinz, M. 113, 120, 150, 176, 199, 381 Hofmannsthal, H. von 54 Holl, H.G. 59 Holladay, C.R. 98, 243 Holtzmann, H.J. 3 Homolka, W. 105, 107, 110 Hoyer, T. 257, 352 Hübner, H. 107

435

Hübner, K. 16, 85, 86, 134 Hühne, T. 201, 202, 204, 283 Husserl, E. 64 Iber, G. 9 Irrgang, N. 98, 99 Jahnel, C. 58 Jaspert, B. 107 Jeanrond, W.G. 45, 59 Jeffries, S. 148 Jeremias, J. 200, 283, 286, 295, 334 Joas, E.M. 204 Jones, K.R. 120, 124, 125, 127 Jung, I. 357 Juschka, K. 258 Jülicher, A. 281, 285 Jüngel, E. 11, 27, 55 Kablitz, A. 43 Käsemann, E. 23, 24, 25, 29, 35 Kahl, W. 17, 176, 315 Kapust, A. 55 Kautzsch, E. 126 Kazen, T. 237 Keener, C.S. 278 Keil, R.-D. 172 Kelber, W.H. 12 Kelley, R.L. Jr. 375 Kessler, R. 210 Kierkegaard, S. 64 Kim, S. 93 Kindt, T. 136 Klauck, H.-J. 378 Klein, A. 11, 32, 43, 107 Klein, G. 118, 160, 376 Klein, H. 90, 311, 312, 319, 324, 329, 332, 334, 339, 344, 348, 356, 359, 370, 374, 379 Klijn, A.F.J. 127 Kloppenborg, J. S. 156, 207, 208 Klostermann, E. 300, 315 Klumbies, P.-G. 2, 3, 11, 13, 16, 19, 21– 23, 28, 30, 32, 35, 38, 46, 47, 49, 50, 57, 59, 63, 72, 73, 75–78, 80, 81, 83, 85, 86, 91, 92, 106– 109, 112–114, 120, 122, 123, 125, 127, 135, 137, 139–141, 143–149, 154, 159, 161, 164, 165, 168, 171–179, 182, 188,

436 190, 191, 194, 196, 199, 201–206, 219, 223, 227, 230, 232, 234, 244, 245, 249–251, 257, 287, 295, 300, 301, 305, 309, 312, 315, 317–319, 323, 333, 336, 339–341, 344, 345, 348, 351, 352, 358, 361, 363, 364, 366–370, 372, 373, 376–381, 384, 386 Knoppe, T. 135 Koch, D.-A. 117, 118, 119, 192, 253, 347 Kögel, J. 338 Köppe, T. 136 Körtner, U.H.J. 22, 23, 25, 32, 41, 43, 54, 62, 107, 131 Koester, C.R. 101 Koet, B.J. 166, 314, 375, 377 Kohls, M. 80, 143 Kollmann, B. 132, 331 Konradt, M. 73, 88, 96, 97, 98, 250, 254, 256, 258, 259, 264, 265, 267, 275, 296 Koselleck, R. 17 Kraft, F. 14 Kraft, H. 14 Krauter, S. 362 Kremer, J. 155 Kristensen, S. 64, 65 Krückemeier (=Neumann), N. 313, 342 Krüger, M.D. 31, 34, 35, 72, 147 Kühschelm, R. 307 Kümmel, W.G. 132 Kuhnen, H.-P. 145 Lachmann, C. 17 Lämmert, E. 359 Lahn, S. 135 Landmesser, C. 11, 22, 35, 36, 43, 66, 72, 180, 244, 248, 258, 259, 334, 335, 336, 351, 386 Lang, M. 102 Langbehn, J. 232 Lasogga, M. 22 Law, D.R. 62 Lefort, C. 28, 49 Lehnardt, A. 73 Lembcke, O. 55 Lenzen, M. 63 Lessing, G.E. 27, 42, 103

