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German Pages [389] Year 2021
Format: Bez.155x232, Aufriss: CPI
34 mm
Der Herausgeber Dr. theol. Gunther Wenz ist Professor em. für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München und Leiter der Wolfhart-Pannenberg- Forschungsstelle an der Hochschule für Philosophie in München.
PSt 8
Gunther Wenz (Hg.)
Theologie der Religionsgeschichte Zu Wolfhart Pannenbergs Entwurf
Früh schon hat Wolfhart Pannenberg (1928–2014) das Programm von »Offenbarung als Geschichte« zu einer Theologie der Religionsgeschichte ausgestaltet. Zentrale Aspekte des Konzepts und seiner Durchführung werden in dem Sammelband unter Berücksichtigung aktueller Debatten t hematisiert, wobei dem Verhältnis der christlichen zur israelitisch-jüdischen Religion besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Band 8
Wenz (Hg.) Theologie der Religionsgeschichte
Pannenberg-Studien
ISBN 978-3-525-57324-2
9 783525 573242
9783525573242_Wenz_Religionsgeschichte.indd Alle Seiten
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Pannenberg-Studien
Band 8
Herausgegeben von Gunther Wenz
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Gunther Wenz (Hg.)
Theologie der Religionsgeschichte Zu Wolfhart Pannenbergs Entwurf
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wolfhart Pannenberg © Hilke Pannenberg
Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2367-4369 ISBN 978–3–666–57324–8
Inhalt
Gunther Wenz Vorwort................................................................................................
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Jörg Dierken Heilsgeschichte, Religionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte. Probleme und Perspektiven christlichen Geschichtsdenkens ....................... 17 Joachim Ringleben Gibt es eine Logik der Religion? Rohgedanken zu einer Theologie der Religionsgeschichte (im Anschluss an den gleichnamigen Vortrag von Wolfhart Pannenberg) .......................................................... 35 Thomas Oehl Thesen gegen Feuerbach. Systematische Überlegungen zu Pannenbergs Auffassung der Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses ................................. 53 Manuel Zelger Gott oder Religion. Ein Vorschlag zur Überwindung des Streits über den Gegenstand theologischer Theoriebildung in kritischer Auseinandersetzung mit Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte...... 85 Friedemann vom Dahl Einwanderung ins Profane. Religionsgeschichte als Prozess auf dem Weg zu vernünftiger Freiheit bei Jürgen Habermas und Wolfhart Pannenberg........................................................................................... 123 Paul Schroffner Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis. Zur Bedeutung der Religionen als Wege der Gotteserkenntnis bei Wolfhart Pannenberg und Karl Rahner .................................................................. 151 Josef Schmidt Die Christologie als konstitutive Erfüllung der Religions- und Weltgeschichte. Ein Mitdenken mit Wolfhart Pannenberg ........................... 187
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Inhalt
Michael Murrmann-Kahl Die Bedeutung der Religionskritik bei Wolfhart Pannenberg und Falk Wagner. Eine Spurensuche ............................................................... 197 Malte Dominik Krüger Die klassische Metaphysik der Griechen bei Wolfhart Pannenberg. Beobachtungen ausgehend von seiner Theologie der Religionsgeschichte ...... 215 Felix Körner Der Islam in der Religionstheologie Wolfhart Pannenbergs ......................... 243 Gunther Wenz Erhebung zum Erhabenen. Die israelitisch-jüdische Religion bei Hegel, Vatke und im Pannenbergkreis ...................................................... 267 Autorenverzeichnis ................................................................................ 389
Gunther Wenz
Vorwort
Wer beim Stichwort Berlepsch an eine Apfelsorte denkt, beweist botanische Bildung. Ihren Namen hat die den Goldrenetten zugehörige Frucht von Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, einem ehemaligen Düsseldorfer Regierungspräsidenten und Spross eines niedersächsischen Adelsgeschlechts, zu dessen Stammsitz ab dem 14. Jahrhundert Schloss Berlepsch bei Witzenhausen an der Werra geworden war. Das Stammwappen derer von Berlepsch zieren fünf grüne Sittiche mit roten Halsbändern, mit welcher Feststellung die Verbindung von Botanik und Zoologie hergestellt und zugleich die Möglichkeit eröffnet ist, an Hans Sittich von Berlepsch zu erinnern, der als Kommandant auf der Wartburg amtierte, als Martin Luther dort nach dem Wormser Reichstag aus sicherheitspolitischen Gründen einquartiert war. Nebenbei zu gedenken ist fernerhin eines späteren Namensvetters des Burgamtmanns von Junker Jörg, Hans Sittich Graf von Berlepsch, der, wie man bei Wikipedia erfährt, A. D. 1980 auf dem ehrwürdigen Stammsitz der Seinen eine Begegnungsstätte von Baghwananhängern gegründet haben soll, womit neben botanischen und zoologischen auch noch religionsgeschichtliche Berlepschbezüge hergestellt wären. Um die Religion und ihre geschichtlichen Erscheinungsgestalten ging es an Ort und Stelle im Übrigen schon von Einrichtung von Hans Sittichs Sannyasinzentrum, z. B. im Zusammenhang einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Tagung von Altorientalisten, Altphilologen, Althistorikern und Theologen, die vom 22. bis 24. Oktober 1962 auf Schloss Berlepsch stattfand. Thema war das Verhältnis der vorderorientalischen Religionsgeschichte zur historischen Theologie.1 Wolfhart Pannenberg hielt damals einen programmatischen Vortrag, der in überarbeiteter Form unter dem Titel „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ im 1967 erschienenen ersten Band der „Grundfragen systematischer Theologie“ erstmals publiziert wurde.2
1 Informationen zu den Teilnehmern und zu einem Gruppenfoto, das Mitglieder des Pannenbergkreises auf der Berlepsch’scher Schlosstreppe zeigt, finden sich in: G. Wenz, Pannenbergs Kreis. Genese und erste Kritik eines theologischen Programms, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018 (Pannenberg-Studien Bd. 4), 17–57, hier: 22f. 2 W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen3 1979, 252–295. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf; zum Anlass des Artikels vgl. 252 Anm. 1.
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Die Leitthese des Textes lautet: „Die Endgültigkeit der christlichen Offenbarung kann nicht als supranaturale Voraussetzung einleuchten, sondern nur dann, wenn sie sich im Rahmen eines unbefangenen Verständnisses des Gesamtprozesses der allgemeinen Religionsgeschichte ergibt.“ (255) Die Supranaturalismuskritik richtete sich v.a. gegen die damals herrschende „Dialektische Theologie“ bzw. „Theologie des Wortes Gottes“. „Je länger die Theologie“, so Pannenberg, „auf einem kerygmatischen Ansatz, der keine Befragung des Kerygmas selbst auf seine Wahrheit mehr erlaubt, beharrt, je länger sie sich den drängenden Fragen an das Christentum als Religion unter Religionen… verweigert, desto größer muß die Verwüstung sein, die sie beim Erwachen aus ihren kerygmatischen Träumen vorfinden wird.“ (253) Eine Position, „die den Feuerbachschen Illusionismus zu Hilfe ruft, um sich die Konkurrenz der anderen Religionen vom Halse zu schaffen, für die christliche aber – gegen die Feuerbachs Kritik sich hauptsächlich richtete – einen nichtreligiösen Status postuliert“ (ebd., Anm. 5), sei unhaltbar und könne nicht überzeugen. Konstruktiv folgert Pannenberg aus seiner Kritik der zeitgenössischen Theologie die Notwendigkeit einer Theologie der Religionsgeschichte, „die ihre christliche Perspektive nicht verleugnet, aber ihre christlichen Voraussetzungen auch nicht als Argumente verwendet, sondern sich auf phänomenale Sachverhalte beruft“ (256). Eine Theologie der Religionsgeschichte hat sich nach Pannenberg an phänomenalen Sachverhalten zu orientieren statt supranaturale Prämissen zu ihren unbefragten Voraussetzungen zu erklären. Es bestehe guter Grund zu der Annahme, dass eine phänomenale Analyse und „eine Untersuchung der Funktion des Christentums im historischen Prozeß der Religionsgeschichte auch ohne supranaturale Voraussetzungen geeignet ist, die Eigentümlichkeit des Christentums im Kreise der übrigen Religionen zu erhellen“ (256f.). Methodisch gelte, dass Phänomenanalyse und geschichtliche Untersuchung nicht zu trennen seien. Wer in Bezug auf Religion und Religionen phänomenale Sachverhalte zu erheben sich anschicke, der dürfe „die Dimension des geschichtlichen Werdens und Wandels“ (257) nicht ausblenden und sich auch nicht auf bloße Strukturvergleiche nach Muster der Analogie beschränken. Der Kampf gegen die Allmacht der Analogie im Wissenschaftsbetrieb durchzieht Pannenbergs Gesamtwerk von Anfang an. Dass ein Analogieschluss nur möglich sei unter der Voraussetzung eines univoken logos analogans, war eine der Grundeinsichten bereits seiner Habilitationsschrift.3 Es sei ein Irrtum zu meinen, die Analogie bilde die Mitte zwischen Univokation und Äquivokation und bringe Identität und Differenz zu einem stimmigen Ausgleich. In Wahrheit laufe sie auf eine
3 Vgl. im Einzelnen G. Wenz, Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie, in: ders. (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017 (Pannenberg-Studien Bd. 3), 13–47, bes. 29ff.
Vorwort
Unterbestimmung des Differenzmoments und auf eine tendenzielle Gleichschaltung von Andersheit zugunsten eines strukturell Immergleichen hinaus. Verhindert werden könne diese in der „analogen“ Methodik angelegte Entwicklung nur durch eine konsequente historische Betrachtung, die dem Konkreten in seiner unvergleichlichen Singularität Rechnung trage und sich nicht ihrerseits der Herrschaft der Analogie unterwerfe. Nachweise analoger Strukturen bleiben für den Religionsvergleich und für die vergleichende Religionsgeschichte nach Pannenberg von Bedeutung, solange sie sich nicht gegen den historischen Prozess und die durch ihn bewirkten Verwandlungen immunisierten. Dies gelte auch in Bezug auf die These, wonach Religion ein anthropologisches Universale sei und zur Natur des Menschen gehöre. Pannenberg vertritt diese Annahme, aber unter einem entscheidenden Vorbehalt: „Alle Anthropologie, die sich der Geschichtlichkeit des Menschen in ihrem radikalen Sinn stellt, muß zuletzt ausmünden in die Interpretation der konkreten Geschichte menschlicher Individuen im Zusammenhang ihrer Gemeinschaften, samt deren Traditionen, Lebensformen und Erfahrungen, und im Ganzen der Menschheitsgeschichte. Denn erst historische Darstellung kommt dem konkreten Lebensvollzug des Menschen so nahe wie überhaupt möglich. Ihr gegenüber bleibt alle allgemeine Anthropologie, sei sie nun biologisch, psychologisch oder soziologisch orientiert, eine vorläufige Abstraktion, die zwar als erste Näherung für ein Verstehen menschlichen Verhaltens unumgänglich ist, die jedoch nur vorbereitenden Charakter haben kann und zum Moment einer Geschichtsdarstellung werden muß, wenn die Wissenschaft vom Menschen den konkreten Vollzug menschlichen Daseins erreichen will. Daher ist Geschichtsschreibung zur Vollendung der anthropologischen Aufgabe, soweit sie überhaupt menschenmöglich ist, berufen. Und so muß auch die mit den Methoden der Phänomenologie auszuarbeitende Anthropologie der Religion durch die Darstellung und Interpretation der Religionsgeschichte vollendet werden.“ (262)4 Wie die Religionsgeschichte darzustellen und zu interpretieren sei, damit die Anthropologie der Religion sich in ihr vollende und eine theologisch relevante Einsicht erschlossen werde, ist im Berlepsch’schen Vortrag vom Herbst 1962 in Grundzügen skizziert. Entscheidend sind die Fragen nach der Einheit der Religionsgeschichte und ihrer Entwicklung, nach der Bemessungsgrundlage möglichen Fortschritts sowie nach dem Ziel, auf welches der religionsgeschichtliche Prozess ausgerichtet ist, um sich in einem integren Ganzen zu vollenden. Diese Integrität schließt nach Pannenbergs die „Verschmelzung ursprünglich heterogener Elemente“ (269) nicht aus, sondern ein, wie sich am israelitischen Gottesgedanken paradigmatisch erweisen lasse, der keinen vermeintlichen Monotheismus zur mythischen Basis
4 Zur Entfaltung des skizzierten Programms vgl. im Detail: G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel, Göttingen 2021 (Pannenberg-Studien Bd. 7).
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habe, sondern erst im Laufe der Religionsgeschichte Israels ausgebildet worden sei. Auch die Ausbildung des Christentums vollzog sich im Laufe eines Prozesses, den synkretistisch zu nennen Pannenberg sich nicht scheut. Im Gegenteil: „Darin daß das Christentum in besonderem Maße synkretistisch ist, äußert sich … nicht etwa eine Schwäche, sondern die einzigartige Kraft des Christentums.“ (270, Anm. 33) Der religionsgeschichtliche Prozess ist nach Pannenberg auch heute noch nicht zu jenem integren und systematischen Ganzen gediehen, auf das er angelegt ist und worauf die einzelnen Religionen aktuell vorgreifen, indem sie ihren Wahrheitsanspruch erheben. Die Einheit der Religionsgeschichte ist entsprechend kein fixes Datum, sondern eine Gegebenheit, die nur in, mit und unter dem im Gang befindlichen Wettstreit der Religionen um das Gesamtverständnis der Wirklichkeit zutage tritt. „Erst durch die Konkurrenz der verschiedenen Religionen, die aus einer unter geeigneten Bedingungen erfolgenden Kollision ihrer universalen Sinnintentionen hervorgeht und die mit den Anläufen zur politischen und oekonomischen Integration der Menschen Hand in Hand geht, erwächst eine gemeinsame Geschichte der Religionen.“ (274) Daraus folgt: „Die Einheit der Religionsgeschichte ist … nicht an ihren Anfängen, sondern eher an ihrem Ende zu suchen.“ (Ebd.) Nicht nur mit dieser These schließen Pannenbergs „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ an die Konzeption von „Offenbarung als Geschichte“ an, dessen Programm sie durchweg verfolgen5 : Dies wird in dem Abschlussteil des Berlepsch’schen Vortrags über den Wirklichkeitsbezug religiöser Erfahrung und seine Bedeutung für das Verständnis der Religionsgeschichte noch einmal eindringlich verdeutlicht. Erneut wird auf die anthropologische Basis einer Theorie der Religionsgeschichte abgehoben und geltend gemacht, dass das Verständnis des Menschen und der Bedeutung der Religionen für ihn nur im umfassenden Horizont der Geschichte erhoben werden kann: „In der Iteration immer erneuter kritischer Revision jeder ihrer Stufen ist die Religionsgeschichte der unendliche Weg, auf dem die unendliche Bestimmung des Menschen für den unendlichen Gott der ihr gemäßen Verwirklichung entgegengeht, in dem sie sogar zur Erscheinung kommt – entgegen dem Selbstbewusstsein der Religionen.“ (288) Ausdrücklich konstatiert Pannenberg, das dieser Satz nur „unter der Voraussetzung der Wirklichkeit des unendlichen Gottes“ (ebd.) zu halten sei, ohne welche es sinnlos wäre, „die Religionsgeschichte als das Zur-Erscheinung-Kommen der Bestimmung des Menschen für diesen Gott zu denken. Das zu tun, setzt daher die Erscheinung – und zwar die definitive Erscheinung, das ist die Offenbarung – der göttlichen Wirklichkeit als unendlicher voraus. Es mag scheinen, dass der bloße Gedanke einer definitiven Erscheinung Gottes in der Endlichkeit bereits in hoffnungslosen Widerspruch mit der vorhin betonten Geschichtlichkeit auch
5 Vgl. G. Wenz, Vorwort, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, 9–15.
Vorwort
der religiösen Erfahrung und ihrer Unabschließbarkeit verstrickt wäre. Aber in Wahrheit ist gerade die Erscheinung der göttlichen Wirklichkeit als unendliche – wenn sie in der Endlichkeit stattfinden kann – die einzige, die definitiven Charakter hätte, weil sie die Offenheit der Zukunft, die Unabschließbarkeit der Geschichte der Menschheit auch sogar hinsichtlich ihrer Gotteserkenntnis nicht verstellen, sondern vielmehr eröffnen würde.“ (288)6 Fast auf den Tag genau 58 Jahre nach der Tagung auf Schloss Berlepsch im Werratal, anlässlich derer Pannenberg seine Konzeption einer Theologie der Religionsgeschichte vorgestellt hatte, sollte am 23./24. Oktober 2020 an der Münchner Hochschule für Philosophie in gewohnter Form ein Kolloquium zum Thema stattfinden. Es musste coronabedingt abgesagt werden. Dennoch werden dank der Bereitschaft der Beteiligten die geplanten Vorträge mit einer Ausnahme dokumentiert werden und zwar ungefähr in der für die Münchner Tagung vorgesehenen Reihenfolge. Gleichheit in der formalen Gestaltung wurde nicht erzwungen; der Aufwand, der in dieser Hinsicht gelegentlich getrieben wird, steht zumeist in keinem angemessenen Verhältnis zum inhaltlichen Ertrag. Ermöglicht wurde die Publikation wie die aller bisher erschienenen Pannenberg-Studien durch einen Druckkostenzuschuss der Hilke und Wolfhart Pannenberg-Stiftung, der auch die Finanzierung der sonstigen Aktivitäten der Pannenberg-Forschungsstelle zu danken ist. Die ersten vier Texte des Bandes sind sehr grundsätzlich angelegt und auf Zentralprobleme ausgerichtet, die jeder Entwurf einer Theologie der Religionsgeschichte zu bedenken hat. Jörg Dierken, Halle, fragt nach erfolgter Typisierung christlichtheologischer Geschichtskonzeptionen in systematischer Absicht nach dem Verhältnis von christlichen Grundmotiven und modernem Geschichtsdenken; Joachim Ringleben, Göttingen, sucht unter explizitem Bezug auf Hegel und auf Pannenbergs Auseinandersetzung mit dessen Entwurf nach einer möglichen Logik der Religion in der geschichtlichen Entwicklung ihrer Erscheinungsgestalten. Systematische Überlegungen zu Pannenbergs Auffassung der Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses in kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit Feuerbachs Projektionstheorie bietet Thomas Oehl, München, während Manuel Zelger, ebenfalls München, im Diskurs mit Pannenberg und Hegel in Grundzügen einen allgemeinen Theorierahmen zur Verhältnisbestimmung von Geschichte, Religion und Theologie zu skizzieren sucht. Zwischengeschaltet ist sodann ein Beitrag von Friedemann vom Dahl, Hofheim, der als Abendvortrag aus aktuellem Anlass gedacht war und die als Genealogie nachmetaphysischen
6 Zum konzeptionellen Zusammenhang der Pannenberg’schen „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ mit den 1964 publizierten „Grundzügen der Christologie“ vgl. die Beiträge in: G. Wenz (Hg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2021 (Pannenberg Studien 6).
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Denkens angelegte zweibändige Philosophiegeschichte von Jürgen Habermas aus dem Jahr 2019 thematisiert. In seinem philosophiehistoriographischen Großprojekt erörtert Habermas die okzidentalen Konstellationen von Glauben und Wissen und die geschichtlichen Phasen der Debatte über sie in der Absicht, vom religiösen Traditionserbe einen kritisch-konstruktiven Gebrauch zu machen und zwar, wie es ausdrücklich heißt, unter nachmetaphysischen Bedingungen, die der Theoretiker kommunikativen Handelns für prinzipiell gegeben erachtet. 7 Pannenberg hätte dieser Diagnose und der Habermas’schen Verabschiedung des Gottesgedankens dezidiert widersprochen. Dass ohne diesen und ohne entsprechende metaphysisch-ontotheologische Erwägungen nach Pannenbergs Urteil auch keine angemessene Theologie der Religion und ihrer Geschichte zu gestalten ist, zeigen je auf ihre Weise die Beiträge von Paul Schroffner, Rom, und Josef Schmidt, München: Schroffner stellt Bezüge zum Zusammenhang von Religionsgeschichte und Gotteserkenntnis bei Karl Rahner her, Schmidt arbeitet den elementaren Bezug von Christologie und Theologie der Religionsgeschichte heraus, der durch die Tatsache unterstrichen wird, dass Pannenbergs Berlepsch’scher Erwägungen schon unter chronologischen Gesichtspunkten seinem Christologieentwurf nahestehen. Ohne den Gottesgedanken lässt sich keine Theologie der Religionsgeschichte konzipieren, wurde gesagt. Die Anfragen radikalgenetischer Religionskritik werden angesichts dessen umso dringlicher. Michael Murrmann-Kahl, Neustadt/ Donau, erörtert sie unter Bezug auf Pannenberg und Falk Wagner und gibt damit erneuten Anlass, Konzeptionsfragen prinzipiell zu bedenken. Theologie ist Wissenschaft von Gott, Religion menschliche Gottesbeziehung bzw. ein Verhältnis von Menschen zu einem fundierenden Grund und Sinnziel von Selbst und Welt, Geschichte ein zeitlich bestimmter, aber auch Raumbezüge enthaltender Entwicklungsverlauf, mit dem Kontinuität und differenzierte Einheit sowie ein Unterschied zu demjenigen assoziiert wird, was gewöhnlich Natur heißt. Alle diese Bezüge müssen im Einzelnen erwogen sein, wenn Überlegungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte angestellt werden. Zusätzlicher Erörterungen bedarf das Kompositum „Religionsgeschichte“. Der Begriff selbst hat eine Geschichte und ist in seinem professionellen Gebrauch „vergleichsweise jungen Datums“8 und von Beginn seiner wissenschaftlichen Verwendung mit dem Problem verbunden, wie der Zusammenhang der in ihm ver-
7 Vgl. J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019. Dazu: G. Wenz, Genealogie nachmetaphysischen Denkens. Zur Philosophiegeschichte von Jürgen Habermas, in: KuD 66 (2020), 343–354. 8 Vgl. B. Maier, Art. Religionsgeschichte (Disziplin), in: TRE 28, 576–585, hier: 576. Ferner: D. Kemper, Art. Religionsgeschichte I, in: HWPh 8, Sp. 731–733. Zwar ist das Doppelwort „historia religionis“
Vorwort
bundenen Termini präzise zu bestimmen sei. Implizit scheint das Doppelwort vorauszusetzen, das Religion keine unmittelbare Ursprungsgegebenheit, sondern ein vermitteltes und daher in pluralen Erscheinungsformen auftretendes Phänomen darstellt, dem in allem Wechsel und Wandel dennoch eine Identität zukommt, die ihm eigentümlich ist. Was hinwiederum die Eigentümlichkeit der Religionsgeschichte im Vergleich zur Historie im Allgemeinen angeht, so besteht ihre spezifische Differenz offenbar darin, dass in ihr das religiöse Verhältnis manifest und die Geschichte mit einem Bewusstsein ihres Gottesbezug bzw. ihrer Unbedingtheitsdimension versehen ist. Wie eine Konzeption der Religionsgeschichte auszusehen hat, ist eine Frage, die erwartungsgemäß unterschiedlich beantwortet wird. Die Aufgabe, der sich traditionell neben der Theologie die Philosophie angenommen hat, kompliziert sich, je komplexer sich die historischen Forschungen gestalten. Bereits in Hegels Philosophie der Religionsgeschichte haben sie zu ständigen Neuansätzen in der Formierung des religionsgeschichtlichen Prozesses und zu wiederholten Umgestaltungen der Sukzessionsreihe der Einzelreligionen geführt, deren interne Geschichte der spekulative Philosoph noch souverän meinte vernachlässigen zu können, was unter gegenwärtigen Bedingungen sicher nicht mehr möglich ist. Ist damit der Anspruch, die Historie der Religionen gedanklich zu ordnen, generell preisgegeben? Soll man es bei einem bloßen Neben- bzw. Nacheinander religiöser oder religionsanaloger Erscheinungen belassen, ohne nach ihrer Stellung in einem vernünftig strukturierten Sinnganzen zu fragen? Eine solche Entscheidung würde dem Sinnverlagen, welches das religiöse Bewusstsein seinem Wesen nach kennzeichnet, diametral entgegengesetzt sein. Nimmt man Religion als Religion ernst, wird man dieses Unterfangen daher als unsachgemäß ablehnen müssen und nicht umhin kommen, die Welt der Religionen nicht dem Chaos zu überlassen, sondern als einen Sinnkosmos zu betrachten, dem eine Ordnung eignet, die als religionsspezifische nicht natürlich, sondern geschichtlich verfasst ist. Ob deshalb die Chronologie die Bemessungsgrundlage religionsgeschichtlicher Ordnung darstellt, muss im Einzelnen bedacht werden. Hegel etwa hat seine Philosophie der Religionsgeschichte eher nach religionsgeographischen Gesichtspunkten geordnet, nämlich als eine von Osten nach Westen verlaufende Entwicklung. Auch wenn man diesem Konzept nicht folgt, sondern einer zeitlichen Strukturierung den Vorzug gibt, ist damit noch keineswegs ausgemacht, dass eine später in Erscheinung tretende Religion höherwertiger sein muss als eine frühere. Ohnehin ist zu bedenken, dass Religionen von aktueller Lebendigkeit stets in einer Fortentwicklung ihrer selbst begriffen sind, die definitive Festlegungen als fraglich erscheinen lassen.
„schon im 16. Jh.“ (731) belegt, aber wissenschaftliches Format nimmt es erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts an.
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Auch unter diesem Gesichtspunkt ist nicht auszuschließen, dass ältere Religionen jüngere überholen und sich als fortschrittlicher und fortgeschrittener erweisen als diese. Ohne Sinnzusammenhänge gedanklicher Art in Anschlag zu bringen, dürften sich weder die Einzelreligionen noch ihr Verhältnis zueinander sinnvoll begreifen lassen, womit nicht gesagt ist, dass sich die religionsgeschichtlichen Erscheinungen in der Totalität ihrer Formationen abschließend auf den Begriff bringen lassen. Gleichwohl ist auf der Logosförmigkeit der Religion(en) zumindest unter christlichen Bedingungen zu bestehen, was Malte Dominik Krüger, Marburg, an der Aufnahme altgriechischen Denkens bei Pannenberg eindringlich exemplifiziert hat. Sein Beitrag belegt ein weiteres Mal, dass die Pannenberg’sche Theologie der Religionsgeschichte strukturell durchsichtig entworfen ist. Zu einer detaillierten Durchführung des Programms mittels eingehender Studien zu Einzelreligionen ist es dagegen nicht bzw. nur in Ansätzen gekommen. Neben Judentum und Christentum wird nur der Islam als dritte Repräsentationsgestalt des Monotheismus religionsgeschichtlich näher in Betracht gezogen. Dabei sind die Bezüge zur muslimischen Tradition vergleichsweise marginal. Drei Glaubensartikel erkennt Pannenberg als Hauptstreitpunkte im islamisch-christlichen Dialog, wie Felix Körner, Berlin, herausstellt: Gott als ewiger Vater Jesu Christi, Christus als definitive Offenbarung Gottes sowie die Kirche als unterschieden von der politischen Ordnung. Körners Beitrag erweist diese Eingrenzung als treffend, arbeitet aber auch die den Streitpunkten zugrundeliegenden Unterschiede heraus, nämlich im Geschichts-, Erlösungs- und Personalitätsverständnis. Ungleich elaborierter als die Bezugnahmen des christlichen Theologen auf den Islam sind diejenigen auf die jüdische Religion. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Pannenbergs Verständnis der Religion Israels und des Judentums schlechterdings basal sowohl für sein Christentumsverständnis als auch für seine theologische Deutung der Religionsgeschichte insgesamt ist. Der Umfang der Untersuchung des Herausgebers zur israelitisch-jüdischen Religion bei Hegel, beim Hegelschüler Wilhelm Vatke und im Pannenbergkreis möge sich u. a. daraus erklären. Zwei weitere Rechtfertigungsgründe seien angefügt: Der eine betrifft die Notwendigkeit einer möglichst präzisen Klärung des Verhältnisses des Pannenbergkreises zu Hegel und seiner Schule, ohne welche die Erwägungen zur Theologie der Religionsgeschichte von 1962 nicht angemessen zu würdigen sind, worauf auch andere Autoren im vorliegenden Sammelband hingewiesen haben; der andere hat es mit den elementaren Wandlungen zu tun, die in Bezug auf die alttestamentliche Wissenschaft seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu registrieren sind. Für Pannenberg und seinen Kreis hatte, wie ich im Detail zu zeigen versuche, die Wissenschaft des Alten Testaments bzw. der Religionsgeschichte Israels und des Judentums auch in systematisch-theologischer Hinsicht eine Leitfunktion. Umso dringlicher stellt sich
Vorwort
die Frage nach der rückwirkenden Virulenz ihrer seither erfolgten Transformationen für das Programm von „Offenbarung als (Religions-)Geschichte“. Das von Albrecht Alt und seinen Schülern entwickelte Bild der Frühgeschichte Israels und der traditionsgeschichtlichen Entwicklung des Alten Testaments gehört nach Urteil vieler heutiger Fachvertreter der „Forschungsgeschichte“ 9 an. Die Landnahme der Israeliten, wenn man sie überhaupt noch so nennen will, habe allmählich und bruchlos stattgefunden. Der ethnische und religiöse Antagonismus von Israel und Kanaan sei „ein Phanthom“ (49). Der Alt’sche Gott der Väter gehöre nicht der Patriarchenzeit an, sondern entstamme den religiösen Verhältnissen in der jüdischen Diaspora. Völlig obsolet geworden sei die Amphyktioniethese Martin Noths, da die ältesten Belege für das Zwölf-Stämme-System Israels nicht der vorstaatlichen, sondern einer sehr viel späteren Zeit angehörten. Die Reihe der aktuell geltend gemachten Einwände ließe sich unschwer fortsetzen. Sie betreffen auch das überlieferungsgeschichtliche Konzept der „Theologie des Alten Testaments“ Gerhard v. Rads, an das die Vertreter des Programms von „Offenbarung als Geschichte“ 1961 „mit Emphase“10 angeknüpft haben. Um einen emeritierten Fakultätskollegen, Christoph Levin, zu zitieren: „Der Exegese ist die historische Einzigartigkeit der Religion Israels, auf deren Ursprung gesehen, abhanden gekommen. Die Feststellung Wolfhart Pannenbergs: ‚Die Erkenntnis, daß Israel innerhalb der Religionsgeschichte einen singulären Ort einnimmt durch ein geschichtliches Bewußtsein, ist Gemeingut der Forschung‘, hat sich in ihr Gegenteil gekehrt: Gemeingut der Forschung ist oder ist im Begriff zu werden, dass das vorexilische Israel innerhalb der Religionsgeschichte des Alten Vorderen Orients keinen singulären Ort eingenommen hat.“11 Hatte das von der Literarkritik im Umkreis von Julius Wellhausen „als Rückprojektion des nachexilischen Judentums entschlüsselte vorstaatliche Gottesvolk“ (47) bei Alt, Noth und v. Rad auf die eine oder andere Weise „seine Auferstehung“ (ebd.) erlebt, um als singuläre historische Erscheinung behauptet und ihrer Relativierung durch die Religionsgeschichtliche Schule entnommen zu werden, so gilt nun die altisraelitische Religion für die Mehrzahl der Forscher als eine Spielart der altorientalischen Religionen der Umwelt, die ebenso wenig aufsehenerregend
9 Chr. Levin, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, in: KuD 57 (2011), 41–55, hier: 49. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf. Vorgetragen wurde der Text am 9. Juli 2010 vor der Evangelisch-Theologisch Fakultät der Universität München. 10 Ders., Das Alte Testament auf dem Weg zu seiner Theologie, in: ZThK 105 (2008), 125–145, hier: 127. 11 A.a.O, 125 mit Bezug auf W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte (1959), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, 22–78, hier: 23. Pannenberg sprach von „der heutigen Forschung“ (ebd.).
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sei wie die Geschichte des vorstaatlichen Israels überhaupt. Im Zuge dieser Entwicklung knüpft die alttestamentliche Wissenschaft „in jüngerer Zeit, über Alt und Noth zurückgreifend, wieder bei Wellhausen an, der die Summe der historischen Arbeit des 18. und 19. Jahrhunderts gezogen hat... . Selbst für den ältesten durchlaufenden redaktionellen Zusammenhang im Pentateuch hat sich erwiesen, dass er nicht, wie man bisher dachte, aus der frühen Königszeit stammt, sondern als Ursprungsgeschichte des nachexilischen Judentums entstanden ist.“ (50) Genug damit und zum Schluss nur noch einen Hinweis für Freunde des Details: Levins – Rudolf Smend gewidmetes – Werk „Der Jahwist“ von 199312 befindet sich unter Nr. 03814 in der Pannenberg-Bibliothek und wurde von Pannenberg in Teilen gelesen und am Rand des Textes mit einer Reihe von Fragezeichen versehen. Auf einem beigelegten Blatt sind die wichtigsten Vorbehalte und Bezüge der Kritik notiert: Sie betreffen die Abrahamsverheißung, die Thematik des Gottes der Väter, das Exodusgeschehen, den Vorstellungskomplex der Fremdlingsherrschaft, die angeblich antideuteronomistische Tendenz von J und seinen theologischen Universalismus mit dem Ergebnis, dass Levins Spätdatierung des jahwistischen Geschichtswerks als eines Zeugnisses der babylonischen Judenheit verfehlt und eine Datierung „in salomonischer oder früher Königszeit“, so Pannenberg handschriftlich, nach wie vor wahrscheinlich sei. Der Schlussbeitrag der in diesem Band dokumentierten Texte wird auf die angezeigte Kontroverse in epischer Breite zurückkommen. An dieser Stelle aber sei das Wort dem Autor des ersten Beitrags übergeben und zwar mit der Frage, der er vor einigen Jahren eine eigene Studie gewidmet hat: Gibt es „Fortschritte in der Geschichte der Religion?“13 Die Diskussion ist eröffnet. München, 16. März 2021 12 Chr. Levin, Der Jahwist, Göttingen 1993. Nach Levin ist das jahwistische Geschichtswerk „das älteste Zeugnis der babylonischen Judenheit“ (435). Zum deuteronomistischen Geschichtswerk vgl. ders., Nach siebzig Jahren. Martin Noths Überlieferungsgeschichtliche Studien in: ZAW 125 (2013), 72–92. Nach Urteil Levins stellt das Alte Testament im Wesentlichen die religiöse Überlieferungsliteratur der um ihre staatliche Existenz und ihre staatengeschichtliche Bedeutung gebrachten Religionsgemeinschaft der nachexilischen Judenheit dar. Es „beginnt, wo das Alte Israel endet“ (ders., Das Alte Testament, München 2001, 21). 13 J. Dierken, Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012. Während in der historischen Erforschung der Religionsgeschichte mit Fortschritten zu rechnen sei, provoziert die Fortschrittskategorie nach Dierken erhebliche Kontroversen „im Blick auf das, was Religion als Religion ausmacht“ (237). Als fortschrittstauglich erweise sich eine Religion am ehesten dadurch, dass sie einen konstruktiven Umgang mit der Pluralität virtueller und tatsächlicher religiöser Bezüge in der Menschheitsgeschichte und der aktuellen Gegenwart pflege. Die anzustrebende Problemlösung liege „in der Stärkung reflektierender Urteilskraft, einhergehend mit klarer Artikulation des eigenen Stand- und Sehepunktes mitsamt des hierin positionierten Wollens, das sich offen für die Kritik und Korrektur durch das Wollen der Anderen zeigen muss“ (238).
Jörg Dierken
Heilsgeschichte, Religionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte Probleme und Perspektiven christlichen Geschichtsdenkens1
1.
Geschichte und Gott?
Geschichte zählt zu den elementarsten Themen der Religion Israels und ihrer religionsgeschichtlichen Ausgänge. Gott wirkt in generationenübergreifenden Prozessen, Sinn und Richtung geschichtlicher Ereignisfolgen sind von ihm bestimmt, deren Anfang und Ende sowie Bedingungen und Ziele liegen in seiner Hand. Der Konnex von Gott und Geschichte unterscheidet die von der Religion Israels ausgehenden Religionen von Religionstypen, für die kosmische Strukturen oder zyklische Ordnungen im Mittelpunkt stehen. Hintergründige Gleichförmigkeit der Weltenläufe oder kreisähnliche Figuren des Entstehens und Vergehens bestimmen nicht das Bild des in den heiligen Schriften beschriebenen zeitlichen Geschehens. Neben Differenzen zu fernöstlichen Motiven vom Rad der Zeit markiert das Geschichtsverständnis Israels auch Unterschiede zur zyklischen Kosmosfrömmigkeit der griechischen Antike. Trotz manch ähnlicher Elemente am Rand der auf Israel fußenden Traditionen wie etwa der Weisheit gilt hier als primärer Ort der religiösen Ordnung die linear verlaufende Zeit. Allerdings betrifft dies weniger die gleichsam physikalische Zeitstruktur, sondern zum religiösen Thema wird die Verknüpfung von einzelnen Handlungen und Geschehnissen zu einem sinnbestimmten Ganzen der Verläufe in Gesellschaft und Kultur. Die religiösen Narrative beschreiben einen überzeitlich vorbestimmten Weg von Gott, seinem Volk und der Menschheit durch die Dialektik von Volk und Völkern hindurch. Gott im Zeichen von Geschichte und Geschichte im Verhältnis zu Gott zu verstehen, ist daher oft als das Spezifikum der aus der
1 Der nachfolgende Text fußt auf einem Beitrag zum XV. Europäischen Kongress für Theologie und führt dessen Gedanken weiter (Kongressband: Geschichte und Gott, hg. v. M. Meyer-Blank, Leipzig 2016, 157–172).
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Religion Israels erwachsenden heiligen Schriften beschrieben worden.2 Das betrifft ebenso die großen Gesamtlinien wie die Erzählstruktur im Einzelnen.3 Das innige Verhältnis von Gott und Geschichte zielt nicht primär auf die Erkenntnis des Vergangenen. Es geht nicht darum, „wie es eigentlich gewesen“ ist, noch darum, „Sein als Gewordensein“ zu explizieren: Die Formeln moderner Historisten wie Leopold von Ranke oder Ernst Troeltsch markieren geradezu Kontrastfolien zum biblischen Geschichtsdenken.4 Es stellt nicht auf das Gewesene ab, um das Gewordene als notwendiges Resultat von historischen Kausalitätslinien zu begreifen, und es fokussiert nicht das Gewordene in seiner Kontingenz als Veränderlichkeit und Relativität. Bei der Vergangenheit geht es um Zukunft und Gegenwart. Weniger Sein und sein Werden stehen im Mittelpunkt, eher Sollen und seine Realisierung. Geschichtsbetrachtung sub specie Dei fokussiert nicht, was der Fall gewesen ist, sondern was zukünftig eintreten soll. Durch Heils- und Unheilszenarien will sie in Handlungslinien eingreifen und Verhalten steuern. Vermeintlich Faktisches wird im Interesse von Normativem dargestellt. Wenngleich Zukunft, Normativität und Sollen die zentralen Pointen des Blicks auf Vergangenheit, Faktisches und Sein sind, kommen diese Pointen indirekt in den narrativen Erinnerungen des Gewesenen zur Sprache. Unterschwellig sind hierin Ausgriffe auf ein Ganzes der Geschichte enthalten, die das Faktische zugleich im Interesse von Kontrafaktischem darstellen. Geschichte steht im Zeichen einer prozessualen Dialektik von Ganzheit und Kontrafaktizität. Christoph Levin hat vor einiger Zeit die großen Entwürfe biblischer Geschichtsdarstellungen in der Formel „Erinnerung der Zukunft“ zusammengefasst.5 Die deuteronomistische Konzeption misst die Zeitläufte an einem wiederkehrenden davidischen Königtum, die jahwistische Darstellung von Schöpfung, Ur- und Vätergeschichten bis hin zu Exodus und Rückkehr ins gelobte Land markiert die Ankerpunkte für universale Verheißungen, die Priesterschrift fokussiert die Sakralität der Kultstätte als Kriterium göttlicher Erfüllung, und die auf Markus zurückgehende evangelische Darstellung Jesu als Christus beleuchtet bereits den Irdischen im
2 Vgl. nur K. Löwith, Weltgeschichte und heilgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 4 1953; G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen, München 1957, bes. 111ff.; G. Lanczkowski, K. Koch, N. Vielmetti, U. Luz, Art.: Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie I-IV (I.: Religionsgeschichtlich; II: Altes Testament; III: Judentum; IV: Neues Testament), in TRE Bd. XII, Berlin 1984/93, 565–604. 3 Vgl. dazu klassisch: E. Auerbach, Die Narbe des Odysseus, in: Ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen 9 1994, 1–27. 4 L. v. Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1484–1514. Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber (1824), Leipzig 31885, V-VIII; E. Troeltsch, Die Krisis des Historismus. In: Die neue Rundschau 33 (1922), 572–590, hier 573. 5 Ch. Levin, Erinnerung der Zukunft, in ZThK 111 (2014), 127–147.
Heilsgeschichte, Religionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte
Zeichen nachösterlicher Wiederkehr. Hinzufügen ließen sich die Verbindung von prophetischer Gerichtsansage und Heilsverheißung sowie das neutestamentliche Grundmotiv, die faktische, im Kreuz endende Misserfolgsgeschichte des irdischen Jesus in eine Geschichte der Heilsstiftung durch ebendieses Kreuz umzudeuten. Nietzsches Figur der „Umwertung der Werte“ trifft einen Grundzug christlichen Geschichtsdenkens.6 Seine Geschichtsdeutung ist vielfach Umdeutung. Gleichwohl steht im Hintergrund solcher Umkehrungsfiguren eine Rationalität des Verstehens von handlungsbedingten Ereignisfolgen. Der sog. Tun-Ergehens-Zusammenhang eröffnet eine Logik für elementare wie komplexe Abläufe, die mit ihrer Bewertung einhergeht. Dies erlaubt es, das Kontingente in eine sinnhafte Ordnung einzustellen, von dieser her zu verstehen und seine Widersinnigkeit zu begrenzen. Das gilt insbesondere für Erfahrungen von Negativität, etwa in Verbindung mit Erwartungsenttäuschungen und Sinnwidrigkeit. Dass der auf die Verknüpfung des Faktischen mit seinen Folgen abstellende Tun-Ergehens-Zusammenhang zugleich den Hintergrund für die kontrafaktische Umkehrung in den Figuren von göttlicher Strafe und Heilszusage abgibt, hat auch das christliche Geschichtsdenken beeinflusst. Max Weber hat hierfür die hintersinnige Formel von der „Unheilstheodizee“ geprägt, deren Theo-Logik sogleich nach einer Gegenlesart verlangt, sie aber auch über Figuren der Umkehr eröffnet.7 Zwischen solchem Geschichtsdenken und moderner Historiographie klafft ein garstig breiter Graben. Hierin geht es mehr um Tatsachen statt Theodizee; die Stelle von göttlicher Eingriffskausalität wird von den Prinzipien der Analogie und Korrelation menschlicher Handlungszusammenhänge besetzt.8 Werte und Normen, von denen sich historische Akteure geleitet sehen, werden nach Troeltschs kritischer Historismus-Diagnose durch Rückbindung an ihren kontingenten Entstehungsort konsequent relativiert.9 Modernes Geschichtsdenken steht im Kontrast zu Absolutheitsansprüchen, seien es religiöse, seien es nichtreligiöse. Es rekonstruiert weder deterministisch-geschlossene Kausalketten zur Erklärung kultureller Entwicklungen, noch setzt es alles gleichermaßen als willkürlich. Seine Sphäre liegt zwischen reiner Notwendigkeit und purem Zufall. Es geht um Verstehen als Hintergrund von Handeln, und zwar in Wechselverhältnissen von Gruppen und Individuen. In deren empirisch beschreibbaren Auseinandersetzungen spielen auch Normen, Werte und Ideen eine Rolle. Sie lassen sich als Streitsachen rekonstruieren.
6 F. Nietzsche, Der Antichrist, in: Ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 6, Berlin 2 1988, 165–253, hier 253. 7 Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III, Tübingen 8 1988, 319. 8 Vgl. E. Troeltsch, Historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd 2, 2. Neudruck der 2. Aufl. (Tübingen 1922), Aalen 1981,729–753. 9 Vgl. E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 3, 2. Neudruck der 2. Aufl. (Tübingen 1922), Aalen 1977, passim.
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Modernes Geschichtsdenken ist zur Vermittlung von Gegenläufigem herausgefordert, seien es Normativität und Empirie, seien es verschiedene soziale Gruppen und plurale Ethnien. Darin scheint es manch vakanten Platz älterer Geschichtsdeutungen neu zu besetzen. Modernes Historisieren kennt einen kritischen und einen konstruktiven Zug, wie historische Kritik auf der einen und historistische Geschichsphilosophie auf der anderen Seite zeigen. Historisieren ist nicht autonom, es korrespondiert etwa mit anthropologischen Strukturen, Regelmäßigkeiten sozio-kultureller Evolution und normativen Ordnungen. Und es kennt, wie das für das Geschichtsdenken nach der Aufklärung signifikante Stichwort ‚Fortschritt‘ zeigt, selbst dynamische Deutungsperspektiven zur Verschränkung vielfältiger Einzelereignisse mit nahezu letzten Zielen. Die Deutungsdynamik reicht noch in die spätere Kritik der Fortschrittsfigur hinein. Vor diesem Hintergrund wurde die moderne teleologische Geschichtsphilosophie von Karl Löwith als kritisches Säkularisat der Eschatologie verstanden.10 Die These hat freilich methodische Probleme.11 Dennoch haften auch an dem modernen Begriff ‚Geschichte‘ erhebliche Vermittlungserfordernisse, etwa zwischen Moral-, Sozial-, und Religionstheorie. Das lässt genauer nach dem Verhältnis von christlichen Grundmotiven und modernem Geschichtsdenken fragen. Bevor dies in kategorialer Absicht erfolgt, seien drei Typen christlich-theologischer Geschichtskonzeptionen skizziert.
2.
Heilsgeschichte, Religionsgeschichte, Offenbarungsgeschichte
Der Begriff der Heilsgeschichte bündelt zentrale Motive des älteren, auf die biblische Tradition und die Antike zurückgehenden Geschichtsdenkens. Der Begriff selbst ist allerdings jüngeren Datums. Hinter seiner Prägung stehen Teile der Erlanger Erfahrungstheologie, insbesondere v. Hofmanns Figur des ‚Schriftbeweises‘ durch göttliche Verheißung und Erfüllung, aber auch Teile des erweckungstheologischen Biblizismus von Beck über Tholuck bis hin zu Kähler.12 Letzterer verstand das Christentum als menschlich unableitbare „geschichtliche Erscheinung“ von „übergeschichtlichem Gehalt“, dessen Inbegriff die göttlich präfigurierte Ökonomie des Heils ist.13 Deren Mittelpunkt bilde die ‚Geschichtstatsache‘ der Offenbarung des biblischen Christus. Wenngleich Gewissheit des Auferstandenen nur durch seine rezeptionshermeneutische Aneignung im Glauben zustande kommt, lasse
10 So die Generalthese von Löwiths Klassiker‚Weltgeschichte und Heilsgeschehen‘, a.a.O. 11 Vgl. J. Dierken, Immanente Eschatologie? Säkularisierung bei Hegel, Troeltsch und Löwith, in: Ganzheit und Kontrafaktiziät, Tübingen 2014, 219–238. 12 Vgl. F. Mildenberger, Art.: Heilsgeschichte, in: RGG4 , Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1584–1586. 13 Vgl. M. Kähler, Die Wissenschaft von der christlichen Lehre, von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Leipzig 2 1893, 87.
Heilsgeschichte, Religionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte
sich doch die Wahrheit der Christusoffenbarung bereits in den damit erfüllten göttlichen Verheißungen erkennen. Deren Hintergrund sei die in Sünde und Leiden verstrickte Geschichte Israels, die zur Negativfolie für die göttliche Leitung der Menschheit wird und über ihr Ziel in der Christusoffenbarung die Unterscheidung von wahrer und falscher Religion eröffnet. Dass die wahre, christliche Religion am Ende über alles Heidentum obsiegt und ihre Anhänger von Gott durch Gericht und Gnade hindurch mit endzeitlichem Heil beschenkt werden, ist für Kähler gewiss – und zwar in deutlichstem Kontrast zu seiner düsteren Diagnostik des Niedergangs des Christlichen in der diesseitsorientierten Moderne. An Kählers Konzept lassen sich Grundzüge heilgeschichtlicher Theologie beschreiben. Danach ist Gott der entscheidende Akteur, dessen Wille die geschichtlichen Ereignisse bestimmt – sei es in direkten Eingriffen, sei es durch ein hintergründig-verborgenes Arrangement historischer Abläufe.14 Sosehr der Wille Gottes auf Ereignisse zu reagieren scheint, so sehr gelten seine Entscheidungen als aller geschichtlichen Kontingenz überhoben. Maßgeblich zum Verständnis von geschichtlichen Zusammenhängen sind die großen biblischen Narrative von göttlicher Schöpfung und menschlichem Abfall, von Sünde und ihren Strafe in den Koordinaten von Tun und Ergehen als Realisierung der Ordnung von Gut und Böse, von göttlichem Heilswillen bei der Führung seines Volkes durch die unübersichtlichen Wirren der Zeitläufte, von der Sendung des Sohnes ‚als die Zeit erfüllt war‘ mitsamt der Adressierung des Heils auch an die Heiden, von der Gründung der Kirche und ihrer konfliktträchtigen Mission und schließlich vom jüngsten Gericht und endzeitlichen Kommen Gottes in seinem Reich. Gewichtung und Kombination der einzelnen Motive variieren bei verschiedenen heilsgeschichtlichen Denkern freilich. Hinzu kommen weitere Gliederungsschemata wie die Einteilung der Geschichte in verschiedene Weltalter bzw. -reiche oder ihre Strukturierung durch Gottes Bundesschlüsse sowie die Integration vielfältiger Historien, Chroniken und Annalen. Neben föderaltheologischen Figuren und den Spekulationen über vier bis sechs Weltalter sind trinitarische Konzeptionen der Heilsökonomie in den Reichen des Vaters, des Sohnes und des Geistes einflussreich geworden, z.T. verbunden mit Ausblicken auf die anbrechende Endzeit mit apokalyptischen Vorboten als Kontrastfolie zu eschatologischer Vollendung. Die Nachwirkungen des joachitischen Modells der geschichtlichen Heilsökonomie in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit zeigt exemplarisch, dass das theologische Geschichtsdenken zwischen Protologie und Eschatologie mit einer Deutung der Gegenwart im Zeichen endzeitlicher Scheidung vom Antichrist als 14 Vgl. zum Folgenden R. Mortley, O. Engels, G.A. Benrath, J. Mehlhausen, Art. Geschichte/ Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie V-VII (V: Das frühchristliche Geschichtsverständnis; VI: Von Augustin bis zum Humanismus; VII: Reformations- und Neuzeit I u. II), in: TRE Bd. XII, a.a.O., 604–658.
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Vorbote des Neuen verbunden wurde. Verfallsgeschichtliche Zeitansage ist daher ein Komplement heilsgeschichtlichen Denkens. Dessen Geschichtstheologie der Verschränkung von göttlichem Handeln und weltlichen Ereignissen geht vielfach mit einem Fokus auf Gegenwartsdeutung einher. Eine wesentliche Wurzel haben die heilsgeschichtlichen Denkmuster in der augustinischen Konzeption des eschatologischen Ringens der beiden civitates, der Gottes und der des Teufels bzw. der Welt.15 Auch sie hat mit der Plünderung Roms einen konkreten historischen Anlass für ihre zeitdiagnostische Deutung, und auch für sie steht das letzte Ziel der Geschichte fest. Zu ihm führt aber kein gerader, übersichtlich vorgezeichneter Weg. Nicht nur ist das in der Kirche institutionalisierte Christentum, dessen Aufstieg aus der Verfolgung zur Staatsreligion noch kurz zuvor das theologische Geschichtsverständnis bestimmte, ein für menschliche Augen undurchdringliches corpus permixtum, sondern die der göttlichen civitas entgegenstehende civitas terrena erfüllt sub specie Dei auch eine Ordnungsaufgabe der Eindämmung von Gewalt durch ihre begrenzte Anwendung. Damit sind einerseits Ankerpunkte für mittelalterliche Bestrebungen nach Eindeutigkeit im hierarchischen Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt markiert, andererseits aber auch für reformatorische Vorbehalte gegen eine einfache Identifizierung von einzelnen Vorgängen menschlichen Geschichtshandelns als Vollzug der Agenda Gottes. Gottes geschichtliches Wirken neben dem Christusevangelium bleibt hiernach im Letzten verborgen, fassbar wird die geschichtliche Realität nur über das Gesetz. Darauf wird zurückzukommen sein. Das Modell der Heilsgeschichte lässt sich mit einem tatsächlich historischen Denken nicht vereinbaren. Seine ‚Tatsachen‘ wollen eben ‚übergeschichtlichen Gehalt‘ bieten, und der maßgebliche Akteur ist Gott. Demgegenüber fokussiert das neuzeitliche Paradigma der Religionsgeschichte menschlich-weltliche Zusammenhänge. Aus ihnen heraus wird Religion mitsamt ihrer geschichtlichen Evolution expliziert. Religion wird auf natürliche Ursachen zurückgeführt und als Bemühen um individuelle oder soziale Daseinsbewältigung beschrieben. Nach Humes ‚Naturgeschichte der Religion‘ etwa sucht ein ursprünglicher Polytheismus schicksalhafte Fügungen der Natur zu beeinflussen, indem sie göttlichen Mächten zugeschrieben werden.16 Deren Vielfalt verlange Ordnung, und Religion stifte diese im zunächst chaotischen Pantheon durch Hierarchiebildung. Sie führe zum deistisch-einen Welturheber hin, welcher die zweckvolle Ordnung der Welt zugänglich werden lässt. Darin sieht Hume den Beitrag der Religion zur kulturellen Evolution. Sie befähige zu systematisierendem Denken. Dieses Beispiel zeigt markante Differenzen 15 Vgl. Aurelius Augustinus, De civitate Dei/Der Gottesstaat, übersetzt und hg. v. C.J. Perl, Paderborn 1979. 16 Vgl. D. Hume, Die Naturgeschichte der Religion, übersetzt und hg. v. L. Kreimendahl, Hamburg 2 2000.
Heilsgeschichte, Religionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte
zum heilsgeschichtlichen Schema: Die Kritik supranaturaler Eingriffskausalität, die Abkehr von dem Modell eines ursprünglich gutem Schöpfungszustands und nachfolgend tiefen Falls zugunsten eines Ausgangs von roh-primitiven Lebensverhältnissen, die funktionale Verzahnung von Religion mit insgesamt aufsteigenden Linien kultureller Evolution, welche die Erwartung einer Zäsur der Geschichte vor ihrem eschatologisch-heilvollen Ende verdrängt. Zugleich sind wesentliche Dimensionen des modernen historischen Denkens berührt. Sie betreffen die historische Kritik von Geltungsansprüchen auch heiliger Überlieferungen und neue Konstruktionen der Geschichtslogik, welche nach den Regeln von Analogie und Korrelation Wahrscheinlichkeiten beschreibt. Die kritische und die konstruktive Seite des historischen Denkens verbinden sich in einer teleologischen Dynamik der Geschichte im Zeichen eines Perfektibilitätsideals. Das Zauberwort heißt ‚Fortschritt‘.17 Religion hat daran maßgeblich teil, insofern sie als Quelle mentaler Ordnungsstiftung sowie Schule systematisierenden Denkens gilt und damit Erkennen und Moral als Bedingungen höherer Formen des kulturellen Lebens ermöglicht. Dass Religion maßgeblich zur Herausbildung mentaler Einheits- und Ordnungsmustern beiträgt, ist eine zentrale Pointe religionsgeschichtlichen Denkens. Sie lässt sich vom älteren Deismus bis hin zu soziologischen Autoren des 20. Jahrhunderts wie Weber, Troeltsch, Simmel und Durkheim beobachten. Die Stichworte Einheit bzw. Ordnung korrespondieren mit einem zentralen Zug des im 18. Jahrhunderts aufgekommenen Geschichtsverständnisses. Wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, wird der in der Sattelzeit der Moderne gebildete Singular ‚die Geschichte‘ zum einheitlichen Referenzrahmen für das neue historische Denken, der die Vielzahl einzelner Geschichten, ‚Historien‘ und res gestae integriert.18 Wenngleich der Kollektivsingular ‚Geschichte‘ keineswegs nur auf religiösem Boden wurzelt, findet sich eine markante Schnittfläche: Die teleologische Linie des Fortschritts. In seinem Zeichen wird nicht nur die Geschichte von Wissenschaft und Moral, Politik und Kultur, sondern auch die der Religionen erzählt. Das Narrativ der Religionsgeschichte beschreibt eine aufsteigende Linie von wüster Superstition zu kultivierter moralischer Frömmigkeit, die enge Parallelen hat zu der geschichtsphilosophischen Erzählung der kulturellen Evolution von roher Wildheit zu feiner Zivilisation. Die Religionsgeschichte solchen Fortschritts bildet den religiösen Zweig der modernen Geschichtsphilosophie. Dabei mögen die Prozesse der Modernisierung schließlich auch die religiösen Voraussetzungen hinter sich lassen, wie Webers Paradigma der ‚Rationalisierung‘ zeigt. Dass die Religionsgeschichte
17 Vgl. zum Folgenden J. Dierken, Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012. 18 Vgl. R. Koselleck, Art. Geschichte, Historie, in: GG Bd. 2, Stuttgart 1975, 593–717, hier, 647ff.
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der Moderne später dann auch von der Sicht der Modernisierungsverlierer geprägt sein kann, ist eine entsprechende Kehrseite.19 Fortschritt, Perfektibilität und Vervollkommnung: Auf den Klang dieser Begriffe sind die großen Narrative der Religionsgeschichte im Umkreis der klassischen Moderne gestimmt. Lessing und Herder, Kant, Hegel und Schleiermacher lassen sich nennen, mit gewissen Verschiebungen zudem Müller und Bousset, mit zunehmend kritischen Akzenten auch Troeltsch, Otto, van der Leeuw und viele andere.20 Die methodischen Zugriffe, die fokussierten Phänomene und die gedanklichen Konsequenzen führen freilich zu etlichen Differenzen. Nicht immer endet die Religionsgeschichte mit dem Christentum oder gar Protestantismus wie etwa bei Hegel und Schleiermacher; auch das Christentum kann relativierend überholt werden wie in Lessings ‚neuem ewigen Evangelium‘ der Moral oder Kants übergeschichtlicher ‚Vernunftreligion‘; keineswegs müssen die abrahamitischen Religionen allein im Mittelpunkt stehen wie bei Müller oder Otto; die aufsteigende Linie der Religionsgeschichte kann als verkappte Wiederkehr des alten Schemas von wahrer und falscher Religion im Gewande christlicher Absolutheit kritisiert werden wie bei Troeltsch. Als Stolperstein fungiert vielfach der Islam, dessen jüngerer Ursprung vor jüdisch-christlichem Hintergrund simple Fortschrittslinien zum Christentum irritiert. Neben einer Fülle von Einzelfragen gibt es entscheidende gedankliche Probleme. Drei seien exemplarisch genannt. Erstens erfordert das konstruktive Narrativ der Religionsgeschichte einen quasi divinen Überblick über das Ganze, der sich mit der relativierenden, aufs Einzelne und Individuelle gehenden Perspektive des historischen Bewusstseins reibt.21 Zweitens verläuft die Logik des Stiefels des Fortschritts vielfach hinter dem Rücken der Akteure, obwohl gerade die Kultivierung ihrer Individualität am Ende stehen soll. Kants „Zwietracht“ der Natur und Herders ursprünglicher „Antagonismus“ als Movens zur Kulturentwicklung, aber auch Hegels „List der Vernunft“ für den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ seien genannt.22 Und drittens stellt sich das Problem der Theodizee, wenn wie bei Hegel
19 Vgl. H. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997; M. Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990; ders., Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religion, München 2007. 20 Vgl. für Einzelheiten und Belege J. Dierken, Fortschritte in der Geschichte der Religionen? A.a.O., 50–145. 21 Wenn es, wie Troeltschs Historismus-Diagnose gezeigt hat, auch die Werte in seinen Strudel zieht, hat dies Konsequenzen auch für Gott. Vgl. E. Troeltsch, Historismus, a.a.O. 22 Vgl. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 394, zit. nach: Werkausgabe Bd. XI, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt a.M., 2 1978; J.G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791), 2 Bde., Berlin/Weimar 1965, Bd. 2, 239; G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Theorie-Werkausgabe Bd. 12, hg. v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, 49, 32.
Heilsgeschichte, Religionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte
die Weltgeschichte zugleich das Gericht sein soll.23 Nicht nur in den Augen der kolonialgeschichtlichen Opfer des religiös-geschichtlichen Fortschritts, in deren Optik dessen Narrativ ohnehin einer interessengeleiteten Legitimationserzählung des Westens ähnelt, erschien das als Zynismus. Insbesondere angesichts des jüdischen Denkens nach der Shoa wird eine solche Geschichtstheodizee unmöglich, sosehr deren Verneinungsfiguren wie etwa der Gedanke der Anthropodizee auf sie im Negativ bezogen sind. Dennoch lässt sich der religionsgeschichtliche Fortschrittsgedanke nicht einfach abschütteln. Auch darauf wird zurückzukommen sein. In europäischer Perspektive verlor das Erbe des Fortschritts im Ersten Weltkrieg seine Legitimität.24 Mit der damit einhergehenden ‚antihistoristischen Revolution‘25 korrespondierte der durchschlagende Erfolg der dialektischen Theologie. Für Neuzeit und Moderne wurden verfallsgeschichtliche Szenarien bemüht, Barths ‚Römerbrief ‘ konnte nur noch in Verneinungsfiguren und Gerichtsmetaphorik das Verhältnis von Göttlichem und Irdischem beschreiben.26 Elemente einer theologischen Variante der ‚Dialektik der Aufklärung‘ werden erahnbar.27 Die nachmaligen Theologien der vormaligen ‚Dialektiker‘ kennen kaum theologisch-reale Geschichtsbezüge, trotz ihrer historisch-politischen Aktivitäten. Für Barth wird die Sphäre der Subjektivität Gottes in seiner trinitarisch präfigurierten Offenbarung zum Ort wahrer Geschichte, für den historisch-kritischen Exegeten Bultmann ist die überzeitliche ‚Geschichtlichkeit‘ des Menschen zwischen Unglaube und Glaube das eigentliche theologische Thema.28 Erst in den 1960er Jahren konnte Geschichte wieder mit Offenbarung in Verbindung gebracht werden. Das Programm des unter dem Stichwort ‚Offenbarung als Geschichte‘ versammelten jüngeren Theologenkrei-
23 Vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, a.a.O., 540; ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), hg. v. J. Hoffeister, Hamburg 5 1995, § 341. 24 Vgl. F. Walter, Fortschritt und die Furcht vor Verlust, in: FAZ 18.03.2011, 8 (unter Bezug auf R. Koselleck). 25 Bgl. zu diesem Begriff K. Nowak, Die ‚antihistoristische Revolution‘. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche von Ernst Troeltsch, hg. v. H. Renz/F.W. Graf, Troeltsch-Studien Bd. 4, Gütersloh 1987,133–171; F.W. Graf, Die ‚antihistorische Revolution in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der weimarer Republik, Tübingen 2011, 111–137. 26 Vgl. K. Barth, Der Römerbrief, Neue Bearbeitung von 1922, 12. Nachdruck 1978, 2. Aufl., passim. 27 Vgl. M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam (1944), Frankfurt a.M. 1969. 28 Vgl. für detaillierte Belege J. Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher, Tübingen 1996.
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ses verstand sich als Korrektur der antihistoristischen Revolution.29 Vor allem für Wolfhart Pannenberg wurde dieses Programm leitend. Bei dem anderen Systematiker des Kreises, Trutz Rendtorff, schimmerten bereits damals Grundmotive seines späteren Konzepts der Christentumsgeschichte durch.30 Sie versteht das Christentum als Bestandteil auch der Kultur der Moderne – mitunter auch umgekehrt die europäische Moderne als Teil der Christentumsgeschichte. Troeltschs Figur einer europäischen Kultursynthese wird modifiziert fortgeschrieben. Auch bei Pannenberg sind die Grundmotive seiner späteren Theologie der Offenbarungsgeschichte klar erkennbar.31 Die Selbstoffenbarung Gottes habe sich in seinen Geschichtstaten vollzogen, mit dem Christusgeschehen als Gipfel. Darin gehe es um einen vom Ziel her zu verstehenden Selbsterweis Gottes als einzig wahrer, universal gültiger Gott, dessen Heil am Ende ebenfalls von universaler Reichweite ist. Für diesen Übergang vom Gott Israels zum Gott aller Menschen stehe seine Manifestation in der Geschichte Jesu als Christus, einhergehend mit einer umfassenden Heilsverheißung. Im Christusgeschehen sei das Ziel der Offenbarungsgeschichte aber nur vorwegnehmend manifest geworden, definitiv verifiziert werde es erst durch die eschatologische Bestätigung Gottes. Dieser Gedanke ist von Pannenberg später umfassend ausgearbeitet worden. Danach könne die Geltungsbeanspruchung durch eine Vielzahl anthropologischer, kultur- und erkenntnistheoretischer Faktoren gestützt werden, deren Fäden in der Religionsgeschichte als gleichsam vorbereitende Schule der Offenbarungseinsicht zusammenlaufen.32 Die Kehrseite dieses Gedankens ist, dass es vor dem eschatologischen Ende der Zeit auch keine valide Geltungsbestreitung der Offenbarungsgeschichte geben kann. Sie gemeindet mithin nicht nur die Religionsgeschichte in ihren faktisch exklusiven Universalitätsanspruch ein, sondern verweist auch ihre Bestreiter auf die Plätze. Mit dem Universalitätsanspruch gehen Inklusion und Exklusion einher. Dennoch wird die Offenbarungsgeschichte göttlicher Universalität nicht primär in Figuren von Diskontinuität und Umkehr geschichtlicher Prozesse beschrieben, sondern in Mustern von Entwicklung und Kontinuität – schon weil nach der Christusoffenbarung als Vorwegnahme des Endes allen Geschehens nichts wirklich Anderes und Neues mehr kommen kann. Zur Fokussierung geschichtlicher Kontinuität auf dem Weg zur universalen eschatologischen Gottesoffenbarung fügt sich Pannenbergs späteres
29 Vgl. Offenbarung als Geschichte, in Verbindung mit R. Rendtorff, U. Wilckens, T. Rendorff hg. v. W. Pannenberg, Göttingen 1961 30 Vgl. T. Rendtorff, Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff, in: A.a.O., 115–131; Vgl. T. Rendorff, Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972. 31 Vgl. W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: A.a.O., 91–114. 32 Vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983; bes. 472ff.; ders., Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, bes. 133ff.
Heilsgeschichte, Religionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte
Verständnis der ökumenisch geeinten Kirche als maßgebliches Gefährt durch den Lauf der Zeiten. Figuren der Kritik beansprucht Pannenberg demgegenüber insbesondere bei seiner Bewertung der liberalen Moderne. Solche Kritikfiguren sind jedoch ohne die Gegenmomente des Kontinuierlichen, Universalen oder Ganzen nicht einmal explizierbar. Auch hierauf wird zurückzukommen sein.
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Probleme und Perspektiven christlichen Geschichtsdenkens
Keiner der skizzierten Typen kann unmittelbar Modell für ein gegenwärtiges christliches Geschichtsdenken stehen. Dennoch bleiben zentrale Motive, ihre Streichung würde blinde Flecken erzeugen. Gegenwärtiges Geschichtsdenken ist daher herausgefordert, diese Motive in modifizierter Form in ein neues Arrangement zu bringen. Dazu lassen sich die aus dem heilsgeschichtlichen Gegenentwurf stammenden Motive in dem Stichwort Kontrafaktizität bündeln, der offenbarungsgeschichtliche Universalitätsgedanke führt auf das Stichwort Ganzheit. Beide sind dialektisch aufeinander bezogen, schon weil die Heilsgeschichte auf ein Ganzes geht und Offenbarung eben auch die Kontingenz des Religiösen symbolisiert. Dieser dialektische Bezug erlaubt eine Balancierung der Motive, die mit der ihnen innewohnenden Ambivalenz konstruktiv umzugehen erlaubt. Die heilgeschichtlich imaginierte Gegenwelt kann zur Flucht aus dem Vorhandenen führen und Gewaltmittel zu ihrer Herbeiführung provozieren. Und das Motiv des Ganzen kann mit einer tendenziell totalitären Überblendung des Einzelnen einhergehen und es geradezu niederwalzen. In beiden Motiven zeigen sich die Probleme einer fundamentalistischen oder totalitaristischen Gefährdung des Religiösen, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Ihre Dialektik erlaubt es hingegen, solche Gefährdungen aus den Perspektiven des Religiösen selbst zu limitieren. Zudem werden auch Möglichkeiten einer Aufnahme religionsgeschichtlicher Einsichten eröffnet. Das Motiv der Evolution kulturell-religiöser Formen lässt sich konstruktiv explizieren, wenn die Dialektik von Ganzheit und Kontrafaktizität im Zeichen einer offenen Prozessualität verstanden wird. An die Stelle einer objektiven Teleologie tritt dann das perspektivische Urteil über mögliche Balancen jener dialektischen Spannung, und zwar mit Angabe der jeweiligen ‚Sehepunkte‘ der Beteiligten. Das sei im Blick auf die drei Typen erläutert. Den Anfang macht das Heilsmotiv. Wie andere, so lebt auch die christliche Religion davon, dass ein wahrer, richtiger Gesamtzustand imaginiert wird. Das Bewusstsein von Gesetz, Sünde und Nichtseinsollendem ist die erfahrungsnähere Gegenfolie, oftmals vermittelt über die Fragen nach dem Grund von unheilvoll erlebten Übeln. Das Heilsmotiv spiegelt sich nicht nur im individuellen Blick. Es leitet auch religiöse Deutungen von sozialem Leben, zumal es hierin kommuniziert wird. Damit sind verschiedene Lebenssphären des Menschen als Natur- und
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Geistwesen zwischen mentalen Sinnmustern, soziologischen Formationen und ästhetischen Inszenierungen berührt, die sämtlich geschichtlichen Veränderungen ausgesetzt sind. Mit der Heilsthematik kommt die Dynamik von Umkehr und Veränderung ins Spiel, die auf die Dimension des Kontrafaktischen verweist. In die Prozessualität von Geschichte zurückübersetzt, ist deren Ort ist die Kritik und Korrektur des Faktischen. Beides will jedoch auch zusammengedacht werden. Wird das zumindest subkutane Motiv eines Ganzen ausgeblendet, ist das Heil nur imaginär oder es wird zur abstrakten Negation des Bestehenden. Demgegenüber lässt sich die endgeschichtliche Alterität des Gottesreiches in Korrespondenz bringen mit einem innergeschichtlichen Denken in Alternativen. Damit gehen normative Orientierungen einher. Heilsgeschichtliche Narrative zielen auf moralische Geltung, wie die Urgeschichte von Gut und Böse sowie die Zielerwartung von Versöhnung und Erlösung zeigen. Als basales Kriterium der damit verbundenen Ordnung fungiert Gerechtigkeit. Ihr Grundmaß ist die für das Soziale elementare Form von Wechselseitigkeit. Damit ist das moralische Prinzip des Allgemeinen im Blick, in dem sich das Motiv des Ganzen wiederum zeigt. Doch auch das Symmetrieprinzip der goldenen Regel erscheint zumeist als Gegenbild asymmetrischer geschichtlicher Sozialverhältnisse. Insofern orientiert es geschichtliches Handeln sub contrario und kontrafaktisch. Schon wegen seiner Abstraktheit kann es nicht zur direkten historisch-empirischen Agenda werden. Dieser historische Identifizierungsvorbehalt kommt im symbolischen Charakter des heilsgeschichtlichen Narrativs als solchem zum Ausdruck. Dessen Meta-Szenerie weitet im Idealfall manchen Tunnelblick historischer Akteure, schlechtestenfalls verengt sie diesen aber auch. Das Einzelne und das Ganze wollen unterschieden sein, die christliche Religion kommuniziert die Differenz von Gott und Mensch. Das erlaubt es, mit den Ambivalenzen, die mit dem heilsgeschichtlichen Narrativ untrennbar verbunden sind, umzugehen. Da beim Symbol die bedingte Form und der unbedingte Gehalt nicht identisch sind,33 zeichnen sich Korrespondenzen zum theologischen Vorbehalt der alten Heilsgeschichte ab, wonach eben kein endliches Subjekt, sondern Gott sein Reich erbaut. Ebenso kann nur ihm ein das Ganze überschauender Blick zugesprochen werden, bis hin zur Scheidung von Gut und Böse. Die kritisch gewendete Differenz von Endlichem und Unendlichem verwehrt es, das eschatologische Reich zum direkten Ziel menschlichen Geschichtshandelns zu machen. Zugleich eröffnet sie einen Ankerpunkt für eine differenzierte Sozialphilosophie im Irdisch-Geschichtlichen. Unvereinbar mit dessen Vielspältigkeit wäre es, wenn 33 Damit wird eine grundlegende Pointe der Symboltheorie von P. Tillich aufgenommen. Vgl. ders., Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), in: Ders., Main Works/ Hauptwerke, Bd. 1, hg. v. C.H. Ratschow, 113–263, hier 230 u.ö.; ders., Religionsphilosophie (1925), in: Ders. Gesammelte Werke V, hg. v. R. Albrecht, Stuttgart 1962, 17 u. ö.
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allein die Kirche in endgeschichtlicher Mission den Weg zum Gottesreich bahnte. Die für die Geschichte unseres Kulturkreises maßgebliche Unterscheidung der Institutionen von Religion und Politik hat eben einen religiösen Sinn. Die an Augustin anschließende reformatorische Konzeption der Zwei Reiche bzw. Regimenter ist der entscheidende Beitrag des – protestantischen – Christentums zum geschichtlichen Verhältnis von Religion und Politik. Natürlich muss die reformatorische Fassung dieses Lehrstücks auf moderne Verhältnisse von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hin umgeformt werden. Mit diesen Figuren sind Themen für gegenwärtige Religionsdiskurse mit anderen christlichen Konfessionen und abrahamitischen Religionen markiert. Auch das offenbarungsgeschichtliche Universalitätsmotiv bedarf der Fortschreibung, allerdings unter Aufnahme von Kontingenzmomenten, die die Differenz des Faktischen und Kontrafaktischen ausdrücken. Das Motiv der Universalität ist nicht überall und immer vorhanden, es hat einen geschichtlich beschreibbaren Ort. Schon darum muss das christliche Geschichtsdenken die tatsächliche Besonderheit seines Kulturkreises einbeziehen und damit die Pluralität des Religiösen anerkennen – zumal im nachkonstantischen Zeitalter. Doch auch ein solches Geschichtsdenken verknüpft Ereignisfolgen und Interdependenzen von Handlungsakteuren. Die mit solchem Geschichtsdenken verbundene Relationalität lässt sich nur gewaltsam stoppen, insofern sind mit ihr tendenziell Ausgriffe auf ein Ganzes verbunden. Das gilt unter den Bedingungen der Geschichte der Globalisierung umso mehr. Mit der damit verbundenen Thematik einer Weltgesellschaft ist zudem empirisch ein Thema mit einer überempirischen Transzendenzdimension gegeben.34 Allerdings kann auch die Welt als Ganzes nur von innen heraus, mithin von partikularer Warte aus beschrieben werden. Eine ähnliche Paradoxie birgt der Gottesgedanke. Für christliches Denken korrespondiert daher der Weltbegriff mit dem Gottesgedanken. In christlicher Perspektive ist das Universalitätsmotiv mit der Menschwerdung Gottes in der individuellen Gestalt Jesu Christi verbunden. Sie impliziert die Anerkennung des Einzelmenschen als solchen. „In einem – Alle“ – um mit Hegel zu sprechen.35 Damit steht die Erweiterung des Adressatenkreises des Heils um die ‚Heiden‘ in enger Verbindung. Ohne sie wäre die antike Kultursynthese von jüdischer und griechischer Tradition nicht möglich, ebenso wenig die Verbindung mit römischem Rechts- und Verwaltungsdenken. Zu weiteren Elementen der Transformation dieser Synthese zählen auch die konfessionellen Differenzierungsvorgänge bis hin zu den Entwicklungen von Reformation, Aufklärung und Moderne. Das aufklärerische Ideal von Gleichheit und Freiheit aller Menschen ist nicht identisch 34 Vgl. N. Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Wiesbaden 6 2009, 63–88. 35 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3: Die vollendete Religion, hg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1984, 49.
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mit der neutestamentlichen Freiheit im Glauben und der Gleichheit in Christus, aber auch nicht deren Gegenteil. Damit verschieben sich die offenbarungsgeschichtlichen Gewichte. Mehr noch gilt dies angesichts der moralischen Prinzipen der Moderne, wonach es für Gott kein anderes Sittengesetz geben kann als für den Menschen. Ganzheitsmotive sind hier eher auf den Grundklang eines moralischen Pantheismus gestimmt als auf den einer fraglosen Bejahung der Alleinherrschaft Gottes. Wenn sie zum Ende aller Dinge geradezu zwangsläufig eintreten soll, gerät damit die Kontingenz des Religiösen, für die der Offenbarungsbegriff eben auch steht, ins Rutschen. Veränderung als Inbegriff solcher Kontingenz betrifft nicht nur den Menschen, sondern auch Gott, sofern es in dieser Geschichte um seine Selbstoffenbarung geht. Wenn Gott an der Stelle des Menschen, wenn der Schöpfer am Ort und unter den Bedingungen des Geschöpfs erscheint, hat das Folgen für die Legitimität von Herrschaft eines Allgewaltigen. Gott kann nicht als ein besonderes Subjekt gedacht werden, dass sich alle anderen unterwirft. Vielmehr ist das monotheistische Motiv der Alleinheit seines Ich als Inbegriff von Subjektivität mit dem universalen der All-Einheit eines moralischen Reiches zu verbinden, in dem die Subjekte sich in freier Anerkennung verbunden wissen. Seine Universalität steht kontrafaktisch gegen verweigerte Anerkennung, und zwar ebenso im Blick auf Gott wie die Menschen. Die größten Herausforderungen und Chancen für ein christliches Geschichtsdenken ergeben sich aus dem Erbe der Religionsgeschichte. Das hat schon mit ihrer größeren Nähe zum modernen historischen Bewusstsein zu tun, sei es im Blick auf die kritische Quellenauswertung, sei es im Blick auf die konstruktive Darstellung religiöser Evolution mit Interferenzen zu weiteren Kulturgebieten. Detaillierte Tatsachenerhebung und großräumigere Deutung bilden nach dem Nestor der Historik, Droysen, einen Wechselzusammenhang.36 Damit sind Berührungspunkte zur Theologie gegeben. Exemplarisch lassen sie sich in etwa im Blick auf die neueren Überlegungen zum Entstehen globaler Religionen in der sog. Achsenzeit fassen.37 Danach entstand das Bewusstsein von Universalität in Korrespondenz zu religiösen Vorstellungen von Transzendenz, die irdische Macht und Größe übersteigt. Die mentalen und kulturellen Potentiale zu deren kritischer Relativierung zeigten sich zugleich in großen technologischen, administrativen und militärischen Sprüngen. Im Blick auf den religiösen Kulturkreis, aus dem die abrahamitischen Religionen erwachsen sind, bilden sich vom Zusammenhang von Transzendenz
36 Vgl. J.G. Droysen, Historik, hg. v. P. Leyh, Stuttgart 1977, 417ff. u. ö. 37 Vgl. S. Eisenstadt, The Axial Age: The Emergence of Transcendental Visions and the Rise of Clerics, in: European Journal of Sociology 32.2 (1982), 294–314; Kulturen der Achsenzeit I-III, hg. V. dems., Frankfurt a.M. 1987–1992. Das Stichwort ‚Achsenzeit‘ geht auf K. Jaspers zurück (vgl. ders., Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949).
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und Universalität her Fluchtlinien zum Grundmotiv des Monotheismus. Maßgeblich für den Göttlich-Einzigen ist die kritische Differenz zu allem Endlichen, Relativen und Bedingten. Sie lässt einerseits religiöse Figuren kontrafaktischer Umdeutung verständlich werden, stellt andererseits aber auch den Ankerpunkt für Exklusion bis hin zu kämpferischer Gewalt dar. Das Bewusstsein vom Allerhöchsten ist hochgradig ambivalent. Religiöse Einhegungen dieser Ambivalenz, wie sie etwa in Verbindung mit dem schöpfungsanthropologisch universalisierten Ebenbildlichkeitsmotiv ausgebildet wurden, dürften daher als Fortschritt beurteilt werden – jedenfalls aus einer Perspektive, die wie die unsere für diese Ambivalenz angesichts der destaströsen Folgen von menschlichen Handlungen im Namen eines Allgewaltigen sensibilisiert ist. Diese Perspektivität zeigt, dass Geschichtsbewusstsein von der Gegenwart her konzipiert ist. Seine rückwärtsgewandte Prophetie, um mit Schlegel zu sprechen,38 hat eine orientierende Funktion für gegenwärtiges Handeln im Horizont von Zukunft. Angesichts dieser Nähe zum praktischen Leben ragt die aus dem subjektiven Bewegungsschema des Fort-Schreitens abgeleitete Fortschrittsfigur der Religionsgeschichte auch in heutiges Geschichtsdenken hinein. Allerdings kann sie nicht als Abbild eines objektiven Gangs der Dinge verstanden werden. Ihr Ort ist vielmehr die reflektierende religiöse Urteilskraft. Religiöse Phänomene werden im Maßstab zwischen ‚besser‘ und ‚schlechter‘ beurteilt, Erwünschtes wird von Unerwünschtem unterschieden – mit der offenen Prozessdialektik von Ganzheit und Kontrafaktizität als Kriterium. Mit Religionsurteilen im Zeichen des Fortschritts ist auch ein teleologisches Moment verbunden, insofern eine Zielvorstellung als Horizont stets mitwandert. Die Teleologie im Zeichen reflektierender Urteilskraft ist allerdings nur eine schwache: Das eschatologische Endziel wird zum mitlaufenden Regulativ. Gleichwohl dürfte ein Zuwachs an Reflektiertheit in Religionsdingen ein Fortschritt sein. Ohne einen Anker in der Evolution von Religion selbst bleibt er indes unwahrscheinlich. Exemplarisch hierfür ist der Umgang mit der Hybridität des Religiösen in Geschichte und Gegenwart. Dieser soziologische Begriff meint, dass Religion als Lebensform im Ganzen immer auch mehr und anderes ist als bloße Religion, etwa im Sinne frommer Innerlichkeit. Religion beeinflusst andere Lebenssphären wie Wissenschaft, Politik und Recht bis hin zur individuellen Lebensführung. Damit sind Sphären der primären Bedeutung der Fortschrittsfigur benannt – gehemmt oder befördert durch Religion. Und Religion beeinflusst das Leben Anderer, wie etwa an Familien- oder Erziehungsvorstellungen sichtbar wird. In beiden Hinsichten strahlt die Fortschrittsthematik dann in die Sphäre der Religion selbst aus, wenn es
38 Vgl. F. Schlegel, Fragment 80, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, Paderborn u. a. 1988, 177.
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zu einem religiös reflektierten Verständnis solcher Hybridität kommt. Auch stellt ein religiöses Verständnis von Differenzierungen einen Fortschritt gegenüber Versuchen zur Einziehung von Differenzen dar. Beispiele mögen die Differenzierung von Religion und Politik mitsamt ihrer Institutionen sein, aber auch die Sensibilisierung für das Kindswohl durch Anerkennung des Kindes als anderes Gottesgeschöpf im pädagogischen Bewusstsein von Bildung. In den Fluchtlinien solcher Differenzierungen steht die moderne Säkularisierung. Eine gegenwärtige geschichtliche Herausforderung für das Christentum liegt darin, maßgebliche Symbole mit normativer Strahlkraft in der öffentlichen Kommunikation präsent zu halten – und zwar im Wissen darum, dass moderne Gesellschaften nicht mehr durch überwölbende religiöse Normen zusammengehalten werden. Exemplarisch seien die Gottebenbildlichkeit des Geschöpfs und das Bewusstsein um seine Fehlbarkeit genannt, mit der Erlösungsbedürftigkeit als Kehrseite und dem Horizont des Gottesreiches. Debatten um die kulturelle Bedeutung der Menschenwürde sind hierfür maßgebliche Bewährungsorte. Im Blick auf deren normativen Kern lässt sich allerdings schwer ein Fortschritt über ihn hinaus vorstellen – sosehr auch das Konzept der Menschenwürde geschichtlich geworden ist und damit der Veränderbarkeit alles Gewordenen unterliegt. Dennoch wird Geltung durch Einsicht in Gewordensein nicht automatisch aufgehoben, sie kann ebenso ihrer Genealogie dienen. Eine unerlässliche Korrektur an dem Narrativ der der Religionsgeschichte betrifft die Fortschrittsteleologie zum Christentum hin. Dass sämtliche Religionen hierin aufgehoben werden sollen, versperrt einen konstruktiven Zugang zur Pluralität des Religiösen. Zwar zeigt der religionshistorische Blick, dass Religionen immer auch synkretistische Gebilde sind. Elemente anderer Traditionsbeständen wurden übernommen und umgeformt, andere abgestoßen, bis hin zu mehr oder weniger freundlichen Übernahmen. Doch das Christentum lässt sich nicht als Optimierung des Judentums verstehen, so sehr es ohne die Voraussetzungen in der Religion Israels unverständlich bleibt. Es ist auch kein simpler Fortschritt gegenüber fernöstlichen Formen. Als individuelle Totalitäten zeigen verschiedene Religionen unterschiedliche Umgangsweisen mit elementaren menschlichen Fragen und Sinnbedürfnissen – bis hin zum Sinn in der Verneinung der Sinnform. Vom Gedanken der individuellen Totalität aus lassen sich Linien zu dem Motiv der multiplen Modernen ziehen. Der religionsgeschichtliche Blick wird durch Kontrastierung differenter Religionen schärfer, wenn zugleich ein weiter Begriff von Subjektivität Zugänge zur Frage nach dem Sinn von Sinn39 bahnt und ein grundsätzliches Verständnis von Intersubjektivität religionskulturelle Evolutionen zu beleuchten
39 Vgl. den schönen Titel der Religionsphilosophie von V. Gerhardt, Vom Sinn des Sinns, München 2014.
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erlaubt. Gut, wenn sich dies mit praktischem Austausch über Religionsgrenzen hinweg verbindet, bei dem etwa nach Äquivalenten für Figuren von Ganzheit und Kontrafaktizität gesucht wird. Das kann zu Konversionen und multiplen Identitäten führen. Doch für eine simple Preisgabe eigenen Gottesglaubens besteht kein Anlass. Denn sosehr Religion für die religionsgeschichtliche Einsicht Resultat menschlicher Praxis ist, so wenig ist sie dessen bloßes Produkt. Verstehen lässt sie sich nur mit Rücksicht darauf, dass ihr Gewordensein für die Beteiligten als nicht als intentionales Gemachtsein erscheint. Das ist der Anker für die bleibende Offenheit geschichtlicher Erwartung im Wandel der Zeit, die dessen eingedenk bleibt, dass die Geschichte keine Heerstraße zu Gott ist. Für das Christentum ist eben der Glaube die Grundform des menschlichen Gottesverhältnisses.
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Gibt es eine Logik der Religion? Rohgedanken zu einer Theologie der Religionsgeschichte (im Anschluss an den gleichnamigen Vortrag von Wolfhart Pannenberg) In einer denkwürdigen Passage des Johannesevangeliums (12, 20ff) wird erzählt, dass einige in Jerusalem als Proselyten weilende Griechen zu den Jüngern kommen, weil sie Jesus sehen wollen (12, 21). Wäre es zu dieser Begegnung gekommen, so hätten sie – im Sinne des griechisch schreibenden und denkenden vierten Evangelisten – den Logos selber gesehen; d. h. sie, die als Griechen σοφίαν ζητοῦσιν (1Kor 1, 22), wären dem Logos ihrer Tradition in seiner Neubestimmung als existierender Logos und so der menschgewordenen ἀλήθεια (14, 6) und dem Weg zum wahren Gott (17, 3) leibhaft begegnet. Es spricht einiges dafür, diese johanneische Episode als Ansatzpunkt einer christlichen Theologie der Religionsgeschichte in Anspruch zu nehmen. Der Logos wäre so als das „Licht der ganzen Welt“ (8, 12; 9, 5) zugleich als das „wahre Licht“ (1, 9) auch der Religionsgeschichte zu begreifen. Auch in dieser käme er „in sein Eigentum“ (1, 11).1
I Christlich ist das Verhältnis des Neuen zum Alten Testament u. a. auch als ein Paradigma für eine Theologie der Religionsgeschichte wahrzunehmen. Eine solche wäre soz. eine Verlängerung nach rückwärts über das AT hinaus in die vor- und außerbiblische (bzw. außerchristliche) Religionsgeschichte, die ja ins AT selber schon hineinreicht und auch im NT nicht ohne deutliche Spuren geblieben ist. Liest man zu Beginn des Hebräerbriefs die bekannten Sätze: „Nachdem Gott seit alters vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Hebr 1, 1f), so braucht man nur dies kontinuierliche Reden Gottes „seit alters“ (πάλαι) in seiner Vielgestaltigkeit und Vieltönigkeit über die alttestamentlichen Propheten
1 Vgl. die Frage, ob Jesus in die „Diaspora“ gehen wolle (Joh 7, 35) mit dem Topos vom logos spermatikos und dem Hinweis des joh. Christus auf noch andere seiner Schafe (10, 16; vgl. 11, 52!). Zur Partie 12, 20ff vgl. auch J. Ringleben, Das philosophische Evangelium, Tübingen 2014, 519–521 (HUTh 64).
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hinaus und nach rückwärts z. B. auf die religiösen Poeten der Antike auszuweiten, um den redenden Gott auch in der Religionsgeschichte überhaupt zu vernehmen.2 Genau das hat J.G. Hamann 1762 bereits vorgeführt: „Nachdem GOTT durch Natur und Schrift, durch Geschöpfe und Seher, durch Gründe und Figuren, durch Poeten und Propheten sich erschöpft und aus dem Othem geredt hatte: so hat er am Abend der Tage zu uns geredt durch Seinen Sohn, – gestern und heute! – bis die Verheißung seiner Zukunft … auch erfüllt seyn wird“.3
II Von den verschiedenen thematischen Aspekten, die Pannenberg in seinem reichhaltigen Aufsatz von 1962 anspricht, konzentriere ich mich hier auswählend auf einige besonders wichtige. Ich setze mit einer theologiegeschichtlichen Erinnerung ein, die eine systematisch zentrale Frage herausstellt. Bekanntlich hat K. Barth im § 17 der KD in problematischer Weise versucht, das Christentum als Gestalt von Gottes Offenbarung von den zu fragwürdigem Menschenwerk herabgestuften anderen Religionen abzuheben.4 In diesem Zusammenhang fasst er die christliche Religion als die „wahre Religion“.5 So wenig Barths Ausführungen im Ganzen überzeugen können, so enthält diese Formulierung von der „wahren Religion“ doch theoretische Implikationen, die systematisch weiterführen und auch für Pannenbergs Konzept einer Theologie der Religionsgeschichte fruchtbar gemacht werden können. Barths Begriff wahrer Religion setzt nämlich zum Einen voraus, dass es keinen eigenen Wesensbegriff dessen gibt, was Religion ist, der soz. immanent aus ihren verschiedenen Erscheinungen gewonnen werden könnte – ein Befund, der auch in
2 Vgl. z. B. den christologischen Typos in der Rede Juppiters beim Tode des Herakles (wenn man statt „Vulcanum“ mortem liest): „nec nisi materna Vulcanum parte potentem / sentiet: aeternum est a me quod traxit et expers / atque inmune necis … / idque ego defunctum terra caelestibus oris / accipiam …“ (Ovid, Metam. IX, 251–255). Zu einer auffälligen, soz. „johanneischen“ Figur in Pindars 10. Nemeischer Ode vgl. meine Abhandlung: Pindars Friedensfeier, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (I. Philologisch-Historische Klasse) 2002 (Nr.2), Göttingen 2002, 121–169. 3 Sämtliche Werke (Nadler), Band II, Wien 1950, 213,6–11. Vgl. Mt 23, 34 u. 21, 33ff. Vgl. auch Clem. Alex.: ὁρᾷς ὅπως : κἀν τοῖς Ἑλλήνων προφήτας διδωσί τι τῆς ἀληθείας καὶ οὐκ ἐπαισχύνεται … Ἑλληνικοῖς συγχρῆσθαι ποιήμασι (Strom. I, c. XIV; MPG 8, 757 B/C). 4 KD I/2 (1938), 304–397. Zur kritischen Auseinandersetzung vgl. J. Ringleben, Religion und Offenbarung. Überlegungen im Anschluß an Barth und Tillich, in: U. Barth / W. Gräb (Hgg.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne, Gütersloh 1993, 111–128; für das Folgende bes. 117–120. 5 KD I/2, 325 u. 356ff.
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der Allgemeinen Religionswissenschaft common sense ist.6 Zum Andern aber redet Barth entschieden davon, dass die Religion überhaupt immer erst wahr werden könne oder müsse.7 Danach gibt es Religion grundsätzlich nur im Prozess des Zugehens auf ihre Wahrheit, und ihr Wesen liegt immer noch vor ihr.8 Dieser Gedanke führt zu der systematisch entscheidenden Frage: Bedeutet die Barthsche Formulierung einfach nur den abstrakten Anspruch, die christliche sei die wahre Religion schlechthin, oder ist der Ausdruck vielmehr so zu verstehen, sie sei auch die Wahrheit der Religion bzw. der Religionen?9 In dem zweiten, theoretisch interessanteren Fall wäre die „wahre Religion“ als die ihrem Wesen nach (als Religion) erst vollkommen verwirklichte Religion zu verstehen.10 Verhält es sich so, dann gilt: Als Wahrheit aller Religion (bzw. der Religionen) muss die wahre Religion schon etwas in ihnen allen sein. Diese Wahrheit als Wahrheit von Religion überhaupt, als deren eigene Wahrheit, ist mithin in den Religionen schon irgendwie angelegt und kommt in der wahren allererst zu sich. Barth sprach in diesem Zusammenhang von der „Aufhebung“ der Religionen in der wahren Religion als geoffenbarter.11 Dieser – natürlich an Hegel erinnernde – Gedanke von der Aufhebung schließt aber notwendig ein, dass das Christentum sich aus der Religionsgeschichte selber entgegenkommt und dass diese als geschichtliche Selbstvoraussetzung der endgültigen Offenbarung zu begreifen ist.12
6 Nicht zufällig sind es der Mensch, die Religion und die Sprache, die sich einer normalen „Definition“ ihres Wesens entziehen. Bei Pannenberg entspricht der geschichtliche Werdeprozess der Religion dem, dass auch „der Mensch geschichtliches Wesen ist und im Prozeß seiner Geschichte sich wandelt“ (GSTh 1, 262; im Folgenden wird der thematische Aufsatz mit einfacher Seitenzahl zitiert; vgl. auch 259f A. 15), was von mir als Werden zu sich gedacht wird. Die Religiosität des Menschen (sein Religion-Haben) lässt sich theologisch zu seiner Gottebenbildlichkeit (Gen 1, 27) in Beziehung setzen. 7 KD I/2, 356. 8 Für Barth muss das „Wesen“ der Religion offenbart werden (325, 323); d. h. sie gelangt in ihr Wesen nur von der sich selbst durch sich selber vergegenwärtigenden Wahrheit her (vgl. 328; 333; 372). So ist der Religion an sich (bzw. jeder Religion) die Spannung des über sich Hinaustreibens eingestiftet. 9 Vgl. so Pannenberg, Probl. 274. Pannenberg über den späten Barth: GSTh 1, 367. 10 Vgl. Barth ähnlich a.a.O. 358. 11 A.a.O. 304; 324 u.ö. 12 Auf diese Weise ließe sich auch die Formulierung des jungen Schleiermacher vom Christentum als der Religion der Religion auffassen: „daß es die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet“ (Reden über die Religion; Urauflage 293).