Register Liddell, H. G. 181, 182 Lietaert Peerbolte, B.J. 375, 377 Lindemann, A. 12, 23, 54, 85, 178, 179, 183, 192, 195, 197, 200, 253, 256 Liwak, R. 163 Loader, W.R.G. 87, 98, 241, 243, 250, 259, 265, 269, 273, 276, 278, 299 Löning, K. 359 Löwenstein, K. 208 Lohmeyer, E. 145, 146, 258 Lohse, B. 133 Lohse, E. 78, 295 Lotman, J. M. 148, 172 Luck, U. 259, 285, 305 Lührmann, D. 195, 200, 203 Lukács, G. 54 Luz, U. 87, 88, 96, 248, 250, 257, 259, 261, 296, 300, 303, 305 März, C.-P. 76, 298 Marcus, J. 250 Marcuse, H. 52 Marquard, O. 57 Martin, D. B. 187 Martinez, M. 136 Marx, K. 54 Marxsen, W. 12, 21, 36, 37, 38, 77, 118, 179, 182, 192, 253, 269 Mayer, M. 54 Meiser, M. 156, 311 Meister, J.C. 135 Meixner, U. 30 Menge, H. 362 Merk, O. 2, 18, 22, 165 Merklein, H. 15, 302 Merleau-Ponty, M. 28, 49, 50, 51, 64, 65 Merz, A. 25 Métraux, A. 49 Metternich, U. 345 Metzdorf, C. 30, 92 Michie, D. 12 Miggelbrink, J. 148 Milavec, A.A. 208, 209 Milchner, H.J. 379 Miles, J. 98 Moessner, D.P. 137, 138, 154, 218, 274 Morgenthaler, R. 367 Moscicke, H.M. 274 Mühlenberg, E. 62

Autorinnen und Autoren Müller, M. 131 Müller, K.W. 27, 55 Müller, P. 281 Müllner, I. 91, 315 Murphy, E. 73, 166 Murphy, F.J. 314 Najman, H. 124 Nanos, M. D. 93, 94, 95, 105 Nebe, G. 325, 354 Neill, S. 25 Neirynck, F. 153, 218 Nestle, E. 281 Neumann, N. 113, 120, 150, 176, 182, 199, 234, 314, 319–323, 332, 335, 338, 339, 381 Nicklas, T. 137, 138, 154, 218, 243, 274, 377 Niebuhr, K.-W. 87, 98, 241, 243, 250, 258, 259, 265, 269, 273, 276, 278, 299, 334, 377 Nöth, W. 46 O’Connell, S. 158 Offerhaus, U. 311 O’Floinn, G. 233 O’Mahony, K. 224 Oldenhage, T. 207, 208, 209, 210 Omerzu, H. 131 Oorschot, J. van 66 Ostmeyer, K.-H. 337 Overbeck, F. 41, 312, 313, 317 Overman, J.A. 95, 96, 97, 98, 119, 122, 123, 127 Pannenberg, W. 23 Patmore, H.M. 255 Paulsen, H. 259 Peddinghaus, C. D. 186 Pentiuc, E.J. 141 Pesch, R. 77 Petzke, G. 336, 349 Petzoldt, M. 32 Pleger, W. 329 Plümacher, E. 89, 90 Pokorný, P. 364 Popa, R. 97, 121, 127, 242, 247, 252, 254, 267, 268, 270, 274, 276, 297, 298, 374

437

Popkes, W. 257, 258 Poplutz, U. 12, 87, 88, 304 Porter, S.E. 195 Powell, M.A. 13 Pratscher, W. 102, 119 Radl, W. 367 Rastoin, M. 141 Reeder, C.A. 359, 360 Reemtsma, J.Ph. 44 Reimarus, H.S. 20 Reinhartz, A. 101, 110, 121, 122 Reinmuth, E. 66 Reiser, M. 131, 132, 142, 161, 311, 312 Rengstorf, K.H. 112 Reynolds, B.E. 101 Rhoads, D. 12 Ricœur, P. 63, 281 Riebl, M. 303 Ritter, A.M. 133 Robinson, J.M. 143, 155, 160 Roetzel, C.J. 100 Roger, M. 224 Roloff, J. 26, 266, 281, 295, 381 Rorty, R. 58, 59 Rosa, H. 51–56 Rothschild, C.K. 140 Rouwhorst, G.A.M. 375 Rüggemeier, J. 83, 199, 206 Rüpke, J. 366 Runesson, A. 95, 96, 105, 246 Rutherford, I.C. 362 Ryökäs, E. 166, 314 Sader, H. 163 Sänger, D. 237, 374, 375 Saldarini, A. J. 96, 97, 98 Sand, A. 244 Sandnes, K.O. 375 Sasse, M. 245 Savigny, E. von 343 Schadewaldt, M. 367 Schadewaldt, W. 367 Schäfer, E. 368 Schäfer, G.K. 165, 166 Schäfer, K.-H. 362 Schaller, B. 78 Scheffel, M. 136 Scheffler, E. 326