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III Ehe Pannenbergs Thesen über die Wahrheit in der Religionsgeschichte zu diskutieren sind, sei zunächst seine Stellungnahme zu Hegel in diesem Kontext angesprochen, was ohnehin der Sache nach naheliegt. Pannenberg konstatiert zu Recht, dass Hegel in seiner Philosophie der Religion Religionsphilosophie und Religionsgeschichte systematisch mit einander verbindet, und er scheint das als einen Vorzug zu erachten (257f). Zugleich meint er, Hegels Konzept als dem „Evolutionsgedanken“ verpflichtet ansehen zu müssen (258), den er einerseits schon als solchen kritisiert.13 Dabei ist seine Rede von „Stufen eines Entwicklungsprozesses“ (258) insofern problematisch, als er das Spezifische solcher „Stufen“ bei Hegel gerade nicht zur Sprache bringt: nämlich dass es sich nicht um eine einfache Entwicklung, sondern um ein „Werden zu sich“ und zwar des Begriffs von Religion überhaupt handelt. Andererseits bleibt es auch unspezifisch, wenn er die Religion bei Hegel so versteht, dass er sie auf dem Wege ihres geschichtlichen Selbstwerdens sieht (263), diesen Weg aber nur allgemein als den von der Natur- zur Geistesreligion in einem Prozess stufenweiser Erhebung des Geistes über die Natur versteht (ebd. u. 265). D.h. Pannenberg setzt hier umstandslos, um nicht zu sagen plakativ, den idealistisch konnotierten Geist-Begriff ein und verdeckt damit, dass für Hegel die eigentliche Triebkraft das „Selbstwerden“ des Begriffs der Religion als solcher ist.14 Gegen Hegel wendet Pannenberg ein, dass es nicht möglich sei, irgendeine Religion „einer einzigen Stufe im Gesamtprozeß der religiösen Entwicklung der Menschheit zuzuordnen“,15 und zwar wegen tiefgreifender Wandlungen im Laufe 13 Pannenberg macht gegen den Evolutionsgedanken geltend, dass 1. methodisch die dabei vorausgesetzte Kenntnis des Anfangszustandes der Religion nur eine unsichere Hypothese darstelle und 2. empirisch feststeht, dass das Auftreten universaler monotheistischer Gottheiten nicht in jedem Fall nur erst als Resultat der religionsgeschichtlichen Entwicklung vorkommt (wie auch umgekehrt die These eines Urmonotheismus nicht haltbar sei); vgl. 266f. 14 Daher wird bei Hegel auch die tatsächliche Geschichte jeder einzelnen Religion noch nicht für sich thematisiert (vgl. 263f). Insofern ist auch das zustimmend beigebrachte Zitat G. Menschings nicht zutreffend, nach dem „nicht die Religion, sondern die einzelnen Religionen … der eigentliche Gegenstand der Religionsgeschichte“ seien (264 A. 22). Diese Alternative ist falsch gestellt. Vgl. auch R. Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, Göttingen 1975. 15 Gleichwohl konzediert Pannenberg in einer wesentlichen These: „Und doch erscheint jenes unendliche Geheimnis auf den Stufen dieses Weges“ (285), und er fährt fort: „Jede neue Stufe, solange ihre Schranke noch verhüllt ist, erhebt sich als Erscheinung des allumfassenden, unendlichen Geheimnisses“ (ebd.). Warum sollte das eine vollendete Erscheinung an einem bestimmten Ort ausschließen? Der Pannenbergsche Einwand gegen Hegel, das von diesem gedachte „Ende der Geschichte“ vertrage sich nicht mit einer noch zukünftigen Wahrheit (GSTh 1, 219), relativiert sich dadurch, dass Pannenberg selber vom proleptischen Charakter der Auferstehung Jesu her behauptet, sie sei endgültig in Jesus, für uns und alle Menschen aber historisch noch ausstehend (220; vgl. 221). Derart verbindet
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der Geschichte ein und derselben Religion (264).16 Weil es sich in der Hegelschen Religionsphilosophie aber gar nicht um eine „nach irgendwelchen Gesichtspunkten angeordnete Typenreihe“ (265) handelt, ist der Begriff der Stufe oder des Typus eine Unterbestimmung des von Hegel Gedachten. Es geht diesem nicht um irgendeine Entwicklungsreihe, sondern um das Werden des Religionsbegriffs als solchen zu sich selber. Genau darin besteht das Neue und Spezifische bei Hegel: dass er das Verhältnis der Religionen zueinander als Sichhervorbringen und Sichdurchsetzen des Wesens der Religion selbst im Zuge einer Logik der sich realisierenden und dabei auf seine Vollendung zugehenden Bewegung ihres Begriffs denkt. Dass die Religionsgeschichte selber allererst den Begriff von Religion und dessen wahre Verwirklichung hervorbringt, das ist der originäre und eigentliche Grundgedanke der Philosophie der Religion bei Hegel. Daher schließt die Abfolge von Religionen nach Hegel konzeptionell auch ein „Nebeneinander“ oder eine „Wechselbeziehung“ dieser unter einander (265) gar nicht aus, und die „Ablösung einer Religion durch eine andere“ (ebd.) ist bei Hegel systematisch nicht primär historisch-chronologisch zu verstehen.17 Es geht vielmehr grundsätzlich um die Frage, inwiefern die verschiedenen Religionen als Momente des sich auf seine Vollendung als Begriff hin bewegenden Religionsbegriffs bzw. der durch logische Anreicherung und Vertiefung in ihr Wesen sich entfaltenden Religion zu begreifen sind. In diesem besonderen Sinn ist auch bei Hegel der einsinnige, bloß historische Entwicklungsgedanke gebrochen (vgl. 265).18 Was in der Religionsgeschichte als Werden zu sich der Religion zur Erscheinung kommt, ist also ein Artikulationsvorgang ihres Begriffs, der nicht einfach chronologisch abzubilden ist.19 Es handelt sich dabei in Wahrheit um eine logische
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nach Pannenberg die Offenbarung in Jesus Endgültigkeit und eine Offenheit der Zukunft (220). Vgl. Joh 5, 54 u. 11, 25; dazu J. Ringleben, Das philosophische Evangelium, a.a.O. 524–532 und u. Anm. 17. S.o. Anm. 14 (1.Satz). Auch eine nachchristliche Religion wie der Islam kann durchaus im Zusammenhang solcher logischen Beziehungen begriffen werden (Hegel wird im Folgenden zitiert nach: Werke in zwanzig Bänden (Theorie Werkausgabe), Frankfurt a.M. 1970ff; hier vgl. 12, 428–434 u. 17, 73; 19, 514; 20, 293f). Am Aspekt des Verständnisses von Gottes Einheit im Unterschied zum christlichen Trinitätsgedanken habe ich das religionslogisch durchgeführt; vgl. J. Ringleben, Systematisch-theologische Anfragen an den Islam, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2016, Berlin / Boston 2017, 130–136. Von der Auferstehung aus dazu Pannenberg selber: 292. Entsprechend wäre auch der Terminus „primitiv“ (vgl. 265), sollte er überhaupt benutzt werden – was Hegel gar nicht tut –, nicht umgangssprachlich, sondern logisch (religionslogisch) zu verstehen. Vgl. Hegels berühmte Sätze zum Auftreten der Offenbaren Religion am „Ende“ der Religionsgeschichte – „offenbar“, weil in ihr das Wesen und die Wahrheit der Religion selber erschienen ist – in der Phänomenologie des Geistes: „Alle Bedingungen seines Hervorgangs sind vorhanden, und diese Totalität seiner Bedingungen macht das Werden, den Begriff oder das ansichseiende Hervorgehen desselben aus … Diese Formen … machen die Peripherie [!] der Gestalten aus, welche erwartend
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Bewegung des zu sich kommenden Wesens der Religion.20 Sollte sich die christliche Religion als die Wahrheit der Religion(en) begreifen lassen, so sind in ihr die vorund außerchristlichen Religionen, mit Hegel gesprochen, „zeitlos vergangen“, d. h. logisch vergangen.21 Die „heidnischen“, d. h. außerbiblischen Götter stellen dann die Vergangenheit des lebendigen Gottes dar.22 Von hier aus lässt sich gut verstehen, dass Paulus von den vorchristlichen Göttern als solchen redet, die φύσει μὴ οὖσιν θεοῖ (Gal 4, 8), nämlich ihrer eigentlichen Wahrheit nach keine „Götter“ (vgl. Paral. II, 13, 9 LXX u. Jes 37, 19) sind, sie zugleich auch λεγόμενοι θεοῖ nennt, die gleichwohl als Mächte da sind (vgl. 1Kor 8, 5: ὥσπερ εἰσὶν θεοῖ … καὶ κύριοι). Ihre „Nichtigkeit“ (1Sam 12, 21: tohu; μηθὲν ὄντων bzw. οὐθέν; vana) ist der Schein des (logisch) Vergangenen, und in ihnen spreizt sich die an sich überholte Vergangenheit Gottes zur leeren Mächtigkeit auf. Damit ist gesagt, eine Theologie der Religionsgeschichte impliziert in christlicher Sicht einen Begriff von Gottes eigener Geschichte (als einer auch in den Religionen erscheinenden).23 Hier berühre ich mich wieder mit Pannenberg, weil auch er sagt: „Die Wirklichkeit der Götter – und Gottes – steht selbst auf dem Spiel im Prozeß der Religionsgeschichte, in welchem Götter stürzen und neu entstehen“ (289).24 Daraus leitet sich für Pannenberg als immanentes Kriterium für die integrative Kraft einer Religion der Gesichtspunkt her: „ob (oder inwieweit) ein Gottesgedanke repräsentativ für eine Religion ist und als Gradmesser ihrer Heilsmacht und
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und drängend um die Geburtsstätte des als Selbstbewußtsein werdenden Geistes umherstehen; der alle durchdringende Schmerz und Sehnsucht des unglücklichen Bewußtseins ist der Mittelpunkt und das gemeinschaftliche Geburtswehe seines Hervorgangs, – die Einfachheit des reinen Begriffs, der jene Gestalten als seine Momente enthält“ (Werke 3, 548f). Bekanntlich begreift Paulus die geschaffene, gegenwärtige Welt überhaupt als „Geburtswehe“ (ὠδίν) der eschatologischen Freiheit (vgl. Röm 8, 22 u. dazu J. Ringleben, Der lebendige Gott. Gotteslehre als Arbeit am Begriff, Tübingen 2018, 910 (DoMo 23)). Auch Pannenberg will nach der „Sachlogik der religionsgeschichtlichen Phänomene“ fragen (290). Vgl. Werke 6, 13 sowie 5, 141. S. auch u. bei Anm. 58. Vgl. N. Söderblom, Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte (1942). Aus diesem „Zeugnis“ müsste sich die Logik des im Werden zu sich begriffenen Gottesgedankens erheben lassen. Das bestimmt den wohl stärksten Begriff einer Theologie der Religionsgeschichte. Zu Pannenbergs Verständnis davon vgl. 290. Die Pannenbergsche Ausgangsfrage, „wie in der besonderen Geschichte der Religionen die Einheit der Religionsgeschichte Gestalt gewinnt“ (276; dies inhaltlich anders als bei Hegel; s.u. Abschn. V) und wie darin „die Einheit der göttlichen Wirklichkeit selbst … wirksam ist“ (276f), darf also nicht so verstanden werden, als sei diese Einheit Gottes als faktisch immer schon gegeben einfach nur vorauszusetzen! Vgl. auch Pannenbergs Hinweis auf die empirische Uneindeutigkeit dieses „Weges“ (277).
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Wahrheit in Anspruch genommen werden kann“ (266).25 Und genau dies theozentrische Kriterium ist an der „Stellung und Bedeutung“ des Gottesgedankens „innerhalb des Ganzen“ einer Religion zur Geltung zu bringen.26 Wenn Pannenberg hier außer dem Gottesgedanken auch das ihn übergreifende „Ganze des religiösen Daseinsverständnisses“ als Wahrheitskriterium für eine Religion namhaft macht (ebd.), so sind die beiden wesentlichen Gesichtspunkte versammelt, an denen der Begriff einer Religion (auch im Hegelschen Sinne) und sein Verhältnis zum in seiner Vollendung begriffenen Wesen der Religion überhaupt, also auch ihr Stadium in deren Wesensgeschichte selber, ablesbar wird.
IV Für Pannenberg ist die Frage nach der Wahrheit der Religionen wesentlich die Frage nach der „Wahrheit … religiöser Erfahrung überhaupt“ (277), und er bevorzugt statt der Heinrich-Scholzschen Rede von der Wahrheit „der“ Religion die von dem „spezifischen Wirklichkeitsbezug religiöser Phänomene überhaupt“ (278 mit A. 37).27 Indes gilt auch ihm als ausgemacht: wegen der Strittigkeit verschiedener religiöser Wahrheitsansprüche können sie „nicht alle zugleich ‘wahr´“ sein (A. 37); d. h. doch wohl: nicht alle im selben Umfang oder Maß. Denn wenn auch einerseits – so Pannenberg – „Wahrheit schlechthin … wenn überhaupt, nur einer bestimmten Religion zukommen“ kann,28 so braucht das andererseits „nicht jeden Wahrheitsgehalt anderer Religionen auszuschließen“, weil sie – „in vielleicht unzureichender oder verkehrter Weise – auf dieselbe Wirklichkeit bezogen“ sein können (A. 37).29 Zugleich steht für Pannenberg fest, dass die Wahrheitsansprüche der Religionen nicht bloß „als Sache subjektiver Glaubenspositionen [ab-]qualifiziert“ werden dürfen (295), sondern soz. objektiv an ihrem Anspruch zu messen sind, „einen Zugang zum göttlichen Geheimnis selbst zu eröffnen“ (ebd.). Dies aber scheint mir
25 Als weiteren (davon wohl abgeleiteten) Gesichtspunkt nennt Pannenberg den Aspekt, „inwieweit diese oder jene Religion universale Einheit der Wirklichkeitserfahrung zu stiften vermag“ (265f); was wohl auch ein Kriterium ihrer Wahrheit ist (266), jedenfalls aber für die „integrative Kraft einer Religion“ zeugt (ebd.). 26 Pannenberg entfaltet das im Folgenden auch inhaltlich (vgl. ebd.). 27 So möchte Pannenberg überhaupt „lieber vom Wirklichkeitsbezug“ der in den Religionen zum Ausdruck kommenden Erfahrungen oder auch „vom Wahrheitsgehalt ihrer Behauptungen“ sprechen statt rundweg von ihrer Wahrheit (278 A. 37). Bei der Formulierung von Scholz stellt sich in gleicher Weise wie bei Barth die Frage, wie der Genitiv „Wahrheit der Religion“ zu verstehen ist: im Sinne von wahrer Religion oder Wahrheit der Religionen (s.o. Abschn. II). 28 M.E. dies aber nur als die Wahrheit der Religion überhaupt. 29 Vgl. u. Anm. 83.
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zureichend nur möglich, indem solche Wahrheitsansprüche als Ausdruck einer „Sachlogik“ (290), d. h. Logik der Religion selber verstanden werden, die sich darin zur Darstellung bringt und auf diese Weise den Zugang zu Gott selber eröffnet, der sich in solcher Logik des Werdens zu sich als wirksam erweist. Das bedeutet: Wenn es für das griechische Wahrheitsverständnis wesentlich war, Wahrheit als die im Reden und Denken stattfindende „Übereinstimmung … mit dem von sich aus Wahren“ zu fassen,30 mithin als Übereinstimmung des Wahren mit sich selbst, und so die Frage nach der Einheit der Wahrheit zu beantworten, so nähert es sich damit dem spezifischen Wahrheitsbegriff Hegels, für den „Wahrheit“ die Übereinstimmung einer Sache mit sich selber ist,31 die sich im Ereignis ihres Werdens zu sich herstellt.32 So konstatiert auch Pannenberg (im Zuge geistesgeschichtlicher Überlegungen),33 dass „die Einheit der Wahrheit nur noch gedacht werden [kann] als eine Geschichte der Wahrheit, und zwar so, daß die Wahrheit selbst eine Geschichte hat und daß ihr Wesen der Prozeß dieser Geschichte ist“.34 Gilt dies, so ist die Wahrheit der Religion ihre eigene, (geschichtlich) gewordene Wahrheit als Religion. Und wenn die Wahrheit von Religion in der Religionsge-
30 So Pannenberg in dem ebenfalls 1962 erschienenen Aufsatz „Was ist Wahrheit“ (in: GSTh 1, 202–222; hier: 210). Es sei angemerkt, dass auch ich in diesem Vortrag nicht die Frage nach dem, was Wahrheit ist, „in vollem Umfang“ (GSTh 1, 278) aufrollen kann, aber doch zu sagen versuche, was der Begriff von der Wahrheit der Religion überhaupt besagen können muss, soll er für eine Theologie der Religionsgeschichte in Anspruch genommen werden können. 31 Vgl. Werke 8, 86 u. 6, 571 bzw. (als Übereinstimmung des Begriffs mit seinem Gegenstand) 4, 142f u. 6, 258; 290. 32 Für Hegel ist der Begriff der Wahrheit der eigentliche Gegenstand der Logik (Werke 5, 44; 6, 244), wie Pannenberg notiert (GSTh 1, 218). 33 Die Geschichte des abendländischen Wahrheitsbewusstseins (vgl. dazu insbes. GSTh 1, 217) ist durch den Weg vom griechischen auf den alttestamentlichen Gedanken der Wahrheit hin bestimmt (GSTh 1, 209); eben darin erweist sich auch die Wahrheit des biblischen Wahrheitsverständnisses selber (a.a.O. 210). So ist auch die Religion Israels als Resultat eines geschichtlichen Werdeprozesses zu verstehen (264); dieser selber ist aber nicht nur äußerlich festzustellen, sondern in ihr selber thematisch und programmatisch u. a. mit Ex 3, 14 vorgegeben. 34 GSTh 1, 217 (Hervorh. J.R.). Pannenberg bezieht das selber ausdrücklich auf Hegel und das biblische Wahrheitsverständnis (a.a.O. 218) und auf Hegels Verständnis der Religionsgeschichte (ebd.). Israelitisches und griechisches Wahrheitsverständnis koinzidieren da, wo der Logos bzw. Begriff etwas ist, das in einer Geschichte zu sich kommt. Über den Zusammenhang der Struktur religiösen Lebens mit dem geschichtlichen Wandel vgl. 260, und zum Zusammenhang zwischen Offenbarung und der Frage nach der Existenz Gottes vgl. 285. Theologisch entspricht dem die Korrelation von religiöser Subjektivität (christlich: Glaube) und religiöser Gegenständlichkeit (christlich: Gott); vgl. dazu J. Ringleben, Der lebendige Gott, a.a.O., wie o. Anm. 19, § 4 (60ff). Pannenberg charakterisiert Religion als „Antwort“ auf die Erfahrung göttlicher Realität (GSTh 1, 380).
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schichte im Werden zu sich begriffen ist, dann ist die „absolute Religion“ die wahre Religion als Wahrheit der Religionen.35 Aus diesem Wahrheitsbegriff folgt für unser Thema die Frage: In welcher Religion ist die Religion überhaupt so mit sich selber in letzter Übereinstimmung (von Form und Inhalt), dass in ihr die Wahrheit bzw. der Begriff von Religion als solcher zu seiner vollendeten Verwirklichung findet?36 Wenn dieser verwirklichte Begriff der Religion überhaupt religionsgeschichtlich in Gestalt des Christentums aufgetreten ist, so sind hier dessen spezifische Themen wie Schöpfung, Menschwerdung, Erlösung (durch Kreuz und Auferstehung) und Endvollendung als die ausartikulierte Wahrheit von Religion bzw. als die (nach Form und Inhalt) letztgültige Realisierung ihres Begriffs durch den einen und lebendigen Gott argumentativ zu erweisen.37 Denn – um dies hier tendenziell anzudeuten – der Begriff der Schöpfung setzt, zuende gedacht, den Begriff des einen und dreieinigen Gottes voraus,38 der der Menschwerdung bringt das Gott-
35 Die gängige Rede vom „Absolutheitsanspruch“ des Christentums ist irreführend; denn sie lässt außer Acht, dass diese Absolutheit erst unter nach-aufklärerischen Bedingungen (also in voller Einsicht in die historische Vielfalt und Relativität der Religionsgeschichte) aufgekommen ist und einen (argumentativ gestützten) Begriff der Sache aufbietet. Zur Kritik an der bekannten Schrift von E. Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902; 3 1923) vgl. Fr. Brunstäd: Über die Absolutheit des Christentums (Leipzig 1905). Ganz unbefriedigend ist die Auskunft von W. Härle, jede Religion sei [für sich] absolut (vgl. Dogmatik, Berlin / New York 1995, 108; vgl. auch 109f). Pannenberg kommt seinerseits dem Begriff einer absoluten Religion nahe, wenn es heißt: „Aber in Wahrheit ist gerade die Erscheinung der göttlichen Wirklichkeit als unendliche [sc. im Endlichen] … die einzige, die definitiven Charakter hätte, weil sie die Offenheit der Zukunft, die Unabschließbarkeit der Geschichte der Menschheit auch sogar hinsichtlich ihrer Gotteserkenntnis nicht verstellen, sondern vielmehr eröffnen würde“ (288). Das ist ersichtlich im Blick auf das (eschatologisch verstandene) Christentum gesagt. 36 Mit der Stellung Mohammeds als des „Siegels der Propheten“ (Sure 33, 40) wird dieser als vollendeter Abschluss der Religionsgeschichte in einer rein positivistischen Behauptung ohne begriffliche Begründung in Anspruch genommen. Dabei ist offensichtlich die Annahme leitend, das historisch Letzte sei auch das qualitativ Höchste; das bleibt begriffslos. Zur christlichen Bestreitung eines solchen bloßen Anspruchs vgl. J. Ringleben, Der eine Gott und die vielen Religionen, in: K.-H. Kandler (Hg.), Das Christuszeugnis im interreligiösen Dialog, Neuendettelsau 2004, 72f. 37 Weniger anspruchsvoll ist der ausführliche, kenntnisreiche Religionsvergleich, den H.M. Barth zwischen den Weltreligionen und dem Christentum vornimmt; vgl. Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, Gütersloh 3 2008. 38 Zum Verständnis wahrer und konkreter Einheit des trinitarischen Gottesgedankens (im Unterschied zum islamischen) vgl. J. Ringleben, a.a.O. wie o. Anm. 17. Pannenberg äußert sich über den Weg vom primitiven (chaotischen) Dämonenglauben zum Monotheismus (265 u. 266) und insbes. über den Weg vom Polytheismus zum Monotheismus, der auch als der Weg zur Einheit der Vernunft mit sich selber zu sehen ist (vgl. 265!). Zu beiden Themen stimmt, dass P. Tillich im trinitarischen Gedanken eine lebendige Einheit von abstraktem Monotheismus und konkretem Polytheismus findet (Systematische Theologie. Band 1, Stuttgart 3 1956, 265).
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Menschverhältnis, in dem Religion besteht, auf seinen absoluten Begriff,39 Kreuz und Auferstehung verschaffen dem Menschen die Teilhabe am göttlichen Leben selber in letzter Solidarität über alle Entfremdung und Trennung hinweg,40 und im christlich gedachten Eschaton wird das religiöse Verhältnis ewig vollendet, indem Gott dann lebendig alles in allem sein wird (1Kor 15, 28).41
V Das Thema der Einheit der Religionsgeschichte, das für Pannenberg sehr wichtig ist, lässt sich natürlich nicht (auch theologisch nicht) begreifen, ohne zugleich die Vielfalt von Religionen zu behandeln.42 Mit dieser Mannigfaltigkeit ist eo ipso die Aufgabe gestellt, sie in ihrer Geschichte bzw. als Geschichte der Religion verständlich zu machen. Andererseits kann solche Einheit nicht bloß als rein faktische hingenommen,43 sondern muss auch als wahre Einheit, d. h. hier als Einheit des Begriffs (der Religion) mit sich selber begriffen werden.44 Diese Einheit als eine sich in der Religionsgeschichte hervorbringende und diese in sich aufhebende entspricht als eine „lebendige Einheit“ genau der Einheit des lebendigen Gottes.45 Die Ausgangsfrage sollte lauten: Warum ist die Religion noch nicht – und sei es in jeder ihrer einzelnen Gestalten – eindeutig fertig bzw. gibt es wegen ihrer
39 Jesus ist das existierende Gebet; vgl. J. Ringleben, Jesus. Ein Versuch zu begreifen, Tübingen 2008, 265f. 40 Vgl. J. Ringleben, Jesus, a.a.O. 578ff u. 632ff. 41 Vgl. J. Ringleben, Der lebendige Gott, a.a.O., wie o. Anm. 19, 957ff. 42 Um das Auftreten von Religion und die Religionsgeschichte theologisch zu erklären (vgl. dazu auch 290), reicht die Annahme einer religiösen „Anlage“ im Menschen (religiöses Apriori o.ä.) durchaus nicht hin, wie schon K. Barth gesehen hat; sondern es muss auf ein Offenbarungshandeln Gottes (wie keimhaft, fragmentarisch oder verstellt auch immer erscheinend) Bezug genommen werden, dessen „Lebendigkeit“ sich auch darin erweist. Das schließt freilich nicht aus, dass auf Seiten des Menschen bestimmte Bedingungen für das Empfangen solcher Offenbarung anzunehmen sind; bei Pannenberg z. B. die von ihm oft herausgearbeitete spezifische „Offenheit“ menschlichen Daseins (vgl. GSTh 1, 372 u. 377ff sowie „Was ist der Mensch?“, Göttingen 1962, 3 1967 (KVR 139/140), 5ff). 43 Eine Deutung der religiösen Vielfalt als nur verschiedener Weisen, auf Dasselbe und Eine (Göttliche) sich zu beziehen – wie sie etwa im Hinduismus üblich ist -, vermag die Geschichte der Religion nicht eigentlich theoretisch verständlich zu machen; das ist nur im Horizont des Werdens des Begriffs von Religion selber spezifisch möglich. Der Hinduismus postuliert eine unzutreffende Gleichmäßigkeit und Unmittelbarkeit zum Göttlichen und rechnet nicht mit dessen Verhältnis zur Geschichte; vgl. meine Darlegungen a.a.O., wie o. Anm. 36, 62f u. 63f (J. Macquarrie). 44 Dann auch lässt sich eine wahre Einheit der Geschichte mit der Einheit der Menschheit zeigen; vgl. aber u. Anm. 60. 45 Zur „Beständigkeit“ Gottes vgl. GSTh 1, 207 u. 208.
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Vieldeutigkeit keinen zureichenden Begriff davon, was sie ist? Zeigt die Vielfältigkeit ihrer Erscheinungen nicht, dass keine schon (als solche) die Wahrheit der Religion ist? Ihre Mannigfaltigkeit und Vielheit könnte so als Index ihrer jeweiligen Einseitigkeit verstanden werden, die noch unausgeschöpfte religiöse Potentiale in sich trägt.46 Im geschichtlichen Prozess der Religionen kommt es daher zu „Wechselbeziehungen“ (268),47 in denen sich die Einheit der Religionsgeschichte faktisch schon ausbildet (vgl. 274); oder, wie man sagen könnte, sich auszubilden „im Begriff “ ist. Pannenberg will in diesen geschichtlichen Wechselwirkungen erkennen, dass hier tatsächlich die Einheit der Religionsgeschichte hervorgetreten ist (270). Dabei fragt sich aber, ob das wirklich eine bloße Faktizität ist oder ob als ihr zugrundeliegend nicht die Selbstdurchsetzung des Logos der Religion anzunehmen ist. Geht es für Pannenberg um die Einheit (der Religionsgeschichte) als „Wettstreit“ der Religionen um die Wirklichkeit (270),48 so möchte ich in diesem Geschehen, in dem sich „Gegensätze austragen“ (271), die Lebendigkeit des Begriffs in seiner Selbstbewegung erkennen. Mithin kann ich in solcher Strittigkeit der Religionen untereinander49 nicht nur einen äußeren Kampf um die religiöse Vorherrschaft oder den Streit um verschiedene Wahrheitsansprüche sehen, sondern würde versuchen, sie als Ausdruck dem religiösen Wesen in einer jeden Religion selber immanenter Spannungen zu begreifen, bzw. ich frage, ob und wie sie (immer noch) im Widerspruch zu sich selbst existiert, beispielsweise, was das Verhältnis religiöser Form und intendiertem
46 Nach Pannenberg gibt es solche Mannigfaltigkeit von Religionen von Anbeginn (274). 47 Was die „Abfolge von Religionstypen“ bei Hegel betrifft (265), so ist damit ein „Nebeneinander“ oder sind auch „Wechselbeziehungen“ konzeptionell durchaus nicht ausgeschlossen. Denn die „Ablösung einer Religion durch eine andere“ (ebd.) ist bei Hegel nicht historisch-empirisch aufzufassen (s.o. Anm. 17); es geht ihm prinzipiell um die notwendigen Momente der sich auf ihren realisierten Begriff hinbewegenden und durch Anreicherung und Vertiefung in ihr Wesen sich konkretisierenden Erscheinung von Religion, d. h. einen Artikulationsvorgang, der nicht einfach chronologisch abzubilden ist, bzw. die logische Bewegung des zu sich kommenden Wesens jener Erscheinungen (vgl. o. Anm. 19). Auch Pannenberg konstatiert, dass solche Wechselwirkungen zwar nicht aus irgendwelchen Prinzipien zu deduzieren, aber eben in ihrem faktischen Vollzug „verstehend nachzudenken“ seien (273). Dessen jeweilige „Gründe“ (vgl. 272) hängen freilich mit der logischen Natur der Sache zusammen (vgl. beispielhaft 272f). 48 Pannenberg spricht von „spannungsvoller Einheit“ (275) oder von Konkurrenz (274) bzw. vom „Streit um das Wesen der Wirklichkeit“ (277). 49 Pannenberg sieht in den Wandlungen der Religion einen Ausdruck für das göttliche Geheimnis in seiner Strittigkeit (289; vgl. auch 295). Freilich sollte diese Strittigkeit nicht als äußere, faktische Konkurrenz aufgefasst werden.
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Inhalt50 oder eine Unausgeglichenheit zwischen gemeintem Ziel und faktischem Weg betrifft.51 Im Ganzen konstatiert Pannenberg für den Weg der Religionen – bei aller Gebrochenheit52 – als dessen Resultat: „die fortschreitende, wenn auch in der Pluralität religiöser Perspektiven unterschiedlich artikulierte Vereinheitlichung der Religionsgeschichte“ (277). Diese unterschiedliche Artikulation ist von außen her unübersehbar mit „Unterbrechungen, Rückschlägen und neuen Spaltungen“ (ebd.) gezeichnet; zu begreifen wäre sie aber als Selbstartikulation des Wesens der Religion. In solchem „Drang“ zur religiösen Vereinheitlichung (271 A. 34)53 kann man das zu sich Kommen des Logos erblicken.54 Entscheidend für diesen Prozess ist empirisch, ob es in einer Religion „Möglichkeiten zur Bewältigung neu aufkommender Situationen gibt, die in der geschichtlich gewachsenen Gestalt einer bestimmten Gottheit …schon angelegt sind und die Verknüpfung neuer Aspekte mit ihr erlauben“ (271).55 Es geht demnach um eine produktive Aufhebung, bei der sich das in einer Religion tendenziell schon Angelegte einer sie übergreifenden Integration öffnet,56 um genau
50 Zur Dialektik von religiöser „Form“ (z. B. Glaube) und religiösem Letztgehalt (z. B. Gott) als immanentem Kriterium für jede Religion vgl. J. Ringleben, Der lebendige Gott, a.a.O., wie o. Anm. 19, 75f (Exkurs I). 51 Auch das Christentum ist faktisch nur in gebrochener Weise die wahre Religion, wie Pannenberg deutlich herausstellt (vgl. 292)! In dieser Hinsicht ist es prinzipiell wichtig, dass das Christentum als Religion soz. strukturell selbstkritisch ist (vgl. zum „Maß“ seiner selbst: 292), wie schon der junge Schleiermacher wusste (Die Reden über die Religion; Urauflage 294–296). 52 Pannenberg charakterisiert die empirische Vieldeutigkeit der (insbes., aber nicht ausschließlich) außerchristlichen Religionen durch die Eigenschaften: undeutlich, vorläufig und verkehrt (vgl. GSTh 1, 380f!). 53 Deren systematische Ausbildung geschah nach Pannenberg im Hellenismus und hier nicht zufällig in Verbindung mit der philosophischen Reflexion (271 A. 34) und dem Logos-Begriff (270 A. 33). Für das AT vgl. 269 u. 270. Diese treibende Kraft setzt sich an den Religionen geschichtlich und oft gegen deren eigenes Wollen durch (288). 54 Dazu s. u. Abschn. VII. 55 Pannenberg bringt u. a. als sprechendes Beispiel die Offenheit des oberägyptischen Gottes Amun, dessen breites Spektrum von Eigenschaften zu solcher Integration (als in sich Aufheben von Anderem; z. B. des Todes) sich als fähig erwies, der Vielfältigkeit des ägyptischen Daseinsverständnisses gerecht zu werden (272). Noch für Euseb konnte später der auch mit Osiris verschmolzene Amun als Vorstufe des christlichen Pneuma gelten (ebd.) – ein schönes Beispiel für das hier „Aufhebung“ Genannte. Zum Verhältnis Gottes im AT zu fremden Göttern vgl. GSTh 1, 385. 56 Was Pannenberg in diesen Zusammenhängen „synkretistisch“ (in einem positiven Sinne) nennt, den Zusammenschluss des Verschiedenen in einem integrativen Prozess (270 A. 33), entspricht der Sache nach Hegels „Begriff “ als Einheit mit sich im Anderssein.
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so den Wesensbegriff ihrer selbst als Religion weitergehend zu erfüllen.57 Im Zuge solchen alles Vorläufige konstruktiv in sich aufnehmenden und zur Vollendung des Begriffs führenden Aufhebens vorchristlicher Religion ist diese, wie gesagt, als logisch vergangen zu begreifen.58
VI Ist für Pannenberg, wie gezeigt, die Einheit der Religionsgeschichte „nicht einfach als gegeben“ vorauszusetzen,59 sondern deren Werden (zu sich) „in den geschichtlichen Prozessen selbst zu erfragen“ (275) – also als eine erst hervorgehende Einheit (vgl. 276) –, so folgt auch bei ihm: sie ist „eher an ihrem Ende zu suchen“ (275); d. h. aber schließlich im Christentum. Damit ist gedacht: eine Einheit der wirklichen Religionsgeschichte lässt sich nicht soz. aus sich (bzw. ihr) heraus (oder gar empirisch-phänomenologisch) erheben, sondern nur von ihrem, sie intrinsisch bewegenden, um- und vorantreibenden60 Ziel her. Man darf sagen: theologisch gesehen ist auch die Religionsgeschichte eine Verheißung, die erst von ihrer Erfüllung her als spezifische Verheißung erkannt werden kann.61 Gibt es ein „Verständnis des Gesamtprozesses der allgemeinen Religionsgeschichte“ (255) allererst vom Ziel dieses Prozesses her, so erschließen sich nur so die
57 Daher ist – mit der bekannten Formulierung von D.F. Strauß gesprochen – die Geschichte der Religion mitnichten die bloße Kritik der Religion und ihres Wahrheitsanspruchs, sondern gerade der Weg zur Wahrheit ihres Wesens (vgl. auch 288). 58 Vgl. Hegel, Werke 6, 13 und schon o. bei Anm. 21. Auch die christliche Offenbarung ist mit der vorchristlichen Religionsgeschichte nur so vermittelt, dass sie sich von deren Vorläufergestalten ihrer selbst aus zu neuer, selbständiger Unmittelbarkeit jeweils abstößt. 59 Oder von einem abstrakten Apriori aus zu konstruieren (s.o. Anm. 42). Heißt es bei Pannenberg: „Der Prozeß der Religionsgeschichte kann nicht apriori konstruiert … werden“ (273), so ist zu sagen: Auch Hegel versucht nicht, eine Deduktion aus irgendeinem abstrakten Prinzip, sondern er geht davon aus, dass die Vielfältigkeit und Verschiedenheit der Religionen sich am besten „verstehend nach-denken“ lässt (vgl. ebd.), wenn sie als Bewegung des Werdens der Religion zu ihrem eigentliche Wesen aufgefasst werden. Damit sind vier theoretische Vorzüge verbunden: 1. Die Einheit der Religion, die empirisch nicht auszumachen ist, kann begriffen werden; 2. die Wesensfrage der Religion bleibt konstitutiv und wird so beantwortet, dass sie nicht mit deren faktischer Vieldeutigkeit kollidiert; 3. die grundsätzliche Bedeutung der Vielfalt von Religionen bleibt unreduzierbar erhalten; 4. es ergibt sich ein Begriff von der lebendig bewegten Einheit der Religionsgeschichte. 60 „Intrinsisch“ meint nicht das, was Pannenberg zu Recht verneint: die Menschheitsgeschichte als „Garantie eines stetigen Fortschritts“ (265). 61 Vgl. zur Vorläufigkeit der Verheißungen in Israel, die dort allerdings weithin als „Maß der Zukunft“ genommen wurden, „statt als Hinweis auf sie“ (286 A. 51).
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wahren Triebkräfte der unmittelbar vieldeutigen empirischen Geschichte von Religion – nämlich dann, wenn man als „logischen Ausgangspunkt“ z. B. nicht einfach bestimmte christliche Glaubensüberzeugungen nimmt (vgl. 255f), sondern das im Werden zu sich begriffene (und so erst zu erhellende) Wesen der Religion selbst, ihren eigenen Logos.62 Damit sind auch bei Pannenberg zwei Folgerungen verbunden. 1 „vom Ziel her“ zu denken, enthebt der problematischen Option, „bei irgendwelchen schwer zu erhellenden Anfängen der Religion“ den gedanklichen Einsatzpunkt zu suchen (276). 2. gilt: „das Ziel, das göttliche Geheimnis … kommt in den Stadien des Weges zur Erscheinung, obzwar nur in vorläufiger Gestalt“ (286).63 Geht es bei diesem, ihre Einheit erst rückwärts, vom Ziel her konstituierenden Weg der Religionsgeschichte64 um das eigene Werden des Begriffs von Religion selber, so berührt sich Pannenbergs eigenes Konzept zumindest in dieser Hinsicht deutlich mit dem Hegels, der den Anfang vom Resultat aus begreift und eben so auch den absoluten Gott denkt. Dazu führt Pannenberg die bezeichnenden Sätze Hegels an: „das Vorwärtsgehen (ist) ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der Tat hervorgebracht wird“ (GSTH 1, 218).65 Dabei findet Pannenberg eine enge Beziehung dieser Hegelschen These, „daß erst am Ende sichtbar wird, was die Wahrheit des Ganzen ist“, zum biblischen Wahrheitsverständnis.66
62 Von daher ist auch die Bedeutung „religionswissenschaftlicher Tatsachen“ (255) erst adäquat zu begreifen. Auch das Sichberufen auf „phänomenale Sachverhalte“ (256) entbindet nicht davon, diese zu interpretieren und zu verstehen. Die „innere Verwandtschaft“ der religiösen Phänomene überhaupt (260) reflektiert den im Werden befindlichen Begriff der Religion. 63 Vgl. 293: „nur in gebrochener Weise“. Gleichwohl gibt es so prinzipiell keinen Widerspruch zwischen einer möglichen definitiven Erscheinung Gottes in der Endlichkeit und deren unumgänglicher Geschichtlichkeit (vgl. 288; vgl. auch u. Anm. 69). Geht es durchaus „um das Besondere und Einmalige“ in einer jeden Religion (264; Zitat W. Holsten; vgl. A. 22), so doch nicht um dieses als bloßes Faktum, sondern um es in seiner Bedeutung für den Begriff der Religion. 64 Vgl. zu dem Hegel-konformen Gedanken „retroaktiver Konstitution“ und zur Antizipation bei Pannenberg (und in der Philosophie) J. Ringleben; Rückwirkende Konstitution. In: G. Wenz (Hg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2021, 53–68; zum „Weg“ in der Logik vgl. a.a.O., 62 Anm. 41. 65 Hegel, Wissenschaft der Logik I; Werke 5, 70. 66 Vgl. GSTh 1, 218f. Bei Pannenbergs folgender fundamentaler Hegel-Kritik wegen des angeblichen Ausfallens der Zukunft ist eine Unbestimmtheit nicht zu übersehen: er berücksichtigt hier nicht, dass es bei Hegel um die „eigene Wahrheit“ des im Werden Begriffenen geht. Auch die Kritik, dass Hegel wegen der herrschenden „Logik des Begriffs“ die Kontingenz des Geschehens nicht ernst genug genommen habe (GSTh 1, 219), scheint einerseits von einem undialektischen Verständnis des Begriffs als etwas abstrakt Allgemeinem auszugehen und andererseits dessen Entgegensetzung von Wahrheit und bloß äußerlicher Historie (ebd.) nicht vom lebendigen Begriff her zu denken. Vgl. auch o. Anm. 24.
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Gilt für Pannenberg bezüglich eines unmittelbar Seienden der Satz Hans v. Sodens: „Wahrheit ist das, was sich in der Zukunft herausstellen wird“,67 d. h. (im israelitischen Sinn) sich geschichtlich erst noch durchsetzend, und gilt jedenfalls für Hegel und Pannenberg, dass die Enthüllung des Ziels der Religionsgeschichte an ihrem (logischen) Ende stattfindet,68 so muss das theologisch als endgültige Selbstmanifestation des unendlichen Gottes in seinem Reich am „Ende“ der Geschichte gedacht werden.69 Von da aus ist der biblische Gott die zukünftige Wahrheit aller anderen Religionen immer schon gewesen,70 und so stiftet seine Selbstoffenbarung in Jesus Christus deren Einheit – von ihrer Erfüllung her: „Und so fällt von der Zukunft Gottes her das entscheidende Licht auch auf die vor- und außerisraelitische Religionsgeschichte der Menschheit“.71 Für Pannenberg erscheint folgerichtig die Religionsgeschichte – trotz aller unübersehbaren Spuren „menschlicher Fraglichkeit und Bedürftigkeit“ darin – „auch als eine Geschichte von Selbstbekundungen des wahren Gottes“.72
VII Wenn sich argumentativ zeigen lässt, dass im spezifisch christlichen Gottesgedanken73 und diesem in Korrelation zum christlichen Verständnis von Glauben74 der Begriff von Religion prinzipiell und allseitig zur Erfüllung gelangt, dann muss man mit Bruno Liebrucks sagen: „das Begreifen des Christus als des existierenden Begriffs kann nur das Begreifen sämtlicher Religionen sein. Wenn dieser Begriff war, ehe denn Abraham war [Joh 8, 58],75 so muß er schon dort gewesen sein, wo
67 Vgl. GSTh 1, 204; zu Hegel 218. 68 „Ende“ im logischen Sinn ist das vollkommene Beisichsein des Begriffs in seiner Realität, d. h. hier: die endgültige Verwirklichung des werdenden Wesens von Religion (s.o. bei Anm. 65). 69 Das Erscheinen der göttlichen Wirklichkeit als unendlich (bzw. „unerschöpflich“; 292) ist selber nur im Horizont eines Werdens zu sich zu begreifen: als der Weg (Joh 14, 6); s. die folgende Anm. 70 Der „unendliche Weg“, den die sich kritisch verändernde Religionsgeschichte zu nehmen im Begriff ist, kann nur „unter der Voraussetzung der Wirklichkeit des unendlichen Gottes“ gedacht werden (288). 71 GSTh 1, 386. In dieser Perspektive der Zukünftigkeit ist auch das Kriterium einer Prüfung jeder Gottesvorstellung zu sehen, „ob sie die Wirklichkeit als Einheit zu verstehen erlaubt und somit der Einheit der Wahrheit genügt“ (a.a.O. 222 mit Nr. 5); vgl. auch das Pannenberg-Zitat o. Anm. 35. 72 GSTh 1, 386. 73 S.o. den Kontext von Anm. 38–41. 74 S. o. bei Anm. 50 und Anm. 34. 75 Vgl. dazu J. Ringleben, Das philosophische Evangelium, a.a.O., wie o. Anm. 1, 319–327.
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Zeus und Athene waren. Er muß schon dort gewesen sein, wo sich das erste Leben auf der Erde rührte“.76 In diesem Sinne hat das Christentum auch laut Pannenberg „das Erbe dieser ganzen, in sich so vielfältigen Kultur- und Religionswelt [sc. im schon synkretistischen Hellenismus]77 angetreten“ (275f). Mit dem Hebräerbrief gesprochen: Gott hat den Sohn zum Erben über alles eingesetzt (Hebr 1, 2b).78 Umgekehrt ist aber nicht zu übersehen, dass „die religiöse Besonderheit des Christentums erst durch seine Funktion im Prozess der Religionsgeschichte selbst in den Blick“ gekommen sein dürfte (256).79 Lässt sich mithin der inkarnierte Logos als der „existierende Begriff “ des Wesens von Religion ausweisen,80 so drückt sich in ihm „die universale Relevanz des durch Jesus Geschehenen aus“ (270 A. 33).81 Von ihm her lassen sich, wie auch Pannenberg fordert, die Phänomene „auf ihren eigenen Begriff bringen“, nämlich in der „(möglichst vollständigen) Reflexion auf ihre logischen Voraussetzungen“ (290 u. A. 57). Seine Wahrheit hat der Menschgewordene als Inbegriff des Gottes der Zukunft,82 insofern er selber nur das Seinlassen dieses kommenden Gottes ist und so mit ihm eins war (vgl. 292). Pannenbergs dies resümierender Satz lautet: „Von daher stellt sich die Religionsgeschichte auch über die Zeit des Auftretens Jesu hinaus als Erscheinungsgeschichte des Gottes dar, der sich durch Jesus offenbart hat“ (292).83
76 Erkenntnis und Dialektik. Den Haag 1972, 359. Vgl. schon a.a.O. 338 (Verhältnis zu den fremden Religionen mit Hinweis auf Joh 8, 58) und B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein. Band 1, Frankfurt a.M. 1964, 470 (Christus als „Aufhebung der antiken Götter“). 77 Vgl. 270 A. 33 u. 268f. 78 Dazu J. Ringleben, Wort und Geschichte. Kleine Theologie des Hebräerbriefs, Göttingen 2019, 27f. 79 Vgl. das o. bei Anm. 61 zur Verheißung Gesagte. 290 heißt es: „erst die Perspektive läßt die Phänomene entdecken“. 80 Vgl. den Hinweis o. bei Anm. 39. Auch für Hegel ist der Inkarnationsgedanke die Selbstvollendung des Begriffs (Logos); vgl. in der Phänomenologie des Geistes; Werke 3, 551 (mit 1Joh 1, 1). 81 Dem entspricht für Pannenberg auch „die unerschöpfliche Assimilations- und Regenerationskraft“ des Christentums (270 A. 33). Ein bloß formell geäußerter oder auch nur tendenzieller Universalitätsanspruch (vgl. das Beispiel Israels: 273f) besagt noch längst nicht wirkliche, begrifflich auszuweisende Universalität. 82 Vgl. dazu 291f. 83 Daher können auch die fremden Religionen theologisch nicht nur als dem wahrhaften Gott widerstrebende, menschliche Erdichtungen beurteilt werden: „Sie haben es letztlich mit derselben göttlichen Wirklichkeit zu tun wie die Botschaft Jesu“ (293). Vgl. dazu in der Wendung in subjektive Wahrheit S. Kierkegaard: „Wenn einer, der mitten im Christentum lebt, … in des wahren Gottes Haus hinaufgeht, mit der wahren Vorstellung von Gott in seinem Wissen, und nun betet, aber in Unwahrheit betet; und wenn einer in einem Abgötterei treibenden Lande lebt, aber mit der ganzen Leidenschaft der Unendlichkeit betet, obwohl sein Auge auf dem Bilde eines Götzen ruht: Wo ist dann am meisten Wahrheit? Der eine betet in Wahrheit zu Gott, obgleich er einen Götzen anbetet;
Gibt es eine Logik der Religion?
In dieser Perspektive ist eine Theologie der Religionsgeschichte konzipierbar, die durch immanentes Begreifen fremder Religion zur eigenen, christlichen als deren Wahrheit vordringt. Denn, wie jetzt noch einmal begründet gesagt werden kann, der Logos kam als solcher auch in der Welt der Religionen in sein Eigentum (Joh 1, 11a).
der andere betet in Unwahrheit zu dem wahren Gott und betet daher in Wahrheit einen Götzen an“ (Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken I; Gesammelte Werke (Hirsch), 16. Abt. (Düsseldorf / Köln 1957), 192). Vgl. ganz ähnlich Luther WA 18, 79,8–24 sowie F.H. Jacobi, Werke (Hgg. F. Roth / F. Köppen), Dritter Band (Leipzig 1816; ND Darmstadt 1968), 302f!. Pannenberg spricht in Rankescher Wendung von der „Unmittelbarkeit zum göttlichen Geheimnis“ (294).
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Thesen gegen Feuerbach Systematische Überlegungen zu Pannenbergs Auffassung der Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses In seinen „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ (1967) vertritt Wolfhart Pannenberg die These, dass eine unvoreingenommene, auch im Hinblick auf zugrundezulegende Hypothesen offene wissenschaftliche Betrachtung der Religionsgeschichte diese eher als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses denn als fortlaufende projektive Vergegenständlichung des menschlichen Selbst im Sinne Feuerbachs zu verstehen habe. Pannenberg formuliert diese These in zusammenfassender Form: Es ergebe sich, „daß die Religionsgeschichte nicht zureichend verstanden ist, wo sie nur als Geschichte der Vorstellungen und des Verhaltens bestimmter Menschen und Gruppen gilt, die ihrerseits durch rein profane Kategorien beschrieben werden. Sachgemäßer ist die Religionsgeschichte als Geschichte des Erscheinens des in der Struktur des menschlichen Daseins vorausgesetzten göttlichen Geheimnisses zu verstehen, dessen Wirklichkeit und Eigenart aber im Prozeß dieser Geschichte selbst auf dem Spiele stehen.“1
Pannenbergs These soll im Folgenden nachvollzogen und geprüft werden. Dabei ist zunächst auf Pannenbergs – (onto)logisch anspruchsvollen – Begriff des „göttlichen Geheimnisses“ sowie dessen „Erscheinung“ einzugehen, in dessen Licht besagte These erst zu begreifen, zu begründen und gegen sich aufdrängende Einwände zu verteidigen ist.
I Der Begriff des „göttlichen Geheimnisses“ wird von Pannenberg in seinen frühen, im Jahr 1967 erstmals publizierten „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ zwar beleuchtet, nicht aber logisch expliziert. Dies geschieht jedoch in späteren Werken: sowohl in der Anthropologie in theologischer Perspektive (1983) als auch, philosophisch exakter, in Metaphysik und Gottesgedanke (1988) sowie in 1 Pannenberg 1967, 290.
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dem im selben Jahr erschienenen ersten Band der Systematischen Theologie.2 Es ist gerechtfertigt, sich dieser Klärung gleichsam rückwirkend für das Verständnis der „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ zu bedienen, da Pannenberg keinen gedanklichen Bruch zwischen selbigen und dem ersten Band der Systematischen Theologie markiert, im Gegenteil: Pannenberg bezieht sich in den dortigen Ausführungen zur Religionsgeschichte (und dem Problem natürlicher Gotteserkenntnis, welches intern mit dem Begriff des göttlichen Geheimnisses und unseres immer schon gegebenen Umgangs mit ihm verbunden ist), sogar explizit affirmativ auf seinen Aufsatz von 1967 zurück.3 In den genannten späteren Schriften wird der menschliche Umgang mit dem göttlichen Geheimnis näher bestimmt als Intuition (also Anschauung) des Unendlichen, in welchem die drei metaphysischen Totalitäten Selbst, Welt und Gott noch „ungeschieden ineinander“ „liegen“.4 Aufgrund dieser Ungeschiedenheit ist das so intuierte Unendliche „verworren“ und auch die Intuition (oder Anschauung), abgesehen von ihrer logischen Form der noch unartikulierten Unmittelbarkeit überhaupt, selbst „verworren“.5 Insofern ihr Gegenstand verworren ist, kann sie sich auch nicht in derjenigen Weise auf diesen „richten“, wie dies für nicht-verworrene, also begrifflich-logisch definite Gegenstände gilt; insofern in ihrem Gegenstand auch das (menschliche) Selbst liegt, steht der Gegenstand diesem nicht einfach gegenüber, und das Selbst kann sich daher auch nicht in derjenigen Weise auf den Gegenstand „richten“, wie dies für Gegenstände gilt, die etwas Anderes als dieses Selbst sind und dieses Selbst nicht enthalten. Diese Verworrenheit des (intuierten) Unendlichen bedeutet also, dass es nicht begrifflich-logisch definit ist: es ist nicht ein als so-und-so bestimmtes und damit begrenztes Etwas. Ist es dies nicht, so muss es, wie es scheint, nichts sein. Es gelingt nicht, sich dieser Implikation zu erwehren, indem gesagt wird, dass dieses Unendliche sehr wohl als so-und-so bestimmt ist: nämlich eben so, wie es (mit Pannenberg) soeben bestimmt wurde: als ungeschiedenes Ineinander von Selbst, Welt und Gott. Denn diese Bestimmtheit, die durch die drei metaphysischen Totalitäten gegeben wird, ist unmittelbar dadurch aufgehoben, dass ihr ungeschiedenes Ineinander gedacht wird: denn ihre Bestimmtheit haben sie nur, so sie in Differenz zueinander stehen, in irgendeinem Sinne also geschieden sind; so diese Differenz in einem ungeschiedenen Ineinander aufgehoben ist, ist auch die (vermeintliche) Bestimmtheit dessen, das dieses ungeschiedene Ineinander ist, aufgehoben, da es diese Bestimmtheit an sich nur durch die nicht-aufgehobene Differenz hätte.
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Vgl. Anthr., 67 u. 372; MuG, 20 ff.; STh I, 121 ff. Vgl. STh I, 164 u. 175. STh I, 125; vgl. dazu und zum Folgenden auch Oehl 2018. STh I, 383.
Thesen gegen Feuerbach
Es wäre nun dem Verständnis des Unendlichen, von dem Pannenberg spricht, auch gar nicht förderlich, es unmittelbar gegen den Verdacht verteidigen zu wollen, dieses sei aufgrund seiner aufgehobenen Bestimmtheit nichts. Dass es an sich nichts ist, lässt sich durch eine andere Überlegung sogar noch deutlicher machen: Insofern drei Totalitäten in diesem Unendlichen liegen sollen, kann dieses nicht einmal eine Einheit haben. Denn um eine Einheit zu haben, müsste es eine Einheit haben, die aus einer Dreiheit konstituiert ist; eine solche Konstitution wäre aber nur gegeben, wenn eine Vermittlung zwischen dieser Dreiheit und der Einheit statthätte. Dies ist jedoch beim unmittelbaren ungeschiedenen Ineinanderliegen der drei nicht der Fall. Sogar diese drei sind in ihrer Dreiheit negiert, so sie nicht mehr in Differenz zueinander stehen, sondern ungeschieden ineinanderliegen. So dem Unendlichen aber keine Einheit zukommt, gilt für es, was Jens Halfwassen als eine Art transzendentale Grundthese des (neuplatonisch formierten) Denkens von Einheit überhaupt so gefasst hat6 : „Einheit“ ist deshalb unvordenklicher Grund all dessen, was ist, da etwas, das nicht einmal eines (mêde hen) ist, eben mêde-hen, mêden – nichts ist. Nun wäre es also in der Tat ein unmittelbarer Widerspruch, über etwas Aussagen zu treffen, wobei eine Aussage über dieses etwas ist, dass dieses etwas nicht eines ist; denn wäre dies der Fall, wäre es kein etwas, über das überhaupt Aussagen getroffen werden könnten, sondern – nichts. Pannenberg hat diese Problematik zwar nicht explizit konfrontiert. Doch ist seine Konzeption des Unendlichen, das vom menschlichen Selbst immer schon intuiert wird, so konsequent durchdacht, dass sich an ihm ein Umgang mit dieser Problematik entwickeln lässt, in welchem diese Konzeption nicht nur verteidigt, sondern in ihrer eigentümlichen Logik erst voll entfaltet und zum Verständnis gebracht werden kann. Dieser Umgang führt uns auf den Begriff der „Erscheinung“ dieses (immer schon intuierten) Unendlichen, den Pannenberg in seinen „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ als wesentlichen Bezugsbegriff des „Unendlichen“ (das er dort das „göttliche Geheimnis“ nennt) gebraucht. Es lässt sich die Verworrenheit, Nicht-Einheit und damit Indefinitheit des (immer schon intuierten) Unendlichen nämlich auch so fassen, dass es aufgrund dieser fundamental defizitären logischen Form genötigt ist, zu erscheinen – um sich in seinen Erscheinungen als in einer Weise nicht-verworren, ent-wickelt, somit auch Einheit besitzend und definit zu zeigen, dass ihm vermittels dieser Erscheinungen diejenige Einheit zugesprochen werden kann, die ihm zugesprochen werden muss, wenn es nicht einfachhin nichts sein soll. Dies ergibt eine Dialektik von Erscheinung und dem, was erscheint, die derjenigen in Hegels Wesenslogik (jedenfalls zunächst) geistesverwandt ist: Etwas, das unbestimmt ist, aber ontologisch gleichsam alles (oder „Sein“) sein soll, ist nichts, wenn es nicht erscheint; daher gilt: so das Sein nicht bloßer Schein und letztlich nichts sein soll,
6 Vgl. zum Folgenden Halfwassen 2006, 37 ff.
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muss es etwas sein, das erscheint. Das Sein – als unerschienenes – ist also vergangen und nunmehr ge-wesen: Es ist nun Wesen. Als dieses Wesen muss es also erscheinen, um nicht wieder bloß Sein und damit Nichts zu sein. „Das Wesen muß erscheinen.“7
II Jedoch weicht Pannenbergs nähere Entwicklung dieser Dialektik von Hegel ab: Hegel denkt das Sein und das Wesen als etwas, das in Wahrheit der subjektförmige Begriff ist, und sich durch diese Entwicklung vom Sein über das Wesen zum Begriff hin als subjektförmig zeigen muss. Für Pannenberg, dem das anfängliche „Sein“, anders als Hegel, schon bestimmt ist, wenngleich in Form aufgehobener Bestimmtheit – nämlich als diejenige Unbestimmtheit, die sich als ungeschiedenes Ineinanderliegen von Selbst, Welt und Gott begreifen lässt und die, wenn sie erscheint (wozu sie genötigt ist), sich in ein Verhältnis dieser Totalitäten entwickeln muss –, ist die Verworrenheit dieses „Sein“ (oder Unendlichen) etwas, das sich in dessen Erscheinungen ebenfalls zeigt: zunächst im (geschichtlich feststellbaren) Faktum ihrer unübersichtlichen, zersplitterten Vielfalt. Doch auch die in diesem Unendlichen gegebene Un-entschiedenheit zwischen Selbst, Welt und Gott ist etwas, das sich in den Erscheinungen dieses Unendlichen zeigt: Zwar ist, wie gesagt, auch mit Pannenberg der hegelschen Einsicht zuzustimmen, dass dieses Unendliche nichts wäre, wenn es nicht erschiene8 – allerdings ist diese seine Erscheinung nicht logisch aus diesem Unendlichen zu entwickeln, da es logisch verschiedenartige Ent-wicklungsmöglichkeiten dieses Unendlichen gibt, die geschichtlich auch manifest sind: So kann das ungeschiedene Ineinanderliegen von Selbst, Welt und Gott gerade auch bedeuten, dass die Welt etwas ist, das Gesichtszüge von Selbst und Gott aufweist, damit die Grenzen der drei (vermeintlichen) Totalitäten sprengt und so in einer grenzenlosen und in diesem Sinne unendlichen Totalität auflöst – wie im Animismus, der so eine Erscheinung dieses Unendlichen ist. Es kann aber auch bedeuten, dass Gott derjenige ist, dem Unendlichkeit gerade dadurch zukommt, dass er von Selbst und Welt geschieden bleibt, indem er sich (in) Selbst und Welt als menschgewordener Gott offenbart – wie im Christentum, das so auch eine Erscheinung dieses Unendlichen ist.
7 WL, 323. 8 Diese These ist kompatibel mit derjenigen, dass die Offenbarung Gottes frei und nicht (logisch) notwendig ist. Denn: Das Unendliche ist – eben gerade aufgrund seiner Verworrenheit – nicht einfachhin mit Gott zu identifizieren (vgl. dazu Oehl 2018); die Erscheinung des Unendlichen ist – wie Pannenberg in seinem Aufsatz von 1967 hervorhebt – nicht einfachhin mit der Offenbarung Gottes zu identifizieren, da die Offenbarung Gottes die endgültige Erscheinung des Unendlichen ist.
Thesen gegen Feuerbach
So ist Pannenbergs Begriff des „Unendlichen“ nicht auf dessen logische Entwicklung festgelegt, die Hegel ihm in seiner Wissenschaft der Logik zugedacht hat. Damit differiert Pannenberg von (seinem) Hegel nicht nur in der Überzeugung, dass das trinitarisch-personale Verständnis von Gott nicht allein logisch (negativ), sondern nur logisch und geschichtlich (positiv) aufzuweisen sei9 ; sondern auch darin, dass er die logische Vereindeutigung des Begriffs des Unendlichen innerhalb der Logik für eine hält, die die Logik nur vornehmen kann im Vorgriff auf das geschichtlich bereits Offenbarte (– und damit, so die Logik sich selbst recht erkennt, notwendig im Bewusstsein, dass sie ein solcher Vorgriff ist). Ohne diesen Vorgriff wäre diese Vereindeutigung nicht möglich – weshalb sie es auch nicht in denjenigen geschichtlichen Zeiten ist, in denen dieser Vorgriff noch nicht möglich ist. Konkret und beispielhaft gesprochen: In der Blütezeit des Animismus kann die Dialektik des Unendlichen und Endlichen nicht so entwickelt werden, wie sie in Hegels Wissenschaft der Logik entwickelt wurde; daher konnte ein Anhänger des Animismus auch beim besten Willen nicht philosophisch so denken, dass er eingesehen hätte, dass das, was er glaubt, der Form nach in philosophischer Logik zu widerlegen ist. Zwar intuiert auch der Anhänger des Animismus das Unendliche – dies ist Pannenberg zufolge ein geschichtlich invariantes anthropologisches Faktum10 ; doch dessen begrifflich-logische Entfaltung ist nicht geschichtlich invariant diejenige, die Hegel in seiner Wissenschaft der Logik gegeben hat. Eingedenk dieser Differenzierungen also kann Pannenberg Hegels logische Vereindeutigung des Begriffs des Unendlichen innerhalb der Logik durchaus für vernünftig halten. Die Wissenschaft der Logik wäre dann in einer Weise zu lesen, der gemäß sie wesentlich von (stillen) Abhängigkeiten vom geschichtlich-Realen durchdrungen ist, auch schon von Vorgriffen auf dessen geistphilosophische und theologische Gehalte – näherhin auf solche, deren logische Form gerade der BeziehungsLogik der Offenbarungsreligion entspricht. Eine Lesart in diesem Geiste hat Michael Theunissen in seinem reichen Buch Sein und Schein vorgetragen; sie darf in der Sache wohl mit Pannenbergs Zustimmung rechnen.11 (So verbindet Pannenberg
9 Vgl. dazu meine näheren Ausführungen in Oehl 2016 und Oehl 2020. 10 Dies hat auch Michael Theunissen in seiner Rezension von Pannenbergs Schrift „Gottesgedanke und menschliche Freiheit“ herausgestellt – und problematisiert. Theunissen wirft die Frage auf, ob in einem konsequent geschichtlichen Denken nicht auch noch die freiheitliche Verfasstheit des menschlichen Seins als konkret und wesentlich in die geschichtliche (Nicht-)Realisierung von Freiheit eingeflochten gedacht werden muss – also so, dass diese Verfasstheit des menschlichen Seins selbst eine Geschichte hat und geschichtlich ist, sodass die Form geschichtlich invarianter anthropologischer Fakten ausgeschlossen wäre (vgl. Theunissen 1974, 268). 11 Vgl. die daraus resultierende Perspektive bei Theunissen 1978, 42: „Daß die objektive Logik Theologie von der Vergegenständlichungstendenz des traditionellen ontologischen Denkens befreien möchte, kann mithin für die Begriffslogik ebensowohl bedeuten: Sie eröffnet dieser den Zugang
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und Theunissen eine sachlich nicht zuletzt so begründete Frontstellung gegenüber Falk Wagner, der besagtes Buch einer scharfen Kritik unterzogen hat.12 ) Die soweit angestellten Überlegungen erhellen aber auch einen Befund, auf den Walter Dietz in seinem Beitrag zum 2. Pannenberg-Kolloquium im Jahr 2015 hingewiesen hat13 : Dass Pannenberg eine – ich füge hinzu: bei seiner historischer Gelehrsamkeit und Sensibilität durchaus überraschende – Amalgamierung von Descartes’, Hegels (und letztlich auch Schleiermachers) Konzeptionen des Unendlichen vornimmt. Es gibt, wie Walter Dietz gezeigt hat, gute historisch-exegetische Gründe, diese Amalgamierung für problematisch, wenn nicht gar unstatthaft zu halten; doch auch Dietz fügt unmittelbar hinzu, dass es sich – der Sache nach – um eine „konstruktive Fehlinterpretation“ Pannenbergs handelt. Wenn das bisher Gesagte richtig ist, lässt sich der sachliche Grund für diese (Fehl-)Interpretation in ihrer Konstruktivität – ja eine dahinter liegende Absicht – genauer fassen: Pannenberg zeigt auf, dass die Differenz zwischen den drei Konzeptionen des Unendlichen bei Descartes, Hegel und Schleiermacher nicht der Tatsache geschuldet ist, dass mindestens zwei der drei einem Irrtum aufgesessen sind und die wahre Konzeption, die einer der drei (oder keiner) erkannt hat, damit verfehlt haben. Vielmehr legen sich alle drei auf eine bestimmte unter mehreren möglichen Vereindeutigungen des Begriffs des Unendlichen fest, der an sich nicht eindeutig ist. (Dies würde also bedeuten, dass selbst unter gleichen oder vergleichbaren geschichtlichen Vorzeichen die logische Vereindeutigung des „Unendlichen“ noch nicht unstrittig und somit nicht notwendig diese oder jene ist.)
III Damit also zurück zum Begriff der „Erscheinung“ dieses Unendlichen, das Pannenberg in seinem Aufsatz von 1967, wie schon gesagt, das „göttliche Geheimnis“ nennt. Dieses Unendliche muss erscheinen, um nicht einfachhin nichts zu sein. Es ist aber nicht an sich logisch festgelegt auf eine bestimmte Form seiner Erscheinung. Wie aber sind seine Formen der Erscheinung und seine konkreten Erscheinungen dann festgelegt? Zunächst durch die Faktizität der geschichtlichen Entwicklung, die uns mit positiven Formen der Erscheinung und solchen konkreten Erscheinungen konfrontiert. Die konkurrierende Vielfalt dieser positiven Formen und konkreten Erscheinungen ist gerade etwas, das dem Begriff des „Unendlichen“ nicht zur Offenbarungstheologie als zum schlechthin Anderen gegenüber einer Metaphysik, die seit ihrer Geburt aus dem Geist des Griechentums Ontologie war.“ 12 Diese Kontroverse ist, in ihrem Bezug auf Pannenberg, ausführlich dargestellt bei Wenz 2021, 55 ff. 13 Dokumentiert in Dietz 2016. Zu Pannenbergs Descartes-Rezeption im Besonderen vgl. auch Nüssel 2016.
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widerspricht, sondern entspricht: Denn gerade darin, dass diese Erscheinungen vielfältig sind, zeigt sich, dass sie Erscheinungen des an sich (noch) verworrenen Unendlichen sind; seine ent-wirrenden Ent-wicklungen machen, neben- und nacheinander besehen, ihrerseits zunächst den Eindruck des Verworrenen – da sie dessen Erscheinungen sind. Doch nicht nur in dieser Vielfalt der Erscheinungen zeigt sich die Verworrenheit dessen, das in ihnen erscheint. Vielmehr zeigt sich diese Verworrenheit auch gerade darin, dass sich auch noch in diesen konkreten Erscheinungen selbst das Ineinander von Selbst, Welt und Gott manifestieren kann: Als Beispiel war vorhin schon der Animismus genannt worden, der sehr präzise so bestimmt werden kann, dass dessen Erscheinung des göttlichen Geheimnisses nicht entweder als Gott oder als Mensch oder als Welt bestimmt werden kann, sondern vielmehr als etwas, das zwischen diesen „Alternativen“ noch unentschieden ist. Zwar ist diese Erscheinung eine Vereindeutigung des göttlichen Geheimnisses dahingehend, dass diese Erscheinung bestimmt ist: sagen wir, in der Erfahrung einer mich übersteigenden, da mir gegenübertretenden geistigen Kraft in einem Naturding, die mit meiner Seele verbunden ist und von mir auch so erfahren wird. Doch gerade diese Formulierung zeigt, dass das, was da erfahren ist, nach unseren Maßstäben weder eindeutig „Gott“ noch eindeutig „Mensch“ noch eindeutig „Welt“ ist. Das impliziert nun, dass Pannenberg zufolge ein Wahrheitsmoment darin liegt, die Erscheinung des göttlichen Geheimnisses als (Selbst-)Vergegenständlichung des menschlichen Selbst aufzufassen; denn insofern in dieser Erscheinung das Unendliche erscheint, in dem das Selbst ja unmittelbar liegt, erscheint sich und begegnet sich dieses Selbst in der Erscheinung des göttlichen Geheimnisses immer auch selbst. Umgekehrt lässt sich sagen: Die monotheistische Religion ist wesentlich dadurch bestimmt, diese Verworrenheit so entworren zu haben, dass eine Offenbarung Gottes an das menschliche Selbst definitiv keine Selbstoffenbarung des Selbst in dem Sinne ist, dass der in dieser Offenbarung handelnde Gott und mein Selbst ineinander wären – vielmehr wird, nach dem Verständnis der christlichen Religion, dem Selbst in der Offenbarung Gottes an es gerade offenbar, dass es selbst nicht Gott ist, aber Gott selbst Mensch ist. In diesem Sinne ist die Offenbarung Gottes das Ende derjenigen Erscheinungen des göttlichen Geheimnisses, die tatsächlich eine Selbstvergegenständlichung – und damit Projektion – des menschlichen Selbst zum wesentlichen Bestimmungsmoment haben; in diesem Sinne ist, wie Kurt Appel treffend formuliert, die wahre Religion das „Ende aller Projektionen“.14
14 Appel 2018, 63, der weiter – mit Bezug auf Hegel – ausführt: „Hegels Religionsphilosophie bringt damit das genaue Gegenteil von Feuerbachs Religionskritik zum Ausdruck. Feuerbach wollte die Religion als Projektion des Menschen dechiffrieren. Bei Hegel bedeutet die Religion hingegen das Ende aller Projektionen. Die Religion als Selbstbewusstsein des absoluten Geistes bedeutet, dass sich das Selbst nicht mehr von seiner Gegenständlichkeit her versteht, sondern von der Auflösung derselben.“
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In diesem Licht lässt sich auch die Bedeutung des Selbstunterscheidungsgedankens in Pannenbergs Trinitätslehre vertieft verstehen.15 Es gibt zwei Ausgangspunkte, von denen aus man sich in der entsprechenden historischen Situation auf das Auftreten Jesu richten könnte: entweder in der Erwartung, dass die im jüdischen Monotheismus erreichte Abscheidung von Gott und (menschlichem) Selbst gewahrt bleiben sollte, oder in der Erwartung, dass sie zugunsten eines erneuten Ineinanderliegens von Gott und (menschlichem) Selbst überschritten werden sollte. Jesu historisches Auftreten hat, wie Pannenberg es versteht, beide Erwartungen nicht erfüllt. Vom Ausgangspunkt der ersten Erwartung zeigt sich, dass Jesus die Abscheidung von Gott durch seine Selbstunterscheidung von Gott in einer so radikalen, unter sündhaften Menschen nicht auftreten könnenden Weise realisiert, dass er gerade dadurch eins mit ihm ist und die Abscheidung tatsächlich überschreitet; vom Ausgangspunkt der zweiten Erwartung zeigt sich, dass Jesus ein unmittelbares Ineinanderliegen seiner selbst mit Gott, seinem himmlischen Vater, aufs schärfste negiert und (s)ein Einssein mit ihm so und nur so vermittelt realisiert, dass er diese scharfe Negation in seiner konsequenten Selbstunterscheidung setzt.
IV Damit zurück zur berühmten Projektionsthese Feuerbachs16 : Wenn sich an der Religionsgeschichte also religiöse Formen aufweisen lassen, die sich nicht ohne den Gedanken einer Selbstbegegnung des Selbst verstehen lassen, so spricht dies nicht notwendig für die Projektionsthese Feuerbachs, der gemäß alle Religion wesentlich und nur eine vergegenständlichende Vorstellung des menschlichen Selbst ist. Es kann genauso gut für Pannenbergs Auffassung sprechen, derzufolge alle Religion Erscheinung des göttlichen Geheimnisses ist – und manche (vorläufige) Erscheinungen die wesentliche Verworrenheit desselben als (immer schon intuiertes) Unendliches so zur Erscheinung bringen, dass sie nicht bloß Erscheinungen einer Gottheit, sondern darin zugleich (Selbst-)Erscheinungen des menschlichen Selbst sind. Soweit ist aber nur ein „Gleichstand“ beider Auffassungen – derjenigen Feuerbachs und derjenigen Pannenbergs – hergestellt. Ausgehend von diesem Gleichstand gilt es nun zu zeigen, ob und inwieweit Pannenbergs Auffassung mit Recht eine Überlegenheit gegenüber derjenigen Feuerbachs beanspruchen kann; ob und
15 Vgl. dazu auch meine Überlegungen in Oehl 2020. 16 Die folgende Auseinandersetzung mit Feuerbach ist auf dessen Hauptwerk, Das Wesen des Christentums, beschränkt.
Thesen gegen Feuerbach
inwieweit sie also in Bezug auf die Religionsgeschichte in ihrer Faktizität angemessener, erklärungskräftiger – oder besser: verstehenskräftiger – ist. Ihren Ausgang können diese weiteren Überlegungen davon nehmen, dass – auf Basis des bisher Argumentierten – ein zunächst durchaus naheliegender Einwand gegen Pannenberg zurückgewiesen wird. Dieser Einwand geht davon aus, dass Pannenbergs Erklärung einer Veränderung einer bestimmten geschichtlich gegebenen religiösen Gestalt folgende Form hat, die sich an einem Beispiel für eine „Widerfahrnis“ im Sinne Pannenbergs17 anschaulich klarmachen lässt: Ein bestimmtes Volk glaubt an eine bestimmte Gottheit A und ihm widerfährt eine Epidemie, die viele Todesopfer fordert und das gesamte Volk in Angst und Unsicherheit versetzt, die das gesamte – insbesondere das soziale und kulturelle – Leben dieses Volkes einschränkt und anders werden lässt. Dieses Widerfahrnis lässt sich nicht in Einklang mit dem (vermeintlichen) Wesen der (vermeintlichen) Gottheit A bringen; aus dieser Widerfahrnis heraus „verblaßt“18 daher die Macht, die die Gottheit A für und über dieses Volk hatte, und eine neue Gottheit B kommt für es auf und erstarkt für es – eine, die es so versteht und zu erfahren glaubt, dass sie als Moment ihrer Güte eine Pandemie zur Züchtigung seines verirrten, da an Gottheit A abgefallenen Volkes schickt. Pannenbergs Erklärung, so der Einwand, habe die folgende Form: Was dem Volk als A und B erscheint, ist in Wahrheit das „göttliche Geheimnis“, das in beiden erscheint; A und B sind also nicht A und B, wie sie dem Volk erscheinen, das sie ja nicht als Erscheinungen des göttlichen Geheimnisses versteht. Die Form des „A und B sind nicht A und B, wie sie dem Volk erscheinen, sondern in Wahrheit x“ weist auch Feuerbachs Erklärung auf, wobei das „x“ das menschliche Selbst (in seiner Konkretion gemäß einem bestimmten historisch und soziokulturell bedingten Verständnis) ist. Was diese Form in abstracto angeht, herrscht also weiterhin Gleichstand zwischen Feuerbach und Pannenberg. Allerdings könnte mit Feuerbach nun folgender Einwand geltend gemacht werden: Anders als das göttliche Geheimnis, das diesem Volk nicht als göttliches Geheimnis bewusst ist, ist ihm das menschliche Selbst sehr wohl als menschliches Selbst bewusst – zwar auch nicht so, dass ihm A und B als in Wahrheit das menschliche Selbst seiend bewusst sind; aber doch so, dass das menschliche Selbst in der Lebensform dieses Volkes bekannt, thematisch, Gegenstand des Bewusstseins ist: sowohl im ganz elementaren Sinne, dass die Menschen dieses Volkes qua Menschen Selbstbewusstsein haben, als auch im weiteren Sinne, dass sie einander als Menschen und damit als Selbste wahrnehmen und (an)erkennen – vielleicht nicht im Modus des modernen Begriffs des Menschen und seines Selbst, aber doch so, dass der Unterschied zwischen Selbst und dem,
17 Zur Einführung dieses zentralen Begriffs des „Widerfahrnisses“ vgl. Pannenberg 1967, 284. 18 So Pannenbergs eigener Terminus (Pannenberg 1967, 285).
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was kein Selbst ist, präsent ist. Analoges gilt allerdings nicht, wie zuzugeben ist, für das göttliche Geheimnis: Es ist nichts, wovon das Volk in seinen elementaren Lebensform-Vollzügen ein Bewusstsein hätte – außer eben, indirekt und vermittelt, in seinem religiösen Verhältnis zu A oder B. Daraus kann Feuerbach nun, so scheint es, gegen Pannenberg ein Argument aus der ontologischen Sparsamkeit der Erklärungs- oder Verstehensprinzipien gewinnen: Zwar sei es denkbar, dass es sich verhält, wie Pannenberg vorschlägt, doch sei mangels einer (im zu Verstehenden festzustellenden) Ausgewiesenheit der Existenz des göttlichen Geheimnisses die ontologische Verpflichtung auf ein solches zu vermeiden, wenn es ein Erklärungsoder Verstehensprinzip gibt, das ohne diese Verpflichtung auskommt und auch ohne eine Verpflichtung auf etwas anderes, dessen Existenz nicht ausgewiesen ist. Ein solches Erklärungs- oder Verstehensprinzip gibt es in der Tat: es ist dasjenige Feuerbachs, demgemäß das religiöse Verhältnis zu A oder B – verstanden als Vorstellung des Volkes von A oder B – als Vergegenständlichung (oder Objektivation) des menschlichen Selbst im Modus einer Gottesvorstellung zu verstehen ist. Doch dieser Einwand beruht auf einer unhinterfragten Voraussetzung, die mit den vorangegangenen Überlegungen zur Logik des göttlichen Geheimnisses (des Unendlichen, das intuiert wird) und seiner Erscheinung zunichte gemacht werden kann. Wie sich gezeigt hatte und an dieser Stelle noch einmal explizit zu machen ist, handelt es sich beim göttlichen Geheimnis nicht um ein definites „etwas“, das als solches in eine undialektische Relation der Identität oder Nichtidentität zu etwas anderem gesetzt werden kann; insbesondere sind seine Erscheinungen kein solches anderes, das logisch „neben“ es als ein solches etwas treten könnte: Als Erscheinungen dessen, was ohne diese Erscheinungen an sich nicht einmal eines – nichts – wäre, sind sie in diesem Sinne dasjenige, dessen Erscheinung sie sind; und doch negiert die Logik der Erscheinung diese Identität dahingehend, dass sie qua Erscheinungen eben Erscheinungen dessen sind, das in ihnen erscheint – und in diesem Sinne nicht einfach dasjenige sind, das in ihnen erscheint. Diese dialektische Identität der Identität und Nichtidentität in der Logik der Erscheinung – die auch Feuerbach, so er wirklich Hegelianer ist, nicht als Unsinn abtun dürfte – impliziert nun aber ein Verständnis der vorher gegebenen Erklärungsform, eine Konkretisierung derselben, die den mit Feuerbach entwickelten Einwand zunichte macht. Denn so sehr es richtig bleibt, dass dem Volk das göttliche Geheimnis nicht als göttliches Geheimnis (in seinem dialektischen Verhältnis zu seinen Erscheinungen) bewusst ist, so unrichtig ist es, dass das Volk nur von A und B ein Bewusstsein habe, nicht aber (auch) vom göttlichen Geheimnis. Denn im erläuterten Sinne sind A und B das göttliche Geheimnis; und das göttliche Geheimnis ist – logisch gesehen – nicht etwas, das an sich, also auch ohne seine Erscheinung, außerhalb ihrer, zu Bewusstsein kommen könnte. Das unterscheidet die Logik der Erscheinung des göttlichen Geheimnisses von der Logik der Objektivation des Selbst: Das Selbst kann sehr wohl auch ohne Objektivation – nämlich in einer Selbsterkenntnis, die
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solche Objektivation und damit die Religion überwunden hat – zu Bewusstsein kommen, und ist im Selbstbewusstsein auch immer schon bei Bewusstsein. Das ist ja eine Leitidee von Feuerbachs Kritik der Religion. Pannenbergs Auffassung enthält also in der Tat „etwas“, das dem Volk nicht als dieses etwas an sich zu Bewusstsein tritt; doch es ist ein „etwas“, das kein etwas ist; das prinzipiell nicht als dieses etwas an sich zu Bewusstsein kommen kann. Daher ist das Bewusstsein von A und B, das das Volk hat, dasjenige Bewusstsein des göttlichen Geheimnisses, welches – der logischen Form nach – allein möglich ist. Damit ist der Einwand zunichte, es würde sich beim göttlichen Geheimnis um etwas handeln, das in der Lebensform des Volkes nicht zu Bewusstsein kommt (– wenn wir sein Verhältnis zu A und B als Teil dieser Lebensform betrachten, was offenbar adäquat ist). Die ontologische Verpflichtung auf das „göttliche Geheimnis“ konfligiert daher nicht mit der (von Pannenberg selbst affirmierten) Methode eines immer auch von innerhalb dieser Lebensform und deren Bewusstsein aus verfahrenden, mitvollziehenden Verstehens; sie ist daher keine ontologische Verpflichtung, die man zwar von theologischer Warte, als im Interesse der Theologie liegend, motivieren kann, jedoch nicht einem (ebenfalls von Pannenberg selbst eingeforderten) „aufgeschlossenen“ Blick auf die Religionsgeschichte in ihrer Faktizität standhalten kann.
V Nach dieser Zurückweisung des Einwands sind nun zwei Wahrheitsmomente von Feuerbachs Auffassung herauszustellen, die Pannenberg affirmiert und in seine Auffassung zu integrieren vermag: dass die vorgestellte Gottheit A nicht existiert – und dass ihre Nichtexistenz gerade dadurch zu begründen ist, dass sie (noch) unmittelbar Züge des menschlichen Selbst hat. Zunächst: Das gegebene Beispiel der Gottheiten A und B kann sich so ausprägen, dass das Volk die Existenz von Gottheit A in Zweifel zieht, ja zur Überzeugung gelangt, dass Gottheit A nicht existiert; dass das Widerfahrnis gezeigt habe, dass sie nicht existiert. Diese Überzeugung ist sowohl in Feuerbachs als auch in Pannenbergs Auffassung wahr – wenngleich aus verschiedenen Gründen: Feuerbach zufolge ist Gottheit A in Wahrheit das menschliche Selbst in seiner Objektivation; Pannenberg zufolge ist Gottheit A in Wahrheit das göttliche Geheimnis, dessen endgültige Erscheinung – oder Offenbarung – noch aussteht. (Wobei, wie Pannenberg explizit betont, an dieser Stelle nicht die Wahrheit der christlichen Offenbarung vorauszusetzen ist; es genügt zum Verstehen soweit, die immanente, zur möglichen weiteren Entwicklung der Religionsgeschichte möglicherweise relative Wahrheit
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des beschriebenen Volkes, das nun an B (und seine Existenz) und nicht mehr an A (und seine Existenz) glaubt, festzustellen.19 ) Diese Differenz zwischen Feuerbachs und Pannenbergs Begründung für die Wahrheit der Überzeugung, dass Gottheit A nicht existiert, muss aber ebenfalls dialektisch abgeschwächt werden: Denn es ist erneut daran zu erinnern, dass das göttliche Geheimnis im unmittelbaren Ineinanderliegen von Gott, Welt und Selbst besteht. Das bedeutet, dass seine Erscheinung auch eine Erscheinung sein kann, in der Gott und Selbst noch nicht (hinreichend) getrennt sind; eine spätere, entwickeltere Erscheinung kann sodann eine sein, in der diese Trennung (fortgeschrittener) gegeben ist. Dann kann das Volk – retrospektiv – die Nichtigkeit von A auch so verstehen und, von seinem Standpunkt aus, begründen, dass A nicht wahre, reine Gottheit sein kann, da sie (noch) zu sehr Mensch ist. Das wird es als Volk in seiner Lebensform freilich nicht in diesem begrifflichen Modus – weder im Modus von Feuerbachs noch im Modus von Pannenbergs philosophischer bzw. theologischer Konzeption – fassen; aber doch kann es ein Bewusstsein davon zeigen, das es religionsgeschichtlich als Ausdruck dieses Gedankens zu verstehen und aufzuweisen gilt. Dieses Bewusstsein kann beispielsweise in narrativer Form bezeugt sein: Ein gutes Beispiel hierfür ist das so plastisch erzählte Ringen Elias mit seinem Volk, das dem Baalskult anhängt. Die von Elia prophetisch angekündigte Dürre könnte das Volk als eine Widerfahrnis erfahren, die sie als Strafhandeln des Gottes Elias aufgrund des Abfalls des Volkes versteht, also als Erweis der Wirklichkeit dieses Gottes; die Dürre könnte das Volk aber auch darin bestärken, dem Baal anzuhängen, da sich der Gott Elias gerade nicht als derjenige erweist, der sein lebenserhaltendes Schöpferwerk fortsetzt. Bemerkenswert ist nun, dass Elia die Unwirklichkeit von Baal gerade daran zeigt, dass Baal „nicht antwortet“, dass überhaupt keine Widerfahrnis von ihm ausgeht; und noch bemerkenswerter ist, dass Elia dies damit begründet, dass Baal allzu menschlich ist und gerade deshalb gewiss und prinzipiell nicht vermag, was die ihn Anrufenden sich von ihm erwarten: nämlich ein Handeln, eine Widerfahrnis, in der sich seine Wirklichkeit zeigt. Inszeniert wird dieser Gedanke Elias in einer Rede im Rahmen einer Opferprobe, mit der die entscheidende Frage 19 Allerdings betont Pannenberg, dass die Kategorie der Wahrheit in diesem Verstehen der Religionsgeschichte nicht verzichtbar oder gar eliminierbar, da etwa auf bloß deskriptives Vokabular reduzierbar, ist. Er spricht ausdrücklich davon, dass das religionsgeschichtlich festzustellende, mit Widerfahrnis intern zusammenhängende Verblassen und Erstarken von etwaigen Gottheiten wissenschaftlich in einem bestimmten Sinne durchaus als Streit um die Wahrheit aufzufassen ist: So ist von der „Geschichtlichkeit des Erscheinens der göttlichen Wirklichkeit“ zu sagen, dass sie „ihre früheren Erscheinungen keineswegs immer bestätigt, sondern oft dementiert“ (Pannenberg 1967, 285 [Hvh. geändert von T.O.]); außerdem sei „die Wirklichkeit der Götter selbst gefährdet oder gar strittig […] in der Geschichte der Religionen“, wobei „[a]ls Argumente in diesem Streit […] die einzelnen religiösen Erscheinungen zu verstehen [sind], als Argumente – mehr oder minder kraftvoll – für die Wirklichkeit und Macht des göttlichen Geheimnisses.“ (289 [Hvh. geändert von T.O.])
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beantwortet werden soll: Wer erweist nun seine Macht in Antwort auf das Opfer? Und so drückt Elia rhetorisch scharf aus, dass der Gott der Baalsdiener nicht antworten könne – aufgrund genuin menschlicher Defizite, die diesen „Gott“ Baal in seiner Gottheit fraglich, ja eigentlich lächerlich und somit zunichte machen: „Baal, erhöre uns! Aber es war da keine Stimme noch Antwort. Und sie hinkten um den Altar, den sie gemacht hatten. Als es nun Mittag wurde, verspottete sie Elia und sprach: Ruft laut! Denn er ist ja ein Gott; er ist in Gedanken oder hat zu schaffen oder ist über Land oder schläft vielleicht, dass er aufwache. Und sie riefen laut und ritzten sich mit Messern und Spießen nach ihrer Weise, bis ihr Blut herabfloss.“ (1. Kön 18, 26b–28; Hvh. T.O.) Dies ist ein biblischer Text, der nicht umstandslos für ein religionsgeschichtliches Zeugnis genommen werden muss, vielleicht nicht einmal darf. Doch das ändert nichts am Zweck dieses Beispiels für die hier verfolgten Überlegungen: Damit sollte veranschaulicht werden, in welchem Sinne sich in der Religionsgeschichte selbst ein Bewusstsein davon zeigen kann, dass eine Gottheit nicht existiert, weil sie – als (frühe) Erscheinung des göttlichen Geheimnisses – Gott und (menschliches) Selbst in einer Weise amalgamiert, die die erwartete Macht Gottes über das menschliche Selbst und die dafür vorauszusetzende Differenz beider nicht möglich sein lässt. Anders als im Falle Feuerbachs ist dies nach Pannenbergs Auffassung aber nicht so zu verstehen, dass das Selbst – welches allein wirklich ist – eine Objektivation bloß seiner selbst geschaffen hat; sondern so, dass das Selbst in seiner Wirklichkeit, die ursprünglich die Wirklichkeit in der Unmittelbarkeit des göttlichen Geheimnisses ist, in dessen Erscheinung also mit-wirkt und daher in den Erscheinungen des göttlichen Geheimnisses selbst mit-erscheint. Von der Warte späterer – insbesondere monotheistischer – Formen von Religion aus lässt sich dies durchaus als eine Form von „Selbst-Projektion“ verstehen – doch als eine, die in der Ent-Wicklung der Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses selbst liegt, da das Selbst selbst unmittelbar in diesem göttlichen Geheimnis liegt und daher auch schon immer im Mit-Sein mit Gott und Welt ist, und nicht als eine, die das Selbst, das eigentlich ganz für sich ist, auf dem Weg zur reinen Selbst-Erkenntnis, als Um-Weg, anstellt. Mit dieser Integration von Wahrheitsmomenten Feuerbachs in Pannenbergs Auffassung ist der Weg gewiesen, auf welchem diese eine Überlegenheit beanspruchen und begründen kann. Diese lässt sich wiederum an der Form der „Widerfahrnis“ demonstrieren, die als solche „geschichtlich“ ist20 , da „Widerfahrnis“ nur am Übergang von einem bestimmten Stadium der Religionsgeschichte zu einem (in Bezug auf die religiöse Form) anderen, andersartigen, zu verstehen ist. Dies unterscheidet eine „Widerfahrnis“ etwa von alltäglichen „Erfahrungen“, die als solche das
20 Vgl. hierzu Pannenberg 1967, 284 ff.
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Verständnis von Selbst, Welt und Gott ja auch unberührt lassen können und sich damit im Rahmen eines in dieser Erfahrung gerade unhinterfragt vorausgesetzten Verständnisses von Selbst, Welt und Gott abspielen. Zwei Phänomene sind es, die Pannenberg zufolge für „Widerfahrnisse“ wesentlich sind, wie sie sich in der Faktizität der Religionsgeschichte zeigen und feststellen lassen (und die eine Theorie der Religionsgeschichte somit zu verstehen hat), und welche mit Feuerbachs Auffassung nicht zu verstehen sind: (i) die Form der „Widerfahrnis“ als eine Form von Handlung oder Wirkung, die als solche so erfahren wird, dass diese Erfahrung selbst Teil dieser Handlung oder Wirkung ist; (ii) der Wesenszug der „Widerfahrnis“, etwas Neues zu erschließen, also etwas auftreten und bedeutsam werden zu lassen, was bisher nicht (oder nicht in dieser Entschiedenheit) aufgetreten und bedeutsam gewesen ist. Wie sich zeigen wird, hängen beide Phänomene aufs engste zusammen.
VI Ad (i). Die These Pannenbergs besagt also zunächst, dass sich gewisse religionsgeschichtliche Übergangsereignisse nur als „Widerfahrnisse“ angemessen auf den Begriff bringen und verstehen lassen (wobei es ein davon zu unterscheidender, zweiter Schritt von Pannenbergs Überlegungen ist, diese Widerfahrnis als Erscheinen des göttlichen Geheimnisses zu verstehen).21 Diese These gründet sich mitunter darauf, dass sie von den involvierten Personen oder Kollektiven als Widerfahrnisse erfahren und beschrieben wurden; als etwas, das sie „ereilt“ hat oder ihnen „zugestoßen“ ist, und als solches von ihnen oder anderen glaubhaft bezeugt ist. Gewiss darf diese Erfahrung und Beschreibung nicht unkritisch in eine wissenschaftliche Betrachtung der Religionsgeschichte übernommen werden; erst recht nicht darf sie so übernommen werden, dass damit schon ein (göttliches) „etwas“ oder „jemand“ impliziert ist, das bzw. der wirksamer Grund dieser Widerfahrnis ist. Doch ebenso gewiss darf eine wissenschaftliche Betrachtung der Religionsgeschichte nicht ignorieren, wenn es eine Vielfalt von beschriebenen und bezeugten Erfahrungen gibt, die passend unter den (geläufigen) Begriff der „Widerfahrnis“ subsumiert werden können oder sollten. Eine wissenschaftliche Betrachtung der Religionsgeschichte muss dann eine begriffliche Form haben, in der es zumindest möglich ist, solche Widerfahrnisse als Widerfahrnisse (zunächst noch unabhängig von ihrem etwaigen Grund oder „Akteur“) zu denken. Die erste Frage, die gestellt werden muss, ist somit diese: Welche (onto)logische Form hat ein „Widerfahrnis“ –
21 Vgl. auch hierzu Pannenberg 1967, 284 ff.
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und welche begriffliche Form muss eine wissenschaftliche Betrachtung der Religionsgeschichte also haben, wenn sie diese logische Form abbilden oder darstellen können muss? Eine Widerfahrnis ist die Erfahrung einer Wirkung oder Handlung auf denjenigen oder dasjenige – dasjenige menschliche Individuum oder auch Kollektiv –, den bzw. das sie ereilt. Eine solche Erfahrung einer Wirkung oder Handlung hat eine logisch andersartige Form als die Vorstellung (im Sinne des theoretischen Aktes einer Repräsentation) dieser Wirkung oder Handlung: Eine Wirkung oder Handlung kann ich auch dann vorstellen, wenn sie nicht auf mich gerichtet ist, wenn ich sie nicht erfahre; das ist etwa der Fall, wenn ich in drittpersonaler Perspektive den Schock beschreibe, den eine Todesnachricht auf einen Bekannten gehabt hat. Diese Vorstellung ist der Wirkung oder Handlung nicht intern und nicht wesentlich; hätte ich diese Vorstellung nicht ausgebildet, wäre der Schock der Todesnachricht für meinen Bekannten nicht anders gewesen. Doch eine Wirkung oder Handlung zu erfahren bedeutet, dass diese Erfahrung der Wirkung oder Handlung intern ist und damit auch diese Wirkung oder Handlung nicht die Form hätte, die sie hat, wenn sie nicht zugleich ihr Erfahrenwerden(können) wäre; wenn diese Wirkung oder Handlung also nicht etwas wäre, zu dem das Bewusstsein dieser Wirkung oder Handlung als wesentliches Moment gehört. Dass dem so ist, kann man sich anschaulich klarmachen: Es wäre unsinnig zu sagen, meinen Bekannten hat durch die Todesnachricht ein Schock ereilt, aber dieser Schock sei ihm darin nicht zu Bewusstsein gekommen. Zwar ist dieser Schock mehr als das Bewusstsein dieses Schocks; er kann etwa auch darin bestehen, gewisse somatische Wirkungen zu haben, die dann auch unbewusst (oder unbemerkt) sein können. Doch ist das Bewusstsein dieses Schocks – das Bemerken, dass mir ein Schock zugestoßen ist – wesentlich für einen Schock. Der (theoretische) Akt der Erfahrung liegt also wesentlich im (praktischen) Akt des Ereignisses oder der Handlung; das Ereignis oder die Handlung, also der (praktische) Akt, wiederum ist wesentlich auch ein sich-Zeigen, was sie ist, und damit ein Erfahrenwerden(können), was sie ist, also der (theoretische) Akt seiner Erfahrung. Das aber bedeutet: Die logische Form der Widerfahrnis besteht nicht in einer bloßen Addition zweier Akte, also darin, dass sich etwas an mir ereignet und ich eine Vorstellung von diesem etwas habe (oder umgekehrt: dass ich eine Vorstellung habe und sich der Inhalt dieser Vorstellung an mir ereignet); sie besteht vielmehr darin, dass sich etwas an mir ereignet und es wesentlicher Teil dieses Ereignisses ist, dass ich ein Bewusstsein von diesem Ereignis habe, es also erfahre. Doch Feuerbachs Auffassung scheint auf die erstgenannte, zum Verstehen solcher Ereignisse inadäquate (und damit verkehrte) logische Form festgelegt zu sein, wenn sie Widerfahrnisse denken soll: Denn sie denkt die Objektivationen des Selbst, welche die Religion konstituieren, als Vorstellungen von Gott, deren Inhalt in Wahrheit bestimmte Objektivationen des Selbst sind. Wenn in einer Religion
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also die Überzeugung herrscht, Gott habe eine Epidemie auf Erden geschickt, so objektiviert der Mensch in dieser Vorstellung etwas, das er für sein Selbst (in seiner jeweiligen soziokulturell-historischen Situation) für wesentlich hält – etwa: Leiden und Strafe –, und prädiziert es von einem anderen Wesen, nämlich Gott.22 Diese Vorstellung ist ein zunächst rein theoretischer Akt und hat an sich selbst keinen Widerfahrnischarakter in Bezug auf das Selbst, dessen Vorstellung sie ist. Nun könnte Feuerbach jedoch sagen, dass diese Vorstellung eine Macht über uns gewinnen kann, die sodann als Widerfahrnis erfahren wird. Dies ist uns insofern ein vertrauter Gedanke, als wir – etwa in Bezug auf Träume oder Ideologien – von der „Macht der Bilder“ oder ähnlichem sprechen und damit meinen, dass bestimmte Vorstellungen als Vorstellungen ihrerseits eine Wirkung entfalten können, die sich für das betreffende Selbst der Vorstellung auch als Wirkung dessen darstellen kann, was Inhalt dieser Vorstellung ist, was sie qua dieser Vorstellung für wahr hält und dem sie deshalb auch Wirksamkeit zuerkennt. Wie dieser Übergang von einem theoretischen Akt der Vorstellung zu einer Erfahrung der Wirksamkeit ihres Inhalts konkret zu denken ist, wäre erst genauer zu fragen. Es wäre denkbar, dass dieser Übergang nur deshalb zu denken ist, weil das Selbst eine Wirksamkeit hat, die über das Vermögen zur theoretischen Vorstellung hinausgeht, die selbst die Wirksamkeit und damit Wirklichkeit einer Widerfahrnis gründen kann. Die nähere Erklärung dafür könnte aber genau in Pannenbergs Auffassung liegen: Das Selbst ist, als ein unmittelbar im göttlichen Geheimnis liegendes, mächtig zur Erscheinung seiner selbst im Mit-Erscheinen mit Anderem, was ihm selbst so zur Widerfahrnis werden kann. Gerade dies hatten wir ja als ein Wahrheitsmoment von Feuerbachs Auffassung erkannt, welches Pannenberg in die seinige zu integrieren vermag: Dass die Erscheinung des göttlichen Geheimnisses – somit auch die Widerfahrnis, wenn sie eine solche Erscheinung ist – nicht ohne die Mit-Wirksamkeit des Selbst zu verstehen ist. Doch dies kann Feuerbach gewiss nicht als Implikation seiner Auffassung haben wollen; denn es würde soweit gehen, den zentralen Gedanken der Objektivation selbst zu suspendieren, indem
22 Vgl. WdC, 62: „So ist dem Menschen in Gott nur seine eigene Thätigkeit Gegenstand. Aber eben weil er die eigne Thätigkeit nur als eine gegenständliche, von sich unterschiedne, das Gute nur als Gegenstand anschaut, so empfängt er nothwendig auch den Impuls, den Antrieb nicht von sich selbst, sondern von diesem Gegenstand.“ [Hvh. geändert von T.O.] Es ist, wie im Folgenden dargelegt werden soll, weder unmittelbar klar, was es bedeutet, einen „Impuls“ von einem angeschauten „Gegenstand“ (der eigenen, objektivierenden Projektion!) zu empfangen, noch, ob eine mögliche Bedeutung dessen trifft, was mit „Widerfahrnis“ gemeint ist und wie sie von Menschen auch als solche erfahren wird. Allgemein ist an dieser Stelle zu bemerken, dass Feuerbach die Form der Religion als (rein) theoretisch auffasst, nämlich als „Vorstellung“, und nicht (auch oder gar primär) als praktischen Vollzug. Diese Einseitigkeit teilt er jedoch mit der erdrückenden Mehrheit der Hegelrezipienten des 19. (und 20.) Jahrhunderts, sei es rechts- oder linkshegelianischer Prägung.
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sich diese Objektivation in Wahrheit als ein Akt entpuppt, in dem der Inhalt der (vermeintlichen) Objektivation schon selbst, gleichsam subjektförmig, mit am Werk war. Von daher lässt sich umgekehrt verstehen, warum es keine behebbare Einseitigkeit oder Unvollständigkeit, sondern ein Wesenszug von Feuerbachs Auffassung als Religionskritik ist, dass Objektivation als Objektivation qua Vorstellung (also zunächst rein theoretischer Repräsentation) stattfinden muss; denn Objektivation besagt, dass etwas in einem theoretischen Akt gesetzt wird, was nicht wirklich sein muss, aber von mir repräsentiert und in zumindest diesem Sinne gesetzt sein muss. Nur im Gedanken der Objektivation als zunächst rein theoretischem Akt lässt sich zusammendenken, dass es Gott als Gegenstand der menschlichen Vorstellung gibt und er dadurch noch nicht in seiner Wirklichkeit erfahren oder gar erwiesen ist, sondern damit kompatibel ist, dass das menschliche Selbst das einzig wirkliche Subjekt ist. Doch unabhängig davon, welches Ergebnis eine solche angedeutete Diskussion zwischen Feuerbach und Pannenberg letztlich hätte, bleibt ein Problem, das Feuerbachs Versuch einer begrifflichen Einholung der logischen Form der Widerfahrnis hat, welcher besagt, dass die religiöse Vorstellung (und, vermittelt dadurch, auch ihr Inhalt) Macht über uns gewinnen: Es spricht vieles dafür, dass in der Selbsterfahrung und Selbstbeschreibung derer, die ein Widerfahrnis haben, eine Differenz zwischen der logischen Form der Widerfahrnis, wie sie oben beschrieben wurde, und Feuerbachs Einholungsversuch derselben thematisch wird und auch angezeigt ist. Wir können uns dies aus unserer Selbsterfahrung klarmachen: Wenn wir, wie Feuerbach zugegeben wurde, im Kontext etwa von Träumen oder Ideologien von der „Macht der Bilder“ oder „Macht der Vorstellungen“ oder „Macht der Ideen“ sprechen, so bedeutet dies nicht, dass wir damit behaupten wollen, die Erfahrung dieser Macht sei dieselbe Art von Erfahrung wie diejenige, die eine Begegnung mit einem darin wirksamen Gegenüber ist – und auch wissen, dass wir dies nicht behaupten wollen. So sagen wir etwa: „Meine Ehefrau erfüllt mein Leben mit Licht!“ – und meinen damit nicht nur inhaltlich, sondern auch der Form nach etwas anderes als wenn wir sagen: „Die Vorstellung einer friedlichen Weltgemeinschaft ist in meinem politischen Handeln leitend!“. Wir können letzteres zwar durchaus, mit einigem Pathos, so reformulieren: „Die friedliche Weltgemeinschaft ist mir immer als strahlender Idealzustand vor Augen.“ Doch sobald derjenige, der so spricht, dies so versteht, als wäre dieser Zustand in einer Weise wirksam, wie dies für das personale Gegenüber gilt, das mir meine Ehefrau ist, so hätten wir den Verdacht, dass die Person in einen wahn- oder auch märchenhaften Zustand verfallen ist, in der sie etwas, das an sich kein Subjekt, keine Person ist, unkritisch in das Reich der Subjekte oder Personen einordnet. (Das wäre eine echte Projektion.) Wenn wir diesen Verdacht für berechtigt halten, spricht er dafür, dass die Rede von „Macht der Bilder“, „Macht der Vorstellungen“ oder „Macht der Ideen“ nicht genau dasjenige meint, was die Widerfahrnis als Erfahrung einer realen Wirkung oder Handlung
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meint – selbst dann, wenn wir noch weitestmöglich offen lassen, ob das oder der in dieser realen Wirkung Wirksame oder in dieser Handlung Handelnde wirklich ein Subjekt, eine Person oder etwas anderes ist. Wenn sich also an der Religionsgeschichte Selbsterfahrungen und -beschreibungen namhaft machen lassen, die dezidiert der logischen Form der Widerfahrnis entsprechen, so kann Feuerbachs Konzeption sie nicht angemessen auf den Begriff bringen. Dabei ist, wie gesagt, wichtig zu sehen, dass in der Erfahrung und Beschreibung der Widerfahrnis nicht unmittelbar der Glaube an ein Subjekt oder eine Person liegt, die in dieser Widerfahrnis wirksam oder handelnd ist, und schon gar nicht an ein konkretes Subjekt oder eine konkrete Person. Vielmehr – so Pannenbergs religionsgeschichtlicher Befund – ist die Widerfahrnis der Grund, den Glauben an ein solches Subjekt oder eine solche Person erst auszubilden, wobei sich dieses Grundverhältnis auch in zeitlicher Entfaltung darstellt: Die Widerfahrnis ist da, und erst allmählich prägt sich aufgrund ihrer der Glaube an eine bestimmte Gottheit aus, die sodann als Grund dieser Widerfahrnis erscheint. Dieses religionsgeschichtliche Faktum – dass es Widerfahrnis gibt und diese als Grund für die Ausbildung eines Gottesglaubens bezeugt ist –, wäre sodann gerade als Indiz dafür zu werten, dass diese Widerfahrnis analog einer interpersonalen Erfahrung (und nicht nach der Logik von „Meine Ideen gewinnen Macht über mich“) zu verstehen ist und von den historischen Akteuren auch so erfahren wurde. Denn warum sonst sollten sie sonst so entschieden nach einem quasi-personalen Grund dieser Widerfahrnis, nach einer Art Akteur fragen? Wenn all dem so ist, bliebe für Feuerbach also nur seine begriffliche Fassung der Widerfahrnis, welcher zufolge Vorstellungen (und dadurch vermittelt der vorgestellte Inhalt) Macht über das Subjekt der Vorstellung, also das menschliche Selbst, gewinnen. Diese bestünde aber dann, wie sich herausgestellt hat, letztlich in der Behauptung, dass die Religionsgeschichte analog einem sich-in-den-WahnHineinsteigern ist, wie es etwa beim Übergang von der Vorstellung eines Friedens der Weltgemeinschaft in den Glauben an die subjektförmige Realität desselben vorliegt. Das wäre nicht nur ein vermessenes, die religionsgeschichtlich präsente Menschheit im Ganzen als wahnhaft (ab)qualifizierendes Urteil; es würde auch mit Feuerbachs Auffassung selbst konfligieren, die zumindest darin Hegel treu ist, dass die Religion als Objektivationsgeschehen des menschlichen Selbst als indirekter Selbsterkenntnisprozess der Menschheit und somit als vernünftig strukturierter Prozess aufgefasst werden soll. Zwar mag das mangelnde Bewusstsein davon, dass die Religion nicht so ist, wie die Religion selbst meint, in den Religionen bisweilen wahnhafte Ausprägungen haben; doch die Objektivation, so sie sich zur Möglichkeit der Widerfahrnis ausgestaltet, darf wohl auch nach Feuerbachs Urteil nicht schon an sich wahnhaft sein.
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VII Es ist noch ein weiteres zur eben entwickelten These anzumerken, dass die Widerfahrnis und deren Feststellung logisch (und oft auch zeitlich) vor der Ausbildung eines näher bestimmten Gottes-Glaubens ist. Dies drückt sich nämlich auch in einer möglichen logischen Form aus, in der sich dieser in Widerfahrnis begründete Glaube artikulieren kann und welche verschieden ist von derjenigen, welche Feuerbach zunächst als einzige zugrundelegt: nämlich die klassische Urteilsform, in der ein Prädikat von einem Subjekt ausgesagt wird („x ist P“). Die Rede ist von Urteilen der Form „Es φt“ (wobei „φ“ ein „Handlungs“-Wort anzeigen soll) – also etwa: „Es regnet“, „Es weihnachtet“. (Lorenz Bruno Puntel hat – ganz grundsätzlich, (onto-)logisch – an die Bedeutung dieser Urteilsform erinnert und bemerkt, dass sie zugunsten der klassischen in eine Art philosophischer Vergessenheit geraten ist.23 ) Eine mögliche ontologische Implikation dieser Urteilsform ist offensichtlich, gleichsam unmittelbar an ihr abzulesen: Es wird etwas ausgesagt, allerdings nicht von einem etwas – genauer: nicht von einem etwas, das als dieses etwas schon feststehen würde, also bestimmt wäre. Bei einem Beispiel wie „Es regnet“ mag sich dagegen der Einwand erheben, dass das etwas nicht „noch nicht“ feststehe oder bestimmt sei, sondern es unsinnig sei, hier nach einem „etwas“ zu fragen: „Es regnet“ ist eine sprachlich etablierte Art etwas auszudrücken, das sich – ohne wesentliche Bedeutungsdifferenz – auch in der klassischen Urteilsform sprachlich ausdrücken ließe, etwa im Satz „Regentropfen fallen vom Himmel herab“. Mit Puntel lässt sich sagen, dass dieser Einwand jedenfalls in seiner pauschalen Form dann als unstatthaft zurückzuweisen ist, sobald sich ein konkreter ontologischer Fall aufweisen lässt, dessen Seinsform sich in der Urteilsform „Es φt“ spiegelt, zeigt oder ausdrückt. Im Rahmen von Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte lässt sich ein solcher Fall aufweisen: Dort, wo die Widerfahrnis sich ereignet und als solche erfahren wird, logisch (und oft auch zeitlich) bevor die Subjekte dieser Erfahrung sich auf die religiöse Überzeugung verpflichten, dass es diese oder jene Gottheit sei, von der dieses Widerfahrnis zu prädizieren ist, die Grund dieser Widerfahrnis ist. An diesem Ort lässt sich sagen: „Es ist Unheil über uns gekommen“; „Es ergießt sich Unheil über uns“ – oder ähnliches. Dabei ist bemerkenswert, dass uns diese Urteilsform – „Es φt“ – genau aus solchen alltäglich-gegenwärtigen Verwendungskontexten präsent ist, in denen ebenfalls von „Widerfahrnissen“, „Geschehnissen“ oder „Ereignissen“ die Rede ist, welche erfahren werden und ein gewisses Gewicht haben – wenn auch nicht unbedingt dasjenige einer religiösen oder gar religionsgeschichtlichen Umwälzung. So sagen wir etwa nach einem Todesfall: „Es ist etwas Schreckliches geschehen“; zwar wissen wir in diesem Fall schon, was geschehen ist,
23 Vgl. dazu Puntel 1990, 192 ff.
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und könnten daher auch einen Satz bilden, der die klassische Urteilsform aufweist. Doch wird durch den Satz in dieser Urteilsform gerade der Widerfahrnischarakter ausgedrückt, den der Todesfall (etwa für die Angehörigen) hat. Feuerbach bedenkt diese Urteilsform nicht. Das hat einen prinzipiellen Grund, aus welchem sie auch nicht einfach in seine philosophische Auffassung zur Religion integriert oder zu ihr hinzugefügt werden kann: Die logische Form des Satzes, in der sich die jeweilige religiöse Vorstellung nach Feuerbach ausdrückt, muss die logische Form des Satzes sein, in dem sich ausdrücken lässt, was diese religiöse Vorstellung in Wahrheit ist: nämlich, nach Feuerbach, eine Aussage des Menschen über sich selbst: Die logische Form des Satzes „Gott ist gut“ ist also die logische Form des Satzes „Der Mensch ist gut“ oder „Ich (als menschliches Selbst) bin gut“.24 Dies ist der Ausgangspunkt von Feuerbachs Nachdenken über die logische Form des Satzes, von welcher differenzierend fortgehend er nun allerdings zweierlei feststellt: (i) dass die Grundwahrheit über den Menschen ist, dass er Selbstbewusstsein ist; die ontologische Form des Selbstbewusstseins aber ist nicht die des „etwas-an-etwas anderem“; die logische Form des Satzes, mit dem sich Selbstbewusstsein ausdrücken lässt, ist damit nicht „x ist P“; sofern also der Mensch durch Objektivation das, was in Wahrheit sein Selbstbewusstsein ist, als Gott und als Gottes denkt, zeigt sich in den Sätzen solcher religiösen (oder, wo expliziert und reflektiert, theologischen) Vorstellung entsprechend die logische Form des Selbstbewusstseins: etwa, dass Gott als in trinitarisch realisierter Selbstbeziehung vorgestellt wird.25 Dies verlangt eine andere logische Form der Vorstellung: etwa eine, in welcher Identität und Nichtidentität zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn zugleich ausgesagt werden kann; oder eine, in welcher Identität zwischen dem Subjekt und dem Prädikat ausgesagt werden kann – etwa in der aristotelischen Bestimmung Gottes als „Denken des Denkens“, wobei das Denken in „des Denkens“ das Denken in „Denken“ ist, und solches Denken nur (dieses) Denken ist, wenn es immer schon Denken seiner selbst ist.
24 Vgl. WdC, 40 f.: „Das göttliche Wesen ist nichts Anderes als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d. h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d. h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens.“ [Hvh. geändert von T.O.] 25 Vgl. WdC, 106: „Gott denkt, Gott liebt, und zwar denkt er, liebt er sich; das Gedachte, Erkannte, Geliebte ist Gott selbst. Die Vergegenständlichung des Selbstbewußtseins ist das Erste, was uns in der Trinität begegnet. Das Selbstbewußtsein drängt sich nothwendig, unwillkührlich dem Menschen als etwas Absolutes auf. Sein ist für ihn eins mit Selbstbewußtsein; Sein mit Bewußtsein ist für ihn Sein schlechtweg. Ob ich gar nicht bin oder bin, ohne daß ich weiß, daß ich bin, ist gleich. Selbstbewußtsein hat für den Menschen, hat in der That an sich selbst absolute Bedeutung. Ein Gott, der sich nicht weiß, ein Gott ohne Bewußtsein ist kein Gott. Wie der Mensch sich nicht denken kann ohne Bewußtsein, so auch nicht Gott.“
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(ii) dass es religiöse Formen gibt, in denen etwas, das ein (mögliches) Prädikat des Menschen ist, substantialisiert und somit selbst zur Gottheit gemacht wird. „Selbst die Affecte der Furcht und des Schreckens hatten in Rom ihre Tempel“, so Feuerbachs plastisches Beispiel.26 Feuerbach zufolge wird an Beispielen dieser Art deutlich, dass die Prädikate es sind, die dem Menschen als göttlich erscheinen, und von denen her es erst begründet ist, sie sodann von einem Gott zu prädizieren. Doch sofern durch die religiöse Vorstellung nur die Göttlichkeit der Prädikate einen vergegenständlichenden, objektivierten Ausdruck finden soll, ist eine solche Prädikation von einem Gott (als Subjekt dieser Prädikate) durchaus verzichtbar.27 Es kann auch – nehmen wir das Beispiel von Blitz und Donner – anstelle einer Prädikation von Zeus auch „Blitz und Donner“ an sich aus- oder angerufen werden oder, wie wir hinzufügen können, die logische Form des „Es φt“ zur Vorstellung gebraucht werden – etwa: „Es blitzt und donnert.“ Allerdings – und das ist nun für den hiesigen Kontext entscheidend – hat dies nach Feuerbach gerade nicht die Bedeutung, die dem Gebrauch dieser logischen Form mit Pannenberg zuzudenken wäre: Denn das „Es“ steht in dem mit Pannenberg namhaft gemachten Gebrauch gerade für die Fraglichkeit oder, wie Pannenberg auch formuliert, „Strittigkeit“ des Ursprungs der Handlung oder Wirkung, als welche die Widerfahrnis erfahren wurde. Feuerbach hingegen kann das „Es“ nur entweder so denken, dass es durch die Substantialisierung des Prädikats zum Subjekt unmittelbar verzicht- oder eliminierbar wäre, also beispielsweise der Satz „Es blitzt und donnert“ ohne Bedeutungsverlust in den Satz „Blitz und Donner sind wirklich“ o.ä. übersetzt werden könnte; oder so, dass es eine Gleichgültigkeit markiert: Da, wie Feuerbach sagt, „in Wahrheit dem Prädicat, nicht dem Subject der Rang des ersten Wesens, der Rang der Gottheit“28 gebührt, ist von keinem Interesse für dieses religiöse Bewusstsein, ob sich hinter dem „Es“ ein Subjekt verbirgt oder nicht und, falls ja, welches. So ist mit dem „Es“ keine geistige Fraglichkeit, Strittigkeit, Unruhe verbunden, wie es Pannenberg zufolge jedoch – als sich aufdrängendes geschichtliches Faktum – in einer solchen Widerfahrnis und damit religiösen Umbruchsituation der Fall ist. Damit hat sich also gezeigt, dass Feuerbach durchaus verschiedene logische Formen der Sätze religiöser Vorstellung reflektiert und in seine Auffassung integriert; doch auf die logische Form „Es φt“ in ihrer Bedeutung als Ausdruck einer Widerfahrnis (noch) unbekannten Grundes kann er im Rahmen seiner Auffassung nicht stoßen: denn in ihr wird eine handlungsförmige Widerfahrnis ausgesagt, die als solche erfahren wird und dessen Ausgangspunkt in einem „Es“ noch spannungs-
26 WdC, 51. 27 Vgl. WdC, 51: „[S]o gebührt ja in Wahrheit dem Prädicat, nicht dem Subject der Rang des ersten Wesens, der Rang der Gottheit.“ 28 WdC, 51.
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voll offengelassen wird, ja werden muss. Diesen geschichtlichen Zustand vermag Feuerbach nicht zu denken.
VIII Ad (ii). Das zweite Phänomen, dem Feuerbachs Auffassung nicht gerecht zu werden vermag, ist soeben schon angeklungen, als davon die Rede war, dass die Widerfahrnis der Ausbildung des Glaubens an ein Subjekt derselben, das in ihr wirksam oder handelnd war, logisch wie zeitlich vorausliegen kann. Das bedeutet, dass in der Widerfahrnis ein Konkretum, eine Bestimmtheit auftritt – etwa: die Qualität einer Epidemie –, die etwas Neues ist und gerade deshalb, weil sie etwas Neues ist, nicht integriert werden kann in eine alte Religion und ihren Gott, dessen Wesenszüge mit diesem Neuen nicht zusammenstimmen.29 Insofern dieses Neue in der Widerfahrnis auftritt, handelt es sich also in der darin gründenden Überzeugung, dass ein neuer Gott Gott ist (und dieser etwa durch die Epidemie die Züchtigung der Menschheit als Mittel zum Zweck der Realisierung seiner Güte vollzieht), aus einem prinzipiellen, wiederum formalen Grund nicht um eine Objektivation im Sinne Feuerbachs: Denn das, was in dieser Überzeugung von (dem neuen) Gott prädiziert wird, stammt nicht ursprünglich aus dem menschlichen Selbst, sondern hat sich in der Widerfahrnis dem menschlichen Selbst zuallererst erschlossen. Nun könnte Feuerbach diesen Einwand wie folgt zurückweisen: Es ist eine Illusion, dass es sich bei diesem vermeintlich Neuem um etwas wahrhaft Neues handelt. In Wahrheit handelt es sich bloß um etwas, das immer schon im menschlichen Selbst vorhanden war, bislang aber nicht zur religiösen Objektivation und – sofern dieser (Um-)Weg notwendig zur Entwicklung der sodann geklärten, philosophischen Selbsterkenntnis ist – somit auch nicht vorgestellt und erkannt werden konnte.30 Deshalb erscheint es nun als neu.
29 Vgl. Pannenberg 1967, 284 f.: „Weil nun die Daseinserfahrung der Menschen – ihr Bild von der Natur und ihre geschichtliche Welt – fortgesetzter Veränderung unterliegt, so behält auch das einmal erlebte Widerfahrnis göttlicher Wirklichkeit nicht automatisch seine Macht über die Menschen. Es verblaßt – wobei mit seinem Versinken in die Vergangenheit auch seine Göttlichkeit zweifelhaft werden kann – oder es findet eine Fortsetzung in neuen Widerfahrnissen.“ [Hvh. geändert von T.O.] 30 So schreibt Feuerbach (WdC, 283), „auch der Inhalt der göttlichen Offenbarung“ sei „menschlichen Ursprungs, denn nicht aus Gott als Gott, sondern aus dem von der menschlichen Vernunft, dem menschlichen Bedürfniß bestimmten Gott, d. h. geradezu aus der menschlichen Vernunft, aus menschlichem Bedürfniß ist derselbe entsprungen. So geht auch in der Offenbarung der Mensch nur von sich fort, um auf einem Umweg wieder auf sich zurückzukommen!“ (WdC, 282 [Hvh. geändert von T.O.]) Es sei „jede Offenbarung Gottes nur eine Offenbarung der Natur des Menschen. In der Offenbarung wird dem Menschen seine verborgene Natur aufgeschlossen, Gegenstand. Er wird von seinem Wesen bestimmt, afficirt als von einem andern Wesen; er empfängt aus den Händen Gottes,
Thesen gegen Feuerbach
Doch mit dieser These wären zwei Probleme unmittelbar verbunden: – Zum einen ist diese These dann unverständlich – ja absurd –, wenn sie sich auf die materiale Konkretion des in Frage stehenden „Neuen“ beziehen soll. Denn dann würde sie besagen, dass das menschliche Selbstbewusstsein immer schon von dieser Epidemie in einem bestimmten Jahr gewusst habe, dass diese in irgendeinem Sinne immer schon zum Inhalt des menschlichen Selbstbewusstseins gehört habe, in ihm gewesen sei. So meint es Feuerbach gewiss nicht. Mit ihm wäre die These vielmehr so zu fassen, dass sie sich nur auf die allgemeine Form des in Frage stehenden Ereignisses bezieht – also etwa den Straf- oder Leidenscharakter eines solchen Ereignisses. Doch damit würde Feuerbachs These sich eben nicht mehr auf die materiale Konkretion eines solchen Ereignisses beziehen und damit nicht auf dieses Ereignis, wie es in seiner geschichtlichen Faktizität ist; denn so gehört zu diesem wesentlich die materiale Konkretion einer Ereignis-Form, und gerade und nur so ist es neu und als neu sich aufdrängend, den Menschen widerfahrend. Würde man Feuerbach also entlang der dargestellten Gedankenlinie verteidigen, würde dies – wenn überhaupt – nur um den Preis dessen gelingen, was man einen „geschichtlichen Realismus“ nennen könnte. Damit wäre Feuerbach in diesem Punkt gegen einen marxistisch informierten historischen Materialismus ebenso wie gegen eine geschichtssensible Hermeneutik gestellt – und damit auf die Seite derjenigen Idealismen, die die Geschichte allenfalls als schematische Formentwicklung begreifen können. – Doch es gibt noch den zweiten, abgründigeren Grund, der gegen die skizzierte Verteidigung Feuerbachs spricht. Dieser Punkt ist besonders gewichtig, da er die Idee eines „immer-schon-im-Selbstbewusstsein-Seins“ solcher Formen oder Bestimmungen als solche problematisiert. Es ist nämlich nicht nur fraglich, ob dieser Idee Wahrheit zukommt; es ist vielmehr fraglich, was sie eigentlich genau bedeuten soll. Ihre initiale Bedeutungsplausibilität rührt von einer – genau besehen – höchst irreführenden Veranschaulichung, in welcher man sich das menschliche Selbst(bewusstsein) als eine Art Behältnis vorstellt, in deren Tiefe Formen liegen können, die es erst noch aus dieser Tiefe zu holen gilt. Setzt man die in dieser Veranschaulichung waltende räumliche Logik außer Kraft, ist die Veranschaulichung dahin – und eine Reihe gewichtiger Fragen tritt offen ans Licht. Im hiesigen Kontext ist eine dieser Fragen die entscheidende: Setzt man Feuerbachs Auffassung der religiösen Vorstellung als Objektivation von Bestimmungen des menschlichen Selbst(bewusstseins), die sich in der Zuschreibung dieser Bestimmungen zu einem scheinbar anderen Wesen – „Gott“ – manifestiert, einmal voraus, so wird unmittelbar fraglich, warum eigentlich nicht alles, was „immer schon“ „im“ menschlichen
was ihm sein eignes unbekanntes Wesen als eine Nothwendigkeit unter gewissen Zeitbedingungen aufdringt.“ (WdC, 283 [Hvh. geändert von T.O.])
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Selbst(bewusstsein) „liegen“ soll, auf einen Schlag – eben: ebenfalls „immer schon“ – objektiviert ist. Was also ist ursächlich dafür, dass sich diese Abfolge historisch verzögert darstellt? Hier tut sich, wie es scheint, ein Dilemma für die Auffassung Feuerbachs auf: – Wenn er dies so erklärt, dass die jeweiligen historisch gegebenen, etwa soziokulturellen Umstände diese Abfolge wesentlich und intern bedingen, so rückt er die Faktizität des Geschichtlichen auf eine Wirkungsebene mit dem Objektivationsgeschehen des Selbsts selbst (– jedenfalls dann, wenn er sich nicht mit der idealistischen Schematisierung begnügen will, derzufolge nur die ewig vom Selbst stammende Form das „Eigentliche“ ist, wobei ihre materiale Konkretion in einer bestimmten historisch-positiven (religiösen) Lebens-Form ihr äußerlich bliebe). Dann aber ist das Selbst intern in einen historischen Prozess verwickelt, den es nicht selbst macht; die Frage, was oder wer sie macht, ist dann offen – stellt sich aber notwendig. Feuerbach müsste sie nicht wie Pannenberg beantworten – aber er müsste sie beantworten. Die – gespenstische – Rede von „dem Lauf der Geschichte“, die metaphysisch unschuldig klingt, genauer besehen sich aber doch auch auf irgendetwas oder irgendjemanden verpflichtet, der diesen Lauf „laufen lässt“, kann nicht einfach unhinterfragt hingenommen werden. Damit würde jedes Denken, das die Geschichte verstehen, erklären oder erkennen will, seine eigenen Maßstäbe qua Denken unterbieten. – Wenn er dies so erklärt, dass die Objektivation nicht einfach nur Objektivation des menschlichen Selbst(bewusstsein)s – als, mit Hegel gesprochen, der zeit-, geschichts- und „bewegungslose[n] Tavtologie des: Ich bin Ich“31 – ist, sondern des menschlichen Selbst, insofern es schon in einem geistigen Bildungsprozess steht, der über es hinaus liegt, würde sich Feuerbach wiederum Pannenbergs Auffassung annähern. Genau dies ist hier Pannenbergs Punkt: Dass das Selbst nicht für sich, sondern immer schon im „Sein“, im „göttlichen Geheimnis“ liegt; dass die geschichtliche Entwicklung der religiösen Formen in ihrer Faktizität nicht zu erklären ist, wenn in ihnen nicht etwas am Werk ist, das das bloß menschliche Selbst(bewusstsein) immer schon übersteigt – eben das göttliche Geheimnis, dessen konstitutiver Teil dieses menschliche Selbst(bewusstsein) ist, in welchem es sich jedoch nicht bewegt, ohne dass sich darin zugleich die Welt und Gott selbst bewegen würden, die mit ihm ungeschieden ineinander liegen, und so auch zusammen dessen Erscheinung konstituieren, durch die dieses göttliche Geheimnis überhaupt erst seine Wirklichkeit unter Beweis stellt.
31 PhG, 104.
Thesen gegen Feuerbach
IX Es hat sich also gezeigt, dass die Faktizität geschichtlicher Wandlungen religiöser Formen durch Pannenbergs Auffassung erklärt werden kann, wohingegen Feuerbachs Auffassung dabei in verschiedenartige Probleme – mit einem jedoch gemeinsamen Fokus: dem Phänomen der „Widerfahrnis“ – gerät: Diese betrafen die (onto)logische Form der Widerfahrnis, wie sie intern als Wirkung oder Handlung erfahren wird; damit verbunden, die logische Form der Sätze der religiösen Vorstellung, mit denen eine solche Widerfahrnis Ausdruck finden kann; und schließlich die Denkmöglichkeit eines Neuen, das in einer Widerfahrnis liegt und erschlossen wird. Die Versuche, Feuerbach gegen die so artikulierten Einwände zu verteidigen, haben entweder höchst problematische, Feuerbachs Idee selbst teils zuwiderlaufende Implikationen mit sich gebracht, oder aber Feuerbachs Auffassung in eine Richtung transformiert, in der sie – als historisch konkret gewordener Materialismus – selbst ein „Mehr“ gegenüber dem menschlichen Selbst(bewusstsein) denken muss, das zugleich ontologische Verpflichtungen jenseits seines Materialismus bedeuten würde. So gewinnt Pannenberg – begründete – Thesen gegen Feuerbach, die eine bemerkenswerte Geistesverwandtschaft mit einer berühmten – ersten – These über Feuerbach haben.
X Dieser Streit zwischen Pannenberg und Feuerbach ist nun nicht nur in einer genuin theologischen Hinsicht interessant, die vor allem apologetisch zu sein scheint: nämlich, dass sich Pannenbergs Auffassung nicht nur auf Augenhöhe mit dem Urvater der modernen Religionskritik verteidigen lässt, sondern diesem gegenüber sogar als überlegen erweist, wenn es um das Verstehen oder Erklären der Religionsgeschichte zu tun ist. Vielmehr ist dieser Streit auch in derjenigen Hinsicht interessant, als die Bemessung philosophischer und theologischer Konzeptionen an ihrer konkret-geschichtlichen Verstehens- oder Erklärungskraft zugleich eine ganz andere Frontstellung als diejenige zwischen Theologen und Religionskritikern (oder Atheisten) in den Fokus rückt: nämlich diejenige zwischen einem Denken mit konkret-geschichtlicher Verstehens- oder Erklärungskraft auf der einen Seite und einem solchen ohne auf der anderen Seite. Pannenberg zufolge ist es kein Zufall, dass sich auf der ersten Seite Auffassungen häufen, die sich zumindest auf theologieaffine Weise artikulieren; darin zeigt sich der Sachgrund, der Geschichte für die Theologie ist. Zu dieser Seite zählt etwa die Hermeneutik, die auch eine – in Pannenbergs philosophisch-theologischem System ebenfalls zentral fungierende – „Sinntotalität“ annimmt, mit der sich erst die Sinnförmigkeit des einzelnen, ge-
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schichtlichen Ereignisses wie auch jedes Aktes der Sprache denken lässt und die ihrer logischen Form nach intern mit dem „göttlichen Geheimnis“ zusammenhängt.32 Mit Pannenberg wäre es als unredliche Polemik, ja als eine schlichte und schlicht falsche Umkehrung der Begründungsverhältnisse zurückzuweisen, wenn solche Hermeneutik unter den Verdacht gestellt wird, die Geschichte aus einem theologischen Blickwinkel zu betrachten; mit Pannenberg wäre dagegen geltend zu machen, dass das, was als „theologischer Blickwinkel“ erscheint, eine ontologische Verpflichtung ist, von welcher die Hermeneutik eingesehen hat, dass sie sie eingehen sollte, um der Geschichte als Geschichte gerecht zu werden. Und zur Geschichte zählt – wiederum faktisch – nun einmal auch die Religionsgeschichte. Diese – nun bewusst noch etwas weiter gefasste – Konstellationsskizze gibt einen Eindruck davon, warum Pannenberg in der hermeneutischen Philosophie durchaus das Potential eines neuen Denkens sah, welches alte metaphysische (und theologische) Wahrheiten in sich integrieren konnte, einen dritten Weg zwischen bloßer Fortsetzung der alten Metaphysik und einer Nachmetaphysik weisen und beschreiten konnte – und so dazu angetan war, zur historischen Begründung der Theologie beizutragen und nicht nur zur theologischen Apologetik, in welcher gezeigt wird, dass theologische Verpflichtungen verträglich sind mit den berechtigten, kritischen Ansprüchen modernen Geschichtsdenkens. Für Pannenbergs Theologie ist diese Konstellation – ihr Sachgehalt – zentral. Denn die geschichtliche Fundierung seiner Theologie erstreckt sich nicht nur durch sein gesamtes Werk hindurch, sondern auch durch (dessen) zentralste theologische Lehrstücke selbst: Offenbarung als Geschichte, Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses – und schließlich die These von der Historizität der Auferstehung Jesu, die dann nicht mehr abwegig zu klingen verspricht, wenn das rechte geschichtliche Verstehen einmal beschritten ist, und dann sogar ein Bezugspunkt unbefangenen, aufgeschlossenen geschichtlichen Nachdenkens wird, der dieses Nachdenken dazu bringen kann, das Wirken Gottes als adäquaten Erklärungs-Grund dafür anzunehmen – so Pannenbergs Idee. Wie auch immer man diese Idee am Ende beurteilen mag – man sollte sie erst am Ende beurteilen. Und das bedeutet, im Lichte des Gesagten, wenn verstanden und geprüft ist, welche Auffassung von Geschichte – in diesem Aufsatz zunächst „nur“: Religionsgeschichte – Pannenberg eigentlich überhaupt hat und ob sie zurecht den Anspruch erheben kann, an Verstehens- und Erklärungskraft derjenigen Feuerbachs überlegen zu sein. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass das Verstehen der höchst anspruchsvollen Konzeptionen Pannenbergs in der bisherigen Rezeption nicht immer gelungen ist – und allzu viele Dispute etwa über seine These
32 Vgl. auch hierzu meine näheren Ausführungen in Oehl 2018.
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von der Historizität der Auferstehung Jesu in einem geistig luftleeren Raum geführt wurden und werden.
XI Doch ist auch nicht zu leugnen, dass uns die Philosophie- und Theologiegeschichte in eine Gegenwart geführt hat, in welcher die Faszination und das Versprechen der Hermeneutik, welches Pannenberg so geprägt hat, seinerseits geschichtlich verblasst ist. Das bedeutet nicht, dass man dieses Verblassen einfach hinzunehmen hat; vielleicht bereitet die Philosophie- und Theologiegeschichte auch eine neue Epoche vor, in der ein transformiertes Erscheinen dieser hermeneutischen Faszination zu erwarten ist, oder sollte dies tun. Wäre dem so, so müsste sich diese Hermeneutik dann aber auf Höhe der Zeit präsentieren und sich nicht selbst in ihre geschichtlichen Frühformen flüchten. Das bedeutet aber, was die philosophische Begriffsarbeit angeht, dass sie dasjenige Klarheitsbedürfnis ernst zu nehmen hat, das nicht zuletzt aus der analytischen Philosophie geschichtlich erwachsen ist und ein Potential der Wiederbelebung „älterer“ Philosophie hat, das nicht unterschätzt werden sollte. Es erfordert aber auch und im Besonderen, was immer gilt: dass die Theologie sich ihrerseits diesen Erfordernissen zeitgemäßer philosophischer Begriffsarbeit unbedingt zu stellen hat – und jede Art von Selbstverständlichkeit zu vermeiden und abzuweisen hat, die zurecht den Eindruck erweckt, dass keine Offenbarung Gottes, sondern eher eine Pflege von Sprachspielen endlicher Kollektive vonstatten geht. Dem heutigen philosophischen Bewusstsein wäre dann beispielsweise folgende Frage zu beantworten, auf die der vorgetragene Gedankengang an mehrfacher Stelle gestoßen ist (und die er nur in einem ansatzweisen Aufriss beantwortet hat): Wie genau ist eine Logik der (Erscheinungs-)Geschichte und somit die Logik eines geschichtlichen Denkens auf den Begriff zu bringen? Schließlich würde sich eine Erneuerung von Pannenbergs Programm wieder die Aufgabe stellen müssen, den Kontakt mit der Geschichtswissenschaft neu zu suchen und in konkrete gemeinschaftliche Arbeit münden zu lassen. Denn: Es war unseren Überlegungen ja vorausgesetzt worden, dass geschichtliche Entwicklungsprozesse des Religiösen in der Kategorie der „Widerfahrnis“ zu beschreiben sind – relativ wozu Pannenbergs Auffassung in der Tat in einer Feuerbach überlegenen Weise erklärungs- und verstehenskräftig ist. Den Verdacht, dass Pannenberg hier eine scheinbar neutrale, deskriptive Kategorie in Anschlag bringt, die in Wahrheit bloß die Projektionsfläche der eigenen theologischen Interessen ist, kann man – wie
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Pannenberg selbst fordert33 – nur ausräumen, indem man sich der geschichtlichen Faktizität stellt, wesentlich angeleitet von den maßgeblichen Stimmen der historischen Wissenschaften. So erst wäre vollgültig zu prüfen, ob die geschichtlichen Akteure von sich selbst („subjektiv“) in Kategorien der „Widerfahrnis“ sprechen und/oder sie sich „objektiv“ jedenfalls so darstellen (– wobei erst noch zu fragen wäre, wie sich „subjektiv“ und „objektiv“ hier zueinander verhalten und wie sie gerade von der Warte der Geschichtswissenschaft(en) zueinander zu gewichten sind). Allein so bewährte sich am Ende dann die – anthropologische oder auch geistphilosophische – Hypothese, der Mensch stehe immer schon im intuierenden Umgang mit dem Unendlichen: wenn solcher sich sodann auch geschichtlich, und insbesondere religionsgeschichtlich, aufweisen lässt.
XII Für die Theologie aber scheint hier noch eine abgründige Frage auf, die sie erst noch selbst zu klären hätte: Was soll es eigentlich bedeuten, „unvoreingenommen“ auf die Geschichte zu blicken34 , wenn es im Wesen der Sünde liegt, den unbefangenen, aufgeschlossenen Blick verstellt zu haben? Kürzer gefragt: Wie kann Pannenberg, der gewiss keinerlei Relativierung der christlichen Sündenlehre vornehmen wollte, denken, dass die Vernunft doch so unbeschadet von der Sünde bleibt, dass ein unbefangener, aufgeschlossener Blick auf die Geschichte eingefordert und realisiert werden kann, der nicht nur dadurch zu haben ist, dass der so Blickende aus Gnade durch den Glauben um Christi Willen gerechtfertigt ist? Diese Frage muss hier unbeantwortet bleiben. Sie kann im Lichte dieses Aufsatzes aber als Frage noch erweitert werden, was die Tiefe ihres Problemgehalts noch
33 So beschließt er seinen Aufsatz „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ mit folgender Forderung: Es „ist in jedem Falle zu prüfen, inwieweit die einem religiösen Phänomen zugrundeliegende, in ihm zum Ausdruck kommende Erfahrung des göttlichen Geheimnisses die Daseinswirklichkeit, wie sie damals erfahren wurde und wie sie sich heutiger Erfahrung darstellt, zu erhellen vermag und damit ihren Anspruch bewährt, einen Zugang zum göttlichen Geheimnis selbst zu eröffnen.“ (Pannenberg 1967, 295) 34 Dieses Wort gebraucht Pannenberg 1967, 295, am Ende dieses Aufsatzes prominent: Er spricht von einer „unvoreingenommenen Aufgeschlossenheit für das Erscheinen des göttlichen Geheimnisses“, für welche vonseiten christlicher Theologie im Hinblick auf die Religionswissenschaft „Raum zu schaffen“ sei. Hier findet freilich eine These aus der Programmschrift Offenbarung als Geschichte ihr Echo, die wohl als eine der grundlegendsten und charakteristischsten der Theologie Pannenbergs zu gelten hat: „Man muß keineswegs den Glauben schon mitbringen, um in der Geschichte Israels und Jesu Christi die Offenbarung Gottes zu finden. Vielmehr wird durch die unbefangene Wahrnehmung dieser Ereignisse der echte Glaube erst geweckt.“ (OaG, 100 f.).
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deutlicher werden lassen dürfte: Pannenberg zufolge scheint es nicht (jedenfalls nicht unmittelbar) der Sündhaftigkeit von Mensch und Welt geschuldet zu sein, dass durch die Religionsgeschichte zahllose religiöse Formen in Erscheinung treten, von denen – nach Pannenbergs christlicher Überzeugung – letztlich doch alle außer einer in Unwahrheit verblassen. Vielmehr gehört es zu dessen eigentümlicher Form der Wahrheit, diese Wahrheit geschichtlich zu offenbaren – und das bedeutet auch: dass der sich offenbarende Gott als göttliches Geheimnis eine – somit vermittelt wahre – Erscheinungsgeschichte hat, die diesseits dieser Offenbarung liegt, welche sodann als endgültige Erscheinung dieses göttlichen Geheimnisses zu gelten hat. Die Verworrenheit, die in der Religionsgeschichte liegt, ist, so sagten wir schon, kein index falsi, sondern ein index veri, insofern sie der Verworrenheit dieses göttlichen Geheimnisses als noch ungeschiedenes Ineinander von menschlichem Selbst, Welt und Gott entspricht. Damit aber tritt eine entscheidende Frage hervor, die noch einmal ganz auf den Anfang unserer Überlegungen zurückweist: Wie haben wir es zu verstehen, dass – nach christlicher Maßgabe – der sich geoffenbart habende, dreieinige Gott die endgültige Erscheinung des göttlichen Geheimnisses ist? Dass er also dasjenige ist, was dieses göttliche Geheimnis letztlich ist; dass in ihm dessen Verworrenheit wie die – dieser korrespondierende – Verworrenheit der Religionsgeschichte zu ihrem Ende kommt? Es war ja zu Beginn des Aufsatzes gesagt worden, dass eine Identität zwischen etwas und dem göttlichen Geheimnis nicht in gewöhnlicher Form ausgesagt werden kann, da das göttliche Geheimnis nicht etwas ist, zu dem etwas (anderes) in einer undialektischen Relation der Identität stehen könnte. Die Identitätsaussage – das göttliche Geheimnis ist letztlich der offenbare, dreieinige Gott – muss also eine nicht-gewöhnliche Bedeutung haben, nämlich diese: Dieser offenbare, dreieinige Gott setzt sich selbst identisch mit etwas, das so verworren ist, dass es als etwas anderes als er selbst erscheinen kann und in der Geschichte auch tatsächlich erscheint. Das aber bedeutet: Der offenbare, dreieinige Gott ist nicht nur identisch mit etwas, das sich von ihm zugleich unterscheiden lässt; sondern er ist identisch mit etwas, das selbst verworren ist, und kann dies also nur in verworrener Weise sein. Damit aber wäre der offenbare, dreieinige Gott wesentlich einer, in dem die Verworrenheit der Erscheinungen des göttlichen Geheimnisses aufgehoben ist und so in einer neuen Form offenbar wird: als ihrerseits verworrene Identifikation des nicht-mehr-Verworrenen mit dem Verworrenen. Diese Offenbarung ist dann eine Vereindeutigung der verworrenen Geschichte, die jedoch so auf diese Verworrenheit bezogen bleibt, dass sie nur dadurch Vereindeutigung sein kann, dass sie selbst nicht eindeutig eindeutig ist. Maria hätte gewiss keine Christusoffenbarung erfahren, wenn sie nur einen Gärtner gesehen hätte; aber es wäre doch der Vollgestalt der Christusoffenbarung, die sie erfahren hat, wesentlich, dass sie Christus auch als Gärtner gesehen hat. Die Frage ist dann aber: Ist diese Form der nicht-eindeutigen Eindeutigkeit, ist dieser
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Gedanke überhaupt zu begreifen, wenn er nicht vom Kreuz her gedacht wird – und damit, erneut, auch von der Sünde her?
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Gott oder Religion Ein Vorschlag zur Überwindung des Streits über den Gegenstand theologischer Theoriebildung in kritischer Auseinandersetzung mit Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte Das Interesse, das die im Folgenden zu führende kritische Auseinandersetzung mit Pannenbergs „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“1 leitet, ist ein wissenschaftstheoretisches2 . Der Text ist in dieser Hinsicht deshalb von hohem aktuellem Interesse, weil die in ihm präsentierte Konzeption einer Theologie der Religionsgeschichte verspricht, den die Theologie an der Aufklärung ihres wissenschaftstheoretischen Status hindernden Dissens zu überwinden, ob die Theologie ihre Anstrengungen in Aussagen über Gott oder die christliche Religion als ihren jeweiligen Gegenstand zu investieren habe. Zusätzliches wissenschaftstheoretisches Gewicht erhält Pannenbergs Konzeption einer Theologie der Religionsgeschichte dadurch, dass die meisten Vertreter der dissentierenden Parteien schiedlich friedlich darin übereinstimmen, Theologie sei keine Wissenschaft eigenen Rechts. Während die eine Seite die Theologie darauf verpflichtet, von Gott reden zu müssen, dies aber nicht in Form theoretischer Aussagen tun zu dürfen, verpflichtet sie die Gegenseite darauf, nicht von Gott zu reden, weil sie in Form theoretischer Aussagen nur über die christliche Religion als einem wissenschaftlicher Forschung zugänglichen Phänomen reden kann. 3 Je nachdem, ob dieses als psychisches, so-
1 W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: ders., GSTh 1, S. 252–295. 2 Dass die wissenschaftstheoretische Perspektive auf die „Erwägungen“ keine willkürliche, von außen an sie herangetragene ist, zeigt sich darin, dass Pannenberg in seinen eigenen wissenschaftstheoretischen Überlegungen (W. Pannenberg, WuTh, S. 303–328) der Theologie der Religionsgeschichte den die Theologie fundierenden Ort anweist: „Theologie als Wissenschaft ist […] nur möglich als Religionswissenschaft, und zwar nicht als Wissenschaft von der Religion überhaupt, sondern von den geschichtlichen Religionen“ (S. 317). Aus diesem Grund kann und soll bei der hier einzunehmenden wissenschaftstheoretischen Perspektive auf Pannenbergs explizit der Wissenschaftstheorie gewidmeten Ausführungen zurückgegriffen werden. 3 Als Beleg für die Aktualität, die Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte innewohnt, seien zwei relativ zeitnahe Veröffentlichungen als Repräsentanten der beiden streitenden Parteien genannt. Für die erstgenannte Position vgl.: I.U. Dalferth, Gibt es eine wissenschaftliche Rede von Gott? in: M. Kleinert, H. Schulz (Hg.), Natur, Religion, Wissenschaft. Beiträge zur Religionsphilosophie Hermann Deusers, Tübingen 2017, S 437–469. S. 437: „Wo wissenschaftlich geredet wird, ist […] nicht von Gott die Rede. Und wo von Gott geredet wird, handelt es sich nicht um Wissenschaft – jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem im Blick auf alles von Gott Verschiedene empirisch, historisch oder formal
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ziales, kulturelles oder allgemein religiöses beschrieben wird, sind Aussagen über die christliche Religion entsprechend solche der Psychologie, Soziologie, Kulturoder Religionswissenschaften. Bliebe es alternativlos bei dem benannten Dissens und dem ihm zugrunde liegenden stillschweigenden Konsens über den wissenschaftstheoretischen Status der Theologie, dann wäre es die Theologie selbst, die diejenigen ins Recht setzte, die die Legitimität ihres Daseins in der universitas litterarum bestreiten. Im ersten Fall sei sie nur in eigenen kirchlichen Institutionen zu betreiben und im zweiten nur in anderen universitären Disziplinen. Im Folgenden sei deshalb in einem ersten Schritt dargestellt, inwiefern Pannenbergs Konzeption einer Theologie der Religionsgeschichte als ein Unternehmen verstanden werden kann, der Theologie den Status einer Wissenschaft eigenen Rechts zuzusprechen und somit den lähmenden Dissens um den Gegenstandsbereich theologischer Aussagen zu überwinden. In wissenschaftstheoretischer Perspektive kann die Durchführung von Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte als der Aufbau eines Theorierahmens begriffen werden, als durch den bestimmte sich alle theoretischen Bemühungen um Religion zu erweisen haben, wollen sie der Wirklichkeit von Religion entsprechen. Wenn sachgemäße religionstheoretische Aussagen als durch diesen Theorierahmen bestimmte ausgezeichnet sind, kann einsichtig gemacht werden, dass sie dadurch auch Aussagen über Gott, also originär theologische implizieren. Vermittels der Explikation des Theorierahmens, durch welchen die, Religion zu ihrem Gegenstand machenden Aussagen in ihrem theoretischen Status implizit bestimmt sind, kann begründet behauptet werden, dass Theorien, die innerhalb ihres eigenen begrenzten Rahmens darauf geeicht sind, religiöse Phänomene als psychische, soziale usw. zu beschreiben, durch ihre, ihnen erst einen religionstheoretischen Status verleihende Rahmung auch originär theologische Theoriebildung beinhalten. Innerhalb dieses Theorierahmens wäre also die vermeintliche Diastase überwunden, in der wissenschaftliche Theologie
von Wissenschaft gesprochen wird.“ Für die zweitgenannte Position vgl.: F. Wittekind, Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, S. 4: „Wissenschaft im universitären Sinn ist die Theologie nur, wenn sie bereit ist, sich auf die Auflösung aller inhaltlichen Voraussetzung einzulassen […]. Eine Berufung auf eine gegebene ‚Sache‘ der Religion (bzw. des Glaubens oder des Christentums), die eine darauf bezogene ‚Sachlichkeit‘ der Theologie erfordere, ist damit nicht möglich. Damit wird ausgeschlossen, dass die Theologie […] sich selbst als Wissenschaft versteht unter Voraussetzung eines Glaubens, der nicht für alle einsehbar und kommunizierbar ist.“ Wenn Wittekind für die Theologie auch einen eignen, von anderen mit Religion befassten Wissenschaften unterschiedenen Zugriff auf die christliche Religion beansprucht, so ist die Rede von Gott als eine Funktion der christlichen Religion bestimmt und nicht als eine der wissenschaftlichen Theologie: „Der Gegenstand der Theologie ist das Selbstverständnis des Glaubens. […] Dieses Selbstverstehen des Glaubens wird als funktional gedeutet; damit wird eine externe Begründungsposition, auf die sich der Glaube berufen könnte (Gott), für den Glauben genauso wie für die den Glauben rekonstruierende Theologie abgelehnt“ (S. 31).
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gezwungen ist, entweder Gott oder die christliche Religion zum Gegenstand ihrer theoretischen Anstrengungen zu machen. Da der mit Pannenbergs Ausarbeitung seiner Theologie der Religionsgeschichte aufgebaute Theorierahmen in der, in einem zweiten Schritt einzunehmenden Perspektive, die sich an den, an Theorierahmen generell zu stellenden Anforderungen orientiert, zu Inkonsistenzen führt, soll in einem dritten Schritt ein alternativer Theorierahmen skizziert werden, der die Zielsetzung Pannenbergs aufnimmt, aber die Aporien vermeiden kann, die aus der Weise resultieren, wie dieser den generellen Anforderungen an Theorierahmen zu genügen versucht. Zunächst gilt es aber die Frage zu beantworten, inwieweit sich Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte in ihrer bestimmten Ausarbeitung überhaupt als der Aufbau eines Theorierahmens betrachten lässt.
1.
Die Konzeption der Theologie der Religionsgeschichte als Theorierahmen
Obwohl der Begriff des Theorierahmens von Pannenberg in seiner Theologie der Religionsgeschichte nicht verwendet wird, soll dennoch nicht so verfahren werden, ihn vorweg zu definieren, um ihn dann auf Pannenbergs Ausführungen zu applizieren. Stattdessen soll im Nachvollzug von Pannenbergs Ausführungen herauspräpariert werden, inwiefern diese den schrittweisen Aufbau eines Theorierahmens darstellen. Für den hier verfolgten Zweck reicht es hin, in den Nachvollzug der „Erwägungen“ mit dem zweiten, „Phänomenologie und Geschichte der Religionen“4 betitelten Abschnitt einzusteigen. Aus der, die Auseinandersetzung mit Pannenberg leitenden wissenschaftstheoretischen Perspektive ist an der im ersten Abschnitt geführten Auseinandersetzung mit Vertretern eines „kerygmatischen Ansatzes“5 bemerkenswert, dass ihre Weigerung, das Christentum als eine Religion unter Religionen zu betrachten, damit korrespondiert, dass sie häufig der Theologie absprechen, eine Wissenschaft zu sein, die mit anderen ihre wissenschaftlichen Standards teilt. Dem soll aber nicht weiter nachgegangen werden. Weiterführend für die hier verhandelte Themenstellung ist Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Phänomenologie und Geschichte der Religionen im zweiten Abschnitt seiner „Erwägungen“, wobei er den Terminus „Phänomenologie“ gleichbedeutend mit „Religionsphänomenologie“ verwendet. Gegenwärtig bildet offenbar die Religionsphänomenologie die herrschende Methode der religionswissenschaftlichen Systematik. Das schließt nicht aus, daß daneben
4 W. Pannenberg, Erwägungen (wie Anm. 1), S. 257. 5 a. a. O., S. 253.
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Religionspsychologie und Religionssoziologie fortbestehen, auch Religionsgeschichte im engeren Sinn der Erforschung und Darstellung des geschichtlichen Wandels einzelner Religionen oder religiöser Epochen, doch eher als Teildisziplinen und kaum noch als Methoden der grundlegenden systematischen Ordnung des religionswissenschaftlichen Materials.6
Pannenbergs Beschreibung der Religionsphänomenologie lässt sich so lesen, dass sie einen Rahmen für all die Theorien derjenigen Wissenschaften abgibt, die sich mit Religion befassen. Aussagen der Psychologie, Soziologie oder Geschichtswissenschaft über Religion erhalten ihren Status als religionswissenschaftliche nicht durch die Wissenschaften, in deren Rahmen sie getätigt werden, sondern erst durch ihre Einordnung in die „grundlegende systematische Ordnung“ der Religionsphänomenologie. Pannenbergs Formulierungen, die suggerieren könnten, Religionspsychologie, -soziologie und -geschichte hätten sich aus den, sich dem Thema Religion widmenden Sparten der entsprechenden Wissenschaften zu „Teildisziplinen“ der Religionsphänomenologie gewandelt, erhalten durch das Konzept des Theorierahmens eine diese Suggestion vermeidende Lesart. Die Aussagen, die in den Theorien der jeweiligen Wissenschaften generiert werden, erweisen sich innerhalb des Theorierahmens als solche, die Aspekte eines Gesamtphänomens thematisieren, das innerhalb des Rahmens der jeweiligen Wissenschaften nicht in den Blick kommen kann. Wie psychologische, soziologische und geschichtswissenschaftliche Aussagen, die sich auf Religion beziehen, in den religionsphänomenologischen Rahmen eingebunden werden, führt Pannenberg nicht näher aus. Er ist vielmehr an dem einheitlichen, Religion in ihrer Gesamtheit erfassenden Gesichtspunkt interessiert, unter dem die aus unterschiedlichen Theoriezusammenhängen stammenden Aspekte in den religionsphänomenologischen Rahmen eingefügt werden. Pannenberg sieht diesen einheitlichen Gesichtspunkt, der „die phänomenologische Systematik ausgesprochen oder unausgesprochen leitet“ in einer „Anthropologie des religiösen Verhaltens“, die darauf hin ausgerichtet ist, „‚das‘ religiöse Leben in seinen wesentlichen Strukturzügen“ zu beschreiben, das „zu allen Zeiten gleich gewesen sei“. 7 Der Frage, inwieweit diese Charakterisierung der Religionsphänomenologie gerecht wird, soll und kann hier nicht entschieden werden. Im Kontext der hier verfolgten Intentionen sind vielmehr die Gründe von Interesse, weshalb Pannenberg den von der Religionsphänomenologie bereit gestellten Theorierahmen als zu eng betrachtet. Zwei miteinander zusammenhängende Mängel erblickt er, die
6 a. a. O., S. 257. 7 Alle Zitate a. a. O., S. 260.
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es ihm geraten sein lassen, den Rahmen, in die religionstheoretische Aussagen einzufügen sind, anders zuzuschneiden. Erstens birgt ein Theorierahmen, der auf eine Systematik von Wesensmerkmalen von Religion in ihrer Allgemeinheit abstellt, die Gefahr, dass die Merkmale, die für alle Religion als wesentliche behauptet werden, „nur zu leicht den Blick für tiefeinschneidende Gegensätze mitten im scheinbar Gemeinsamen verstellen“8 . Mittels des, auf das aller Religion Gemeinsame abzielenden religionsphänomenologischen Verfahrens kann nicht entschieden werden, ob die per abstractionem aus der unermesslichen Vielfalt der sich darbietenden religiösen Phänomene gewonnenen, sie alle kennzeichnenden Eigenschaften im jeweils besonderen Fall diesen wesenhaft oder nur akzidentell zugesprochen werden können. Die Berücksichtigung besonderer Fälle liegt ja erklärtermaßen außerhalb des von Pannenberg rekonstruierten religionsphänomenologischen Theorierahmes. Aufgrund dessen ist es leicht möglich, dass der Religion als solcher Merkmale als wesentlich zugesprochen werden, die besondere, als religiös zu qualifizierende Phänomene nur akzidentell besitzen. Den zweiten Mangel des religionsphänomenologischen Theorierahmens sieht Pannenberg darin, dass diesem Religion als geschichtlich wandelbare vollständig aus dem Blick gerate. Die phänomenologische Wesensschau kann in ihrem Interesse an zeitlich Invariantem Wandelbarkeit und somit Geschichtlichkeit, als eine Eigenschaft, die religiöse Phänomene, wie sie sich empirisch darbieten, doch offensichtlich besitzen, innerhalb ihres Theorierahmens gar nicht thematisieren. Die Fähigkeit, die benannten Mängel des religionsphänomenologisch konzipierten Theorierahmens zu beseitigen, traut Pannenberg einem religionstheoretischen Theorierahmen zu, der konstitutiv historiografischer Natur ist. Historiografischer Theoriebildung ist es laut Pannenberg aufgegeben, sich auf das Einzelne, Individuelle zu fokussieren9 . Den Religionen, wie sie als konkrete, in die Menschheitsgeschichte eintreten und damit zeitlichem Wandel ausgesetzt sind, kommt der historiografische Zugang sehr viel näher als der abstrahierende religionsphänomenologische. Wie für Pannenberg ein solcher Theorierahmen auszusehen hat, kann den „Erwägungen“ nur indirekt entnommen werden, nämlich aus der Kritik an alternativen Wegen, den Rahmen zur theoretischen Erfassung von Religion historiografisch zu gestalten. Auffällig ist, dass Pannenberg seinen historiografisch geformten Rahmen nicht als ein Entwicklungsschema ausarbeitet, in das der geschichtliche Wandel von Religion in ihrer Gesamtheit einzuordnen wäre. Ein solches Entwicklungsschema hätte den Vorteil, die Religion in ihren geschichtlich wandelbaren Gestalten aber zugleich auch als ein einheitliches Phänomen theoretisch erfassen zu können. Insofern das eine Entwicklungsschema als eines
8 a. a. O., S. 260. 9 W. Pannenberg, WuTh, S. 66f.
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für Religion überhaupt gilt, käme der Theorierahmen auch für die Einheit des durch ihn erfassten Gegenstandsbereichs auf. Religion als solche wäre in ihrer Gesamtheit durch ein einheitliches Schema ihrer Entwicklung gekennzeichnet. Die einer bestimmten Religion in ihrer theoretischen Erfassung zuzusprechenden – auch Psychisches oder Soziales einschließenden – Eigenschaften bemäßen sich nach ihrem, durch das einheitliche Schema definierten Entwicklungsstand. An den ausgearbeiteten Entwicklungsschemata, seien sie apriorisch spekulativer oder empirisch evolutionistischer Bauart bemängelt Pannenberg, dass die Variabilität, in der die geschichtliche Entwicklung bestimmter Religionen jeweils verläuft, sich nicht in die verschiedenen vorgeschlagenen Entwicklungsschemata pressen lässt. Auch hier stellt sich der historiografische Zugang einer vorschnellen Generalisierung in den Weg. Wenn der geschichtliche Wandel in einzelnen Religionen verschieden verläuft, dann stellt sich die Frage, ob die Religionsgeschichte überhaupt den einheitlichen und vereinigenden Rahmen abgeben kann für die theoretische Erfassung sich in ihrem geschichtlichen Wandel ganz unterschiedlich darstellender Religionen. Pannenberg löst das Problem, das sich für das Konzept der Religionsgeschichte als einer Einheit in Anbetracht der Vielfalt der Formen stellt, in denen Wandel einzelner Religionen verläuft, indem er den Begriff der Religion so bestimmt, dass daraus begreiflich wird, weshalb der Wandel von Religion de facto anders verläuft als in einer einheitlichen linearen Entwicklung, die ausgehend von dem einen Ursprungstadium hin zu jeweils auf dem vorhergehenden aufbauenden Folgestadien verläuft. Da Pannenberg in „Erwägungen“ den Begriff der Religion, der für seine Konzeption eines geschichtswissenschaftlichen Zugriffs auf Religion einschlägig ist, lediglich implizit im Zusammenhang der durch den Rahmen erst ermöglichten Frage nach dem „Wirklichkeitsbezug religiöser Erfahrung“10 bestimmt, sei auf dessen explizite Festlegung im Kontext von Pannenbergs ausdrücklich dem wissenschaftstheoretischen Status der Theologie gewidmeten Überlegungen zurückgegriffen: Nun wird man […] die Religionen als diejenige menschliche Lebensform betrachten dürfen, in der die jeweilige Erfahrung der Wirklichkeit im ganzen ausdrücklich wird […].Umgekehrt wird man überall da von Erscheinungen religiösen Charakters sprechen können, wo das Verständnis der Wirklichkeit im ganzen thematisch wird, auch wenn das nicht unter Berufung auf Gott geschieht:11
10 W. Pannenberg, Erwägungen (wie Anm. 1), S. 277. 11 W. Pannenberg, WuTh, S. 314f. Zum Nachweis, dass die Festlegung des Religionsbegriffs, wie sie explizit in WuTh geschieht, bereits in „Erwägungen“ implizit Anwendung findet, vgl. W. Pannenberg, Erwägungen (wie Anm. 1), S. 285f.: „Die in der jeweiligen Erfahrung der Wirklichkeit im Hinblick auf ihre Ganzheit – als Welt – begegnende Macht, die als die einende Einheit jenes Ganzen in
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Auf welche Weise leistet es der Begriff der Religion, wie Pannenberg ihn für seinen Theorierahmen festlegt, alle religionstheoretischen Aussagen in einen einheitlich gestalteten Rahmen einzubinden, ohne über ein Einheit und Ordnung stiftendes Schema wie etwa die Abfolge von Epochen oder Entwicklungsstadien zu verfügen? Der hierfür entscheidende Punkt ist, dass Pannenberg die die Religion definierende Bestimmung darin sieht, dass Religion gewissermaßen selbst schon eine Art Rahmen ausbildet. Wenn er schreibt, man hätte es dort mit Religion zu tun, „wo das Verständnis der Wirklichkeit im ganzen thematisch wird“, dann schließt dies ein, das Verständnis der Wirklichkeit12 im Ganzen, das Religionen unterschiedlich zum Ausdruck bringen, werde so thematisch, dass Wirkliches in seiner Besonderheit immer auch als ein durch die Wirklichkeit als Ganzes bestimmter Teil verstanden werden können muss. Diese unterschiedlichen religionsspezifischen Rahmen dürfen keinesfalls mit dem einen religionstheoretischen, genauer gesagt, religionsgeschichtlichen Rahmen verwechselt werden. In diesem können sie nur als Gegenstände religionshistoriografischer Theoriebildung und damit selbst als etwas Gerahmtes zu stehen kommen. Inwieweit aber die Religionen, sofern sie ihrem Begriff nach darin bestehen, ein bestimmtes Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen zum Ausdruck zu bringen, einem geschichtlichen Wandel unterworfen sind und somit zum Gegenstand historiografischer Forschung gemacht werden können, ist aus dem bis hierin Entwickelten noch nicht klar geworden. Die Wandelbarkeit des jeweiligen spezifischen Rahmens einer Religion, in dem das Verständnis des Ganzen der Wirklichkeit ausgedrückt wird, hat ihren Grund darin, dass dieses konstitutiv auf die Erfahrung von Wirklichem in seiner jeweiligen Besonderheit bezogen ist. Erfahrung13 wiederum konzipiert Pannenberg innerhalb seines Theorierahmens als etwas wesentlich durch Geschichtlichkeit Bestimmtes14 . Erfahrung begreift er als Geschehen und damit als etwas, das zwangsläufig an einen Zeitraum gebunden ist, in dem es stattfindet. Demnach kann nur das erfahren werden, das bereits wirklich ist, bevor das Geschehen stattfindet, in dem es erfahren wird. Das,
Erscheinung tritt, ist die Wirklichkeit, mit der es die Religionen zu tun haben und die – wenn sie sich personhaft manifestiert – ,Gott‘ heißen darf.“ 12 Auf den Begriff der Wirklichkeit wird unten S. 103–106 zurückzukommen sein, wenn es darum gehen soll, den Theorierahmen, wie er aus „Erwägungen“ als ihnen implizit zugrundeliegender extrahiert wurde, in allgemeine Überlegungen zum Konzept des Theorierahmens einzubinden. Diese dienen dazu, ein entsprechend generalisiertes Level zur Verfügung zu stellen, auf dem sich die im dritten Abschnitt zu offerierende Alternative zu der von Pannenberg für seinen Theorierahmen gewählten Bauweise mit dieser vergleichen lässt 13 Auch auf den Begriff der Erfahrung gilt es unten S. 103–106 noch einmal in dem, in Anm. 12 genannten Kontext zurückzukommen. 14 Vgl. W. Pannenberg, WuTh, S. 70: „Und da die Wirklichkeit selbst noch im Prozeß, somit noch offen ist, ist auch unsere Erfahrung von ihr gegenwärtig nicht abschließbar, sogar abgesehen von der faktischen Begrenztheit unserer Information.“
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auf was Erfahrung Zugriff hat, muss also in einem Zeitraum wirklich sein, der vor dem liegt, in dem es geschieht, dass es erfahren wird. Man sieht auf den ersten Blick, dass der Begriff der Erfahrung von Pannenberg so zugeschnitten wird, dass Erfahrungen als zeitgebundene Ereignisse dem historiografischen Zugriff zugänglich sind. Nimmt man des Weiteren die in Pannenbergs Theorierahmen geltende Prämisse15 hinzu, dass, was wirklich ist, sich in der Zeit ändert, d. h. dass manches, was in einem Zeitraum wirklich ist, es in einem anderen nicht ist, dann kann aus dem so gestalteten Theorierahmen ersichtlich gemacht werden, weshalb sich ein Verständnis des Ganzen der Wirklichkeit, das in „Erscheinungen religiösen Charakters“ zum Ausdruck kommt, wandeln kann. Da ein Verständnis der Wirklichkeit als Ganzes konstitutiv so auf Erfahrungen von Wirklichem Bezug nimmt, dass dieses als durch das Ganze der Wirklichkeit bestimmter Teil verständlich werden muss, kann es nicht ausgeschlossen werden, dass Wirkliches auftritt, das bisheriger Erfahrung nicht zugänglich sein konnte und sich nicht mehr als Teil in das aktuelle Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen integrieren lässt. Tritt ein solcher Fall von nicht integrierbarer Wirklichkeitserfahrung ein, so kann das zur Folge haben, dass sich das Verständnis des Ganzen der Wirklichkeit und damit auch die Religion, in der sich dieses Verständnis ausdrückt, verändert. Dem gewandelten Verständnis des Wirklichkeitsganzen lässt sich dann noch integrieren, was vor dessen Wandel nicht integrierbar war. Weil die Weise, in der die Wirklichkeit im Ganzen verstanden wird, als eben auf das Ganze dessen gehende, was wirklich ist, stets auf das nur im fortlaufenden geschichtlichen Erfahrungsprozess zugängliche besondere Wirkliche bezogen ist, das als durch das Ganze bestimmter Teil verständlich zu machen ist, kann sie sich im fortlaufenden Erfahrungsprozess wandeln. Soweit der von Pannenberg vorgeschlagene Theorierahmen, der alle theoretische Beschreibung von Religion so festlegt, dass sie sachgemäß nur dann getätigt wird, wenn sie die Religionen in ihrem je individuellen geschichtlichen Wandel erfasst, bis hierhin rekonstruiert wurde, lässt er die Beschreibung von geschichtlichem Wandel so weit zu, wie sie sich jeweils auf das Verständnis einzelner Religionen beschränkt. In dem bisher entwickelten Theorierahmen setzt die Erklärung religiösen Wandels das je besondere Verständnis des Wirklichkeitsganzen voraus. Doch ermöglicht es die Bauweise des Theorierahmens auch noch, in ihm Religionsgeschichte als Einheit thematisieren zu können, ohne sie jedoch durch den Rahmen in irgendeiner Weise festgelegen zu müssen? Die Möglichkeit, die verschiedenen Verständnisweisen des Ganzen der Wirklichkeit samt der, aufgrund dieser Verschiedenheit je anders verlaufenden Prozesse ihres Wandels doch in einer
15 Vgl. die Rede von der noch im Prozess befindlichen und damit offenen Wirklichkeit im Zitat in Anm. 14.
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Religionsgeschichte zusammenzubringen, ergibt sich aus der Verhältnisbestimmung der besonderen Verständnisweisen der Wirklichkeit im Ganzen zu der einen Wirklichkeit an sich. In einer jeden Verständnisweise der Wirklichkeit im Ganzen ist zwangsläufig intendiert, dass das Ganze der Wirklichkeit jedes Wirkliche in seiner Besonderheit so und nicht anders als seinen Teil bestimmt, was nichts anderes heißt, als dass diese Bestimmung, als Teil durch das Ganze bestimmt zu sein, in der Wirklichkeit seine Entsprechung hat. Wenn jeder Weise, die Wirklichkeit als Ganzes zu verstehen, konstitutiv der Anspruch inhäriert, eine auf die Wirklichkeit an sich zutreffende zu sein, dann sind die verschiedenen Verständnisweisen der Gesamtwirklichkeit so aufeinander beziehbar, dass sie darin vergleichbar sind, inwiefern sie der einen Wirklichkeit entsprechen oder widersprechen. Unter den genannten Voraussetzungen bietet sich damit auch die Möglichkeit, das Verhältnis verschiedener Religionen zueinander innerhalb des Theorierahmens zu erfassen. Aufgrund des historiografischen Designs des Theorierahmens kann das Verhältnis verschiedener Religionen nur dann adäquat erfasst werden, wenn sie im Verlauf ihrer Geschichte, also in einem bestimmten Zeitraum tatsächlich in ein solches Verhältnis getreten sind, dass sie in ihrem Verständnis des Wirklichkeitsganzen auf das der anderen reagieren. Aus den Bestimmungen des Theorierahmens können demnach die Verhältnisweisen, in denen Religionen zueinander stehen, nicht entnommen werden. Sie sind nur den geschichtlich vorgegebenen Religionen zu entnehmen. Die Wechselwirkung der religiösen Traditionen, die sich im Fortgang solchen Wettstreits […] um die Wirklichkeit ergeben hat, ist nicht aus irgendwelchen Prinzipien zu deduzieren, sondern nur in ihrem faktischen Vollzug verstehend nachzudenken. Der Prozeß der Religionsgeschichte kann nicht a priori konstruiert oder auch nur periodisiert werden.16
Von Religionsgeschichte als der Geschichte von Religion kann in historiografischer Perspektive also erst ab der Zeit gesprochen werden, in der die Religionen tatsächlich in ein Verhältnis zueinander getreten sind. Religionsgeschichte im Singular ist zwar eine im Theorierahmen feststellbare Tatsache, aber keine von ihm vorgegebene Prämisse. Nachdem der Theorierahmen, in den der Argumentationsgang der „Erwägungen“ eingespannt ist, soweit rekonstruiert wurde, dass daraus ersichtlich wurde, wie durch ihn die wissenschaftliche Erfassung von Religion formatiert wird, lässt sich nun die Fragestellung in Angriff nehmen, wie es in ihm möglich ist, theoretische
16 W. Pannenberg, Erwägungen (wie Anm. 1), S. 273.
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Aussagen über Gott oder etwas ihm Entsprechendes17 , also originär theologische Aussagen zu machen. In Anbetracht der oben18 eingeschärften Differenz von Theorierahmen und den vielfältigen Rahmen religiösen Verstehens des Wirklichkeitsganzen, in die eingespannt, den Erfahrungen von Wirklichem der Sinn verliehen wird, Teil des Ganzen zu sein, scheinen originär theologische Aussagen innerhalb des Theorierahmens nicht möglich zu sein. Originär theologische Aussagen werden in den Rahmen religiösen Verstehens gemacht und sind damit Gegenstand der innerhalb des Theorierahmens gemachten Aussagen, aber eben nicht diese Aussagen selbst. Ein Weg aus diesem Problem heraus findet sich, wenn man nochmals den beiden Prämissen zuwendet, die die Eckpfeiler der Konstruktion von Pannenbergs Theorierahmen bilden: (1) Die Aussagen innerhalb des Theorierahmens und die innerhalb der religionsspezifischen Rahmen, die durch die vielfältigen Weisen, das Wirklichkeitsganze aufzufassen, erzeugt werden, nehmen aus Gründen, die im Wesen von Aussagen allgemein liegen, in Anspruch, sich auf eine und dieselbe Wirklichkeit zu beziehen. (2) Aussagen über Wirkliches, d. h. über das, was zur Wirklichkeit gehört, müssen sich auf Erfahrung gründen. Erfahrung kann im Kontext von Pannenbergs Theorierahmen geradezu als Zugangsweise zur Wirklichkeit definiert werden.19 Auf der Basis dieser Prämissen seien zunächst die Aussagen über das Göttliche, die jeweils innerhalb der unterschiedlichen religionsinternen Rahmen gemacht werden, im Kontext des Anspruchs auf Wirklichkeitsbezug der dort gemachten Aussagen untersucht. Die sich hier als erstes aufdrängende Frage, ob, und dann wie Aussagen über das Göttliche sich in den Theorierahmen integrieren lassen, erhält ihre Antwort, mit der Lösung des generellen Problems, wie Religionen, die sich in ihren Aussagen auf das, was ihnen an Wirklichem zugänglich ist, so beziehen, dass sie es als durch das Ganze der Wirklichkeit bestimmte charakterisieren, sich darin überhaupt auf etwas Wirkliches beziehen können. Zur Lösung des genannten Problems muss aus der Perspektive des Bezugs auf die eine Wirklichkeit an sich auf die oben20 vorgenommene Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Weise, die Wirklichkeit als ein Ganzes zu begreifen, und dem durch Zeiträume beschränkten Zugriff auf Wirkliches zurückgegriffen werden. Aussagen, die das
17 Im Folgenden soll für den Terminus ‚Gott‘ und ihm entsprechender Termini, wie z. B. der des Heiligen (R. Otto, E. Durkheim) der Transzendenz (T. Luckmann, N. Luhmann), des Universums (F. D. E. Schleiermacher) usw. der Term ,das Göttliche‘ verwendet werden 18 Siehe oben, S. 91. 19 Auffällig ist, dass Pannenberg trotz der fast schon inflationären Verwendung des Begriffs der Erfahrung, gerade auch im Zusammenhang mit dem der Wirklichkeit, keine explizite Theorie der Erfahrung ausgearbeitet hat. Für eine etwaige Erklärung dieses Phänomens siehe unten, S. 103, die Bemerkungen zu Pannenbergs Alltagsrealismus. 20 Siehe oben, S. 91f.
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Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen zum Ausdruck bringen, können sich nicht unmittelbar auf diese als die Wirklichkeit an sich beziehen. Unter der Bedingung der Geschichtlichkeit von Erfahrung, also unter der Bedingung, dass Erfahrung niemals zugänglich sein kann, was noch nicht wirklich geworden ist, kann sie keinen Zugang zur Wirklichkeit im Ganzen haben. Wirklichkeit ist Erfahrung im Fortgang ihrer Geschichte immer nur zum Teil zugänglich. Innerhalb des Theorierahmens kann nun einsichtig gemacht werden, dass es in den religionsspezifischen Rahmen die Funktion von Aussagen über das Göttliche sei, eine Vermittlung herzustellen zwischen dem Erfahrung nicht zugänglichen Ganzen der Wirklichkeit und den durch die Zeit beschränkten Erfahrungen von Teilen der Wirklichkeit. Im Theorierahmen von „Erwägungen“ wird die geforderte Vermittlung durch den Begriff der Macht geleistet, der den des Wirklichkeitsganzen, respektive den der Erfahrung religionstheoretisch spezifiziert. Allem, was unter den Begriff des Wirklichkeitsganzen fällt, wie er innerhalb des Theorierahmes in die Bestimmung von Religion eingeht, muss auch die Bestimmung zugesprochen werden, ein durch eine „einende Macht“21 Geeintes zu sein. Im Begriff der einenden Macht spricht sich aus, dass das Ganze der Wirklichkeit als Einheit bestimmend dafür ist, welche Bestimmungen den Teilen zukommen, indem sie den einen Zusammenhang des Ganzen bilden, und dass nicht die jeweiligen besonderen Bestimmungen der Teile bestimmend für die Bestimmtheit des Ganzen als des einen Zusammenhangs seiner Teile sind. Die das Ganze der Wirklichkeit einende, d. h. dessen Teile derart bestimmende Macht, dass sie eine zusammenhängende Einheit bilden, wird innerhalb der religionsspezifischen Rahmen durch die Aussagen über das Göttliche zum Ausdruck gebracht. Wenn auch vom Ganzen der Wirklichkeit als dem, seine Teile in ihrem Zusammenhang Bestimmenden ausgesagt wird, es sei nur als ein durch eine einende Macht Geeintes möglich, so ist damit noch nicht einzusehen, wie es mit der einzig Erfahrung zugänglichen Wirklichkeit an sich vermittelt werden soll. Einsichtig machen lässt sich dies erst, wenn man auch den Begriff der Erfahrung religionstheoretisch spezifiziert. Religiöse Erfahrungen sind solche, die einen Zugang zu solchem Wirklichen haben, in dem die einende Macht, d. h. das Göttliche ihre bzw. seine Macht erweist. Als sich in bestimmten Zeiträumen ereignende, sind diese Machterweise der Erfahrung zugänglich. Das, was sich in einem bestimmten Zeitraum ereignet, wird religiös erfahren, wenn es als bestimmend für
21 Vgl. das Zitat in Anm. 11 und W. Pannenberg, WuTh, S. 315: „Der Sache nach ist der Zusammenhang mit der Problematik des Gottesgedankens da immer schon gegeben, wo das Verständnis der Wirklichkeit im ganzen thematisch wird, weil sich immer die Frage stellt, worin denn die Einheit der Wirklichkeit im Sinne der jeweiligen Konzeption letztlich begründet ist.“
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das Ganze der Wirklichkeit verstanden wird.22 Wenn auch die Aussagen über das Wirklichkeitsganze und die göttliche Macht, die dessen Teile zu einem einheitlichen Zusammenhang vereint, nicht unmittelbar auf Wirklichkeit an sich Bezug nehmen, so doch vermittelt durch religiöse Erfahrung. Da die religiöser Erfahrung zugänglichen Ereignisse von Machterweisen stets Konsequenzen auf das jeweilige Verständnis des Wirklichkeitsganzen und der es einenden Macht haben – seien diese bestätigender oder verändernder Art, haben Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit und das dessen Einheit konstituierende Göttliche darin Zugang zur Wirklichkeit an sich. Indem in diesen Aussagen also auf den Wirklichkeitszugang religiöser Erfahrung dadurch reagiert wird, dass die Weise in der das Ganze der Wirklichkeit und die seinen einheitlichen Zusammenhang verbürgende Macht bestätigt oder verändert wird, nehmen sie vermittelt auf die ihnen unmittelbar unzugängliche Wirklichkeit im Ganzen Bezug.23 Mit der Einführung des Begriffs der Macht in den Theorierahmen ist bisher aber nur der Nachweis gelungen, dass innerhalb der religionsinternen Rahmen Aussagen über das Göttliche beanspruchen können, durch Erfahrung vermittelt auf die Wirklichkeit an sich zutreffen zu können. Vom Theorierahmen selbst konnte aber noch nicht gezeigt werden, dass innerhalb seiner Aussagen über das Göttliche getätigt werden müssten. Soweit er rekonstruiert wurde, erlaubt er nur Aussagen über Aussagen, die innerhalb des jeweiligen religionsinternen Rahmens beanspruchen können, auf das Göttliche in seiner Wirklichkeit zuzutreffen. Unter der Prämisse, alle Aussagen bezögen sich derart auf ein und dieselbe Wirklichkeit, dass in ihnen implizit stets mitbehauptet wird, sie träfen auf diese zu, muss dies aber auch für die Aussagen gelten, die innerhalb des Theorierahmens behaupten, in den religionsspezifischen Rahmen getätigte Aussagen über das Göttliche beanspruchten zu Recht sich auf Wirklichkeit an sich zu beziehen. So wie Pannenberg seinen Theorierahmen zugeschnitten hat, trifft die in ihm gemachte Aussage, Religionen beanspruchten zu Recht, über das Göttliche als etwas Wirkliches zu reden, auf die Religionen als etwas an sich Wirkliches zu. Als etwas Geschichtliches, Zeitgebundenes sind sie ja Erfahrung zugänglich. Dies wiederum hat zur Konsequenz, dass die adäquate theoretische Erfassung von Religion auch Aussagen darüber einschließen muss, inwiefern religionsinterne Aussagen über das Göttliche der Wirklichkeit entsprechende sind. Im Theorierahmen Pannenbergs lässt sich nicht behaupten, es sei theoretischer Befassung mit Religion nicht möglich, Aussagen darüber zu
22 Vgl. W. Pannenberg, Erwägungen (wie Anm. 1), S. 284: „Aber das religiöse Erlebnis [d. i. religiöse Erfahrung; M.Z] hat […] Selbstevidenz nicht als vereinzeltes Erlebnis, sondern durch seinen Bezug auf das Ganze der jeweiligen Daseinserfahrung.“ 23 Vgl. ebd.: „Weil sie als Mächte über das ganze Dasein der Menschen mit Einschluß ihrer Welt erfahren wurden, darum konnten die Götter der Religionen dem Menschen gegenübertreten als von ihm selbst verschiedene Wirklichkeit.“
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treffen, inwieweit die von den Religionen getroffenen Aussagen über das Göttliche wirklich zutreffende sind. Man stellte damit die im Theorierahmen gerechtfertigte Aussage in Abrede, dass es zur Wirklichkeit von Religion gehört, zum einen solche Aussagen tatsächlich zu machen und zum anderen in diesen auf die Wirklichkeit Zutreffendes ausdrücken zu können. Originär theologische Aussagen, d. h. solche über das Göttliche werden innerhalb des Theorierahmens also dadurch erzwungen, dass eine adäquate theoretische Beschreibung von Religionen beinhaltet, ihnen die Eigenschaft zuzusprechen oder abzusprechen, in ihren Aussagen über das Göttliche etwas auf die Wirklichkeit an sich zutreffendes auszudrücken. Spätestens in dem Fall, wenn innerhalb unterschiedlicher Religionen dem Göttlichen jeweils Eigenschaften zugeschriebenen werden, die nicht miteinander kompatibel sind, muss innerhalb des Theorierahmens entschieden werden, welche Religionen als solche zu beschreiben sind, die zu Recht dem Göttlichen die entsprechende Eigenschaft zusprechen, und welche als solche, die dies zu Unrecht tun. Indem innerhalb des Theorierahmens in religionstheoretischer Perspektive Religionen die Eigenschaft, der Wirklichkeit entsprechende Aussagen über das Göttliche zu machen, zu- bzw. abgesprochen wird, werden implizit zugleich auch Aussagen über das Göttliche selbst getätigt. Wird im Theorierahmen von einer im religiösen Kontext gemachten Aussage über das Göttliche ausgesagt, ihr Inhalt entspreche der Wirklichkeit an sich, dann folgt daraus, dass diese Aussage auch eine des Theorierahmens sein muss, weil der Theorierahmen sich auf dieselbe Wirklichkeit bezieht, wie die religionsinternen Rahmen. Wie lässt sich dann aber im Falle sich widersprechender Aussagen, die innerhalb ihrer je eigenen religionsspezifischen Rahmen in Anspruch nehmen, der Wirklichkeit zu entsprechen, eine Entscheidung herbeiführen, welche den Anspruch zu Recht erheben und welche nicht? Herbeigeführt werden muss eine Entscheidung, da der Widerspruch ansonsten auch ein im Theorierahmen bestehender ist. Da Pannenberg seinen Theorierahmen so gestaltet, dass der Zugang zur Wirklichkeit für die Rede vom Göttlichen exklusiv über die religiöse Erfahrung vermittelt ist, wird dem Rahmen selbst keine Möglichkeit zugestanden, sich auf eigenen Wegen Zugang zur Wirklichkeit des Göttlichen zu verschaffen. In seinem religionsgeschichtlichen Theorierahmen verfügt man nicht über einen von den Religionen unabhängigen Zugriff auf die Wirklichkeit des Göttlichen, an dem zu prüfen wäre, ob der von ihnen erhobene Anspruch berechtigt ist, ihre Aussagen träfen auf die Wirklichkeit zu. Eine Lösung dieses Problems bahnt sich an, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass es Religionen konstituiert, das Göttliche so zu bestimmen, dass es die das Wirklichkeitsganze bestimmende und einende Macht ist. Aufgrund dessen liefern die Religionen selbst das Kriterium, an dem ihr Anspruch zu messen ist, in ihren Aussagen über das Göttliche dessen Wirklichkeit zu entsprechen. Tritt nämlich im Fortgang des Erfahrungsprozess Wirkliches zutage, das sich nicht als ein
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durch die Macht des Göttlichen, wie sie von der entsprechenden Religion aufgefasst wird, im Zusammenhang der Gesamtwirklichkeit bestimmtes verstehen lässt, dann kann diese Religion aufgrund des Erweises der eingeschränkten Macht des von ihr vorgestellten Göttlichen nicht mehr behaupten, in ihren Aussagen über dieses dessen Wirklichkeit zu entsprechen. Für den Ausweis des Theorierahmens als eines durchgehend religionsgeschichtlich verfahrenden erweist sich das den Religionen selbst inhärierende Kriterium für die Berechtigung, in ihren theologischen Aussagen Wirklichkeitsbezug zu beanspruchen, als ein zentrales Konstituens, da es als Explanans den die Religionsgeschichte ausmachenden Wandel im Verständnis des Wirklichkeitsganzen und der es einenden Macht dient. Nicht nur kann aber hiermit der geschichtliche Wandel der Weise, in der das Göttliche aufgefasst wird, als ein innerhalb der einzelnen Religionen stattfindender, sondern auch als ein durch deren wechselseitige Beeinflussung bewirkter erklärt werden. Wenn Religionen ihr Verständnis des Göttlichen aus sich heraus oder durch Übernahmen aus anderen verändern, dann kann das religionsgeschichtlich aus deren Konfrontation mit Erfahrungen von solchem Wirklichem erklärt werden, das sich nicht mehr als eines dem Machtbereich des Göttlichen, wie es bis zum Eintritt dieser Erfahrung verstanden wurde, Unterworfenes verständlich machen lässt. Es mögen Erfahrungen, die Psychisches oder Soziales betreffen, der Anlass sein, dass sich die Auffassung einer Religion vom Göttlichen wandelt, aber die Weise, wie sie sich ändert, ist nur in der Religion selbst begründet. Auch die neuen Erfahrungen von Wirklichem müssen als so geartete verständlich werden, die einzig durch die Macht des Göttlichen ihre Bestimmung als Teil im Zusammenhang des Wirklichkeitsganzen erhalten. In der psychischen oder sozialen Verfasstheit dieses neu erfahrenen Wirklichen liegt nicht der Grund seiner Bestimmtheit als Teil des Ganzen der Wirklichkeit.24 Der Theorierahmen, wie Pannenberg ihn gestaltet, erlaubt es also, den geschichtlichen Wandel von Religionen, also Religionsgeschichte als einen durch die Religionen selbst bestimmten zu erklären. Allerdings reicht das Konzept des den einzelnen Religionen inhärierenden Kriteriums, mittels dessen die Berechtigung des von ihnen beanspruchten Wirklichkeitsbezuges zu beurteilen ist, nicht hin, innerhalb des Theorierahmens die aufgrund seines Designs geforderte theologische Entscheidung zu treffen, ob die in einem bestimmten religionsinternen Rahmen gemachten Aussagen über das Göttliche auf die Wirklichkeit zutreffen oder nicht. Wenn z. B. eine Religion A ein in den fortlaufenden Erfahrungsprozess eintretendes Wirkliches W1 als durch die einende 24 Vgl. W. Pannenberg, Erwägungen (wie Anm. 1), S. 278: „Seine [des Religionswissenschaftlers; M. Z.] Beschreibung des geschichtlichen Übergangs religiöser Wandlungen bleibt aber unbefriedigend, wenn sie dem religiösen Charakter der Phänomene, die Anfangs- und Endpunkt eines solchen Prozesses bilden, inkommensurabel ist, wenn also religiöse Wandlungen nur durch politische und soziale Veränderungen verständlich gemacht werden sollen.“
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Macht des Göttlichen, wie sie sie versteht, im einheitlichen Zusammenhang der Gesamtwirklichkeit bestimmtes verständlich machen kann, während eine Religion B in Bezug auf ihr Verständnis des Göttlichen dies für W1 nicht leisten kann, besagt das nichts darüber, inwieweit A für sein Verständnis des Göttlichen beanspruchen darf, der Wirklichkeit zu entsprechen. Irgendein in den Erfahrungsprozess eintretendes W2 könnte für A die Rolle spielen, die W1 für B spielt. Aufgrund der je spezifischen Weisen, in denen Religionen das Göttliche verstehen, und der Kontingenz des der Erfahrung in ihrer Zeitgebundenheit Zugänglichen kann das religionsinterne Kriterium nicht der Anforderung an den Theorierahmen genügen, Aussagen darüber treffen zu können, inwieweit Religionen ihrem Anspruch gerecht werden, in ihren Aussagen über das Göttliche der Wirklichkeit zu entsprechen. Welchen Anhaltspunkt aber bietet der Theorierahmen, so weit er bis hierhin rekonstruiert wurde, für die Lösung des Problems, er habe zum einen der Anforderung zu genügen, originär theologische Aussagen, also Aussagen darüber zu tätigen, ob der Anspruch einer Religion, ihre Verständnisweise des Göttlichen entspreche der Wirklichkeit an sich, berechtigt ist, und er verfüge zum anderen über keinen eignen Zugang zur Wirklichkeit des Göttlichen, um daran die Ansprüche der Religionen zu prüfen. Die Lösung des Problems, die Pannenberg innerhalb seines Theorierahmens entwickelt, ist ebenso schlicht wie elegant. Gewissermaßen ist die Explikation und die damit einhergehende Verschärfung des Problems zugleich auch seine Lösung. Unter der im Theorierahmen geltenden Prämisse, der Zugang zur Wirklichkeit an sich sei generell nur zeitgebundener Erfahrung möglich, und es könne deshalb grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass im weiteren Verlauf des Erfahrungsprozesses Wirkliches zugänglich wird, das zuvor nicht erfahrbar war, kann innerhalb des Theorierahmens keiner Religion die Eigenschaft zugeschrieben werden, alles Wirkliche als dem Machtbereich des von ihr wie auch immer verstandenen Göttlichen Unterworfenes verständlich zu machen. Damit ist aber für alle Religionen verneint, dass der Anspruch, die von ihnen jeweils vertretene Auffassung vom Göttlichen entspreche der Wirklichkeit an sich, in irgendeiner Weise als ein berechtigter auszuweisen ist. Genau diese für Religion generell geltende Problemlage, bietet den Anhaltspunkt zur Lösung der benannten Probleme. Dieser besteht in der Einsicht, dass mit der Beschreibung der Problemlage als der Unvereinbarkeit der an die Zeit gebundenen und deshalb nur sukzessive und teilweise zugänglichen Wirklichkeit mit dem Anspruch, in Aussagen über das Göttliche Zugriff auf das Ganze der Wirklichkeit zu haben, die Eigenschaft, konstitutiv an Zeit gebunden und deshalb im Verlauf des Erfahrungsprozesses immer nur partiell zugänglich zu sein, als eine der Wirklichkeit im Ganzen aufzufassen ist. Das Ganze der Wirklichkeit ist als eine einzige Geschichte, d. h. als „Universalgeschichte“25
25 Vgl. W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, in: ders., GSTh 1, S. 91–122.
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zu verstehen, in der alles Wirkliche, das als solches notwendigerweise an den Zeitraum gebunden ist, in dem es geschieht, in den einen zeitlichen Zusammenhang des Vorher und Nachher eingefügt wird. Allerdings ist mit der Einsicht, dass das Wirklichkeitsganze als Universalgeschichte aufzufassen sei, nur der erste Schritt auf dem Weg zur Lösung des Problems gemacht. Dass die Wirklichkeit im Ganzen als Universalgeschichte zu verstehen sei, ist zunächst einmal eine bloße, innerhalb des Theorierahmens getätigte Behauptung. Hinzu kommt, dass es die Bauweise von Pannenbergs Theorierahmen gar nicht zulässt, mit bordeigenen Mitteln festzustellen, ob das Ganze der Wirklichkeit in der Tat die eine alles Wirkliche einbindende Geschichte sei. Innerhalb des Rahmens wird über religiöse Erfahrung gesprochen, selbst aber keine gemacht. Insofern ist die Bestimmung des Wirklichkeitsganzen als Universalgeschichte innerhalb des Theorierahmens eine reine Setzung. Da sich allerdings mit dem Christentum zumindest eine Religion finden lässt, in deren religiösen Erfahrungen das Göttliche seine Macht in solchen Ereignissen erweist, die es als die die ganze Geschichte bestimmende und einende Macht verständlich macht, kann das Problem der Unvereinbarkeit von zeitgebundener Erfahrung mit dem Anspruch, das Wirklichkeitsganze so aufzufassen, wie es in Wirklichkeit ist, auf elegante Weise gelöst werden. Mit der Auffassung des Wirklichkeitsganzen als Universalgeschichte ist der fortlaufende Erfahrungsprozess als der, in dem Wirkliches nur so weit zugänglich ist, wie es sich in einem Zeitraum ereignet, der in der Zeitordnung vor demjenigen liegt, in dem es erfahren wird, konsistent in Einklang zu bringen. Der Erfahrungsprozess ist als Folge von Ereignissen selbst ein Teil der Universalgeschichte und insofern durch sie in deren Zusammenhang bestimmt. Zudem gibt die Auffassung des Ganzen der Wirklichkeit als Geschichte ein Kriterium an die Hand, an dem der Anspruch von Religionen, ihre Auffassung vom Göttlichen und dem durch ihn bestimmten Wirklichkeitsganzen entspreche der Wirklichkeit, auf seine Berechtigung geprüft werden kann. Religionen, die das Göttliche und mit ihm das Wirklichkeitsganze so verstehen, dass dieses trotz dessen geschichtlicher Wandelbarkeit und seiner bloß partiellen Zugänglichkeit im fortlaufenden Erfahrungsprozess in sich abgeschlossen und durchgehend bestimmt sei, können innerhalb des Theorierahmens in originär theologischen Aussagen als solche beurteilt werden, deren Anspruch, in ihrer Auffassung des Göttlichen auf die Wirklichkeit zuzutreffen, unberechtigt ist.26 Die in dieser Beurteilung eingeschlossene Behauptung, das Verständnis des Wirklichkeitsganzen als Universalgeschichte entspreche der Wirklichkeit, wiederum ist nur berechtigt, weil in der Geschichte Ereignisse stattgefunden haben, die sich religiöser Erfahrung als
26 Vgl. W. Pannenberg, Erwägungen (wie Anm. 1), S. 293: „Die außerchristlichen Religionen nahmen das Erscheinen des göttlichen Geheimnisses nur in gebrochener Weise wahr, weil sie sich ihren eigenen Wandlungen, ihrer eigenen Geschichte verschlossen.“
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Machterweis des Göttlichen zu verstehen gaben, das die einende und bestimmende Macht des gesamten Verlaufs der Geschichte ist. Insofern beruhen die originär theologischen Aussagen innerhalb des Theorierahmens ihrer Möglichkeit nach auf dem rein religionshistoriografisch zu konstatierenden Auftreten des Christentums in der Religionsgeschichte.27 Auf der Basis des Standes, den die bis hierhin durchgeführte Rekonstruktion von Pannenbergs Theorierahmen erreicht hat. lässt sich noch ein Schritt weitergehen und zeigen, dass es in ihm möglich ist, theologische Aussagen nicht nur über Religionen im Einzelnen, sondern auch über die Religionsgeschichte insgesamt zu machen. Weshalb dies möglich ist, wird einsichtig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der den Verlauf der Religionsgeschichte konstituierende Wandel, dem die Auffassungen des Göttlichen sowohl in der je eigenen Geschichte einer Religion als auch im Geschehen der Begegnung unterschiedlicher Religionen unterliegen, derjenigen Auffassung des Göttlichen entspricht, das als einende und bestimmende Macht für das Ganze der Geschichte vorgestellt wird. Es ist gerade der geschichtliche Wandel in den Auffassungen des Göttlichen, der als dem Gesamtprozess der Geschichte unterworfener, das Göttliche adäquat zum Ausdruck zu bringen vermag.28 Nicht in einem sich gegen seine Veränderung abdichtenden, das Ganze der Wirklichkeit ein für alle Mal erfassenden Verständnis kommt das Göttliche angemessen zum Ausdruck, sondern im religionsgeschichtlichen Wandel von dessen Auffassungen, die wiederum durch das kontingente Geschehen bisher nicht erfahrener Machterweise bedingt sind. Unter den genannten Voraussetzungen kann innerhalb des Theorierahmens die theologische Behauptung gerechtfertigt werden, im unabgeschlossenen Wandel der Weisen, in denen das Göttliche im Verlauf der Religionsgeschichte verstanden wird, käme das Göttliche in einer, der als Geschichte verstandenen Gesamtwirklichkeit angemessenen Weise zum Ausdruck. Dem von Pannenberg entworfenen Theorierahmen gelingt es demzufolge in beeindruckender Weise, Forschung, die an der Empirie geschichtlich auftretender Religionen orientiert ist, mit originär theologischen Aussagen zu vereinbaren, die sich in theoretischer Absicht auf das Göttliche beziehen. Ohne den 27 A.a.O., S. 293f.: „Darüber hinaus wird sich die religionsgeschichtliche Erforschung der außerchristlichen Religionen nicht schon aus Gründen religionsgeschichtlicher Methodik gegen die Möglichkeit sträuben dürfen, daß die Untersuchung der Botschaft und Geschichte Jesu mit den Mitteln derselben Methodik zu dem Ergebnis führen könnte, daß hier die in der Geschichte der Religionen – auch des Christentums selbst – immer wieder strittige Wirklichkeit der göttlichen Macht in ihrer Unendlichkeit, in den Wandlungen der Religionsgeschichte sich manifestiert, definitiv erschienen, offenbar geworden ist.“ 28 A.a.O, S. 288: „In der Iteration immer erneuter kritischer Revision jeder ihrer Stufen ist die Religionsgeschichte der unendliche Weg, auf dem die unendliche Bestimmung des Menschen für den unendlichen Gott der ihr gemäßen Verwirklichung entgegengeht, in dem sie sogar zur Erscheinung kommt – entgegen dem Selbstbewußtsein der Religionen.“
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religionshistoriografischen Rahmen verlassen zu müssen, der seine theoretischen Anstrengungen den empirisch zu erhebenden Daten der Religionsgeschichte widmet, können theoretische Aussagen über das Göttliche getätigt werden. Mit der Aufklärung der wissenschaftstheoretischen Bedingungen einer sachangemessen Beschreibung von Religion, gelingt es Pannenberg, auch die der theologischen Theoriebildung aufzuklären. Auf der Grundlage der eruierten Bauweise des Theorierahmens, wie sie sich aus dem Nachvollzug des in „Erwägungen“ entwickelten Argumentationsgangs ergeben hat, gilt es nunmehr, die Züge des Theorierahmens näher zu betrachten, die erst dann heraustreten, wenn man ihn ins Licht dessen stellt, was einen Theorierahmen generell ausmacht. Gewissermaßen wird Pannenbergs Theorierahmen, innerhalb dessen Religionstheorie und Theologie (Theorie vom Göttlichen bzw. von Gott) einen theoretischen Zusammenhang bilden, nochmals in den Rahmen einer Theorie der Theorierahmen eingeordnet. Dabei rücken die Pannenergs Konzeption tragenden, aber entgegen ihrer Bedeutung nicht weiter explizierten Begriffe der Wirklichkeit und der Erfahrung besonders in den Fokus.