438 Scheler, M. 52 Schenke, L. 13, 178 Scherer, H. 199 Schimanowski, G. 245 Schirlitz, S.C. 361 Schlenke, D. 72, 180, 244, 351, 386 Schmauch, W. 258 Schmid, K. 58, 106 Schmidt, A. 49 Schmidt, E.D. 25, 26, 78 Schmidt, K.M. 85 Schmithals, W. 77, 226, 315, 330, 339, 348 Schmitt, H. 49 Schneider, G. 90, 364, 378 Schneider-Harpprecht, C. 31 Schnelle, U. 13, 100, 102, 103, 131, 135, 142, 143, 159, 256, 265, 269, 275, 277, 354 Schniewind, J. 24 Schönberger, O. 368 Schopenhauer, A. 28 Schottroff, L. 207, 209, 210, 286, 333, 337 Schottroff, W. 210 Schrage, W. 166 Schramm, C. 82, 230, 323 Schramm, T. 208 Schreiber, S. 217 Schreiner, P. 14 Schröder, B. 132 Schröder, J. 51 Schröter, J. 25, 78, 101, 140, 237, 375 Schudoma, I. 367 Schulten, A. 145 Schulz, S. 15 Schulzki, H.-J. 145 Schumacher, T. 377 Schweitzer, A. 20, 26 Schweitzer, E. 356 Schwemmer, O. 49 Schwöbel, C. 32 Scott, R. 181, 182 Segal, A.F. 96 Seifert, A. 85 Seifrid, M. 117 Seleznev, M. 87, 98, 241, 243, 250, 259, 265, 269, 273, 276, 278, 299, 377 Sellin, G. 192, 253, 334, 335

Register Sick, F. 80, 143, 148, 223 Sim, D.C. 85, 95, 96, 97, 98, 99, 123, 131 Simmen-Host, A. 173, 183, 232, 233 Smith, J.M. 154, 226 Söding, T. 75, 76, 107, 137, 140, 155, 165, 183, 195, 203, 226, 234, 298, 323 Somov, A. 299, 303 Spieckermann, H. 66, 76, 265, 353, 378 Squires, J.T. 351 Stare, M. 346 Starnitzke, D. 166 Stegemann, W. 17 Stern, D. 208 Stone, M.E. 120, 124, 125 Strecker, C. 17, 316 Striet, M. 105 Strohm, Th. 165, 166 Strotmann, A. 113 Stylianopoulos, Th.G. 141 Taeger, J.-W. 335, 352 Talbert, R. 143 Tamási, B. 125 Tejerina, G. 203 Telesko, W. 232, 233 Thatcher, T. 101 Theißen, G. 25, 26, 78, 132, 162, 180 Thiede, C.P. 369 Thoma, C. 208 Thompson, E.F. 320 Tillich, P. 31 Tilly, M. 273 Tiwald, M. 148 Tsalampouni, E. G. 141, 164 Tuckett, C.M. 153, 218, 353 Ulrich, J. 133 Vahrenhorst, M. 265, 269 Van Belle, G. 153, 218 Van Oyen, G. 141, 142, 153, 158, 218 Van Segbroeck, F. 153, 218 Van Wiele, I. 375 van Wieringen, A. 375, 377 Vander Stichele, C. 375, 377 Verburg, W. 367 Verheyden, J. 101, 153, 156, 218

Autorinnen und Autoren Vielhauer, Ph. 313 Vogel, M. 258 Volpi, F. 361 Vouga, F. 192, 196, 266 Wabel, T. 147 Wald, B. 75, 137 Waldenfels, B. 28, 49 Wanning, B. 45 Wauters, A. 218 Wechsler, A. 117 Weder, H. 257, 266, 335 Weeden, Th. 77 Wehde, C. 23 Weidemann, H. 44 Weigandt, P. 143 Weihs, A. 208 Weiser, A. 15, 165 Weiß, K. 86 Weisse, C.H. 17 Weissenrieder, A. 176 Welker, M. 75 Wendte, M. 35 Wengst, K. 26, 74, 78, 256, 260, 262, 266 Wénin, A. 141 Werner, M. 131

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Werner, S. 23 Wischmeyer, O. 85, 99, 131 Wieland, W. 28 Wiesing, L. 51 Wilk, F. 243 Willett, T.W. 123, 125 Winter, D. 26 Witherington, B. 13 Wlosok, A. 378 Wolter, M. 38, 83, 89, 90, 91, 100, 102, 183, 300, 313, 314, 315, 317, 327, 331, 332, 333, 339, 341, 355, 359, 371, 377 Wrede, W. 20, 230, 231, 233, 321 Wright, A. 14 Wright, N.T. 265 Wright, T. 25 Wyschogrod, M. 208 Yusta, J. 203 Zangenberg, J. 148, 217 Zetterholm, M. 93, 94, 95 Zimmermann, B. 362 Zimmermann, R. 153, 196, 203, 207, 281, 286, 331, 337, 345, 347