2.
Die Theologie der Religionsgeschichte im Lichte der generellen Bestimmungen von Theorierahmen
In der nun einzunehmenden Außenperspektive auf den Religionstheorie und Theologie in einen Zusammenhang einfügenden Theorierahmen werden zwei Bestandteile als konstitutiv für jeden Theorierahmen angenommen. In dieser Perspektive sind Theorierahmen grundsätzlich dadurch charakterisiert, eine Ontologie und eine Epistemologie zu beinhalten. Es ist die Aufgabe der Ontologie innerhalb eines Theorierahmens festzulegen, über welchen Gegenstandsbereich die theoretischen Aussagen innerhalb des Rahmens getroffen werden. Die dem Theorierahmen inhärierende Ontologie muss allerdings nicht explizit ausformuliert sein. Sie kann auch in den theoretischen Aussagen implizit enthalten sein. Im Falle von Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte sind es die Aussagen über die Wirklichkeit an sich und Einzelnes, das an ihr Anteil hat, in denen ontologische Festlegungen getroffen werden. Vom Resultat her, also dem, als ein Zusammengang, in dem Religionstheorie und Theologie ineinandergreifen, vollständig aufgebauten Theorierahmen darf behauptet werden, dass Pannenberg die Geschichte in ihrer Gesamtheit als den Bereich festlegt, über den innerhalb des Rahmens die theoretischen Aussagen zu machen sind. Als ein geschichtlich konstituierter variiert der Gegenstandsbereich mit der Zeit. Er ist nicht in allen Zeiträumen derselbe. Restringierte man in der Ontologie den Gegenstandsbereich lediglich auf die Religionen in ihrem geschichtlichen Wandel, dann schränkte man den Theorierahmen so ein, dass innerhalb seiner nur rein historiografische Aussagen möglich wären. Die Pointe von
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Pannenbergs Theorierahmen, dass er es nämlich gestattet, die historiografische Erklärung des Wandels im Verständnis des Göttlichen aus der Verfasstheit der Religionen selbst heraus zugleich als im Theorierahmen zu rechtfertigende Aussage über das Göttliche auszuweisen, gründet in der Festlegung der Ontologie auf die eine Universalgeschichte. Mit der ontologischen Festlegung, was das sei, das den Gegenstandsbereich des Theorierahmens bildet, kommt die Epistemologie ins Spiel. Es die Aufgabe der Epistemologie, plausibel zu machen, weshalb die innerhalb des Theorierahmens gemachten Aussagen, einschließlich der ontologischen Festlegungen, dem entsprechen können, was den Gegenstandsbereich ausmacht. Die von Pannenberg in seinem Theorierahmen vertretene Epistemologie lässt sich wohl angemessen als robuster Alltagsrealismus bezeichnen. Für diesen gilt es als unproblematisch und insofern als nicht weiter bedenkenswert, dass man durch Erfahrung in der Lage ist, die Gegenstände der Theoriebildung so zu erfassen, wie sie an sich sind. Allerdings weicht Pannenberg von diesem auch in den Wissenschaften weit verbreiteten Alltagsrealismus an entscheidender Stelle ab. Er bindet nämlich die Erfahrung und damit die Epistemologie an die Ontologie zurück. Als in bestimmten Zeiträumen stattfindende Ereignisse haben Erfahrungen Anteil an der Gesamtgeschichte und gehören somit zum Gegenstandsbereich des Theorierahmens. Nur weil die Ontologie Erfahrungen zum Gegenstandsbereich des Theorierahmens zählt, kann z. B. von der historiografischen Erklärung des Wandels im Verständnis des Göttlichen behauptet werden, sie erfasse dieses Geschehen, wie es an sich in der Geschichte stattfindet. Wandel im Verständnis des Göttlichen kann realiter nur stattfinden, weil Erfahrungen realiter sattfinden. Selbst die Rechtfertigung, die Universalgeschichte als den Gegenstandsbereich insgesamt festlegen zu dürfen, außerhalb dessen es nichts geben kann, was ontologisch noch als Gegenstand des Theorierahmens auszuweisen ist, beruht auf einem in der Geschichte stattgefundenen und deshalb der Erfahrung zugänglichen Ereignis, in dem das Göttliche seine Macht derart erweist, dass diese als die die Geschichte in ihrer Gesamtheit bestimmende und einende Macht verständlich wird. Im Gegenstandsbereich kommt die epistemische Rechtfertigung der ontologischen Festlegung auf die Universalgeschichte selbst als etwas Gegenständliches vor, nämlich als ein in dieser stattfindendes Geschehen. Aus der Perspektive, die Bauweise von Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte als einen Fall der Bestimmungen zu betrachten, die Theorierahmen generell zukommen, erregt die Rückkoppelung der Epistemologie in die Ontologie besonderes Interesse. Indem die zur Epistemologie zählende epistemische Rechtfertigung der ontologischen Festlegung als stattfindendes Ereignis zum Gegenstandsbereich gezählt wird, muss sich die Epistemologie mit dem Problem auseinandersetzen, dass sie auf sich selbst beziehbar ist. Es steht zu vermuten, dass Pannenbergs Interesse, die Ontologie seines Theorierahmens so aufzubauen, dass Gott als der den Gegenstandsbereich in seiner Gesamtheit Konstituierende und
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dessen einheitlichen Zusammenhang Stiftende jeglicher Erfahrung und der durch sie vermittelten Theoriebildung vorgegeben ist, ihn das Problem der Selbstreferenzialität der Epistemologie aus dem Blick geraten ließ. Da Pannenberg seine Epistemologie so anlegt, dass es nur vermittels von Erfahrung gelingt, auf den Gegenstandsbereich in der Weise zuzugreifen, dass etwas, das an ihm Anteil hat, erfasst wird, wie es an sich ist, muss auch alle Erfahrung als am Gegenstandsbereich Anteil habende vermittelt durch Erfahrung als das erkannt werden, was sie an sich ist. Wenn Pannenbergs Theorierahmen nun die epistemologische Behauptung impliziert, Erfahrung sei zum einen grundsätzlich so bestimmt, dass sie die Möglichkeit eröffne, das, was zum Gegenstandsbereich gehört, als das aufzufassen, was es an sich ist, und zum anderen so, dass sie aufgrund der Unabgeschlossenheit des Gegenstandsbereichs und der Gebundenheit ihres Geschehens an einen Zeitraum immer nur in der Lage sei, auf den Teil der Geschichte zuzugreifen, der sich bereits ereignet hat, dann muss diese Behauptung innerhalb des Theorierahmens ebenfalls durch Erfahrung vermittelt werden, wenn sie diese so beschreiben will, wie sie im Gegenstandsbereich der Geschichte tatsächlich stattfindet. Die epistemische Rechtfertigung epistemologischer Aussagen hat sich demnach an der Epistemologie auszurichten, die für den Gegenstandsbereich generell gilt. Was wären aber solche Erfahrungen, vermittels derer die grundsätzliche epistemologische Aussage, es sei Erfahrung, vermittels derer etwas zum Gegenstandsbereich Gehöriges so erfasst werden könne, wie es wirklich ist, als die die Wirklichkeit erfassende gerechtfertigt werden kann? Im Gegensatz zu den religiösen Erfahrungen des Christentums, durch die vermittelt die ontologische Aussage, das Wirklichkeitsganze sei ein im Werden Begriffenes, im Theorierahmen epistemisch gerechtfertigt werden kann, gibt Pannenberg keine derartige Erfahrungen für die Rechtfertigung seiner epistemologischen Aussagen an. Aber selbst wenn sich solche Erfahrungen benennen ließen, gelänge die Rechtfertigung der Epistemologie innerhalb des Theorierahmens nur auf Kosten eines vitiösen Zirkels. Die epistemologischen Aussagen über Erfahrung als den Zugang zum Gegenstandsbereich vermittelnde vermittelt durch Erfahrungen zu rechtfertigen, macht nur unter der Bedingung Sinn, dass die epistemologische Aussage, der Zugang zur Wirklichkeit sei durch Vermittlung von Erfahrung möglich, bereits gerechtfertigt ist. Den epistemologischen Grundsatz, dem Gegenstandbereich Angehöriges, sprich in der Geschichte stattgefunden habende Ereignisse seien vermittelt durch Erfahrung ihrem wirklichen Sein entsprechend aufzufassen, zugunsten eines schwächeren, weniger grundsätzlichen zu kippen, um den Zirkel zu vermeiden, kann allerdings auch nicht die Pannenbergs Theorierahmen zugrunde liegende Ontologie epistemisch rechtfertigen. Man könnte Pannenbergs epistemologischen Grundannahmen aufgrund deren sehr geringen Ausarbeitung eventuell auch so verstehen, dass Erfahrungen stattfinden, mit denen verbunden jeweils eine weitere Erfahrung stattfinden kann, vermittels derer jene als solche ausgefasst werden, durch die ver-
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mittelt etwas vom Gegenstandsbereich in Erfahrung gebracht wird, wie es an sich ist. Eine derartige abgeschwächte Epistemologie beschränkt sich darauf, die Vermittlung eines der Wirklichkeit entsprechenden Zugangs zum Gegenstandsbereich nur vereinzelten Erfahrung als deren kontingente Eigenschaft zuzusprechen. Die epistemische Rechtfertigung von Erfahrungen ist ein ebenso kontingent stattfindendes Ereignis wie die durch sie gerechtfertigte Erfahrung selbst. Zum einen kommt diese Form der Epistemologie, in der es keines Stattfindens bestimmter Erfahrungen bedarf, vermittels derer Aussagen über Erfahrung als solche, also im Allgemeinen zu rechtfertigen sind, der Bauweise des Theorierahmens Pannenbergs sehr entgegen. Sie entspricht der Grundannahme der den Theorierahmen prägenden Ontologie, die aufgrund des sich im Prozess seines Werdens befindenden Gegenstandsbereichs die Rechtfertigung genereller Aussagen über diesen ausschließen muss, da im Fortgang des Erfahrungsprozesses, der einen Teil des prozedierenden Gegenstandsbereichs darstellt, stets etwas stattfinden kann, das sich als ein die generelle Aussage falsifizierender Fall erweist. Zum anderen sprengt diese abgeschwächte Epistemologie aber auch den Theorierahmen Pannenbergs, und zwar genau aus dem Grund, aus dem heraus sie ihm entgegenkommt. In der für den Bau des Theorierahmens tragenden Annahme, der Erfahrungsprozess nehme als Teil des unabgeschlossenen Geschichtsprozesses über die jeweils bereits gemachten Erfahrungen hinaus seinen Fortgang29 , indem er vom Gegenstandsbereich das erfahrbar mache, was im Fortgang des Geschichtsprozesses erst nach den jeweils bereits gemachten Erfahrungen geschah, wird von denjenigen Erfahrungen ausgesagt, sie vermittelten einen Zugang zum Gegenstandsbereich, für die es als erst zukünftig stattfindende keine mit ihnen verbundenen Erfahrungen geben kann, die diese Aussage über sie epistemisch rechtfertigen. Unter der epistemologischen Annahme, die Vermittlung des Zugangs zur Wirklichkeit sei eine Eigenschaft, die Erfahrungen nur kontingenterweise zukommt, wird der Fortgang des Erfahrungsprozess, der die Auffassung des Geschichtsprozesses als eines unabgeschlossenen epistemisch rechtfertigt, indem in ihm die im und durch den Geschichtsprozess entstehenden neuen Wirklichkeiten erfahrbar werden, selbst zu etwas Kontingentem. Die für den Theorierahmen basale epistemische Aussage, zukünftig in den Geschichtsprozess neu eintretende Wirklichkeiten seien der Erfahrung im Fortgang ihres Prozesses zugänglich, kann in der eingeschränkten Epistemologie epistemisch nicht gerechtfertigt werden, da aufgrund der Kontingenz des durch Erfahrung vermittelten Zugangs zum Gegenstandsbereich auch das Gegenteil möglich ist.
29 WuTh, S. 312: „Die Wirklichkeit Gottes ist mitgegeben jeweils nur in subjektiven Antizipationen der Totalität der Wirklichkeit, in Entwürfen der in aller einzelnen Erfahrung mitgesetzten Sinntotalität, die ihrerseits geschichtlich sind, d. h. der Bestätigung oder Erschütterung durch den Fortgang der Erfahrung [hvgh. von mir; M.Z.] ausgesetzt bleiben.“
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Es hat sich hiermit herausgestellt, dass in Pannenbergs Theorierahmen Ontologie und Epistemologie in eine nicht auszugleichende Spannung geraten, obwohl Pannenberg sehr viel Mühe darauf verwendet, seine Epistemologie in seine Ontologie einzupassen. Die konsequent auf Aposteriorizität setzende Anlage seiner Epistemologie scheint passgenau auf der ontologischen Konzeption des Gegenstandsbereiches aufzuruhen, der als ein nicht komplett vorliegender sondern im Werden Begriffener konzipiert ist. Die als Ereignisse gefassten Erfahrungen können nur nach dem stattfinden, was vermittels ihrer in Erfahrung gebracht wird. Erfahrungen sind mithin Teil der Ereignisfolgen, die die in der Ontologie als Gegenstandsbereich ausgeflaggte Gesamtgeschichte konstituieren. Aber gerade die grundsätzlich aposteriorische Anlage der Epistemologie, sprich die epistemologische Aussage, das Ereignis der Erfahrung sei generell dem zeitlich nachgeordnet, was dort in Erfahrung gebracht wird, kann nicht durch bestimmte zeitgebundene Erfahrungen als eine auf den Gegenstandsbereich zutreffende epistemisch gerechtfertigt werden. Indem der Theorierahmen notwendigerweise in den ihn grundlegenden Aussagen eine generelle Aussage über den Gegenstandsbereich, also das Wirklichkeitsganze impliziert, lässt sich in ihm die Behauptung, Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit hätten stets nur einen antizipativen Charakter, nicht mehr aufrecht erhalten. In Pannenbergs Unternehmen, Religionstheorie und Theologie, also die Theorie, die Gott oder das Göttliche zum Gegenstand ihrer Aussagen macht, in einem einheitlichen Theorierahmen zusammenzuführen, gerät durch dessen Bauweise, die eine konsequent aposteriorisch gestaltete Epistemologie mit einer Ontologie kombiniert, die den Gegenstandsbereich als Geschichte konzipiert, die Epistemologie mit sich selbst in Konflikt. Die beiden epistemologischen Prinzipien, dass erstens dem Gegenstandsbereich Angehöriges vermittels Erfahrung in seinem wirklichen Sein zugänglich sei, und zweitens dass Erfahrung als zeitgebundenem Ereignis, nur das vom Gegenstandsbereich zugänglich sei, was vor ihrem Stattfinden zustande gekommen ist, können unter den Bedingungen der Epistemologie, die durch diese beiden Prinzipien konstituiert wird, epistemisch nicht gerechtfertigt werden. Will man an der wissenschaftstheoretischen Zielsetzung festhalten, den Streit um den Gegenstand der Theologie mittels des Aufbaus eines Theorierahmens zu überwinden, der Religionstheorie und Theologie zu einer Einheit zusammenfügt, dann muss man den Theorierahmen anders zuschneiden als es Pannenberg tut.
3.
Religionsphilosophie als Einheit von Religionstheorie und Theologie
Der im Folgenden zu skizzierende Theorierahmen, der auf dem von Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte gewiesenen Weg, Religionstheorie und Theologie in einem einheitlichen Rahmen auszuarbeiten, fortzuschreiten gedenkt, lässt
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sich durch Hegels System30 der Philosophie anregen, allerdings ohne sich dabei als dessen Interpretation zu verstehen. Die Konstruktion des Rahmens, in dem Religionstheorie und Theologie als ein einheitlicher Zusammenhang darzustellen sind, lässt sich von der Bauweise der Hegelschen Religionsphilosophie leiten. Die Ontologie und die Epistemologie, die für diesen Rahmen bestimmend sind, erhalten ihre Bestimmung aus dem übergeordneten Theorierahmen des Systems. Für den Einstieg in den durch Hegels System angeregten Aufbau eines alles umfassenden Theorierahmens und die entsprechende Einordnung des Theorierahmens, der Religionstheorie und Theologie in sich vereint, in den umfassenden sei ein nochmaliger Blick auf das nicht mehr aufzulösende Dilemma gewählt, in das Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte durch seine Verhältnisbestimmung von Ontologie und Epistemologie getrieben wird. Das Dilemma lässt sich auf die Verhältnisbestimmung von Gegenstandsbereich und dessen ontologischer Festlegung zuspitzen und zurückführen. Das fundamentum inconcussum seines Theorierahmens legt Pannenberg zweifelsohne mit der ontologischen Festlegung auf die Universalgeschichte als dessen Gegenstandbereich. In der Ontologie des Theorierahmens wird sie als Einheit beschrieben, durch die alles ihr Zugehörige als an einen Zeitraum Gebundenes begriffen wird. Da Zeiträume grundsätzlich so zu begreifen sind, dass stets der eine in einer linearen Ordnung31 vor bzw. nach dem anderen zu stehen kommt, muss die eine Geschichte an die eine lineare Ordnung der Zeiträume gebunden sein. Man kann nicht von Ereignissen sprechen, ohne ihnen die Eigenschaft zuzusprechen, in einem durch seine Stelle in der linearen Ordnung bestimmten Zeitraum stattgefunden zu haben. In der Ontologie des Theorierahmens erfolgt die Beschreibung des Gegenstandsbereichs also derart, dass ihm durch Begriffe wie ‚lineare Ordnung‘ ‚Zeitraum‘ oder ‚Ereignis‘ die Eigenschaften zugesprochen werden32 , ohne die er nicht als Universalgeschichte begreiflich wäre.
30 Als Darstellung des System wird hier, wie in der Hegel-Forschung gebräuchlich, die Enzyklopädie in der Fassung von 1830 herangezogen (G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: W. Bonsiepen, H.C. Lucas (Hg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Gesammelte Werke, Band 20, Hamburg 1992). 31 Vgl. W. Pannenberg, WuTh, S.63: „Jedenfalls aber dürften geschichtliche Prozesse im engeren Sinn der Grundform von kontingenten Ereignisfolgen genügen, […]. Eine kontingente Ereignisfolge wird konstituiert durch die zeitliche Abfolge je individueller Ereignisse.“ 32 Pannenberg selbst hat die seinem Theorierahmen implizit unterlegte Ontologie nicht explizit ausgearbeitet. Der Verf. hat andernorts (Vgl. M. Zelger, Theologie als Universaltheorie. Zur Funktion der als Geschichte konzipierten Offenbarung für den Aufbau der Theorie, in: G. Wenz (Hg.), Offenbarung und Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Pannenberg-Studien, Band 4, Göttingen 2018, S. 135–153) den Versuch unternommen, diese zu explizieren.
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Pannenberg sieht sich nun gezwungen, um den Gegenstandsbereich als eine Einheit auffassen zu können, dessen Festlegung durch Angabe seiner ihn ausmachenden Eigenschaften, in diesen zu integrieren. Soll die eine Geschichte die Wirklichkeit im Ganzen sein, dann darf die ontologische Festlegung nicht außerhalb des durch sie Festgelegten verortet sein. Deshalb muss die Festlegung des Gegenstandsbereichs durch die ihn wesentlich ausmachenden Eigenschaften, als ein in einem bestimmten Zeitraum stattfindendes Ereignis bestimmt werden. Dass das Wirklichkeitsganze als Geschichte mit den entsprechenden wesentlichen Eigenschaften zu bestimmen ist, stand ja nicht zu allen Zeiten fest. Als in der Zeit stattfindende teilt die ontologische Festlegung des Gegenstandsbereichs auf die eine Universalgeschichte das Schicksal aller Weisen, das Wirklichkeitsganze zu begreifen: Sie ist nur kontingent und der Gegenstandsbereich könnte ganz anders bestimmt sein. Damit wäre das fundamentum inconcussum des Theorierahmens aber vollkommen zerstört. Will man an der ontologischen Festlegung des Gegenstandsbereichs auf die Universalgeschichte als dem fundamentum inconcusssum festhalten, dann muss sie der Zeit entzogen werden. Damit ist aber wiederum die ontologische Festlegung außerhalb der Universalgeschichte verortet. Als Alternative zu dem Theorierahmen Pannenbergs, der letztendlich seine eigenen Fundamente untergräbt, ist die Orientierung an Hegels Systemkonzeption bereits deshalb von Interesse, weil sie das Verhältnis von Gegenstandsbereich und dessen Festlegung durch Begriffe radikal invertiert. In Pannenbergs streng aposteriorisch gebauten Theorierahmen ist die Bestimmung des Gegenstandsbereichs durch Begriffe diesem als bereits so bestimmt Vorausgesetzten stets zeitlich nachzuordnen. Konsequenterweise geht Pannenberg im Aufbau seines Theorierahmens dann auch so vor, dass er als erstes die ontologische Aufgabe erledigt, den Gegenstandsbereich festzulegen, indem er bestimmt, was ihn ausmacht, um dann die epistemologische anzugehen, auszuweisen, wie der so festgelegte Gegenstandsbereich erfasst werden kann. Genau diese Vorgehensweise führt ihn in das benannte Dilemma In der zu entwickelnden Alternative beginnt der Aufbau des Theorierahmens deshalb mit einer strikt apriorisch aufgebauten Theorie des Begriffs33 , die den umfassenden Theorierahmen abgibt, in den sich auch der Theorierahmen einfügt, der Religionstheorie und Theologie vereinigt. Leider lässt es nicht vermeiden, der Leserschaft einen äußerst gerafften Durchgang durch den umfassenden Theorierahmen zuzumuten, weil nur so begreiflich gemacht werden kann, was für diesen die Einheit von Religionstheorie und Theologie genau ausmacht. Einziger Gegenstand der Theorie des Begriffs ist der Begriff als solcher. Strikt apriorisch ist diese
33 In Hegels System entspricht dem die Wissenschaft der Logik (§§ 19–244 der Enzyklopädie [wie Anm. 30]).
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Theorie gebaut, weil sie sich keine Begriffe vorgeben lässt, mittels derer dann erst begriffen werden kann, was der Begriff als solcher ist. Sollen nämlich die Begriffe, deren Aufgabe es ist, zu bestimmen, was der Begriff im Allgemeinen ist, als Begriffe begriffen werden, dann wäre hierfür bereits begriffen, was den Begriff im Allgemeinen auszeichnet, bevor die Theorie ausgebildet ist, die dies erst zu leisten hat. Ein Vorgehen, das den Begriff als Gegenstand in seinen Grundbestimmungen festlegt, um daraufhin zu klären, wie er durch Begriffe in dieser seiner Bestimmtheit zu begreifen ist, ist hiermit von vornherein ausgeschlossen. Ihren Ausgang nimmt die unter dem Gebot strikter Apriorizität stehende Theorie des Begriffs deshalb zwangsläufig beim Ausschluss aller Begriffe, bei demjenigen, das durch keinen Begriff begreifbar ist. Mit diesem Beginnen handelt man sich aber sofort das Folgeproblem ein, wie es zu verhindern sei, dass mit dem Ausschluss aller Begriffe nicht doch ein Begriff verwendet wird. Zu sagen, die Theorie des Begriffs verfüge zu Beginn über keinerlei Begriff und müsse deshalb begriffslos beginnen, verfügt zumindest über die begriffliche Bestimmung der Begriffslosigkeit. ‚Begriffslosigkeit‘ bzw. ‚Ausschluss aller Begriffe‘ sind nämlich selbst begriffliche Bestimmungen. Die Lösung dieses Problems, nämlich den Ausschluss von allem Begriff als begriffliche Bestimmung selbst noch ausschließen zu müssen, d. h. den Ausschluss von allem Begriff zu begreifen, ohne ihn als Ausschluss von allem Begriff begrifflich zu bestimmen, gelingt nur, wenn dasjenige, welches allen Begriff, durch den bestimmt sein könnte, was es ist, von sich ausschließt, einfach nur ist, und somit nicht das ist, das durch eine begriffliche Bestimmung, auch nicht durch die, Ausschluss allen Begriffs zu sein, bestimmt ist. Im einfachen Sein fällt sein Was-Sein unmittelbar mit ihm zusammen. Einfaches Sein ist nur und nicht noch irgendwas. Es ist einfach, indem es einfach ist. Das einfache Sein ist seiende Einfachheit, einfache Bestimmtheit, die nichts ist, außer zu sein. Mit der Lösung des durch die geforderte strenge Apriorizität gestellten Anfangsproblems, mittels des einfachen Seins stellt sich aber das Folgeproblem, dass die Einfachheit des Seins auch ihre Negation einschließt, da sie gerade darin besteht, einfach nur zu sein, und nicht auch noch irgendwas zu sein. Mit dem Einschluss des Ausschlusses irgendeines Was-Sein negiert die einfache Bestimmtheit aber ihre Einfachheit, weil sie auch noch neben dem einfachen Sein dieser Ausschluss ist. Das aus der Lösung des Ausgangsproblems resultierende Folgeproblem besteht kurzgesagt darin, dass es die Einfachheit des Seins konstitutiv ausmacht, das einzuschließen, was es als Einfaches ausschließen muss. Die Theorie des Begriffs nimmt daraufhin derart ihren Fortgang, dass die Lösungen eines Folgeproblems jeweils ein erneut zu lösendes Folgeproblem aufwerfen. Der hierdurch generierte Prozess teilt sich in drei Phasen
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ein34 : Die erste Phase lässt sich generell, und somit von dem je besonderen Problem abstrahierend, so kennzeichnen, dass das sich im Prozess stellende Problem jeweils darin besteht, dass einfache Bestimmtheit, d. h. Bestimmtheit, die unmittelbar ist, was sie ist, das, was sie ist, nur sein kann, indem sie das einschließt, was sie um ihrer Einfachheit willen ausschließen muss. Was einfache Bestimmtheit jeweils ausmacht, schließt ein, was sie ausschließen muss, um einfache Bestimmtheit sein zu können. Eine Lösung des Problems gelingt zwar jeweils, indem die zum Problem gewordene Bestimmtheit sich soweit vereinfachen lässt, dass sie einfach das ist, was sie ist, ohne dafür das sein zu müssen, was die zum Problem gewordene Bestimmtheit sein muss. Solange die Lösungen des Problems, Bestimmtheit als einfache zu bestimmen, dies nur so können, dass das, was sie einfach ist, impliziert, was ihrer Einfachheit entgegensteht, verbleibt die Theorie des Begriffs in ihrer ersten Phase. Die erste Phase terminiert35 erst dort, wo die einfache Bestimmtheit einfach nur das ist, was sie ist und nichts weiter. Dabei kann dies aber nicht so begriffen werden, dass am Ende der ersten Phase nur eine Bestimmtheit als die einfache zurückbleibt und somit nichts, was sie nicht ist, in sich einschließt. Die einfache Bestimmtheit wäre damit nicht einfach das, was sie ist, sondern zudem der negative Bezug auf Bestimmtheit, die sie nicht ist. Damit wäre aber die erste Phase offensichtlich nicht an ihr Ende gekommen. Um die erste Phase beenden zu können, muss die einfache Bestimmtheit die Bestimmtheit überhaupt36 sein. Bestimmtheit ist einzig die einfache Bestimmtheit selbst. Als Bestimmtheit überhaupt ist die einfache Bestimmtheit die Negation des negativen Bezuges auf Bestimmtheit, die anders als sie selbst ist. Somit ist nichts anderes als sie selbst Bestimmtheit, oder anders ausgedrückt, was anders ist als sie ist überhaupt keine Bestimmtheit, also Nichts. Indem aber somit Bestimmtheit überhaupt als die Bestimmtheit bestimmt ist, die nicht negativ auf Bestimmtheit bezogen ist, die anders ist als sie selbst, ist sie negativ auf Bestimmtheit bezogen, nämlich auf Bestimmtheit, die anderes ist als sie selbst, nämlich Bestimmtheit ist, die negativ auf Bestimmtheit bezogen ist. Die erste Phase des Prozesses, als der sich die apriorische Bestimmung des Begriffs als
34 Den im Folgenden äußerst knapp skizzierten drei Phasen entsprechen in Hegels Wissenschaft der Logik die Lehre vom Seyn (Enzyklopädie (wie Anm. 30), §§ 84–111), die Lehre vom Wesen (Enzyklopädie (wie Anm. 30), §§ 112–159) und die Lehre vom Begriff (Enzyklopädie (wie Anm. 30), §§ 160–244). 35 Die Bestimmung des Endes der ersten Phase ist hier lediglich aus ihrer abstrakten Beschreibung gewonnen. Dass die vollständig durchlaufene erste Phase überhaupt und dann so enden muss, kann hier nur auf guten Glauben hin versichert werden. Für den Abschluss der zweiten und dritten Phase gilt Analoges. 36 Der Terminus ‚Bestimmtheit überhaupt‘ steht hier für den Terminus ‚Begriff als solcher‘, da das, was mit letzterem gemeint ist, erst am Ende des Prozesses mit der endgültigen Lösung des mit seiner apriorischen Bestimmung gestellten Anfangsproblems zum Ausdruck gebracht werden kann.
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solchen darstellt, terminiert demnach darin, dass die einfache Bestimmtheit, die Bestimmtheit überhaupt ist, und ihre Negation ein und dasselbe sind. In diesem Resultat der ersten Phase nimmt die zweite Phase ihren Ausgang. Dass Bestimmtheit37 und ihre Negation dasselbe sind, besagt nichts anderes, als dass Bestimmtheit Negation ihrer selbst ist. Bestimmtheit geht vollständig darin auf Negation ihrer selbst zu sein. Als Negation ihrer selbst ist Bestimmtheit überhaupt keine Bestimmtheit, sondern Nichts. Sie geht also vollständig darin auf, Nichts zu sein. Als sich negierende, also als Nichts stellt sich Bestimmtheit sich selbst, nämlich Bestimmtheit entgegen, da Nichts Bestimmtheit vollständig ausschließt. Weil es aber Bestimmtheit ist, die als mit ihrer Negation identische vollständig darin aufgeht, Nichts zu sein, muss das, was sie sich entgegensetzt Nichts sein. Die sich negierende Bestimmtheit, sprich Nichts, negiert in ihrem Sich-Negieren folglich sich, als den Gegensatz ihrer selbst. Indem Bestimmtheit sich negiert, sich sich entgegensetzt, negiert sie sich zugleich als das sich Entgegengesetzte. Darin ist sie als einfache Bestimmtheit bestimmt (Sie ist nichts anderes als Nichts.), die Bestimmtheit überhaupt ist (Nichts ist anders als sie.). In der Negation ihrer selbst, ist Bestimmtheit durch sich selbst bestimmt. Das mit dem Anfang der zweiten Phase gestellte Problem, das auch deren Fortgang bestimmt, besteht nun darin, dass Bestimmtheit in der Negation ihrer selbst nur die einfache, einzig durch sich selbst bestimmte sein kann, weil sie in der Negation des sich Entgegengesetzten voraussetzt, dass Bestimmtheit und Nichts einen Gegensatz bilden. Einzig unter dieser Voraussetzung bedeutet die Negation der Bestimmtheit durch sich selbst, vollständig darin aufzugehen, Nichts zu sein. Bestimmtheit, die nichts anderes als Nichts ist, bedarf des Gegensatzes von Bestimmtheit und Nichts, um das sich einzig als Nichts bestimmende Nichts sein zu können. Ist Nichts aber nur unter der Voraussetzung einzig durch sich selbst bestimmt, dass Nichts das Gegenteil von Bestimmtheit ist, dann ist es eben nicht nur durch sich selbst bestimmt, sondern durch den Gegensatz zur Bestimmtheit. Den Fortgang, den die zweite Phase des Prozesses nimmt, ist – auch hier sei von den je besonderen Problemlagen abstrahiert – dadurch zu kennzeichnen, dass sich für das Problem, Bestimmtheit nur als einzig durch sich bestimmte bestimmen zu können, indem sie jeweils als durch ihr Gegenteil bestimmte vorausgesetzt ist, eine Lösung findet, die darin besteht, dass Bestimmtheit sich so fassen lässt, dass sie einzig durch sich selbst als die durch ihr Gegenteil bestimmte bestimmt ist. Solange aber Bestimmtheit die einzig durch sich selbst bestimmte nur sein kann, wenn sie hierfür auch als die durch das Bestimmte vorauszusetzen ist, das nicht das ist, was sie einfach durch sich ist, findet die zweite Phase ihre Fortsetzung.
37 Im Folgenden sei zur Vereinfachung der Ausdrucksweise der Terminus ‚die einfache Bestimmtheit, die Bestimmtheit überhaupt ist‘ durch den Terminus ‚Bestimmtheit‘ ersetzt.
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Ihren Abschluss findet die zweite Phase entsprechend der abstrakten Beschreibung der Bedingungen ihrer Fortsetzbarkeit dann, wenn dafür, dass Bestimmtheit die einzig durch sich selbst bestimmte ist, nicht mehr etwas vorauszusetzen ist, das nicht das ist, als was sie sich durch sich selbst bestimmt. Für den Nachweis, Bestimmtheit ließe sich so fassen, dass die zweite Phase darin ihren Abschluss findet, seien, um die Ausdrucksweise erneut zu vereinfachen, einige terminologische Abkürzungen hinzugefügt: ‚Bestimmtheit2 ‘ steht für ‚Bestimmtheit, die einzig durch sich selbst als das bestimmt ist, was sie ist‘. ‚[Bestimmtheit2 ]‘ steht für ‚die Bestimmung, Bestimmtheit zu sein, die einzig durch sich als das bestimmt ist, was sie ist‘. Nun gilt: (1) Bestimmtheit2 muss durch sich selbst das einzig durch [Bestimmtheit2 ] Bestimmte sein. Bestimmtheit, die einzig durch sich selbst als das bestimmt ist, was sie ist, kann nämlich offensichtlich nicht nicht durch die Bestimmung, Bestimmtheit zu sein, die einzig durch sich selbst als das bestimmt ist, was sie ist, bestimmt sein. D. h. auch, Bestimmtheit2 wäre nicht, das was sie ist, gälte nicht (1). Unter der Voraussetzung, dass Bestimmtheit2 als die durch [Bestimmtheit2 ] bestimmte nicht [Bestimmtheit2 ] ist, durch die sie bestimmt ist38 , d. h. (Vs) Bestimmtheit2 ≠ [Bestimmtheit2 ], folgt aus (1) (2) Bestimmtheit2 muss durch sich selbst die, durch das, was sie nicht selbst ist, Bestimmte sein, um durch dieses als das bestimmt sein zu können, was sie ist Aus (2) lässt sich entnehmen: (2‘) Bestimmtheit2 muss sich [Bestimmtheit2 ] entgegensetzen, um durch diese als das bestimmt sein zu können, was sie ist (2‘) ergibt sich daraus, dass Bestimmtheit2 durch sich selbst das durch [Bestimmtheit2 ] Bestimmte sein muss. Nun ergibt sich aus der Auflösung der vereinfachten Ausdrucksweise, dass Bestimmtheit2 die Bestimmtheit ist, die einzig durch sich selbst als das bestimmt ist, was sie ist, unmittelbar: (3) Bestimmtheit2 ist durch nichts bestimmt, was sie nicht selbst ist, was wiederum (3‘) impliziert. (3‘) Bestimmtheit2 kann sich nichts entgegensetzen, um sich durch dieses zu bestimmen. 38 Dass sich im Prozedere der zweiten Phase Bestimmtheit als einzig durch sich bestimmte sich in den Gegensatz von Bestimmtheit2 und [Bestimmtheit2 ] aufspannt, kann hier, wie bereits gesagt (vgl. Anm. 35) einfach nur unterstellt werden. Allerdings lässt die Konstellation am Anfang der zweiten Phase diese Entwicklung in nuce bereits erkennen. Momentan sind Bestimmtheit, die
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Aus (2) und (3) folgt nunmehr: (4) Wenn Bestimmtheit2 die durch das, was sie nicht selbst ist, Bestimmte ist, dann kann sie nicht Bestimmtheit2 sein. Entsprechendes gilt für (2‘) und (3‘): (4‘) Wenn Bestimmtheit2 sich [Bestimmtheit2 ] entgegensetzt, um durch diese als das bestimmt sein zu können, was sie ist, dann ist sie nicht durch [Bestimmtheit2 ] bestimmt. Dass Bestimmtheit2 durch [Bestimmtheit2 ] bestimmt ist, besagt aber nach (1) nichts anderes, als dass sie einzig durch sich selbst bestimmt ist. Da (4) und (4‘) nur unter der Voraussetzung von (VS) gelten, kann abschließend gefolgert werden: (5) Nur wenn Bestimmtheit2 mit [Bestimmtheit2 ] identisch ist, dann ist Bestimmtheit2 auch das durch [Bestimmtheit2 ] Bestimmte. Das das Prozedere der zweiten Phase antreibende Problem, wie Bestimmtheit begriffen werden kann, die einzig durch sich selbst als das bestimmt ist, was sie ist (Bestimmheit2 ), ohne hierfür zusätzlich Bestimmung ([Bestimmtheit2 ]) in Anspruch zu nehmen, kann durch die Identifizierung von Bestimmtheit2 mit [Bestimmtheit2 ] also gelöst werden. Allerdings ist das Problem damit auch nicht gelöst, weil überhaupt nicht klar ist, wie Bestimmtheit2 und [Bestimmtheit2 ] ein und dasselbe sein können. Der Lösung des zuletzt genannten Problems kommt man näher, wenn man in den Blick nimmt, dass die Identität von Bestimmtheit2 und [Bestimmtheit2 ] den Abschluss der zweiten Phase bildet. Begreift man das Grundproblem der zweiten Phase derart, dass Bestimmtheit stets Bestimmung entgegengesetzt sein muss, damit sie durch diese als das zu bestimmen ist, was sie ist, nämlich einzig durch sich bestimmt zu sein, dann ließe sich der Abschluss so begreifen, dass Bestimmtheit mit Bestimmung identisch sein muss, damit sie durch diese als die einzig durch sich bestimmte bestimmt werden kann. Bestimmtheit2 , also Bestimmtheit, die einzig durch sich selbst als das bestimmt ist, was sie ist, nämlich durch sich bestimmte Bestimmtheit zu sein, muss dann mit der Bestimmung, Bestimmung zu sein, identisch sein, denn die Bestimmung, Bestimmung zu sein, ist einzig durch die Bestimmung, Bestimmung zu sein als das bestimmt, was sie ist: die Bestimmung von Bestimmung. Im Folgenden sei der Terminus ‚Bestimmung, Bestimmung zu sein‘ durch den hier dasselbe bedeutenden Terminus ‚Begriff ‚Begriff ‘‘ ersetzt. Auch der Begriff
als Negation ihrer selbst einfach nur Nichts ist, und Nichts als die Bestimmung durch die sie sich bestimmt, einander entgegengesetzt.
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‚Begriff ‘ ist einzig durch den Begriff ‚Begriff ‘ als das begriffen, was er ist: nämlich Begriff vom Begriff. Diese Substitution geschieht deshalb, weil es mit dem Abschluss der zweiten Phase gelingt, der Forderung nach einer strikt apriorischen Bestimmung des Begriffs als solchen nachzukommen. Der Begriff ‚Begriff ‘ setzt für seine Bestimmung nichts voraus, was er nicht selbst ist. Im umfassenden Theorierahmen, der Theorie des Begriffs, sind der Begriff ‚Begriff ‘, der in deren Ontologie dazu dient, zu begreifen, worin der Gegenstandsbereich besteht, und der Gegenstandsbereich, der durch ihn festgelegt wird, folglich ein und dasselbe. Die Theorie des Begriffes, die darin besteht, durch den Begriff ‚Begriff ‘ den Begriff ‚Begriff ‘ zu begreifen, ist zugleich ihr eigener Gegenstandbereich, der sich durch sich bestimmende, d. h. begreifende Begriff ‚Begriff ‘. Die Aufgabe der Epistemologie, die ontologische Bestimmung des Gegenstandsbereichs epistemisch zu rechtfertigen, kann hier folglich in der Ontologie miterledigt werden. In der Theorie des Begriffes, ist der Gegenstandsbereich a priori nur das, als was er begriffen wird. Eine zusätzliche epistemische Rechtfertigung des von seiner begrifflichen Bestimmung getrennten Gegenstandbereichs ist somit unnötig. Wenn der sich durch sich begreifende Begriff, der keines anderen, also ihm entgegengesetzten Begriffs bedarf, um durch diesen als das begriffen zu werden, was er ist, die Forderung nach strikt apriorischer Bestimmung erfüllt, weshalb findet die Theorie des Begriffs im Resultat ihrer zweiten Phase nicht ihren Abschluss, benötigt also eine dritte Phase? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich daraus, dass die mit ihrer Bestimmung identische Bestimmtheit, die der Begriff ‚Begriff ‘ ist, auch das durch den Abschluss der zweiten Phase erzielte Resultat ist. Dass Bestimmtheit2 mit ihrer Bestimmung, [Bestimmtheit2 ] identisch sein muss, resultiert ja daraus, dass [Bestimmtheit2 ], mittels derer sich Bestimmtheit2 bestimmt, unter der Voraussetzung, sie sei nicht mit Bestimmtheit2 identisch, nicht Bestimmung von Bestimmtheit2 sein kann. Weil die Bestimmtheit, die durch die Bestimmung bestimmt ist, die mit ihr identisch ist, als Negation der Bestimmtheit, die durch die Bestimmung bestimmt ist, die nicht mit ihr identisch ist, in dem, von dem sie Negation ist, Bestimmtheit voraussetzt, die aus dem ausgeschlossen ist, was allein als Bestimmtheit gilt, nämlich die mit ihrer Bestimmung identische Bestimmtheit zu sein, scheint der Abschluss der zweiten Phase in Wahrheit ihre Fortsetzung zu sein. Soll dies verhindert werden, muss der Begriff ‚Begriff ‘ als die Bestimmung, die mit dem durch sie Bestimmten identisch ist, zugleich auch von dem durch sie bestimmten Begriff ‚Begriff ‘ verschieden sein können. Er wäre damit als Bestimmung mit dem durch ihn Bestimmten identisch und zugleich von ihm unterschieden und müsste damit den Unterschied von Bestimmung und dem durch sie Bestimmten nicht mehr voraussetzen, um deren Identität aus der Negation des Unterschieds resultieren zu lassen. Das Problem, den Begriff ‚Begriff ‘ als mit dem durch ihn Bestimmten identisch seienden und zugleich von diesem unterschieden seienden begreifen zu können,
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stellt das Ausgangsproblem der dritten Phase im Aufbau der Theorie des Begriffs dar. Die Lösung bahnt sich an, wenn man sein Augenmerk darauf richtet, dass das Resultat der zweiten Phase nicht die tautologische Aussage ist, der Begriff ‚Begriff ‘ sei mit sich identisch‘, sondern die, der Begriff ‚Begriff ‘ sei als Bestimmung mit dem durch ihn Bestimmten identisch. Wenn die Selbstbestimmung des Begriffs ‚Begriff ‘ nicht mit dessen tautologischer Selbstidentität verwechselt werden soll, dann muss der Begriff ‚Begriff ‘ sich in irgendeiner Weise als bestimmender von sich als dem bestimmtem unterscheiden. Als bestimmender nun ist der Begriff ‚Begriff ‘ tatsächlich nur darauf festgelegt, dass das mittels seiner Bestimmte als Begriff bestimmt ist. Darin ist zwangsläufig enthalten, dass er nicht darauf festgelegt ist, das durch ihn als Begriff Bestimmte sei nur der Begriff ‚Begriff ‘, also er selbst. Es ist demnach der Begriff ‚Begriff ‘ selbst, der sich als bestimmender von sich selbst als bestimmten unterscheidet, indem er als der Begriff ‚Begriff ‘ auch das als Begriff bestimmt, was er als der durch sich bestimmte nicht ist. Das Ausgangsproblem der dritten Phase den Begriff ‚Begriff ‘ so zu fassen, dass er, als der mit seiner Bestimmung identische zugleich auch der von dieser unterschiedene ist, ist somit gelöst. Wenn auch der Begriff als solcher nicht mehr entsprechend der zweiten Phase so begriffen wird, dass er als Bestimmtheit Bestimmung sich entgegensetzt um sich mittels ihrer als das zu bestimmen, was er ist, sondern so, dass er als mit seiner Bestimmung identischer zugleich auch Bestimmung für das ist, was er selbst nicht ist, stellt sich in der Lösung des Ausgangsproblems der dritten Phase dennoch das Folgeproblem, dass der Begriff ‚Begriff ‘ zwar einzig durch sich selbst bestimmt ist, aber um als Bestimmung sich als das bestimmen zu können, was er ist, von sich als dem, dessen einzige Bestimmung er ist, verschieden sein muss. Der Begriff ‚Begriff ‘ ist zwar einzig durch sich als das bestimmt, was er ist, aber nicht das Einzige, was er durch sich als Bestimmung bestimmt. Demnach gilt die Identität von Bestimmung und dem, was durch die Bestimmung bestimmt nur im besonderen Fall des Begriffs ‚Begriff ‘, aber nicht für den im Begriff ‚Begriff ‘ als Bestimmung eingeschlossenen Fall des als Begriff Bestimmtem, das nicht der Begriff ‚Begriff ‘ ist. Ihren Abschluss findet die dritte Phase der Theorie des Begriffs und darin insgesamt auch diese selbst erst, wenn die benannte Asymmetrie in der Selbstbestimmung des Begriffs ‚Begriff ‘ beseitigt ist und er sich durch sich selbst so begreift, dass er selbst das Einzige ist, dass durch ihn begriffen wird, d. h., dass das, was Begriff ist, nur er selbst ist. Das bedeutet zugleich, dass der Begriff ‚Begriff ‘ sich durch sich selbst so begreift, dass er das, was er nicht ist, generell als durch den Begriff nicht begreifbar begreift. Begriff ist nur der Begriff ‚Begriff ‘ und was nicht der Begriff ‚Begriff ‘ ist, ist überhaupt kein Begriff. Tertium non datur. Damit ist aber im Abschluss der Theorie des Begriffs durch den, sich einzig durch sich selbst als den einzigen Begriff begreifenden Begriff ‚Begriff ‘ zugleich auch der Anfang der Theorie begriffen. Dieser besagt ja nichts anderes, als dass
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der Ausschluss allen Begriffs generell durch Begriff nicht begreifbar ist. Damit werden dann auch die in den Phasen der Theorieentwicklung sich ergebenden Bestimmtheitsweisen, durch die sich der Begriff als solcher a priori als solcher nicht bestimmen lässt, durch den Begriff ‚Begriff ‘ a priori als das begriffen, was durch den Begriff ‚Begriff ‘ nicht begreifbar ist, mithin kein Begriff ist. Um Aussagen darüber treffen zu können, was das ist, das in der Theorie des Begriffs a priori nur allgemein als das durch Begriff nicht Begreifbare begriffen wird, und wie das, was es ist, a priori durch Bestimmtheitsweisen bestimmt sein kann, die keine Begriffe sind, muss der Gegenstandsbereich des Theorierahmens so festgelegt werden, dass er mehr umfasst als den Begriff ‚Begriff ‘. In Hegels System geschieht dies in dessen zweitem und drittem Teil, der Naturphilosophie39 und der Philosophie des Geistes40 , die zusammengenommen als Realphilosophie von der Wissenschaft der Logik, d. h. der Theorie des Begriffs unterschieden werden. Der hier zu skizzierende Theorierahme weicht in der Weise, wie er den erweiterten Gegenstandsbereich festlegt, von der ab, die Hegel in seiner Realphilosophie verfolgt. Soll die Theorie des Begriffs als umfassender Theorierahmen ernst genommen werden, dann muss der erweiterte Gegenstandsbereich in der Weise festgelegt werden, dass er sich als genau durch die Bestimmtheitsweisen bestimmt erweist, die innerhalb der Theorie des Begriffs als die begriffen werden, durch die der einzig durch sich als einziger Begriff begriffene Begriff nicht begriffen werden kann, und die genau aus diesem Grund keine Begriffe sind. Den erweiterten Gegenstandsbereich festzulegen, heißt innerhalb des hier ins Auge gefassten Theorierahmens, von dem, das über den Begriff des Begriffs hinaus zum Gegenstandsbereich gezählt wird, zu zeigen, dass es sich als durch die Bestimmtheitsweisen bestimmt erweist, die die Theorie des Begriffs als die ausweist, mittels derer der Begriff als solcher nicht zu begreifen ist. Indem die ontologische Festlegung des erweiterten Gegenstandsbereich so geschieht, dass sie von dem, das dem Gegenstandsbereich über den Begriff hinaus neu zugerechnet wird, zeigt, es erweise sich als durch die in der Theorie des Begriffs a priori generierten Bestimmtheitsweisen Bestimmtes, beinhaltet sie zugleich ihre epistemische Rechtfertigung, also die Epistemologie des Theorierahmens. Um begreiflich machen zu können, wie der Theorierahmen, der Religionstheorie und Theologie vereint, in den bis hierhin skizzierten umfassenden Theorierahmen eingebunden ist, müssen einige äußerst knappe Bemerkungen zur Erweiterung des Gegenstandsbereichs vorangestellt werden. Um was der Gegenstandsbereich über den Begriff ‚Begriff ‘ hinaus erweitert wird, kann zunächst einmal einfach nur genannt werden, da es sich aus dem Begriff41 heraus nicht begreifen lässt Es 39 G.W.F. Hegel, Enzyklopädie (wie Anm. 30), §§ 245–376. 40 A.a.O., §§ 377–577. 41 Da es im Folgenden um den Begriff ‚Begriff ‘ als einen der Gegenstände des erweiterten Gegenstandsbereichs geht, sei zur Vereinfachung der Ausdrucksweise nur noch vom Begriff die Rede.
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handelt sich um den Raum, die Zeit und die Religion42 . Erst mittels der in den umfassenden Theorierahmen eingefügten Theorierahmen43 des Raums, der Zeit und der Religion kann bestimmt werden, auf welche Weise das über den sich selbst begreifenden Begriff Hinausgehende bestimmt ist. Bereits die ontologische Festlegung, den Gegenstandsbereich um ein Dreifaches zu erweitern44 , lässt sich aus dem umfassenden Rahmen, der Theorie des Begriffs, begreifen. In dieser dreifachen Erweiterung spiegeln sich in der Reihenfolge ihrer Nennung die drei Phasen, in der die apriorische Bestimmung des Begriffs als solchen in der Theorie des Begriffes verläuft. Die Weise, in der der Raum bestimmt ist, entspricht den Bestimmtheitsweisen der ersten Phase45 , die, in der die Zeit bestimmt ist, denen der zweiten Phase46 , und die, in der die Religion bestimmt ist, denen der dritten Phase.
42 Zur Bezeichnung ‚Religion‘ für den dritten Gegenstand, um den der Gegenstandsbereich zu erweitern ist, siehe Anm. 43. 43 In Hegels System entsprechen der Theorie des Raumes die Naturphilosophie, der Theorie der Zeit die 1. Abteilung, der subjektive Geist (Enzyklopädie (wie Anm. 30), §§ 377–482) und die 2. Abteilung, der objektive Geist (Enzyklopädie (wie Anm. 30), §§ 483–552) in der Philosophie des Geistes und schlussendlich der Theorie der Religion die 3. Abteilung in der Philosophie des Geistes, der absolute Geist (Enzyklopädie (wie Anm. 30). §§ 483–577). Zur Begründung dieser Zuordnung kann an dieser Stelle nicht mehr gesagt werden, als die These zu wiederholen, dass die hier vertretene Einteilung des erweiterten Gegenstandsbereiches (der Realphilosophie) der Theorie des Begriff (der Wissenschaft der Logik) in höherem Maße gerecht wird. Die Zuordnung von Theorie der Religion und dem von Hegel unter dem Titel „Der absolute Geist“ Behandelten kann sich auf Hegel selbst berufen (siehe Enzyklopädie (wie Anm. 30), § 554). 44 Es handelt sich bei der Erweiterung des Gegenstandbereiches tatsächlich nur um drei ‚Gegenstände‘. Was in den diesen gewidmeten Theorierahmen an Unterschiedlichem behandelt wird, weisen diese als Bestimmtheitsweisen der entsprechenden Gegenstände aus. 45 Zu der Frage, inwieweit in dem Theorierahmen, dessen Gegenstand auf den Raum festgelegt ist, die Weisen, in der dieser bestimmt wird, den, in der ersten Phase der Theorie des Begriffs auftretenden Bestimmtheitsweisen entsprechen, seien nur wenige kurze, der Plausibilisierung dienenden Bemerkungen gemacht: Die grundlegende Bestimmtheitsweise des Raums ist es, einfach zu sein, d. h, weiterer Raum ist ausgeschlossen. Würde man es bei dieser Weise belassen, den Raum in seiner Einfachheit zu bestimmen, dann hätte man sich außerhalb des Rahmens begeben, der durch die Theorie des Begriffs festlegt ist. Zu sagen, weiterer Raum ist ausgeschlossen, impliziert den Ausschluss der Möglichkeit, es sei noch etwas durch die Bestimmung, Raum zu sein, bestimmt. Hiermit wäre die Weise, in der die Einfachheit des Raumes bestimmt ist, aber begrifflicher Art. Indem die Einfachheit des Raumes so bestimmt wird, dass sie sich im Raum dadurch zeigt, dass er im Punkt den Ausschluss allen Raums einschließt, erweist sich das Verhältnis der Bestimmtheitsweise zum durch sie Bestimmten als ein räumliches. Die Entsprechung zur Bestimmtheitsweise des Begriffs als solchen im Ausgang der Theorie des Begriffs liegt auf der Hand. Auf den Nachweis, inwieweit Naturphänomene als Bestimmtheitsweisen des Raumes aufzufassen sind, muss hier verzichtet werden 46 Auch zum Entsprechungsverhältnis der sich in den Problemlösungen der zweiten Phase darbietenden Bestimmtheitsweisen zu denen, die in dem der Zeit gewidmeten Theorierahmen als die diese bestimmenden ausgewiesen werden, seien nur wenige Bemerkungen gemacht. Die grundlegende Bestimmtheitsweise der Zeit ist ihre Flüchtigkeit, d. h., sie ist Gegenwart, die nur ist, was sie ist,
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Wie in dem hier vertretenen umfassenden Theorierahmen Religionstheorie und Theologie vereint werden können, ergibt sich aus der grundlegenden Bestimmtheitsweise der Religion als der dem Begriff entsprechenden. Nun kann gerade aufgrund der durch die Theorie des Begriffs strukturierten Erweiterung des Gegenstandsbereichs Religion nicht umstandslos mit dem Begriff identifiziert werden. In dem erweiterten Theorierahmen stellt sich der Begriff als der einzig durch den Begriff bestimmte Gegenstand neben Raum und Zeit, die durch Bestimmtheitsweisen bestimmt sind, die durch den Begriff als nicht Begriff seiende bestimmt sind. Dem Begriff entsprechend wäre innerhalb des erweiterten Gegenstandsbereichs nur ein Gegenstand, der durch sich selbst so bestimmt ist, dass die Bestimmtheitsweise durch die er sich bestimmt auch die des Verhältnisses von Begriff, Raum und Zeit wäre, die durch sich selbst nicht in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt sind. Dass es sich bei diesem, den Bestimmtheitsweisen des Begriffs als solchen, die sich der dritten Phase seiner apriorischen Bestimmung verdanken, entsprechend bestimmten Gegenstand um Religion handelt, lässt sich verdeutlichen, wenn man den Begriff mit dem Göttlichen, dem Transzendentem, und Raum und Zeit mit der Welt, dem Diesseits gleichsetzt. Raum und Zeit stehen als die eine Seite dem Begriff als der anderen deshalb gegenüber, weil die beiden den Bestimmtheitsweisen entsprechen, die durch den Begriff als die ihn nicht begreifenden begriffen werden. Wie lässt sich aber das Verhältnis von Transzendentem und Diesseits bestimmen, das ja die grundlegende Bestimmtheitsweise von Religion sein soll, wenn Verhältnisweisen nur als je begriffliche, räumliche oder zeitliche möglich sind? Möglich ist dies nur, indem Religion in dreifacher Weise grundlegend bestimmt ist. Das Verhältnis von Transzendentem und Diesseits und innerhalb dessen das von Raum und Zeit, können grundlegend durch räumliche, zeitliche und begriffliche Verhältnisweisen bestimmt sein. Dabei sind die jeweiligen Verhältnisweisen, die zwischen Transzendentem und Diesseits bestehen, von denen unterschieden, die innerhalb beider herrschen. Z. B. unterscheidet sich im Falle einer grundlegend durch räumliche Verhältnisweisen bestimmten Religion, ein bestimmter ausgegrenzter Raum, der auf das Transzendente bezogen ist, einzig dadurch von anderen Räumen, dass für diese der Transzendenzbezug nicht gilt. Dass der auf das Transzendente indem sie zugleich, nicht mehr Gegenwart, also Vergangenheit ist. Als die durch sich selbst negierte, als die Vergangenheit stellt die Gegenwart sich sich selbst entgegen. Als die sich entgegengestellte ist sie die Gegenwart, die noch nicht die Vergangenheit ist. Sie ist hiermit ihre eigne Zukunft. Da Gegenwart in der Negation ihrer selbst sich vollständig in Vergangenheit übersetzt, ist sie auch als ihre eigene Zukunft Vergangenheit, sprich nicht mehr Zukunft. Zukunft wiederum, die nicht mehr Zukunft ist, ist Gegenwart. In der Negation ihrer selbst vergegenwärtigt sich Gegenwart folglich sich selbst. Auch hier drücken sich inadäquate Bestimmtheitsweisen des Begriffs als solchen in denen der Zeit aus. Der Nachweis, inwieweit Bewusstsein (subjektiver Geist) und Kommunikation (objektiver Geist) als Bestimmtheitsweisen der sich sich vergegenwärtigenden Gegenwart ausgewiesen werden können, kann hier leider nicht geliefert werden.
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bezogene Raum sich in den Bestimmtheitsweisen, die die Eigenbestimmtheit des Raumes ausmachen wie die, ausgedehnt zu sein, eine Lage zu besitzen, von anderen räumlich distanziert zu sein usw., nicht von den nicht auf das Transzendente bezogenen unterscheidet, bestätigt wiederum, dass das Transzendente begrifflicher Natur ist und sich den internen Bestimmtheitsweisen des Raumes entzieht. Die dem Raum entsprechende begriffliche Natur – einfache Bestimmtheit, die ihre Einfachheit im Ausschluss anderer Bestimmtheit erweist – spricht sich in den durch den Raum bestimmten Religionen aus, indem durch Beschränkung des Zutritts, der Bewegungsfreiheit, der Sichtbarkeit usw. im Kultus die aus der Eigenbestimmtheit des Raumes stammenden Bestimmtheitsweisen vom Transzendenten möglichst ausgeschlossen werden. Da es hier um die Architektur der Theorierahmen geht, muss es bei dieser spärlichen Andeutung angewandter Religionstheorie bleiben. Auf den ersten Blick könnte die vorgelegte Skizze des strikt a priori entwickelten Theorierahmens für die Religionstheorie47 den Eindruck erwecken, im Bereich solcher Religionstheorien zu landen, die Aussagen über das Göttliche nur innerhalb ihres Gegenstandes, den Religionen gelten lassen, aber im Rahmen der Theorie nur Aussagen über diesen Gegenstand – die Religion – gestatten. Mithin wäre der als Alternative zu Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte vorgeschlagene Theorierahmen hinter das von diesem erreichte Niveau zurückgefallen. Dass der Eindruck täuscht, der hier skizzierte Theorierahmen unterschreite das von Pannenberg erreichte Niveau, zeigt sich, wenn man sich nochmals klar macht, wie Pannenberg den einheitlichen Zusammenhang von Religionstheorie und Theologie konzipiert. Zugleich können aus der Perspektive des nunmehr – wenn auch sehr schattenhaft – überschaubaren umfassenden Theorierahmens die Unterschiede zu Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte profiliert werden, und damit auch die Gründe benannt werden, weshalb die in dieser auftretenden Aporien zu vermeiden sind. Als Theologie ist nach Pannenberg die Religionstheorie dort zu begreifen, wo „die Religionen […] auf ihre spezifische religiöse Intention befragt werden, indem nach der Selbstbekundung göttlicher Wirklichkeit in den verschiedenen Religionen und ihrer Geschichte gefragt wird.“48
Die Möglichkeit, nach der Selbstbekundung göttlicher Wirklichkeit in den Religionen zu fragen, eröffnet der Theorierahmen Pannenbergs, indem er Religion 47 Im Gegensatz zu Hegel, zumindest aber einigen seiner Interpreten können aus den a priori bestimmten Bestimmtheitsweisen der Religion nicht die positiven Religionen als deren besondere Bestimmtheitsweisen abgeleitet werden. Allerdings wird durch die a priori festgelegten Bestimmtheitsweisen der Religion das festgelegt, was etwas überhaupt erst zu einer Religion macht. 48 W. Pannenberg, WuTh, S. 317.
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so konzipiert, dass in dem jeweiligen Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen als einer, deren Einheit ihren Grund im Göttlichen hat, stets auch intendiert ist, dass dies Verständnis der Wirklichkeit auch tatsächlich entspreche. Darüber hinaus verlangt die theologische Frage nach der Selbstbekundung der göttlichen Wirklichkeit in einer Religion, dass die eine Wirklichkeit an sich von der in den Religionen in je verschiedener Weise intendierten, d. h. bloß beanspruchten unterschieden wird. Selbstbekundung göttlicher Wirklichkeit in der Religion heißt dann, dass die Weise, in der die in ihrer Gesamtheit durch das Göttliche bestimmte Wirklichkeit aufgefasst wird, „allen gegenwärtigen zugänglichen Aspekten der Wirklichkeit“49 an sich entspricht. In dieser Entsprechung erweist sich die Wirklichkeit an sich als die durch das Göttliche bestimmte. Sinn macht Pannenbergs Konzeption einer als Theologie zu begreifenden Religionstheorie nur, wenn die Wirklichkeit an sich auch einen einzigen Zusammenhang bilden kann, der auf das Göttliche als seinen Grund verwiesen ist. In Aspekten der Wirklichkeit an sich Entsprechung finden kann eine Weise, das Wirklichkeitsganze in seinem Verwiesen-Sein auf Gott zu erfassen nur, wenn diese Aspekte auch tatsächlich im Zusammenhang einer Einheit stehen. Da das Ganze der Wirklichkeit nicht einfach faktisch vorliegt, gilt es zu klären, inwiefern es an sich wirklich sein kann, Pannenberg schenkt sich innerhalb seines Theorierahmens einen solchen Möglichkeitserweis, postuliert für die Universalgeschichte, das Wirklichkeitsganze an sich zu sein, und gerät dadurch zwangsläufig in die benannten Aporien. Richtet man seinen Augenmerk darauf, dass für Pannenberg die verschiedenen Weisen, sich das Ganze der Wirklichkeit verständlich zu machen, deshalb als Religion begriffen werden können, weil für sie eine Bezugnahme auf eine einende Macht oder einen Grund des Wirklichkeitsganzen konstitutiv ist, dann fällt auf, dass Pannenberg nicht darlegt, weshalb das Ganze der Wirklichkeit notwendigerweise in einem Verhältnis zur göttlichen Wirklichkeit stehen muss, das als solches nicht zu den Verhältnissen gezählt werden kann, in denen die Teile des Ganzen zueinander stehen und somit impliziert, dass die göttliche Wirklichkeit nicht Teil der Wirklichkeit im Ganzen sein kann, ihr transzendent sein muss. Zumindest in der Religionstheorie setzt er dies vermutlich als selbstverständlich voraus. Aus dem Vorhergehenden dürfte deutlich geworden sein, dass der hier vorgeschlagene alternative Theorierahmen den benannten Desiderata, die Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte erfüllen muss, um ihr Programm, Religionstheorie als Theologie auszuarbeiten, Genüge leistet. Der umfassende Theorierahmen zeigt zunächst einmal in der Theorie des Begriffs, der des Raums und der der Zeit, dass Einheiten möglich sind, die als die eine Einheit auch das sind, dessen Zusammenhang sie bilden. So ist der eine Begriff der Zusammenhang von Begriff und
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durch den Begriff Begreifbaren der eine Raum der Zusammenhang von Raum und Punkt, darin der von Punkt und Strecke usw.50 und die eine Zeit als sich sich vergegenwärtigende Gegenwart der Zusammenhang von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dass in der Religionstheorie Raum und Zeit als Diesseits eine Einheit (Pannenbergs Wirklichkeit im Ganzen) bilden müssen, die in einem Verhältnis zum Transzendenten (Pannenbergs göttliche Wirklichkeit) stehen muss, das nur ein räumliches, zeitlich oder begriffliches sein kann, resultiert aus der den Gegenstand der Religionstheorie festlegenden Theorie des Begriffs. Wenn in dem vorgeschlagenen Theorierahmen Religionen nicht mehr so zu konzipieren sind, dass sie als „menschliche Lebensform“51 oder „subjektive Antizipation“52 , also als im Diesseits verortete der einen göttlichen Wirklichkeit gegenüberstehen, der sie angesichts der ihr zugänglichen Wirklichkeit mehr oder weniger entsprechen können, kann dann innerhalb des vorgeschlagenen Theorierahmens die Aufgabe der Theologie wahrgenommen werden, etwas zur Angemessenheit des jeweiligen Transzendenzbezugs einer Religion zu sagen? In einem anderen Sinn als einer Entsprechung von subjektiver Antizipation und vorgegebener Wirklichkeit an sich ist dies auch unter den Bedingungen der zur Debatte stehenden Alternative möglich. Ruft man sich ins Gedächtnis dass die grundlegende Bestimmtheitsweise der Religion die des Begriffs ist, dann kann gesagt werden, die Religion oder die Religionen, deren Transzendentes dem Begriff entspricht, beziehen sich angemessen auf das Transzentente. Hier entspricht die Bestimmtheitsweise, die das Verhältnis von Transzendentem und Diesseits bestimmt, derjenigen durch die das Transzentente sich selbst bestimmt. Das Transzendente entspricht in seinem Verhältnis zum Diesseits einzig seinem Selbstverhältnis. Die originäre und fundamentale theologische Fragestellung nach der Angemessenheit des Transzendenzbezuges in den Religionen ist demnach konstitutiver Bestandteil der hier ins Spiel gebrachten Religionstheorie.
50 Zu einer etwas detaillierteren Ausarbeitung der hier angedeuteten Theorie des Raumes vgl. M. Zelger, Impliziert der Begriff des Raumes den Gottesgedanken? Kritische Anmerkungen zu einem Topos der Schöpfungslehre Pannenbergs, in: G. Wenz (Hg.), Theologie der Natur. Zur Konzeption Wolfhart Pannenbergs, Pannenberg-Studien, Band 5, Göttingen 2019, S. 45–61. 51 WuTh, S. 315. 52 WuTh, S. 312.
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Einwanderung ins Profane Religionsgeschichte als Prozess auf dem Weg zu vernünftiger Freiheit bei Jürgen Habermas und Wolfhart Pannenberg
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Einleitung
„So viel Wissen über unser Nicht-Wissen … gab es noch nie“. So Jürgen Habermas in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger vom 03.04.2020 angesichts der Herausforderungen der Corona-Krise. Ein Kolumnist der FAZ kommentierte das mit dem schönen Satz: „Wir haben zwar keine Ahnung, aber davon ziemlich viel“. Nüchtern betrachtet mag man das Habermas‘sche Eingeständnis des Nichtwissens als weise Altersbescheidenheit verstehen eingedenk einer Philosophiegeschichte, in der schon mancher große Geist bekannte, im Grunde genommen nichts oder nicht viel zu wissen. Dafür erfährt man in Habermas‘ Alterswerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“, das im Herbst 2019 in zwei Bänden erschienen ist1 , auf rund 1.800 gedruckten Seiten ziemlich viel und ist nachhaltig beeindruckt nicht nur von der offensichtlich noch immer großen geistigen Kraft des mittlerweile über 90jährigen, sondern auch von seinem Mut, noch einmal einen wirklich großen Wurf zu wagen und sich damit in gewisser Weise – vielleicht ein letztes Mal – zu exponieren. „Ich hatte nie einen perfektionistischen Ehrgeiz und habe eher zu den unvorsichtigen Autoren gehört, die ihre Veröffentlichungen als Teile eines fortlaufenden Diskurses betrachten“2 , schreibt er in einer abschließenden Danksagung. Zu einem ungemein interessanten und herausfordernden Diskurs regt er nicht zuletzt die Theologie an. Denn seine vorgelegte „Genealogie nachmetaphysischen Denkens“ stellt er dar auf dem Hintergrund der okzidentalen Konstellation von Glauben und Wissen, wie sie sich herausgebildet hat in einem über 1.500 Jahre währenden Prozess der Spannung, der gegenseitigen Anregung, der „begrifflichen Osmose“3 und befruchtenden Auseinandersetzung zwischen griechischer Philosophie und christlicher Theologie, die schließlich in die Trennung der beiden Disziplinen mündete, vorbereitet durch spätmittelalterliche Denker wie Duns 1 J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1. Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen; Band 2. Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019; im Folgenden zitiert mit römisch I (für Band 1) und römisch II (für Band 2) und entsprechender Seitenzahl. 2 II, 808. 3 II, 38.
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Scotus und Wilhelm von Ockham und schließlich besiegelt durch das Werk Martin Luthers und der Reformation, das Habermas darstellt als einen „Bruch mit der Tradition“4 der Kirchenväter und der Hochscholastik und ihres Konzeptes der Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft. Luthers „theozentrische Lehre“ stößt „ironischerweise“, wie Habermas immer wieder betont, „das Tor (auf) zu einer anthropozentrischen Wende der Philosophie (…) – und wird damit zum Bahnbrecher nachmetaphysischen Denkens“5 , sprich zu einem der Wegbereiter für Habermas‘ eigenen philosophischen Standpunkt. All das, die Einordnung Luthers und der Reformation, die Rede vom nachmetaphysischen Denken und vieles andere mehr, kann mit guten Gründen bestritten werden, wie das vielfach geschehen ist und hier nicht wiederholt zu werden braucht. Es wird nichts daran ändern, dass Habermas sich in der Spätphase seines Werkes, beginnend vielleicht mit der großen Friedenspreisrede über Glauben und Wissen im Jahr 2001 über seinen vielbeachteten Disput über Religion und Aufklärung mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger im Jahr 2004 sowie die Veröffentlichung der Aufsatzsammlung „Zwischen Naturalismus und Religion“ 20056 , mit dem nun vorgelegten pointierten Entwurf einer Philosophiegeschichte nachhaltig als einer der wichtigsten und interessantesten Gesprächspartner für Theologie und Kirche aus philosophischer Perspektive erwiesen hat. Da mag man ihm Bemerkungen verzeihen wie diese: „Einstweilen müssen wir feststellen, dass Kierkegaard der letzte Theologe gewesen zu sein scheint, von dessen Gedanken die Philosophie neue Anstöße empfangen hat.“7 Das ist nicht versteckt überheblich oder gar offen herabsetzend gemeint. Dazu betont Habermas viel zu glaubhaft, dass er sich gegenüber Religion und Theologie nicht nur als dialog-, sondern auch als lernbereiter Gesprächspartner zeigen möchte: „Denn solange es nicht evident ist, dass sich die kreativen Kräfte der Religion erschöpft haben, gibt es für die Philosophie keinen Grund, eine lernbereit dialogische Einstellung zu religiösen Überlieferungen aufzugeben.“8 Ja, gegenüber einer derzeit wohl immer noch – trotz zunehmend gegenläufiger Positionen – vorherrschenden naturalistischen Tendenz in Philosophie und Naturwissenschaften nimmt er Religion und Theologie wahr als ernstzunehmende Konkurrenten um Wahrheitsansprüche und scheut sich nicht, sie in Anlehnung an Hegelsche Begrifflichkeit als Ausdruck und Erscheinung des objektiven Geistes anzusprechen: „Auch nach Loslösung vom
4 II, 16. 5 II, 13f. 6 J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Berlin 2005; vgl. M. Kühnlein (Hg.), Religionsphilosophie und Religionskritik. Ein Handbuch, Berlin 2018, 862–873. 7 I, 78. 8 I, 79.
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theologischen Kontext kann sich das nachmetaphysische Denken, ohne irgendeinen Kompromiss einzugehen, zur Religion wie zu einer anderen, in ihrem Sinne um Wahrheit konkurrierenden Gestalt des objektiven Geistes verhalten.“9 Als einen Lernprozess versteht er nicht zuletzt die Herausbildung einer autonomen Vernunft, die er, die epochale Leistung Kants würdigend, nicht mehr wie dieser einem „weltenthobenen transzendentalen Ich“ zuschreibt10 , sondern als intersubjektiv und lebensweltlich verorteten Bezugspunkt kommunikativ vergesellschafteter Subjekte versteht, die in der Lage sind, ihre Freiheit vernünftig zu gebrauchen.11 Vom Habermas’schen philosophischen Standpunkt aus betrachtet
9 Siehe den Abschnitt: „Religion als eine ‚gegenwärtige‘ Gestalt des objektiven Geistes?“; I, 75–109; Zitat: 76. Dass weder Religion bzw. Theologie noch das philosophische Denken jemals für sich beanspruchen können, Gestalten des „absoluten Geistes“ zu sein, wie das noch der Systementwurf Hegels mit großem Selbstbewusstsein behauptete, ist für Habermas somit unhintergehbares Ergebnis abendländischer Geistesgeschichte. Das ändert nichts daran, dass der ein oder andere zeitgeschichtliche philosophische Entwurf, ähnlich wie seinerzeit die kerygmatische Theologie des 20. Jahrhunderts, sich in seinem Subjektivismus versucht absolut zu setzen und unangreifbar zu wähnen. Demgegenüber lenkt Habermas zurück zur Bescheidenheit lehrenden, bisweilen äußerst mühsamen, aber auch neue Erkenntnisse generierenden historischen Arbeit, die schon Pannenberg aus theologischer Perspektive Anfang der 1960er Jahre unter Rückgriff auf die Ergebnisse der Arbeiten Ernst Troeltschs für seinen Fachbereich eingefordert hatte (s. die einleitenden Überlegungen in: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: GSTh 1, 252–295, hier 252ff). Freilich entgeht Habermas bei seiner Behandlung der Religionsgeschichte nicht immer der Art von Phänomenologie bzw. Typologie, die Pannenberg seinerzeit mit K. Koch als größtmöglichen Gegensatz zur historischen Betrachtungsweise und dem Verständnis der Geschichte in ihrer Geschichtlichkeit und Einmaligkeit als nur sehr bedingt dienlich bezeichnet hatte (s. ebd. 259, Anm. 14 und 15). Zu stark steht hier die Annahme im Hintergrund, „daß ‚das‘ religiöse Leben in seinen wesentlichen Strukturzügen zu allen Zeiten gleich gewesen sei.“ (ebd. 260). Siehe hierzu auch die kritischen Anmerkungen unten unter 2.2. 10 II, 369: „Kant hat mit der objektivistischen Vorstellung gebrochen, dass sich das erkennende Subjekt als das durchgängig rezeptive Organ eines ‚nirgendwo‘ lokalisierten Beobachters unthematisch voraussetzen darf. […] Was die an Kant anschließende Diskussion in Frage stellt, ist nicht die weltkonstituierende Leistung des erkennenden Subjekts, sondern die Ontologisierung einer der Welt enthobenenen Stellung des transzendentalen und, soweit es den praktischen Gebrauch der Vernunft betrifft, des intelligiblen Ichs. Kant meinte offensichtlich, die Selbständigkeit und spontane Selbsttätigkeit der gesetzgebenden Vernunft durch eine transmundane Stellung, die das intelligible Ich gegen alle Einwirkungen aus der Welt immunisiert, sichern zu müssen.“ 11 II, 372: „Man hält entweder an den Grundbegriffen der Subjektphilosophie fest und ordnet das endliche Subjekt der Transzendentalphilosophie einer inflationierten Subjektivität unter, sodass die Welt im Ganzen als eine, von ihrer eigenen Spontaneität zehrende und sich verzehrende Totalität gedacht werden muss. Oder man verändert die subjektphilosophischen Vorentscheidungen in der Weise, dass sich die detranszendentalisierten, nämlich verkörperten und kommunikativ vergesellschafteten Subjekt[e; corrig. F.v.D.] in einem intersubjektiv geteilten, symbolisch strukturierten Lebenszusammenhang vorfinden.“
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spielen aber für diesen Lernprozess gerade die Religionen und Weltanschauungen in ihrer Geschichte eine elementare, vielleicht sogar eine unüberholbare Rolle, selbst unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens. Ob die Unüberholbarkeit der positiven Religionen in Habermas‘ Programm letztlich schlüssig begründet wird, wird zu prüfen sein. Zumindest lässt sein groß angelegter Entwurf insofern aufmerken, als diese Verhältnisbestimmung von Religion und philosophischer Vernunft derjenigen nahekommt, die auch Wolfhart Pannenberg engagiert vertreten hat. Insbesondere was die Rede von einer recht verstandenen Säkularität anbetrifft, die sich als vorläufiges Ergebnis der Religionsgeschichte herausstellt, zeigt sich eine auffällige Parallele zu einer Randbemerkung Pannenbergs in seinem programmatischen Aufsatz zur Theologie der Religionsgeschichte von 1962. Ich möchte im Folgenden zunächst dem nachgehen, was Habermas im zweiten Kapitel des ersten Bandes die „sakralen Wurzeln der achsenzeitlichen Überlieferungen“ nennt12 , gefolgt von einer Auseinandersetzung mit der These von der „Moralisierung des Heiligen“ bzw. des „Bruchs mit dem mythischen Denken“, den alle sogenannten achsenzeitlichen Weltbilder teilen.13 Sodann möchte ich aus Habermas‘ breit angelegter Darstellung der Historie über das Verhältnis von Glauben und Wissen folgende Stationen als Schlaglichter thematisieren, weil sie nicht nur den Ansatz und das Gefälle der Argumentation von Habermas exemplarisch verdeutlichen, sondern auch auffällige Bezugspunkte zu Erträgen der langjährigen Forschungsarbeit Wolfhart Pannenbergs herstellen: Zum einen die „Symbiose von Glauben und Wissen im christlichen Platonismus“ (Plotin und Augustinus)14 , sodann den durch Duns Scotus eingeleiteten Paradigmenwechsel15 und schließlich die sich an das Werk Kants anschließende Frage, „ob und in welchem Maße die motivierende Kraft guter Gründe die sakrale Bindungskraft göttlicher Gebote ersetzen kann.“16 Abschließend möchte ich das Adorno’sche Diktum von der „Einwanderung ins Profane“17 , das Habermas als Leitfaden für seine Darstellung der Philosophiegeschichte versteht, neben die schon erwähnte Randbemerkung Pannenbergs stellen mit der Frage, ob beide das gleiche meinen.
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Vgl. I, 175–306. I, 312–326. I, 546–583. I, 765–804. II, 298–374; Zitat: 370. II, 806.
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2.
Hauptteil: Stationen auf dem Weg zu vernünftiger Freiheit18
2.1 Die sakralen Wurzeln der achsenzeitlichen Überlieferungen Habermas bezieht sich kritisch, aber im Ganzen konstruktiv auf die berühmte und umstrittene These Karl Jaspers‘ von einer sogenannten „Achsenzeit“19 , die die „Gleichursprünglichkeit und strukturelle Ähnlichkeit von Monotheismus und Platonismus“ behauptet20 , freilich mit der Frage, „ob nicht auch Jaspers für die nachaufklärerische Selbstbegrenzung der säkularen Vernunft einen zu hohen Preis bezahlt.“21 Immerhin erwartet er im Anschluss an Jaspers, „dass die Philosophie in ihrem Verhältnis zu religiösen Überlieferungen ein säkularistisches Selbstverständnis überprüfen muss“.22 Und aus seiner Sicht führt Jaspers‘ Ansatz „insofern weiter, als er mit der Konzeption des gemeinsamen Ursprungs aller ‚starken‘ Traditionen
18 Im Hauptteil konzentriere ich mich auf die Darstellung des Habermas‘schen Werkes. Die Bezüge zu Pannenbergs Forschungserträgen, vornehmlich zum Verständnis der Religions- und Philosophiegeschichte, werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit in den Anmerkungen hergestellt. 19 Jaspers stellt sich das Jahr 500 v. Chr. als die „Achse“ vor, „um die sich die Rotation der Weltgeschichte gleichsam beschleunigt, weil sich während der vergleichsweise kurzen Periode zwischen ungefähr 800 und 200 v. Chr. in den frühen eurasischen Hochkulturen unabhängig voneinander ähnliche Revolutionen in der Mentalität von Eliten ereignet haben. Daraus sind die ‚starken‘ bis heute nachwirkenden religiösen Lehren und metaphysischen Weltbilder hervorgegangen.“ (I, 177). Auch W. Pannenberg setzt sich in seinem programmatischen Aufsatz „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ am Rande mit der Achsenzeit-These Jaspers‘ auseinander, freilich von vornherein mit dem Hinweis im Hinblick auf solche und ähnliche Systematisierungsversuche, dass „(d)er Prozeß der Religionsgeschichte (…) nicht a priori konstruiert oder auch nur periodisiert werden (kann).“ Dass hier eine „Schwelle“ in der Entwicklung der Menschheit überschritten wurde, rechtfertige nicht die Systematisierung dieser Epoche zur „Achse“ der Weltgeschichte. Dieser Schritt sei schon insofern problematisch, „als Jaspers hier zugestandenermaßen die bisherige Achse christlichen Geschichtsverständnisses durch eine auch dem Nichtchristen zugängliche Konstruktion ersetzen will“. Der Zeitabschnitt, in dem die Subjektivität des Individuums zum Durchbruch komme, entbehre nicht nur der Einheitlichkeit. Vor allem „(dürfte) die Subjektivität des Menschen (…) außerdem in sich selbst zu zweideutig sein, um als Achse der Geschichte gelten zu können.“ (in: GSTh 1, 252–295; Zitate: 273–274 mit Anm. 35). Generell kritisiert Pannenberg den Subjektivismus der Existenzphilosophie seines philosophischen Lehrers Karl Jaspers, dessen Andenken er (neben demjenigen Nicolai Hartmanns und Karl Löwiths) seine 1996 veröffentlichte Abhandlung „Theologie und Philosophie“ gewidmet hat (Göttingen 1996): „nach Jaspers ist die das Weltdasein übersteigende Transzendenz nur im existentiellen Bewusstsein des einzelnen zugänglich, nicht als Gegenstand des Wissens, das Allgemeingültigkeit beanspruchen kann.“ (334) Dessen Rede von „Chiffren“ im Hinblick auf die Inhalte religiösen Glaubens und den Gottesbegriff impliziere eine „Reduktion der im Glauben erfassten Wahrheit auf die Subjektivität des Menschen“ (335). 20 I, 65. 21 I, 101. 22 I, 179.
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aus der Weltbildrevolution der Achsenzeit“ für die von ihm angestrebte „Genealogie des nachmetaphysischen Denkens eine aussichtsreiche Perspektive eröffnet.“23 Auf dem Hintergrund der Annahme, dass „alle Zivilisationen dieselben evolutionären Stufen durchlaufen“24 und demgemäß „zwischen den großen Zivilisationen Verwandtschaften bestehen, die auf ähnliche kognitive Entwicklungspfade schließen lassen“25 , untersucht er im Kapitel II. seiner Darstellung zunächst die sakralen Wurzeln der achsenzeitlichen Religionen und Weltbilder: Den religiösen und metaphysischen Überlieferungen sei gemeinsam, dass sie einerseits zu „kognitiven Durchbrüchen“ führten, mit deren Hilfe es gelänge, „das innerweltliche Geschehen zu transzendieren, im Ganzen auf Distanz zu bringen und zu objektivieren“26 und damit faktisch die Alltagswelt zu entmythologisieren, ganz gleich, ob dies geschehe aus der Perspektive eines „unsichtbaren Schöpfer- und Erlösergottes oder eines zugrundeliegenden, nur in seinen Manifestationen greifba-
23 I, 101. 24 I, 135 (Anm. 159). Pannenberg äußert sich insgesamt skeptisch zu evolutionistischen Konzeptionen im Hinblick auf die Religionsgeschichte. Sowohl die Hypothese einer Entwicklung vom Polytheismus zum Monotheismus als auch die Umkehrung mit der Annahme eines Urmonotheismus sind mit der Schwierigkeit belastet, dass „gerade die Anfänge in der Geschichte der verschiedenen Religionen am schwersten zu erhellen (sind)“ und empirische Befunde das jeweilige Gegenteil nahelegen: „Ein einheitlicher Ursprung alles Daseienden und die Vielfalt gegenwärtig wirksamer Mächte schließen einander nicht aus. Welcher Aspekt der vorherrschende ist, läßt sich nicht allgemein entscheiden, sondern wechselt von Religion zu Religion, aber auch in der Geschichte der einzelnen Religionen.“ Dagegen „(scheint) (d)ie Wirklichkeit schon für primitive Erfahrung sowohl durch Einheit als auch durch Vielfalt charakterisiert zu sein.“ (GSTh 1, 266f). Und die Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielfalt ist nicht zufälligerweise auch eines der tragenden Grundthemen der abendländischen Philosophiegeschichte, ja vielleicht das fundamentale Philosophem schlechthin, wie Pannenberg gegenüber Heidegger festhält: „Das Thema des Einen als Ziel des Überstiegs über die Vielheit des im Bewußtsein der Weltdinge und des eigenen Ich Gegebenen ist philosophisch fundamentaler als die Unterscheidung von Seiendem und Sein.“ (MuG, 17). Pannenberg behauptet „Das Eine und die Vielen“ letztendlich als „das gemeinsame Thema von Philosophie und Theologie“, und zwar vermittelt durch den (philosophischen) Gottesgedanken, auf den auch die Philosophie schlechterdings nicht verzichten kann. (C. Axt-Piscalar, Das Wahrhaft Unendliche. Zum Verhältnis von vernünftigem und theologischem Gottesgedanken bei Wolfhart Pannenberg; in: J. Lauster/B. Oberdorfer (Hgg.), Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke (Religion in Philosophy and Theology 41), Tübingen 2009, 319–337, hier: 319f; vgl. ThuPh, 11–19). Auch wenn evolutionistische Thesen demgemäß in Pannenbergs Urteil kritisch zu betrachten sind, „ist die Frage nach der Religionsgeschichte als ganzer nicht überflüssig“. Denn: „In den geschichtlichen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Religionen ist faktisch die Einheit der Religionsgeschichte hervorgetreten, oder besser: Dieser Prozeß ist heute noch im Gange als ein Wettstreit der Religionen um die Wirklichkeit, ein Wettstreit, der darin begründet ist, daß Religionen es mit dem Gesamtverständnis der Wirklichkeit zu tun haben.“ (GSTh 1, 267 und 270). 25 I, 134. 26 I, 183.
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ren Weltgesetzes.“27 In allen diesen Weltbildern vollziehe sich ein Perspektivwechsel zu einem „transzendenten Standpunkt“: „Der Bezug auf das Eine verschafft dem Betrachter die Distanz von dem Vielen, das in der Welt geschieht, erlaubt die Differenzierung des Innerweltlichen von der Welt im Ganzen und macht in einer immer weiter entmythologisierten Welt gesetzmäßige Zusammenhänge transparent.“28 Gleichzeitig werde andererseits in diesen Entmythologisierungsprozessen jeweils ein „sakraler Kern bewahrt“29 , der sich der funktionalistischen Auflösung in eine „Kontingenzbewältigungspraxis“30 auf charakteristische Weise entziehe31 . Noch so „lebensdienliche Illusionen zerfallen, sobald sie als solche durchschaut sind“32 , argumentiert er. Die religiöse Praxis der Glaubensgemeinschaften aber erweise sich als hartnäckig beständig gegenüber vernunftmäßiger Aufklärung, was Habermas etwa am Beispiel des Weiterbestehens der Götterkulte in der griechischen Polis und in der gesamten hellenistisch-römischen Antike trotz großer religionskritischer Schübe, ausgelöst durch die klassischen griechisch-philosophischen Schulen, illustriert und zu der wiederholten Bemerkung veranlasst: Die gelebte Religion sei ein „archaischer Stachel im Fleisch der Moderne“33 . Das lässt Habermas intensiver nach dem exklusiv Eigenen der Religion fragen. Dieses bestehe „[o]ffensichtlich nicht in dem kognitiven Bezug zum Ganzen der Welt und des Menschen“34 , sondern in der Verkörperung einer rituellen Praxis im Umgang mit höheren Gewalten oder
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I, 185. I, 187. I, 182. I, 196. Vgl. I, 192. I, 192. I, 200. I, 189. Eben hier widerspricht die religionssoziologische Position, die etwa Thomas Luckmann unter Rückgriff auf die Konzeptionen Max Webers und Emile Durkheims entwickelt hat und auf die sich Wolfhart Pannenberg, seinerseits verweisend auf Wilhelm Diltheys Analyse der Bedeutungs- und Sinnerfahrung und Friedrich Schleiermachers klassischer theologischer Analyse des Begriffs der Religion, wiederholt positiv bezieht: „Denn bei der Religion geht es um die Sinntotalität des Lebens“; und: „alles Einzelne als Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“ (Eschatologie und Sinnerfahrung, in: GSTh 2, 66–79, Zitate: 74 bzw. 75, letzteres Schleiermacher zitierend). Die Religion mit ihrem jeweiligen Gottesbegriff kommt bei Pannenberg nicht als sakraler Bereich neben dem profanen zu stehen, sondern sie thematisiert von vornherein das Ganze des menschlichen Lebens mit seinem Welt- und Selbstbezug. Gerade der Verlust des Gottesbegriffs in der „nachmetaphysischen“ Philosophie, so Pannenbergs Argumentation, mache es ihr schwer, wenn nicht gerade unmöglich, das Ganze von Welt und Selbst überhaupt noch angemessen in den Blick zu bekommen, wenn sie es nicht von vornherein aufgegeben hat, eine philosophische Position zu entwickeln, in der die Totalität alles Wirklichen zum Thema wird. (S. in: PhuTh, Göttingen 1996, 15–19).
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übermenschlichen Mächten.35 An dieser Stelle ist zu spüren, dass Habermas sich hinausdrängt fühlt über eine reine religionsphänomenologische und –soziologische Beschreibung anthropologischen Verhaltens hin zu einem nichtfunktionalistischen Ansatz, der ernst zu nehmen versucht, dass der jeweilige „Ritus die eigentliche Quelle der Überzeugungskraft ist“ und „für die Beteiligten einen nachvollziehbaren intrinsischen Sinn haben (muss), ganz unabhängig davon, welche Funktion ihm aus der Beobachterperspektive zugeschrieben werden kann.“36 Sprich: Welche „Wirklichkeit“37 entspricht denn eigentlich jenen unerkennbaren, wenn auch ikonisch vergegenwärtigen Adressaten, von denen sich die Menschen Heil bzw. die Abwendung von Unheil erhoffen? Natürlich ist mit dieser Frage eine Grenze beschrieben, die der Philosoph und Soziologe nicht überschreiten kann, ohne unter der Hand zum Theologen zu werden. Das respektiert er in fast scheuer Weise, die auch eine gewisse Verlegenheit offenbart, wenn er die göttlichen Mächte abwechselnd als „virtuelle Akteure“ oder „erklärungsbedürftige Größen“ apostrophiert.38 Gleichwohl ist das ernsthafte Bemühen festzustellen, diese Mächte aus der Perspektive Beteiligter wahrzunehmen und zu beschreiben, die jene „erklärungsbedürftigen Größen“ eben als handelnd erfahren39 :
35 I, 192ff. 36 I, 192. 37 Pannenberg spricht dezidiert vom „Wirklichkeitsbezug“ bzw. vom „Wahrheitsgehalt religiöser Erfahrung“ (GSTh 1, 278), der in der religionswissenschaftichen Forschung oft einfach ausgeblendet bzw. offen gelassen wird. Dieser könne weder durch ein tieferes psychologisches Verständnis des religiösen Bewusstsein eingeholt werden (so zeitweise E. Troeltsch) noch durch die Berufung „auf die Überzeugungskraft der Realitätsgefühle in den Vorgängen religiöser Erfahrung“ (W. James), sondern „nur… auf der Ebene anthropologischer Strukturaussagen“ (ebd., 279f), die ihrerseits durch einen „positiven Bezug zur sonstigen Wirklichkeitserfahrung“ so weitergeführt werden, „daß der Gedanke Gottes oder – unpersönlich – eines das eigene und alles endliche Dasein übersteigenden, geheimnisvollen Grundes alles Wirklichen in der über alles Endliche ausgreifenden Bewegung des menschlichen Daseins so impliziert ist, daß der Mensch sich angewiesen findet auf dieses sein eigenes Dasein übersteigende Geheimnis, so daß er nur von ihm begründeterweise die Erfüllung seines Daseins erhoffen kann.“ (Ebd., 282) Aber erst im „tatsächlichen Umgang der Menschen mit dem Geheimnis des Seins, auf das die Struktur ihres Daseins sie verweist, muß sich dessen Wirklichkeit erweisen. In diesem Sinne kann die Wirklichkeit Gottes oder göttlicher Mächte sich nur durch ihr Widerfahrnis erweisen, indem sie sich nämlich als machtvoll erweist im Horizont der jeweiligen Daseinserfahrung.“ (Ebd., 284; Hervorhebungen im Original). 38 I, 194f. 39 Entgegen der Neigung der religionsgeschichtlichen Forschung, „die religiösen Phänomene nur als Ausdruck menschlichen Verhaltens zu deuten“, ist nach Pannenberg ernst zu nehmen, dass „schon von den Anfängen her die verschiedenen Völker ihre Götter als die Gesamtwirklichkeit bestimmende Mächte verstanden.“ Gerade „die Prozesse der Verwandlung religiöser Vorstellungen und Lebensformen“ ließen sich erst dann angemessen beschreiben, wenn sie „als motiviert durch religiöse Erschütterungen“ verstanden würden, „die nicht einfach identisch sind mit politischen
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„Die Regeneration einer Gesellschaft nach der Überwindung anomischer Zustände oder die Wiedergeburt des sozialen Selbst nach dem Untergang einer überwundenen Identitätsstufe werden zugleich als katastrophische und rettende Prozesse erfahren, die sich schicksalhaft an den vergesellschafteten Subjekten vollzieht.“40 Dieses „glückliche Wiedereinspielen einer aus der Balance geratenen, aber tragenden Intersubjektivität“ wird erlebt als „das Walten sakraler, die jeweils eigenen menschlichen Kräfte transzendierender Mächte“.41 Der Ritus ist eine Reaktion auf diese Erfahrung und als Versuch zu verstehen, „zu der als überwältigend erfahrenen sakralen Gewalt […] Abstand und eine eigene Einstellung zu finden, um in der Form einer praktischen Bewältigung des Widerfahrenen auch ein Stück Handlungsfreiheit zurückzugewinnen.“42 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang nicht nur Habermas‘ Feststellung, dass „im Kern des Religiösen auch ein Freiheitsgewinn angelegt (ist)“43 , sondern auch sein wiederholtes Insistieren darauf, dass die Religionen selbst dazu beitragen, „das in der Gesellschaft verfügbare profane Wissen jeweils in den begrifflichen Rahmen des Heilswissens einzuführen und zu einem Welt- und Selbstverständnis zu integrieren.“44 So sehr einerseits Herz und Mitte der Religion im Ritus bestehe, dürfe sie andererseits nicht reduziert werden auf rituellen Umgang mit Heil und Unheil, sondern ebenso wichtig wie die performative sei die kognitive Selbstthematisierung der Gesellschaft in identitätsstabilisierenden Weltbildern, wie sie sich in der sogenannten Achsenzeit herausgebildet haben.45 In der narrativen Form des Mythos vermag er dementsprechend bereits einen Ansatz zu kognitiver Verarbeitung und damit zur Rationalisierung religiöser Erfahrung zu erkennen, wenn auch der Sinn eines Ritus sich niemals diskursiv ausschöpfen lasse.46 Die Vermutung,
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oder sozialen Veränderungen, und durch Erfahrungen von spezifisch religiöser Überzeugungskraft, die sich in neuen religiösen Formen niedergeschlagen haben.“ (GSTh 1, 277). I, 196f; Hervorhebungen im Original. I, 197f. I, 198. Ebd. Freilich ist hier bei Habermas das Religiöse offensichtlich ausschließlich als menschliche Handlung verstanden, die sich aus der Erfahrung der sakralen Macht gewissermaßen selbst rituell befreien muss. Dass Religion, verstanden als Widerfahrnis göttlicher Mächte, es mit einer menschlichen Befreiungserfahrung zu tun haben könnte, scheint bedauerlicherweise kaum im Horizont zu liegen. Hingegen insistiert Pannenberg, vor allem unter Rückgriff auf Luther und Hegel, darauf, dass, trotz aller bekannten Entstellungen und Fragwürdigkeiten, menschliche Freiheit ohne die Dimension des Religiösen auf Dauer kaum denkbar ist. (Vgl. insgesamt zu diesem Fragenkomplex den Aufsatzband: Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972/2 1978). I, 198f. I, 199. I, 203f. Vgl. auch diese weiterführende Erläuterung: „Dabei müssen wir aber die komplexe Zusammensetzung der Bindungskraft dieser rationalisierenden Weltbilder selbst im Auge behalten. Sie speist sich nämlich nicht nur aus der sakralen Bindungskraft, die der Mythos seiner Verbindung
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dass „Mythen die erste Gestalt der Versprachlichung rituell verkapselter sakraler Gehalte darstellen“47 leiten ihn hinüber zu Überlegungen zum Ursprung der Sprache im sakralen Kontext, in deren Entwicklung ein ursprünglich (mit Claude Lévi-Strauss zu reden) „wildes Denken“, das keine Distanz und keine Tiefenstruktur kennt, somit an einer Art chaotischen Oberfläche bleibt, allmählich gezähmt wird und sich in einem intersubjektiven Kommunikationsprozess durch Ausbildung einer Reflexionsstruktur und begriffliche Ausdifferenzierung Welt und Selbst sukzessive erschließt, dabei aber verwiesen bleibt auf eine Totalität, die sich als solche dem Begriff entzieht und nicht objektivierbar ist.48 Sprachlich vermitteltes Denken als entscheidender Entwicklungsschritt auf dem Weg zur Hominisation ist in dieser Sicht eng verwoben mit sakralen Riten und religiöser Erfahrung.49 Mythen mit ihrem Ansatz zu kognitiver Verarbeitung und Rationalisierung archaischer Riten werden in den achsenzeitlichen Überlieferungen in einer Art kognitiven Schub vertieft zu Weltbildern, die jeweils unterscheiden zwischen einem transzendenten, überweltlichen Bezugspunkt und der vorfindlichen Welt. Habermas versteht diesen Schritt als gewaltig auf dem Weg des Lernprozesses hin zu vernünftiger Freiheit, attestiert aber bereits der Rationalisierungform des Mythos als auch den kognitiv vertieften Weltbildern der Achsenzeit in all ihrer Unterschiedlichkeit eine gravierende Schwäche: Sie neigen zu Dogmatisierung und sind damit
mit dem Ritus verdankt, sondern ebenso aus der rationalen Überzeugungskraft der kognitiven und moralischen Erklärungen, die der Mythos anbietet. Diese Fusion bietet der Macht des Sakralen von Anfang an einen Vernunftbezug. Die legitimierende und allgemein sozialintegrative Kraft der Weltbilder zehrt davon, dass die Macht des Sakralen mit der Kraft guter Gründe kommuniziert. In diesem Sinne ist der Mythos von Anfang an auch Aufklärung (Horkheimer/Adorno).“ (I, 147; Hervorhebung im Original). Dass Mythos und Ritus/Kult eng zusammen gehören, betont auch Pannenberg, wobei er gegenüber dem Argumentationsgefälle von Habermas „den ursprünglichen Charakter der im Mythos berichteten Wirklichkeit, die zumindest für das mythische Bewußtsein selbst Priorität vor allem menschlichen Tun und also auch vor aller kultischen Begehung hat“, hervorhebt. Nicht ein wie auch immer gearteter Kult wird im Mythos nachträglich erklärt bzw. rationalisiert, sondern der Mythos beglaubigt bzw. begründet eine ursprüngliche Weltordnung, die im Ritus/Kult jeweils feierlich wiederhergestellt bzw. erneuert wird. (Christentum und Mythos, in: GSTh 2, 13–65, bes. 13–17; Zitat: 16). 47 I, 207. 48 I, 207f. 49 Vgl. hierzu: W. Pannenberg, Religion und menschliche Natur, in: ders., Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Beiträge zur Systematischen Theologie Band 2, Göttingen 2000, 260–270, bes. 263–265; sowie: W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 347f. Mich haben die Überlegungen bei Habermas und Pannenberg erneut angeregt zu der Frage, ob nicht das religionsübergreifende Phänomen der Glossolalie eventuell als ein „wildes Sprechen“ zu verstehen ist, das im Ursprung der begrifflich entwickelten und ausdifferenzierten Sprache steht und als Relikt aus archaischer Zeit bis heute daran erinnert, dass Sprache und Denken auf den Raum religiöser Erfahrung verwiesen bleiben.
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anfällig für „Dissonanzen“, ausgelöst entweder durch Zuwachs an Weltwissen oder gesellschaftliche Krisen aufgrund ungelöster sozialer Konflikte, an denen sie auf Dauer zerbrechen: „Weltbilder sind, weil sie nur so lange ‚bestehen‘, wie sie geglaubt werden, also die Angehörigen überzeugen können, für ‚Wahrheitsfragen‘ empfindlich. Sie können […] erschüttert werden.“50 Die performative Kraft ritueller Praxis in Musik, Tanz, Gesang und inszenierendem Spiel, die Habermas als die ursprünglichere Kommunikationsform gegenüber der im weitesten Sinne „erklärenden“ Funktion mythischer Narrative auffasst, kann diese Schwäche zwar kompensieren, „weil die rituelle Kommunikation auf ganz andere Weise als wahrheitsfähige narrative Darstellungen gegen dissonantes Weltwissen abgeschirmt ist.“51 Ein Argument, das Habermas wiederholt anführt, um die Unverzichtbarkeit gottesdienstlicher Praxis für das Überleben der beiden Großkirchen in einem weitgehend säkularisierten Kontext hervorzuheben. Nur um im gleichen Atemzug zu betonen, dass auch die funktionale Verbindung eines identitätsstiftenden kollektiven Narrativs mit performativer Praxis „bestenfalls aufschiebende Wirkung“52 hat im unaufhaltsamen Prozess der Umwandlung religiöser Gehalte in profanes Wissen. Warum aber versiegt diese sakrale Quelle, die mit der schieren Faktizität religiöser Praxis immer wieder angezapft wird, nicht irgendwann? Diese Frage steht wiederholt im Raum; und Habermas lässt sie bewusst stehen, fast wie ein unbeantwortbares Rätsel. 2.2 Die Moralisierung des Heiligen und der Bruch mit dem mythischen Denken Seinen provisorischen Vergleich der achsenzeitlichen Weltbilder, in dem er nacheinander den jüdischen Monotheismus, die Lehre und Praxis Buddhas, Konfuzianismus und Taoismus, die griechischen Naturphilosophen bis zu Sokrates sowie die Ideenlehre Platos behandelt, erstellt Habermas anhand der Leitidee einer sich in allen diesen religiösen und philosophischen Lehren vollziehenden Tendenz zu einer „Moralisierung des Heiligen“ sowie eines „Bruchs mit dem mythischen Denken“: „Ich erkläre die achsenzeitliche Weltbildrevolution damit, dass das mythologische Selbstverständnis der Hochkulturen infolge des Wachstums eines ausdifferenzierten Wissensstandes und der fortgeschrittenen Sensibilisierung und Entwicklung des moralischen Bewusstseins kognitive Dissonanzen verarbeiten musste, die sich in
50 I, 142 (Hervorhebungen im Original). 51 I, 270f. Vgl. auch die Bemerkung, dass „zwischen diesen beiden Elementen des sakralen Komplexes von Anfang an eine Spannung besteht – zwischen einem Mythos, der die Welt nicht nur kategorial erschließt, sondern auch für innerweltliche Lernprozesse öffnet, auf der einen Seite und dem weltbildversiegelnden Ritus, der auf vorsprachliche Ressourcen der gesellschaftlichen Solidarität zurückgreift, auf der anderen Seite.“ (I, 295). 52 I, 271.
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diesen grundbegrifflichen Rahmen schließlich nicht integrieren ließen.“53 In seiner Analyse verschweigt er nicht, dass die Explikation der „drei Innovationen“, nämlich: der „Durchbruch zu einer Weltbildperspektive, die mit dem Bezugspunkt Gottes (…) alles Innerweltliche transzendiert“, die „Koppelung des kommunikativen (…) Zugangs zu Gott (…) mit einem Heilsweg, der das Versprechen rettender Gerechtigkeit an die Befolgung eines universalistischen Ethos bindet“ und schließlich eine „um heilige Schriften konzentrierte Form des Kultus, der die im magischen Denken wurzelnden Praktiken ‚entzaubert‘“, am jüdischen Beispiel orientiert ist, das anschließend auf die zeitgenössischen Religionen und Weisheitslehren übertragen wird.54 Auch dass es sich hierbei um „starke Behauptungen“ eines auf „die Trockenübung eines auf Gelegenheitslektüre angewiesenen Amateurs“ handelt, der eben von Haus aus kein Religionswissenschaftler ist, verhehlt Habermas nicht, nur um umso eindringlicher die wenig überraschende These einzuschärfen, dass jene Traditionen, die die gegenwärtigen Zivilisationen immer noch auf nachhaltige Weise prägen, das „gleiche kognitive Potential“ enthalten und sich um den „Kerngedanken eines moralischen Universalismus“ herum kristallisieren.55 Die Offenbarung eines unsichtbaren Gottes in prophetischen Worten als personales Gegenüber wird zwar unterschieden von „epistemischen Zugängen zum Göttlichen (…) auf Wegen des meditativen In-sich-Gehens, der sittlichen Bildung durch Erkenntnis oder der kontemplativen Anschauung des Kosmos“56 – im Hinblick auf den behaupteten kognitiven Lernprozess handele es sich aber um einen vergleichbaren Schritt in der Geschichte der Menschheit. Das kann abgesehen von nachdenkenswerten Einzelbeobachtungen nur sehr bedingt überzeugen. Die These etwa, dass das Thema der Gerechtigkeit in ihrem Ursprung etwas „eher Profanes“ sei, Religion und Ethik dementsprechend „verschiedene Wurzeln“ hätten57 , kann zwar im Sinne Schleiermachers positiv als ein Versuch gelesen werden, der Religion eine eigene Provinz im Gemüte unabhängig von der Moral zu retten. Sie will schlechterdings im Hinblick auf die religionsgeschichtlichen Ursprünge und Entwicklungen im Alten Israel kaum gelingen, in der Jahwe sich nicht, wie Habermas behauptet, vom Schöpfergott nachträglich zum Erlösergott entwickelt58 , sondern gerade umgekehrt eine Erfahrung von rettender Gerechtigkeit – in der die Aspekte von Heil und Moral auf das Engste verwoben sind – sich allmählich zu der
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I, 309. Ebd. I, 310. Ebd. So im Anschluss an Assmann; I, 302, Anm. 154. I, 312f.
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Überzeugung verdichtet, dass der Urheber dieses Heils auch der Schöpfer der Welt sein muss.59 2.3 Die Symbiose von Glauben und Wissen im christlichen Platonismus Ähnliche Schwächen und Verkürzungen, die einem gelernten Theologen ins Auge fallen müssen, zeigen sich, wenn Habermas dem „griechisch gebildeten“ Apostel Paulus die Anwendung der „platonische(n) Vorstellung von der Präexistenz der Seele auf den ‚von Ewigkeit zu Ewigkeit‘ zur Rechten Gottes thronenden Christus“ unterstellt und „dessen Menschwerdung mithilfe des neuplatonischen Begriffs der Hypostase, des Hervorgehens aus dem Einen“ plausibilisieren lässt.60 Im Ganzen ist aber das neue, explizit eschatologische Zeitverständnis, das sich im Urchristentum aufgrund des Auferstehungszeugnisses auf dem Hintergrund prophetischapokalyptischer Wurzeln herausbildet, treffend und zustimmend würdigend dargestellt. Das gilt auch für das Verhältnis von Christentum und Hellenismus, das Habermas insgesamt, die starke These Adolf von Harnacks von einer hellenisierenden Überfremdung der urchristlichen Tradition im Zeitalter der Herausbildung der frühkatholischen Kirche zurückweisend, positiv konnotieren kann auf dem Hintergrund der treffenden Beobachtung, dass in bestimmten Aspekten des frühen Christentums „auch eine eigentümliche, von Haus aus hellenistisch geprägte Gestalt des Geistes zu erkennen“ sei.61 Das Christentum habe sich als „eine ebenbürtige Gestalt des Geistes“ nur behaupten können, indem es „sich die Sprache und den akademischen Geist der griechischen Philosophie“ angeeignet habe, um so den „intellektuellen Gegnern auf Augenhöhe begegnen zu können“.62 Hierin erweise
59 Hier neigt Habermas also dazu, das Jaspers’sche Schema der Achsenzeit auf die israelitische Religionsgeschichte zu legen und dabei die eigentliche historische Betrachtungsweise zu verfehlen. S. oben Anmerkung 9! 60 I, 504f, Anm. 26. 61 I, 515; Hervorhebung im Original. 62 I, 531f. Vgl. hierzu Pannenbergs frühen programmatischen Aufsatz von 1959: Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie (GSTh 1, 296–346), in dem er 60 Jahre früher in einer Situation, in der die These Harnacks vor allem in der protestantischen Theologie noch weitgehende Anerkennung genoss, ganz ähnlich argumentiert. Er gehörte damit zu den einflussreichen Theologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die innerhalb der protestantischen Theologie eine Phase der neuen Bewertung des Verhältnisses von Christentum und Hellenismus einleiteten: „Die Tendenz zu solcher Anknüpfung an den griechischen Geist gehört zum geschichtlichen Boden des Urchristentums selbst. Eine ‚Hellenisierung‘ im Sinne einer Überfremdung z. B. durch den philosophischen Gottesgedanken tritt nicht schon da ein, wo die Theologie das Ringen mit ihm aufnimmt, sondern erst da, wo sie in diesem Ringen versagt, indem sie ihre assimilierende, umgestaltende Kraft verliert.“ (312)
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sich eine „vergleichsweise größere Bereitschaft des Christentums, sich für Lernprozesse zu öffnen“, hinter der Habermas eine „größere hermeneutische Flexibilität“ vermutet, die sich von Anfang an in einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber einer „von Haus aus (…) sakrale(n) Sprache“ ausgedrückt und den rationalen Umgang mit Traditionen erleichtert habe.63 Die Lernbereitschaft gegenüber einer in mancher Hinsicht überlegenen Kultur habe einen „Prozess gegenseitiger Assimilation“64 in Gang gesetzt, der freilich auch zu dem Ergebnis geführt habe, dass hierbei „die ontologische, auf das Seiende als solches gerichtete Begrifflichkeit der Metaphysik“ systematisch aufgesprengt worden sei65 und zwar durch die Themen der „Erfahrung des Absoluten in der Geschichte“ und „der verzeitlichenden Inkarnation des Geistes“, der „Dimension der Heilsgeschichte“ und der „Idee der Menschwerdung Gottes“.66 Dass das christliche Dogma dabei mitunter „in demselben platonisch-aristotelischen Begriffsuniversum befangen“ blieb, welches es „hätte sprengen müssen, um den rettenden Akt der Menschwerdung Gottes als historisches Ereignis auf den Begriff zu bringen“ und nicht erkannt habe, „dass sich der historische Kern des Glaubensbekenntnisses in den ontologischen Begriffen von Idee und Erscheinung oder Substanz und Akzidenz nicht unverkürzt ausdrücken lässt“67 , bezeichnet Habermas ebenso als eine merkwürdige Ironie der Geschichte wie die Tatsache, „dass ausgerechnet der erklärte Christenfeind Porphyrios mit seinem trinitarischen Gottesbegriff (…) zum wichtigsten Anreger für die Ausbildung des kirchlichen Trinitätsdogmas im 4. Jahrhundert wurde.“68 Insgesamt hält er anerkennend fest, dass die christliche Kirche sich nicht nur „gegen eine Unterordnung der christlichen Heilsbotschaft unter eine verfremdende ontologische Sicht zur Wehr gesetzt“, sondern auch durch das „Hindurchfiltern 63 I, 532. Vgl. hierzu den Aufsatz W. Pannenbergs: Die Rationalität der Theologie (in BSTh 1, 74–84): „Nicht jede historische Religion hat eine Theologie ausgebildet. Entstehung und Geschichte einer christlichen Theologie als rationaler Rechenschaft über den Glauben gehören vielmehr eng mit dem spezifischen Wesen des christlichen Glaubens zusammen.“ Während die philosophische Theologie der Griechen als historische Voraussetzung der Entstehung der christlichen Theologie „in kritischer Wendung gegen die religiös-mythologische Theologie“ entstanden sei, sei die christliche Theologie „aus dem Glauben selbst heraus als ein ihm wesentliches Element seiner Entfaltung“ entwickelt worden aufgrund des „tief missionarischen Charakter(s) des Christentums“ (74). 64 I, 522. 65 Pannenberg: „Die christliche Theologie konnte an den philosophischen Gottesgedanken nur anknüpfen, indem sie ihn zugleich durchbrach.“ (GSTh 1, 311). 66 I, 539. 67 I, 541. Pannenberg urteilt: „Die kritische Durchdringung und Umschmelzung des philosophischen Gottesbegriffs im Feuer der geschichtsmächtigen Freiheit Gottes ist in dieser Zeit (der altkirchlichen Theologie; F.v.D.) über bedeutsame Ansätze nicht hinausgekommen. Die Gedanken von Gott als Weltprinzip und als freiem Herrn der Geschichte blieben weithin unausgeglichen nebeneinander stehen.“ (GSTh 1, 343) 68 I, 542f, Anm. 73 (Zitat aus: J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, 152).
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der Glaubensgehalte durch den philosophischen Denk- und Argumentationsstil zur Ausbildung einer wissenschaftlichen Theologie“ gefunden habe. Umgekehrt sei „die philosophische Begriffssprache mit der Semantik ihrer (der kirchlichen; F.v.D.) Glaubenserfahrungen infiltriert, umgeformt und erweitert“ worden: „Weil die Theologie auf einer nichtassimilierenden Begriffsklärung des Glaubens insistiert hat, hat sie zugleich Anstöße gegeben, die Engführung der Philosophie auf Fragen einer als Grundwissenschaft ausgezeichneten Ontologie zu überwinden.“69 Dies demonstriert Habermas anschließend am Beispiel Augustins, in dessen Werkgeschichte sich die Begegnung von Christentum und Platonismus verdichtet.70 Schon bei Plotin, dessen Werke Augustin in den lateinischen Übersetzungen des Marius Victorinus eingehend studiert, sei eine Verschiebung des Interesses wahrnehmbar von der Ontologie hin zur Soteriologie: „An die Stelle einer kontemplativen, in den Anblick der Ideen versunkenen Hingabe an das Seiende tritt (…) die performative Selbsterfahrung einer auf die eigenen Denkakte gerichteten Vergegenwärtigung.“71 Plotin lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass „der menschliche Geist (…) in der vorreflexiven Selbstbeziehung zu den Operationen seines eigenen Urteilens und Schauens performativ seiner Einbettung in ein Gründungsgeschehen gewahr (wird), das seinerseits die epistemischen Beziehungen zwischen Denken und Gedachtem, Subjekt und Objekt erst stiftet.“72 Dieses so genannte „Eine“, das – wie Habermas sich ausdrücken kann – nur „unthematisch“ zugänglich ist73 – bleibt so jeder Anschauung und Vergegenständlichung entzogen und kann allenfalls „im obliquen Modus der Vergegenwärtigung eines Hintergrundes“ berührt werden in einer Art mystischen Erfahrung.74 Dass diese philosophische Konzeption einer religiösen
69 I, 545. 70 Vgl. hierzu: W. Pannenberg, Christentum und Platonismus. Die kritische Platonrezeption Augustins in ihrer Bedeutung für das gegenwärtige christliche Denken, in: BSTh 1, 58–73. Pannenberg würdigt die herausragende Leistung Augustins bei der Entwicklung einer christlichen Geschichtstheologie, die „in der Neuzeit bei weitem nicht den Grad an Allgemeingültigkeit zu bewahren vermocht (hat), den sie im Denken Augustins erreicht hatte.“ (69) Er bedauert allerdings, dass sich im Hinblick auf die Aufgabe einer „Erneuerung der philosophischen Gotteslehre unter dem Gesichtspunkt der platonischen Idee des Guten, also der Zukünftigkeit Gottes“, wie sie für die christliche Gotteslehre maßgeblich sein muss, „bei Augustin kaum eine Orientierung gewinnen (läßt).“ Hier hätte Augustin in Pannenbergs Urteil gerade durch Adaption von Plotins tiefgründigen Überlegungen über den Zusammenhang von Ewigkeit und Zeit (Ewigkeit als Leben der Gottheit und Ursprung der Zeit) und den daraus sich ergebenden Primat der Zukunft für das Zeitverständnis zu weiterführenden Erkenntnissen gelangen können: „Besonders der von Plotin hervorgehobene Zukunftsaspekt blieb in seiner Bedeutung für das Sein der Geschöpfe als Ganzsein bei Augustin ungenutzt… Augustin ist an dieser Stelle hinter der Analyse Plotins zurückgeblieben.“ (MuG, 56ff; Zitat: 60). 71 I, 550. 72 I, 551. 73 I, 552. 74 I, 551f.
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Sinngebung eminent zugänglich ist, liegt auf der Hand und beweist nicht nur die weitere Entwicklung des Neuplatonismus, sondern eben auch die rege Aufnahme Plotin‘schen Gedankengutes bei Augustin. Während aber bei Augustin das Plotin’sche Eine personal verfasst wird, zum Du wird, an das sich der Kirchenvater in seinen Bekenntnissen betend wendet, muss – wie Habermas kritisch feststellt – „der an den Heilsweg der Theorie gebundene Plotin, der nicht aus der objektivierenden Ich-Es- oder Subjekt-Objekt-Beziehung ausbrechen kann, eine höchst artifizielle Übung vorschlagen, um den performativen Charakter des sich selbst erfahrenden Denkens vor der Vergegenständlichung einer intentionalen Selbstreflexion zu schützen.“75 In beiden Fällen, im Neuplatonismus wie in der christlichen Theologie, geht es also, wie Habermas herausstellt, darum, „die Gegenwart des absolut Transzendenten vor dem Akt der erkennenden Vergegenständlichung (zu) bewahren.“76 Vielleicht müssten wir hier im Sinne Habermas‘ noch stärker formulieren: vor dem Akt einer rationalisierenden Vereinnahmung. Während sich aber im Christentum und bei Augustin diese Schutzfunktion durch die personale Verfassung des Gottesgedankens geradezu „zwanglos“77 , also mit einer gewissen Selbstverständlichkeit einstellt, erscheint dies bei Plotin, im Urteil von Habermas‘, irgendwie gekünstelt.78 Das ist höchst bemerkenswert. Denn leuchtet hier nicht die Vermutung auf, dass das absolut Transzendente, wie immer man es konzeptualisieren mag – oder eben gerade nicht! – am Ende einen Zug zum Personalen hat? Natürlich zieht Habermas diese Konsequenz wohlweislich nicht. Aber es ist doch bezeichnend, dass er etwa im Hinblick auf die philosophiegeschichtliche Einordnung und Bewertung von Augustins Denkweg und werkgeschichtliche Entwicklung zu einem sehr viel günstigeren Urteil gelangt, als das etwa bei Kurt Flasch 75 I, 555 (Hervorhebung F.v.D.). 76 I, 554. Vgl. hierzu Pannenberg: „Gott… ist P(erson), nicht Sache, weil er als unbekannte Macht über das Dasein wesenhaft undurchschaubar ist. Nicht zufällig personalisiert der archaische Mensch und heute noch das Kind alles ihm Wichtige, das nicht durchaus bekannt ist und also noch eine verborgene Innenseite hat… Was zumindest prinzipiell gänzlich verfügbar ist, wird dagegen zur Sache. Daher bleibt die Gottheit P(erson), solange sie sich nicht in eine kosmische Funktion auflösen läßt. Der biblische Gott ist wesenhaft P(erson), weil er immer neues, kontingentes Geschehen hervorbringt, stets unvorhersehbar handelt und darin die Unendlichkeit seiner Freiheit erweist.“ (Art. Person, in: 3 RGG Bd. 5, Sp. 230–235; Zitat: 232). 77 I, 555. 78 Habermas weist in Fußnote 89 auf der Seite 555 interessanterweise darauf hin, dass Dieter Henrich in mehreren Werken, angefangen in „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ (Frankfurt a.M. 1967), die „Probleme, die sich aus der Plotin‘schen Denkkonstellation ergeben haben (…) auf der nachkantischen Diskussionsebene wieder aufgegriffen hat“. Es ist bekannt, dass wiederum Wolfhart Pannenberg diese Problemkonstellation wiederholt thematisiert und sich dabei auf die genannten Werke von Henrich bezieht. (S. etwa Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988; Fichte und die Metaphysik des Unendlichen, in: Beiträge zur Systematischen Theologie Band 1, Philosophie. Religion. Offenbarung, Göttingen 1999, 32–44).
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in seiner einschlägigen „Einführung“ in Augustins Denken geschieht79 . Während Flaschs Darstellung darauf hinaus läuft, dass Augustin den anspruchsvollen, von ihm zunächst auch begangenen neuplatonischen, das heißt epistemisch geprägten Denk- und Heilsweg je länger je mehr durch die Rezeption biblisch-paulinischer Gehalte gewissermaßen korrumpiert, entdeckt Habermas bei Augustin wertvolle, gerade auch die philosophische Entwicklung weiterführende Impulse, die sich nicht zuletzt durch den Einfluss biblischer Gehalte auf Augustins Denken eingestellt haben. Nicht nur, dass er Augustin würdigen kann als den ersten, wenn man so will, „Geschichtsphilosophen“, der mit dem Blick auf ein Eschaton sich verabsolutierende politische Machtverhältnisse entmythologisieren und eine Neubestimmung philosophischer Grundbegriffe wie Zeit und Kontingenz einleiten kann; nicht nur, dass er der Augustinischen Formel credo ut intelligam eine hohe Sensibilität für den differenzierten Zusammenhang von Glauben und Wissen zubilligt; er erkennt in Augustin vor allem denjenigen, der dem griechisch inspirierten Denken unter Weiterführung Plotin’scher Ansätze den Bereich der Subjektivität eröffnet und damit eine philosophiegeschichtliche Wende einleitet, deren Auswirkungen bis in den linguistic turn des 20. Jahrhunderts hineinreichen: „Die Philosophie wird (…) aus der schon bei den Kirchenvätern einsetzenden Symbiose mit der Theologie verändert hervorgehen, und zwar bereichert um eine Form der Selbstreflexion, die sie nach dem Ende von Ontotheologie und Metaphysik in die Bahnen von Subjektund Sprachphilosophie lenken wird… (…) [I]ndem sich Augustin an dem dogmatischen Kern der christlichen Lehre mit Mitteln dieser Philosophie abarbeitet, öffnet er die griechische Metaphysik für einen dieser Denktradition fremden Heilsweg und macht dabei implizit deutlich, dass die ontologischen, auf sinnliche und abstrakte Gegenstände gerichteten Grundbegriffe jenen selbstreflexiven Erfahrungen unangemessen sind, die gläubige Personen im Umgang mit Gott, mit andern und mit sich selbst im geschichtlichen Horizont ihrer ungegenständlich, das heißt nur performativ gegenwärtigen Lebenswelt machen.“80 2.4 Der durch Duns Scotus eingeleitete Paradigmenwechsel Erschüttert schon Augustin „das Vertrauen künftiger Generationen in die Angemessenheit substanzmetaphysischer Grundbegriffe“81 so steht Duns Scotus in Habermas’ Darstellung am Beginn einer Entwicklung, die die hochmittelalterliche Symbiose von Glauben und Wissen nicht nur nachhaltig infrage stellt, sondern „wie unbeabsichtigt auch immer, eine kaum noch zu überbrückende Kluft zwischen
79 Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980 (2 1994). 80 I, 571. 81 I, 583.
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Glauben und Wissen aufreiß(t)“, die schließlich in das reformatorische, später als fideistisch apostrophierte Glaubensverständnis mündet, das die thomistische „Komplementarität von Glauben und Wissen nicht einmal nur durch die bloße Kompatibilität des Glaubens mit dem maßgebend gewordenen Wissen der modernen Wissenschaft“ ablöst82 , sondern sich zu einem „Gegensatz zwischen Theologie und Philosophie (vertieft)“83 . Der schottische „Doktor subtilis“ und der um eine knappe Generation jüngere Engländer Wilhelm von Ockham benutzen zwar nach wie vor die Grundbegriffe der aristotelischen Metaphysik. „Aber sie fühlen sich gedrängt, biblische Motive wie die Schöpfung aus dem Nichts und die Kontingenz der Welt oder Intuitionen wie die Unverwechselbarkeit der individuellen Person und den Gedanken eines neuen Anfangs in der Geschichte philosophisch zu begreifen – und dafür elastischere Begriffe einzuführen.“84 Sie leiten damit „den nach Augustin zweiten Schub einer philosophischen Aneignung, Assimilation und Übersetzung von kontrastierenden Glaubensmotiven“ ein85 . Generell schärfen die subtilen philosophischen Analysen des Scotisten ein Differenzbewusstsein nicht nur für die Endlichkeit des menschlichen Geistes überhaupt, sondern für die Grenzen hinsichtlich seiner Fähigkeit zur Gotteserkenntnis im Besonderen. Einerseits steigert sich bei ihm die Sensibilität für die seit Plato die Philosophie in Atem haltenden Frage der ontologischen Differenz, andererseits wird überraschenderweise der thomistische Analogiebegriff, der bisher den Unterschied zwischen Seiendem und Sein als solchem überbrückte, aufgesprengt und in seiner Insuffizienz entlarvt durch den Hinweis, dass ihm ein univoker Kern zugrunde liegen muss. Es zeigt sich, „dass Gott nur in einem sowohl Gott als auch dem Geschöpf univoken Begriff erkannt werden kann: Das trifft allein auf den abstrakten Begriff des ‚Seienden‘, aber nicht auf irgendein anderes Prädikat zu.“86 Gleichzeitig ist er als „transkategorialer Begriff “ für die Gotteserkenntnis „nicht besonders hilfreich. Denn er erlaubt keine Differenzierung zwischen Gott und Welt und ist erst recht indifferent gegenüber Unterscheidungen zwischen Prädikaten höherer Stufe“ (Eines/Vieles, Unendlichliches/Endliches, Notwendiges/Zufälliges).87 Habermas fragt nun, wie es zu erklären ist, „dass dieses destruktive Argument im Hinblick auf die Ausgangsfrage nach der Erkennbarkeit Gottes bei Duns Scotus nicht zu einer eindeutig skeptischen Konsequenz führt“?88 Dies ergebe sich daraus, dass Duns bei der „reflexiven Einstellung auf die Verwendung des Terminus ‚seiend‘ (…) auf ein Vorverständnis
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I, 763. I, 765. I, 763. I, 764. I, 775f. I, 776. Ebd.
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von so etwas wie Gegenständlichkeit überhaupt“ gestoßen sei, „das allen expliziten Urteilen über mögliche Eigenschaften eines beliebigen Gegenstandes vorausliegt.“89 In diesem Argument liege eine Tendenz zum Transzendentalismus, die den Scotisten zum Vorläufer und Wegbereiter der Kantischen Erkenntniskritik werden lasse, wobei es bei ihm selbst „die merkwürdig schillernde Bedeutung eines perfektibilistischen Vorgriffs auf das, was ‚über alles hinaus‘ ist“ trage. Denn „die reflexiv vergewisserte transkategoriale Allgemeinheit des Begriffs ‚Seiendes‘ deutet Duns Scotus so, dass dieses allen expliziten Urteilen vorausliegende Wissen eine Kenntnis des unendlichen Seienden schon einschließt.“90 Er erneuert damit die philosophische Gotteslehre auf einer nun nicht mehr metaphysisch vergegenständlichenden, sondern epistemologischen Ebene mit dem Hinweis, dass wir „‘immer schon‘ wissen (praeintelligere) müssen, um überhaupt etwas anderes explizit wissen zu können.“91 Mit der Betonung der personalen Natur Gottes bei Duns erhöht sich die Intuition für die göttliche Freiheit in seiner Schöpfung und infolgedessen auch für die freiheitliche Natur des Menschen, die in jener gründet, freilich mit der Möglichkeit, den guten Schöpferwillen Gottes willentlich zu verfehlen. Mit diesem Zug zum Voluntarismus tritt das theologisch-philosophische Problem der Vereinbarkeit von göttlicher Allmacht und menschlicher Freiheit in voller Schärfe zu Tage, mit dem Duns in seinem unvollendet gebliebenen System wiederholt ringt, ohne es einer schlüssigen Lösung zuführen zu können.92 Treffend hebt Habermas 89 I, 777 (Hervorhebung im Original). 90 I, 778 (Hervorhebung im Original). 91 Ebd. (Hervorhebungen im Original). Gunther Wenz arbeitet in seinem Beitrag zum dritten Band der Pannenbergstudien „Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie“ (hg. v. ders., Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017, 13–48) detailliert heraus, wie Pannenberg bereits in seiner Habilitationsschrift von 1955, die bis 2007 unveröffentlicht blieb, sozusagen fast alle Facetten der Erkenntnisse der Duns-Scotus-Forschung, auf die Habermas sich hier mit einer gewissen Selbstverständlichkeit positiv beziehen kann, vorwegnimmt (s. bes. 29–40). Im Hinblick auf die Wirkungsgeschichte der These von der Univokation des Seinsbegriffs stellt Pannenberg im Vorwort zur späten Veröffentlichung seines Frühwerkes fest: „Sie mag auf dem Wege über Wilhelm Ockham in der Tat mitverantwortlich sein für die moderne Wendung zur Epistemologie und zur Subjektivität, aber auch für die Erneuerung der philosophischen Theologie bei Descartes durch die These von der transzendentalen Priorität der Idee des ens infinitum vor aller Erfahrung endlicher Inhalte.“ (W. Pannenberg, Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis, Göttingen 2007, 5; zit. n. G. Wenz, a.a.O., 37). Und im Nachwort stellt er fest, dass „der Gedanke des Seins als Urintention des Intellekts in der Folgezeit immer wieder mit dem des Unendlichen und so auch mit dem Gottesgedanken verbunden worden“ sei, besonders bei René Descartes, bei dem der Gedanke des Unendlichen noch nicht, wie in der Neuzeit bei Schleiermacher und Hegel, vom Seinsbegriff losgelöst, sondern wie bei Duns mit diesem verbunden bleibe (a.a.O., 213; zit. n. G. Wenz, a.a.O., 38). 92 S. dazu W. Pannenbergs Dissertationsschrift: Die Prädestinationslehre des Duns Skotus im Zusammenhang der scholastischen Lehrauffassung, Göttingen 1954; dazu G. Wenz: „Bemerkenswerterwei-
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die damit ebenfalls verbundene Zuspitzung der ethischen Frage hervor: „Dem von allen natürlichen Strebungen abgelösten und insofern ‚bodenlos‘ sich selbst bestimmenden Willen wird zugemutet, dass er sich von dem normativ verbindlich Erkannten binden lässt. Mit dieser – aus Gott begründeten – Selbstbindung an ein absolut Gesolltes treten Vernunft und Wille im endlichen Geist in eine andere Konstellation als in Gott, ohne jedoch das voluntaristische Moment einer von der Natur unabhängigen Entscheidung ‚aus freien Stücken‘ zu beeinträchtigen.“93 Im Horizont erscheint so bereits bei Duns Scotus Kants kategorischer Imperativ. 2.5 Kant und die Frage nach der motivierenden Kraft guter Gründe Habermas sieht in den subtilen Differenzen zwischen Duns Scotus und Wilhelm von Ockham bereits die Wegscheide nachmetaphysischen Denkens vorgezeichnet, die sich exemplarisch verdichtet im „epochemachenden Gegensatz“ zwischen dem Empirismus David Humes und dem Transzendentalismus Immanuel Kants, „in dem sich wiederum konträre Einstellungen der Philosophie zum Menschheitserbe der Religion ausdrücken“.94 Während nämlich auf der einen Seite „der erkenntnistheoretische Strang des Empirismus in das Weltbild eines szientistischen Naturalismus (mündet)“, der die religiösen Überlieferungen christlichen Erbes erfahrungswissenschaftlich dekonstruiert bzw. reduziert, eröffnet auf der anderen Seite „die Begegnung der Transzendentalphilosophie mit dem neuen ästhetischen Empfinden und einem von den hermeneutischen Geistes- und Sozialwissenschaften geförderten säkularisierten Geschichtsbewusstsein“ die Möglichkeit, an einem „philosophisch geklärten Welt- und Selbstverständnis festzuhalten“, welches die religiösen Gehalte vernünftig rekonstruiert.95 Trotz des Eingeständnisses, dass beide Wege mit Schwierigkeiten behaftet sind, die „schließlich Antworten provozieren, die noch heute die Konstellation der zeitgenössischen Philosophie beschäftigen“96 , lässt Habermas keinen Zweifel daran, welcher der beiden Optionen postmetaphyischen Denkens er zuneigt. Er zeigt sich beeindruckt von der Art und Weise, wie „Kant das religiöse Erbe von Gewissen, verpflichtender Gesetzgebung, individueller
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se wertet Pannenberg die scotistische Aporie nicht negativ, sondern als Ort produktiver Erkenntnis, von dem her sich neue Horizonte gerade deshalb erschließen, weil bestehende Probleme nicht in überkommener Manier beseitigt, sondern offengehalten werden. Duns wolle beides, die Freiheit Gottes und des göttlichen Willens, der ein Wille des Heiles und der Güte sei, in antipelagianischer Absicht unmissverständlich herausstellen und zugleich einen theologischen Determinismus naturkausaler Art strikt vermeiden.“ (s. a.a.O., [Fn. 91], 26). I, 798 (Hervorhebungen im Original). I, 764. II, 207f. II, 208.
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Selbstbindung und Urteilskraft in die Sphäre der Vernunft einholt“97 und arbeitet den positiven Anschluss Kants etwa an Luthers Rechtfertigungslehre überzeugend heraus.98 Als die größte Herausforderung des von Kant eingeschlagenen und von Habermas selbst verfolgten Weges „erweist sich die Motivationsschwäche einer vernünftigen, also kognitivistisch begriffenen Moral, der nicht nur von Haus aus die Antriebskraft des religiösen Heilsversprechens fehlt“, sondern die auch mit einer Aufgabe überfordert wird, deren „Ziel ohne göttliche Intervention nicht einmal gedacht werden kann“, weshalb er, wie hinlänglich bekannt, die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele als Postulate der praktischen Vernunft einführt, die „in einem ambivalenten Sinn ‚für wahr (zu) halten‘“ sind.99 Habermas schließt hier sogleich die Frage an, ob „der schillernde Modus“ eines „Für-wahrHaltens“ unter Prämissen nachmetaphysischen Denkens einleuchten kann, nur um unmissverständlich festzustellen, „dass der Kredit, den Kant der Postulatenlehre einräumt, nicht gedeckt ist.“ Denn: „Für das ‚Interesse der Vernunft‘ am Fortschreiten der Menschheit zum moralisch Besseren ist die Vernunftmoral allein eine zu schmale Basis.“100 So erkennt Habermas von Anfang an „Risse in der dualistischen Architektonik des Kantischen Systems“, die freilich schon vorausweisen „auf die philosophische Relevanz und Sprengwirkung der aufsteigenden Geistes- und Sozialwissenschaften (…), von denen die Motive zu einer Detranszendentalisierung der Vernunft ausgehen werden.“101 Gleichwohl hält Habermas Kants „völlig neues“ Konzept einer vernünftigen Freiheit, in der Freiheit und vernunftbedingte Einsicht als gleichursprünglich gedacht werden, für epochal und in gewisser Weise unübertroffen. In ihm macht er nämlich einsichtig, „dass wir aus freiem Willen handeln,
97 II, 211. 98 II, 324ff. Während Pannenberg die epochale Bedeutung Kants nicht in Zweifel zieht, steht er der positiven Rezeption der Kant’schen kritischen Philosophie, wie sie in der protestantischen Theologie seit Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts über unterschiedliche theologische Lager hinweg üblich war („das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“), sehr skeptisch gegenüber. So sehr er das Verdienst Kants hervorheben kann, dem metaphysischen Theismus die Grundlage entzogen, die Möglichkeit der Gottesbeweise destruiert und damit den Gottesgedanken vor einer vernunftmäßigen Vereinnahmung bzw. Verkürzung bewahrt zu haben (vgl. MuG, 18), so sehr sieht er bei Kant endgültig denjenigen Subjektivismus am Werke, der dem Gottes- und damit auch dem Weltbegriff die vernünftige Plausibilität entzieht. Übrig bleibt „die Absolutsetzung des endlichen Ich… Damit trat bei Kant tatsächlich ein, was die konventionelle Philosophiegeschichtsschreibung irrtümlich Descartes zugeschrieben hat: Erst Kant hat tatsächlich das Ganze der Erfahrung auf die Einheit des cogito zu begründen versucht statt auf den Gedanken Gottes.“ (ThuPh, 202; vgl. insgesamt zur Bedeutung Kants für die Theologie: ThuPh, 174–215). 99 II, 332f. 100 II, 333. „So schießt“, wie Habermas treffend feststellt „die eschatologische Vorstellung vom Gottesvolk, das für die Gründung eines Reiches Gottes auf Erden kämpft, über alles hinaus, was Kant in moralphilosophischen Begriffen vernünftig einholen kann.“ (II, 357). 101 II, 334.
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wenn wir unsere Willkür an Gesetze binden, die wir uns aus eigener praktischer Einsicht selbst gegeben haben.“102 Damit hat er im Urteil von Habermas zumindest „einen bis heute überzeugenden Weg“ zur Lösung des Problems gewiesen, das darin besteht, was „nach der metaphysikkritischen Entkoppelung des Wissens vom Glauben (…) an die Stelle der Autorität des göttlichen Willens und seiner Gesetze treten (konnte), um die Bindungskraft moralischer Normen zu begründen“.103 Freilich: auch eine vernünftige Freiheit, die nicht mehr wie bei Kant einem weltenthobenen intelligiblen Ich, sondern einer intersubjektiv verfassten und lebensweltlich verbundenen Gemeinschaft selbständiger Individuen zugeschrieben wird, die sich miteinander in einem offenen Diskurs darüber verständigen, an welche Gesetze sie sich sinnvollerweise freiwillig binden wollen, stößt wiederholt „auf die Verlegenheit des säkularen nachmetaphysischen Denkens, eine vernünftige Erklärung für normative Bindungskräfte zu finden, die ursprünglich vom sakralen Komplex gezehrt hatten.“104 Es drängt sich die Frage auf, „was uns zu dieser Selbstbindung motiviert – wenn nicht jenes kategorische Sollen selbst, das über die schwache Kraft rational motivierender Gründe hinausschießt.“105 Und Habermas scheut sich nicht, „in dem ‚Überschuss‘ des unbedingten Sollens und der absoluten Pflicht verwehte Spuren des Sakralen zu vermuten.“106 So bleibt die Frage letztendlich offen, „ob und in welchem Maße die motivierende Kraft guter Gründe die sakrale Bindungskraft göttlicher Gebote ersetzen kann.“ Insgesamt drängt sich dem Leser der Eindruck einer tief empfundenen Nachdenklichkeit, ja einer gewissen Verlegenheit bei Habermas auf im Hinblick auf das Unterfangen der Begründung einer profanen Ethik. Dies weniger im Hinblick auf eine theoretische Plausibilisierung innerhalb einer soziologischen Gesellschaftstheorie, die er nach wie vor engagiert vorträgt im Zusammenhang seines erstaunlichen Lebenswerkes. Allein ihm scheint der Glaube zu fehlen oder zumindest zu schwinden, dass diese anspruchsvolle Theorie sich im Praktischen tatsächlich auf Dauer im gesellschaftlichen Bewusstsein verankern lässt.107 Auch das ist bemerkenswert. Habermas schließt seine Genealogie nachmetaphysischen Denkens mit dem denkwürdigen Fazit: „Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom
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II, 343 (Hervorhebungen im Original). II, 344f (Hervorhebungen im Original). II, 347. II, 803. II, 804. Vgl. dazu die Bemerkung Pannenbergs: „Die Krise des moralischen Normbewusstseins scheint eher dafür zu sprechen, daß die Verbindlichkeit moralischer Normen doch in höherem Maße von der Religion abhängig ist als es die Autonomiethese der praktischen Philosophie Kants wahrhaben wollte.“ (ders., Religion und Metaphysik, in: Beiträge zur Systematischen Theologie Band 1, Philosophie. Religion. Offenbarung, Göttingen 1999, 45–57; Zitat: 47).
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Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein, solange sich dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert und damit eine gegenwärtige Gestalt des Geistes behauptet. (…) Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt“.108
3.
Einwanderung ins Profane oder Entlassung in Säkularität?
„Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“109 Jürgen Habermas zeigt sich fasziniert von diesem enigmatischen Satz Adornos, an dessen Leitfaden er „den Prozess der ‚Einwanderung‘ theologischer Gehalte ins profane Denken als einen philosophisch nachvollziehbaren Lernprozess darzustellen“ versucht hat. Die Rede von der Einwanderung ins Profane zeigt eine verblüffende Nähe zu einer Randbemerkung Pannenbergs in seinem programmatischen Aufsatz zur Theologie der Religionsgeschichte von 1962. Dort stellt er fest: „Es ließe sich zeigen, daß es zur Offenbarung des unendlichen Gottes durch Jesus Christus gehört, daß der Gegensatz von Heilig und Profan selbst negiert wird, da gerade die Heiligung der Welt für diesen Gott nur durch ihre – recht zu verstehende – Entlassung in ihre Säkularität geschehen kann.“110 Die frappierende inhaltliche Nähe kann freilich über die jeweils unterschiedlichen Perspektiven nicht hinwegtäuschen. Habermas beschreibt, wie könnte es anders sein, das Phänomen einer aus religiösen Ursprüngen ins Profane einwandernden Vernunft aus einem philosophiegeschichtlichen bzw. soziologischen Blickwinkel, dessen partielle Berechtigung und Aussagekraft nicht angezweifelt zu werden brauchen. Pannenberg spricht dagegen im Hinblick 108 II, 807. 109 T. W. Adorno, Vernunft und Offenbarung, in: ders., Stichworte, Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M. 1969, 20–28, hier: 20, zit. n. II, 806. Das nachvollfolgende Zitat ebd. (Hervorhebung im Original). 110 Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte; in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967 (2 1971), 252–295, hier: 290 (Fn. 56; Hervorhebungen F.v.D.; der erstmals 1967 veröffentlichte Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines bereits 1962 gehaltenen Vortrags im Rahmen einer Tagung von Altorientalisten, Altphilologen und Althistorikern, vgl. a.a.O., 252, Fn. 1). Unter Bezug auf Peter Gordon bezeichnet Habermas Adorno als den Autoren, der (neben Walter Benjamin und Max Horkheimer) „die negativistische Arbeit an der ‚restlos‘ profanisierenden Transformation der noch unabgegoltenen theologischen Gehalte am konsequentesten betrieben hat.“ (II, 806, Fn. 22; Hervorhebung F.v.D.)
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auf das Phänomen der Säkularisierung im Prozess der Religionsgeschichte von einer Entlassung und nimmt damit eine dezidiert theologische Perspektive ein, die damit ernst macht, „dass eine Deutung religiöser Erfahrungen und Vorstellungen ihnen (der Wirklichkeit der Götter – und Gottes; F.v.D.) daher nur unter der Bedingung gerecht werden können, daß sie das religiöse Leben einerseits nicht als bloßes Epiphänomen profaner – psychischer oder sozialer – Vorgänge deutet und andererseits nicht als Äußerung einer unabhängig von der Geschichte ihres Erscheinens vorhandenen Gottheit. (…) Gerade die Wandlungen der religiösen Phänomene (inklusive ihrer allmählichen Profanisierung; F.v.D.) werden nur verständlich als Ausdruck des im Dasein der Menschen – in welcher Gestalt auch immer – vorausgesetzten göttlichen Geheimnisses in seiner Strittigkeit.“111 Das bedeutet, dass Pannenberg die göttliche Wirklichkeit, christlich gesprochen: den dreieinigen Gott, als eigentlichen Agenten hinter dem Prozess der Profanisierung innerhalb der Religionsgeschichte entdeckt, zu dessen geheimnisvollen, unendlichen Wesen es gehört, Endliches in seiner Endlichkeit als freies Gegenüber zu ihm nicht nur irgendwie zu dulden, sondern liebend ins Dasein zu rufen und entsprechend seinem Schöpfungswillen in die Freiheit der Gemeinschaft mit ihm zu entlassen. Zu diesem Endlichen gehört auch der Mensch und seine begrenzte Vernunft, die ihn freilich in ihrem beständigen Ausgreifen über jegliche Grenze indirekt an die göttliche unendliche Wirklichkeit verweist. Damit ergibt sich aus theologischer Betrachtung auch eine fundamental andere Beschreibung für die differenzierte Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen bzw. Vernunft, um die es Habermas in seiner Genealogie nachmetaphysischen Denkens ja geht. Pannenberg bezieht sich auf den differenzierten Zusammenhang von „Glaube und Vernunft“ etwa in dem frühen gleichlautenden Artikel von 1965.112 Dort stellt er in weitgehender Übereinstimmung mit den Ergebnissen der detaillierten Analysen von Habermas fest: „[D]ie Spannung zwischen Glaube und Vernunft hat sich in der Neuzeit, trotz aller Versöhnungsversuche, zum Gegensatz verschärft und ist schließlich vielfach zerbrochen und hat sich in ein beziehungsloses Nebeneinander verwandelt.“ Im Gegensatz zu Habermas macht Pannenberg aber engagiert darauf aufmerksam, dass dieses Resultat der abendländischen Geistesgeschichte kein irreversibles, letztlich unhinterfragbares Faktum darstellt, sondern um der Vernunft und ihrer Freiheit willen sehr wohl infrage gestellt werden sollte. Denn es ist in Pannenbergs Argumentation die göttliche, alles bestimmende Wirklichkeit, der gegenüber der Mensch sich in glaubendem Vertrauen als seiner Zukunft öffnet, die letztendlich eine vernünftige Freiheit des Menschen überhaupt ermöglicht. Im Hinblick auf das Verhältnis von Glaube und Vernunft
111 A.a.O., 289. 112 Glaube und Vernunft; in: GSTh 1, 237–251. Anschließendes Zitat: 238.
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bedeutet das nicht zuletzt die Notwendigkeit einer Umkehrung des wirkmächtigen neuzeitlichen Narrativs, das auch Habermas auf seine Weise bemüht: Dass nämlich angeblich nur religiöse Gehalte dazu neigen, sich zu verkapseln und dementsprechend in einem produktiven Prozess der Aufbrechung entmythologisiert bzw. in profanes Wissen säkularisiert werden müssten, um vernünftig angeeignet werden zu können. Weltwissen und die menschliche Vernunft schlechthin neigen doch nicht weniger dazu, sich zu verkapseln und in unzulässiger Weise absolut zu setzen. Es ist verräterisch, wenn Habermas, wie bereits zitiert, schreibt: „Weltbilder sind, weil sie nur so lange ‚bestehen‘, wie sie geglaubt werden, also die Angehörigen überzeugen können, für ‚Wahrheitsfragen‘ empfindlich.“113 Interessant an dieser Formulierung ist der Zusammenhang von „Weltwissen“, das sich in Weltbildern abbildet, die aber – wenn wir Habermas richtig verstehen – sozusagen geglaubt werden müssen, um so lange bestehen zu können, bis sie durch erneuten Zuwachs an Wissen zurecht und notwendig überwunden werden. Das „Wissen“ ist hier offensichtlich das jeweils nach vorwärts strebende, revolutionierende Moment, der Glaube das bewahrende, stabilisierende, das – so dienlich und unvermeidbar es sein mag – sich am Ende doch als irgendwie defizitär, als der Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht angemessen erweist. Es fragt sich, ob Formulierungen wie diese nicht doch ein Stück weit offenbaren, dass Habermas, bei allem Willen, Philosophie und Religion als zwei Größen auf Augenhöhe zu betrachten, im Kern einem altbekannten Schema der klassischen Aufklärung verhaftet bleibt.114 Demgegenüber plädiert Pannenberg dafür, dass die menschliche Vernunft durch den Glauben immer wieder in eine eschatologische Perspektive hineingestellt werden muss, um sich nicht in unguter Weise zu verabsolutieren115 , ebenso wie jeder Begriff letztendlich nur Vorgriff ist auf eine Wirklichkeit, deren Wahrheit sich erst zukünftig herausstellen wird.116 In dieser veränderten Sichtweise erhielte auch Habermas‘ sicherlich wohlmeinende Erinnerung der Kirchen daran, sich auf ihre „Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz“ zu stützen und so ein „Pfahl im Fleisch der Moderne“ zu bleiben117 , mehr Glaubwürdigkeit. Denn diese beharrlich von Habermas eingefor-
113 I, 142 (Hervorhebungen im Original). 114 So hat Ingolf Dalferth es ihm in scharf formulierter Kritik in seiner Besprechung des Werkes in der Theologischen Literaturzeitung vorgeworfen: ThLZ 145, 3/2020, Sp. 231–238. 115 S. dazu Pannenbergs detaillierte Besinnung auf das geschichtliche Wesen der Vernunft in dem oben erwähnten Aufsatz (s. Anm. 112). Er stellt abschließend fest: „Nicht erst der Glaube hat ein Verhältnis zur Zukunft, indem er vorgreift als Vertrauen auf das Künftige, Unsichtbare. Sondern schon für die in ihrer offenen Geschichtlichkeit gedachte Vernunft ist der Vorgriff auf eine letzte Zukunft konstitutiv, weil erst aus dem nur eschatologisch (weil zeitlich) konstituierten Ganzen die definitive Bedeutung alles Einzelnen sich ergibt, die wir so selbstverständlich den Dingen und Ereignissen zusprechen, indem wir sagen, was diese oder jene Sache ist.“ (A.a.O., 250). 116 Vgl. W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 66–79. 117 II, 807.
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derte kirchliche Performanz bleibt in seiner Konzeption von Glauben und Wissen merkwürdig irrational, ja geradezu grotesk – wie ein heiliges Spiel, das zwar niemand mehr versteht, aber irgendwie doch gebraucht wird. Wie kann Pannenberg treffend feststellen: „Durch solche Kompensationsfunktion überlebt Religion in Gestalt subjektiven Engagements und trägt sogar zur Stabilisierung der öffentlichen Ordnung bei, die der Religion die Anerkennung ihres Anspruchs auf allgemeine Wahrheit verweigert. In solcher Kompensationsfunktion erfüllt die Religion dann tatsächlich diejenige Funktion, die Marx anschaulich durch die Formel vom ‚Opium fürs Volk‘ beschrieben hat: Sie entschädigt für die Versagungen, die die moderne, säkulare Kultur den Individuen auferlegt“.118 Wir brauchen Habermas nicht zu unterstellen, dass er Religion tatsächlich auf diese Marx’sche Kompensationsfunktion reduzieren will. Das wäre unfair. Aber er muss vielleicht daran erinnert werden, dass er in seinem guten Willen bisweilen nicht weit davon entfernt ist. Nicht die – am Ende stur oder gar stupide vollzogene (ex opere operato!) – religiöse Praxis kann für das Nicht-Versiegen der sakralen Quellen garantieren, sondern sie verweist eben beständig auf die transzendente Quelle, der sie sich verdankt: Die wahre, göttliche Wirklichkeit. Die Differenz zwischen beidem kennzeichnet nach Pannenberg die religiöse Erfahrung: „Wo immer ein Kultus auftritt, ist jedenfalls schon eine Differenz zwischen der Alltagswelt und der wahren Wirklichkeit, die durch die kultische Begehung in Erscheinung tritt, gesetzt, ebenso wie die Aufhebung dieser Differenz im kultischen Geschehen selber.“ Und diese Differenz ist zeitlich strukturiert: „[D]ie Differenz zwischen Heiligem und Profanem (gehört) mit der Temporalität der religiösen Erfahrung zusammen(…).“119 Das für Habermas letztlich rätselhaft bleibende Nicht-Versiegen der sakralen Quellen findet nach Pannenberg seine eigentliche Erklärung in der Unendlichkeit Gottes, die biblisch gesprochen als seine Heiligkeit zu benennen ist: „In diesem Sinne ist die Heiligkeit Gottes wahrhaft unendlich, weil sie dem Profanen entgegengesetzt ist, aber zugleich in die profane Welt eingeht, in sie eindringt, um sie zu heiligen“.120 Hinter dem fortwährenden Prozess der Profanisierung, der Habermas beschäftigt, steht somit in Pannenbergs Perspektive – also unter dem Paradigma der aus der Zukunft kontingent in die geschöpfliche Gegenwart/Realität einbrechenden Wirklichkeit Gottes, deren eschatologische Vollendung in der Auferstehung Jesu bereits im Voraus erschienen ist – das trinitarische Gottesgeschehen. Die – recht zu verstehende – Entlassung in Säkularität ist somit letztendlich – aus der umgekehrten Perspektive
118 W. Pannenberg, Das Heilige in der modernen Kultur; in: ders., Beiträge zur systematischen Theologie Band 1. Philosophie. Religion. Offenbarung, Göttingen 1999, 11–26, hier: 15. 119 W. Pannenberg, Zeit und Ewigkeit in der religiösen Erfahrung Israels und des Christentums, in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Band 2, Göttingen 1980, 188–206; hier: 190. 120 W. Pannenberg, Systematische Theologie Band 1, Göttingen 1988, 432.
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der Zukunft in die Gegenwart hinein betrachtet – eine Heiligung des Profanen.121 Dieser Prozess bezeichnet in Pannenbergs Konzeption freilich vom Zielgedanken her eine Theonomie, die mit der Autonomie des Menschen und seiner tatsächlich verwirklichten Freiheit zusammenfällt.122 121 Vgl.: „Der Schlüssel für den Zusammenhang von Ewigkeit und Zeit liegt (…) bei der Bedeutung der Zukunft für das Verständnis des zeitlich Existierenden. Durch die Zukunft tritt die Ewigkeit in die Zeit ein. Aus der Zukunft gehen immer wieder neue, kontingente Ereignisse hervor, und andererseits kann alles Existierende nur aus der Zukunft die mögliche Ganzheit seines Daseins erwarten und empfangen. Alle Dinge gehen dem Reiche Gottes entgegen, aber Gottes Herrschaft wirkt auch immer schon aus seiner Zukunft in die Gegenwart der Geschöpfe hinein. Aus der Sicht der Geschöpfe kehrt sich dieses Verhältnis um. Die Zukunft wird zum Feld der Extrapolation des Gegenwärtigen und aus der Vergangenheit Bekannten.“ (W. Pannenberg, Theologie der Schöpfung und Naturwissenschaft, in: Beiträge zur Systematischen Theologie Band 2, Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung, Göttingen 2000, 30–42; Zitat: 41) 122 Pannenberg wird aber nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass der – in diesem Falle falsch verstandene – Prozess der Säkularisierung auch verheerende gesellschaftliche Auswirkungen nach sich ziehen kann: „Die Frage ist nicht mehr, wie lange es noch Religionen geben mag oder wann die Religion ganz abstirbt. Die Frage ist heute eher, wie lange eine säkulare Gesellschaft überleben kann, die sich von ihren religiösen Wurzeln gelöst hat. Die Religion wird darum nicht verschwinden. Denn jedenfalls die Weltreligionen leben gerade auch von der Erfahrung des Scheiterns und Untergangs der Herrschaftssysteme dieser Welt.“ (Religion und menschliche Natur, in: ders., Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Beiträge zur Systematischen Theologie Band 2, Göttingen 2000, 260–270, Zitat: 268). Gerade was den Legitimationsverlust von Recht und politischer Ordnung/Herrschaft anbetrifft, nimmt er damit bereits 1986 (Erstveröffentlichung des Aufsatzes) Entwicklungen in den Blick, deren Unbestreitbarkeit heute als evident gelten können: „Die Ablösung des modernen Staates von der Religion als Maßstab seiner Ordnung führt in der Konsequenz (…) zur Unglaubwürdigkeit des Rechtes politischer Herrschaft überhaupt. Das ist der Legitimationsverlust des säkularen Staates, aber auch anderer Institutionen der säkularen Gesellschaft. Die schleichende Aushöhlung der Verbindlichkeit dieser Institutionen im Bewußtsein des Bürgers führt sicherlich nicht sofort zu ihrem Zusammenbruch. Die Institutionen funktionieren ja noch so einigermaßen. Den Bürgern geht es im Durchschnitt nicht allzu schlecht dabei, und so lange besteht keine akute Gefahr, daß das Gesellschaftssystem zusammenbricht. Aber ein solches System wird anfällig für Zeiten außergewöhnlicher Belastungen, mögen sie von innen – etwa von einer nachhaltigen Verschlechterung der Wirtschaftslage her – kommen oder von außen. Die schleichende Legitimationskrise des säkularen Staates und seiner Rechtsordnung mag zunächst nicht mehr bedeuten als ein Wölkchen am Horizont. Dennoch stellt sie die Annahme in Frage, daß eine von ihren religiösen Wurzeln gänzlich abgelöste Gesellschaftsordnung auf die Dauer bestehen könnte.“ (Ebd. 266f). Damit ist die Frage in den Raum gestellt, inwiefern Religion auf Dauer auf den Raum des Privaten beschränkt werden kann bzw. sollte, wie es heute zur Selbstverständlichkeit geworden ist; und natürlich die viel weitergehende und sehr brisante Frage, wie religiöse Institutionen (wie etwa die beiden Großkirchen in Deutschland) einen Beitrag zur Legitimation politischer und gesellschaftlicher Ordnung leisten können, ohne selbst politisch/gesellschaftlich instrumentalisiert zu werden bzw. sich in unguter Weise an menschlicher Macht- und Herrschaftsausübung zu beteiligen, deren verheerende und das Evangelium verdunkelnde Folgen kirchengeschichtlich nur allzu deutlich vor Augen stehen. Die Rolle der Kirchen kann hier wohl nur darin bestehen, beständig darauf hinzuweisen, dass menschliche Institutionen und Herrschaftsformen zwar generell nötig,
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grundsätzlich förderlich (sofern sie das Wohl Aller und vor allem der Schwächsten nicht aus dem Blick verlieren) und unvermeidbar sind, in der Perspektive des Reiches Gottes aber immer wieder transzendiert und relativiert werden müssen, wie Pannenberg dies in seiner Ekklesiologie und Ethik programmatisch dargelegt hat (vgl. etwa: Reich Gottes, Kirche und Gesellschaft in der Sicht systematischer Theologie, in: Beiträge zur Ethik, Göttingen 2003, 23–37).
Paul Schroffner
Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis Zur Bedeutung der Religionen als Wege der Gotteserkenntnis bei Wolfhart Pannenberg und Karl Rahner
Einleitung Schon der Untersatz des Titels macht deutlich, dass es in diesem Beitrag nicht um eine Klärung des Religionsbegriffes und seiner komplexen Geschichte gehen kann. Das Faktum der Pluralität konkreter geschichtlich gewachsener Religionen stellt die christliche Theologie allerdings vor die Herausforderung, ihren Wahrheitsanspruch zu rechtfertigen und sich dabei zugleich zu fragen, ob andere Religionen als Wege einer positiven Gottesbegegnung oder als Orte der Gotteserkenntnis gedeutet werden können. Damit wird der Begriff Gottes von Anfang an in eine Beziehung zur religiösen Erfahrung gesetzt, ohne dass daraus schon ableitbar wäre, wer oder was dem Menschen dabei konkret begegnet.1 Aus christlich-theologischer Sicht ist der Religionsbegriff eng mit der Gotteserkenntnis und folgerichtig mit der Offenbarung Gottes verbunden.2 Die kritische Auseinandersetzung mit der Religion bzw. den Religionen als mögliche Orte der Gottesbegegnung führt somit zu grundlegenden Fragen, die das Verhältnis von philosophischer Reflexion und religiösem Glauben3 ebenso wie dasjenige von Religion und Offenbarung berühren. Während Rahner beim Menschen als möglichem Hörer eines von Gott her ergehenden Wortes ansetzt4 und darauf aufbauend seine Thesen zum anonymen Christsein sowie eine knappe Skizze zu einer Theologie der Religionen5 entwickelt, knüpft Pannenberg in seiner Religionstheologie an die programmatische These, Offenbarung als Geschichte zu deuten, an.6 Beide Theologen
1 Vgl. STh I, 77. 2 Vgl. STh I, 12; 136 u. 207. 3 Vgl. G. Sans, Wie weit kann die Philosophie der Religion vorgreifen? Karl Rahner und Wolfhart Pannenberg, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg (PSt 2), Göttingen 2016, 197−211. 4 Vgl. K. Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, in: KRSW 4, 1−281. Alle Texte von Rahner werden nach der Ausgabe der Sämtlichen Werke (KRSW) zitiert. 5 Vgl. dazu einführend I. Sanna, Der Beitrag Karl Rahners zur Theologie der Religionen, in: ThQ 185 (2005), 286−302. 6 Vgl. W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. / R. Rendtorff / T. Rendtorff / U. Wilckens, Offenbarung als Geschichte, Göttingen 5 1982, 91−114. Siehe dazu die
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suchen nach Wegen, den christlichen Glauben in eine plurale Welt hinein zu vermitteln. Sie greifen dabei auf unterschiedliche Argumentationsstrategien zurück, die wesentlich von ihrer intellektuellen Herkunft mitbestimmt sind, aber dennoch einige interessante Berührungspunkte aufweisen – was nicht zuletzt daran ersichtlich wird, dass Pannenberg in seinen Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte7 wiederholt kritisch auf Rahner Bezug nimmt.8 Bevor wir aber die beiden Entwürfe zu einer Religionstheologie skizzieren und miteinander ins Gespräch bringen können, sollen in einem ersten Schritt die wesentlichen Grundzüge von Rahners transzendentalem und von Pannenbergs geschichtlich-hermeneutischem Verständnis von Offenbarung umrissen werden.
1.
Offenbarung in Geschichte versus Offenbarung als Geschichte
Wenn Rahner im ersten Gang seines Grundkurses des Glaubens die „existentialontologische Frage“9 nach einem möglichen Hörer der christlichen Botschaft aufwirft, ist damit zugleich die komplexe Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie gestellt. Der Mensch als geschichtlich verfasstes Wesen ist aus Sicht Rahners immer schon – wenn auch unthematisch – mit dem göttlichen Angebot der Gnade und mit der christlichen Botschaft konfrontiert10 , so dass eine „absolut theologiefreie Philosophie […] für unsere geschichtliche Situation“11 gar nicht denkmöglich ist. Umgekehrt gilt für die Theologie aber auch, dass sie eine philosophische Anthropologie impliziert, „die diese gnadenhaft getragene Botschaft als eigentlich philosophisch zu vollziehende freisetzt und der eigenen Verantwortung
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knappe Skizze bei J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II: Das 20. Jahrhundert (UTB 5060), Tübingen 2018, 672f sowie weiterführend F. Körner, Christus und die Andersgläubigen. Religionstheologie nach Wolfhart Pannenberg, in: G. Wenz (Hg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs (PSt 6), Göttingen 2020, 257−283; hier: 261−267. Vgl. dazu einführend R. Bernhardt, Inter-Religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen (BThR 16), Zürich 2019, 270−273. Vgl. W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: GSTh 1, 252−295; bes. 282−286. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, in: KRSW 26, 1−442; hier: 29. Vgl. KRSW 26, 30. Dort heißt es: „Auch die ursprünglichste, sich in sich selbst gründende und transzendentalste Philosophie des menschlichen Daseins geschieht immer nur in geschichtlicher Erfahrung. Ja, sie ist selbst ein Moment an der Geschichte des Menschen, kann also nie so betrieben werden, als habe der Mensch nicht jene Erfahrung (mindestens dessen, was wir Gnade nennen, auch wenn diese selbst nicht noch einmal reflektiert und als solche erfaßt und objektiviert zu sein braucht) gemacht, die eben die des Christentums sind“ (herv. K. R.). KRSW 26, 30.
Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis
des Menschen überantwortet.“12 Das hier nur angedeutete komplexe Verhältnis von Philosophie und Theologie legt nahe, die dabei entstehenden Dynamiken analog zu denjenigen von Natur und Gnade zu denken.13 Bereits in Hörer des Wortes hat Rahner eine sich selbst in rechter Weise verstehende Philosophie als praeparatio evangelii14 bezeichnet. Als spezifische Form der Religionsphilosophie, die bewusst bei allgemeinen epistemologischen Prinzipien und bei der Geistnatur des Menschen anknüpft, ist sie eng mit einer metaphysischen Anthropologie verbunden. Man kann mit Rahner festhalten, dass Religionsphilosophie „ihrem wahren und vollen, inhaltlich bestimmten Begriff [nach] nichts anderes […] als […] fundamentaltheologische Anthropologie“15 sein will, der es primär um die Frage der „Konstitution des Menschen als eines Horchenden auf eine mögliche Offenbarung Gottes“16 geht. Die darauf aufbauende fundamentalanthropologische Argumentationsfigur würde auch dann ihren Geltungsanspruch nicht verlieren, wenn sich Gott nur im Schweigen kundgegeben hätte oder der Mensch, der Geist und geschichtliches Wesen ist17 , sich entgegen seiner grundlegenden Offenheit für die Welt und für Gott in sich selbst verschließen wollte. In der Doppelstruktur des Menschen als gleichermaßen transzendenzoffenem und geschichtlichem Wesen liegt nach Rahner der Grund seiner Ansprechbarkeit für eine mögliche Selbstmitteilung Gottes, die als solche an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit in der Geschichte erfolgt. In der Offenbarung teilt sich Gott dem Menschen auf eine Weise mit, die dieser als Angesprochener nicht schon kraft eigener Einsicht erschließen kann.18 Er hat aber als „Wesen der Transzendenz“19 die Fähigkeit zu horchen, ob Gott nicht etwa spreche und sich in der Geschichte offenbare, weil er weiß, dass Gott ist. Umgekehrt kann Gott sich dem Menschen mitteilen und sich ihm offenbaren, „weil er der Unbekannte ist.“20 Im Gegensatz zum religionsphilosophischen Ansatz Rahners, der zwischen einer transzendentalen und einer geschichtlichen Seite der Offenbarung unterscheidet
12 KRSW 26, 30. 13 Vgl. M. W. Worthing, Foundations and Functions of Theology as Universal Science. Theological Method and Apologetic Praxis in Wolfhart Pannenberg and Karl Rahner (EHS.T 576), Frankfurt a.M. 1996, 76f. Siehe dazu auch K. Rahner, Philosophie und Theologie, in: KRSW 12, 216−225; hier: 217f. 14 Vgl. KRSW 4, 272f. Siehe weiterführend auch K. Rahner, Zum heutigen Verhältnis von Philosophie und Theologie, in: KRSW 22;1a, 189−202; hier: 191. 15 KRSW 4, 262f. 16 KRSW 4, 272f. 17 Vgl. KRSW 4, 26−29. 18 Vgl. G. Sans, Wie weit kann die Philosophie der Religion vorgreifen?, 202f. 19 KRSW 26, 36. 20 K. Rahner, Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin, in: KRSW 2, 3−300; hier: 300.
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und dabei zugleich Gott als Frage des Menschen mit seiner geschichtlich ergangenen Selbstmitteilung zu vermitteln sucht21 , hält Pannenberg bereits auf den ersten Seiten seiner Systematischen Theologie unmissverständlich fest, dass „die Ermöglichung der Gotteserkenntnis durch Gott selbst, durch Offenbarung also, […] zu den Grundbedingungen des Theologiebegriffs als solchen“22 gehört. Den biblischen Zeugnissen zufolge teilt sich Gott den Menschen aber nur indirekt, durch sein Handeln in der Geschichte, mit23 und ist auf diese Weise prinzipiell für alle Menschen erkennbar. Gottes Selbstmitteilung in der Geschichte hat, mit anderen Worten, „universalen Charakter“24 . In dieser biblisch-heilsgeschichtlichen Perspektive, die als solche unweigerlich im Spannungsverhältnis von Verheißung und Erfüllung steht25 , rücken die beiden Fragen nach einer angemessenen Auslegung der Bibel und nach dem Geschichtsverständnis Israels in den Fokus von Pannenbergs Aufmerksamkeit.26 Das Ringen um „das richtige Verständnis der Verkündigung eines Reiches Gottes, dessen Verwirklichung wesentlich in der Zukunft liegt“27 , durchzieht nicht nur die Texte des Alten Testaments, sie spiegelt sich auch „im Geschick Jesu von Nazareth“28 wider, das seinen vollen Sinn erst im Horizont der universalen Geschichte und damit letztlich von ihrem Ende her gewinnt.29 Anders gesagt: Im Auftreten Jesu wird die Zukunft Gottes aus Sicht von Pannenberg „nicht nur im voraus erfüllt, sondern sie wird schon Ereignis, ohne daß sie damit aufhörte, Zukunft zu sein.“30 Um die eschatologische Spannung halten zu können, wird auf dieser Linie zum einen Geschichte als der „umfassendste Horizont christlicher Theologie“31 bestimmt, in dem allein theologische Fragen und Antwortversuche ihre spezifischen Konturen erhalten. Zum anderen hat die hier nur angedeutete
21 Vgl. KRSW 26, 137−171; bes. 167−171. 22 STh I, 12. 23 Vgl. dazu die erste These in OaG, 91 sowie W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: GSTh 1, 22−78; hier: 25. An anderer Stelle heißt es prägnant: „Anlaß zum Gedanken der Indirektheit der Selbstoffenbarung gibt […] der Befund in den biblischen Texte selbst, daß der unmittelbare Inhalt des Offenbarungsempfangs […] nicht Gott selbst ist, sondern es mit den Menschen und ihrer Welt zu tun hat“ (STh I, 267). 24 OaG, 98. 25 Vgl. GSTh 1, 25. 26 Vgl. STh I, 269f. 27 G. Sans, Wie weit kann die Philosophie der Religion vorgreifen?, 203. 28 OaG, 103. 29 Vgl. OaG, 95; 103 u. 107. 30 STh I, 270; vgl. STh II, 171f u. STh III, 678f. 31 Vgl. GSTh 1, 22. Im Folgesatz präzisiert Pannenberg: „Alle theologischen Fragen und Antworten haben ihren Sinn nur innerhalb des Rahmens der Geschichte, die Gott mit den Menschen und durch sie mit seiner ganzen Schöpfung hat, auf einen Zukunft hin, die vor der Welt noch verborgen, an Jesus Christus jedoch schon offenbar ist“ (ebd.).
Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis
Dynamik der Offenbarung zur Folge, dass sich der Wahrheitsanspruch des Christentums in der Geschichte auch gegenüber anderen Religionen jeweils aufs Neue bewähren muss.32 Damit sind die beiden Pole in ihren Grundzügen umrissen: Nach Rahner kann das Ganze der christlichen Glaubensbotschaft in einer gnadenhaften transzendentalen Erfahrung gegeben sein, ohne dass deshalb die Offenbarungsgeschichte und die Bezeugung des Glaubens überflüssig würden. Offenbarung als transzendentale Gnadenerfahrung und geschichtliche Offenbarung sind vielmehr als einander wechselseitig bedingende Momente ein und desselben Ereignisses aufeinander verwiesen.33 Dem hält Pannenberg in aller Entschiedenheit entgegen, dass Offenbarung nicht nur in sondern als Geschichte34 erfolgt. Zwar gilt auch für Rahner, dass sich Gott in der Geschichte vermittelt und wir in diesem Sinne zu Recht von einer „Geschichte der Offenbarung“35 sprechen können, damit ist aber noch nicht geklärt, „to what extent God’s self-revelation and the human transcentental experience of it are actually historical in Rahners thougt.“36 Diese Spannung wird uns auch in den folgenden beiden Kapiteln zur Religionstheologie von Rahner und Pannenberg begleiten.
32 Vgl. STh I, 281. Dort heißt es: „Wie nun aber alle Offenbarung Gottes in seinem geschichtlichen Handeln auf die noch ausstehende Zukunft der Vollendung der Geschichte vorgreift, so bleibt umgekehrt ihr Anspruch, die Gottheit des einen Gottes zu offenbaren, der Schöpfer, Erlöser und Versöhner der Welt ist, in der noch nicht vollendeten Geschichte offen auf künftige Bewährung, offen darum auch für die Frage nach seiner Wahrheit. Diese Frage findet ihre jeweilige Antwort im Leben der Glaubenden durch die erhellende Kraft der Offenbarung Gottes für die Erfahrungen ihres Lebens.“ 33 Vgl. K. Rahner, Überlegungen zur Methode der Theologie, in: KRSW 22;1a, 301−335; hier: 332. Dort heißt es: „Dadurch wird natürlich die Offenbarungsgeschichte und die Bezeugung des Glaubens, der vom Hören kommt, nicht überflüssig. Eben diese gesellschaftliche Offenbarungs- und Glaubensgeschichte ist die Geschichte des Zusichselberkommens dieser gnadenhaften transzendentalen Erfahrung, die von der Selbstmitteilung Gottes konstituiert und getragen wird. Gerade um zu seinem ursprünglichen transzendentalen Wesen zu kommen, ist der Mensch auf seine individuelle und kollektive Geschichte verwiesen. Aber eben diese ist die Geschichte seines transzendentalen Wesens selber. Offenbarung als transzendentale Gnadenerfahrung und Offenbarung als Geschichte widersprechen sich darum gegenseitig nicht, sondern sind die sich gegenseitig bedingenden Momente ein und desselben Ereignisses.“ 34 Vgl. STh I, 250. 35 K. Rahner, Bemerkungen zum Begriff der Offenbarung, in: KRSW 22;1a, 5−14; hier:7. 36 M. W. Worthing, Foundations and Functions, 106. Zum epistemologischen Stellenwert der Geschichte siehe auch H. Springhorn, Immanenz Gottes und Transzendenz der Welt. Eine Analyse zur systematischen Theologie von Karl Rahner und Wolfhart Pannenberg (Theos 48), Hamburg 2001, 69f.
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2.
Karl Rahner: Anonymes Christsein und Legitimität der Religionen
Bereits im Kontext der Bestimmung des Menschen als Hörer des Wortes, durch das Gott sich in der Geschichte mitteilt, ist deutlich geworden, dass Rahner jeden Menschen – auch denjenigen, der nicht an Christus glaubt – als möglichen Adressaten einer Selbstmitteilung Gottes ansieht. Philosophie und Theologie bedingen einander dabei auf eine Weise, die alle Menschen als denkende Vernunftwesen wenigstens implizit mit Gott in Berührung bringt, ob sie sich dessen explizit bewusst werden oder nicht.37 Die Frage, ob ein Christ auch nur für einen Augenblick glauben könne, die „unübersehbare Schar seiner Brüder, nicht nur jener vor Christi Erscheinen […], sondern auch seiner Gegenwart und der heraufziehenden Zukunft, sei unweigerlich und grundsätzlich von der Erfüllung ihres Lebens ausgeschlossen“38 , muss vor diesem Hintergrund als rein rhetorische Frage erscheinen. Damit ist aber noch keineswegs geklärt, wie eine „heilshafte Gottesbeziehung ohne expliziten Christusglauben“39 zu denken wäre und welche Rolle den Religionen dabei zukommen könnte. Vielmehr deuten sich in Rahners Rede vom anonymen Christsein bzw. vom anonymen Christen – die Begrifflichkeit ist hier fließend40 – drei Spannungsfelder an, die seinen religionstheologischen Entwurf durchziehen41 und darin zugleich grundlegende theologische Anliegen widerspiegeln: Rahner möchte an der Universalität des göttlichen Heilswillens festhalten, ohne dabei die Exklusivität des Heils in Christus in Frage zu stellen. Obwohl der Glaube an Christus heilsnotwendig ist, können wir zweitens aber auch nicht über das Faktum hinweggehen, dass die frohe Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes, das in Christus bereits angebrochen ist, den meisten Menschen bisher nicht ausreichend vermittelt werden konnte oder gänzlich unbekannt geblieben ist. Drittens darf die Rede von der Kirche als Leib Christi nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Religionen nichts von ihrer Vitalität verloren haben und das Leben eines Großteils der Menschheit bis heute
37 Vgl. KRSW 12, 222. Dort heißt es: „Wo die amtliche, explizit christliche Offenbarung die Philosophie als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit sich voraussetzt und in ihre Freiheit einsetzt, geschieht dies gar nicht als die Setzung der reinen Möglichkeit, sondern schon als unweigerlich in irgendeinem Umfang christlich aktuierte Philosophie. Und zwar nicht nur dann, wenn ausdrücklich sich als Christen wissende Menschen Philosophie treiben, sondern auch dann, wenn jene Menschen Philosophie treiben, die wir – anonyme Christen nennen können (und das gilt prinzipiell für alle Menschen, die sich nicht explizit Christen nennen), weil sie, ob sie es wissen oder nicht […], erleuchtet sind von dem Licht der Gnade, das Gott keinem Menschen versagt.“ 38 K. Rahner, Die anonymen Christen, in: KRSW 22;2, 284−291; hier: 284f. 39 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie im 19. Und 20. Jahrhundert. Historische Studien als Impulsgeber für die heutige Reflexion (BThR 20), Zürich 2020, 220. 40 Vgl. ebd., 225. 41 Vgl. ebd., 219f.
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entscheidend prägen. Die hier nur knapp umrissenen Spannungen, die aus Sicht von Rahner keineswegs kontradiktorische Gegensätze sein müssen, markieren zugleich eine Reihe von Herausforderungen, an denen sich die beiden eng miteinander verflochtenen, aber dennoch unterschiedlich akzentuierten Lehren vom anonymen Christsein und von der Legitimität der Religionen42 abarbeiten müssen. 2.1 Zum Theologumenon vom anonymen Christsein Wie bereits angedeutet, ist Rahners Gedanken zum anonymen Christen43 eng mit Gottes universalem Heilswillen verbunden. Sie haben ihr biblisches Fundament44 im ersten Brief an Timotheus, wo es heißt: Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). Die allen Menschen immer und überall angebotene Gnade ist dabei als ein dynamisches Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch zu verstehen, in dem das bedingungslose und ungeschuldete Angebot Gottes mit der freien Annahme des Menschen zusammen gedacht werden muss.45 Was von Gott her aufgrund seines souveränen Willens bereits Wirklichkeit ist, „eröffnet dem Menschen eine Möglichkeit, die er ergreifen kann.“46 Die von Rahner jedem einzelnen Menschen zugesprochene Möglichkeit „einer echten, ihn rettenden Gottesbeziehung“47 darf allerdings nicht als unverbindliche Einladung missverstanden werden, sondern ist selbst bereits „die Tat Gottes, die die falsche Wahl des Menschen überholend aufsprengt“48 und ihn auf Gott hin ausrichtet, ohne darin dessen Freiheit als realem Partner Gottes zu negieren. Der universale Heilswille verweist in seiner hier nur knapp umrissenen Dynamik zweitens auf das ebenfalls keineswegs statisch zu verstehende Verhältnis von Natur und Gnade.49 Wenn die von Gott her angebotene Beziehung selbst schon ein ungeschuldeter Akt ist, wird man sagen dürfen, dass die „Gnade in der Natur [wirkt]. Sie ist deren Ermöglichung und Erfüllung.“50 Diese Dynamik bestimmt auch die Geistnatur des Menschen, die auf Transzendenz hin offen ist, darin aber zugleich von der Gnade Gottes umfangen bleibt und auf ihn bzw. in letzter Konsequenz
42 Vgl. ebd., 224−226 u. 248f. 43 Siehe dazu weiterführend N. Schwerdtfeger, Gnade und Welt. Zum Grundgefüge von Karl Rahners Theorie der „anonymen Christen“ (FThSt 123), Freiburg i.Br. 1982. 44 Vgl. KRSW 22;2, 285. 45 Vgl. K. Rahner, Bemerkungen zum Problem des „anonymen Christen“, in: KRSW 22;2, 326−337; hier: 332f. 46 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 227 (herv. R. B.). 47 K. Rahner, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in: KRSW 10, 557−573; hier: 568. 48 KRSW 10, 564. 49 Vgl. dazu K. Rahner, Über das Verhältnis von Natur und Gnade, in: KRSW 5;1, 66−83; bes. 76−83. 50 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 228 (herv. R. B.).
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auf Christus hin ausgerichtet wird.51 Wir haben es im Verhältnis von Natur und Gnade also mit zwei ineinander verflochtenen Bewegungen zu tun: Zum einen korrespondiert der Natur des Menschen, die auf ihre Selbstüberschreitung auf Gott als den Grund ihres Seins als Geschöpf angelegt ist, die Selbstentäußerung Gottes auf den Menschen hin. Zum anderen gilt: „So wie Gott in der Selbstmitteilung seiner Gnade inkarnatorisch auf den Menschen hin ausgerichtet ist, so ist der Mensch auf Gottes Selbstmitteilung hin finalisiert.“52 Diese das Wesen des Menschen als transzendenzoffenes Subjekt prägende doppelte Dynamik von Gott her und auf Gott hin, bestimmt nicht nur das menschliche Sein, sondern auch sein Bewusstsein und spiegelt sich darüber hinaus in den beiden Modi der Offenbarung sowie den zwei Formen des Glaubens wider.53 Auf einer ersten Ebene steht einem gegenständlichen, reflexiven und expliziten Bewusstsein im Sinne des von uns konkret Gewussten ein transzendentales, apriorisches und implizites Bewusstsein als Bedingung der Möglichkeit allen Wissens gegenüber. Diese Unterscheidung ist für Rahner insofern zentral, als es für „das „objektive“ Geschenk der göttlichen Gnade […] nicht entscheidend [ist], dass der Beschenkte explizit um diese Gnadengabe weiß.“54 In jedem Menschen ist, anders gesagt, wenigstens ein implizites Bewusstsein von seiner grundlegenden Ausrichtung auf Gott angelegt, ob er dies nun anerkennen will oder nicht. Auf der zweiten Ebene der Offenbarung können wir mit Rahner zwischen einer kategorialen, geschichtlich vermittelten Wortoffenbarung Gottes und der grundsätzlichen transzendentalen Offenheit des Menschen für Gottes Selbstmitteilung unterscheiden.55 Gottes Selbstmitteilung in seinem Geschichtshandeln müsste dabei ebenso wie die ausdrückliche Wortoffenbarung in Christus ein unverständlicher Fremdkörper bleiben, wenn sie nicht an das göttliche Angebot der Gnade, an das in die Geistnatur des Menschen immer schon „eingesenkte Wort Gottes“56 als möglichen Verstehenshorizont anknüpfen könnte. Die ausdrückliche christliche Offenbarung wird für Rahner so „zur reflexen Aussage der gnadenhaften Offenbarung, die der Mensch in der Tiefe seines Wesens schon immer unreflex erfährt.“57 Schließlich können wir auf einer dritten Ebene einen expliziten Glauben, der im ausdrücklichen Bekenntnis und in der kirchlichen Praxis seine konkrete Gestalt gewinnt, von einem
51 Vgl. K. Rahner, Anonymer und expliziter Glaube, in: KRSW 22;2, 338–344; hier: 342f. Siehe dazu auch ders., Anonymes Christentum und Missionsauftrag der Kirche, in: KRSW 22;2, 312−325; hier: 319f u. 322f. 52 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 229. 53 Vgl. zum Folgenden den Abschnitt Wie wäre der „anonyme Christ möglich“? in: KRSW 22;2, 332−335. 54 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 230. 55 Vgl. KRSW 26, 167−171. 56 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 230. 57 KRSW 22;2, 287.
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impliziten oder anonymen Glauben, in dem sich der Mensch als auf Transzendenz hin angelegtes Wesen in seiner konkreten geschichtlichen Verfasstheit frei bejaht58 , unterscheiden. Ohne sich explizit zum christliche Glauben bekennen zu müssen, kann ein Mensch, der dem sittlichen Ruf seines Gewissens folgt und ihm als freie Person in bzw. mit seinem Leben Gestalt gibt59 , aufgrund seiner Treue zu diesem Ruf zurecht als anonymer Christ bezeichnet werden.60 Der anonyme Glaube ist also keine rein geistige Angelegenheit und muss zudem – wie der explizite Glaube auch – als eine von Gott gewirktes Angebot der zuvorkommenden Gnade gedacht werden, das als solches in Freiheit angenommen oder abgelehnt werden kann.61 Weil der implizite Glaube – ähnlich wie die Philosophie – als praeparatio evangelii angesehen werden muss und folgerichtig seine Berechtigung dort verliert, wo das Wort Gottes deutlich vernehmbar und verständlich an den Menschen ergeht, folgt daraus für Rahner aber nicht, dass anonymer und expliziter Glaube als gleichberechtigte Wege Gottes mit dem Menschen angesehen werden dürften.62 Bei aller Wertschätzung des impliziten oder anonymen Glaubens können wir mit Rahner in einem vertiefenden dritten Argumentationsschritt nicht darüber hinwegsehen, dass der Glaube an Jesus Christus heilsnotwendig ist und bleibt. Wenn es wahr ist, dass das den Menschen von Gott her angebotene Heil allein „das Heil Christi ist, weil es ein anderes Heil nicht gibt, dann muß man nicht nur ein anonymer Theist, sondern auch ein anonymer Christ sein können.“63 Diese
58 Vgl. K. Rahner, Anonymer und expliziter Glaube, in: KRSW 22;2, 338−344; hier: 343. Dort heißt es: „Nimmt der Mensch aber in dem Akt der Freiheit, in dem er sich selbst bedingungslos in seiner radikalen, durch die Gnade erhöhten Verwiesenheit auf Gott hin annimmt, auch diese radikalisierte Finalisiertheit seiner geistigen Bewegung, wenn auch unthematisch, an, die schon Offenbarung bedeutet, dann setzt er den Akt eines eigentlichen Glaubens.“ 59 Vgl. dazu die im Kontext einer suchenden Christologie entwickelten drei Anrufe zur absoluten Nächstenliebe, zur Bereitschaft zum Tode und zur Hoffnung für die Zukunft im Abschnitt Appelle an das menschliche Dasein in: K. Rahner, Der eine Jesus Christus und die Universalität des Heils, in: KRSW 22;1b, 884–907; hier: 905−907. Siehe weiterführend auch K. Rahner, Über die Einheit von Nächsten- und Gottesliebe, in: KRSW 12, 76−91. Für Rahner ist der „Akt der Nächstenliebe […] der einzige kategoriale und ursprüngliche Akt, in dem der Mensch die kategorial gegebene ganze Wirklichkeit erreicht, sich ihr gegenüber selbst total richtig vollzieht und darin schon immer die transzendentale und gnadenhaft unmittelbare Erfahrung Gottes macht.“ Deshalb kann er auch sagen, dass „der primäre Grundakt des immer schon ,weltlichen‘ Menschen immer ein Akt der Nächstenliebe ist und darin die ursprüngliche Gottesliebe insofern realisiert wird, als in diesem Grundakt auch die Bedingungen seiner Möglichkeit angenommen werden, zu denen die durch die Gnade übernatürlich erhobene Verwiesenheit des Menschen auf Gott gehört“ (KRSW 12, 89; herv. K. R.). 60 Vgl. KRSW 22;2, 287f u. 335f. 61 Vgl. KRSW 22;1b, 885f. 62 Vgl. KRSW 22;2, 343f. 63 KRSW 22;2, 285 (herv. K. R.).
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Präzisierung ist deshalb erforderlich, weil Gottes gnadenhafte Zuwendung zu seinem Geschöpf nicht abstrakt bleiben kann. Sie zeigt sich darin, dass „Gott dem Menschen nicht nur irgendeine heilsvolle Liebe u[nd] Nähe zuwendet, irgendeine heilsvolle Gegenwart schenkt“64 , sondern ihm als Miterben des Sohnes Anteil am göttlichen Leben gibt. Gnade ist also nicht nur eine innere Wesensbestimmung Gottes, sondern auch Ausdruck seines aktiven Weltbezuges. Sie ist in der Geschichte wirkmächtig und gewinnt in der Inkarnation des Wortes ihre volle Gestalt. „Als endgültiges Ziel und irreversible Vollendung des Heilswillens Gottes ist Christus auch dessen uranfänglicher Grund“65 , der zu allen Zeiten am Werk war und ist – was Rahner mit der scholastischen Argumentationsfigur der Finalursächlichkeit zu verdeutlichen sucht.66 Das allgemeine Angebot der Gnade an den Menschen ist somit aus theologischer Perspektive christologisch qualifiziert. Umgekehrt gilt aber auch: Wer sein Menschsein ganz und vorbehaltlos annimmt, der hat nach Rahner „den Menschensohn angenommen, weil in ihm Gott den Menschen angenommen hat.“67 Wir haben es, nochmals anders gesagt, mit einer wechselseitig ineinander verschränkten Bewegung zu tun: Wie der allgemeine Heilswille Gottes in Christus seine volle und endgültige Gestalt gewinnt, wird im Ereignis der Inkarnation die grundsätzliche Offenheit des Menschen als Wesen der Transzendenz auf Christus hin zentriert und damit spezifiziert.68 Die hier nur angedeutete komplexe Verflechtung von Anthropologie und Christologie kann somit mit R. Bernhardt als eigentliche „Grundlage für Rahners Lehre vom anonymen Christsein“69 gedeutet werden. Zu beachten bleibt dabei aber, dass einerseits der implizite Glaube selbst in Richtung eines explizit reflexiven Wissens von Christus drängt70 und andererseits nur derjenige Mensch als anonymer Christ bezeichnet werden kann, der das gnadenhafte Selbstangebot
64 K. Rahner, Art. Gnade, in: KRSW 17;1, 247−256; hier: 247 (herv. K. R.). 65 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 233. Siehe dazu auch K. Rahner, Der eine Mittler und die Vielfalt der Vermittlungen, in: KRSW 22;1b, 714−728; hier: 724f. 66 Vgl. K. Rahner, Jesus Christus in den nichtchristlichen Religionen, in: KRSW 22;1b, 908−917; hier: 913 sowie KRSW 26, 301f. 67 K. Rahner, Zur Theologie der Menschwerdung, in: KRSW 12, 309−322; hier: 322. Vgl. auch KRSW 22;2, 285. 68 Vgl. KRSW 12, 312f. 69 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 234. 70 Für Rahner ist mit der Theorie vom anonymen Christen keineswegs geleugnet, dass „sich dieser Glaube im Heiden eigentlich seiner eigenen Dynamik folgend in einen durch das Evangelium objektivierten und artikulierten Glauben hinein entwickeln soll, den wir als den christlichen Glauben einfachhin ansprechen. Der Keim hat kein Recht, keine Pflanze werden zu wollen. Aber weil er noch keine entfaltete Pflanze ist, darf man dem Keim nicht den Namen absprechen, den man der Pflanze gibt, die er werden soll“ (KRSW 22;2, 335).
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Gottes in seinem Leben aktual angenommen hat, ohne dass ihm Gottes Wort bisher ausdrücklich begegnet ist.71 In einem abschließenden vierten Argumentationsschritt72 , der hier allerdings nur sehr kurz angedeutet werden soll, müssen wir uns die Frage nach der konkreten geschichtlichen Vermittlung des Heilsangebotes Gottes nochmals aus einem anderen Blickwinkel stellen. Die Inkarnation der Gnade kann nicht auf die Innerlichkeit des Subjekts beschränkt werden, sondern findet ihre Ausgestaltung erst in der geschichtlich-konkreten Sozialgestalt einer bestimmten Religion bzw. in der Kirche, die als Leib Christi erst der „Raum des voll verwirklichten Heils“73 ist. Wenn aber das Lehrstück vom anonymen Christsein aus prinzipiellen Gründen nicht von der drängenden Frage nach der geschichtlichen und gesellschaftlichen Konkretisierung des Glaubens absehen kann, deutet sich zumindest eine erste Brücke zum zweiten, in weiterer Folge zu behandelnden Lehrstück von der Legitimität der Religionen an74 , ohne dass Religion bzw. Religionen in ihrer Eigenständigkeit und Vitalität bisher eigens Thema geworden wären. 2.2 Zur Legitimität der Religionen Hatte das Lehrstück vom anonymen Christsein die Möglichkeit individuellen Heils im Blick, rückt mit der Frage nach der Legitimität der Religionen ihre geschichtlichgesellschaftliche Dimension in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das göttliche Angebot der Gnade, die in Gottes Selbstmitteilung in Jesus Christus ihre definitive Gestalt bekommen hat, ist nicht nur als übernatürliches Existenzial in die Menschennatur hineingelegt75 , die göttliche Gnade durchwaltet und prägt auch die Welt und ihre Geschichte bis in die Religionsgeschichte hinein.76 Das Angebot einer echten, sinnstiftenden und den Menschen rettenden Gottesbeziehung richtet sich dabei nie einfach nur an ein abstraktes Subjekt, sondern an einen konkreten Menschen, der als Gemeinschaftswesen in kulturelle, soziale und religiöse Lebenskontexte eingebunden ist.77 Insofern der Beziehung zu dem einen Gott ein heilsamer Cha71 Vgl. KRSW 22;2, 328. 72 Zur Dynamik der hier nur knapp umrissenen Argumentationskette siehe zusammenfassend R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 240f. 73 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 236; vgl. KRSW 22;2, 288. 74 Vgl. R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 224. 75 Vgl. KRSW 26, 126−132. 76 Vgl. dazu weiterführend K. Rahner, Zur Theologie des Symbols, in: KRSW 18, 423−457; hier: 439−447. 77 Bei Rahner heißt es: „Kann aber der Mensch immer eine ihn rettende, positive Gottesbeziehung haben, mußte er sie immer haben, so hat er sie eben innerhalb der Religion gehabt, die faktisch ihm als Moment seines Daseins zu Gebote stand. Die Eingebettetheit der individuellen Religionsübung in eine gesellschaftliche, religiöse Ordnung gehört zu den Wesenszügen wahrer, konkreter
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rakter zugesprochen werden darf, lässt sich mit Rahner die These formulieren, dass nichtchristliche Religionen nicht nur Elemente einer natürlichen Gotteserkenntnis enthalten, die durch menschliche Endlichkeit und Sünde verzerrt erscheinen können, „sondern auch übernatürliche Elemente aus der Gnade, die dem Menschen wegen Christus von Gott geschenkt wird“78 , sodass sie durchaus als legitime, weil heilsbedeutsame Religionen79 anerkannt werden können. Rahners Einschätzung, nichtchristlichen Religionen könne und müsse bei all ihrer Ambivalenz unter bestimmten Bedingungen eine positive Heilsbedeutung zugestanden werden80 , stellt den Absolutheitsanspruch des Christentums – anders als viele Kritiker meinen – keineswegs in Frage, sondern setzt ihn vielmehr voraus.81 Wenn Religion „ihre Legitimität von dem in Christus angebotenen Heil [bezieht], wie es in der Kirche vermittelt wird“82 , sind alle Religionen in einer von Rahner nicht näher bestimmten Weise auf Christus und die Kirche hin ausgerichtet83 und damit eben gerade keine gleichberechtigten Wege zu Gott. Konsequenterweise kann in der hier vorausgesetzten theologisch-normativen bzw. dogmatischen Perspektive84 auch nur von einer graduellen Legitimität der Religionen85 die Rede sein, die streng genommen nur vor der Begegnung mit dem Evangelium gilt – wobei vor hier „nicht religionsgeschichtlich, sondern gewissermaßen kerygmatisch zu verstehen“86 wäre.
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Religion […]. Wollte man also dem außerchristlichen Menschen zumuten, er habe seine echte, ihn rettende Gottesbeziehung schlechthin außerhalb der ihm gesellschaftlich vorgegebenen Religion vollziehen müssen, dann würde eine solche Vorstellung aus Religion ein unfassbar Innerliches, ein immer und überall nur indirekt Getanes, eine nur transzendentale Religion ohne jede kategoriale Greifbarkeit machen und würde das eben aufgestellte Prinzip der notwendigen Gesellschaftlichkeit jeder konkreten Religion aufheben, so daß dann auch das kirchliche Christentum die notwendige Voraussetzung allgemein menschlicher, naturrechtlicher Art für den Erweis seiner Notwendigkeit nicht mehr besäße. Und da zum Begriff der legitimen, dem Menschen positiv heilshaft von Gott zugedachten Religion gar nicht gehört, daß sie rein und in all ihren Elementen positiv von Gott gewollt ist, so kann eine solche Religion für den betreffenden Menschen als durchaus für ihn legitime Religion angesprochen werden“ (KRSW 10, 568); vgl. KRSW 22;1b, 910 u. KRSW 26, 298. KRSW 22;2, 562. Zum Begriff der legitimen Religion siehe zusammenfassend K. Rahner, Art. Religion, in: KRSW 17;1, 387−389; hier: 388f. Vgl. K. Rahner, Über die Heilsbedeutung der nichtchristlichen Religionen, in: KRSW 22;2, 345−351; hier: 350f. Bei Rahner heißt es: „Das Christentum versteht sich als die für alle Menschen bestimmte, absolute Religion, die keine andere als gleichberechtigt neben sich anerkennen kann“ (KRSW 10; 559; vgl. 573). Siehe dazu auch K. Rahner, Kirche, Kirchen und Religionen, in: KRSW 22;2, 292−306; hier: 298f. R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 242. Vgl. KRSW 17;1, 388. Vgl. KRSW 22;1b, 908f; KRSW 22;2, 293 u. 345; KRSW 26, 296f sowie WuTh, 368 Anm. 686. Vgl. R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 244−246. Ebd., 246.
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Mit dieser doppelten Präzisierung der Legitimität von nichtchristlichen Religionen tut sich in ihrem Verhältnis zum Christentum eine Spannung zwischen Inklusivität und Exklusivität auf. Während sich das Christentum zu denjenigen Religionen, die bisher noch keine Kenntnis von Jesus Christus haben konnten, in ein positiv-inklusives Verhältnis setzen und ihre heilsbedeutsamen Elemente würdigen könne87 , habe es sich dagegen nach deren Begegnung mit der christlichen Botschaft exklusiv „als die wahre und legitime Religion für alle Menschen“88 zu behaupten. Das damit angesprochene Problem verschärft sich noch zusätzlich, wenn wir uns vor Augen halten, dass in unserer global vernetzten Welt „jede Religion und jede Kultur allen anderen auf mannigfache Weise geschichtlich begegnet“89 und folgerichtig auch eine wenigstens rudimentäre Kenntnis des Christentums unterstellt werden darf – weshalb Rahners Überlegungen zur Legitimität der Religionen ins Leere zu laufen drohen. Es scheint, als bliebe nur der Ausweg, die geschichtlichsoziale Ebene der Debatte um die Legitimität von nichtchristlichen Religionen zu verlassen und sich auf die Ebene des anonymen Christseins zurückzuziehen, auf der nur einzelne Anhänger einer Religion vor die freie Gewissensentscheidung gestellt sind, ob er bzw. sie die christliche Botschaft annehmen kann oder nicht90 – womit die Legitimität der Religionen in einem engen Sinn als Anwendungsfall des anonymen Christseins gedeutet und Religion auf Religiosität reduziert würde.91 Allerdings wird dabei unterschlagen, dass dem anonymen Christsein ebenso wie den nichtchristlichen Religionen aus Sicht von Rahner auch eine heilsgeschichtliche Funktion zukommt. Beide tragen zur vollen Entfaltung des expliziten Christentums in seiner kirchlich verfassten Gestalt bei, ohne dieses deshalb ersetzen oder überbieten zu können.92 Damit ist aber auch gesagt, dass die theologische Frage nach der Legitimität der Religionen „nicht von der Theorie des anonymen Christen allein aus beantwortet werden kann.“93 Die Spannung zwischen den beiden eng miteinander
87 Vgl. R. Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheorie, Gütersloh 1990, 189. 88 KRSW 10, 559. 89 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 247f. 90 Vgl. KRSW 22;2, 304f. 91 Vgl. R. Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums, 192. 92 Vgl. K. Rahner, Die Antwort der Religionen, in: KRSW 22;1a, 355−375; hier: 359. Dort heißt es: „Das Christentum beansprucht zwar, die absolute, von Gott, dem Offenbarer und Heilsschenker, für alle Menschen bestimmte Religion zu sein. Damit ist aber nicht bestritten, daß dieses Christentum in bezug auf die geschichtliche Ausfaltung seines Wesens noch im Werden ist und also die Fülle der Objektivation dieses seines Wesens noch sucht, daß es also noch weiter von der religiösen Erfahrung und Praxis anderer Religionen in der Entfaltung seines eigenen Wesens gefördert werden kann, also auch noch in der effektiven Realisation auf die universelle humane Religion unterwegs ist“ (ebd.; vgl. KRSW 10, 565 u. 571). 93 KRSW 22;2, 336.
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verwobenen Lehrstücken lässt sich offenbar nicht auflösen und weist darin auf ein grundlegendes Problem von Rahners existenzialontologischem Ansatz voraus94 , das uns in den abschließenden Überlegungen zu Rahners Religionstheologie noch beschäftigen wird. 2.3 Fazit: Anthropologie – und Geschichte? Wie wir gesehen haben, stützt sich Rahner zur Begründung seiner Theorie des anonymen Christseins über weite Strecken auf anthropologische Argumente. Er bestimmt den Menschen als ein Wesen der Transzendenz und als möglichen Hörer eines von Gott her ergehenden Wortes, geht aber auf konkrete geschichtliche Religionen als sozial verfasste Gestalten der Gottsuche und Gottesbegegnung nur indirekt ein. Obwohl die theologische Anthropologie als Fundament der Religionstheologie wesentlich auf die Christologie und damit auf das Christusereignis, das als solches an einem konkreten Ort und in einer konkreten Zeit in der Geschichte situiert werden kann, verwiesen ist, verbleiben seine Ausführungen zu den Religionen auf einer letztlich religionsphilosophisch abstrakten Ebene, ohne sich eingehender mit der empirischen Religionsgeschichte auseinanderzusetzen – was mit seinem (fundamental)theologischen Ansatz begründet wird.95 Rahners Interesse gilt nicht der Geschichte der Religionen, sondern der Heilsgeschichte und der Stellung der Religionen in ihr.96 Die spezifische Verfasstheit des Menschen als geschichtliches und soziales Wesen würde demgegenüber aber nahelegen97 , die Religionen nicht nur als rein geistiges Phänomen zu bestimmen, sondern sie in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit ernst zu nehmen. Von daher wird verständlich, warum es sich für Rahner anbietet, „die von der Lehre vom anonymen Christsein ausgehende Linie […] zur Annahme einer Legitimität der Religionen“98 weiterzuentwickeln. Allerdings bleibt Rahners religionstheologischer Ansatz hier reichlich unkonkret und damit auch für eine Theologie der Religionsgeschichte – wie Pannenberg monieren wird – ziemlich unergiebig. Selbst an den Stellen, an denen die Geschichtlichkeit des Menschen betont wird, bleibt für Rahner klar, dass „die Geschichte der Religionen […] nicht als solche, sondern nur als Manifestation der Geschichtlichkeit des Menschen von
94 Vgl. R. Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums, 175f. 95 Vgl. KRSW 22;2, 351. 96 Vgl. Z. Slaczka, Offenbarung und Heil in den nichtchristlichen Religionen? Eine Untersuchung zu W. Pannenberg, H. R. Schlette und G. Gäde (EHS.T 718), Frankfurt a.M. 2001, 43 sowie R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 253f. 97 Vgl. K. Rahner, Religionsphilosophie und Theologie, in: KRSW 4, 285−293; hier: 290f. 98 R. Bernhardt, Klassiker der Religionstheologie, 254.
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Bedeutung“99 ist und damit nur indirekt in den Blick kommen kann. Die Frage, welcher Stellenwert den nichtchristlichen Religionen in Rahners anthropologisch und heilsgeschichtlich ausgerichteter Theologie der Religionen zukommen kann, muss somit, trotz vereinzelter positiver Aussagen, prekär bleiben. Zudem treten angesichts der Perspektivengebundenheit der Wahrheitsansprüche – Rahner beruft sich ausdrücklich auf eine christliche Binnenperspektive – hermeneutische Erwägungen, mit deren Hilfe Engführungen in Rahners transzendentaltheologischem Ansatz und etwaige Tendenzen zu einer Vereinnahmung von Anders- bzw. Ungläubigen aufgebrochen oder zumindest abgemildert werden könnten100 , in den Hintergrund.
3.
Wolfhart Pannenberg: Theologie der Religionsgeschichte als fundamentaltheologisches Programm
Während Rahner von seinem transzendentaltheologischen Ansatz her gegenüber allen anderen Religionen eine dezidiert christliche Perspektive einnimmt, sieht sich Pannenberg angesichts einer allgemeinen und zunehmend radikalen Religionskritik, die auch die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft zu unterminieren droht, vor die Herausforderung gestellt, die Wahrheitsansprüche nichtchristlicher Religionen bzw. Weltanschauungen als solche ernst zu nehmen101 und darauf hin zu befragen, welchen Beitrag sie zum Verständnis unserer menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit leisten.102 Christliche Theologie kann nur dann hoffen, auch außerhalb der engen Grenzen der eigenen Glaubensgemeinschaft ernst genommen zu werden, wenn sie sich aktiv auf den Dialog einlässt und ihre eigenen Wahrheitsansprüche im Streit der Argumente zu bewähren sucht.103 Aus diesem Grund optiert Pannenberg für eine fundamentaltheologisch angelegte Theologie der Religionsgeschichte104 , „die ihre christlichen Perspektive nicht verleugnet, aber ihre christlichen Voraussetzungen auch nicht als Argumente verwendet“105 , sondern sich auf prinzipiell allen zugängliche Sachverhalte und Phänomene stützt. Mit dieser Öffnung zu einer „kritische[n] Theologie der Religionen“106 ist zugleich der Anspruch verbunden zu zeigen, dass gerade „der christliche Glaube wegen seiner geschichtlichen und
99 100 101 102 103 104 105 106
Ebd. Vgl. KRSW 22;1b, 902f. Vgl. GSTh 1, 254. Vgl. WuTh, 323. Vgl. STh II, 9f. Vgl. WuTh, 372f u. 419. GSTh 1, 256. Vgl. WuTh, 368.
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eschatologischen Orientierung es erlaubt, die Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des in Jesus Christus offenbaren Gottes in Anspruch zu nehmen und so sein eschatologisches Bewusstsein an der Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte der in diesem Prozess strittigen Wirklichkeit zu bewähren.“107 Schon die hier von Pannenberg verwendeten Formulierungen deuten an, dass eine solcherart konzipierte Theologie der Religionsgeschichte auf seine Reflexionen zur Theologie als Wissenschaft zurückgreift. Es bietet sich daher an, Fundament und Reichweite von Pannenbergs Theologie der Religionsgeschichte im Gespräch mit seiner Wissenschaftstheorie, seiner Anthropologie und seinem Verständnis von Geschichte zu entwickeln108 und von dort aus abschließend in einen kritischen Dialog mit Rahners Religionstheologie einzutreten. 3.1 Theologie als Wissenschaft von Gott Theologie kann mit Pannenberg ganz klassisch als „Wissenschaft von Gott“109 bestimmt werden, die alle Sachverhalte sub ratione Dei betrachtet.110 Allerdings müssen wir uns dabei vor Augen halten, dass „die Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung“111 strittig sind. Aus diesem Grund kann auch der Begriff Gottes „als der alles bestimmenden Wirklichkeit“112 nur im Sinne einer wissenschaftlichen Hypothese aufgefasst werden, die sich an der Selbst- und Welterfahrung des Menschen zu bewähren hat113 – ein Prozess, dessen Ausgang aufgrund der Unabgeschlossenheit der Geschichte und der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis noch offen ist.114 Zugleich impliziert der Begriff Gottes als alles bestimmende Wirklichkeit aber auch, dass er in allen Gegenständen der Erfahrung wenigstens indirekt mitgegeben sein muss.115 Pannenberg trägt damit der Einsicht Rechnung, dass die Totalität der Wirklichkeit zwar Bedingung aller Erfahrung ist, zugleich aber „aufgrund der
107 WuTh, 369 Anm. 687; vgl. STh I, 187f. Siehe dazu auch die meines Erachtens unzutreffende Kritik bei U. Pękala, Eine Offenbarung – viele Religionen. Die Vielfalt der Religionen aus christlicher Perspektive auf der Grundlage des Offenbarungsbegriffs Wolfhart Pannenbergs (BDS 48), Würzburg 2010, 226f. 108 Vgl. Z. Slaczka, Offenbarung und Heil, 63. 109 WuTh, 299. 110 Vgl. WuTh, 300. 111 STh I, 59. 112 WuTh, 304 (herv. W. P.); vgl. 302 u. 305. Zur vielschichtigen Verwendung des Wortes Gott siehe weiterführend STh I, 77−81. 113 Vgl. STh I, 66 u. 68f. 114 Vgl. WuTh, 311f 115 Vgl. WuTh, 303.
Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis
Unabgeschlossenheit der Wirklichkeit […] nur als Sinntotalität antizipiert werden kann“116 und nicht schon als solche gegeben ist. Gott kann in der menschlichen Erfahrung der Welt also deshalb zum Thema werden, weil seine Wirklichkeit „in subjektiven Antizipationen der Totalität der Wirklichkeit“117 mitgegeben ist. Damit ist aber nicht bestritten, dass jede Gotteserkenntnis aus theologischer Perspektive konstitutiv auf Offenbarung angewiesen bleibt118 – was allein schon deshalb gefordert ist, weil es dem Begriff Gottes widersprechen müsste, „wenn er anders als durch sich selbst zugänglich würde.“119 Auf dieser Argumentationslinie lässt sich nun auch die für die biblischen Überlieferungen charakteristische Geschichtlichkeit der Selbstbekundung Gottes mit der auf das Ganze der Sinntotalität hin ausgerichteten endlichen Erfahrung, in der die göttliche Wirklichkeit immer schon mitgesetzt ist, verbinden.120 Insofern die Erfahrung der Selbstbekundung Gottes bzw. der göttlichen Wirklichkeit in der Geschichte ihren konkreten Ort in den Religionen hat, die in ihrer sozialen, kulturellen und geschichtlichen Verfasstheit auch individuelle religiöse Erfahrungen prägen, kommt Pannenberg zum Schluss, dass Theologie als Wissenschaft von Gott letztlich nur als Religionswissenschaft, oder genauer „als Wissenschaft […] von den geschichtlichen Religionen“121 möglich ist. 3.2 Theologie und Anthropologie Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass Pannenberg den Religionen gegenüber der religiösen Erfahrung den Vorzug gibt. Der Grund dafür ist in der radikalen Religionskritik Feuerbachs zu suchen, der weder mit dem apriorischen Argument eines homo religiosus122 noch mit einer transzendentalen Disposition des Menschen für Gott123 begegnet werden kann. Dem Argument, die fundamentale Struktur menschlichen Verhaltens selbst erzeuge die religiöse Illusion, lässt sich – wenigstens in einem ersten Schritt – seinerseits wiederum nur „auf der Ebene anthropologischer Strukturaussagen begegnen.“124 Aber selbst wenn wir zeigen können, dass der Gedanke Gottes in unserer Antizipation der Sinntotalität auf eine Weise impliziert ist, die den Menschen als ein Wesen ausweist, das „auf dieses sein
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J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II, 825; vgl. WuTh 312f. Vgl. WuTh 312. Vgl. STh I, 14. WuTh, 312. Vgl. WuTh, 313. WuTh, 317; vgl. 314−317. Vgl. GSTh 1, 280f u. STh I, 172f. Vgl. mit Bezug auf Rahner GSTh 1, 282 Anm. 48. GSTh 1, 280.
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eigenes Dasein übersteigendes Geheimnis“125 angewiesen ist und nur von ihm her die Erfüllung seines Daseins erhoffen kann, ist damit nach Pannenberg im Blick auf die Glaubwürdigkeit von Religionen noch nichts Entscheidendes gewonnen. Auf der Ebene von allgemeinen anthropologischen Strukturaussagen lassen sich weder stichhaltige Argumente für die Wahrheit religiöser Aussagen noch für die Wirklichkeit Gottes bzw. göttlicher Mächte entwickeln – womit auch die Schranken des anthropologischen Arguments klar benannt sind: Der „Gedanke des Absoluten bleibt – gerade in seiner Abstraktheit – ein menschlicher Gedanke.“126 Um die Abstraktheit und damit letztlich die Sterilität des anthropologischen Arguments zu durchbrechen, muss die aus der menschlichen Natur erhobene allgemeine Struktur der Erfahrung in theologischer Perspektive kritisch angeeignet und vertieft werden.127 Deshalb lenkt Pannenberg unseren Blick bewusst auf den „tatsächlichen Umgang der Menschen mit dem Geheimnis des Seins“128 , auf das er als welt- und gottoffenes Wesen von jeher verwiesen ist. In seinem Selbstverhältnis und in seinem Umgang mit der Welt setzt der Mensch den Gedanken Gottes nicht einfach nur unbewusst oder unkritisch voraus, er stellt sich dabei zugleich in ein praktisches Verhältnis zu diesen Geheimnis, das sein Leben auf vielfache Weise prägt.129 Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit Gottes oder göttlicher Mächte kann sich „nur durch ihr Widerfahrnis erweisen“130 , indem sie sich als im Leben der Menschen und in der Geschichte wirkende Macht für alle sichtbar manifestiert. Wenn aber das religiöse Bewusstsein des Menschen am Primat Gottes festhält131 , muss sich folgerichtig auch jede Rede von Gott daran messen lassen, inwieweit sie „die Welt der Erfahrung als Erweis seiner Macht in Anspruch nehmen kann“132 und damit einen entscheidenden Beitrag zur Weltdeutung des Menschen leistet. Daraus folgt aber nicht im Umkehrschluss, dass der formale Aufweis der „anthropologischen Notwendigkeit einer Erhebung über das Endliche zum Gedanken des Unendlichen und Absoluten“133 seine kritische Funktion gegenüber den Wahrheitsansprüchen religiöser Rede verlieren würde.134 Das anthropologische Argument formuliert vielmehr Minimalbedingungen, denen jede religiöse Überlieferung, auch
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Vgl. GSTh 1, 282. STh I, 174; vgl. GSTh 1, 281−283. Vgl. Anthr., 18f. GSTh 1, 284 (herv. W. P.). Vgl. GSTh 1, 283 Anm. 47. GSTh 1, 284. Vgl. STh I, 159. STh I, 120. STh I, 119f. Vgl. M. W. Worthing, Foundations and Functions, 304f.
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die christliche Verkündigung von Gottes Offenbarungshandeln in Jesus Christus, zu genügen hat. Rückblickend lässt sich festhalten, dass Pannenberg zwar den konstitutiven Stellenwert der Religion für den Menschen und für die Gesellschaft nicht in Frage stellt135 , sich dabei aber zugleich entschieden gegen eine rein anthropologische Bestimmung des Religionsbegriffes verwahrt.136 Die strukturelle Angewiesenheit des Menschen auf ein ihn übersteigendes Geheimnis und dessen wirkmächtige Manifestation in seinem jeweiligen geschichtlich-kulturellen Lebenskontext hebt den Vorrang Gottes als die dem Begriff nach alles bestimmende Wirklichkeit gerade nicht auf. Die im Vorgriff auf die Sinntotalität immer schon vorausgesetzte und in religiösen Erfahrungen bezeugte Wirklichkeit Gottes bzw. der göttlichen Mächte, kann in letzter Konsequenz nur durch das für alle sichtbare Handeln der Gottheit bzw. der Götter in der Geschichte erwiesen werden – womit die Frage nach der Wirklichkeit Gottes von der Anthropologie in den Bereich der Geschichte, genauer der Religionsgeschichte verlagert ist. 3.3 Theologie der Religionsgeschichte Der bereits angedeutete Übergang von der anthropologischen Frage nach der formalen Angewiesenheit des Menschen auf Gott zu einer (religions-)geschichtlichen Perspektive scheint schon allein deshalb geboten, weil die Historie nicht Grundlage für die übrigen anthropologischen Disziplinen sein könne, sondern diese im Gegenteil als Teilaspekte in sich aufhebe. „Die Geschichte des Menschen steht somit für die anthropologische Besinnung am Ende, gerade weil erst sie die konkrete Wirklichkeit des Menschen“137 und damit auch die Frage nach der Wahrheit bzw. dem Wirklichkeitsbezug der Religionen ernsthaft zum Thema machen kann. Erst in religionsgeschichtlicher Perspektive bekommt die Frage nach dem Menschen als weltoffenem und zugleich auf Gott angewiesenem Wesen ihr eigentliches Profil.138 Zugleich wird die universale Geschichte als Rahmen erkennbar, innerhalb dessen sich Gott durch sein wirkmächtiges Handeln als Garant der vom Menschen immer schon unterstellten Einheit der Geschichte zu erkennen gibt, ohne dabei „die
135 Aus Sicht von Pannenberg bleiben „ohne ein öffentliches Bewußtsein von der konstitutiven und unveräußerlichen Bedeutung der Religionsthematik für das Menschsein […] die spezifisch christlichen Aussagen über den Menschen auf ein kulturelles Abseits beschränkt und verdanken ihre Geltung nur der Zahl ihrer Anhänger, nicht aber dem Gewicht ihrer Wahrheitsansprüche“ (Anthr., 8; vgl. WuTh, 424). 136 Vgl. STh I, 170f u. 173. 137 Anthr., 22. 138 Vgl. GSTh 1, 262.
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faktische Unabgeschlossenheit des Geschichtsverlaufs zu überspringen“139 und die Offenheit der Zukunft aus dem Blick zu verlieren. Das grundlegende menschliche „Bedürfnis nach universaler Einheit“140 , das uns bereits in der Antizipation der Sinntotalität begegnet ist, schärft – anders als dies im Kontext einer Anthropologie religiöser Erfahrung zu erwarten wäre141 – den Blick für die Vielfalt positiver Religionen. Gerade indem die Religionsgeschichte den Menschen als geschichtliches und soziales Wesen ernst nimmt, ermöglicht sie ein adäquates Verständnis der Dynamiken des Werdens und der Wandlungen der einzelnen Religionen, die zudem in vielfältigen geschichtlichen Beziehungen zueinander stehen.142 Dabei lässt sich auch die Religionsgeschichte, analog zur vom Menschen in seinem Denken immer schon vorausgesetzten Einheit der Geschichte als Universalgeschichte, nur von ihrem Ende her als intendierte Universalität denken, ohne die faktische Pluralität religiöser Weltdeutungen schon aufheben zu können.143 Wenn Religion als solche, wie oben bereits gezeigt wurde, darüber hinaus nicht einfach aus der Struktur menschlicher Erfahrung abgeleitet werden kann, sondern auf ein Zuvorkommen Gottes bzw. der Gottheit verweist und darin den Primat der göttlicher Wirklichkeit in allen religiösen Erfahrungen aufgreift, verbindet sich die Frage nach der Einheit religiöser Phänomene auf der Ebene des Menschen mit der Forderung nach einer „übergreifende[n] Einheit auf seiten der göttlichen Wirklichkeit“144 , die dieser nicht nur entspricht, sondern ihr im Sinne der alles bestimmenden Wirklichkeit schon zugrunde liegt – weshalb auch die Einheit der Religionsgeschichte im Gottesbegriff immer schon mitgesetzt ist. Da wir aber von einer Pluralität der Religionen ausgehen müssen und deren Einheit nicht in den Anfängen der Geschichte der Menschheit verorten können, legt es sich für Pannenberg nahe, „die Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte der Einheit Gottes zu betrachten, die von dem einen Gott bewirkt ist als Weg zur Offenbarung seines Wesens.“145 Auch wenn hier eine monotheistische, ja eine christliche Perspektive eingenommen wird, so doch nicht auf eine exklusive und dogmatische Weise146 , die allen anderen Religionen ihre „Unmittelbarkeit zum göttlichen Geheimnis“147
139 W. Pannenberg, Über historische und theologische Hermeneutik, in: GSTh 1, 123−158; hier: 149; vgl. GSTh 1, 73−75. 140 GSTh 1, 265. 141 Vgl. GSTh 1, 261f u. STh I, 159. 142 Vgl. GSTh 1, 264f. 143 Vgl. GSTh 1, 274. 144 STh I, 159. 145 STh I, 164. 146 Vgl. GSTh 1, 290f. 147 GSTh 1, 294.
Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis
von vornherein absprechen müsste. Vielmehr geht Pannenberg davon aus, dass sich die „integrative Kraft einer [jeden] Religion“148 im Laufe der Geschichte immer wieder aufs Neue daran zu bewähren habe, welchen Beitrag sie für das Selbst- und Weltverständnis der Menschen leisten kann. Auf dieser Linie lässt sich auch die allgemeine Frage nach der Wahrheit einer Religion als Frage nach dem Wirklichkeitsbezug der in ihr gebündelten Gottesvorstellungen und religiösen Erfahrungen konkretisieren149 – womit zugleich religiöse bzw. theologische Wahrheitsansprüche als Hypothesen über die Wirklichkeit im Ganzen150 einer zumindest vorläufigen Überprüfung zugänglich werden. Eine als fundamentale Theologie angelegte Theologie der Religionsgeschichte151 habe folgerichtig die Aussagen aller Religionen im Blick auf die geschichtliche und soziale Lebenswirklichkeit der Menschen als Hypothesen zu betrachten und zu prüfen, „inwieweit die in einem religiösen Phänomen zugrundeliegende, in ihm zum Ausdruck kommende Erfahrung des göttlichen Geheimnisses die Daseinswirklichkeit […] zu erhellen vermag und damit ihren Anspruch bewährt, einen Zugang zum göttlichen Geheimnis selbst zu eröffnen.“152 Jede Religion der Vergangenheit und der Gegenwart kann und muss somit nach Pannenberg darauf hin befragt werden, welchen Beitrag sie zur Deutung der sich wandelnden Lebenswelt der Menschen geleistet hat oder noch leistet. Dabei wird ihr ureigenster Anspruch, die vielfältigen geschichtlichen Erfahrungen der Menschen zu einem kohärenten Ganzen integrieren und ihnen so Orientierung für ihr Leben anbieten zu können, zum von einer jeweils konkreten Religion selbst gesetzten Maßstab ihrer Glaubwürdigkeit und letztlich auch ihrer Wahrheit.153 Die Prüfung der Wahrheitsansprüche der Religionen erfolgt somit nicht primär in Gestalt von (religions-)wissenschaftlichen Untersuchungen und Bewertungen, sondern im Prozess des religiösen Lebens und seiner geschichtlichen Wandlungen.154 Da aber die Geschichte der Welt unabgeschlossen und auf eine noch unbekannte Zukunft hin offen ist, kann uns die Wirklichkeit der Welt immer wieder anders, neu und überraschend begegnen – was auch die Pluralität der religiösen Perspektiven auf die eine Welt erklärt155 , denen Pannenberg in „unvoreingenommene[r] Aufgeschlossenheit für das Erschei-
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GSTh 1, 266; vgl. 268−272. Vgl. GSTh 1, 278. Vgl. WuTh, 325f u. 348. Vgl. WuTh, 372f u. 419. GSTh 1, 295; vgl. STh I, 175f. Vgl. WuTh, 318. Vgl. STh I, 175 Vgl. STh I, 176f.
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nen des göttlichen Geheimnisses und für seine Strittigkeit in der Geschichte der Religionen“156 bewusst Raum geben will. Bevor wir aber den Versuch einer theologischen Würdigung nichtchristlicher Religionen als Orte möglicher Gottesbegegnung unternehmen können, müssen wir nochmals kritisch nachfragen, was Pannenberg mit unvoreingenommener Aufgeschlossenheit meint, wenn er seine Theologie der Religionsgeschichte zugleich bewusst aus christlich-eschatologischer Perspektive entwirft. Er kann sich zum einen darauf berufen, dass wir subjektive Standpunkte auch in der Wissenschaft faktisch nicht einfach vermeiden oder einklammern können157 ; zum anderen wäre aber der viel spannenderen Frage nachzugehen, ob uns eine explizit theologische Deutung der Religionsgesichte, die weder dogmatisch noch einfach neutral sein will, neue Zusammenhänge erschließen könnte.158 Wenn die Bestimmung der Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses der inneren Logik der religionsgeschichtlichen Phänomene besser entspricht als andere Lesarten, „so ergibt sie sich doch nicht aus ihnen, sondern erst die Perspektive läßt die Phänomene entdecken. Und auf ihren eigenen Begriff bringen läßt sie sich wohl kaum ohne Bezugnahme auf den Gott der Bibel und seine eschatologische Offenbarung in Jesus Christus.“159 Ohne an dieser Stelle den drei Phasen in den dynamischen Wandlungsprozessen der Religionsgeschichte – universale Religionsgeschichte; spezielle Religionsgeschichte Israels: Offenbarung als Geschichte sowie universale Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus160 – sowie dem dabei sich ändernden Verhältnis von Religion und Offenbarung nachzugehen, soll der Hinweis genügen, dass aus Sicht von Pannenberg die religiösen Umbrüche und Wandlungen nur deshalb „selbst als göttliche Erscheinungsgeschichte“161 gedeutet werden können, weil wir sie immer schon vom Geschichtsverständnis Israels und dessen eschatologischer Zuschärfung in Christi Botschaft vom kommenden Reich Gottes und damit vom Ende her denken. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die Religionsgeschichte mit der eschatologisch-endgültigen Selbstmitteilung Gottes im Christusereignis schon an ihr Ende gekommen wäre162 und das Christentum als „eine Religion unter anderen“163 nicht länger als strittig zu gelten hätte.
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GSTh 1, 295 (herv. W. P.). Vgl. WuTh, 369. Vgl. WuTh, 323f. GSTh 1, 290. Vgl. Z. Slaczka, Offenbarung und Heil, 77. GSTh 1, 291. Vgl. GSTh 1, 291−293. W. Pannenberg, Das Christentum – eine Religion unter anderen?, in: BSTh 1, 173−184; hier: 173; vgl. 174 u. WuTh, 317.
Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis
3.4 Fazit: Religionen als Offenbarungs- und Heilswege? Es hat sich gezeigt, dass aus Sicht von Pannenberg nur von der Annahme einer definitiven Offenbarung her, genauer aus der Perspektive der eschatologischendgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus nach der Erscheinung der göttlichen Wirklichkeit in der Religionsgeschichte gefragt werden kann. Zugleich ist aber von der christlichen Offenbarung her auch geboten, die Unmittelbarkeit aller anderen Religionen zum göttlichen Geheimnis zu respektieren. Die hier nur angedeutete Spannung fordert von der Theologie im Umgang mit nichtchristlichen Religionen eine Aufgeschlossenheit, die deren Wahrheitsansprüche jenseits von standpunktfreier Objektivität und subjektiver Glaubensüberzeugung ernst zu nehmen versucht, ohne deshalb ihre grundlegenden Überzeugungen preisgeben zu müssen.164 Eine kritische Würdigung nichtchristlicher Religionen wird sich dabei insbesondere auf zwei hier bewusst zugespitzt formulierte Fragen, die sich in dieser Form bei Pannenberg nicht finden, zu konzentrieren haben: Lassen sich die Religionen theologisch als Wege der Offenbarung des einen Gottes und damit zugleich als Wege zum Heil verstehen?165 Bereits auf der Ebene anthropologischer Argumente ist deutlich geworden, dass der Mensch auf ein ihn übersteigendes Geheimnis angewiesen ist und diese Offenheit für eine göttliche Wirklichkeit „für das Menschsein des Menschen konstitutiv“166 ist. Obwohl dieses Geheimnis erst von einem religiösen Bewusstsein her plausibel mit Gott oder Göttern in Verbindung gebracht werden kann, ergeben sich daraus doch weitreichende Folgerungen für eine christliche Theologie der Religionen. So erhält etwa die Frage nach dem Verhältnis von philosophischer Theologie und Religion eine spezifische Wendung, wenn die „natürliche Kenntnis des Menschen von Gott“167 nicht primär in der natürlichen Theologie verortet, sondern nach Paulus (Röm 1,19f) an unserem Umgang mit der Schöpfung festgemacht wird. Das allen Menschen aufgrund ihrer Angewiesenheit auf ein ihr Dasein übersteigendes Geheimnis wenigstens implizit gemeinsame Wissen um Gott und seine Macht als Schöpfer der Welt sowie als Lenker der Geschichte gewinnt nach Pannenberg erst in den geschichtlichen Religionen Gestalt, wenn auch in vielfach verzerrter und gebrochener Weise. Schon die von Paulus angeprangerte Verkehrung
164 Vgl. GSTh 1, 295. 165 Vgl. Z. Slaczka, Offenbarung und Heil, 89 u. 98f. Siehe auch W. Pannenberg, Die Religionen in der Perspektive christlicher Theologie und die Selbstdarstellung des Christentums im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, in: Karl-Josef Kuschel (Hg.), Christentum und nichtchristliche Religionen. Theologische Modelle im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1994, 119−134; hier: 121. 166 W. Pannenberg, Die Religionen als Thema der Theologie. Die Relevanz der Religionen für das Selbstverständnis der Theologie, in: BSth I, 160−172; hier: 163. 167 STh I, 121 (herv. W. P.); vgl. 131f.
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des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpf unterstreicht die Ambivalenz der Religionen, ohne dass daraus vorschnell gefolgert werden dürfte, die Menschen anderer Kulturkreise hätten es in ihren religiösen Vorstellungen nicht mit derselben göttlichen Wirklichkeit zu tun, die Christinnen und Christen als den Schöpfergott der Bibel und Vater Jesu Christi bekennen. Gerade der biblische Schöpfungsglaube legt einer christlichen Theologie nahe, in den nichtchristlichen Religionen ein wenigstens implizites, wenn auch vielfach gebrochenes Wissen um den einen Gott und Schöpfer aller Menschen vorauszusetzen.168 Aus dieser Einschätzung ergibt sich die Folgefrage nach der Teilhabe an der Gemeinschaft mit Gott und damit der objektiven Vermittlung von Gottes Heil durch die Religionen. Diese Frage muss christliche Theologie nach Pannenberg zumindest dann verneinen, wenn damit gemeint sein sollte, Heil sei ohne jeden Bezug zu Gottes Handeln an Jesus Christus, in dessen Kreuz und Auferstehung er eschatologisch endgültig das Heil für alle Menschen gewirkt hat, zu erlangen.169 Dieser „Anspruch auf eschatologische Endgültigkeit“170 , der sich mit Jesu Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes verbindet, lässt aber auch einen gewissen Interpretationsspielraum zu. Die Kirche, die gemäß dem paulinischen Bild als Leib von Christus als ihrem Haupt unterschieden ist, kann „zu keiner Zeit der Geschichte [als] dem Umfang nach vollendet und nach außen abgeschlossen“171 oder als mit dem Reich Gottes identisch gedacht werden. Wenn allein „Jesus als Kriterium der Gottesbeziehung jedes Menschen“172 , sei er nun gläubiger Christ oder nicht, und damit der Heilsteilhabe gelten soll, können auch Menschen zu Gott und seinem Reich gehören, deren Lebenspraxis sich radikal an der Nächstenliebe orientiert und darin „faktisch der Gottesverkündigung Jesu entspricht“173 , die insbesondere im Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31−40) oder auch in den Seligpreisungen (Mt 5,3−12; Lk 6,22−26) ihr spezifisches Profil erhält. Aber auch diese Menschen – daran hält Pannenberg entschieden fest – werden „durch Jesus Christus und nicht durch die kultischen Einrichtungen ihrer Religionen am Heil teilhaben“174 , selbst dann, wenn ihnen die Praxis ihrer jeweiligen Religion eine erste Ahnung von der Heilshoffnung vermittelt haben mag und sie insofern in ihrer Suche nach dem einen Gott sogar fördert.175
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Vgl. W. Pannenberg, Die Religionen in der Perspektive christlicher Theologie, 122−126. Vgl. ebd. 126f sowie den Verweis auf Apg 4,10.12. Ebd. 127. W. Pannenberg, Die Religionen in der Perspektive christlicher Theologie, 128; vgl. STh III, 58. Ebd., 130. Ebd., 128; vgl. STh III, 661−663. BSTh 1, 172. Vgl. W. Pannenberg, Die Religionen in der Perspektive christlicher Theologie, 131.
Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis
Auch wenn wir aus christlicher Perspektive davon ausgehen müssen, dass alle Menschen als Geschöpfe auf den einen Gott bezogen sind und sich auf ihn hin ausrichten, bleibt Pannenberg in seinen Aussagen zu den Religionen insgesamt sehr zurückhaltend. Er bezeichnet sie selbst weder als Offenbarungs- noch als legitime Heilswege, schließt dabei aber keineswegs aus, dass Christinnen und Christen in der Begegnung mit anderen Religionen sich selber in einem neuen Licht sehen und besser verstehen lernen. Im Blick auf die noch ausstehende Vollendung der eschatologischen Zukunft des trinitarischen Gottes, der sich in Jesus Christus schon definitiv geoffenbart hat, ist zudem aus christlicher Sicht gegenüber anderen Religionen Toleranz, ja Demut und Lernbereitschaft gefordert.176 Dennoch kann sich die christliche Theologie im Dialog mit den anderen Religionen nach Pannenberg der damit unweigerlich verknüpften Herausforderung nicht entziehen, den drei Momenten „der Exklusivität des christlichen Wahrheitsanspruches, der Inklusivität des Glaubens an die Offenbarung Gottes als des einen Gottes aller Menschen und der Anerkennung eines faktischen Pluralismus unterschiedlicher Glaubensformen und Wahrheitsansprüche“177 gleichermaßen gerecht werden zu müssen.178
4.
Religionen als Wege der Gotteserkenntnis?
Im Blick auf den bisher zurückgelegten Weg mag es scheinen, als hätten die neuscholastisch grundierte transzendentale Theologie Karl Rahners und der historisch-
176 Nach Pannenberg können Christinnen und Christen im „Bewußtsein der Vorläufigkeit ihrer Offenbarungserkenntnis […] nicht fortfahren, als Besitzer der absoluten Wahrheit den anderen Religionen als offenkundigen Irrtümern zu begegnen. Christen können nun vielmehr anerkennen, daß die Anhänger anderer Religionen von der Suche nach demselben göttlichen Geheimnis bewegt sind, das wir als den Gott Israels und Jesu Christi kennengelernt haben, auch wenn andere es nicht in derselben Weise sehen können. Damit wird der Glaube an die endgültige Wahrheit Christi nicht etwa relativiert, sondern vertieft durch intensivere Besinnung darauf, was es heißt, dass die Wahrheit Christi die Majestät des Gekreuzigten ist. Die neue Einstellung zu Menschen anderen Glaubens bedeutet daher mehr als bloße Toleranz. Sie stellt eine neue und zeitgemäße Form christlicher Demut dar und kann den Christen sogar veranlassen, von anderen religiösen Überlieferungen zu lernen“ (W. Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, 39). 177 Vgl. Pannenberg, Die Religionen in der Perspektive christlicher Theologie, 133f. 178 Siehe dazu auch die grundsätzlich positive Einschätzung von Pannenbergs Religionstheologie bei C. E. Braaten, The Place of Christianity among World Religions. Wolfhart Pannenberg’s Theology of Religions and the History of Religions, in: C. E. Braaten / Ph. Clayton (Hg.), The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critiques with an Autobiographical Essay and Respons, Minneapolis 1988, 287–312; hier: 312.
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hermeneutische Ansatz Wolfhart Pannenbergs179 nur wenige Berührungspunkte. Die Spannungen auf methodischer Ebene, die auch im Umgang der beiden Theologen mit nichtchristlichen Religionen sichtbar werden, sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich beide auf eine Universalität der Theologie berufen, deren Ansprüche sich nur dann wahren lassen, wenn sie auf die Einheit der Menschheit und die Universalität Gottes gestützt werden können.180 Damit ist auch die Perspektive vorgegeben, in der die religionstheologischen Entwürfe von Rahner und Pannenberg miteinander ins Gespräch gebracht werden sollen. Pannenberg weiß sich mit Rahner darin einig, dass der Mensch in seinem Selbstund Weltverhältnis auf Gott verwiesen ist.181 Auch wenn er in allen seinen Lebensvollzügen von Anfang an in ein ihn übersteigendes Geheimnis hineingestellt ist182 und Gott damit folgerichtig zur Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt wird, können wir diese strukturelle Offenheit des Menschen für Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit aus Sicht des Münchner Theologen aber dennoch nicht als transzendental bzw. transzendentale Erfahrung deuten, weil die Verwiesenheit bei Rahner nicht als ein die Erfahrung strukturierendes Prinzip entfaltet wird.183 Dieser Einwand ist nicht allein einem an Kant geschulten Sprachgebrauch geschuldet, er weist bereits auf einen weiteren Kritikpunkt am transzendentaltheologischen Ansatz Rahners voraus. Nach Pannenberg habe dieser zwar in späteren Schriften die geschichtliche Vermittlung der Transzendentaltheologie explizit angesprochen184 und damit „den Primat der Geschichte im Prozeß der transzendentaltheologischen Selbsteinholung anerkannt“185 , diese Konzession – würde sie denn in ihrem vollen Gewicht ernst genommen – habe aber in letzter Konsequenz zur Folge, dass wir das Verhältnis zwischen Anthropologie und Christologie nicht mehr auf einer rein transzendentalen Ebene unter Ausklammerung der geschichtlichen Dynamiken bestimmen können.186 Auch wenn diese scharfe Kritik Rahner nur bedingt trifft187 , ist mit der Geschichtsthematik ein wesentlicher Punkt in der Kontroverse zwischen den beiden Theologen angesprochen, von
179 Worthing meint Pannenbergs Ansatz genauer „as a method of scientific, historical and hermeneutical universality, or perhaps, as a pan-critical-historico-hermeneutical method“ bestimmen zu können (M. W. Worthing, Foundations and Functions, 68). 180 Vgl. M. W. Worthing, Foundations and Functions, 393f u. 396f. 181 Vgl. STh I, 81 u. 130 in Verbindung mit KRSW 26, 57f. 182 Vgl. STh I, 128 in Verbindung mit KRSW 26, 26f. u. 39. 183 Vgl. STh I, 128 Anm. 107. 184 Vgl. KRSW 26, 201. 185 Vgl. H. Springhorn, Immanenz Gottes und Transzendenz der Welt, 476. 186 Vgl. STh II, 333 in Verbindung mit KRSW 26, 199−204. 187 Vgl. H. Springhorn, Immanenz Gottes und Transzendenz der Welt, 476−482.
Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis
dem her die Frage nach den Religionen als möglicher Orte der Gotteserkenntnis nochmals in einem anderen Licht erscheinen dürfte. 4.1 Religionen im Spannungsfeld von Weltgeschichte und Heilsgeschichte Während Pannenberg in seinen Überlegungen zum Verhältnis von Weltgeschichte und Heilsgeschichte Gott als Herrn der Geschichte bestimmt188 , kommt die Universalgeschichte bei Rahner im Kontext der Dynamik des Selbstvollzuges des geistigen Daseins des Menschen und seines Strebens nach Sinn in den Blick.189 Insofern es dem Menschen dabei um das Ganze seines Daseins oder, anders gesagt, um das oft nur bruchstückhaft aufscheinende Heil geht190 , kann Pannenberg Rahners Versuch, die „Geschichte des Heils […] als eine verborgene Dimension aller Geschichte“191 zu deuten, positiv würdigen. Wenn aber Gottes „Heilshandeln der Weltgeschichte koexistent“192 ist und innerhalb derselben immer und überall angetroffen werden kann, wird man, wie Pannenberg explizit bemerkt, auch „den nichtchristlichen Religionen eine der christlichen Religion analoge Bedeutung als Heilsvermittlung [zumindest, Verf.] für den vorchristlichen Menschen“193 zuschreiben dürfen. Allerdings fehle bei Rahner neben einer eingehenden „Reflexion auf die Vermittlungsfunktion der Menschheitsgeschichte und insbesondere der Religionsgeschichte für die Christusoffenbarung“194 auch eine ausgeprägte Sensibilität für den prozessualen Charakter der (Religions-)geschichte195 – eine Einschätzung, die so nicht ohne weiteres haltbar ist.196 Zum einen wird man nicht bestreiten können, dass auch Rahner die Heilsfrage als „für die Religionen überhaupt und für die Geschichte religiöser Veränderungen“197 spezifische Thematik ansieht. So ist für ihn die „Dynamik der Transzendenz des Geistes in die Unendlichkeit des schweigenden Geheimnisses, das wir Gott nennen“198 , nicht nur ein asymptotisches Streben, sondern kann diesen auch errei-
188 Vgl. W. Pannenberg, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, in: R. Koselleck / W.-D. Stempel (Hg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik 5), München 1973, 307−323; hier: 309. 189 Vgl. K. Rahner, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, in: KRSW 10, 590−604; hier: 595. 190 Vgl. W. Pannenberg, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, 312. 191 Ebd., 319; vgl. KRSW 10, 590f. 192 KRSW 10, 599; vgl. 594 u. KRSW 26, 141. 193 GSTh 1, 283 Anm. 47; vgl. KRSW 10, 568−570 u. 597. 194 GSTh 1, 283, Anm. 47 (herv. W. P.). 195 Vgl. GSTh 1, 285 Anm. 48 196 Vgl. H. Springhorn, Immanenz Gottes und Transzendenz der Welt, 486−489. 197 W. Pannenberg, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, 320. 198 KRSW 10, 595.
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chen oder wenigstens berühren, „weil Gott sich […] selbst von sich aus gibt“199 , indem er sich als innerste Kraft dieser Dynamik erweist und sie darin zugleich auf sich hin ausrichtet. Die durch den allgemeinen Heilswillen Gottes bewirkte Erhöhung des Menschen lässt sich nicht nur selbst als Ausdruck einer Offenbarung im weiten Sinn deuten200 , die von Rahner angesprochene Dynamik der Gnade hat umgekehrt auch zur Folge, dass die „vergöttlichte Grundbefindlichkeit des Menschen“201 nicht auf einer geschichtslos abstrakten Ebene verbleiben kann, sondern sich in der Geschichte religiös zu objektivieren sucht, ohne dass die Heilsgeschichte dabei einfachhin mit der Weltgeschichte zusammenfallen würde. Wenn Rahner dennoch ausdrücklich die Koexistenz und Koextensivität beider betont, so nicht zuletzt deshalb, weil er die Heilsfrage im Leben der Menschen verorten will, ohne dass sie schon immer thematisch oder gar beantwortet sein müsste.202 Ist diese letztlich gnadentheologisch unterlegte Interpretation Rahners tragfähig, muss konsequenterweise auch Pannenbergs Kritik, die Geschichte des Menschen außerhalb der von Gott selbst durch Offenbarung gedeuteten besonderen Heilsgeschichte lasse sich bei Rahner nicht „anders denn als Ausdruck der transzendentalen Disposition des Menschen für Gott“203 verstehen, zurückgewiesen werden. Selbst die Heilsgeschichte im engeren Sinn findet, wenn wir auf das Alte Testament blicken, ihren konkreten Ausdruck zunächst als eine religiöse Form unter anderen.204 Die dabei implizit durchscheinende positive Sicht auf die allgemeine Religionsgeschichte, die von Rahner nicht weiter ausgefaltet wird205 , legt sich schon allein deshalb nahe, weil erst in Jesus Christus „eine absolute und unlösliche Einheit zwischen Göttlichem und Menschlichem erreicht“206 wird, die in der Selbstoffenbarung Jesu auch geschichtlich verortet werden kann und damit der Geschichte ein spezifisches Profil verleiht. Mit der Menschwerdung des Logos an einem konkreten Ort und zu einer bestimmten Zeit in der Weltgeschichte wird „die allgemeine Heilsgeschichte auf ein Niveau ihres Selbstverständnisses gehoben, die uns erlaubt, von einer besonderen „Heilsgeschichte ausdrücklich worthafter, gesellschaftlicher und sakramentaler Art […], die für alle Menschen aller kommenden Zeiten bestimmt“207 und – so müsste man im Blick auf das Christusereignis wohl schon an dieser Stelle hinzufügen – auch bestimmend oder zumindest prägend sein soll, zu
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KRSW 10, 595. Vgl. KRSW 10, 596. KRSW 10, 597. Vgl. W. Pannenberg, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, 321. GSTh 1, 283 Anm. 47; vgl. STh III, 540 in Verbindung mit KRSW 10, 597−600. Vgl. KRSW 10, 599f. Vgl. KRSW 10, 597. KRSW 10, 600. KRSW 10, 600.
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sprechen. Die besondere Heilsgeschichte gewinnt ihre Legitimität also nicht „erst durch eine hinzutretende, besonders geoffenbarte göttliche Deutung“208 , sondern vom Christusereignis her, das „die Offenheit der allgemeinen Heilsgeschichte – diese erfüllend – in sich zusammenfaßt“209 und zugleich in seiner erinnerten Gestalt als christliche Hoffnung auf die noch ausstehende eschatologische Vollendung „die Frage nach der absoluten Zukunft“210 Gottes für die Menschen offen hält. Das Christusereignis markiert demnach – anders als von Pannenberg moniert – auch bei Rahner keine Diastase zwischen allgemeiner und besonderer Heilsgeschichte, sondern eine Differenz. Die Besonderheit Israels und des Christentums verdankt sich bei keinem der beiden Theologen einer punktuellen göttlichen Intervention, sondern ist mit Pannenberg „als geschichtliche Besonderung des religiösen Lebens“211 zu denken, in der auch die Geschichtlichkeit der Heilsfrage erstmals ausdrücklich Thema wird. Auch der dritte Einwand, Rahner würdige den prozessualen Charakter der Geschichte nicht ausreichend212 , kann wenigstens teilweise zurückgewiesen werden. Nach Rahner ist „die ,Entwicklung der Welt auf Christus hin konzipiert“213 und unterstreicht darin zugleich die schöpferische Kraft der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus, der als Fülle der Zeiten die dynamischen Entwicklungen der Geschichte des Kosmos immer schon trägt, in ihrer Vielfalt umgreift und zu ihrem Ende bzw. zu ihrer Fülle bringt.214 Die Inkarnation des Logos ist aber nicht nur Ziel und Ende der Weltwirklichkeit, sondern aufgrund ihres eschatologischen Charakters zugleich „inneres Moment und Bedingung für die allgemeine Begnadung der geistigen Kreatur mit Gott selbst“215 . Sie eröffnet allen Menschen einen Zugang zu Gott als Schöpfer, der ihrer radikalen Selbsttranszendenz vorausliegt und im Fortgang der innerweltlichen Geschichte auch nicht mehr überboten werden kann, weil die im Christusereignis aufscheinende „Unmittelbarkeit zum absoluten unendlichen Geheimnis Gottes alle kategorialen, innerweltlichen Leistungen des Menschen schon immer überholt hat“216 . Genau an diesem Punkt, der die eschatologische Spannung zwischen dem schon und dem noch nicht markiert, setzt Pannenberg
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GSTh 1, 283 Anm. 47. H. Springhorn, Immanenz Gottes und Transzendenz der Welt, 488. KRSW 26, 431. W. Pannenberg, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, 321. Vgl. GSTh 1, 285 Anm. 48. K. Rahner, Probleme der Christologie von heute, in: KRSW 12, 261−301; hier: 274 (herv. K. R.). Vgl. KRSW 12, 274 u. 276. K. Rahner, Die Christologie innerhalb einer evolutiven Weltordnung, in: KRSW 15, 219−247; hier: 238. 216 KRSW 15, 246; vgl. 245f.
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mit seiner Kritik an.217 Gerade weil Rahner „die Einheit der Geschichte und ihre Zentriertheit auf Christus“218 ernst nehmen will, stellt sich für ihn unweigerlich die Frage, ob „die ontologisch konstitutive Bedeutung des Eschaton für das Ganze der Geschichte“219 nicht noch klarer herausgearbeitet werden müsste, als dies in Rahners Konzeption von „Christus […] als prospektive[r] Entelechie“220 der ganzen Geschichte geschieht. Auch wenn man Rahners am ontologischen Modell der hypostatischen Union orientierten Denken221 nicht einfach unterstellen können wird, den prozessualen Charakter der Geschichte und damit auch ihre Würde sowie ihren Ernst zu verkennen, zeichnet sich an diesem Punkt doch eine grundlegende theologische Differenz ab, die Konsequenzen für das jeweilige Verständnis von Religion bzw. Religionen hat. Rahner setzt beim universalen Heilswillen Gottes an und deutet Geschichte im Sinne einer fortschreitenden Selbstdurchsetzung der gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes an den Menschen. Insofern die auf Christus hin zentrierte Geschichte der Menschheit und des Kosmos immer schon von der Gnade Gottes umfangen ist222 , ließe sich von einem gnadentheologischen Geschichtsverständnis sprechen, das die Frage nach der Einheit der empirischen Geschichte und nach ihrem Sinn nur mittelbar, im Blick auf Christus, thematisiert. Demgegenüber wird nach Pannenberg die empirische Geschichte von Welt und Menschheit erst vom Christusgeschehen, das aufgrund „seines eschatologischen Charakters den gemeinsamen Bezugspunkt […] für den Sinn“223 allen kontingenten Geschehens markiert, als Einheit verstehbar. Diese beiden Zugriffe auf Geschichte wirken, darauf ist nun in einem zweiten Schritt kurze einzugehen, auch im Umgang mit den Religionen fort. Obwohl Rahner selbst im Blick auf die drängende Frage nach der Möglichkeit einer Gotteserkenntnis in den Religionen an keiner Stelle konkret wird, dürfen wir mit Blick auf den allgemeinen Heilswillen und auf die allen Menschen von Gott her angebotene Gnade wohl annehmen, dass auch nichtchristliche Religionen bei all ihrer Gebrochenheit und Ambivalenz grundsätzlich auf Christus hin transparent sein bzw. werden können, ohne sie deshalb einfachhin zu legitimen Religionen erklären zu müssen. Die von Rahner vertretene heilsgeschichtliche Interpretation der Religionen ist und bleibt, wie bereits oben im Kontext der Frage nach der Legitimität der Religionen gezeigt wurde, prekär, bricht aber darin zugleich exklusivistische Engführungen in der Religionstheologie auf. Pannenbergs als fundamentale Theologie
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Vgl. Chr., 402−404. KRSW 12, 275. Chr., 403. KRSW 12, 275. Vgl. KRSW 12, 272−276. Vgl. die erste These des Gnadentraktates De gratia Christi in KRSW 5;1, 246. Chr., 404.
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angelegte Theologie der Religionsgeschichte erhebt demgegenüber den Anspruch, die christliche Religion als wahr in dem Sinne ausweisen zu können, als sie eine Hypothese über die Wirklichkeit im Ganzen formuliert und damit zugleich einen Raum eröffnet, innerhalb dessen sich die christliche Deutung von Welt und Geschichte bewähren und für das Leben der Menschen als fruchtbar erweisen muss. Trotz ihrer unterschiedlichen Ausgangsperspektiven lässt sich bei beiden Autoren eine Offenheit in Richtung anderer Religionen ausmachen, wobei Pannenberg deutlicher als Rahner auf die empirischen Religionen eingeht und darüber hinaus auf die Gefahren einer Reduktion der Religion auf individuelle religiöse Erfahrungen224 hinweist – ein Fallstrick, der uns im Blick auf das anonyme Christsein auch bei Rahner zumindest in Ansätzen begegnet ist. 4.2 Von der Schöpfung oder vom Eschaton her denken? – zwei Zugänge zu einer Theologie der Religionen Ein kritischer Blick auf Pannenbergs Grundlegung seiner Theologie der Religionsgeschichte – die weiter oben skizziert worden ist – macht deutlich, dass Rahners Rede von der Kreatürlichkeit des Menschen225 einen wichtigen Anknüpfungspunkt für ein Gespräch zwischen den beiden Theologen bieten kann. Wenn, so Pannenberg, „der eine Gott Schöpfer des Menschen sein soll, dann muß der Mensch als selbstbewusstes Wesen auch in irgendeiner, noch so inadäquaten Form um diesen seinen Ursprung wissen. Sein Dasein als Mensch müßte die Signatur der Geschöpflichkeit tragen, und das könnte dem Bewußtsein des Menschen von sich selbst nicht gänzlich verborgen bleiben.“226 Das ist insofern bedeutsam, als die Rede von Gott als Schöpfer und damit eine schöpfungstheologische Perspektive eng mit der anthropologischen Dimension der Religionstheologie verbunden ist.227 Zugleich weist Pannenberg aber auch deutlicher als Rahner darauf hin, dass Schöpfung und Eschatologie zusammengehören, weil „erst in der eschatologischen Vollendung die Bestimmung des Geschöpfes […] endgültig realisiert sein wird.“228 Da Schöpfung und Eschatologie aber vom Standpunkt des Geschöpfes aus nicht identisch sind, ergibt sich eine Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft bzw. zwischen Ursprung und Vollendung, die unser Welt- und Selbstverhältnis als Menschen auf vielfältige Weise prägt und sich daher auch in der Weltdeutung der verschiedenen Religionen widerspiegeln muss. Anders als bei Rahner, der sich in seiner
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Vgl. WuTh, 366. Vgl. KRSW 26, 77−82. STh I, 173. Vgl. W. Pannenberg, A Response to My American Friends, in: C. E. Braaten / Ph. Clayton (Hg.), The Theology of Wolfhart Pannenberg, 313−336; hier: 313f. 228 STh II, 164; vgl. STh III, 582f.
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Argumentation auf die fortlaufende Selbstdurchsetzung der gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte stützt, rückt Pannenberg die Hoffnung auf „die eschatologische Zukunft Gottes im Kommen seines Reiches“229 in den Fokus der Aufmerksamkeit. Weil in dieser Perspektive der Sinn der Schöpfung erst im Licht ihrer eschatologischen Vollendung erkennbar wird, erhalten für ihn auch die beiden Fragen nach dem Platz des Christentums innerhalb der Religionsgeschichte und nach dem theologischen Stellenwert der nichtchristlichen Religionen230 ein deutlich stärkeres Gewicht als bei seinem katholischen Kollegen. Auf einer historischen Ebene können wir nach Pannenberg erst im Blick auf die islamischen Eroberungen und insbesondere im Anschluss an die christliche Missionsgeschichte, die als entscheidender Katalysator in „einem globalen Prozeß religiöser Integration“231 gewirkt habe, „von einer allgemeinen Religionsgeschichte der Menschheit sprechen.“232 Weil dabei unterschiedliche Religionen mit ihren jeweiligen auf Universalität hin angelegten Sinndeutungen des Daseins in komplexe und oft konfliktreiche Beziehungen zueinander treten, kann die Einheit der Religionsgeschichte nicht am Anfang stehen, sondern höchstens im Sinne einer Antizipation vorausgesetzt werden. Dem steht allerdings nicht entgegen, dass die Einheit im Lauf der Geschichte trotz aller Konflikte immer wieder einmal in partikularen und prekären Formen religiöser Bewegungen wenigstens andeutungsweise Gestalt gewinnt. Neben der Missionsgeschichte, deren tieferer Grund in der Geschichte des Christentums selbst nochmals eigens zu behandeln wäre233 , kommt Pannenberg zufolge darüber hinaus zweitens auch der Offenheit des Christentums für die eschatologische Zukunft Gottes eine besondere Bedeutung bei der Herausbildung einer allgemeinen Religionsgeschichte zu. Dieser eschatologische Blick auf die Geschichte lasse sich bis zur Gotteserfahrung Israels zurückverfolgen, das „seine Hoffnungen ganz auf ein zukünftiges, endgültiges Heilshandeln Jahwes“234 gerichtet habe. In dieser Perspektive könne für das Volk Israel die von ihm erfahrene Geschichte – selbst die leidvolle – samt ihrer noch ausstehenden Zukunft, „die die Geschichte der Welt und der Menschheit einschließt, zur Erscheinungsgeschichte Gottes“235 und seines machtvollen Handelns werden. Diese Offenheit für die Zukunft und die hoffnungsvolle Ausrichtung auf die eschatologische Vollendung der Geschichte,
229 STh II, 172. 230 Vgl. M. W. Worthing, Foundations and Functions, 309−311 sowie C. E. Braaten, The Place of Christianity among World Religions, 304f. 231 GSTh 1, 274. 232 GSTh 1, 275. 233 Vgl. GSTh 1, 275f. 234 GSTh 1, 291. 235 STh 1, 186.
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die auch Jesu Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes prägt, ist folgerichtig für Pannenberg auch das entscheidende Argument für die besondere Stellung des Christentums unter den Weltreligionen236 und der eigentliche Grund für seinen Absolutheitsanspruch.237 Damit ist natürlich die drängende Frage aufgeworfen, ob eine derartige Perspektive – die teils durch eine natürliche Theologie philosophischer Prägung noch verschärft worden ist – für die anderen Religionen überhaupt akzeptabel sein kann. Um „zu einem differenzierteren Urteil über die Welt der Religionen zu gelangen“238 , plädiert Pannenberg für eine unvoreingenommene Offenheit gegenüber dem Erscheinen des göttlichen Geheimnisses. Auf diese Weise soll es gelingen, einen Raum für Dialog zu schaffen bzw. zu lassen.239 Wenn die Religionsgeschichte zudem erst von ihrem Ende her als Einheit gedacht und gedeutet werden kann, dann erlaubt uns eine kritische Auseinandersetzung mit den anderen Religionen, die deren Ansprüche und Maßstäbe ernst nimmt, auch „to evaluate the non-Christian religions in light not of where they are or of where they have been but in light of where they are going and toward that which they point.“240 Die Religionsgeschichte unterliegt also einer Dynamik des Werdens und Vergehens, die erst von Gott, der als alles bestimmende Wirklichkeit in der Geschichte – auch in derjenigen der Religionen – machtvoll wirkt und handelt, zu ihrem Ende und zu ihrer Vollendung gebracht werden wird. „Als die Macht der Zukunft ist der von Jesus verkündete Gott der kommenden Gottesherrschaft allen späteren Epochen der Geschichte der Kirche und der außerchristlichen Religionen schon voraus. Von daher stellt sich die Religionsgeschichte auch über die Zeit des Auftretens Jesu hinaus als Erscheinungsgeschichte des Gottes dar, der sich durch Jesus offenbart hat.“241 Aus diesem Grund können selbst die nichtchristlichen Religionen nicht einfach als
236 Vgl. WuTh, 370. Dort heißt es: „Faktisch hat […] die israelisch-christliche Überlieferung in besonderem Maße assimiiative und integrative Kraft bewährt, und ihr geschichtliches Bewußtsein sowie ihre Offenheit auf Zukunft haben sie befähigt, den geschichtlichen Veränderungen ihres Glaubensbewußtseins, statt sie aus dem Bewußtsein zu verdrängen, in viel höherem Maße Rechnung zu tragen als das z. B. in mythischen Religionen der Fall ist. Das sind jedoch keine dogmatischen, sondern empirische Feststellungen über die Besonderheit der jüdisch-christlichen Traditionslinie gegenüber anderen religiösen Überlieferungsprozessen. Jene besondere Traditionslinie hat freilich das geschichtliche Verständnis der Wirklichkeit überhaupt und so auch die geschichtliche Untersuchung der eigenen und anderer religiöser Überlieferungen allererst ermöglicht, aber darin allein wird heute niemand mehr eine dogmatische Befangenheit erblicken können, die den Blick für die vorurteilsfreie Würdigung der Phänomene verstellen würde“. 237 Vgl. GSTh 1, 292. 238 STh I, 132. 239 Vgl. GSTh 1, 295. 240 M. W. Worthing, Foundations and Functions, 311. 241 GSTh 1, 292.
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Erdichtungen der Menschen abgetan werden. Wie gebrochen und fragmentarisch das in Jesus bereits offenbar gewordene Geheimnis Gottes in ihnen auch immer erscheinen mag, sie bekommen es in ihren religiösen Erfahrungen, Vorstellungen und Kulten letztlich mit derselben göttlichen Wirklichkeit wie Christinnen und Christen zu tun und dürfen insofern auch berechtigterweise als genuine Zeugen für Gott in Anspruch genommen werden242 – eine Einsicht, die sich durch die Einheit der Religionsgeschichte, die ihrerseits bereits im Gottesbegriff als alles bestimmende Wirklichkeit grundgelegt ist243 , nochmals stützten lässt. Es scheint also eine produktive Dynamik wachsender, wenn auch nicht konfliktreier Verflechtungen zwischen den Religionen und ihren konkurrierenden Weltdeutungen zu geben244 , die von dem einen Gott als Schöpfer und Vollender der Geschichte umfangen ist und darin zugleich die für Pannenberg grundlegende „Annahme einer Einheit der Menschheit in ihrer religiösen Bestimmung“245 aufgreift, ohne dass deshalb die zentrale Stellung Jesu Christi als entscheidendes Kriterium der Gottesbeziehung eines jeden Menschen aus dem Blick geraten würde. 4.3 Religionen als mögliche Orte einer Gotteserkenntnis – Rückblick und Ausblick Insbesondere in den letzten beiden Abschnitten sind die Unterschiede zwischen der Religionstheologie Rahners und Pannenbergs deutlich hervorgetreten. Während der eine die gnadenhafte Selbstdurchsetzung der Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte betont, zielt der andere in seiner Argumentation auf ihre noch ausstehende Vollendung im Kommen des Reiches Gottes ab. Dabei ist für beide Theologen unbestritten, dass Jesus Christus das Gravitationszentrum christlicher Theologie und damit auch einer jeden Theologie der Religionen ist, ohne damit einen faktischen Pluralismus der Religionen zu bestreiten oder diese einfach als nichtchristlich abzuwerten. Bei allen Differenzen in der Einschätzung des theologischen Stellenwertes nichtchristlicher Religionen stimmen Rahner und Pannenberg doch darin überein,
242 Vgl. GSTh 1, 292f sowie zusammenfassend C. E. Braaten, The Place of Christianity among World Religions , 306. Dort heißt es: „The eschatological kingdom proleptically present in Jesus can be seen retrospectively to be active in all epochs prior to Christ and in all religions as the power of their end. Christianity can be assimilative of elements of truth in other religious traditions, because they too function as witnesses, in their own proleptic way, to the coming of the fullness of truth beyond their own limitations. Since the God of the future was present in Jesus as the eschatological power salvation, demonstrated by God’s raising of Jesus from the dead, a fact which is also open to historical-critical inquiry. Jesus holds a place of unique significance as the key to the future of the world and its salvation“ (herv. Verf.). 243 Vgl. STh I, 159. 244 Vgl. M. W. Worthing, Foundations and Functions, 313f. 245 STh I, 187.
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dass es auch außerhalb des Christentums Menschen geben kann, deren konkrete Lebenspraxis dem Evangelium entspricht, ohne sich dessen explizit bewusst sein zu müssen. Allerdings wird an diesem Punkt auch deutlich, wie sehr uns das christliche Liebesgebot als endliche und fragile Menschen überfordert. Wer wie Jesus zu leben versucht, lebt deshalb noch lange nicht christusförmig. Wir sind, ob Christen oder nicht, alle auf die gnadenhafte Zuwendung Gottes angewiesen, die uns immer wieder von neuem Orientierung gibt und uns auf unser Lebensziel in Gott hin ausrichtet. Die Spannung zwischen der Vielfalt der Religionen bzw. Glaubensformen einerseits und der Einheit des dreieinen Gottes, der uns in Jesus Christus als dem menschgewordenen Wort auf besondere Weise nahe gekommen ist, andererseits, kann in der Geschichte selbst nicht endgültig aufgelöst werden. Die hier vorgelegten vergleichenden Überlegungen zur Religionstheologie von Rahner und Pannenberg können und wollen zudem auch nicht den Anspruch erheben, eine ausgearbeitete Theologie der Religionen zu bieten. Sie bemühen sich lediglich darum, entlang des Gesprächs mit zwei Vordenkern des Religionsdialoges eine Sensibilität dafür zu wecken, vor welche Fragen und Herausforderungen wir in unserer gegenwärtigen Situation gestellt sind. Denn auch für denjenigen, der den Blick auf die konkrete Gegenwart bzw. die Zukunft eines konstruktiven Miteinanders der Religionen richten wollte, bleibt es eine wichtige Aufgabe, sich des bisher Erreichten und der Fundamente, auf denen er weiterbauen kann, zu vergewissern.
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Die Christologie als konstitutive Erfüllung der Religionsund Weltgeschichte Ein Mitdenken mit Wolfhart Pannenberg Der christliche Glaube stützt sich auf Geschichte. Nach ihm ist es die Gestalt Jesu Christi, mit der die Mitte und die Vollendung der Geschichte dieser Welt gegeben ist. Mit ihr sollten auch die Religionen der Welt ihre Erfüllung erreicht haben. Da sich aber das Christentum seit Ende des 18. Jahrhunderts immer deutlicher in den Kontext einer Vielfalt von Religionen und ihrer Geschichte eingefügt sah, wurde es auch, in eben dieser Zeit der Aufklärung, mit der Forderung konfrontiert, den Anspruch auf seine Überlegenheit vernünftig zu begründen, wenn es sich nicht, bei bloßer Behauptung dieser Vorzugsstellung, unglaubwürdig machen wollte. Nach Pannenberg war es vor allem Ernst Troeltsch, der in seinem Werk „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ (1901) die Frage nach jener Begründung mit Entschiedenheit stellte. Doch konnte er im Ergebnis „der christlichen Offenbarung keine ‚absolute‘ oder endgültige Wahrheit mehr zuerkennen“ (GsTh I, 254).1 Damit war dem Relativismus das Tor geöffnet, gegen den sich der Protest der „kerygmatischen“ Theologie erhob (ebd.), der freilich dem Problembewusstsein Troeltschs nicht gewachsen war. Besondere Zuspitzung gewann dieser Protest durch den Versuch Karl Barths, das Christentum aus dem Kontext der Religionen zu lösen und es damit auch der für akzeptabel gehaltenen feuerbachschen Religionskritik zu entziehen.2 Zweifellos hatte sowohl die kerygmatische als auch die dialektische Theologie berechtigte Anliegen, konnte sie aber im allgemein wissenschaftlichen Diskurs nicht überzeugend vertreten. Demgegenüber hält Wolfhart Pannenberg den Blick auf den Kontext der Religionen für eine Chance der Theologie, die Besonderheit des Christentums und seines Anspruchs tiefer zu erfassen und ihn nach allgemeinen Vernunftmaßstäben zu rechtfertigen. Dafür steht der Aufsatz: „Erwägungen zu einer Theologie der
1 Zitierte Schriften Wolfhart Pannenbergs: Systematische Theologie I, II (STh I, II), Göttingen 1988 / 1991; Grundfragen systematischer Theologie I, II (GsTh I/II) Göttingen 1971 / 1980; Grundzüge der Christologie (Chr), Gütersloh 5. Aufl. 1976: Beiträge zur systematischen Theologie I (BzsTh I), Göttingen 1999. 2 „Barths Verfahren, Feuerbachs Ableitung der Religion für die übrigen Religionen der Menschheit als gültig anzuerkennen, das Reden der christlichen Verkündigung und Theologie aber davon auszunehmen, kann nur als leichtfertig bezeichnet werden“ (STh I, 118).
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Religionsgeschichte“ (GsTh I, 252 - 295). Es gilt, so Pannenberg, sich auf die Religionswissenschaft einzulassen. In ihrer Form als Religionsphänomenologie (257 ff) geht es ihr darum, Gestalten, Riten oder Symbole der einzelnen Religionen zu vergleichen und Entsprechungen unter ihnen herauszustellen. Dabei gerät aber oft die geschichtliche Besonderheit der jeweiligen Phänomene aus dem Blick, etwa wenn „Asklepius, Apollon und Jesus als ‚Heilandsgestalten‘ miteinander genannt werden“ (259). Worin gründet dann die vermeintliche Gemeinsamkeit? Naheliegend scheint die Antwort: In der Psyche des Menschen. Mit dieser subjektivistischen Reduktion ist die Religionspsychologie allerdings belastet. Von Wahrheitsansprüchen der Religionen sieht sie ab oder leugnet sie. Aber legt nicht schon die Religionsgeschichte, die inzwischen eine breites Feld einnimmt, die Relativierung aller religiösen Wahrheitsansprüche nahe? Denn Religionen sind keine statischen Gebilde. Sie entstehen und vergehen, wandeln und beeinflussen sich. Dies gilt ebenso für das Christentum. Im Blick auf diese Geschichte gab es Versuche, sie evolutiv zu verstehen, etwa als Entwicklung von einem ursprünglichen Monotheismus zum Polytheismus, oder als Entwicklung in umgekehrter Richtung (265 ff). Doch empirisch ließ sich keine der Auffassungen erweisen. Entwicklungen zeigen sich durchaus, aber eher in der Weise vielfältiger Wechselwirkung der Religionen untereinander, so dass deren jeweilige Gestalten nur aus diesen Prozessen zu verstehen sind. Der Begriff „Synkretismus“ steht für diese empirische Gegebenheit. Er muss aber nicht, wie es meist geschieht, für einen Relativismus stehen. Pannenberg nimmt den Begriff vielmehr positiv auf (268 ff). Denn ganz offensichtlich verdanken auch Judentum und Christentum sich einem religiösen Kontext, im ersten Fall der altorientaltischen im zweiten der hellenischen Umwelt. In der Fähigkeit zur Aufnahme entsprehcend äußerer Einflüsse zeigt sich die „Integrationskraft“ (269) einer Religion und möglicherweise ihre Überlegenheit. Dieses Erprobungskriterium gilt um so mehr in unserer sich vernetzenden Welt „In den geschichtlichen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Religionen ist faktisch die Einheit der Religionsgeschichte hervorgetreten, oder besser: Dieser Prozess ist heute noch im Gange als ein Wettstreit der Religionen um die Wirklichkeit, ein Wettstreit, der darin begründet ist, dass Religionen es mit dem Gesamtverständnis der Wirklichkeit zu tun haben“ (270). Wenn es in den Religionen um dieses Gesamtverständnis geht, wird es auch um den Anspruch auf Wahrheit gehen. Die Religionspsychologie neigt dazu, das religiöse Bewusstsein in Anlehnung an die Projektionstheorie Feuerbachs anthropologisch zu deuten. Dagegen spricht aber, dass jenes sich selbst verstehende Bewusstsein aus der Erfahrung eines Sich-Zeigens des religiösen Gegenstandes lebt. Jene Deutung widerspricht also elementar seinem Selbstverständnis. Sie entstammt einem Blick „von außen“ und muss sich die kritische Frage gefallen lassen, ob sie auf diese Weise nicht dasjenige, was sie wissenschaftlich zu erforschen sucht, methodisch von vornherein verfehlt. Das gilt auch für Versuche, Religion auf soziologische,
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ökonomische oder politische Bedingungen zu reduzieren. Solche Bedingungen sind nicht zu leugnen, aber die spezifische Intentionalität des religiösen Bewusstseins geht in ihnen nicht auf, sondern vermag sich kraft eigener Perspektive zu ihnen zu verhalten. Dieses Spezifische ist anthropologisch zu begründen. Doch muss eine entsprechende Anthropologie dafür offen sein, „dass der Gedanke Gottes oder – unpersönlich – eines das eigene und alles endliche Dasein übersteigenden, geheimnisvollen Grundes alles Wirklichen in der über alles Endliche ausgreifenden Bewegung des menschlichen Daseins so impliziert ist, dass der Mensch sich angewiesen findet auf dieses sein eigenes Dasein übersteigende Geheimnis, so dass er nur von ihm begründeterweise die Erfüllung seines Daseins erhoffen kann“ (282). „Wenn es wirklich zur Struktur seines Daseins gehört, ein seine Endlichkeit übersteigendes Geheimnis der Wirklichkeit vorauszusetzen und sich auf dieses als Erfüllung seines eigenen Seins zu beziehen, dann lebt der Mensch faktisch immer schon im Umgang mit dieser Wirklichkeit“ (283). „Umgang“ aber bedeutet Erfahrungsbeziehung mit diesem Geheimnis zu haben. Zugleich ist der Umgang ein Geschehen und somit geschichtlich geprägt. Pannenberg wendet sich wegen dieses geschichtlichen Erfahrungscharakters gegen die Lehre von einem religiösen „Apriori“ (280 f), da sich das mit diesem Begriff Gemeinte der Erfahrung und ihrer Geschichtlichkeit entziehe. Den Begriff einer „transzendentalen Erfahrung“, wie ihn Karl Rahner verwendet, lehnt Pannenberg ab. Dies ist berechtigt, solange man „transzendental“ im kantischen Sinne versteht. Hier steht das Apriori der Erfahrung strikt gegenüber. Doch nach Rahner schließt die prinzípielle Reflexivität der Vernunft diese Trennung aus. Als Sichselbst-Gegebensein ist die Vernunft bis in ihre Wurzel rezeptiv, auch und gerade in ihrer Offenheit auf das die Endlichkeit übersteigende Unendliche hin.3 Begünstigt wird die Kritik Pannenbergs durch den Eindruck, dass Rahner (besonders in „Hörer des Wortes“) die geschichtliche Erfahrung Gottes auf den „einen Heilsbringer“ zu beschränken scheint. Doch hat, wie Pannenberg selbst vermerkt, Rahner diese Fokussierung später in ein umfassenderes Verständnis des Sich-Zeigens Gottes in der Geschichte eingebettet (siehe dazu 283, 285, die Anm 47 und 48). Die Erfahrung der Veränderlichkeit und des Vergehens hat in das Selbstbewusstsein der Religionen durchaus Eingang gefunden. Davon zeugt die rituelle Vergegenwärtigung einer normativen Urzeit in ihnen. Sie sollte der Unbeständigkeit der Verhältnisse des Lebens entgegenwirken (287 f). Die Zukunft wurde in dieser Sicht durchweg kritisch betrachtet als Gefährdung göttlich gesetzter Ordnung. Dies änderte sich in der Religion Israels. Ereignisse wie die Befreiung aus Ägypten, die Gesetzgebung am Sinai, die Landnahme und die Einsetzung des Königtums
3 Dazu: Johannes Herzgsell, Karl Rahner, in: Große Denker des Jesuitenordens, Paderborn 2016, 96–102.
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galten als von Gott gestiftete Vorgaben einer für alle Zukunft gültigen Ordnung. Da man immerhin wusste, dass es sich um geschichtliche Ereignisse handelte, war es grundsätzlich möglich, auch das Ende des Königtums und das Exil nicht als den Schlusspunkt göttlichen Handelns anzusehen, sondern eingedenk der früheren Bezeugungen der Treue Gottes auch für die Zukunft auf seine heilbringende Geschichtsmacht zu vertrauen. „Im Unterschied zu anderen Völkern und ihren Religionen hat nun Israel im Lichte seiner besonderen Gotteserfahrung die Daseinswirklichkeit als Geschichte auf ein noch nicht erschienenes Ziel hin verstehen gelernt“ (291). Das gelang nur allmählich und in einem schmerzhaften Prozess. Denn „immer noch suchte Israel die grundlegende Offenbarung seines Gottes in Ereignissen der Vergangenheit, in der Gesetzgebung vom Sinai, nicht in der Zukunft seiner Herrschaft. Erst Jesus kehrte dieses Verhältnis um und setzte sich über die religiösen Traditionen seines Volkes hinweg, wo es um der kommenden Herrschaft Gottes willen nötig schien“ (291). Gott konnte dann verstanden werden als „Macht zur Verwandlung seiner eigenen früheren Manifestationen“ (292). Jesus wurde selbst zur entscheidenden Manifestation dieses Gottes, „weil er von seiner eigenen Person wegwies auf die kommende Gottesherrschaft“ (292). Gott erscheint in Jesus. In der radikalen und bedingungslosen Ausrichtung Jesu auf Gott konnte dieser in ihm erscheinen, und zwar vollkommen und als er selbst, als die letzte Zukunft und die Macht dieser Welt. „Als Macht der Zukunft ist der von Jesus verkündete Gott der kommenden Gottesherrschaft allen späteren Epochen der Geschichte der Kirche und der außerchristlichen Religionen schon voraus. Von daher stellt sich die Religionsgeschichte auch über die Zeit des Auftretens Jesu hinaus als Erscheinungsgeschichte des Gottes dar, der sich durch Jesus offenbart hat“ (292). Das eröffnet einen Rückblick auf die gesamte Religionsgeschichte. „Die fremden Religionen können nicht zureichend als bloße Erdichtungen der dem wahren Gott widerstrebenden Menschen gedeutet werden. Sie haben es letztlich mit derselben göttlichen Wirklichkeit zu tun wie die Botschaft Jesu“ (293). Es bleibt also zu prüfen, „in wieweit die einem religiösen Phänomen zugrundeliegende, in ihm zum Ausdruck kommende Erfahrung des göttlichen Geheimnisses die Daseinswirklichkeit, wie sie damals erfahren wurde und wie sie sich heutiger Erfahrung darstellt, zu erhellen vermag und damit ihren Anspruch bewährt, einen Zugang zum göttlichen Geheimnis selbst zu eröffnen“ (295). Wenn alle Religionen sich letztlich auf denselben Gott beziehen, muss es also in fairem „Wettstreit“ auch um den angemessenen Begriff von Gott gehen. Wichtig war diesbezüglich für das Christentum, aber auch schon für das Judentum, der Schritt in die geistige Welt des Hellenismus. Denn in der griechischen Philosophie konnte man eine Entsprechung zum eigenen Gottesgedanken erkennen (Weis 13; Röm 1, 19 f; Apg 17, 16 - 29). Freilich ergaben sich auch Unterschiede, vor allem im Gott-Welt-Verhältnis. Der jüdisch-christliche Schöpfungsbegriff ist radikaler, sogar als die wohl weitgehendste Schöpfungslehre der Antike in Platons Dialog
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„Timaios“, nach welcher der Weltbaumeister (Demiurg) doch noch mit einer ihm vorgegebenen Materie zu tun hat. Der Timaios reicht also nicht an den biblischen Schöpfungsbegriff heran, nach dem Gott ohne Vorgabe die Welt in ihrer Selbständigkeit begründet und dessen logische Konsequenz der Begriff der Schöpfung aus dem Nichts ist (2 Makk 7, 28). Dieser Begriff eröffnete auch die Perspektive einer permanenten, die Selbständigkeit der Geschöpfe ermöglichenden und mit ihnen interagierenden Präsenz des Schöpfers in der Welt. Die derartige Präsenz wird im Christentum in der größtmöglichen Radikalität gedacht, so nämlich, dass sich Gott in einem Geschöpf, in einem Menschen, in Jesus, und im Gegenüber zu ihm, auf sich selbst bezieht. Von dieser Präsenz ausgehend musste die Transzendenz Gottes neu gedacht werden. Seine Jenseitigkeit musste nun so gedacht werden, dass sie die Diesseitigkeit der Welt nicht nur umgreift, sondern so, dass Gott im Bezug zu ihr das eigene Selbstsein vollkommen in ihr auszusprechen vermag. Damit wurde der griechische Transzendenzbegriff keineswegs getilgt. Er wurde vielmehr radikalisiert und so zu höherer Konsistenz gebracht. „Der Ursprung eines spezifisch christlichen Gottesverständnisses in der Geschichte Jesu steht daher nicht exklusiv gegen alles außerchristliche Reden von Gott, sondern ist als Modifikation der jüdischen wie auch der griechischen oder anderweitiger Gottesgedanken im Lichte der Geschichte Jesu zu verstehen. Das bedeutet für den griechisch-platonischen Gedanken der Jenseitigkeit Gottes im Verhältnis zur irdisch-materiellen Sphäre, dass die Wirklichkeit Gottes dem Endlichen nicht einfach entgegengesetzt ist, sondern es zugleich in sich begreift. Die Auffassung der Ewigkeit Gottes im Sinne zeitloser Gegenwart ist im Lichte der Spannung von Zukunft und Gegenwart in der Geschichte Jesu zu korrigieren. Der jüdische Gedanke der Allmacht Gottes aber ist dahin zu konkretisieren, dass die Macht des Gottes Jesu gerade in der Form seiner scheinbaren Ohnmacht gegenwärtig wirksam ist“ (GsTh II, 140). Die logische Grundstruktur dieser Modifikation wurde von Hegel in dem Begriff der „wahren Unendlichkeit“ gefasst. Sie besagt, dass die Unendlichkeit dem Endlichen nicht einfach gegenübergestellt werden kann. Das würde sie selbst verendlichen. Man kann sie nur so denken, dass sie das Endliche mit umfasst und in den eigenen Selbstbezug zu heben vermag. Dieser nach Hegel einzig mögliche Begriff des Absoluten entspricht dem christlichen Gottesgedanken.4 Das eben gegebene Zitat von Pannenberg ist eine theologische Ausbuchstabierung dieses Begriffs. Die Jenseitigkeit des christlichen Gottes erfüllt sich in seiner vollkommenen Präsenz in dieser Welt. Die Ewigkeit Gottes muss dementsprechend so gedacht werden, dass sie die Zeit umgreift, d. h. sie ermöglichend in absoluter Weise in sich fasst. Die schöpferische Macht Gottes ist zudem keine freiheitsfeindliche Determination seiner Geschöpfe, sondern ein Antworten auf ihre gewährte Eigentätigkeit. Diese
4 Dazu genauer: Pannenbergstudien, Band 6, 141.
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radikalste Modifikation eines vor- oder außerchristlichen Gottesgedankens fügt sich ein in den logischen Rahmen der „wahren Unendlichkeit“. Es ist der Gedanke, dass Gott im Schöpfungsverhältnis seinen personalen und ewigen Selbstbezug ausspricht. Dies ist die Lehre von der Trinität Gottes. Gegen sie wird vom Judentum und Islam der Vorwurf einer Abkehr vom Monotheismus erhoben. „Die christliche Theologie hat im Dialog mit den Juden (und auch gegenüber dem Islam) zu zeigen, dass gerade das trinitarische Gottesverständnis erst wirklich konsequent monotheistisch ist, weil es Gott nicht einseitig in seiner Transzendenz und damit faktisch als Korrelat des Weltbegriffs denkt, sondern als in seiner Transzendenz zugleich auch immanent und daher alles umgreifend“ (BzsTh I, 155; ebenso 181). Zwar ist die Schöpfung ein Sich-Wenden Gottes „nach außen“, indem er Endlichem, also anderem im Verhältnis zu ihm das Sein gewährt. Aber dieses schöpferische Handeln ist in Gott begründet. Es ist ihm nicht äußerlich. In der Konsequenz besagt dies: „Das Handeln des einen Gottes im Weltverhältnis ist nicht ein völlig anderes als in seinem trinitarischen Leben, sondern in ihm wendet sich dieses trinitarische Leben selber nach außen, tritt aus sich heraus und wird zum Bestimmungsgrund der Beziehungen zwischen Schöpfer und Geschöpf “ (STh II, 19). Das bedeutet, dass in der im Weltbezug sich darstellenden trinitarischen Gegenseitigkeit auch die Selbständigkeit der Welt Gott gegenüber begründet ist. „Im Sohn liegt der Ursprung von allem dem Vater gegenüber anderen, der Ursprung also auch der Selbständigkeit der Geschöpfe gegenüber dem Schöpfer“ (STh II, 36). Man muss den Eindruck haben, dass dieser Zusammenhang der Hegelschen Religionsphilosophie entspricht, die sich gegen den spinozistischen Monismus wandte mit dem Argument, dass erst mit der Schöpfung als dem Anderen zu Gott dessen Einheit mit sich selbst hervorgeht (STh II, 33; Hegel: TW 17, 241 ff5 ). Pannenbergs Kritik wendet sich eigentlich nur gegen das Zustandekommen dieses Bezuges, „weil Hegel damit die Behauptung einer logisch notwendigen Selbstentfaltung des Absoluten zur Hervorbringung einer Welt des Endlichen verband“ (STh II, 43)6 . „Wird jedoch das Leben der Trinität von der Wechselseitigkeit der Beziehungen der trinitarischen Personen her gedacht, dann ergibt sich eine solche Konsequenz nicht. Für jede der trinitarischen Personen nämlich erwies sich die Selbstunterscheidung von den beiden anderen als Bedingung ihrer Gemeinschaft in der Einheit des göttlichen Lebens“ (STh II, 43). Durch die Selbstunterscheidung Jesu von Gott ist er eins mit ihm, d. h. indem er von sich weg auf ihn verwies konnte dieser in ihm erscheinen.
5 TW = Hegel. Theorie-Werkausgabe, 20 Bände, Frankfurt a.M. 1969–71. 6 Hegels „Notwendigkeit“ ist in diesem Zusammenhang allerdings eine solche absoluter Freiheit: „Es ist die absolute Idee, die sich bestimmt, und die, indem sie sich bestimmt, als absolut frei in sich in ihr selbst sicher ist; so ist sie dies, indem sie sich bestimmt, dies Bestimmte als Freies zu entlassen, dass es als Selbständiges ist, als selbständiges Objekt. Das Freie ist nur für das Freie vorhanden“ (TW 17, 243).
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„Dieses Geschehen der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater konstituiert die Offenbarung des ewigen Sohnes im irdischen Dasein Jesu [...] In der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater liegt also zunächst der Erkenntnisgrund für das ewige Sohnsein Jesu. Sollte dann aber nicht umgekehrt in der Selbstunterscheidung des ewigen Sohnes vom Vater der Seinsgrund für das Dasein des Geschöpfes in seiner Unterschiedenheit vom Schöpfer zu suchen sein? Die der väterlichen Zuwendung zum Sohne korrespondierende Selbstunterscheidung des Sohnes, die dem Vater allein die Ehre gibt, der eine Gott zu sein, bildet den Ansatzpunkt für das Anderssein und die Selbständigkeit geschöpflichen Daseins. Wenn nämlich der ewige Sohn in der Demut seiner Selbstunterscheidung vom Vater aus der Einheit der Gottheit heraustritt, indem er den Vater allein Gott sein lässt, dann ist im Gegenüber zum Vater das Geschöpf entstanden, genauer gesagt dasjenige Geschöpf, dem sein Verhältnis zu Gott als seinem Vater und Schöpfer thematisch wird: der Mensch. Mit dem Menschen ist aber auch das Dasein einer Welt gesetzt, weil sie die Bedingung für die Möglichkeit des Menschen ist“ (STh II, 36 f). Die Selbstunterscheidung des Sohnes ist Mitbegründung der Schöpfung. Davon spricht der Kolosserbrief in großer Klarheit: „Denn in ihm (Christus) ward alles erschaffen, im Himmel und auf Erden [...] Alles ist erschaffen durch ihn (!) und auf ihn hin. Und er ist vor allem, und alles hat in ihm Bestand“ (Kol 1, 16 f). Die Aktivität des Sohnes bringt die Schöpfung zu ihrer Erfüllung und damit zu ihrem eigentlichen Sein.7 Die Schöpfung ist erst sie selbst durch den Sohn. Seine Aktivität ist dabei nichts anderes als die Selbstunterscheidung vom Vater. Damit ist eine Ontologie der Welt ausgesprochen. Die Welt hat überhaupt erst ihr eigenes Sein, ihre eigene Substantialität im Sohn und in dessen Selbstvollzug. Wenn aber die Schöpfung ihr Selbstsein erst besitzt indem sie sich als solche begreift und sich ihrem Schöpfer in Dankbarkeit zuwendet, d. h. sich von sich weg auf ihn hin bewegt, und wenn dies in der konstitutiven Zusammenfassung der Schöpfung im Sohn geschieht, dann hat sie in ihm erst ihr eigenes Sein, und weil dieses Sein die Hingabe des Sohnes an den Vater ist, hat sie in der Teilnahme an diesem Vollzug die Teilnahme am Leben Gottes. Die Auferstehung des Sohnes aus dem Tod ist damit der Anbruch des neuen Lebens, das von vornherein der Wille des trinitarischen Gottes ist. „Die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater ist das Prinzip der Besonderheit, die zugleich das ihr gegenüber andere in seiner Besonderheit anerkennt. Das gilt nun auch für das geschöpflich andere. Daraus erwächst die Ordnung der geschöpflichen Welt in den gegenseitigen Verhältnissen ihrer unterschiedlichen
7 Die finale Bestimmung ist keine Einschränkung. „Die finale Hinordnung der Geschöpfe auf das Erscheinen Jesu Christi setzt vielmehr voraus, dass die Geschöpfe schon den Ursprung ihres Daseins und Wesens im Sohne haben“. Sie bliebe sonst „den Dingen selber äußerlich“ (STh II, 39).
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Gestaltungen“ (STh II, 47).8 Das das Wesen der Schöpfung bestimmende Ziel, im Sein des Sohnes ihr eigenes Sein zu besitzen, setzt ihre Freiheit zum Mitvollzug der Selbstunterscheidung des Sohnes voraus. Gott will die sich selbst vollziehende Schöpfung nach ihrem eigenen Wesen, und er will sie als Pluralität der Geschöpfe. Eben diese Pluralität folgt aus der Konkretheit des Sohnes als einzelner Mensch. Jesus wusste sich dem Vater gegenüber „als Geschöpf “. „Damit zugleich ließ er auch das selbständige Dasein anderer Geschöpfe neben sich gelten“ (STh II. 44). Der Schritt in die Andersheit der Welt ist also alles andere als ein „Abfall“ von der Unendlichkeit (so noch Schelling), sondern ein Akt überquellender Güte des Schöpfers, der die Vielfalt des Endlichen nach dessen je eigenen Chancen der Selbstentfaltung am göttlichen Leben teilnehmen lassen will. „Solche Teilnahme“ erhalten die Geschöpfe „in der Bewegung ihres Lebens, sofern Leben sich in Überschreitung der eigenen Endlichkeit vollzieht. Solches Leben als die eigene Endlichkeit transzendierende Teilhabe an Gott ist das besondere Werk des Geistes in der Schöpfung, das mit dem des Sohnes auf das engste verbunden ist. Das gilt nicht nur für das einzelne Geschöpf, sondern auch für die in der Interaktion der Geschöpfe sich konkretisierende Dynamik der Schöpfung insgesamt, für die ‚Geschichte der Natur‘“ (STh II, 47 f). Ziel dieser Selbsttranszendenz der Schöpfung (womit sie sich als „Evolution“ präsentiert, STh II, 48) ist die ihrem Wesen entsprechende Einheit mit dem Sohn. An ihr soll jedes Geschöpf nach seiner Besonderheit teilhaben. Herausfallen aus dieser Einheit kann es nur, wenn es in destruktivem Selbstwiderspruch seine Transzendenzfähigkeit zur Verfestigung der eigenen Besonderheit missbraucht. Die Mitte der Welt ist ein Einzelner unter Vielen. Als Einzelner ist er Person, und nur als Person ist die Mitte der Welt das Du, auf das sich Gott als Vater bezieht. Das trinitarische Gegenüber des Vaters ist nicht ein Allgemeines, etwa ein allgemeines Weltprinzip, sondern eine Person, und eben die ist in der Welt ein einzelner Mensch. Nur in dieser Person ist Gott im exklusiv Anderen ganz bei sich. Eben dieses exklusiv Andere ist somit die höchste Würdigung menschlicher Personalität. Als
8 Der von Pannenberg zitierte (STh II, 33 u. 46) Hegeltext, nach dem das trinitarische Gott-WeltVerhältnis bedeutet, „dass der Unterschied sein Recht erhält, das Recht der Verschiedenheit“ (TW 17, 244), besagt, dass mit diesem „Recht“, sowohl der innertrinitarische Unterschied als auch der mit ihm verbundene Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf als auch der die Welt in ihrer Pluralität konstituierende Unterschied durch Gott begründet ist. H. U. von Balthasar spricht diesen Zusammenhang so aus: „Wo Gott [...] nur der Eine sein kann, bleibt jede befriedigende Erklärung für das Andere unfindbar“. Dort, wo philosophisch so gedacht wurde, „konnte die Welt als das Andere und Viele nur als Herausfall aus dem einzig in sich seligen Einen gedacht werden“ (Theologik II, Einsiedeln 1985, 166). „Wenn es aber absolut gut ist, daß es den Anderen gibt, dann ist diese Andersheit innerhalb der vollkommenen Wesenseinheit das Fundament für die mögliche Andersheit auch des mit Gott nicht wesenseinen Geschöpfs und für die diesem eigentümlichen unaufhebbaren Differenzen“ (ebd. 76).
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einzelne Personen sind wir eins mit der Person des Sohnes, sind seine Brüder und Schwestern, sind „Kinder Gottes“ und „Miterben Christi“ (Röm 8 16 f). Die Selbsttranszendenz weist den Menschen über sich hinaus, Sie weist ihn auch über seinen Tod hinaus, über das Ende seines irdischen Lebens. Gäbe es für ihn keine solche Zukunft, wäre er auf sein endliches irdisches Dasein zurückgeworfen. Aber seine Selbsttranszendenz auf Gott als seine absolute Zukunft, ohne die er seine Freiheit und die Möglichkeit zur Selbstdistanzierung nicht hätte, spricht gegen solche Reduktion auf das faktisch Irdische. Die dem Menschen gegebene konstitutive Offenheit für den Gott der Zukunft berechtigt ihn zu solcher Zuversicht. In Jesu Auferstehung ist freilich die gesamte Welt in eine solche Selbsttranszendenz über ihren Tod hinaus einbezogen. Denn in Jesu Tod und Auferstehung hat Gott die Mitte der Welt den Schritt über ihr Ende hinaus in das Leben einer neuen Welt tun lassen. Das leere Grab, auf dessen Historizität Pannenberg so entschieden besteht (vgl. Chr 97 ff) ist Zeichen des radikalen Endes dieser Welt. Auch Jesu Leib ist verschwunden. Aber mit seinem Verschwinden ist er nicht ins Nichts gefallen und mit ihm nicht die Welt. Vielmehr ist der „neue Himmel und die neue Erde“ (Jes 65, 17; Apk 21 angebrochen. Das Verschwinden des Leibes Jesu bedeutet, dass auch der Leib, d. h. der ganze Mensch Jesus, mitgenommen ist in die neue Welt. Was in seiner Auferstehung anfanghaft geschehen ist, soll auch unsere Zukunft sein. Wir erwarten sie im Hinblick auf unseren individuellen Tod, aber auch auf das Ende der Welt, d. h. auf ihren Tod, dem wir kollektiv entgegengehen. Die Auferstehung Jesu gibt uns die Gewähr, dass dieser Tod nicht Vernichtung sein wird, sondern Verwandlung, aber eine Verwandlung durch den Tod hindurch – oder als Tod. Sie ist nämlich nur möglich, wenn unser Tod zur Hingabe wird – in der doppelten Bedeutung des Wortes: als Weggeben und Übergeben. Dann ist auch der Tod erlöst. Er ist dann selbst Lebensvollzug und zwar der entscheidende, nämlich in der Einheit mit der Selbstunterscheidung des Sohnes, der in diesem Vollzug sein göttliches Leben besitzt. In der Feier der Eucharistie ist uns jetzt schon die Verbindung mit unserem Herrn angeboten, indem wir in der Aufnahme seines Leibes als Nahrung (Joh 6) uns von ihm zu Gliedern seines Auferstehungsleibes verbinden lassen.(1 Kor 10, 16) (STh III, 365 ff). Dieses leibhafte Leben mit ihm, das jetzt noch „verborgen in Gott“ ist, wird in der Zukunft, die wir erwarten, mit Christus „als unser Leben erscheinen“ (Kol 3, 3 f). „Dass Gottes Herrschaft und mit ihr das Leben des Auferstandenen und in ihm unser Leben auf Erden offenbar werde, das ist die Zukunft, die wir erhoffen und aus deren Kraft wir gegenwärtig leben“ (GsTh II, 173).
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Die Bedeutung der Religionskritik bei Wolfhart Pannenberg und Falk Wagner Eine Spurensuche
Einleitung Am Ende seiner Tätigkeit an der Münchener Theologischen Fakultät und im Übergang nach Wien fasste Falk Wagner den Ertrag im Aufsatzsammelband „Was ist Theologie?“ (1989) zusammen.1 Der Band wird ganz aktuell mit Passagen der am 27. Juli 1988 gehaltenen Abschiedsvorlesung eingeleitet, die von Wagner selbst vor allem im Sinne eines Rückblicks auf die Münchener Wirksamkeit verstanden ist, obwohl ihre Aussagen überaus ambivalent und durchaus janusköpfig im Hinblick auf die Gesamtentwicklung Wagners erscheinen.2 In dem diesem Band beigegebenen Vorwort vom März 1989 findet sich am Ende der durchaus verblüffende Satz: „Als Zeichen des Dankes für jahrelange und vielfältige Förderungen und als Ausdruck der Verbundenheit widme ich diese Studien meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. Wolfhart Pannenberg.“3 Wer die Spannungen und oft hart geführten Auseinandersetzungen der 1980er Jahre vor Augen hat, wird eine gewissen Verwunderung nicht verhehlen können. Man kann diese Widmung in dreierlei Hinsicht auffassen und sogleich beiseitelegen. Einmal könnte man sie (nur) als eine versöhnliche Geste am Ende der Münchener Zeit Wagners auffassen; mit seinem Weggang haben sich auch die persönlichen Spannungen erledigt. Zum anderen könnte man auf den rein formalen Karriereweg hinweisen: Pannenberg hat Wagner die „zunftgemäße“ Karriere als Theologieprofessor ermöglicht, darauf bezieht sich ganz zu Recht sein Dank. Man braucht nur die Gegenprobe zu machen und sich zu überlegen, an welcher deutschsprachigen Fakultät Anfang der 1970er Jahre sich Wagner sonst hätte habilitieren können (wenn auch selbst in München mit einigen Mühen). Schließlich kann man darauf hinweisen, dass im klassischen Verständnis einer Lehrer-Schüler-Beziehung
1 F. Wagner, Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989. 2 Vgl. F. Wagner, „… zwischen …“. Verhältnisse und Selbstverhältnisse, in: ders., Zur Revolutionierung des Gottesgedankens. Texte zu einer modernen philosophischen Theologie, aus dem Nachlaß ediert von Chr. Danz / M. Murmann-Kahl, Tübingen 2014, 463–477, mit der Einleitung, in: ders., Theologie, 8–28, hier 11 ff. 3 F. Wagner, Theologie, 7.
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Wagner inhaltlich niemals die Lehre seines „Lehrers“ Pannenberg vertreten hat. Schon in seinem frühen Beitrag zum Oberseminar Pannenbergs 1972 / 73 führt Wagner im Hinblick auf die Sinnthematik ziemlich unmissverständlich aus, dass er die Pannenbergschen Überlegungen zu Sinn und Antizipation nicht teilt und die verschiedenen Sinntheorien für „unzureichend“ hält.4 Wie gesagt: aufgrund dieses Befundes könnte man die Widmung auf sich beruhen lassen. Man kann sie aber auch zum Anlass für die Überlegung nehmen, ob es nicht doch noch mehr (unausgesprochene) Gemeinsamkeiten beider Theologen geben mag als der dominante Dissens der Auffassungen in den späteren Jahren auf den ersten Blick zu erkennen gibt. Damit sind inhaltliche Übereinstimmungen gemeint, die später in den Hintergrund getreten sind. Aber gerade die frühen Aufsätze Pannenbergs der 1950er und 1960er Jahre, die im ersten Band der „Grundfragen systematischer Theologie“ (1967) enthalten sind, bieten für eine solche gemeinsame Schnittmenge möglicherweise einen Anhalt. Dazu muss man allerdings einen Perspektivwechsel vollziehen und diese Aufsätze als eine Suchbewegung verstehen, die mehrere Fortsetzungen grundsätzlich erlaubt hätte, auch wenn Pannenberg selbst dann nur eine ganz bestimmte realisiert hat. Demnach wird hier so vorgegangen, dass man die frühen Texte zunächst einmal so beobachtet, als ob man vom Fortgang und der Weiterentwicklung der theologischen Positionen nichts wüsste. Es könnte sein, dass sie unabgegoltene Potentialitäten enthalten, auf die man sich auch dann berufen kann, wenn man die von Pannenberg selbst vorgenommene spätere Ausarbeitung nicht mehr teilt.
I Pannenberg hat einen dezidiert anderen Umgang mit der Feuerbachschen Religionskritik angemahnt als den von Karl Barth gepflegten, der sie einfach für „Religion“ allgemein in Kraft setzte, um flugs den christlichen Offenbarungsglauben davon auszunehmen. Aber so komme man über ein subjektives Beteuern nicht hinaus. Will darum die Theologie „sich nicht selbst aufgeben, so muß sie die Herausforderung des Atheismus in der Weise annehmen, daß sie sich mit den atheistischen Religionstheorien auseinandersetzt“.5 Es leidet keinen Zweifel, dass dies in gewisser Weise eine treffende Überschrift für Falk Wagners theologische Bemühungen abgeben könnte.6 4 Vgl. die Einleitung der Hg, in: Wagner, Zur Revolutionierung des Gottesgedankens, 1–12, hier 2. 5 W. Pannenberg, Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 2 1978, 18. 6 Vgl. M. Murrmann-Kahl, Philosophische Theologie im Horizont der radikal-genetischen Religionskritik, in: Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie, hg. v. Chr. Danz / J. Dierken/ M. Murrmann-Kahl, Frankfurt a.M. 2005, 55–80.
Die Bedeutung der Religionskritik bei Wolfhart Pannenberg und Falk Wagner
In Pannenbergs Aufsatz „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ wird im vierten Abschnitt auf dieses Thema ausführlicher eingegangen. Aber schon im ersten Abschnitt beim Anschluss an Paul Tillich und Ernst Troeltsch wird die „geistige Auseinandersetzung mit der Religionskritik angemahnt“.7 Der zweite Abschnitt behandelt insbesondere die Religionsphänomenologie der 1950er Jahre kritisch.8 Pannenberg selber argumentiert demgegenüber religionsgeschichtlich und kann dabei durchaus positiv am Synkretismusbegriff (H. Gunkel u a.) fürs Christentum anknüpfen.9 Im vierten Abschnitt fragt Pannenberg nach dem Wirklichkeitsbezug religiöser Phänomene und damit nach der Wahrheit der Religion. Seit Feuerbachs Illusionsvorwurf ist die behauptete außermenschliche Wirklichkeit der Religionen strittig. Der Verdacht besteht darin, dass die Gegenstände der Religionen zurückgeführt werden könnten auf bloße „Projektionen subjektiver Zustände des Menschen“.10 Die Versuche von E. Troeltsch und W. James führen hier nicht recht weiter, zumal es eben auch unwillkürliche Illusionen gebe, „wenn es nicht vielmehr sogar zum Wesen von Illusionen gehört, daß sie unwillkürlich sind. Auch der Hinweis, daß die Götter der Religionen nicht nur, wie der frühe Feuerbach behauptet hatte, Verkörperung menschlicher Wünsche sind, da vielmehr die Furcht vor unbekannten Mächten zu den Grundzügen religiöser Erfahrung gehört (…), kann (…) die Illusionstheorie nicht entkräften.“11 Da also nicht nur mit bewussten, sondern gerade mit einem selbst unbewussten Selbsttäuschungen zu rechnen ist, spitzt sich die religionskritische Problematik insofern noch zu, dass das religiöse Subjekt den notwendig selbsterzeugten Schein nicht durchschauen kann. Die Ausführungen Pannenbergs lassen sich in drei Schritte aufteilen, die jeweils für sich betrachtet sein sollen: Zunächst wird die Problematik in zwei Sätzen beschrieben, die hier sozusagen als Kronzeugen für eine bestimmte Interpretation aufgerufen werden sollen: „Daß die religiöse Subjektivität selbst die Vorgegebenheit des ihr erscheinenden Heiligen intendiert, läßt sich zwar nicht leugnen, aber das schließt nicht aus, daß die Subjektivität hier wie gelegentlich auch sonst sich täuscht über das, was tatsächlich 7 W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (1962), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie Bd. 1, Göttingen (1967) 3 1979, 252–295, hier 254, vgl. auch 255 Fn. 8. 8 Ebenda, 257–264. 9 Ebenda, 264–277, hier 270: das Christentum beerbe „die gesamte religiöse Überlieferung der Mittelmeerwelt“! Vgl. auch 275. Diesen Gedanken benötigt Pannenberg für die Konstruktion der Einheit der Religionsgeschichte. 10 Ebenda, 277–295, hier 279. E. Troeltschs Theorie des religiösen Apriori läuft darauf hinaus, dass die religiöse Erfahrung eine „Schöpfung“ des menschlichen Geistes wäre: so vollkommen zutreffend 280f Fn. 43. 11 Ebenda, 279.
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vorgeht. Eine Entscheidung dieser Frage läßt sich nicht durch psychologische Beschreibung erreichen, da das Problem gerade darin besteht, ob die so beschriebene seelische Intention nicht ihrerseits auf einer Täuschung beruht.“12 Man kann in dem ersten Satz wiedererkennen, was bei Falk Wagner als die „Aporie des religiösen Bewusstseins“ auftauchen wird. Pannenberg spricht hier von „religiöser Subjektivität“, die sich in einem Widerstreit befindet zwischen dem, was sie intendiert, nämlich die außermenschliche Wirklichkeit, und einer Selbsttäuschung darüber, „was tatsächlich vorgeht“. Aufgrund des Kontextes kann nur auf den folgenden Sachverhalt abgehoben sein: das religiöse Bewusstsein meint zwar sich auf das Heilige als etwas außerhalb seiner zu beziehen, aber in Wirklichkeit bringt es es selbst hervor. Wagner wird dies so reformulieren, dass sich das religiöse Bewusstsein auf den göttlichen Grund bezieht, dessen Realität es aber zugleich in Wirklichkeit („tatsächlich“) selber garantiert. Der Vorwurf einer strukturellen Selbsttäuschung des religiösen Bewusstseins lässt sich also an diese Formulierung Pannenbergs zwanglos anschließen. Etwas Weiteres fällt auf: Pannenberg unterscheidet an dieser Stelle deutlich zwischen der der Struktur inhärenten Selbsttäuschung der religiösen Subjektivität und ihrer Beschreibung wie etwa in der Religionspsychologie oder Religionsphänomenologie! Denn diese Beschreibungen folgen nur den Selbstaussagen des religiösen Bewusstseins. Das bedeutet aber, dass Pannenberg in seiner Frühphase sehr wohl zwischen der basalen Verfassung der religiösen Subjektivität selber (Selbsttäuschung) und den modernen Religionstheorien, die darüber gebildet werden, differenziert. An dieser Stelle kann man also nicht auf den Einfall kommen, die religionskritische Aporie würde sich etwa nur auf die modernen Religionstheorien beziehen und nicht auch und gerade auf das religiöse Bewusstsein selbst! Angesichts dieser Sachlage, nämlich dass Feuerbach zufolge „die fundamentale Struktur menschlichen Verhaltens die religiöse Illusion erzeuge“, zieht Pannenberg sodann die Schlussfolgerung: „Solcher Argumentation läßt sich (…) nur auf derselben Ebene, auf der Ebene anthropologischer Strukturaussagen begegnen.“13 Angesichts des im Gefolge Feuerbachs und anderer (Marx, Freud) beschriebenen Illusionsverdachts, der strukturellen Selbsttäuschung des religiösen Bewusstseins, lässt sich die Problematik nur auf der Ebene einer Anthropologie beheben. Denn es kann „nur im Rahmen anthropologischer Diskussion über eine Hypothese wie die Feuerbachs entschieden werden, derzufolge es (…) zur Struktur des menschlichen Daseins gehört, illusionäre Objektivationen zu produzieren, die den religiösen Phänomenen“ entsprechen.14 Damit wird die Weichenstellung angedeutet, die
12 Ebenda, 280 (Hervorhebung von mir). 13 Ebenda. 14 Ebenda, 281, vgl. 289.
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schließlich zu Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ führen wird. Darin ist auch zugleich die Weichenstellung benannt, in der Wagner einen ganz anderen Weg einschlagen wird, nämlich den einer spekulativ-theologischen Überbietung der Religionskritik. Zweifellos hätte Wagner aber dem zugestimmt, dass es unabdingbar zur intellektuellen Redlichkeit gehört, dass die Rede von Gott Gegenargumente zur Feuerbachschen Religionskritik beibringen muss, wenn sie denn allgemeingültig und nicht nur als bloß subjektive Beteuerung auftreten will.15 Pannenberg konzipiert schließlich die Aufgabe seiner Anthropologie so, dass diese zumindest gegen die Religionskritik plausibel machen soll, dass und wie Transzendenz als Grund der Endlichkeit impliziert sei, und darin der Behauptung Nachdruck verleihen, dass der Mensch notwendig auf Gott angewiesen ist.16 Freilich bleiben die anthropologischen Strukturaussagen für sich abstrakt und insofern im Vorfeld der Theologie, als sie das konkrete Widerfahrnis der Wirklichkeit Gottes in der Religion nicht garantieren können: „In diesem Sinne kann die Wirklichkeit Gottes (…) sich nur durch ihr Widerfahrnis erweisen, indem sie sich nämlich als machtvoll erweist im Horizont der jeweiligen Daseinserfahrung.“17 Das ist der Grund, warum die anthropologische Argumentationsstrategie hier nur ein Durchgangsmoment darstellt hin auf eine Religionsgeschichte, die insofern als eine Geschichte solcher göttlicher Machterweise zu konzipieren ist (mit bislang offenem Ausgang). Die Religionsgeschichte wird mithin zur Machtfrage Gottes gemacht, womit letztlich die absolute Selbstbestimmungsthematik ins Spiel gebracht wird. Die Religionsgeschichte ist insofern als die Einheit zu verstehen, innerhalb derer sich selbst die wahre Religionenkritik vollzieht, weil sie aufdecke, „wie das am Urbildlichen hängende Bewußtsein durch sein tatsächliches Verhalten sich selbst widerlegt. In der Iteration immer erneuter kritischer Revision jeder ihrer Stufen ist die Religionsgeschichte der unendliche Weg, auf dem die unendliche Bestimmung des Menschen für den unendlichen Gott der ihr gemäßen Verwirklichung entgegengeht“. Die Religionsgeschichte bringt mithin genau diese Bestimmung des Menschen für Gott zur Erscheinung, die freilich innerhalb der Geschichte selbst noch strittig bleiben muss.18
15 Ebenda, 282. Vgl. dazu Falk Wagners Selbstzeugnis, Falk Wagner, in: Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. Chr. Henning / K. Lehmkühler, Tübingen 1998, 276–299, hier 288, sein theologisches Programm der Münchener Zeit diente zur Beantwortung der Frage, „wie angesichts der radikal-genetischen Religionskritik, wie sie (…) mit ihren für mich nicht widerlegbaren Einwänden vertreten wird, gleichwohl an Religion und Theologie festgehalten werden könne“. 16 Ebenda. 17 Ebenda, 284 (Hervorhebung von mir). 18 Ebenda, 288, vgl. 289f, 293.
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An dieser Stelle kann im Hinblick auf die hier verfolgte Spurensuche abgebrochen werden. Liest man die frühen Aufsätze Pannenbergs unter der Prämisse einer noch offenen Zukunft, so ist es zumindest möglich, unterschiedliche Schlüsse aus der vorgetragenen Problembeschreibung insbesondere der Religionskritik und des Atheismus zu ziehen. Gewiss, es zeichnet sich schon die Präferenz Pannenbergs ab. Es ist deutlich geworden, inwiefern man an die Ausführungen Pannenbergs zur Religionskritik und Strukturproblematik der religiösen Subjektivität affirmativ anknüpfen und dennoch zugleich sich von dem eingeschlagenen Lösungspfad: Anthropologie und Religionsgeschichte dispensieren kann. Man könnte von der Rezeptionsfigur von Anknüpfung und Widerspruch zugleich (Jan Rohls) sprechen. In der Problembeschreibung (Wagner hätte formuliert: im Entdeckungszusammenhang) besteht offenkundig Übereinstimmung, in der Frage, wie die Theologie darauf reagieren soll, aber nicht mehr. Man sieht aber auch sehr schön, dass Wagner für sich in Anspruch nehmen kann, auf genau dem Niveau seines „Lehrers“ zu argumentieren, allerdings anschließend eine andere Lösung zu favorisieren.19 Dieser Dissens zeichnet sich nicht zuletzt in der Rolle ab, die Hegel bei Pannenberg und Wagner spielt. Während Wagner der Hegel-Rezeption Pannenbergs zustimmen könnte, weicht er dann wiederum dezidiert von Pannenbergs Hegel-Kritik ab.20 Insofern besteht eine eindrückliche Schnittmenge zunächst einmal geteilter (Hintergrund-) Auffassungen, geht aber dann in dem, was Wagner den „Begründungszusammenhang“ der theo-logischen Theologie genannt hat, gegensätzliche Wege. Daran entzündet sich die gegenseitige Kritik.
19 Siehe F. Wagners Selbstauskunft über Pannenberg, in: Falk Wagner, a. a. O., 281: „Allerdings habe ich mir die inhaltliche Position seiner Geschichtstheologie niemals zu eigen machen können. Insofern war unser Verhältnis von Anbeginn auch durch gewisse Differenzen und Spannungen bestimmt.“ Nur als Fußnote sei in einer Fußnote auf die sehr unterschiedlichen philosophischen Prägungen hingewiesen: Pannenberg, der sich immerhin persönlich von Martin Heidegger beeindrucken lässt, gegenüber Wagner, der seine Heimat in Frankfurt bei Heideggers Antipoden Theodor W. Adorno (und W. Cramer, Br. Liebrucks) findet; vgl. Falk Wagner, a. a. O., 279–283, und G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: Vom wahrhaft Unendlichen. Pannenberg-Studien Bd. 2, hg. v. G. Wenz, Göttingen 2016, 15–70, hier 15–24. 20 Vgl. die einleuchtende Studie von J. Rohls, Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch, in: „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Pannenberg-Studien Bd. 1, hg. v. G. Wenz, Göttingen 2015, 177–202, der die starke Rezeption einerseits (178 und ff), aber auch die großen Vorbehalte andererseits (190 ff) herausarbeitet. Vgl. dazu Falk Wagner, a. a. O., 283f.
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II An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick auf die Forschungslage zu werfen. Jan Rohls fasst in seiner theologiehistorischen Einordnung Falk Wagners den Einfluss Pannenbergs so zusammen, dass jener von diesem übernommen habe: „erstens die entschiedene Kritik an der Dialektischen Wort-Gottes-Theologie, zweitens die damit verbundene Überzeugung einer engen Verbindung von Theologie und Philosophie, drittens der Anschluss der Theologie an andere Disziplinen wie den Sozialwissenschaften und viertens das Konzept einer Theologie der Vernunft.“21 Später wird der Streit um die Dissertation erwähnt, aus deren Konkursmasse schließlich die publizierte Endfassung und zwei separat veröffentlichte Aufsätze hervorgingen, weil man sich über die Gestalt Ph. K. Marheinekes nicht einigen konnte.22 Schließlich stimmten Wagner und Pannenberg auch in der kritischen Sicht der Theologie Schleiermachers und Karl Barths durchaus überein.23 Diese Prägung durch Pannenbergs Blick auf die Theologiegeschichte, die in Vorlesungen vorgetragen wurde, kann man erst an der relativ spät publizierten „Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland“ von 1997 nachprüfen. Jörg Dierken hat der recht eigenwilligen Sichtweise einige kritische Anmerkungen gewidmet, aus denen sich leicht rekonstruieren lässt, woran auch Falk Wagner Anstoß genommen haben wird: Pannenbergs Verständnis von Subjektivität falle hinter die Kantische und idealistischen Konzeptionen zurück und sei weit weniger produktiv. „Die humane Subjektivität avanciert ihm in der Moderne zum theologischen Schlüsselproblem, welchem mit einer onto-theologischen Ursprungsfigur zu begegnen sei. Doch ist diese selbst mit reflexionstheoretischen Problemen belastet, wie die kritische Lektüre von Pannenbergs Hegel-Deutung zeigt.“24 In den neueren zu Falk Wagner geschriebenen Dissertationen kommt man über diesen Sachstand kaum hinaus, wobei eine Arbeit immerhin bei der PannenbergSchülerin Christine Axt-Piscalar verfasst wurde. Hauptsächlich wird auf Pannenbergs Kritikpunkt an Wagner verwiesen, dass dieser das religiöse Bewusstsein mit
21 J. Rohls, Falk Wagner im Kontext der protestantischen Theologiegeschichte, in: Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, hg. v. Chr. Danz / M. MurrmannKahl, Tübingen 2015, 13–43, hier 21. 22 Ebenda, 29. Vgl. F. Wagner, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, Gütersloh 1971; ders., Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Ph. Marheineke, in: NZSTh 19 (1968), 44–88; ders., Zur Pseudoproduktivität von Mißverständnissen in der Hegel-Schule. Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei K. Rosenkranz und K.L. Michelet, in: NZSTh 21 (1970), 313–337. 23 J. Rohls, Falk Wagner, 29 und f. 24 J. Dierken, Zur Theologiegeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (I), in: Th R 66 (2001), 194–239, zu Pannenberg 197–201, hier 201. Dierken kritisiert dabei zu Recht, dass Pannenberg die kritische Neuedition von Hegels Religionsphilosophie durch Walter Jaeschke ignoriert und somit hinter den Stand der Hegel-Forschung zurückfällt: 199. Vgl. dazu auch Rohls, Falk Wagner, 30.
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den modernen Theorien darüber verwechselt habe.25 Dafür, dass sich Kathrin Mette die Religionstheologie des „frühen“ Wagner vorgenommen hat, sind die Impulse dessen „akademischen Ziehvaters“26 Pannenberg dann doch überraschend wenig präsent. Von Pannenberg, der immerhin als „Quelle“ zu Wagner firmiert, ist ausgerechnet der frühe Aufsatzband der „Grundfragen“ von 1967 nicht einmal aufgeführt!27 Aber selbst bei Matthias Schnurrenberger führt Pannenberg mit nur zwei aufgeführten Literaturstellen ein Schattendasein. Über die von Jan Rohls rezipierten Aspekte gelangt auch diese Arbeit nicht hinaus.28 Die frühe und in vielerlei Hinsicht auch treffende Charakterisierung Falk Wagners in der Gedenkvorlesung Ulrich Barths (1999) geht auf den zentralen Aspekt der radikal-genetischen Religionskritik nur am Rande ein und bemerkt vor allem ihre kritische Funktion bei Wagner „als einer Art Flurbereinigung gegen die seiner Meinung nach allzu sorglos verfahrende Bewußtseinstheologie des 19. Jahrhunderts“.29 Aber auf den theologiehistorischen Zusammenhang von Wagners Sicht der Religion mit Pannenberg wird nicht rekurriert. Allerdings ist zu Recht notiert, dass in der Spätphase Wagners eine grundsätzliche Ambivalenz auftaucht, wenn einerseits an der grundsätzlich kritischen Sicht des religiösen Bewusstseins (Aporie) festgehalten und andererseits gleichzeitig die neuprotestantischen Religionstheologien befördert werden sollen.30 Aus diesem Forschungsstand lässt sich schließen, dass die Konflikte zwischen den beiden Theologen die zugrundeliegenden Gemeinsamkeiten bei weitem überlagert haben. Dennoch bleibt es auffällig und eigenartig zugleich, dass man sich bisher nicht näher einer historisch-genetischen Aufklärung der Bezüge beider zugewandt hat. Der hier vorgestellte Sachverhalt, nämlich die Bedeutung der modernen Religionskritik seit Feuerbach als Aufbauelement der eigenen theologischen Position, ist dabei noch gar nicht Rechnung getragen. Gegenüber dem bisher erreichten
25 K. Mette, Selbstbestimmung und Abhängigkeit. Studien zu Genese, Gehalt und Systematik der bewusstseins- und kulturtheoretischen Dimensionen von Falk Wagners Religionstheorie im Frühwerk, Tübingen 2013, 112, 178; M. Schnurrenberger, Der Umweg der Freiheit. Falk Wagners Theorie des christlichen Geistes, Tübingen 2019, 63. 26 Mette, Selbstbestimmung, 200, Fn. 96. 27 Vgl. Mette, Selbstbestimmung, 320. 28 Vgl. Schnurrenberger, Der Umweg der Freiheit, 18f, 327. Außerdem wird die Nähe von Wagners Kritik an Karl Barth zu derjenigen Pannenbergs erwähnt: 144f, 158. 29 U. Barth, Von der spekulativen Theologie zum soziologischen Religionsbegriff. Versuch einer Annäherung an das Denken Falk Wagners, in: Wiener Jahrbuch für Theologie Bd. 3, Wien 2000, 233–268, hier 235. (Wieder abgedruckt in: ZNThG 7 (2000), 251–282, und unter dem neuen Titel „Die Umformungskrise des modernen Protestantismus“, in: U. Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 167–199.) 30 Ebenda, 259f.
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Stand ist also mindestens noch auf die folgenden Zusammenhänge hinzuweisen, bei denen die Impulse Pannenbergs offensichtlich sind: Erstens im argumentativen Stellenwert, den die radikale Religionskritik seit Feuerbach innerhalb der Theologie erhält. Diese Auseinandersetzung muss auf jeden Fall über die Art und Weise Karl Barths hinausgetrieben werden. Insofern erhält die Religionskritik eine konstitutive Funktion für den Aufbau der eigenen Religionstheologie. Zweitens in der Problembeschreibung des modernen Protestantismus, der nicht nur an atheistischer Religionskritik und bloß gesetzter Offenbarungstheologie laboriert, sondern auch an der Auflösung der bisher gültigen Grundlage in der Neuzeit durch die historische Kritik, also an der „Krise des Schriftprinzips“.31 Drittens in der erheblichen Bedeutung auch im Vergleich mit anderen Theologen, die Pannenbergs umfangreiche Hegel-Rezeption spielt (unabhängig der dann auch von ihm vorgetragenen Kritik, siehe oben, Fußnote 20). Viertens ist an die Bedeutung von Pannenbergs wissenschaftstheoretischer Reflexion über die Verortung der Theologie zu erinnern, die sich in Wagners eigener Dreiteilung von Entdeckungs-, Begründungs- und Realisierungszusammenhang niederschlägt.32 Greift man auf die Selbstdarstellung Falk Wagners aus dem letzten Lebensjahr als Quelle zurück, wird das ihn und Pannenberg Verbindende leider nicht recht deutlich. Zwar werden die zeitweisen Zerwürfnisse über die Dissertation beschrieben. Wie sich aber das dann wiederum mit der kurzzeitigen Assistenz und vor allem raschen Habilitation in München unter Pannenbergs Förderung zusammenreimt, ist nicht ersichtlich.33 Aber solche Verbindungslinien muss es gegeben haben, weil sich sonst Pannenberg kaum für die Habilitation Wagners und die Erteilung der „venia legendi“ stark gemacht hätte. In dem gewichtigen Selbstverständigungstext Wagners von 1969 „Die Bedeutung der Theologie für die inhaltliche Gestaltung des Religionsunterrichts“ werden zwar einige Aufsätze Pannenbergs aus dem ersten Band der „Grundfragen“ zitiert, aber interessanterweise gerade nicht der Erwä-
31 W. Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie Bd. 1, 11–21; F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in: ders., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 68–88. 32 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie (1973), Frankfurt a.M. 1977, bes. 299–442, hier 323f Fn. 630; F. Wagner, Einleitung in die theo-logische Theologie, in: ders., Zur Revolutionierung des Gottesgedankens, Tübingen 2014, 319–398, hier 375 ff. 33 Vgl. Falk Wagner, a. a. O., 283–287. (Es werden zwar die Ereignisse und jeweiligen Karriereschritte benannt, aber über die Gründe und Hintergründe erfährt man nichts. Leider hat man hier nicht weiter nachgehakt.)
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gungsaufsatz.34 Das fällt insofern besonders auf, als gerade die Feuerbach-Rezeption bei Barth und Bultmann ausdrücklich gewürdigt wird.35
III Pannenberg hat die Linien aus seinem Erwägungsaufsatz zunächst in seiner „Wissenschaftstheorie und Theologie“ (1973) weiter ausgezogen. Im fünften Kapitel über die Theologie „als Wissenschaft von Gott“ bekommen die Themen aus dem Erwägungsaufsatz einen eigenen Abschnitt.36 In ihm wird noch einmal das Problemfeld so umrissen: „Der durchgängigen Anthropologisierung des Gottesgedankens in der Neuzeit entspricht auch die spezifisch neuzeitliche Form des Atheismus, die ihre klassische Formulierung in der These Ludwig Feuerbachs fand, daß die Gottesvorstellung als eine Projektion des Menschen zu erklären sei, der in seiner Selbstentfremdung sein eigenes Wesen als ein fremdes, höheres Wesen anbetet.“37 Der entscheidende Punkt ist dabei nicht, ob der Gottesgedanke ein menschliches Produkt sei, was seit Kant unstrittig ist, sondern im Hinblick auf den Projektionsvorwurf und den möglicherweise zwangsläufigen Illusionsverdacht gegenüber der religiösen Subjektivität die Frage, ob „dem Gedanken Gottes nichts außer uns“ entspricht. Deswegen wird von vornherein zu Recht eingeräumt: „Durch anthropologische Argumentation allein (…) läßt sich die Annahme Gottes als Wirklichkeit nicht zureichend erhärten.“38 Aus diesem Grund muss eben über die Anthropologie auf die Religionsgeschichte ausgegriffen werden, indem man „die für die biblischen Überlieferungen charakteristische Geschichtlichkeit der Selbstbekundung der göttlichen Wirklichkeit mit der Problematik der Totalität der endlichen Erfahrung, in der die Wirklichkeit Gottes mitgesetzt ist,“ verbindet.39 Ob es Pannenberg dabei auch gelungen ist, die von ihm konzipierte Einheit der Religionsgeschichte zu erweisen, ohne dabei von weitläufig dogmatischen Vorannahmen Gebrauch zu machen, wird sehr unterschiedlich beurteilt. Die wahre Religionskritik würde jedenfalls ihm zufolge durch die Religionsgeschichte selber 34 F. Wagner, Die Bedeutung der Theologie für die inhaltliche Gestaltung des Religionsunterrichts (1969), in: ders., Zur Revolutionierung des Gottesgedankens, 16–120; zitiert werden Pannenbergs „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs“, „Die Frage nach Gott“ und „Typen des Atheismus“. 35 Ebenda, 26–30. 36 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 303–329. 37 Ebenda, 310. 38 Ebenda, 311. 39 Ebenda, 313. Vgl. 322: Die Theologie der Religion prüft anders als Religionspsychologie, -soziologie und -phänomenologie die „religiösen Überlieferungen am Maßstab ihres eigenen Verständnisses der göttlichen Wirklichkeit“.
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erbracht. Christian Danz kommt zum Beispiel nach der ausführlichen Diskussion der einschlägigen Passagen aus dem Erwägungsaufsatz, der „Wissenschaftstheorie“ und dem ersten Band der „Systematischen Theologie“ zum Ergebnis, dass sich die Behauptung der Einheit der Religionsgeschichte „als der Geschichte des Erscheinens der göttlichen Wirklichkeit“ allein der Konstruktion Pannenbergs verdanke: „Sie stellt eine Konsequenz des von ihm zugrunde gelegten Religionsbegriffs dar, der von vornherein auf Einheit festgelegt ist. Dieses Einheitspostulat stellt jedoch eine Unterstellung Pannenbergs dar, die sich nicht begründen lässt.“40 Setzt man diese Problemanzeige beiseite, so ist nicht zu verkennen, dass Pannenberg dem früh angedeuteten Pfad bis zum Entwurf seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ (1983) konsequent gefolgt ist. Die umfangreichen Erörterungen werden in den Problemrahmen der Religionskritik eingestellt: „Wenn sich nachweisen läßt, daß Religion nur ein Produkt menschlicher Einbildung ist, Ausdruck einer Selbstentfremdung des Menschen, deren Wurzeln die Religionskritik analysiert, dann verliert der religiöse Glaube und insbesondere das Christentum (…) jeden Anspruch auf allgemeine Glaubwürdigkeit.“41 Insofern rennt die moderne Theologie gegen die „radikal-genetische“ Religionskritik in ihrer Grundlegungsproblematik an, jedenfalls wenn der Rekurs auf ein scheinbar unwandelbares Schriftfundament und eine nur behauptete überlegene Offenbarung ausgeschlossen ist. Erhebliche Zweifel an den Aufstellungen Pannenbergs hat auch Falk Wagner geäußert. Nicht was die Einschätzung der neuzeitlichen Lage für die christliche Theologie anlangt: in seinem Religionsbuch bringt er ausdrücklich die radikale Religionskritik der Vergangenheit und Gegenwart von Feuerbach bis Günter Dux ausführlich zur Geltung42 . Allerdings schließt er gerade nicht an die skizzierte Lösung Pannenbergs an, sondern kritisiert diese als völlig unzureichend und ersetzt sie durch eine spekulativ-theologische Überbietungsfigur. Nun könnte man einwenden, die hier vorgetragene Gemeinsamkeit der beiden Autoren existiere nur in der Fantasie des Verfassers dieser Zeilen. Darum kann eine empirische Überprüfung weiterhelfen. Nicht nur ist Pannenberg als vielzitierter Autor in Wagners Religionsbuch zu finden. Die Menge der Nennungen entfällt auf den ersten Band der „Grundfragen“, die „Wissenschaftstheorie“ und natürlich auf die „Anthropologie“
40 Chr. Danz, Gott und die menschliche Freiheit, Neukirchen-Vluyn 2005, 162–168, hier 167. 41 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 15, vgl. 268, 272. 42 Falk Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, hier 90–106, 199–203, 260–283. In meiner Nachschrift von Falk Wagners Vorlesung aus dem Wintersemester 1981 / 82, die bereits das Konzept des Religionsbuchs weitgehend widerspiegelt, wird ausdrücklich nur auf Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“ mehrfach (kurz) eingegangen, gegen Ende vor allem auf den Hypothesenbegriff. Die „Anthropologie“ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen.
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Pannenbergs. Bemerkenswert häufig ist aber gerade auch der Erwägungsaufsatz zitiert, mit insgesamt achtzehn Verweisen im Buch doch statistisch auffällig präsent!43 Das deutet darauf hin, dass dieser Aufsatz der Nukleus für sehr unterschiedliche Entfaltungen des Themas der modernen Theologie im Horizont der Religionskritik darstellt. Überdies kommt der ausführlichen Besprechung Pannenbergs am Ende der Gesamtdarstellung der Religionstheorien und im Übergang zur eigenen Positionierung eine Gelenk- und Schlüsselstellung zu.44 Wagners Kritik an Pannenberg ist substantiell auf insgesamt vier Punkte konzentriert: Zunächst debattiert er noch einmal ausführlich die Sinnthematik, die seit jeher ein Kritikpunkt Wagners darstellte. Im Zentrum steht hier sowohl die Relation von Einzelsinn zur Sinntotalität als auch die Behauptung eines gegebenen (religiösen) Sinns. Aus der hermeneutischen Einsicht, dass alle Aussagen immer in einem größeren Kontext zu verstehen sind, folgt noch kein Ausgriff auf eine Sinntotalität als „Totalität der Wirklichkeit“.45 Während sich hermeneutische Kontexte begrenzen und empirisch überprüfen lassen, gilt das für die unbestimmte Totalität natürlich nicht (mehr). Das ist auch der Grund, warum der Ausgriff aufs gedachte Ganze nie über die Reflexionskategorie der negativen Einheit von Ganzem und Teile hinausgelangt. Diese Sinntotalität ist demnach bestenfalls „gedacht wie gedacht“ und kollidiert folglich mit der von der Theologie häufig behaupteten Sinngegebenheit. Eine solche Gegebenheit könnte allenfalls als Moment der Sinnkonstitution mitgeführt werden. Das Insistieren auf der Vorgegebenheit religiösen Sinns dagegen erweist sich als „Anspruchsontologie heteronom bestimmten Subjektseins, der das gegebene individuelle Subjekt als letzter Bezugs- und Fluchtpunkt dient – eines Subjekts jedoch, das aufgrund seiner Festlegung auf Passivität, Konstituiertwerden und Gegebensein seiner Selbständigkeit verlustig gegangen ist“.46 Bei der im engeren Sinne Besprechung der theologischen Position Pannenbergs wird sodann anhand der „Anthropologie“ von 1983 das Verständnis der „exzentrischen Positionalität“ diskutiert. Wagner stellt dabei ausdrücklich heraus, dass und wie Pannenberg über die Stufen des Erwägungsaufsatzes und der „Wissenschaftstheorie“ zu seiner ausgearbeiteten „Anthropologie“ gelangt, die die programmatisch 43 Wagner, Religion, 143 Fn. 603, 604; 163 Fn. 731, 305 Fn. 591, 327 Fn. 716, 717; 328 Fn. 719, 330 Fn. 731, 498 Fn. 151, 153; 522 Fn. 233, 548 Fn. 298, 299, 301; 549 Fn. 302, 304, 305, 306. 44 Am Ende des elften Paragrafen unter dem 4. Abschnitt „Religion und Anthropologie“, Wagner, Religion, 498–522. In den letzten beiden Paragrafen 12 und 13 seines Werks erörtert Wagner die Aporie des religiösen Bewusstseins und stellt den Anschluss zum spekulativen Begründungszusammenhang her. Als Pannenberg-Kritik sind auch die Passagen zur Sinnthematik und zur Reflexionskategorie des Ganzen aufzufassen und der dritte Abschnitt im §12 „Zum Religionsverständnis einer ´Theologie der Religionen´“ (sic!), vgl. Wagner, Religion, 469–474 und 548f. 45 Faktisch folgt diese Argumentationsfigur dem kosmologischen Gottesbeweis: vgl. Wagner, Religion, 503f. 46 Wagner, Religion, 469–481, hier 477.
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geforderte Debatte mit der radikalen Religionskritik auf der Ebene der „anthropologischen Strukturaussagen“ durchführen will (siehe oben I).47 Aber wenn nun Pannenberg H. Plessners Begriff der „exzentrischen Positionalität“ so auseinanderlegt, dass die beiden voneinander unlösbaren Vollzugsmomente der Zentralität und Exzentrizität gegeneinander verselbständigt werden, dann mache er sich einer Fehlinterpretation schuldig. Pannenberg hebt auf die Exzentrizität deshalb in besonderer Weise ab, weil er auf diesem Wege der „Weltoffenheit“ des Menschen zugleich eine „Gottoffenheit“ supponieren kann. Aber dieser Rückschluss von der Endlichkeit des Menschen auf das vermeintlich vorgegebene Unendliche bleibe im Muster des kosmologischen Gottesbeweises stecken und daher „von Gnaden des auf die Endlichkeit gegebener Inhalte reflektierenden Denkens“. Also entkommt auch diese anthropologische Argumentation den Einwänden der radikalen Religionskritik nicht.48 Aus der Tendenz, Vorgegebenheiten ins Spiel zu bringen, leitet Wagner drittens die in der „Anthropologie“ enthaltenen sozialethischen Weichenstellungen ab. „Wie Pannenberg die Entfaltung der exzentrischen Identität des Individuums in ontogenetischer Hinsicht von den Individuen vorgegebenen Instanzen abhängig macht, so versucht er auch, für die Kultur- und Sozialanthropologie zu zeigen, daß die kulturelle Lebenseinheit durch Faktoren konstituiert wird, die nicht in der schöpferischen Tätigkeit des Menschen aufgehen.“49 Dies führe zur religiösen Aufladung der Institutionen. Insbesondere an Ehe / Familie und Eigentum bemängelt Wagner ganz im Sinne der Frankfurter Kritischen Theorie, dass Pannenberg letztlich nur ein bürgerlich geprägtes, ideologisches Verständnis dieser Institutionen reproduziere. Der Rekurs auf die vermeintlich notwendige religiöse Legitimierung von Familie und Eigentum (und schließlich auch des Staates) führe gemessen an der funktional differenzierten Gesellschaft zu einem vormodernen Sozialmodell und entpuppe sich „als Wiederbelebung von sozialkonservativen Ideen, die am Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert aus dem Geist der europäischen Gegenrevolution und der deutschen Restauration geboren sind“.50 Als Wurzel der Gesamtproblematik wird schließlich die Geschichtstheologie kritisiert. Wagner hält Pannenbergs Konzept für selbstwidersprüchlich: das antizipierte Ganze bzw. Ende der Geschichte ist eben nicht nur eine Denkbestimmung, sondern „als in der Geschichte gegebenes Ganzes zu denken; dem Ganzen wird nicht nur eine regulative Funktion, sondern eine konstitutive Bedeutung für die Erkenntnis der an sich offenen Geschichte zuerkannt“. Diese Konstruktion ist deswegen notwendig, weil sie die Funktion übernimmt, „den offenen Lauf der Geschichte durch ein 47 48 49 50
Vgl. Wagner, Religion, 498–522, hier 498f. Wagner, Religion, 499–508, hier 505, vgl. 522. Wagner, Religion, 512. Wagner, Religion, 512–518, hier 515.
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teleologisch konzipiertes ahistorisches Prinzip zu steuern“.51 Insofern überrascht es nicht, dass Wagner zufolge Pannenbergs frühe Programmschrift hinsichtlich der Zielargumentation auf eine Deutung der Religionsgeschichte hinausläuft, die immer schon von der dogmatischen Prämisse der christlichen Offenbarungstheologie getragen ist.52 Mit einigem Humor und in Analogie zur Hegelschule könnte man von einer Spaltung in einen Rechts- (Pannenberg selbst) und Linkspannenbergianismus (Wagner) sprechen, die sich im Gefolge des Ausgangsprogramms der „Theologie der Religionsgeschichte“ bei beiden Autoren manifestiert und nicht zuletzt in den sozialethischen Weichenstellungen erheblich ausgewirkt hat.53 Man kann vermuten, dass die Ereignisse, die mit dem Datum „1968“ assoziiert sind, schon vorhandene Tendenzen bei beiden beschleunigt haben. Wagner wendet jedenfalls das in seinen Augen Scheitern der Anthropologie Pannenbergs sogleich um in die Stärkung des eigenen spekulativ-theologischen Ansatzes: Denn da die „behauptete Aufdeckung der religiösen Dimension auf dem Felde anthropologischer Phänomene durch eine vorausgesetzte metaphysische Reflexion zustande kommt, kann auch nur eine philosophisch-metaphysische Theorie des Absoluten über die Berechtigung des von der Theorie des religiösen Bewußtseins beanspruchten Gottesbezugs entscheiden“!54
IV Nach vielen Zwischenstufen wie etwa in der „Wissenschaftstheorie“ und „Anthropologie“ findet Pannenbergs Programm einer „Theologie der Religionsgeschichte“ seine Endgestalt im dritten Kapitel seiner „Systematischen Theologie“ (Band 1,
51 Wagner, Religion, 519, 520. 52 Wagner, Religion, 548f. In dem das Religionsbuch zusammenfassenden Religionsartikel von 1988 fällt der Name W. Pannenbergs überhaupt nicht, wenn auch seine Position inhaltlich mitgemeint ist: Seit dem Ende der 1960er Jahre berufe man sich „auf faktische Gegebenheiten, auf Leitvorstellungen gegebenen Lebens, passiver Erfahrung, der Sinnfindung und anthropologisch verankerter Ganzheitsbezüge. Dadurch wird jedoch (…) die Konzentration auf eine positive Offenbarung mit den Mitteln des Religionsbegriffs fortgeschrieben und verallgemeinert (…)“. F. Wagner, Art. „Religion“, in: Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988 (Reprint München 2001), 1050–1055, hier 1054 (Siglen von mir aufgelöst). 53 Vgl. etwa W. Pannenberg, Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen 1996, 95–142, mit F. Wagner, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 114–179. 54 Wagner, Religion, 522 (Hervorh. von mir).
Die Bedeutung der Religionskritik bei Wolfhart Pannenberg und Falk Wagner
1988).55 Sie wirkt allerdings zwiespältig; während der laufende Text dem ehernen Duktus einer wohl schon länger feststehenden Fassung folgt, deutet die reichliche Unterkellerung mit Fußnoten auf das Bemühen, die aktuelle Debatte noch zu berücksichtigen. So finden sich innerhalb von nur gut 40 Druckseiten immerhin statistisch signifikante zwölf Verweise auf Wagners Religionsbuch von 1986, die einer (übrigens durchaus nicht nur ablehnenden!) Kommentierung von dessen einschneidender Kritik gleichkommen, wohl unter Zeitdruck entstanden, wenn man auf die Erscheinungsdaten der beiden Bücher blickt.56 Das grundsätzliche Gegenargument, das Pannenberg jetzt gegen Wagner exponiert, lautet, dass die Selbstaussagen des religiösen Bewusstseins einerseits (also das Gottesbewusstsein) von den in den neuzeitlichen Religionstheorien gegebenen Beschreibungen dieser Selbstaussagen andererseits zu unterscheiden sind: die von Wagner genannte „Grundaporie der Religion“ (bzw. des religiösen Bewusstseins) sei also nicht identisch mit der „Grundaporie der neuzeitlichen Religionstheorien“.57 Denn dem religiösen Bewusstsein „kann es gar nicht einfallen, seine Subjektivität als Garanten für die Realität seines Gegenstandes auszugeben. Erst die säkulare Kultur der abendländischen Neuzeit hat die Religion zur Sache der Subjektivität, damit deren Inhalt für subjektabhängig und partikular erklärt.“58 Es war (oben unter I) darauf hingewiesen worden, dass der frühe Pannenberg diese Unterscheidung selber gerade nicht vorgenommen hatte. Pannenberg hält gegen Wagners Kritik daran fest, dass die moderne Kultur die Abhängigkeit von Religion nur verdrängt habe: „Die faktisch allgemeine Verbreitung der religiösen Thematik in der Menschheit korrespondiert der als Weltoffenheit, Exzentrizität und Selbsttranszendenz beschriebenen Eigenart der Struktur menschlichen Verhaltens.“59 An Wagners Kritik von Pannenbergs PlessnerInterpretation der „exzentrischen Positionalität“ bemängelt Pannenberg: „Man kann meinen Versuch, das Selbstbewußtsein als gegenüber dem intentionalen Bewußtsein sekundär und von ihm abgeleitet darzustellen, sicherlich kritisieren,
55 W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd.1, Göttingen 1988, 133–205, vgl. zur Selbstverortung Pannenbergs 164 Fn. 103, 104 und 173 Fn. 120, 175 Fn. 122. Zum Gesamtzusammenhang der Systematischen Theologie Pannenbergs vgl. M. Murrmann-Kahl, „Mysterium trinitatis“? Fallstudien zur Trinitätslehre in der evangelischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts, Berlin New York 1997, 163–206, und darauf aufbauend Chr. Henning, Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person, Gütersloh 2000, 148–200. 56 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie I, 141 Fn. 30, 151 Fn. 61, 168 Fn. 107, 108; 169 Fn. 111, 112; 170 Fn. 113, 171 Fn. 116, 172 Fn. 117, 119; 174 Fn. 121, 180f Fn. 129. Zustimmung in den Fn. 61, 107, 108, 111, 113 z.T., was für eine differenzierte Wahrnehmung des Religionsbuchs spricht. 57 Ebenda, 141 Fn. 30. 58 Pannenberg, Systematische Theologie I, 169. 59 Ebenda, 171.
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aber doch wohl nicht sinnvollerweise so, daß man die von mir bestrittene Auffassung dabei als selbstverständlich unterstellt.“60 Natürlich und erst recht wird der alte Streit ums Sinnverständnis noch einmal inszeniert, der ja bis auf die frühen 1970er Jahre zurückreicht. Gegen Wagners Kritik an der Reflexionskategorie Ganzes / Teile hält Pannenberg an seinem eigenen kontextuellen Sinnbegriff (im Anschluss an P. Tillich) und an der Sinntotalität fest.61 Der auch im Hinblick auf Wagners eigene Entwicklung gewichtigste Einwand betrifft den Gedanken des Absoluten. Der von Pannenberg konzipierte Macht-Gott würde demzufolge die „Schranke religiöser Anthropozentrik“ durchbrechen. Deshalb entfalle die Möglichkeit bzw. der Vorwurf, „die religiösen Gottesvorstellungen (…) pauschal zum Produkt narzißtischer Wünsche zu erklären“: „Sofern der Gott der Religion als die die Welt bestimmende (…) Macht erkannt wird, ist aber auch der Bann des Verdachtes gebrochen, der Gottesgedanke könnte eine mit der Natur des Menschen verbundene (…) Illusion sein. Dieser Bann verschwindet noch nicht damit, dass der Gedanke des Absoluten an ihm selbst gedacht wird, denn auch der Gedanke des Absoluten bleibt (…) ein menschlicher Gedanke.“62 Demnach ist auch der Gedanke des Absoluten der subjektiven Bedingtheit nicht exemt, sondern bleibt im Rahmen des philosophischen Reflexionszusammenhanges. Wiederum spielt an diesem Punkt die Hegel-Rezeption und Hegel-Kritik eine zentrale Rolle. Pannenberg wirft Wagner nun seinerseits eine Fehlinterpretation Hegels vor, indem dessen Theorie des Absoluten Hegels konstitutive Erhebungsbewegung des endlichen Bewusstseins zum Unendlichen unterschlage: er eliminiere vielmehr „die vom Menschen vollzogene religiöse Erhebung zugunsten der einseitig vom Gedanken des Absoluten ausgehenden Bewegung. Das ist hegelianisierender – Barthianismus.“63 Damit wird auf Wagners Zusammenstellung Pannenbergs mit Restaurationstheoretikern vom Schlage eines von Haller und F.J. Stahl entsprechend scharf zurückgeschossen, denn dass für Pannenberg „Barthianismus“ ganz gewiss kein Lob darstellt versteht sich von selbst. Man kann an dieser Stelle beiseitesetzen, ob Pannenbergs Rekurs auf den MachtGott tatsächlich weiterführen würde, weil die darin implizierte Schöpfungsvorstellung eben auch nur eine Vorstellung bleibt und insofern über die absolute Selbstbestimmungsproblematik in keiner Weise hinausführt. Auf einer ganz anderen Ebene ist aber seine Kritik angesiedelt, die den von Wagner erhobenen Anspruch in Frage stellt, dass der Gedanke der Selbstauslegung des Absoluten tatsächlich über die Fremdauslegung durchs menschliche Subjekt hinausgelange. Denn dass diese Selbstauslegung auch wirklich die Selbstauslegung des Absoluten wäre (und 60 61 62 63
Ebenda, 171 Fn. 116. Pannenberg, Systematische Theologie I, 180f Fn. 129. Ebenda, 174. Ebenda, 174 Fn. 121.
Die Bedeutung der Religionskritik bei Wolfhart Pannenberg und Falk Wagner
damit mehr als nur ein menschlicher Gedanke), das kann man zwar behaupten, aber gerade eben nicht zeigen, und darum hat auch der „späte“ Wagner in der Wiener Zeit daran erhebliche Zweifel geäußert und entsprechend eine Umstellung seiner eigenen Theologie unternommen.64
Epilog Die Auseinandersetzung mit seinem Lehrer hat Falk Wagner bis zuletzt beschäftigt. In seinem letzten, posthum veröffentlichen Werk „Metamorphosen des modernen Protestantismus“ kommt er noch einmal auf die Replik Pannenbergs aus dem ersten Band der „Systematischen Theologie“ zu sprechen. Im Kontext der religionskritischen Thematik im dritten Kapitel schärft Wagner noch einmal ein, dass die von ihm beschriebene Problematik dezidiert die Aporie des religiösen Bewusstseins schlechthin, der Internstruktur, und nicht etwa nur der im Anschluss an dessen Selbstaussagen gebildeten Religionstheorien sei. Es bleibe eben dabei, dass „sich der göttliche Grund der Abhängigkeit in dessen Abhängigkeit vom religiösen Bewußtsein verkehrt, zumal deshalb, weil der Grund nur als dessen Ausdrucksphänomen aussagbar ist“: „Der Grund ist von Gnaden des Begründeten.“65 An diesem Punkt ist der Dissens beider Theologen offenkundig unüberbrückbar. Ganz unabhängig davon auf wessen Seite man sich in diesem Streit sachlich stellen mag – wenn die von Pannenberg und Wagner beschriebene Lage tatsächlich so ist, wie sie ist, dann kann man die Vermutung äußern, dass angesichts der radikal-genetischen Religionskritik eigentlich jedes Argument dringend gebraucht würde. Für einen Beobachter muss die aufgemachte Alternative nicht so zwingend erscheinen wie für die Protagonisten selber. Bei ihnen wurde gewissermaßen immer auch zugleich um die Deutungshoheit der frühen Theologie Pannenbergs der 1950er und 1960er Jahre gerungen. Man wird sich heute eher die Frage stellen, ob überhaupt und warum sich anthropologische und spekulativ-theologische Argumentationsweisen einander unbedingt ausschließen müssen?66 Oder man 64 Vgl. M. Murrmann-Kahl, „Radikale Umorientierung der Systematischen Theologie“? – Zu Falk Wagners Hegel-Lektüren, in: Spekulative Theologie und gelebte Religion, 69–87, hier besonders 74–79. 65 Falk Wagner, Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 142, mit Verweis auf Pannenberg, Systematische Theologie I, 141 Fn.30. Gleichlautend auch im späten Artikel von F. Wagner, „Religion II. Theologiegeschichtlich und systematisch-theologisch“, in: TRE XXVIII, Berlin New York 1997, 522–545, hier 535. Als Literatur von Pannenberg in diesem Artikel ist genannt: der Erwägungsaufsatz, die Anthropologie und der erste Band der Systematischen Theologie! 66 Vgl. Wagner selbst, Metamorphosen, 145–147, 150–152. Zu den „Metamorphosen“ vgl. die Würdigung bei J. Dierken, Zur Theologiegeschichte, a. a. O., 201–206. Für Pannenbergs Geschichtstheologie sehe ich die Lage anders – als dogmatische Deutung ist sie nicht zu retten.
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kann, mit anderen Worten, annehmen, dass sich beide Autoren, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, an der seit dem Erwägungsaufsatz beabsichtigten Widerlegung der radikal-genetischen Religionskritik letztlich überhoben haben.67
67 Der „späte“ Wagner spricht darum auch nur noch von einem „Patt“ zwischen Religionskritik und Religionsbegründung: vgl. F. Wagner, Kritik und Krise der Religion, in: Ende der Religion – Religion ohne Ende? Zur Theorie der „Geistesgeschichte“ von Günter Dux, hg. v. F. Wagner / M. MurrmannKahl, Wien 1996, 17–123, hier 19 ff. Bei K. Mette, Selbstbestimmung, a. a. O., 263f, wird zu diesem Band keine einzige Rezension nachgewiesen: auch das lässt tief blicken.
Malte Dominik Krüger
Die klassische Metaphysik der Griechen bei Wolfhart Pannenberg Beobachtungen ausgehend von seiner Theologie der Religionsgeschichte Charakteristisch für die Theologie Wolfhart Pannenbergs ist die Verschränkung von historischen und systematischen Aspekten. Insbesondere seine Theologie der Religionsgeschichte unterstreicht diesen Sachverhalt. Dass dabei der klassischen Metaphysik der Griechen für die Formierung der nachmals so genannten christlichen Theologie eine herausragende Rolle zukommt1 , hat daher auch historische und systematische Aspekte. Darum soll es im Folgenden gehen. Im ersten Schritt wird Pannenbergs historisches Bild der klassischen Metaphysik der Griechen skizziert, im zweiten Schritt ihrer systematischen Funktion für Pannenbergs Konzeption nachgegangen und im dritten Schritt werden doxographische, historische und systematische Anschlussperspektiven erwogen.
1.
Das historische Bild der klassischen Metaphysik der Griechen bei Pannenberg
In seinem Beitrag „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ (1962/ 1967)2 hebt Pannenberg unter dem provokativen Begriff des Synkretistischen die
1 Unter der klassischen Metaphysik der Griechen wird im Folgenden in der Regel die Philosophie Platons und Aristoteles’ verstanden. Sie nimmt ihren Ausgang in der Vorsokratik – insbesondere bei Parmenides – und wirkt im antiken Neuplatonismus nach (vgl. so z. B. Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie I: Altertum und Mittelalter, Freiburg 14 1976, 10). 2 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze [GSTh1], Göttingen 1967, 252–295. Es handelt sich um einen 1962 vorgetragenen und für die Veröffentlichung 1967 überarbeiteten Beitrag (vgl. a.a.O., Anm. 1). Vgl. zu diesem Beitrag und Ansatz Pannenbergs auch: Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 54–63; Alf Christophersen, Probleme der Religionstheologie – Probleme mit der Religionstheologie, in: Friedrich Wilhelm Graf/ Friedemann Voigt (Hg.), Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, Berlin/New York 2010, 303–329, bes. 307–311; Christian Danz, Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005, 141–143; Reinhold Bernhardt, Inter-Religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen, Zürich 2019, 270–273.
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Integrationskraft des entstehenden Christentums hervor.3 Neben dem alttestamentlichen Gottesbild, das selbst wiederum aus verschiedenen Traditionen „synkretistisch“ zusammengewachsen ist, wurde für die Tradierung der Jesus-Botschaft die religiöse Überlieferungswelt des hellenistischen Mittelmeerraumes und die griechische Philosophie wesentlich.4 Pannenberg kann hierbei die griechische Philosophie ausdrücklich vor dieser religiösen Überlieferungswelt nennen.5 Konkret merkt Pannenberg den Einfluss der platonisch inspirierten Gotteslehre an, die – unter Maßgabe der Vorstellung von dem inkarnierten Logos – zur Ausbildung des spezifisch christlichen Offenbarungsverständnisses führte. Insofern hängt das spezifisch christliche Gottesbild auch von der griechischen Philosophie ab.6 Dass diese Einsichten für Pannenberg nicht nur im Blick auf eine Theologie der Religionsgeschichte situativ und beiläufig, sondern grundsätzlich von Gewicht sind, unterstreichen exemplarisch m.E. insbesondere sechs (weitere) Studien, die Pannenbergs Position über fast vierzig Jahre dokumentieren.7 Hierbei fallen inmitten großer Kontinuität auch kleinere Verschiebungen auf. Auch dies soll im Folgenden in diesem ersten Teil deutlich werden, wenn es um Pannenbergs historisches Bild der klassischen Metaphysik der Griechen geht. In dem Beitrag „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie“ (1959) verteidigt Pannenberg den Versuch der Verbindung der biblischen Gottesrede mit Einsichten der klassischen Metaphysik der Griechen.8 Damit grenzt sich Pannenberg vor allem von der evangelischen Dogmengeschichtsschreibung ab, die darin schulübergreifend eine
3 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, a.a.O., 268–270. Vgl. zum Begriff des Synkretistischen in dem Zusammenhang z. B. auch: vgl. Rudolf Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Düsseldorf 6 1998, 191–195 („Das Urchristentum als synkretistisches Phänomen“). 4 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, a.a.O., 268–270. 5 Vgl. a.a.O., 270. 6 Vgl. ebd. 7 Es wird im bzw. mit dem Folgenden also nicht der Anspruch erhoben, vollständig Pannenbergs Rezeption der klassischen Metaphysik der Griechen zu dokumentieren. 8 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, in: ders., GSTh 1, 296–346. Der Beitrag ist erstmals 1959 erschienen (vgl. a.a.O., 296, Anm. 1). Vgl. zu diesem Beitrag und Ansatz Pannenbergs auch: Christopher Stead, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs in der frühchristlichen Theologie: W. Pannenbergs These neu bedacht, Theologische Rundschau 51 (1986), 349–371; Jan Bauke-Ruegg, Die Allmacht Gottes. Systematisch-theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie, Berlin/New York 1999, 226–242; Falk Wagner, Zur Revolutionierung des Gottesgedankens. Texte zu einer modernen philosophischen Theologie. Aus dem Nachlass ediert von Christian Danz und Michael Murrmann-Kahl, Tübingen 2014, 39–45; Ekkehard Mühlenberg, Der Konvergenzpunkt zwischen platonischer Philosophie und christlicher Theologie bei Gregor von Nyssa, in: Gunther Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg,
Die klassische Metaphysik der Griechen bei Wolfhart Pannenberg
Verfälschung des biblischen Gottesgedankens sah und sieht.9 Nach Pannenberg fordert vielmehr der – spätestens seit Deuterojesaja ausdrückliche – Universalismus des biblischen Gottesglaubens mit dem Anspruch, die wahre Natur Gottes auszusagen, theologisch die Verbindung mit dem philosophischen Gottesbegriff der Griechen.10 Letzterer reflektiert die Probleme, wie Gott erstens als Ursprung, zweitens als Einheit und drittens als Transzendenz zu verstehen ist.11 An keinem dieser Punkte vermag zwar die christliche Theologie bei der klassischen Metaphysik der Griechen stehenzubleiben, kommt aber auch nicht an ihr vorbei.12 Im Mittelpunkt dieser Metaphysik steht für Pannenberg aus theologischer Sicht der Platonismus.13 Dieser kann nicht ohne die Vorsokratik begriffen werden und wirkt auch in der Philosophie des Aristoteles nach.14 Was erstens Gott als Ursprung angeht, so erklärt Pannenberg diesen Punkt zur Initialzündung für den Gottesbegriff der griechischen Metaphysik. Denn mit der Frage nach dem Ursprung kommt die Vorsokratik – inspiriert von der kosmischen Immanenz der olympischen Götter – in einem Rückschlussverfahren von der Welterfahrung auf den Gottesgedanken: Aus der Suche nach dem gemeinsamen Urgrund der vorhandenen Wirklichkeit ergibt sich das Projekt einer philosophischen Theologie, die das wahrhaft Göttliche als Erklärung der kosmischen Ordnung einführt.15 Was zweitens Gott als Einheit angeht, so folgt sie mit einer gewissen Schlüssigkeit aus der göttliche Ursprünglichkeit16 : Wenn es zu keinem prinzipientheoretisch problematischen Pluralismus kommen soll, so Pannenberg unter Rekurs vor allem auf Parmenides sowie Platon und Aristoteles, dann ist die Einheit des Göttlichen zu denken, und zwar in Abgrenzung zur Vielheit des Vergänglichen.17 Was drittens Gott als Transzendenz angeht, die einen andersartigen und unerkennbaren Charakter einschließt, so ist auch diese Transzendenz ihrerseits mit Gott als Ursprung und als Einheit verknüpft.18 Wenn nämlich der Gottesgedanke über das Rückschlussverfahren aus der Welt gewonnen wird und in Bezug auf sie als Ursprung und Einheit fungiert, ist dieser Gott
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Göttingen 2016, 315–326; Manuel Schmid, Gott ist ein Abenteuer. Der Offene Theismus und die Herausforderungen biblischer Gottesrede, Göttingen 2020, 190f. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, a.a.O., 296–298. Vgl. a.a.O., 308–310. Vgl. a.a.O., 299. 302f. Vgl. a.a.O., 311f. Vgl. a.a.O., 298. Vgl. a.a.O., 298–308. Vgl. a.a.O., 299–301. Referenztext für diese Deutung Pannenbergs ist Werner Jaegers „Die Theologie der frühen griechischen Denker“ (1953) (vgl. a.a.O., 299 m. Anm. 13). Vgl. a.a.O., 302f. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 303f.
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auch von der Welt unterschieden.19 Gott ist entsprechend nicht körperlich-sichtbar ein Moment im Seienden, sondern geistig-unsichtbar jenseits des Seienden.20 So fasst Platon, wie Pannenberg herausstreicht, Gott auf. Dagegen hindert Aristoteles diese Geistigkeit nicht daran, Gott zu den Substanzen zu zählen. Die Geistigkeit Gottes reicht also in diesem Zusammenhang nicht aus, so Pannenberg, um seine Transzendenz zu begreifen.21 Nach Pannenberg ist es der platonische Gedanke, dass Gott in seiner Ursprünglichkeit unauflöslich und darum schlechthin einfach ist, der (neu-) platonisch zur Einsicht in Gottes Unbegreiflichkeit führt.22 Endgültig geschieht dies bei Plotin. Bei ihm wird die Einfachheit Gottes, welche die Zweigliedrigkeit des definierenden – und aus „genus proximum“ und „differentia specifica“ bestehenden – Logos unterläuft, zum Grund für Gottes Unerkennbarkeit: Das schlechthin Eine („hen“) übersteigt nochmals die Geistigkeit („nous“) Gottes.23 Dieses Theorieangebot hat mitunter zu einer zu unkritischen und sorglosen Anknüpfung der frühchristlichen Theologie an die platonische Metaphysik geführt, weil die frühchristliche Theologie in dieser Transzendenz des Einen die biblische Überweltlichkeit Gottes entdeckte.24 Allerdings zeigt das konstruktiv-kritische Ringen der frühchristlichen Theologie um die Aneignung des philosophischen Gottesbegriffs25 : Das Rückschlussverfahren aus der Welt, um zum philosophischen Gottesbegriff als Ursprung, Einheit und Transzendenz zu kommen, wird theologisch zu Recht von der Freiheit des biblischen und dreieinigen Gottes gegenüber der Welt übertroffen.26 Das Göttliche ist nicht nur der Garant der kosmischen Ordnung in ihrer Beständigkeit, sondern vermag als personales Gegenüber dieser Ordnung unvorhersehbar Neues hervorzubringen, das sich aus der bestehenden Wirklichkeit nicht durch ein Rückschlussverfahren gewinnen lässt.27 Gott selbst ist nicht unveränderlich, sondern kann Neues schaffen. Darum versteht der christliche Glaube das Handeln Gottes – letztlich in der Auferstehung Jesu Christi – als geschichtsmächtigen Akt, der offenbar wird.28 Für das Verhältnis zur griechischen Metaphysik bedeutet dies, dass die frühchristliche Theologie sie zu Recht aufnimmt und zugleich überbietet.29 Dieser Aneignungsprozess ist mit vielen Verschiebungen
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Vgl. a.a.O., 304–307. Vgl. a.a.O., 304f. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 305f. Vgl. a.a.O., 306f. Vgl. a.a.O., 310. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 310–312. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 311f.
Die klassische Metaphysik der Griechen bei Wolfhart Pannenberg
und Problemen verbunden – und nicht immer perfekt verlaufen, so Pannenberg.30 Hierbei wird versucht, Gott in vertiefter Weise als Ursprung, als Einheit und Transzendenz zu begreifen.31 Letztlich bleiben jedoch in der frühchristlichen Theologie der metaphysische Gottesgedanke als kosmisches Prinzip und das biblische Gottesbild als personale Freiheit am Ende unvermittelt, obwohl sie der Sache nach im Sinn des genannten Überbietungs- bzw. Aufhebungsmodells zusammengehören.32 Zur gelungenen Vermittlung hätte Gottes Funktion für das Sein der Welt in Gottes Wesen als geschichtsmächtige Subjektivität aufgehoben werden müssen, so dass von daher Gottes Ursprung, Einheit und Transzendenz einleuchten.33 Dies führt zu kritischen Rückfragen an das Gottesverständnis der griechischen Metaphysik: Wird in ihm nicht die Kontingenz, Freiheit und Allmacht (Gottes) unterbelichtet?34 Und ist dies nicht eine Folge des dem Vorhandenen verpflichteten Rückschlussverfahrens, das dann später in den sogenannten Gottesbeweisen endet?35 Diese Kritik Pannenbergs an der klassischen Metaphysik der Griechen verschärft sich in der Studie „Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie“ (1962).36 Anstelle eines Überbietungs- bzw. Aufhebungsmodells
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Vgl. a.a.O., 312–338. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 343–346. Vgl. ebd. Nahegelegen hätte nach Pannenberg theologisch dreierlei, wie man m.E. systematisiert und elementarisiert sagen könnte (vgl. a.a.O., 312–346). Gott ist zwar erstens (metaphysisch) als Ursprung das Prinzip der Welt, aber er ist auch und vor allem (theologisch) ihr radikal schöpferischer Ursprung, der die vorhandene Welt schafft. Gott steht zwar zweitens (metaphysisch) für die Einheit der Welt, aber er tritt ihr auch und vor allem (theologisch) persönlich so gegenüber, dass er in sich diese Einheit einbegreift. Und Gott ist zwar drittens (metaphysisch) die Transzendenz der Welt, aber er lässt sich davon wiederum nicht (theologisch) in seiner Freiheit beschränken, in dieser Welt in Jesus Christus zu erscheinen. Auf diese Weise ist Gott in Wahrheit einerseits mehr als ein unpersönliches Prinzip der kosmischen Ordnung, nämlich geschichtsmächtige Freiheit personalen Gegenübers, und andererseits rückt Gott gerade dadurch den Menschen näher, nämlich in Jesus Christus, der kein schlechthin unsagbares Prinzip, sondern eine geschichtliche Person ist. Doch in jedem Fall muss die Theologie zu den Einsichten der philosophischen Theologie der griechischen Metaphysik in Gottes Ursprünglichkeit, Einheitsfunktion und Transzendenz rechenschaftsfähig und integrativ Stellung beziehen. 34 Vgl. a.a.O., z. B. 327. 338. 35 Vgl. a.a.O., z. B. 311. 326. 36 Vgl. ders., Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 7 1985. Die Studie besteht aus elf Vorträgen, die aus Vorlesungen in Wuppertal und Mainz in den Jahren 1959/60 und 1961 hervorgegangen sind und für eine Sendereihe des NDR im Winter 1961/62 bearbeitet wurden (vgl. a.a.O., 3). Vgl. zu diesem Beitrag und Ansatz Pannenbergs auch: Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Theologie. Ein einführender Bericht, a.a.O., 38–42; Thorsten Waap, Gottebenbildlichkeit und Identität. Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2008, 322–464; Daniel Munteanu, Was ist der Mensch? Grundzüge und gesellschaftliche Relevanz einer ökumenischen Anthropologie
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von griechischer Metaphysik und christlicher Theologie tritt tendenziell eher ein Kontrastmodell. Der Gedankengang dieser Studie stellt einen Prozess dar, bei dem zunächst unvermeidlich abstrakte Bestimmungen über den Menschen in immer konkretere Einsichten überführt werden.37 Die basale Überzeugung dabei lautet, dass die Anthropologie die Metaphysik beerbt und die basale Wissenschaft in der Moderne ist.38 Sieht man den Menschen zunächst nur als natürliches Einzelwesen an und vergleicht ihn mit dem Tier, so fällt die Weltoffenheit des Menschen auf.39 So ist der Mensch nicht instinktiv – wie das Tier – an seine Umwelt gebunden, sondern hat einen Zug in das Offene, wie es sich in der menschlichen Sprache und Phantasie bekundet.40 Letztlich erweist sich diese Weltoffenheit in ihrem transzendierenden Charakter als Gottoffenheit, mit der ein Vertrauen in die Zukunft und eine Hoffnung über den Tod verknüpft ist.41 Damit distanziert sich Pannenberg aufgrund dieser ganzheitsorientierten und zukunftshoffenden auch von einer platonischen Anthropologie, die Leib und Seele trennt und die Teilhabe des menschlichen Erkennens an unvergänglichen Urbildern einschließt.42 In einem weiteren Schritt – von der biologischen zur sozialen Verfasstheit des Menschen – fragt Pannenberg nach der Einbindung des Menschen in die Gemeinschaft seinesgleichen.43 Demnach ist der Mensch als einzelner auf Verhältnisse personaler Anerkennung angewiesen.44 Sie verweisen auf das Recht und seine Erfüllung in der Liebe.45 In einem letzten Schritt kommt es nach Pannenberg (anthropologisch) zur Einsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins: Die Menschheit in ihrer sozialen Verfassung, in welche die weltoffene Natur des einzelnen Menschen integriert ist, befindet sich in einem geschichtlichen Prozess.46 Der Mensch ist daher geschichtlich.47 Dieses Bewusstsein ist dem Menschen erst mit der jüdisch-christlichen Überlieferung aufgegangen.48 Denn in ihr wird die Geschichtlichkeit der Geschichte verstanden, wenn der biblische Glaube kontingenzsensibel seinen Gott als Schöpfer und Herrn
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anhand der Theologien von K. Rahner, W. Pannenberg und J. Zizioulas, Neukirchen-Vluyn 2010, 122–192. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, a.a.O., 113, Anm. 1 (zu 96). Vgl. a.a.O., 5f. Vgl. a.a.O., 5–13. Vgl. a.a.O., 13–22. Vgl. a.a.O., 22–49. Vgl. a.a.O., 34f. Vgl. a.a.O., 40–95. Vgl. a.a.O., 40–76. Vgl. a.a.O., 77–103. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 95–103. Vgl. ebd.
Die klassische Metaphysik der Griechen bei Wolfhart Pannenberg
der Geschichte bekennt.49 Dies impliziert nicht nur eine Aufhebung der allgemeinen Anthropologie in eine christliche Geschichtstheologie50 , sondern eine scharfe Differenz zwischen der Vorstellung der Ewigkeit in der klassischen Philosophie der Griechen und in der christlichen Theologie: Während erstere die Ewigkeit und das Göttliche von der Geschichte strikt trennt und als statisch, unwandelbar und allgemein begreift, so dass dieses Göttliche nicht handeln kann und zukunftsmächtig ist, wird der Gott der Bibel anders gedacht.51 Er erscheint tätig und personal – und erweist seine Ewigkeit in der zukunftsbestimmten Geschichte.52 Während der Gott der griechischen Metaphysik für das reine und letztlich leere Sein steht, das über keine schöpferischen Möglichkeiten gebietet, hat der Gott der Bibel unendliche Möglichkeiten des Schöpferischen und schließt das Zufällige und das Einmalige in sich ein.53 Kann diese eher kontrastive Gegenüberstellung grundsätzlich in das Überbietungsund Aufhebungsmodell integriert werden, so liegt es nahe, in letzterem die klassische Metaphysik der Griechen in abgestufter Form zu berücksichtigen. Genau dies geschieht in Pannenbergs Beitrag „Was ist Wahrheit?“ (1962). Hier ist die griechische Metaphysik weder direkte Voraussetzung noch kontrastive Bezugsgröße, sondern wird zu einer Voraussetzung der Voraussetzung der christlichen Gottesbotschaft: Der Weg des abendländischen Wahrheitsverständnisses führt nach Pannenberg von der griechischen Metaphysik zur alttestamentlichen Überlieferung und wird erst in der Botschaft von Jesus Christus gelungen aufgehoben.54 Dafür argumentiert Pannenberg, indem er drei Wahrheitsverständnisse unterscheidet, die dialektisch aufeinander bezogen sind, nämlich dasjenige der griechischen Metaphysik, dasjenige der alttestamentlichen Überlieferung und dasjenige der christlichen Theologie.55 Das Wahrheitsverständnis der griechischen Metaphysik 49 50 51 52 53 54
Vgl. a.a.O., 98–103. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 52–55. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Was ist Wahrheit?, in: ders., GSTh 1, 202–222, bes. 222. Der Beitrag war erstmals 1962 in der Festschrift für Heinrich Vogel erschienen (vgl. a.a.O., 202, Anm. 1) und nimmt kritisch-konstruktiv Bezug auf Hans von Sodens Marburger Rektoratsrede „Was ist Wahrheit?“ aus dem Jahr 1927 (vgl. a.a.O., 203). Vgl. zu diesem Beitrag und Ansatz Pannenbergs auch: Thorsten A. Leppek, Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung, Göttingen 2017, bes. 99–124; Wolfgang Greive, Die Glaubwürdigkeit des Christentums. Die Theologie Wolfhart Pannenbergs als Herausforderung, Göttingen 2017, bes. 185–202. 55 In dem Beitrag wird dies allerdings nicht in der Gliederung unmittelbar einsichtig, zudem schwankt Pannenbergs Terminologie, wenn einmal von dem alttestamentlichen bzw. israelitischen und dann wieder vom biblischen Wahrheitsverständnis – teilweise unmittelbar aufeinander folgend – geredet wird (vgl. z. B. Wolfhart Pannenberg, Was ist Wahrheit?, a.a.O., 209), obwohl damit dasselbe gemeint ist. Davon ist wiederum die in Jesus sich ereignende Wahrheit zu unterscheiden (vgl. z. B. a.a.O., 222).
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ist von Parmenides über Platon bis Aristoteles konstant, so Pannenberg.56 Es besagt, dass das Seiendes als Seiendes und Nichtseiendes als Nichtseiendes im vernünftigen Logos und im Horizont einer als Einheit verstandenen Wirklichkeit ausgesagt wird.57 Daher ist es strikt dualistisch von der vergänglichen Sinneswelt und ihrer Wahrnehmung unterschieden.58 Die Wahrheit ist schlechthin: Sie besteht im unwandelbaren und zeitlosen Sein, das von sich aus dem passiv konzipierten Denken des Menschen einleuchtet.59 Das Wandelbare, Geschichtliche und Zufällige wird in der griechischen Metaphysik programmatisch aus bzw. von der Wahrheit ausgeschlossen, so Pannenberg.60 Das wird diesem Wahrheitsverständnis zum Verhängnis. Denn in der Folgezeit kristallisiert sich die Einsicht heraus: Die Wahrheit ist an die Schöpferkraft des menschlichen Denkens gebunden, das seinerseits Gott voraussetzt.61 So wird bei Nikolaus von Kues, wie Pannenberg darlegt, die im Schöpferischen des menschlichen Geistes erscheinende Wahrheit mithilfe der Gottesebenbildlichkeit verstanden: Der Mensch als schöpferische Instanz wahrer Einsichten in der Welt setzt voraus, dass Gott ihn genau darin bzw. dafür eingesetzt hat.62 In dieser Fluchtlinie versteht Pannenberg ebenso die Philosophie von René Descartes und des die kantischen Aporien überwindenden Deutschen Idealismus.63 Dieser schöpferische Charakter dokumentiert sich schließlich in den neuzeitlichen Naturwissenschaften und den an der Geschichtswissenschaft orientierten Geisteswissenschaften.64 Diese Subjektivierung der Wahrheit geht, so Pannenberg, auf das alttestamentliche Wahrheitsverständnis zurück, das über die Geschichten der Bibel dem europäischen Geist vertraut war.65 Danach besteht die Wahrheit nicht unwandelbar, wie die griechische Metaphysik meint, sondern die Wahrheit ereignet sich; die Wahrheit ist nicht zeitlos, sondern geschieht geschichtlich.66 Darum stellt sich das alttestamentliche Wahrheitsverständnis als das personale Vertrauen auf die Zukunftsmächtigkeit des sich in der Geschichte
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Zeigt sich in diesem Changieren der Bezeichnung zwischen alttestamentlicher bzw. israelitischer Wahrheit und biblischer Wahrheit die Spannung zwischen Antizipation und Ganzheit, die auf keinen Fall als Abwertung des Alten Testaments verstanden werden soll? Vgl. a.a.O., 204f. 208f. 210f. 216f. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 204f. 210f. Vgl. z. B. a.a.O., 209. Vgl. a.a.O., 211–213. Vgl. a.a.O., 213. Vgl. a.a.O., 213–215. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 212f. 209f. Vgl. a.a.O., 203–210.
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erweisenden Gottes dar, so Pannenberg.67 Dies impliziert einen Gott, der nicht bloß für die allgemeine und unveränderliche Einheit des kosmischen Seins steht, sondern darüber und über schöpferische Möglichkeiten geschichtlich frei verfügt.68 Den entscheidenden Schritt, in dem Wandelbaren das Unwandelbare und in der Geschichte die Wahrheit zu entdecken, bleibt G.W.F. Hegel vorbehalten, der das griechisch gedachte Sein in die alttestamentlich angelegte Subjektivität des Wahren aufhebt.69 Zu Recht fasst Hegel die prozessuale Ganzheit des Wahren als Gott auf, so Pannenberg; doch Hegel schließt wegen der intendierten Schlüssigkeit der Einheit der Wahrheit die Zukunft aus seiner Geschichtsphilosophie aus, so dass Hegels Philosophie selbstwidersprüchlich wird.70 Diesen Selbstwiderspruch kann die christliche Theologie überwinden, indem sie in der geschichtlich zu verstehenden Auferstehung Jesu das Ende der Geschichte vorweggenommen und zugleich die Geschichte noch unabgeschlossen weiß.71 Damit bezieht sich Pannenberg der Sache nach prägnant auf sein eigenes theologisches Programm.72 Dies scheint auch in dem Beitrag „Christentum und Platonismus. Die kritische Platonrezeption Augustins in ihrer Bedeutung für das gegenwärtige christliche Denken“ (1985) durch.73 So vertritt Pannenberg die These: Für eine Erneuerung der philosophischen Theologie hält der platonische Gottesgedanke des Guten in Verbindung mit seiner augustinischen Rezeption eine geschichtstheologische Perspektive bereit, die bisher noch nicht abgegolten ist.74 So könnte man im Anschluss an Augustinus Aufnahme des platonischen Themas der „homoiosis Theo“ zu einer Geschichtstheologie gelangen, welche Gott als das futurisch Gute für die Ganzheit des menschlichen Daseins versteht.75 Leider ist Augustinus, so Pannenberg,
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Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 209. Vgl. a.a.O., 218–220. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 220–222. Die Überzeugungskraft dieser Lösung des christlichen Wahrheitsverständnisses hängt für Pannenberg an der apokalyptischen Hoffnung des Menschen und an der Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu. Beides ist Pannenberg zufolge einleuchtend. Denn zum einen ist das Menschsein weltoffen und fragt über den Tod hinaus, und zum anderen steht die metaphorische Rede von der Auferstehung für ein geschichtliches Ereignis, das unvergleichlich an Jesus geschehen ist (vgl. ebd.). Vgl. zu diesem Programm als Kennzeichen von Pannenbergs eigener Theologie z. B.: Alister E. McGrath, Der Weg der christlichen Theologie, Gießen 3 2013, 445–448. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Christentum und Platonismus. Die kritische Platonrezeption Augustins in ihrer Bedeutung für das gegenwärtige christliche Denken, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 96 (1985), 147–161. Vgl. zu diesem Beitrag und Ansatz Pannenbergs auch: Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, Frankfurt a.M. 1988, 12f. m. Anm. 4. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Christentum und Platonismus, a.a.O., 157–161. Vgl. a.a.O., 152–161.
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durch seine Orientierung an der platonischen Bildmetaphysik dieser geschichtstheologischen Spur nur sporadisch gefolgt, obwohl sie bei ihm – im Gegensatz zu Kant und Hegel – angelegt ist.76 Pannenberg kann in dem Kontext – exemplarisch gegen Albrecht Ritschl und Adolf von Harnack – auch darauf verweisen, dass die klassische Metaphysik der Griechen kein nachträgliches und verfremdendes Moment ist, dass zur christlichen Botschaft hinzutritt.77 Vielmehr wird nach Pannenberg diese Metaphysik historisch zum Medium der eschatologischen Botschaft von der Auferstehung Jesu, in der diese begrifflich verständlich möglich wird.78 Die Dogmenbildung der alten Kirche dokumentiert, dass die christliche Botschaft zur Identifizierung ihres Inhalts die klassische Metaphysik der Griechen einschließt, die sich dadurch freilich im Raum des Christentum für das Eschatologische öffnet.79 Auf den möglichen Einwand, dass diese Bindung der frühen christlichen Theologie an die klassische Metaphysik der Griechen bloß partikular ist und überwunden werden muss, reagiert Pannenberg nicht nur mit dem Hinweis auf die Normativität der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von biblischer Botschaft und griechischer Philosophie.80 Vielmehr verweist er ebenfalls darauf: Gerade der griechischen Antike war der kulturelle Pluralismus bewusst, weswegen sie das allgemeinmenschliche Denken kultiviert, worauf sich der christlicher Glaube bezieht.81 Auch in Pannenbergs Studie „Metaphysik und Gottesgedanke“ (1988) wird in der Darstellung historischer Positionen der eigene systematische Standpunkt deutlich.82 Dass die Ganzheit der Geschichte als Wahrheit aus der Zukunft und darum aktuell in Gestalt der Antizipation zu verstehen ist, wird hier mit der Renaissance der Metaphysik in der Philosophie verbunden, welche die Geschichtlichkeit ih-
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Vgl. a.a.O., 152–161, bes. 159f. Vgl. a.a.O., 147f. Vgl. a.a.O., 148–150, bes. 148. Vgl. a.a.O., 149f. Vgl. a.a.O., 147f. Vgl. a.a.O., 148. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988. Die Studie besteht aus fünf Beiträgen und einem Anhang. Sie gehen im Kern auf eine 1986 in Neapel gehaltene Vortragsreihe zurück, die von einem systematischen Wollen geprägt ist. Der Anhang hingegen setzt sich eher kritisch als systematisch mit der insbesondere in dem angloamerikanischen Bereich wirksamen Prozessphilosophie v.a. Alfred N. Whiteheads auseinander (vgl. a.a.O., 5f.). Vgl. zu diesem Beitrag und Ansatz Pannenbergs auch: Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Theologie. Ein einführender Bericht, a.a.O., 46–54; Tobias Müller, Endlichkeit und Unendlichkeit. Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke bei Wolfhart Pannenberg, in: Gunther Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 265–284.
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res Standpunktes realisiert.83 Grundsätzlich begrüßt Pannenberg, dass bei der sich abzeichnenden Erneuerung der Metaphysik anstelle einer Substanzontologie ideeller Unveränderlichkeit84 und einer Absolutheitstheorie begriffslogischer Letztbegründung85 ein Denken „konjekturaler Rekonstruktion“86 relativer Endlichkeit tritt: Das philosophische Denken weiß sich in der Unterscheidung von der intendierten Wahrheit so auf dieselbe bezogen, dass es sich, und zwar gerade in seiner begrifflichen Präzisionsarbeit, als dessen Antizipation begreift.87 Insofern ist dieses antizipierende Denken keine reflexive Unterbestimmung im Vergleich zur traditionellen Begriffsnotwendigkeit der Metaphysik, sondern dessen problembewusste und endlichkeitssensible Vertiefung. Nach Pannenberg geht es in der erneuerten Metaphysik um die Reflexion auf die Implikationen eines bewussten Lebens und seines einheitsorientierten sowie darin kontrafaktischen Übersteigens88 : Keine Endlichkeit kann sich ohne den sie begrenzenden (Kontrast-) Begriff des Unendlichen bzw. Absoluten realisieren, der als das wahrhaft Unendliche bzw. Absolute seinerseits nicht begrenzt sein darf, sondern in differenzierter Einheit das Endliche umfassen können muss.89 Einer erneuerten Metaphysik kann sich die Theologie nur um den Preis entziehen, ihre historische Genese in Verbindung mit der Philosophie und ihre sachliche Rechenschaftspflicht für das Ganze der Wirklichkeit zu ignorieren.90 Aus Pannenbergs Sicht hat dies zur Folge, dass eine erneuerte Metaphysik und eine verantwortungsbewusste Theologie weder das historische Verdienst der griechischen Metaphysik übersehen darf noch unmittelbar an sie anknüpfen kann. Letzteres verbietet das Beharren der griechischen Metaphysik und ihrer ontotheologischen Verfassung91 auf einem zeitlosen Sein, das vom sinnlichen Schein getrennt ist.92 Auch die erst in der Neuzeit sich zu Recht bahnbrechende Entdeckung der Bedeutung der Subjektivität bei Kant, fehlt dem
83 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, a.a.O., 7–19. 66–79. Exemplarische Referenzautoren für eine erneuerte Metaphysik sind für Pannenberg insbesondere Peter Strawson und Dieter Henrich (vgl. a.a.O., 8). 84 Vgl. z. B. a.a.O., 66. 85 Vgl. z. B. a.a.O., 19. 29–33. 67. 86 A.a.O., 68. 87 Vgl. a.a.O., 68. 72. 88 Vgl. a.a.O., 16–18. 89 Vgl. a.a.O., 21f. 29–33. Dabei beruft sich Pannenberg auf Hegel, dessen Systemkonzeption er kritisch an die Endlichkeit bindet. So insistiert Pannenberg auf der bleibenden Angewiesenheit der philosophischen Gotteslehre auf die religiöse Überlieferung, so sehr die philosophische Gotteslehre ihr gegenüber kritisch ist (vgl. ebd.; a.a.O., 15). 90 Vgl. z. B. a.a.O., 7–9. 13f. 91 Vgl. so kritisch gegen Heidegger: a.a.O., 11–15. 92 Vgl. z. B. a.a.O., 41. 52–54. Die gegenteilige, ebenso kritisch zu betrachtende Gegenposition ist die der Prozessphilosophie, welche die Bedeutung des Prozessganzen übersieht (vgl. a.a.O., 80–91).
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antiken Denken.93 Doch insbesondere an zwei Punkten sieht Pannenberg noch nicht abgegoltene Zukunftspotentiale der griechischen Metaphysik: So hat erstens der Sache nach schon Plotin die Figur der Antizipation geltend gemacht, wenn er einen Zukunftsprimat für die Zeit und die Ganzheit des Daseins behauptet, der anders als bei Martin Heidegger mit der Ewigkeitsdimension verknüpft ist.94 Diese plotinische Fassung der platonischen Teilhabestruktur antizipiert also die von Pannenbergs Theologie entworfene Antizipation als zeitlich bestimmte Einheit von Einheit und Unterschied.95 Und zweitens kann Pannenberg in der Einsicht des Aristoteles, dass die Gegenwart dessen, woraufhin etwas angelegt ist und zu dem es wird („entelecheia“), antizipativ in diesem Werdenden wirkt, einen Ausgangspunkt für einen erneuerten Substanzbegriff sehen.96 Demnach wären die Substanzen dasjenige, was sie sind, rückwirkend von ihrem Resultat, so dass in ihrem Werden dies antizipativ gegenwärtig anwesend wäre.97 Diese Einsicht in die Geschichtlichkeit des Substantiellen mit dem Potential des Neuen hat sich historisch Aristoteles leider durch die Annahme zeitloser Wesensformen verstellt, so Pannenberg.98 Sachlich liegt hier für Pannenberg der Keim für das, was erst in Wilhelms Diltheys Einsicht in die Geschichtlichkeit und Pannenbergs eigener Konzeption der Antizipation zum Durchbruch kommt.99 Grundlegend für den Gesamtgedankengang von Pannenbergs Studie ist die Einsicht: Die von Pannenberg bejahte Metaphysik kann die religiöse Überlieferung nicht ersetzen, hinterfragt sie aber zu Recht und führt zu einem Begriff des Absoluten bzw. Einen, dessen Wahrheitsmoment die theologische Reflexion des Gottesgedankens aufheben muss.100 Die Darstellung in „Theologie und Philosophie“ (1996) zeichnet die klassische Metaphysik der Griechen in die zwei Jahrtausende umspannende Geschichte des wechselvollen Verhältnisses von Theologie und Philosophie ein.101 Hierbei rücken
93 Vgl. a.a.O., 48f. Vgl. zur Subjektivitätsthematik: a.a.O., 34–51. Dass die Analyse der menschlichen Subjektivität ergibt, dass sie sozial verflochten ist, sich zeitlich vollzieht und nicht substantiell hypostasiert werden darf, passt aus Pannenbergs Sicht gut zu seiner These aus der Zukunft antizipierter Ganzheit und deren Beschreibung als Ewigkeit (vgl. a.a.O., 34–51, bes. 50f.). 94 Vgl. a.a.O., 56–65. 70f. 79. 95 Vgl. a.a.O., 56–58. 70f. Die Grenze Plotins liegt darin, diese Struktur in erster Linie auf die Weltseele konzentriert zu haben (vgl. a.a.O., 58). 96 Vgl. a.a.O., 76–79. Ansonsten wird Aristoteles nicht überaus positiv herausgehoben (vgl. a.a.O., 52–54). 97 Vgl. a.a.O., 77f. 98 Vgl. ebd. 99 Vgl. ebd. 100 Vgl. z. B. a.a.O., 18f. 24f. 33. 68. 101 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996. Das Buch beruht auf mehrfach gehaltenen Vorlesungen zum Thema und bietet im Schlusskapitel Pannenbergs letzte reguläre Münchener Vorlesung (vgl. a.a.O., 5f.).
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beide Disziplinen bei Pannenberg graduell wieder etwas mehr auseinander. So steht weniger die gemeinsame Struktur der Antizipation des Absoluten als vielmehr die – freilich im Kern: produktive – wechselseitige Abgrenzung beider Disziplinen im Mittelpunkt. So betont Pannenberg: Die Theologie versteht Gott als alles bestimmende Wirklichkeit von der Offenbarung her, während die Philosophie von der menschlichen Erfahrung ausgehend zu deren Fundierung im Absoluten führt.102 Freilich gebraucht die Theologie die in der Philosophie thematisierte Vernunft und versteht Gott als Ganzheit, während die Philosophie traditionell die Wirklichkeit im Ganzen zu denken versucht und kritisch auf die religiöse Überlieferung bezogen bleibt.103 Insofern stehen Theologie und Philosophie in einem Verhältnis konstruktiver Spannung, das sich auch in dem Verhältnis von dem Gottesgedanken und dem Weltbegriff dokumentiert und historisch wandelt.104 Die Nachzeichnung dieser Problemgeschichte beginnt bei Pannenberg mit Platon und Aristoteles. Einerseits wird hierbei nach Pannenberg die fundamentale Relevanz von Platons und Aristoteles’ Philosophie für die Formierung der christlichen Theologie in der Patristik und Scholastik deutlich.105 Andererseits kann Pannenberg auch die Stoa als sehr wichtig für den christlichen Glauben würdigen.106 Und: Klar betont Pannenberg die epochale Entdeckung der Subjektivität und Geschichtlichkeit in der Neuzeit und Moderne, die der griechischen Metaphysik fremd ist.107 Auch die moderne Einsicht, dass die Anthropologie zur Basisdisziplin einer zeitgenössischen Philosophie und einer rechenschaftspflichtigen Theologie avanciert, ist für Pannenberg – weiterhin – nicht in der klassischen Metaphysik der Griechen nachweisbar.108 Darüber hinaus urteilt Pannenberg: In den fundamentalen Einsichten der Subjektivität und Geschichtlichkeit zeigt sich in gewisser Weise thematisch, was die christliche Theo-
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Vgl. zu diesem Beitrag und Ansatz Pannenbergs auch: Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Theologie. Ein einführender Bericht, a.a.O., 270–278; Christoph Glimbel, Gottesgedanke und autonome Vernunft. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2007. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, a.a.O., 367. Vgl. a.a.O., 11–36. 359–367. Vgl. ebd. Die ersten beiden Kapitel zur Geschichte beziehen sich ausführlich auf Platon und Aristoteles, deren Philosophien eingehend gewürdigt werden (vgl. a.a.O., 37–89). Der Stoa wird das dritte Kapitel zur Geschichte gewidmet (vgl. a.a.O., 90–105). Obwohl die stoische Philosophie sehr an der Immanenz orientiert ist, wirkt sie durch ihren Logosbegriff, ihr Verständnis des Pneuma und Einsichten ihrer Erkenntnislehre insbesondere in der Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis stark auf das Christentum ein (vgl. a.a.O., 93–105). Vgl. a.a.O., 81f. 87–89. 106–128. 359–367. Vgl. a.a.O., 294–367, bes. 359f.
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logie genuin zum Themenbestand der Philosophie beigesteuert hat.109 Dies sind das Bewusstsein der Kontingenz und Geschichtlichkeit, die Fokussierung auf Freiheit und Individualität und eine positive Wertung des Unendlichen.110 Letztere verweist auf einen – neben Subjektivität (im Unterschied zur Orientierung am Allgemeinen) und Geschichtlichkeit (im Unterschied zum Unwandelbaren) weiteren – markanten Unterschied zur klassischen Metaphysik der Griechen, so Pannenberg.111 Denn diese Metaphysik konnte bei Platon und Aristoteles das Göttliche nur als höchste Bestimmtheit und insofern begrenzt denken.112 Erst mit Gregor von Nyssa, so Pannenberg, ist die Unendlichkeit im Blick auf den Gottesgedanken umgewertet worden – und später in der Neuzeit auf die Welt und die mathematische Mengenlehre übertragen worden.113 Ebenso sind der Gedanke des Schöpfertums und der Selbstoffenbarung nach Pannenberg für den Gottesgedanken der klassischen Metaphysik der Griechen undenkbar.114 Erst in der Scholastik findet klassisch bei Thomas von Aquin die christliche Theologie für dieses – aus ihrer Angewiesenheit auf die griechische Philosophie sich ergebende – Problem eine Antwort, indem sie dem göttlichen Intellekt einen Willen zuschreibt.115 Diese Psychologisierung Gottes, so Pannenberg, hat ihren Preis in dem Aufkommen des neuzeitlichen Projektionsverdachtes, wie auch die platonische Trennung der Ideen von der Welt und die starre Substanzontologie des Aristoteles zu kritisieren sind.116 Für noch nicht hinreichend abgegolten hält Pannenberg bei Platon die im Dialogischen verankerte Dialektik, den auf die Zukunft bezogenen Gedanken des Guten und die kategoriale Aufwertung der Relation in Platons Spätphilosophie.117 Bei Aristoteles hebt Pannenberg das Seelenkonzept mit dem „intellectus agens“ hervor, der einen Meilenstein zur neuzeitlichen Subjektivitätsthematik darstellt, und würdigt die substanzontologische Einsicht von dem sich unterscheidenden Etwas („tode ti“): Was etwas ist, ist es im Unterschied zu anderem, auf das es wesentlich bezogen ist.118 Als Zwischenfazit kann Folgendes festgehalten werden: Pannenbergs Bild der klassischen Metaphysik der Griechen ist von der Annahme einer grundlegenden Kontinuität von Parmenides über Platon bis zu Aristoteles und Plotin bestimmt.
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Vgl. a.a.O., 106–128. 359–367. Vgl. a.a.O., 106–128 Vgl. a.a.O., 106–128, bes. 123–125. Vgl. a.a.O., 124. Vgl. a.a.O., 124f. Vgl. a.a.O., 48–50. 83f. 107–111. Vgl. a.a.O., 80–86, bes. 82f. Vgl. a.a.O., 83f. 67f. 88f. Vgl. a.a.O., 67f. 49f. (mit dem Hinweis auf Platons „Parmenides“). Vgl. a.a.O., 88f.
Die klassische Metaphysik der Griechen bei Wolfhart Pannenberg
Damit geht für Pannenberg eine Zweiteilung der Wirklichkeit einher. Insbesondere hebt Pannenberg die Bedeutung der (neu-) platonischen Philosophie für die christliche Theologie hervor. Anders als in der aristotelischen Philosophie wird platonisch das Göttliche nicht unter die Substanzen gerechnet, sondern jenseits des Seins verortet, wie es zur Überweltlichkeit des biblischen Gottes passt. Dass Platons späte Dialektik die Relation kategorial aufwertet, liegt für Pannenberg offenbar in einer Fluchtlinie der christlichen Trinitätslehre, Gott als in sich differenziertes Wesen zu verstehen. Diese Nähe des platonischen Gottesgedankens wird im Neuplatonismus Plotins noch verstärkt, wenn dieser einen Zukunftsprimat für die Zeit behauptet, aus der die Ganzheit des Daseins im Horizont der Ewigkeit empfangen wird. Hier wird in gewisser Weise Pannenbergs Figur der Antizipation vorweggenommen. Letzteres gilt auch von der Substanzontologie des Aristoteles, wenn die in wechselseitiger Unterscheidung sich ergebende Bestimmtheit der Substanz sich antizipativ (als „entelecheia“) in ihrem Werden zeigt. Damit ist auch schon angedeutet: Was die systematische Zuordnung von griechischer Metaphysik und christlicher Theologie angeht, so vertritt Pannenberg prinzipiell ein Aufhebungsmodell, das er mitunter eher kontrastiv-differenzierend oder eher vermittelnd-affirmativ zuspitzen kann. Offenbar startet Pannenberg mit einer recht konstruktiven Zuordnung von christlicher Theologie und klassischer Metaphysik der Griechen, die er dann kontrastiv schärft, um sodann – nach einer zwischenzeitlich sehr starken Annäherung von christlichem Gottesgedanken und (auch) griechischer Metaphysik – sich wieder seiner ursprünglichen Zuordnung anzunähern.119 Grundsätzlich wird nach Pannenberg das berechtigte Erbe der griechischen Metaphysik mit ihrem Insistieren auf dem Ursprünglichen, dem Einen und dem Transzendenten in der christlichen Theologie aufgehoben. So führt historisch und systematisch für die christliche Theologie kein Weg an der griechischen Metaphysik vorbei, so wenig man einfach bei letzterer stehenbleiben kann. Dies leitet der Sache nach unmittelbar zum nächsten Abschnitt über.
2.
Die systematische Funktion der klassischen Metaphysik der Griechen bei Pannenberg
Wenn man danach fragt, welche systematische Funktion dieser Deutung der klassischen Metaphysik der Griechen bei Pannenberg zukommt, so ergibt sich die Antwort, wenn man das soeben skizzierte Bild dieser Metaphysik noch schärfer 119 Vermutlich wird man diese Verschiebungen bei Pannenberg am ehesten aus der jeweils graduell neuen Kombination von drei Momenten erklären können, nämlich der jeweiligen sachlichen Leithinsicht, des jeweils unterschiedlichen Adressatenkreises und der jeweils vorhandenen Vertiefung in die Thematik.
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fasst: In prägnanter Abgrenzung von prominenten Stimmen der evangelischen Theologie, die sich systematisch und (dogmen-) geschichtlich programmatisch von der klassischen Metaphysik der Griechen absetzen, verteidigt Pannenberg diese Verbindung. Zum einen ist seines Erachtens systematisch die Theologie – funktional durch den Vernunftgebrauch (ihres Nachdenkens) und inhaltlich durch den Ganzheitsbezug (ihres Gottesgedankens) – auf das Gespräch mit der Philosophie angewiesen, die über diesen Vernunftgebrauch und diesen Ganzheitsbezug maßgebliche Überlegungen angestellt hat und anstellt. Daher ist auch eine theologische Totaldistanzierung von der klassischen Metaphysik der Griechen unhaltbar, die ihrerseits aus der als Theologie zu interpretierenden Vorsokratik hervorgegangen ist und das Denken sowie das Göttliche aufeinander bezogen weiß. Zum anderen ragt für Pannenberg historisch diese Konstellation von Theologie und Philosophie in besonderer Weise hervor. Denn die ursprüngliche Ausformung dessen, was später als christliche Theologie verstanden wird und auftritt, ergibt sich und erschließt sich allererst aufgrund des Wechselverhältnisses zwischen der christlichen Jesustradition der Bibel und der klassischen Metaphysik der Griechen. Die historische Kontingenz dieser Koinzidenz ist für Pannenberg kein blinder Zufall. Vielmehr entspricht sie dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens, in seiner Rede von Gott den Ursprung, die Einheit und die Transzendenz der vorhandenen Wirklichkeit überzeugend darzulegen. Allerdings tritt für Pannenberg systematisch an diesem Punkt eine fundamentale Spannung auf. Sie zeigt sich historisch in der problematischen Vermittlung zwischen Theologie und Philosophie in frühchristlicher Zeit. Demnach steht der Gott der klassischen Metaphysik der Griechen für die durch ein Rückschlussverfahren aus der Welt gewonnene Ordnung und allgemeine Notwendigkeit. Dieser Gott bleibt als das schlechthin Unwandelbare und Eine in bleibender Differenz zur vielgestaltigen Sinneswelt mit ihren Veränderungen. Aufgrund dieses Dualismus zwischen unwandelbarem Sein und vergänglichem Schein kann der Gott der griechischen Metaphysik nicht (personal) handeln und (frei) über schöpferische Möglichkeiten verfügen, die über die vorhandene Wirklichkeit hinausgehen. Dies sagt jedoch, so Pannenberg, der christliche Glaube über seinen Gott aus: Dieser Gott kann in seiner differenzierten Einheit über die Wirklichkeit aufgrund seiner grenzenlosen Möglichkeiten frei verfügen und personal handeln. Seine Ewigkeit manifestiert sich in der Zeit wie seine Substantialität sich in seiner Subjektivität erweist. Insbesondere in der Philosophie des Deutschen Idealismus bei Hegel bricht sich nach Pannenberg diese wichtige Einsicht die Bahn, wenn auch erst bei Wilhelm Dilthey die Geschichtlichkeit der Wirklichkeit in voller Schärfe eingesehen wird. Dieser geschichtliche Gott des christlichen Glaubens ist mehr als die vorhandene Wirklichkeit, aus der er vermeintlich vollständig durch ein diesseitiges Rückschlussverfahren gewonnen werden kann und wie es sich in den Gottesbeweisen ausbuchstabiert. Letztlich wird der wahre Gott nämlich in seiner geschichtlichen Offenbarung der Auferstehung Jesu erkannt, deren end-
Die klassische Metaphysik der Griechen bei Wolfhart Pannenberg
gültige Bewahrheitung im Modus der Zukunft noch aussteht, so Pannenberg. In diesem Gott ist die Allgemeinheit der vorhandenen Wirklichkeit in die Besonderheit der – das Ganze dieser Wirklichkeit antizipierenden und so sie aktuell unterbrechenden – Offenbarung aufgehoben. Dies schließt nicht nur theologisch, so Pannenberg, die philosophische Rechenschaftsfähigkeit ein, sondern entspricht auch einer vernünftigen Selbstbescheidung kritischer Metaphysik. Diese von Pannenberg im Gespräch mit der klassischen Metaphysik der Griechen vertretenen Einsichten lassen sich auch in Pannenbergs eigenem und explizit systematischem Verständnis von Theologie, Religion und Gott nachweisen, wie im Folgenden aufgrund von Pannenbergs Studie „Wissenschaftstheorie und Theologie“ (1973) und den („Prolegomena“120 -) Darlegungen in seiner „Systematische[n] Theologie I“ (1988) kurz zu zeigen ist.121 Hierbei kommt auch der Theologie der Religionsgeschichte eine besondere Bedeutung zu, so dass unsere doxographische Darstellung von Pannenbergs Position dorthin wieder einkehrt, wovon sie ihren Ausgang nahm, nämlich in seine Theologie der Religionsgeschichte. Das Verständnis von Pannenbergs Theologiebegriffs, dessen platonischen Ursprung er hervorhebt122 , ist programmatisch und systematisch auf Einsichten der Metaphysik bezogen.123 Damit grenzt Pannenberg sein Theologieverständnis signifikant von anderen prominenten Entwürfen systematischer Theologie, wie sie nicht nur, aber insbesondere seit dem 19. Jahrhundert von evangelischer Seite vorgelegt wurden und werden.124 Die systematische Verbindung von Metaphysik und Theologie denkt Pannenberg im Sinn des Aufhebungsmodells: Die philosophische Theologie der Metaphysik ist in die geschichtliche Theologie der Offenbarung aufzuheben, so dass in letzterer dasjenige aufgenommen, vollendet und überboten wird, worauf die erstere ausgerichtet ist.125 Dokumentiert sich in diesem Aufhebungsmodell auch Pannenbergs Nähe zu Einsichten des Thomas von Aquin
120 Im strengen Sinn gibt es bei Pannenberg keine „Prolegomena“, sondern dasjenige, was traditionell in denselben ausgedrückt wird, integriert Pannenbergs Theologie in ihren dogmatischen Vollzug (vgl. zur Sache: Gunther Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 15–70, 65f.). 121 Es wird also lediglich behauptet, dass Pannenberg im Gespräch mit der klassischen Metaphysik der Griechen seine entsprechenden Einsichten vertritt, nicht aber, dass Pannenberg sie exklusiv aus diesem Gespräch gewinnt. Darauf wird im Zwischenfazit einzugehen sein. 122 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie [STh] I, Göttingen 1988, 11. 123 Vgl. z. B. a.a.O., 78–80. 111–121; ders., Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. (Neuausgabe) 1987 [WuTh], 33–42. 111–117. 222–224. 124 Vgl. Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 828. 125 Vgl. auch: ebd.; Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie, a.a.O., 42–46.
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und des späten F.W.J. Schelling126 , so entspricht es ebenso Pannenbergs Rezeption der klassischen Metaphysik der Griechen.127 Auch die inhaltlichen (Kern-) Argumente für die systematische Position Pannenbergs gleichen denen, die aus seiner Deutung der klassischen Metaphysik der Griechen bekannt sind: Mit dem Einheitsbezug der Wirklichkeitserfahrung und dem Gebrauch des Denkens ist die Theologie systematisch auf eine Form von Metaphysik angewiesen, die kritisch eine Selbstverabsolutierung vermeidet und zugleich die Minimalbedingungen einer rechenschaftsfähigen Rede für das Absolute einschärft.128 Für die Theologie bedeutet dies: Aufgrund der Nominaldefinition Gottes als der alles bestimmenden Wirklichkeit129 kann ihr Anspruch, mit Gott die „Wahrheit“130 darzulegen, um der es Pannenberg schon im Kontext seiner Griechen-Rezeption zu tun war131 , weder mit dem christlichen Dogma vorausgesetzt noch vor der kritischen Wissenschaft geschützt werden.132 Vielmehr muss sich die Theologie als Wissenschaft von Gott auf eine vernunftgeleitete Prüfung ihrer Behauptungen im Ganzen der Wirklichkeit einlassen.133 Genau dafür bietet sich eine Metaphysik als Gesprächspartnerin an, die selbstkritisch verfährt, ihre Angewiesenheit auf die religiöse Überlieferung in Rechnung stellt und anthropologisch fundiert ist.134 Ein solcher Ansatz hebt nämlich wissenschaftstheoretisch die Einseitigkeiten anderer Theoriekonzepte auf, welche die Einbettung von Tatsachen in eine umfassende sowie ausstehende Sinntotalität übersehen und den Vernunftbegriff – wie im Einzelnen auch immer motiviert – unzulässig verkürzen.135 Auch Pannenbergs systematisches Verständnis von Gott liegt in der Fluchtlinie seiner historischen Deutung und theologischen Einordnung der klassischen Metaphysik der Griechen. Dies gilt nicht nur vom einführenden Gebrauch des Wortes 126 Vgl. Thorsten A. Leppek, Gott – Wahrheit – Wirklichkeit. Zu Metaphysischem in Pannenbergs Theologie, in: Gunther Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 285–307, bes. 298–300; Malte Dominik Krüger, Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie. Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Gunther Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 141–161, bes. 145–148, 127 Vgl. in diesem Beitrag das Zwischenfazit zu 1) Das historische Bild der klassischen Metaphysik der Griechen bei Pannenberg. 128 Vgl. z. B. Wolfhart Pannenberg, WuTh, 305–309 (unter Berufung auch auf Platon und Aristoteles); ders. STh I, 73–132, bes. 87–108 (auch unter Bezugnahme auf die klassische Metaphysik der Griechen). 129 Vgl. z. B. ders., WuTH, 304f. 130 Vgl. ders., STh I, 17 (mit ausdrücklichem Bezug auf Platon). Vgl. auch: ders., WuTh, 14–16. 131 Vgl. ders., STh I, 11–72, bes. z. B. 57f. 6f. 64. 132 Vgl. a.a.O., 58–72. 133 Vgl. ders., WuTh, 299–348. 134 Vgl. ders., STh I, 77–80. 111–121, bes. 119f. 135 Vgl. ders., WuTh, 31–224, bes. 223f.
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„Gott“ als einer Gattungsbezeichnung in Anknüpfung an den Gottesbegriff der griechischen Metaphysik, weil andernfalls das Wort „Gott“ anfänglich überhaupt nicht verstanden werden könnte.136 Vielmehr gilt auch: Wenn die griechische Metaphysik mit ihrer Artikulation des Göttlichen den Weg für die Gottesbeweise vorbereitet, so werden ebenfalls diese Gottesbeweise von Pannenberg – gegen den „Mainstream“ nicht nur evangelischer Theologie – im Sinn seines Aufhebungsmodells kritisch integriert: Die allgemeine Kenntnis des Menschen von Gott, worum es der philosophischen Gotteslehre seit der Vorsokratik geht und was zu den Gottesbeweisen führt, muss die christliche Offenbarungstheologie berücksichtigen, wenn ihr Gott für alle Menschen relevant sein soll.137 In spezifisch neuzeitlicher Fokussierung der Anthropologie muss sich für Pannenberg zeigen lassen, dass der Mensch, der den Gottesgedanken teilt, sich selbst angemessen versteht; allerdings führt auch kein anthropologisch neu akzentuierter Gottesbeweis im strengen Sinn zu Gottes Wirklichkeit.138 Sie erschließt sich, so Pannenberg, in ihrer Selbstoffenbarung in der Geschichte, deren Ende in der Auferstehung Jesu antizipiert und damit noch vorläufig – und nicht logisch zwingend – ist.139 Das überlieferungskritische Erbe des philosophischen Gottesgedankens der Metaphysik geht für Pannenberg – im Anschluss an Einsichten von René Descartes – auf einen anthropologischen Nachweis über, dass das Leben des Menschen von einem Unendlichen getragen wird.140 Dies zeigt sich in einem Vertrauen des Menschen in die Tragfähigkeit des Seins; im Lauf seines Lebens unterscheidet der Mensch diese Erfahrung zunehmend von der Welterfahrung.141 In den positiven Religionen prägt sich dies als eine ausdrückliche Gotteserfahrung aus, nach der Pannenberg entsprechend fragt. Pannenbergs Verständnis von Religion ist geschichtlich bestimmt und nimmt – religionswissenschaftlich inspiriert – das Selbstverständnis der positiven Religionen auf, nicht bloß eine Funktion des Menschen, sondern eine Erscheinung der Gottheit zu sein.142 Letztere wird religiös so verstanden, dass sie dem Menschen zuvorkommt.143 Weil die Einheit des Göttlichen am Anfang der Menschheitsgeschichte nicht bewusst war, begreift Pannenberg die Religionsgeschichte als die Geschichte, in der diese göttliche Einheit erscheint.144 Ihre Wirklichkeit ist jedoch
136 137 138 139 140 141 142 143 144
Vgl. ders., STh I, 73–83. Vgl. a.a.O., 83–121, bes. 87f. 93f. Vgl. a.a.O., 102–108. Vgl. a.a.O., 249–281. Vgl. a.a.O., 94–97. 100–106. 126–132. 379–389. Vgl. a.a.O., 126–132. Vgl. a.a.O., 133–166, bes. 157–166. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 160–188.
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strittig; die Götter der Religionen müssen sich in der Bewältigung der Welterfahrung ihrer jeweiligen Anhänger bewähren.145 Wenn dies geschieht, handelt es sich nach Pannenberg nicht bloß um eine menschliche Zuschreibung, sondern um einen geschichtlichen Selbsterweis der jeweiligen Gottheit.146 Die Religionsgeschichte insgesamt avanciert auf diese Weise zum geschichtlichen und so zum vorläufigen Selbsterweis Gottes.147 Problematisch erscheint es, dass das religiöse (Kultus-) Verhalten sich einerseits von der Unendlichkeit des Göttlichen unterschieden weiß und es zugleich auf eine bestimmte Form der Manifestation meint, festlegen zu können.148 Diese Zweideutigkeit der religiösen Fixierung des Unendlichen im Endlichen angesichts einer sich prozessual einstellenden Gottheit wird in der metaphysischen Reflexion des Absoluten hinterfragt und letztlich in der christlichen Offenbarung zurechtgebracht.149 Denn in ihr wird die endliche Fixierung des Unendlichen als geschichtliche Selbstfestlegung des wahrhaft – und darin auch das Endliche umfassenden – Unendlichen im definitiven Vorgriff auf ein noch ausstehendes Ende des Gesamtgeschichte offenbar.150 Zu dieser Position gelangt Pannenberg, indem er an das idealistische Konzept von der Gesamtgeschichte als der Gottesoffenbarung anknüpft und es durch die – im Horizont der biblischen Apokalyptik verstandenen – Botschaft von der geschichtlichen Auferstehung Jesu korrigiert, in der das Ganze der Geschichte antizipiert ist.151 In Jesus Christus wird ausgedrückt, womit man es in Wahrheit zu tun hat, wenn man Gott meint. Insofern dieses Gottesverständnis die wechselseitige Unterscheidung von Gott und Jesus Christus bei ihrer gleichzeitigen Einheit einschließt, ist der christliche Gott wesenhaft trinitarisch strukturiert.152 Dazu gehört auch die Einsicht in Gottes Schöpfersein, dessen Wirksamkeit sich die Geschichte der gesamten Wirklichkeit verdankt.153 Als Zwischenfazit kann Folgendes festgehalten werden: Die systematische Funktion der klassischen Metaphysik der Griechen bei Pannenberg besteht darin, dass sie mit ihrer Thematisierung des Vernunftgebrauchs und des Ganzheitsbezugs funktional und inhaltlich für ein angemessenes Theologieverständnis unentbehrlich ist. Denn nach Pannenberg kann systematisch die Theologie weder der Vernunft noch der Ganzheit entraten, auch wenn die Theologie mit der Botschaft der Auferstehung
145 146 147 148 149 150 151 152 153
Vgl. a.a.O., 175–188. Vgl. ebd., bes. 186. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 188–205, bes. 193f. 196f. 202. Vgl. a.a.O., 188–205, bes. 192–205. Vgl. ebd. Vgl. ebd.; a.a.O., 207–281, bes. 251–281. Vgl. a.a.O., 283–364, bes. 335–364. Vgl. a.a.O., 449–456. 355–364.
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Jesu darüber hinausgeht. Schließlich handelt es sich bei der Auferstehung Jesu nach Pannenberg um eine Vorwegnahme des geschichtlich Ganzen als der Offenbarung Gottes, die einer selbstkritischen Vernunft als historisch einzuleuchten vermag. Insofern passen das historische Bild und die systematische Funktion der klassischen Metaphysik der Griechen nahtlos zusammen: Philosophischer Gottesgedanke und göttliche Selbstoffenbarung denkt Pannenberg im Sinn eines Aufhebungsmodell, wonach die vernünftige Ganzheit des philosophischen Gottesdenkens in der geschichtlichen Antizipation der göttlichen Selbstoffenbarung (besonders konkretisierend) aufgenommen, (geschichtsmächtig handelnd) vollendet und (personal kreativ) überboten wird. Sieht man einmal von Pannenbergs noch größerer Nähe zur Metaphysik des deutschen Idealismus ab, in der er wesentliche Einsichten seiner eigenen Lösung vorgeformt findet, so kann diese passgenaue Einfügung der klassischen Metaphysik der Griechen auch Skepsis hervorrufen: Exemplifiziert Pannenberg an ihr lediglich, was er unabhängig von ihr und ohnehin an sich für schlüssig hält? Meines Erachtens ist die Frage nicht ganz einfach von der Hand zu weisen. Vielleicht ist es am angemessensten, in diesem Fall zu sagen: Pannenberg vertritt im Gespräch mit der klassischen Metaphysik der Griechen seine systematische Theologie, nicht aber, dass Pannenberg sie exklusiv aus diesem Gespräch gewinnt. Diese Relativierung ist allerdings ihrerseits zu relativieren. Erstens zeigt die im ersten Teil dieses Beitrags exemplarisch dokumentierte Auseinandersetzung Pannenbergs mit den „Griechen“ eine Intensität und Konstanz, die nicht zu der Lesart passt, wonach die klassische Metaphysik der Griechen zu den theologischen „Allotria“ bei Pannenberg gehört. Neben diesem ersten Argument „ad hominem“ hat zweitens die geschichtlich ursprüngliche Verbindung von biblischem Gottesbild und griechischer Metaphysik zur christlichen Theologie eine systematische Relevanz, weil Pannenberg im Anschluss vorrangig an Hegels Überlegungen der Genese eine Bedeutung für die Geltung zuschreibt: Ohne den (auch: anfänglichen) Weg ist das (antizipierte) Ende des Geschichtsprozesses nicht zu haben. Dazu gehört jedoch für die Theologie nach Pannenbergs Verständnis zweifellos die klassische Metaphysik der Griechen. Gerade die Positivität des christlichen Glaubens als das für den Gottesgedanken theologisch angemessene Gottesverhältnis ist nicht unmittelbar gegeben, sondern schließt den vernunftgemäßen Aufweis des Absoluten in der Metaphysik ein.
3.
Doxographische, historische und systematische Anschlussperspektiven
Pannenbergs Rezeption der klassischen Metaphysik der Griechen lässt sich erstens doxographisch würdigen und zweitens historisch problematisieren, so dass drittens systematische Perspektiven in den Blick kommen.
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Eine doxographische Würdigung kann zwei Momente herausstellen, die in einer gewissen Spannung stehen: Einerseits zeichnet Pannenberg historisch ein konventionelles Bild der klassischen Metaphysik der Griechen, dem er andererseits systematisch unkonventionell eine Relevanz für die aktuelle Theologie zuschreibt. Die erste Teilthese kann man sich an der Nähe von Pannenbergs Deutung zu dem verdeutlichen, was prominent als theologische Standarddeutung der klassischen Metaphysik der Griechen identifiziert wird.154 Danach blickt das griechische Denken – zwar unter dem Einschluss des Besonderen, Vergänglichen und Kontingenten, aber mit dessen deutlicher Einordnung und Unterordnung – auf das Allgemeine, Unvergängliche und Notwendige.155 So würde das Einmalige, Eschatologische und Geschichtliche letztlich in der klassischen Metaphysik der Griechen unangemessen verkürzt, wie die anthropozentrische Dynamik zugunsten einer kosmozentrischen Statik relativiert würde.156 Subjektivität und Geschichtlichkeit würden auf diese Weise von der klassischen Metaphysik verfehlt, wie sie auch den Begriff des Personalen – sowohl im Blick auf den Menschen als auch die Gottheit – nicht erreichen würde.157 Daher sei der griechische Gottesgedanke im Gegensatz zum christlichen Gottesgedanken unpersönlich und würde die Fähigkeit dieser Gottheit ausschließen, in der Welt handeln zu können. In der Gründung des Endlichen im Unendlichen zeigt sich diese Problematik, so der Tenor der Standardlesart der klassischen Metaphysik der Griechen, in der Differenz zwischen einer notwendigen Emanation aus dem Einen und einer freien Schöpfung aus dem Nichts.158 Resümiert man diese theologische Standarddeutung der klassischen Metaphysik der Griechen, wird man das Urteil nicht vermeiden können, dass sie von Pannenberg – vermutlich aus dem Selbstverständnis der modernen Philosophie inspiriert159 – geteilt wird. Doch unkonventionell ist und bleibt, dass und wie Pannenberg diese Metaphysik nicht gänzlich abweist, sondern als notwendiges Vollzugsmoment einer rechenschaftsfähigen Theologie des christlichen Glaubens aufnimmt: Die in der klassischen Metaphysik der Griechen erfasste Allgemeinheit, Unvergänglichkeit und Notwendigkeit des Gottesgedankens sind Implikationen eines geschichtstheo-
154 Vgl. Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, a.a.O., 11–16. Beierwaltes bezieht sich kritisch insbesondere auf Johann Baptist Metz (vgl. a.a.O., 15, Anm. 6), er hätte sich ebenso kritisch auf Pannenberg, den er positiv erwähnt (vgl. a.a.O., 12, Anm. 4), oder Rudolf Bultmanns Deutung des Hellenismus (vgl. Rudolf Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Düsseldorf 6 1998, 145–187) beziehen können. 155 Vgl. dazu und zum Folgenden Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, a.a.O., 11–16. 156 Vgl. ebd. 157 Vgl. ebd. 158 Vgl. ebd. 159 Vgl. zur Sache auch: Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart/Weimar 2 2008, bes. 7–121.
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logischen Offenbarungsverständnisses, in dem sie aufgehoben werden. Damit ist Pannenberg – im Abgleich mit modernen und zeitgenössischen Theologien kerygmatischen oder liberalen Zuschnitts – unzeitgemäß: Er ist ein „evangelischer Metaphysiker“160 . Auch für die zeitgenössische Philosophie ist dies ungewöhnlich. Gegen beispielsweise Martin Heideggers Verabschiedung des Metaphysikbegriffs und dessen metaphysikfreies Theologieverständnis insistiert schon der junge Pannenberg darauf, die Metaphysik nicht aufzugeben und auf die Theologie zu beziehen.161 Mit anderen Worten: So konventionell Pannenbergs Bild der klassischen Metaphysik der Griechen ist, so unkonventionell ist sein Beharren auf ihren Einsichten als nicht aufzugebender Teilwahrheiten. Eine historische Problematisierung kann zweierlei hinterfragen: Sind Pannenbergs Deutungen erstens der klassischen Metaphysik der Griechen als einer ZweiWelten-Theorie und zweitens der Entgegensetzung zwischen dieser Metaphysik und dem deutschen Idealismus haltbar? Beides hängt zusammen, wie zu zeigen ist. Pannenberg interpretiert erstens die griechische Metaphysik von Parmenides über Platon bis zu Aristoteles als eine kontinuierliche Konzeption162 , die einen spezifisch griechischen Dualismus zwischen Wahr-Sein und Sinnen-Schein geltend macht.163 Dies irritiert, da sogar das konventionelle Bild der griechischen Metaphysik in der Regel über die Feststellung einer griechischen Zwei-Welten-Theorie die differenzierenden Behauptungen einschließt: Zwischen Parmenides’ homogenem und idealem Seinsverständnis und Platons Annahme unterschiedlicher Ideen würde es einen Bruch geben, wie zudem die aristotelische Metaphysik die platonischen Ideen in die Dinge verlagern und so eine Zwei-Welten-Theorie vermeiden würde.164 Doch eine genauere Betrachtung kann noch weiterführen. Danach scheitert die Platon im genannten dualistischen Sinn zugeschriebene Zwei-Welten-Theorie. Weder lässt sich dafür in Platons Dialogen selbst ein ausdrücklicher Beleg finden165 noch passt
160 Thorsten A. Leppek, Gott – Wahrheit – Wirklichkeit. Zu Metaphysischem in Pannenbergs Theologie, a.a.O., 285. 161 Vgl. Gunther Wenz, Ausfahrt Todtnauberg. Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger, in: Gunther Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 71–87. 162 Vgl. z. B. Wolfhart Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, a.a.O., 302; ders., Was ist Wahrheit?, a.a.O., a.a.O., 204f. 208f. 210f. 216f. 163 Vgl. z. B. Wolfhart Pannenberg, Was ist Wahrheit?, a.a.O., 208. Vgl. ders., Was ist der Mensch?, a.a.O., 52–55. 164 Vgl. z. B. Curt Friedlein, Geschichte der Philosophie. Ein Lehr- und Lernbuch, Berlin 15 1992, 45–61. 165 Vgl. so: Benedikt Strobel, Art. Zwei-Welten-Theorie, in: Christoph Horn/Jörn Müller/Joachim Söder (Hg.), Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2 2017, 367–371, 367.
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dies zu dessen Spätphilosophie. Denn letztere nimmt mit der Lehre der wechselseitigen Teilhabe größter Ideen („megista genê“) das Nichtseiende und Antilogische in den logischen Raum des Denkens hinein, um die (sinnlichen) Phänomene vor der vermeintlichen Alternative des Parmenides „Schein oder Sein“ zu retten.166 Und Aristoteles folgt kritisch-konstruktiv dieser platonischen Spur, wenn er – über seine Unterscheidung von „energeia“ und „dynamis“ – den logischen Raum des Denkens weiter so entgrenzt, dass dieser kein Außerhalb mehr kennt und das ursprünglich ausdifferenzierte und vielfach auszusagende Seiende umfasst.167 Damit fällt nicht nur die Lesart, der klassischen Metaphysik der Griechen eine strikt dualistische Zwei-Welten-Theorie ontologischer Art zuzuschreiben, weil das Veränderliche, Wandelbare und Kontingente sich nunmehr im logische Raum des Denkens befindet. Vielmehr ergibt sich so auch eine hohe Affinität zum deutschen Idealismus. Denn wenn Platon eine Dialektik wechselseitig aufeinander verwiesener Ideen annimmt, die sich selbst begreift, und Aristoteles das göttliche Modell eines sich selbst denkenden Denkens annimmt, dann ist Hegels System nicht fern.168 Ihm
166 Vgl. so etwa: Anton Friedrich Koch, Platon und Aristoteles retten die Phänomene, in: Peter König/Jan-Ivar Lindén (Hg.), Aristoteles – Antike Kontexte, gegenwärtige Perspektiven, Heidelberg 2020, 45–76. Die oben gebrauchte Wendung von der „vermeintlichen Alternative des Parmenides“ kann man nicht nur auf die sachliche Fragwürdigkeit der pauschalen Alternative von Sein und Schein, sondern auch auf die historische Frage beziehen, ob Parmenides sie philosophisch tatsächlich vertritt. Denn immerhin erscheint Parmenides offenbar der Schein des Scheins so wirklich, dass dieser Schein der Abweisung bedarf (vgl. beispielhaft zur Orientierung über verschiedene Lesarten: Hans von Steuben, Auszüge aus der neueren Literatur, in: Parmenides, Über das Sein. Griechisch/Deutsch, hg. v. Hans von Steuben, Stuttgart 198, 41–92; Eberhard Jüngel, Zum Ursprung der Analogie bei Parmenides und Heraklit, in: ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 52–102; Arbogast Schmitt, Parmenides und der Usprung der Philosophie, in: Emil Angehrn (Hg.), Anfang und Ursprung, Berlin 2007, 109–139). 167 Vgl. Anton Friedrich Koch, Platon und Aristoteles retten die Phänomene, a.a.O., 45–76. Daran anschließend könnte an Pannenbergs Deutung der klassischen Metaphysik der Griechen eine Reihe von Rückfragen gestellt werden. Um nur drei zu nennen, kann man Folgendes festhalten. Erstens ist es richtig, dass Aristoteles Gott eine „ousia“ zuschreibt, aber dieser – bei Aristoteles nur modellhaft so bezeichnete – Gott zählt gerade nicht zu den Einzelsubstanzen. Insofern ist die Rede, dass Aristoteles den Gott unter die „ousiai“ rechnet und so in seiner Transzendenz verpasst, zumindest präzisionsbedürftig. Zweitens ist der griechische Seinsbegriff schon bei Parmenides nie einfach leeres Sein, sondern immer schon „pleromatisch“ gedacht; auch im neuplatonischen „hen“ ist die Andersheit inbegriffen, nur – cusanisch gesprochen – als „non aliud“. Und drittens müsste man diskutieren, ob der Einfluss der Stoa schon auf die frühchristliche Theologie so massiv ist, wie Pannenberg teilweise andeutet, oder ob ihr Einfluss nicht erst seit dem Scotismus substantiell geworden ist. Über solche und weitere Fragen müsste man mit Pannenbergs Position in historischen Einzeluntersuchungen ins Gespräch kommen, die hier nicht angestellt werden können. 168 Vgl. so z. B. Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt a.M. 2 2004, 144–187; ders., Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte,
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wirft Pannenberg aber keinen Dualismus im genannten Sinn vor, sondern lediglich eine Zukunftsvergessenheit. Dass damit Platon und Hegel letztlich einfach eins sind, sollte meines Erachtens allerdings im Gegenzug auch nicht behauptet werden.169 Doch: Dass die Verbindungen zwischen der klassischen Metaphysik der Griechen und dem deutschen Idealismus stark sind, sollte noch weniger bestritten werden.170 Dies betrifft unter Umständen vielleicht sogar eine – anders als christlich heilsgeschichtlich bzw. christlich säkularisiert verfahrende – Theorie der Geschichte und Zeitlichkeit.171 Dafür könnten Pannenbergs Beobachtungen zu Plotin interessant sein, wenn Plotin die geschichtstheologische Figur der Antizipation gewissermaßen antizipiert.172 Was man offenbar weiter bei Plotin lernen kann, ist die Tatsache, dass die Konzeption der Selbsterkenntnis gerade kein Alleinstellungsmerkmal der Neuzeit und seiner Bewusstseinsphilosophie ist: Die Frage nach dem Selbst und seinem Überstieg in eine umfassende Einheit findet sich nicht erst im deutschen Idealismus.173 Vielmehr geschieht dies im Platonismus, der gegen eine begriffliche Vergegenständlichung im Anschluss an Platon an dessen negationssensible Metaphysik als Bildphilosophie anknüpft.174 Der Bildcharakter der Wirklichkeit in Bezug auf ein an sich unsichtbares Eines, das die Differenz graduell begründet, ist nicht statisch fixierend, sondern dialektisch bewegt.175 Die Fruchtbarkeit dieser Identität bzw. Einheit und Differenz bzw. Vielheit verknüpfenden Einsichten zeigt
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170 171
172 173 174 175
Frankfurt a.M. 2 2016, 193–225. 365–367; Vittorio Hösle, Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides zu Platon, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, 516–539; Jens Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999. Vgl. zum Forschungsstand zur aristotelischen Theologie: Tobias Dangel, Gott – Kosmos – Mensch. Die Theologie des Aristoteles im Lichte neuerer Forschung, in: Philosophische Rundschau 61 (2014), 27–50; vgl. zur aktuellen Rekonstruktion einer aristotelischen Theologie: Arbogast Schmitt, Gibt es ein Wissen von Gott? Plädoyer für einen rationalen Gottesbegriff, Heidelberg 2019. Die Frage der Aneignung der klassischen Metaphysik der Griechen durch den deutschen Idealismus setzt elementar ihre Differenz voraus. Am ehesten könnte man vielleicht mit Hans-Georg Gadamers – freilich anschaulich etwas schwierigem – Bild der „Horizontverschmelzung“ (vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, bes. 289f.) diesen Aneignungsvorgang beschreiben. Vgl. so z. B. auch: Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, a.a.O., IX–4. Vgl. zur Sache: Konrad Gaiser, Platon und die Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1961; Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen, Frankfurt a.M. 1982; Arbogast Schmitt, Denken ist Unterscheiden. Eine Kritik an der Gleichsetzung von Denken und Bewusstsein, Heidelberg 2020, 85–99, bes. 85f. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, a.a.O., a.a.O., 56–58. 70f. Vgl. Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, a.a.O., XVIIf. 83–153. Vgl. a.a.O., XIVf. XXf.; Christoph Poetsch, Platons Philosophie des Bildes. Systematische Untersuchungen zur platonischen Metaphysik, Frankfurt a.M. 2019, bes. 25–157. 199–350. Vgl. ebd.
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sich in den idealistischen Spätphilosophien Schellings und J.G. Fichtes mit ihren einheits- und bildsensiblen Fokussierungen.176 Die systematischen Anschlussperspektiven können sich unmittelbar daraus ergeben. Ist die für Pannenbergs Geschichtstheologie zentrale Figur der Antizipation kategorial von Platons Konzept der Teilhabe bzw. des Bildes unterschieden? Und: Beinhaltet die eschatologische Verzeitlichung dieser Struktur bei Pannenberg nicht auch theologische Überzeichnung bzw. Überlastung? Anders gefragt: Könnte es nicht – gerade angesichts einer als Tiefendimension der Zeit interpretierten Ewigkeit – ein Gewinn sein, die stark apokalyptische Akzentuierung zurückzunehmen und so Einsichten präsentischer Eschatologie und griechischer Philosophie anzunähern? Das sind Fragen, die sich meines Erachtens nicht nur zwanglos mit der Debatte um die alternativen Eschatologien „Auferstehung im Tod“ versus „Auferstehung nach dem Tod“ verknüpfen lassen.177 Vielmehr führen sie im Blick auf eine
176 Vgl. exemplarisch zur Spätphilosophie Schellings: Jens Halfwassen, Freiheit und Transzendenz bei Schelling und Plotin, in: Burkhard Mojsisch/Orrin F. Summerell (Hg.), Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie, Leipzig 2003, 173–194; Malte Dominik Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008; vgl. exemplarisch zu Fichtes Spätphilosophie: Peter Reisinger, Idealismus als Bildtheorie. Untersuchungen zur Grundlegung einer Zeichenphilosophie, Stuttgart 1979, 146–163; HansJürgen Müller, Subjektivität als symbolisches und schematisches Bild des Absoluten. Theorie der Subjektivität und Religionsphilosophie in der Wissenschaftslehre Fichtes, Königstein 1980. Vgl. zum Versuch, kulturwissenschaftlich unter gegenwartsphilosophischen Bedingungen diese Konzeptionen der Sache nach geltend zu machen: Malte Dominik Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017. 177 Eschatologisch wäre dann meines Erachtens der „Himmel“ nicht eine futurische Zweitwelt vernünftig antizipierter Ganzheit (vgl. beispielhaft zur Orientierung über die Diskussion: Philip C. Almond, Jenseits. Eine Geschichte des Lebens nach dem Tode, Darmstadt 2017; Johanna Rahner, Einführung in die christliche Eschatologie, Freiburg/Basel/Wien 2 2016; Gerhard Lohfink, Am Ende das Nichts? Über Auferstehung und Ewiges Leben, Freiburg 2017; Ulrich H.J. Körtner [Hg.], Die Gegenwart der Zukunft. Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 2008), sondern ein Bild, um die im Bildvermögen verankerte Unbedingtheit als Archetyp und Ewigkeit zu begreifen (vgl. zum Ansatz: Malte Dominik Krüger, Der Gott vom Holz her? Auferstehung bei Eberhard Jüngel und Wolfhart Pannenberg, in: Gunther Wenz (Hg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2021, 233–255). Die Ewigkeit schließt die Zeit nicht aus, sondern ist deren hintergründige Tiefendimension, so dass die Auferstehung des Menschen am ehesten als Auferstehung im Tod zu verstehen ist. Darin liegt auch das Wahrheitsmoment von Rudolf Bultmanns präsentischer Eschatologie, die allerdings fälschlicherweise meint, die Offenheit des Eschatologischen gegen dessen Ausdruck in Bildern der Hoffnung ausspielen zu müssen (vgl. zur Sache und insgesamt zur Einordnung auch: Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 3 2012, 329f.; Michael Dorhs, Über den Tod hinaus. Grundzüge einer Individualeschatologie in der Theologie Rudolf Bultmanns, Frankfurt a.M. 1999). Für die theologische Bedeutung der Zukunft heißt das: Das Zukünftige ist das Bleibende; dasjenige, das trägt, ist dasjenige, das Zukunft hat. (Vgl. dazu und zum Folgenden in dieser Anmerkung, teilweise wörtlich: Malte Dominik Krüger, Gibt es die Zukunft wirklich? Grenzgedanken, in: ders./Claus-Dieter Osthövener (Hg.), Potentiale und
Die klassische Metaphysik der Griechen bei Wolfhart Pannenberg
Theologie der Religionen auch dahin, weniger chronologisch und heilsgeschichtlich als vielmehr gegenwartssensibel und simultan im Paradigma des Bildes zu denken.178 Konkret wäre es dann nicht der Umgang mit einer heilsgeschichtlichen Zeitstruktur im Horizont von Identität und Differenz, der den christlichen Zugang zur Religionsgeschichte bestimmt, sondern eine Orientierung am bildhaften Charakter der Wirklichkeit, wie er in religiös unterschiedlichen Symbolisierungen unterschiedlich bearbeitet wird.179 Dies müsste meines Erachtens theologisch eine philosophische Rechenschaftsfähigkeit einschließen, die ihrerseits näher an der klassischen Metaphysik der Griechen sein könnte. Wenn letztere es zudem ermöglicht, im Bild Jesu Christi das Bild des Bildlosen zu erfassen, liegt die Forderung nahe: Griechisch-metaphysischer muss die Theologie werden, um die biblische Jesus-Überlieferung auszudrücken. Einen fundamental wichtigen Schritt auf diesem Weg hat Pannenberg – nicht zuletzt in seiner Theologie der Religionsgeschichte – getan.
Grenzen evangelischer Theologie, FS für Hans-Martin Barth, Stuttgart 2021, im Erscheinen). Das ist aber nicht das vermeintlich offenkundige Faktische und offenbar immer Fragmentarische, sondern das in der Einbildungskraft (des Menschen) zu Bewusstsein erwachende Sein (des Kosmos), das sich selbst in der Idealbildung von Gott als dem Inbild von Ganzheit und Kontrafaktizität überschreitet. Weil der christliche Glaube in diesem Zusammenfall von Ganzheit und Kontrafaktizität seinen Gott erkennt, kann er mit Hoffnung in diese Zukunft gehen. In dem Sinn ist die Hoffnung die Weise, in der die Zukunft der Wirklichkeit vom christlichen Glauben erwartet wird, und zwar einer Hoffnung, die aufgrund ihres kontrafaktischen Charakters nicht naiv und aufgrund ihres ganzheitlichen Charakters nicht unvernünftig ist. Die Zukunft ist bzw. kommt wirklich, weil die Wirklichkeit zukünftig ist. Wenn man dieser Deutung folgt, vermeidet man meines Erachtens auch eine apokalyptische Überzeichnung der christlichen Botschaft und befindet sich in einer respektablen Tradition christlichen Glaubens (nicht nur der frühchristlichen Kirche), der sich konstruktiv-kritisch die klassische Metaphysik der Griechen und des deutschen Idealismus angeeignet hat. 178 Wer kann schon mit letzter Gewissheit menschlicher Geschichtsdeutung sagen, ob die Zeitenfolge auf diesem Planeten für die menschliche Gattung eher zyklisch oder eher heilsgeschichtlich erfolgt? Dass der heilsgeschichtliche Ansatz innerhalb der Theologie massiv problematisiert wurde und wird, muss nicht eigens herausgestrichen werden; er lässt sich nur um den Preis von Aporien gegen die allgemeinmenschliche Sicht des Historischen ausspielen (vgl. beispielhaft zur Sache: Michael Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920, Gütersloh 1992), wie nicht zuletzt auf seine Weise auch Pannenberg geltend macht. Freilich hält Pannenberg an der „gerichteten“ Zeit fest, deren Ende in der Auferstehung Jesu Christi antizipiert sein soll. 179 Vgl. exemplarisch dazu auch: Hans-Martin Barth/Christoph Elsas (Hg.), Bild und Bildlosigkeit. Beiträge zum interreligiösen Dialog, Hamburg 1994.
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Der Islam in der Religionstheologie Wolfhart Pannenbergs
Wolfhart Pannenberg hat die europäische Geistesgeschichte eingehend und eindrucksvoll verarbeitet. Den Islam dagegen streift er nur am Rande. Anlass dafür bot etwa die Frage, ob die biblischen geschichtstheologischen Kategorien von Erwählung und Gericht auch auf nachbiblische Ereignisse anwendbar sind. Dabei kommt Pannenberg auf den Vereinheitlichungszwang des oströmischen Reiches zu sprechen, der keinen Raum für eine kulturelle Vielfalt in der begrifflichen Fassung des Christusbekenntnisses ließ. Dann heißt es: „Das Gericht Gottes über diese Perversion der christlichen Sendung erschien historisch im Aufstieg des Islam. Die leichte Eroberung der Provinzen, von denen das Christentum seinen Ursprung genommen hatte – Palästina und Syrien – durch die islamischen Heere und in der Folgezeit die ebenso leichte Eroberung Ägyptens und Nordafrikas ist historisch nicht verständlich ohne die innere Entfremdung dieser Provinzen von Byzanz infolge der kaiserlichen Bemühungen um Durchsetzung dogmatischer Orthodoxie“.1
Auf diese Geschichtsdeutung kommt er später mehrfach zurück, nun allerdings nicht mit Blick auf den oströmischen Vereinheitlichungsdruck, sondern auf die durch Spaltung geschwächte Christenheit insgesamt.2 Sonst ist der Islam für Pannenberg meist neben dem Judentum lediglich ein anderes Beispiel für einen nichttrinitarischen Monotheismus.3 Am ausführlichsten ist Pannenbergs Stellungnahme zum Islam in seinem Vortrag von 1996 „Das Christentum – eine Religion unter anderen?“. Doch auch diesmal umfasst seine
1 Wolfhart Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, S. 109. 2 Systematische Theologie, Band 3, Göttingen 1993, S. 547, 557. 3 Systematische Theologie, Band 1, Göttingen 1988, S. 370.
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Auseinandersetzung mit dem Islam lediglich anderthalb Seiten.4 Auf sie werden wir im Folgenden eingehen. Dafür werden wir Pannenbergs Gedankengang auch kritisch beleuchten. Die Kritik wird von zwei Seiten kommen, von islamwissenschaftlicher und christlichtheologischer. Bei der theologischen Pannenberg-Kritik wird sich allerdings zeigen, dass man gar nicht über Pannenberg hinausgehen muss, um seine Gedanken weiterzuentwickeln, sondern Pannenbergs eigene Theologie darin neu zur Geltung bringen kann.
1.
Begriffe
An Wolfhart Pannenbergs religionstheologischer Stellungnahme von 1996 ist bereits auf der Begriffsebene einiges bemerkenswert. 1.1 Theologie der Religionen Wenn ein christlicher Theologe sich mit anderen Religionen befasst, kann er diese Beschäftigung „Theologie der Religionen“ nennen, oder kürzer „Religionstheologie“. Dann lässt sich „religionstheologische“ Forschung zwar auch singularisch verstehen als „Theologie der Religion (schlechthin, etwa als anthropologische Größe)“, was aber keine besonders schädliche begriffliche Offenheit wäre. Pannenberg nennt seine Überlegungen selbst allerdings gar nicht „religionstheologisch“. Er scheint nur eine „Theologie der Religionen“ zu kennen, die er rundweg ablehnt. Denn er schreibt: „Genuin christliche Theologie und kirchliche Lehre können sich […] nicht die Auffassung zu eigen machen, die heute unter dem Namen einer ‚Theologie der Religionen‘ verbreitet ist, wonach die Pluralität der Religionen Ausdruck einer Vielfalt von Wegen zu dem einen Gott ist mit der Maßgabe, daß diese Wege untereinander gleichberechtigt sind, nämlich alle nur menschlich beschränkt im Gegensatz zu der einen göttlichen Wahrheit, auf die sie sich beziehen“ (177). Hier verwendet Pannenberg den Namen eines Teilgebietes der systematischen Theologie zur Bezeichnung für eine bestimmte religionstheologische Position, nämlich für das Modell einer ‚pluralistischen Theologie der Religionen‘. Das Teilgebiet der
4 „Das Christentum – eine Religion unter anderen?“, in: Wolfhart Pannenberg, Beiträge zur Systematischen Theologie, Band 1, Göttingen 1999, S. 173–184: S. 180–182. Seitenzahlen oben im Text beziehen sich auf diese Version. Der Beitrag war ursprünglich ein Vortrag, gehalten auf der 31. Religiösen Gemeinschaftstagung der Johanniter und Malteser im März 1996; vor seinem Abdruck in Band 1 von Pannenbergs Beiträgen 1999 war er bereits zweimal veröffentlicht worden, nämlich 1996 als Heft 1 der Theologischen Schriftenreihe des Johanniterordens (S. 5–16) sowie im Folgejahr (mit mehr Druckfehlern) in: Joseph Doré (Hg.), Le christianisme vis-a-vis des religions, Namur 1997, S. 215–228.
Der Islam in der Religionstheologie Wolfhart Pannenbergs
Theologie, das sich mit den anderen Religionen beschäftigt – ob pluralistisch, inklusivistisch, exklusivistisch oder wie auch immer – bezeichnet er dagegen mit dem in reformatorischer Tradition seit Paul Althaus verbreiteteren Begriff einer „Theologie der Religionsgeschichte“.5 1.2 Religion Noch grundsätzlicher fällt auf, dass Pannenberg den Religionsbegriff systematisch nutzt, ihn nicht von vornherein theologisch entwertet. Warum sollte dies auffällig sein? Von Karl Barth, bei dem Pannenberg ja zwischen 1949 und 1951 in Basel studierte,6 konnte er bekanntlich erfahren, Religion sei Unglaube und Gottes Offenbarung spreche jeder Religion ab, wahr sein zu können.7 Zwar ging es Barth in solchen Stellungnahmen wohl gar nicht um „die Religionen“, wie Judentum, Islam, Buddhismus, sondern um eine selbstgerechte Kirche;8 aber eine Anerkennung von Wahrheit in anderen Religionen hatte es nach solchen Donnerworten reformatorisch-theologisch doch schwer. Gegen die scharfe christlich-theologische Religionskritik im Gefolge Karl Barths bringt Pannenberg zwei miteinander verwandte Überlegungen vor: Wer das Christentum und die Religionen nur gegeneinander in Stellung setzt, verrennt sich in einen doppelten Widerspruch. Erstens zeigt sich dies in der Behauptung, das Christentum bringe das Zuvorkommen Gottes zur Geltung, während Religionen allererst
5 Vgl. Wolfhart Pannenberg, „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“, Originalbeitrag in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze [Band 1], Göttingen 1967, S. 252–295. Laut Reinhold Bernhardt, „Literaturbericht ‚Theologie der Religionen‘ (I)“, in: Theologische Rundschau 72 (2007), S. 1–35: S. 1 hat Paul Althaus die Rede von einer „Theologie der Religionsgeschichte“ eingeführt. Er findet sich denn auch ausdrücklich in seinen 1926 in Köln gehaltenen Vorlesungen: Paul Althaus „Mission und Religionsgeschichte“ in: Zeitschrift für Systematische Theologie 5 (1927), S. 550–590 und S. 722–736, erstmals S. 586 (ND in: ders., Theologische Aufsätze, Band 1, Gütersloh 1929, S. 153–205); in der Nachkriegszeit dann prominent Ernst Benz, Ideen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, Wiesbaden 1960 und unlängst der Pannenbergschüler Reinhard Leuze, Theologie der Religionsgeschichte, Frankfurt a.M. 2014. 6 Vgl. jetzt Gunther Wenz, „Pannenberg, Wolfhart Ulrich“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 40, Nordhausen 2019, Sp. 991–1013: Sp. 993. 7 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik. Band I/2. Zürich 1938, S. 356: „Religion ist niemals und nirgends als solche und in sich wahr. Daß sie wahr, d. h. daß sie in Wahrheit Erkenntnis und Verehrung Gottes und Versöhnung des Menschen mit Gott sei, das wird vielmehr jeder Religion durch Gottes Offenbarung abgesprochen: daraufhin und damit, daß Gottes Offenbarung als Gottes Selbstdarbietung und Selbstdarstellung, als das Werk des von Gott selbst geschlossenen Friedens zwischen ihm und den Menschen die Wahrheit ist, neben der es keine andere, der gegenüber es nur die Lüge und das Unrecht gibt.“ – „Religion ist Unglaube“ ebd., S. 327. 8 Felix Körner, „Christus und die Andersgläubigen“, im Christologie-Band der Pannenberg-Studien, Band 6, 2020, Fußnote 27, mit Verweis auf Wolf Krötkes Forschungen.
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menschliches Tun seien, unsere selbsttätige Emporwendung sozusagen. Dabei gehört – so Pannenberg dagegen – doch zur religionsgründenden Erfahrung, zum „religiösen Bewusstsein“, gerade das göttliche Prius, Zuvor, Zuerst. Ebenso als widersprüchlich erweist Pannenberg die Behauptung, Religion sei geradezu das Gegenteil von Glaube: In ihr vertraue der Mensch bloß eigenem Tun, als Glaubender dagegen verlasse er sich auf göttliches Wirken. Pannenberg weist auch diese Behauptung als selbstwidersprüchlich auf: Religionen entstehen doch gerade, wo Menschen sich nicht mehr nur auf ihr eigenes Wirken verlassen, sondern ihre Lebensbahn aus der Hand geben. – Pannenberg zeigt damit, dass man sich nicht scheuen sollte, den Religionsbegriff theologisch konstruktiv zu verwenden, und zwar auch als Bezeichnung für den christlichen Glauben und seine heilsvermittelnden Traditionen. Es wundert nun vielleicht weniger, wenn man mitten in Pannenbergs Darlegung – und überraschend schlicht – hört: „Also das Christentum ist eine Religion“ (174). 1.3 Mythologisch und missionierend Statt den entscheidenden Unterschied in einer Entgegensetzung von Glaube versus Religion oder von Christentum versus Religionen finden zu wollen, arbeitet sich Pannenberg voran, indem er zwei gegensätzliche Religionstypen benennt, und zwar unter der Rücksicht ihres Wahrheitsanspruchs. Es gibt demnach einerseits „mythologische“ Religionen, andererseits „missionierende“ (174). Warum sollten mythologische Religionen das Gegenstück zu missionierenden sein? Weil Mythologien regelmäßig bestimmte Verfahren anwenden, um zurückzunehmen, dass ihre Botschaft für alle Menschen entscheidend sein könnte. Technisch ließe sich von der Selbstrelativierung eigener Universalrelevanz sprechen. In der Begegnung mit anderen Religionen kann eine Religion dies nochmals auf zweierlei Weise vollziehen, entweder durch ‚Nationalisierung‘ ihres religiösen Bezugs oder durch dessen ‚Analogisierung‘, wie man es nennen könnte. Entweder die mythologische Religion erklärt nämlich einen religiösen Gehalt als nur für ein bestimmtes Volk gültig; etwa mit der Haltung, ‚diese Gottheit ist nur für uns zuständig, die andern sollen ruhig ihre anderen religiösen Bezüge haben‘: eine partikularistische Haltung. Oder aber die Götter und Vorstellungen der anderen gelten gar nicht als wirklich andere; sie heißen nur anders (175): Man könnte dies die ‚äquative‘ Sichtweise nennen.9 Dies sind die beiden von Pannenberg freigelegten Selbstzurücknahmen von allgemein-bedeutsamer Wahrheit bei mythologischen Religion in der Begegnung mit religiöser Verschiedenheit. Erkennt eine Religion
9 Felix Körner, „Zur Methode. Paradigmen einer Theologie in der Begegnung“, in: Felix Körner/Serdar Kurnaz, Identitäten und Kulturen. Kontexte im Konflikt (Jerusalemer Religionsgespräche, Bd. 2) Freiburg i.Br. 2021, S. 14–19: S. 16.
Der Islam in der Religionstheologie Wolfhart Pannenbergs
dagegen, dass die in ihr gelebte Wahrheit für alle Menschen bedeutsam ist, richtet sie sich an die gesamte Menschheit. Daher ist sie missionarisch. Der christliche Glaube erhebt einen solchen Allgemeingültigkeitsanspruch, nämlich: für alle Menschen wahr, bedeutsam, ja, heilsentscheidend zu sein. Hierin ist Pannenberg zuzustimmen. Im Grunde lohnt sich für den diskursfreudigen Theologen ein Sachstreit nur mit solchen anderslautenden allgemeinbedeutsamen Ansprüchen. Entsprechend beschäftigt sich Pannenberg in seinem Religionsartikel denn auch mit Buddhismus und Islam. Wenn er zuvor auf das Judentum eingeht, zeigt dies, dass er es nicht als rein partikularistisch und somit gar – nach Pannenbergs Unterscheidung – als „mythologisch“ versteht. Denn er fühlt sich als christlicher Theologe vom jüdischen Einspruch gegen das Dreifaltigkeitsbekenntnis zur Debatte herausgefordert. Das ist auch sachgemäß. Zwar ist das Judentum bewusst und betont partikularistisch – die mis.wôt gelten wörtlich nur für das Volk Israel. Doch der jüdische Einspruch gegen die Dreifaltigkeitslehre benennt Vernunftgründe und erhebt somit einen allgemeinen Anspruch. Pannenbergs Interesse an Religionen mit Universalrelevanzanspruch ist gut begründet. Jedoch sind an dieser Stelle zwei Fragen zu stellen: Ist der Islam nicht doch analogisierend? Und inwiefern ist das Christentum überhaupt universalrelevant? Diese letzte Frage werden wir erst am Ende des ersten Kapitels behandeln; zunächst zur Frage, ob der Islam nicht hauptsächlich analogisiert, also nach Pannenbergs Unterscheidung gar nicht wirklich missionarisch ist. 1.4 Offenbarungen und Glaubensbekenntnisse Passt der Islam in dieses Schema „mythologisch selbstrelativierend“ versus „missionierend universalgültig“? Man wird den Islam in jedem Fall zu den missionierenden Religionen zählen. Er hat ja eine Botschaft an alle Menschen: „O ihr Menschen. Wir haben euch aus einem einzigen Menschenpaar erschaffen“, heißt es etwa im Koran (49:13). Allerdings sollte man bedenken, dass der Islam von Anfang an eine klare Neigung in die Richtung aufweist, die wir als ‚äquativ‘ bezeichnet haben; Pannenberg erblickte darin ein Identifizieren von Fremdem mit Eigenem (175). Eine solche Neigung findet sich sehr wohl von Anfang an auch im Koran: Er ist zwar eine Auseinandersetzung mit denjenigen Gläubigen, die er yahūd und nas.āra nennt. Mit gutem Grund lässt sich annehmen, hier handelt es sich um die Juden und Christen, wie sie in der koranischen Umwelt auftraten. Einfach gesagt also: Der Koran setzt sich von Anfang an mit Juden und Christen auseinander. Ihnen gegenüber aber verkündet er keinen anderen Gott. Vielmehr sagt er ausdrücklich, es handele sich bei dem von ihm bezeugten um denselben Gott wie den der früheren Offenbarungsreligionen. Blicken wir auf drei Koranstellen.
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29:46 Und streitet mit den Angehörigen der anderen Schriftreligionen nur auf möglichst gute Art und Weise. Ausgenommen davon sind jene, die ungerecht sind. Und sprecht: ‚Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt wurde und was zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist einer; und ihm sind wir ergeben.‘ 4:162 Aber denen von ihnen, die ein gründliches Wissen haben, und den Gläubigen, die an das glauben, was zu dir (Muh.ammad) herabgesandt wurde und was vor dir herabgesandt wurde, und denjenigen, die das Gebet verrichten und die Almosenabgabe entrichten, und denen, die an Gott und an den Jüngsten Tag glauben – ihnen werden wir einen großen Lohn gewähren. 5:46 Wir ließen (den zuvor aufgezählten früheren Gottgesandten) Jesus folgen, den Sohn der Maria: zur Bestätigung dessen, was vor ihm in der Thora war; und wir gaben ihm das Evangelium, worin Rechtleitung und Licht war, zur Bestätigung dessen, was vor ihm in der Thora war; und als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen.
Der Anspruch des Koran ist lediglich, aus den ursprünglich inhaltsgleichen und daher als gültig anerkannten Offenbarungen an „Propheten“ wie Mose, David und Jesus spätere Veränderungen wieder zu tilgen. Die missionierende Religion Islam neigt also sehr wohl dazu, Fremdes mit Eigenem zu identifizieren – ein ‚äquativer‘ Zug, der den Gott, den Juden und Christen bekennen, durchaus nicht als fremd betrachtet. Deren Offenbarungsschriften sind vielmehr Teil der Offenbarungsgeschichte des einen Gottes, der nun erneut zur Sprache kommt. Ist der Islam nun also missionierend oder analogisierend? Es geht dem Koran nicht um die Identifizierung anders benannter Götter mit dem koranisch zu Wort kommenden Gott. Gegenüber anderen Gottheiten ist der Koran nicht äquativ, sondern ‚refutativ‘:10 Angeblich existierende andere Götter gibt es gar nicht (vgl. 21:99; 37:86). Aber wie verhält sich der Koran zu Judentum und Christentum? Hier ist eine neue Unterscheidung angebracht. Äquativ, gleichstellend, behandelt der Koran die Offenbarungen, auf denen Judentum und Christentum beruhen. Ihren Gehalt identifiziert er mit dem nun aus dem Munde Muh.ammads zu Wort kommenden Gehalt. Aber die daraus von Juden und Christen später gebildeten Glaubensbekenntnisse sind nicht mit dem koranischen Gehalt identisch; sie weichen ab, denn sie sind Ergebnis von „Entstellung“ (tah.rīf ). Insofern ist der Islam dem Christentum gegenüber sehr wohl kontrastiv, ja refutativ. In Bezug auf das Christentum geht es dem Koran offenbar vor allem um die Frage der Gottessohnschaft Jesu und der Dreifaltigkeit 4:171 O Leute der Schrift, übertreibt nicht in eurer Religion und sagt gegen Gott nur die Wahrheit aus! Jesus Christus, der Sohn der Maria, ist nur Gottes Gesandter und Sein Wort,
10 Felix Körner, „Paradigmen einer Theologie in der Begegnung“, S. 15.
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das Er Maria entbot, und Geist von Ihm. Darum glaubt an Gott und Seine Gesandten und sagt nicht ‚Drei‘. Hört auf damit, das ist besser für euch! Gott ist nur ein einziger Gott. Erhaben ist Er darüber, ein Kind zu haben! Ihm gehört alles, was in den Himmeln und was auf der Erde; und Gott genügt als Sachwalter.
Hier zeigt sich, dass es sich bei der theologischen Identifizierung – unser und euer Gott ist einer – nicht um eine Konfliktvermeidung handelt; sie ist vielmehr gleichzeitig Kontrastierung – und auch im Sinne Pannenbergs willkommen, weil „es gerade in den Differenzen der religiösen Wege um die wahre Wirklichkeit des einen Gottes geht, so daß die Religionen sich unvermeidlich im Streit um die Wahrheit Gottes befinden“ (177). Theologischer Meinungsstreit darf, soll sein: Entsprechend heißt es auch koranisch, wie bereits angeführt: „Streitet mit den Leuten der Schrift“ (29:46). 1.5 Wahrheitsanspruch und Toleranz Entweder also eine Religionsgemeinschaft erhebt erst gar keinen allgemeingültigen Wahrheitsanspruch – oder es kommt bei der Begegnung mit anderslautenden Wahrheitsansprüchen zum Konflikt. Konflikt fördert nun aber den Erkenntnisgewinn und ist daher wünschenswert – unter einer Bedingung: solange zwar die Geister aufeinanderplatzen, nicht aber die Fäuste.11 Zwang und Gewalt werden Erkenntnis nur verdunkeln. Allerdings verbinden sich leicht „religiöse Interessen mit Interessensgegensätzen ganz anderer Art, deren Durchsetzung aber durch die religiösen Unterschiede gerechtfertigt wird“ (176). Wie kommt man hier theologisch weiter? Pannenberg fordert „Toleranz“ (ebd.); und er kann sie aus der Eigenart des „christlichen Wahrheitsverständnisses“ (ebd.) begründen: Erst wenn Christus wiederkommt, steht „allen Menschen die Wahrheit der christlichen Botschaft unwidersprechlich vor Augen“ (ebd.). Bis dahin „kann es im Einzelfall vielerlei Gründe geben, an der Wahrheit der christlichen Botschaft zu zweifeln und anderen Religionen oder Weltanschauungen den Vorzug zu geben“ (ebd.). Es lässt sich also gerade aus dem christlichen Glauben begründen, dass andere etwas anderes glauben – und dass man dies ertragen muss. Aber läuft dann alles auf Toleranz hinaus? Nein. Hier geht Pannenberg in dreifacher Hinsicht weiter: zu den Frage nach Selbstkritik, Selbsterkenntnis und Selbstdurchsetzung.
11 Vgl. Martin Luther, Eyn brieff an die Fürsten zu Sachsen von dem auffrurischen geyst (1524), WA 15, S. 219.
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1.6 Selbstkritik: Zeugnis Sich damit einfach abzufinden, dass andere die christliche Botschaft nicht annehmen, wäre auch Pannenberg zu wenig. Dass es nicht wenige Menschen gibt, die das Christuszeugnis kalt lässt, ist auch Anlass zur Frage nach den Gründen. An anderer Stelle führt Pannenberg aus, was die „vielerlei Gründe“ dafür sein können: Allzu häufig lassen sich andere nicht überzeugen, weil die Christen nicht überzeugend leben. So wird kaum sichtbar, dass die Kirche das angebrochene Gottesreich als „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ bezeugt (vgl. Römer 14,17).12 1.7 Selbsterkenntnis: Dialog Noch in einer anderen Richtung geht Pannenberg selbst über seine Toleranzforderung hinaus. Denn Toleranz bewirkt meist bloß, dass Menschen nebeinander her leben. Dabei gäbe es doch beim anderen viel zu entdecken. Wer wirklich um die Erkenntnis der Wahrheit ringt, braucht daher mehr als Toleranz gegenüber dem anderen. Gefordert ist Interesse am andern. So hat denn auch Pannenberg eine hohe Erwartung an den Erkenntnisgewinn der Begegnung mit Andersgläubigen: „Dabei werden die Christen auch damit zu rechnen haben, daß sie selber durch den Dialog an ihnen bislang verborgen gebliebene Aspekte der Wahrheit ihres eigenen Glaubens erinnert werden“ (178). 1.8 Selbstdurchsetzung: Mission Folgt aus der christlich-eschatologisch begründeten Toleranzforderung eine Absage an die Mission? Selbstverständlich nicht. Pannenberg verurteilt nur „abstoßende Beispiele mehr oder weniger gewaltsamer Bekehrungen“, ausdrücklich auch christlicher (175f.). Mit der Kritik an der Mission setzt er sich allerdings genau besehen auf zwei Ebenen auseinander. Er gesteht frühere „Entstellungen des Missionsauftrags“ (177) in der Gewaltgeschichte klar ein. Eine bestimmte Kritik an christlicher Mission aber weist er zurück und entlarvt dabei ein Missverständnis. Drängt, wer anderen den christlichen Glauben verkündet, ihnen bloß eine subjektive Überzeugung auf? Wenn man vom Christsein lediglich soweit überzeugt ist, dass man sich ‚nun halt einmal dafür entschieden hat‘ – ohne sich von Sachgründen überzeugen zu lassen –, wäre es tatsächlich aufdringlich, das Christusbekenntnis weitergeben zu wollen. So würde der Missionar nämlich versuchen, bloß seinen Geschmack 12 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Band 3, Göttingen 1993, S. 566. Vgl. hierzu auch vom Verfasser: „Christus und die Andersgläubigen. Religionstheologie nach Wolfhart Pannenberg“ in: Gunther Wenz (Hg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs (Pannenberg-Studien, Band 5), Göttingen 2020, S. 257–283: S. 267.
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anderen aufzudrängen. Die christliche Mission geht jedoch nicht von einer beliebigen Entscheidung aus, sondern von einer Einsicht. Recht gelebte christliche Verkündigung entspringt der Ergriffenheit von einer Erkenntnis. Sie besteht in „der alle Menschen angehenden, universalen Wahrheit der Heilsoffenbarung des einen Gottes für alle Menschen in Jesus Christus“ (177). Das ist fraglos konsequent. Insofern kann sich Pannenberg mithilfe der drei klassischen religionstheologischen Modelle auch verorten: faktischer Pluralismus – es besteht nun einmal religiöse Vielfalt, anthropologischer Inklusivismus – der sich in Christus Offenbarende ist der Gott aller, christologischer Exklusivismus – Jesus fordert die Menschen auf, sich zu ihm zu bekennen, denn in keinem andern ist Heil.13 So weit, so klar; fraglich aber ist, was die alle Menschen angehende Wahrheit der Christusoffenbarung genauerhin bedeutet. Natürlich kann man in einem knapp einstündigen Vortrag nicht den gesamten christlichen Glauben darlegen. Aber etwas ausführlicher hätte man doch darauf eingehen sollen. Sonst sagt man kaum mehr, als dass die anderen Religionen deshalb unzureichend sind, weil sie nicht die christliche sind. Was ist das Besondere am Christentum, weswegen es mehr ist als nur „eine Religion unter anderen“? 1.9 Eine Religion unter anderen? Die Überschrift von Pannenbergs Beitrag ist ja interessant mehrdeutig. Sie fragt erstens, ob der Religionsbegriff überhaupt auf das Christentum anwendbar ist – was Pannenberg mit guten Gründen bejaht. Sie fordert wohl zweitens, das Christentum auch im Dialog mit weltanschaulichen Alternativen zu sehen – als christliche Realität und Chance. Drittens aber scheint der Beitragstitel doch bereits zu fragen, ob das Christentum unter den anderen Religionen nur eine von eben vielen ist, ob es überhaupt etwas Einzigartiges zu bieten hat. Fassen wir die Frage noch einmal genauer: Gibt es etwas am christlichen Glauben, das die anderen Lebensdeutungen – die Religionen und Weltanschauungen – nicht haben, was die Menschen aber brauchen? Die Antwort darauf mag der Leserschaft eines Pannenbergartikels in den späten 1990’er-Jahren recht selbstverständlich gewesen sein. Heute lesen aber erfreulicherweise gelegentlich auch nichtchristliche Mitmenschen Pannenberg. Ihnen ist die Antwort auf die Frage nach dem unverzichtbar Christlichen möglicherweise weniger klar. Worin besteht es? Das Christentum bezeugt den Anbruch der Vollendung der Geschichte: Der am Kreuz getötete Christus ist so in die göttliche Lebensge-
13 Wolfhart Pannenberg, „Die Religionen in der Perspektive der Theologie und die Selbstdarstellung des Christentums im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen“, in: Theologische Beiträge 23 (1992), S. 305–316: S. 316.
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meinschaft geholt worden, dass andere sich von diesem neuen Leben ergreifen ließen. Daher können jetzt alle, die dies erfahren, in der Vorfreude auf das ewige Leben ihre Selbstverschließung überwinden:14 Sie können aufgrund eines Ereignisses als Liebende leben, also streben nach der Erfüllung der wahren Bestimmung aller Menschen. Noch knapper ließe sich sagen: Nur das Christuszeugnis vermittelt die befreiende Osterfreude.
2.
Monotheismus
Entscheidendes, was in der Auseinandersetzung mit dem islamischen Bekenntnis christlicherseits zu sagen ist, behandelt Pannenberg bereits in seinem Abschnitt über das „Verhältnis zu Israel“ (179f.). Dort widerspricht er einem bekannten Vorwurf: „Die Trinitätslehre ‚gesellt‘ nicht dem Gott Israels etwas anderes bei, nämlich Jesus als ein bloßes Geschöpf. Sie spricht die Wirklichkeit des einen Gottes als seine nicht nur abstrakt jenseitige, sondern zugleich in seiner Schöpfung gegenwärtige Gottheit aus“ (179). (1) Hierzu eine erste kritische Frage: Dass die Christen „Beigesellung“ begehen, also Götzenanbeter und Polytheisten sind, wirft ihnen der Koran ausdrücklich vor (5:72: širk; das semantische Feld schon frühmekkanisch: 52:43). Hat Pannenberg also einen eigentlich erst islamischen Vorwurf unzulässigerweise in seine IsraelTheologie vorgezogen? Die Frage lässt sich schon philologisch klar entscheiden, und zwar im Sinne Pannenbergs: Eine Behandlung des Beigesellungsvorwurfs bereits in der Auseinandersetzung mit dem Judentum ist sachgemäß, selbst auf sprachlicher Ebene. Denn bereits die Mischna, also ein jüdisches Grunddokument, kennt die Rede von der „Beigesellung“ (šittûf ) als unzulässiges Mitanbeten eines Geschöpfes bei der Gottesverehrung.15 Pannenbergs Verteidigung des Dreifaltigkeitsbekenntnisses verläuft wie folgt. Auch das Judentum will ja annehmen, dass es eine göttliche „Gegenwartsgestalt“ in der Welt gibt: Gottes Namen, seine Herrlichkeit, seine Weisheit, seine Schechina (180). Nun wird man eine solche Gestalt nicht als Geschöpf verstehen wollen, sonst hat man Gott etwas Geschöpfliches beigesellt. Wenn sie wirklich Gegenwartsgestalt des einen Gottes sein soll, dann muss sie vielmehr in Wesenseinheit mit ihm gedacht werden. (2) Hier ist eine zweite kritische Frage zu Pannenbergs monotheistischer Auseinandersetzung am Platz: Überzeugt dieses Argument? Zum einen ist damit ja
14 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 278, und ders., Systematische Theologie, Band 2, Göttingen 1991, S. 229. 15 Z.B. bSukkah 45b, vgl. Josef Horowitz, Koranische Untersuchungen, Berlin 1926, S. 61 sowie S. 167.
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noch nichts über eine Dreifaltigkeit gesagt. So wäre erst einmal eine Zweifaltigkeit begründet. Wieso eine dritte Person, der Geist, dazuzählen soll, ist hier nicht dargelegt. (3) Drittens ist nun zu bedenken, was mit der Rede von der „Beigesellung“ und der göttlichen „Gegenwartsgestalt“ gemeint ist. Wie göttlich muss sie denn sein, um Gegenwartsgestalt zu sein? Daran hängt dann auch die Frage: Ist Gottes Einheit gefährdeter, je mehr diese Gestalt auf der geschöpflichen oder auf der göttlichen Seite gesehen wird? Die Frage ist deshalb bedeutsam, weil die frühislamische Theologie genau anders herum argumentiert: Die Fragestellung läuft dort unter dem Namen ḫalq al-Qur’ān – „Erschaffenheit des Koran“.16 Ein bereits frühislamisches Grundanliegen war, zu zeigen, warum der Koran jeder menschlichen Beeinflussung entzogen ist. Er wurde daher als unerschaffen erklärt, nämlich als von Ewigkeit vorhandene Gottesrede. Nahezulegen schienen das schon Hinweise aus dem Korantext selbst auf seine himmlische Textvorlage: auf ein „verborgenes Buch“ (kitāb maknūn, 56:78), ein „Urbuch“ (umm al-kitāb, 43:4), eine „wohlverwahrte Tafel“ (lawh. mah.fūz., 85:22).17 Dieser Neigung, den Koran möglichst ungeschaffen zu sehen, widersprach aber ein anderes noch grundlegenderes islamisches Anliegen: Gottes Einheit als Einzigkeit zu verstehen – mit anderen Worten: Gott nichts ‚beizugesellen‘. Daher kam auch bald ein innerislamischer Einwand gegen die Vorstellung, der Koran sei urewig, also unerschaffen. Dahinter stand der Gedanke, dass man gerade dann, wenn man etwas Unerschaffenes neben Gott annimmt, etwas anerkennt, das nicht er selbst ist und doch auf seiner Ebene anzuerkennen ist; mit anderen Worten: dass die Vorstellung, der Koran sei urewig, Gott etwas beigesellt. (4) An dieser Stelle ist eine vierte kritische Frage zu stellen: Haben die jüdische, christliche und islamische Denkgeschichte überhaupt einen gemeinsamen Beigesellungsbegriff? Bei genauem Hinsehen zeigt sich: Pannenberg versteht ‚beigesellen‘ im Sinne von ‚etwas nicht Göttliches für göttlich erklären‘. Für Juden und Muslime hingegen ist „Beigesellung“ (šittûf; širk) etwas Allgemeineres, nämlich: ‚außer dem Schöpfer noch etwas als göttlich annehmen‘. Pannenberg will begründen, dass die Gegenwartsgestalt Gottes auf Erden selbst göttlich sein muss, weil wir ihm sonst etwas beigesellt hätten. Das hätten schon eine Reihe früher muslimischer Theologen als immer noch beigesellend abgelehnt. Sie hätten eingewandt: Man muss, um Gott
16 Vgl. Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band 4, Berlin 1997, S. 625–630. 17 Die Vorstellung einer himmlischen Urschrift findet sich übrigens auch von der Thora, und zwar bereits zwischentestamentlich: Josef Horowitz, Koranische Untersuchungen, Berlin 1926, S. 76 verweist auf [1] Henoch 93,2 und Jubiläen 5,13; 16,9; 23,21. Vgl. auch Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft, Band 4, Berlin 1997, S. 626, Fußnote 5.
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nichts beigesellt zu haben, seine Gegenwartsgestalt in der Welt gerade auf die Seite des Erschaffenen rücken. Man kann einem abstrakten Monotheismus also nicht schon mit der Begründung beikommen, die irdische Gegenwartsgestalt Gottes muss selbst göttlich sein, sonst ist ihm etwas beigesellt. Denn das umgekehrte Argument leuchtet ebenfalls ein: Die Gegenwartsgestalt Gottes darf selbst nicht göttlich sein, sonst ist ihm etwas beigesellt. (5) Hier zeigt sich, dass man in der Frage nach göttlicher Einheit und Teilhabe auf der spekulativen Ebene nicht weiterkommt, wenn man von den Grundanliegen hinter der theologischen Gedankenentwicklung absieht. Daher ist fünftens und entscheidend zu bedenken: Christlicherseits ist das Erstanliegen hinter der Frage nach Einheit und Dreifaltigkeit Gottes die Erlösung in Christus. Es genügt deshalb nicht zu erklären, dass das Dreifaltigkeitsbekenntnis die Frage nach Gottes Einheit mit seiner irdischen Gegenwartsgestalt am überzeugendsten löst. Man muss sich vielmehr daran erinnern, warum man das überhaupt klären wollte; und das lässt sich mit Pannenbergs eigener Theologie vortrefflich leisten. Dreifaltige Begrifflichkeit geht von dem aus – und entsteht aufgrund dessen, was schon in der Verkündigung Jesu selbst impliziert ist: Wer sich auf die Gemeinschaft mit ihm einlässt, hat Teil an seiner Sohnschaft: ist in ewiger Lebensgemeinschaft mit Gott.18 Denn wir dürfen an der Abba-Beziehung Jesu teilnehmen: im Geist leben.19 Dies hier zu betonen ist wichtig, weil es ja beim christlichen Glauben nicht nur um Gegenwartsgestalten geht wie Gottes Herrlichkeit oder Gottes Rede. Deren Einheit mit Gott ist doch recht einfach zu denken. Nämlich so: Eine Gegenwartsgestalt wie Gottes Herrlichkeit kann mit Gott eins sein und von ihm unterschieden wie jede seiner Eigenschaften. Bei der christlich-theologischen Hauptfrage dagegen geht es nicht um so etwas wie Eigenschaften Gottes – weder Christus noch der Geist ist einfach göttliches Attribut. Am Ursprung der Dreifaltigkeitstheologie steht vielmehr die Spannung zwischen zwei Aussagereihen: Wer in Gemeinschaft mit Christus ist, lebt im Geist, d. h.: gehört zum Leben Gottes – aber auch: Jesus und der Geist sind selbst personales Gegenüber – denn Jesus kann zum Vater beten, der Geist kann Vater und Sohn verherrlichen (Markus 14,36; Römer 8,15; Johannes 16,14).20 Pannenberg hat hierzu weiterführende Klärungen vorgetragen. Die Fragen sind aber nicht schon mit der Erklärung gelöst, dass die Gegenwartsgestalt Gottes in der
18 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Band 2, Göttingen 1991, S. 377, 453. 19 Ebd., S. 358. 20 Ebd., S. 83 sowie Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Band 3, Göttingen 1993, S. 17 und 23.
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Geschichte selbst göttlich sein müsse, sonst geselle man Gott etwas Geschaffenes bei.
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3.1 Herausforderung für die Offenbarungslehre Pannenbergs einschlägige Auseinandersetzung mit dem Islam beginnt mit einer Darstellung des islamisch-offenbarungstheologischen Selbstverständnisses. Er zeichnet es unter dreierlei Hinsicht nach. Er beschreibt nämlich die islamische Sicht auf Bibel, Jesus und Muh.ammad und bietet dafür drei Kurzformeln an. Der Koran gelte islamischerseits als die definitive Offenbarung des Gottes der Bibel für die ganze Menschheit (180). Damit werde nach islamischem Glauben die Botschaft Jesu überholt (181) und Jesus in die Reihe der prophetischen Vorläufer Muh.ammads eingeordnet (ebd.). Man kann versuchen, alle drei Formeln islamwissenschaftlich abzutönen. An „die ganze Menschheit“ richtet sich die koranische Botschaft nicht durchgehend, denn sie betont selbst, dass das Gotteswort hier auf Arabisch (26:195) ergehe und andere Völker andere Gesandte haben (16:36). Der Koran kommentiert nicht die Meinungen von Propheten, auch nicht „Jesu Botschaft“, sondern Gottes Wort, das auch Jesus zu verkünden hatte. Dem tatsächlich als einer der Muh.ammad-Vorläufer dargestellten Jesus wird koranisch aber mehr göttlicher Wundererweis zugestanden als Muh.ammad selbst: Er wird von einer Jungfrau geboren, und er vollbringt Wunder, von Kindesbeinen an. Jesus ist also für den Koran mehr als irgendein Vorläufer Muh.ammads. Dennoch geben Pannenbergs drei Kurzformeln den islamischen Selbstanspruch treffend wieder. Die Zweideutigkeit der Aussage, die Botschaft Jesu werde koranisch „überholt“, ist dabei besonders fruchtbar. Die „Botschaft Jesu“ – aus seinem Munde und über ihn – wird nämlich „überholt“ im Sinne von ‚überarbeitet‘ – korrigiert, wo falsch überliefert (5:119), – und von ‚überboten‘, da jetzt vor Entstellung sicher zugänglich; außerdem beansprucht der Koran ja, er stelle die „Gemeinschaft der Mitte“ (2:143) wieder her: eine Vermittlung zwischen Judentum und Christentum (vgl. 2:140), die Überbietungscharakter hat. Pannenberg stellt also den offenbarungsgeschichtlichen Grundanspruch des Islam zutreffend dar. 3.2 Herausforderung für eine politische Theologie „Der Islam ist für das Christentum von Anfang an mehr eine politische als eine intellektuelle Herausforderung gewesen“ (181). Auf der reinen Aussage-Ebene ist dieser Satz der fragwürdigste in Pannenbergs gesamtem Beitrag.
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Zunächst ist interessant zu sehen, was Pannenberg nicht sagt. Er fordert nicht, wie andere Autoren hingegen regelmäßig,21 der Islam müsse sich endlich einer Aufklärung unterziehen. Warum hört man dies von ihm nicht? Das wird drei Gründe haben: Pannenberg kennt die Geschichte der europäischen Aufklärung zu gut und steht ihr zu kritisch gegenüber, um sie einer Religion als Heilmittel vorzuschlagen. Zweitens setzt er sich nicht mit dem gegenwärtigen islamischen Denken auseinander, etwa um am Ende anzuzeigen, was ihm heute fehlt. Er hält den Islam vielmehr für theologisch längst widerlegt. Drittens aber hört man von Pannenberg keine an den Islam gerichtete Aufklärungsforderung, weil er keine Modelle entwerfen will für ein Zusammenleben mit Muslimen im „christlichen Westen“ (181). Pannenbergs Haltung gegenüber dem Islam ist keine Vorbereitung von Integration (aber natürlich auch kein Aufruf zum Religionskrieg). „Als politische Macht hat der Islam die Christen das Fürchten gelehrt“ (181). Pannenberg erinnert auch hier an die islamischen Eroberungen. Sie wurden von großen Teilen der Christenheit tatsächlich mit Zittern und Schmerzen beobachtet. Da Pannenberg aber von einer heutigen islamischen „Bedrohung“ (ebd.) des „christlichen Westens“ (ebd.) spricht, scheint er auch selbst eine Art Angst zu verarbeiten. Er nimmt die empfundene Bedrohung jedoch nicht panisch und damit gedankenlos auf, sondern als geistige Herausforderung. Auf sie hat er eine doppelte Antwort, weil er auch die Herausforderung als zweifache sieht. Durch den Islam herausgefordert sei einerseits der christliche Monotheismus – auf ihn ist bereits eingegangen worden und wird im Folgeabschnitt erneut einzugehen sein; herausgefordert sei aber auch der europäische Säkularismus mit seinen Folgen. Hierauf geht Pannenberg mit einer Andeutung ein, die in den Bereich der „politischen Theologie“ fällt, genauer unter die Fragestellung des Verhältnisses von Religion und Politik. In Bezug auf das, was man als den religiösen Weltgestaltungsanspruch bezeichnen kann, gesteht Pannenberg der islamischen Version des Monotheismus „durchaus ein Potential innerer Überzeugungskraft“ zu (ebd.). Pannenbergs Auseinandersetzung damit gerät ihm aber zu einer Warnung seiner christlich-westlichen Leserschaft vor dem „extremen Individualismus“ (181). Wenn das die Frucht der christlichen Zuordnung von politischem und religiösem Bereich ist, wenn daraus lediglich folgt, dass die Menschen sich auf ihre Privatinteressen zurückziehen, verlieren auch die hier erstmals formulierten Menschenrechte ihre Überzeugungskraft, so Pannenberg (ebd.). Mit der Zuordnung von weltlicher und geistlicher Macht aber hat Pannenberg ein Grundthema der politischen Theorie aufgerufen. Hier macht er zwar nur eine begriffliche Andeutung; sie trägt aber großes argumentatives Gewicht und ist deshalb näher zu erkunden. Er markiert das islamische und das
21 Vgl. z. B. Bassam Tibi, Euro-Islam. Die Lösung eines Zivilisationskonfliktes, Darmstadt 2009.
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christliche Religionsverfassungsmodell mit je einer Kurzformel; islamisch: „die Identität religiöser und politischer Gemeinschaft“ – gegenüber einer christlichen „systematischen Unterscheidung zwischen politischer Ordnung und Kirche“ (181). Bei jeder Kurzdarstellung der Verhältnisse „im Islam“ und „im Christentum“ lauert die Gefahr unzulässiger Vereinfachung und Verallgemeinerung, der Vereinheitlichung und Verzeichnung. Jedoch darf man ja wohl gelegentlich versuchen, die Dinge knapp auf den Punkt zu bringen. Daher sollte man solche Skizzen nicht von vorn herein als methodisch verfehlten Essenzialismus ablehnen. Eine Kurzformel sollte allerdings wirklich treffen. Trifft die Beschreibung des Grundprinzips islamisch-politischer Theorie als „Identität religiöser und politischer Gemeinschaft“? Dafür spricht, dass Muslime selbst Derartiges mit dem alten Motto betonen: al-Islām dīn wa-dawla – „Islam ist Religion und Staat“.22 Aber was bedeutete dies im politischen Leben? Hier sind verschiedene Fragen zu behandeln: (1) Was lässt sich über die islamische Frühzeit sagen? Und (2) für die Folgezeit? Sodann: (3) Welche ‚staatliche‘ Behandlung findet sich in islamischer Geschichte und islamischem Recht gegenüber innerislamischer Häresie und einem regelrechten Abfall vom Glauben – sowie (4) gegenüber Anhängern anderer Religionen? Schließlich: (5) Wie ist die moderne und gegenwärtige Lage? (1) Für die Lebenszeit Muh.ammads sollte man noch nicht von einer institutionenbasierten politischen Ordnung sprechen. Der Prophet des Islam tritt in einer Stammesgesellschaft auf und beansprucht situative von Gott verliehene Autorität. Sie betrifft sowohl das, was wir heute als „geistlich“ bezeichnen: Verkündigung von Gottesbotschaften, Gestaltung von Riten – als auch gelegentlich das, was heute unter „weltlich“ fällt: Schlichter- und Richterfunktionen, Aufruf zu und Leitung von bewaffneten Expeditionen, Regelungen etwa bezüglich der Armenfürsorge und Geschlechterverhältnisse. Ein stabiles Institutionengefüge gab es im tribalen Gemeinwesen Mekkas und Medinas nicht. Dies unterscheidet die islamische Urgeschichte entscheidend von den Entstehungsbedingungen des christlichen Glaubens. Im Palästina des 1. Jahrhunderts überlagerte sich gleich eine doppelte Staatlichkeit: die Römerherrschaft mit ihrem Statthaltersystem und die Ausläufer des israelitischen Königtums mit ihrer beschränkten Eigenmacht. – Belegen Muh.ammads Feldzüge eine Identität von religiöser und politischer Sphäre? Die Eroberungen der islamischen Frühzeit zielen auf die Sicherung und Ausweitung des Vorherrschaftsgebietes der Muslime, nicht auf Glaubensverbreitung.
22 Vgl. das um 855 entstandene Buch des persischsprachigen Gelehrten ‘Alī ibn Sahl Rabban at.- T.abarī mit dem Titel Kitāb ad-Dīn wa-d-dawla fī iṯbāt nubūwwat an-nabīy Muh.ammad („Religion und Staat, wie es die Prophetie des Propheten Muh.ammad festlegt“).
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(2) Eine Überschneidung von politischer und religiöser Sphäre lässt sich gelegentlich feststellen. So betrieben Religionsgelehrte Politikberatung23 und Herrscher konnten die Rechtgläubigkeit eines Untertans untersuchen lassen. Aber der Herrscher alimentierte für gewöhnlich keine Beamte für religiöse Riten und Lehre. Es gab keine ‚Staatskirche‘. Und man nahm auch nicht eine bestimmte islamische Lehre als die – zumindest vor Ort – berechtigtermaßen vorherrschende wahr. Vielmehr meinte man, mit einer „Übereinstimmung“ (iǧmā‘) der Gelehrten gut zu fahren, ohne dass man überprüfen wollte – und konnte –, ob der Konsens universal bestand oder doch nur lokal. (3) In Bezug auf die Behandlung muslimischer Häretiker finden sich im vormodernen Islam Belege für das meiste, was von religiösen Autoritäten und weltlichen Herrschern mit christlichem Bekenntnis im Namen ihres Glaubens bekannt ist: Religionsgelehrte konnten den weltlichen Arm zum Vorgehen gegen Abweichler der eigenen Religion bewegen – Gerichte24 und Polizei25 konnten bei Häresieverdacht eingeschaltet werden – Verbannungen von religiösen Dissidenten wurden verfügt26 – Bücher von Häretikern wurden verbrannt27 – Todesurteile wegen Ketzerei wurden verhängt – Letzteres islamischerseits allerdings nur in seltenen Fällen.28 Auf vollständigen Abfall vom Islam stand dagegen sehr wohl die Todesstrafe; aber Häretiker erklärte man lieber nicht zu Ungläubigen. Sonst hätte man ständig den gesamten Apparat des bewaffneten Kriegszugs in Gang setzen müssen (ǧihād in diesem Sinne). (4) Insgesamt ist zu beobachten: Der Obrigkeit ging es vordringlich nicht um die Rechtgläubigkeit, sondern um die Friedfertigkeit ihrer Untertanen. Denn grundlegende Zielvorstellung der Herrscher war das gedeihliche Zusammenleben jenseits der Glaubensunterschiede. Eine Entsprechung zu dem Prinzip cuius regio eius religio findet sich im vormodernen Islam nicht. Daher konnten andere Religionen, sofern sie als „Schriftreligionen“ anerkennbar waren, unter islamischer Herrschaft weiterbestehen. Den islamischen Regierenden kam es nur darauf an, dass die Oberherrschaft muslimisch war. Was auf den untergeordneten Ebenen geschah, bei Hofe und
23 Josef van Ess, Der Eine und das Andere. Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten, Berlin 2011, S. 1325. 24 Der Jurist Bišr al-Marīsī (gest. 833 oder 834) wurde von der Lehrmehrheit seiner Heimat vor den qād.ī gezerrt: Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Band 3, Berlin 1993, S. 176f. 25 Die Mu‘ataziliten wünschten dies für ihre eigenen Leute, z. B. im Falle Mu‘ammars: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, Band 3, 1993, S. 65. 26 Der Eine und das Andere, S. 1325. 27 Ebd. 28 Prominent ist die Hinrichtung des Mystikers al-H.allāǧ im Jahre 922.
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in der Zivilgesellschaft, konnte dann durchaus vielfältig sein. Unter islamischer Vorherrschaft waren daher die Juden bedeutend sicherer als im christlichen Europa. Das osmanische Modell der milletler behandelte die jüdische Gemeinde, sowie Griechen, Armenier und andere Christen als je eigene ethnische Gruppen. Deshalb war zwar ein Religionswechsel nicht vorgesehen. Die einzelnen Gruppen hatten ihr je gesondertes Personenstandsrecht mit diesbezüglich eigener Gerichtsbarkeit. Die Nicht-Muslime leisteten keinen Militärdienst und hatten eine höhere Steuerlast zu tragen als muslimische Untertanen. Für die Vormoderne unter islamischer Herrschaft kann man daher von Toleranz sprechen, von einer natürlich nicht konfliktfreien convivencia. Religionsfreiheit war das nicht; aber Rechtssicherheit. (5) Wo das Leben von nicht-islamischen Minderheiten unter muslimischer Herrschaft heute als gefährdet wahrgenommen ist, handelt es sich um etwas Neuzeitliches: Verantwortlich dafür sind moderne politische Ideen wie die eines einheitlichen Staatsvolkes. Auch islamische Lehr-Abweichungen wurden erst jetzt politisch ernster genommen. Ein Motiv dafür war, dass man sich von der Christenheit unterscheiden wollte, deren Zerrissenheit man als Schwächung wahrnahm. Inzwischen hatten die aus den Reformationen29 entstehenden Glaubensauseinandersetzungen, -spaltungen und -kriege Lateineuropas eine Vorstellung der Unterscheidbarkeit von weltlicher und geistlicher Herrschaft erfordert und ermöglicht. Diese für die Religionsfreiheit grundlegende Unterscheidung der religiösen von der politischen Autorität konnte auf dem Boden des christlichen Glaubens besonders gut wachsen. Denn diese Unterscheidung ließ sich an vier Elemente der christlichen Entstehungsgeschichte anknüpfen: a. Die in Israel lebendige Vorstellung, dass ein Volk allen Völkern gegenübertritt als Zeuge für den einen Gott und seinen Weltgestaltungswillen. b. Diese Vorstellung kommt in Jesu Verkündigung neu zur Geltung als das angebrochene und nun die Welt immer weiter durchprägende Gottesreich. c. Darauf kann nach Ostern die ἐκκλησία wachsen, die die jetzt noch nicht bestehende Gemeinschaft aller Menschen im Voraus vergegenwärtigt. d. Da das Zeugenvolk der angebrochenen Gottesherrschaft – die frühe Kirche – aber jahrhundertelang staatlicher Verfolgung ausgesetzt war, konnte sie sich im Gegenüber zur weltlichen Herrschaft sehen und zugleich ihre Sendung zur Weltgestaltung, auch zur Durchprägung der politischen Ordnung, im Blick behalten. Will man das Verhältnis von Politik und Religion in Islam und Christentum auf eine treffende Kurzformel bringen, so genügt die von Pannenberg vorgeschlagene Gegenüberstellung „Identität von politischer und religiöser Gemeinschaft“ einerseits und deren „systematische Unterscheidung“ andererseits also nicht. Vielmehr
29 James D. Tracy, Europe’s Reformations. 1450–1650, Lanham 2000 und Diarmaid MacCulloch, The Reformation. A History, London 2005.
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sei Folgendes angeboten: Die islamische Identifikation von weltlicher und religiöser Macht ist eine moderne Ideologie, die sich allerdings aus der Entstehungsgeschichte des Islam recht einfach begründen lässt. Die christliche Unterscheidung von weltlicher und religiöser Macht ist eine erst in der Neuzeit zur Geltung kommende Vorstellung, die sich allerdings aus der Entstehungsgeschichte der Kirche recht überzeugend begründen lässt. 3.3 Herausforderung für die Gotteslehre Pannenberg schreibt aus lateineuropäischer Sicht; und er schreibt als jemand, der einen Großteil seiner Lebenszeit für die Klärung und Erklärung des Dreifaltigkeitsglaubens eingesetzt hat. Dies kann verständlich machen, warum er die oben als besonders fragwürdig gekennzeichnete Sicht vertritt: „Der Islam ist für das Christentum von Anfang an mehr eine politische als eine intellektuelle Herausforderung gewesen“ (181). Verständlicher wird dies nämlich erst, wenn man einerseits „das Christentum“ als die westliche Christenheit fasst und andererseits die koranische Grundherausforderung nur auf die vier Traktate Christologie, Offenbarungslehre, Gotteslehre und Ekklesiologie bezieht – und deren Problematiken für abschließend geklärt hält. Setzen wir uns einerseits kurz mit der Frage auseinander: (1) Wie ging die östliche Christenheit auf den Islam als intellektuelle Herausforderung ein? Und fragen wir anschließend, (2) wie man sich mit heutigen theologischen Mitteln auf sie einlassen kann. (1) Der Islam war für die Christenheit des Ostens von Anfang an sehr wohl eine intellektuelle Herausforderung, die ihre besten Denker auf den Plan rief und zu eindrucksvollen theologischen Leistungen anspornte. Die ersten christlichen Versuche, den Islam theologisch zu verarbeiten, ähneln übrigens einem oben zitierten Gedanken Pannenbergs: Der Jerusalemer (griechische) Patriarch Sophronios († 638) fragt sich in Briefen und Predigten, warum die „gottlosen Sarazenen“ ihr Herrschaftsgebiet zum Leidwesen der Christenheit so erfolgreich ausweiten können, und antwortet mit Blick auf die Abweichungen der Christenheit vom rechten christlichen Glauben und Handeln: „Wir selbst sind wahrhaft für all das verantwortlich. Nichts lässt sich zu unserer Verteidigung vorbringen.“30 Die Gerichtskategorie wurde also von Anfang an in Anschlag gebracht. Auch später brachte die Islambegegnung in jeder Generation eindrucksvolle Stimmen hervor. Man denke an Theodor Abū Qurra, Bischof von H.arrān und einen der ersten arabischschreiben-
30 Daniel J. Sahas, „Sophronius, Patriarch of Jerusalem“, in: David Thomas und Barbara Roggema (Hgg.), Christian–Muslim Relations. A Bibliographical History. Volume 1 (600–900) (History of Christian–Muslim Relations, Band 11), Leiden 2009, S. 120–127: S. 126.
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den Christen († nach 816),31 an die sogenannte Apologie des al-Kindī (9. Jh.?), die in lateinischer Übersetzung auch die christlich-mittelalterliche Islamdebatte prägen sollte, oder an den philosophischen Kopf Yah.yā ibn ‘Adī († 974).32 Großes theologisches Anregungspotential hat dann fraglos der Dialog des Kaisers Manuel II. Palaiologos mit einen gelehrten Muslim, ein kaum gehobener Schatz.33 – Eine prosopographische Gesamtdarstellung der christlich-theologischen Leistungen in der Islamdebatte liegt jetzt vor.34 Wer heute noch behaupten will, die islamische Herausforderung sei eher als politische denn als intellektuelle wahrgenommen worden, sollte die christlichen Denkleistungen nicht übersehen. Was die apologetische und polemische Literatur aus christlicher Feder vorbrachte, fand seinerseits muslimischen Widerhall. Die Bemühung, darauf einzugehen, ist einer der Faktoren für die Entstehung dessen, was man mit Fug und Recht „islamische Theologie“ nennt.35 (2) Wie kann man nun auf den Islam als theologische Herausforderung eingehen? Entscheidend hierfür ist, zu bestimmen, worin sie überhaupt besteht. Man scheint hier nämlich leicht einer Fehleinschätzung aufzusitzen. Denn das, was man als die islamisch-intellektuelle Herausforderung wahrnahm, hielt die Christenheit für nicht neu. Ob Jesus der Sohn Gottes ist, ist ja die Urfrage der Auseinandersetzung um die Christusbotschaft. Dass jemand nach dem Tode der Apostel den Offenbarungstext der Kirche erweitern und dazu noch der dort verheißene Paraklet sein könnte (Johannes 14,16), hatte man längst geklärt: Genau dies wurde ja bereits von Montanus im 2. Jahrhundert beansprucht – und kirchlicherseits zurückgewiesen (vgl. 181). Die Göttlichkeit von Vater, Sohn und Geist zusammenzuhalten mit der Einzigkeit Gottes, das war längst vor dem Auftreten des Islam ein Hauptthema
31 Sara Leila Husseini, Early Christan–Muslim Debate on the Unity of God. Three Christian Scholars and Their Engagement with Islamic Thought (9th Century C.E) (History of Christian–Muslim Relations, Band 21), Leiden 2014. 32 Emilio Platti, Yahya Ibn ‘Adi, théologien chrétien et philosophe arabe. Sa théolgie de l’Incarnation (Orientalia Lovanensia analecta, Band 14), Löwen 1983. 33 Karl Förstel (Hg., Übers.), Manuel II. Palaiologos. Dialoge mit einem Muslim (Corpus IslamoChristianum, Series Graeca, Band 4,1–3), Würzburg und Altenberge 1993–1996. 34 David Thomas und Barbara Roggema (Hgg.), Christian–Muslim Relations. A Bibliographical History. Volume 1 (600–900) (History of Christian–Muslim Relations, Band 11), Leiden 2009. Die Bibliographical History deckt die Zeit bis 1914 ab und liegt nun 17-bändig vor. Vgl. auch Diego R. Sarrió Cucarella, Muslim–Christian Polemics across the Mediterranean. The Splendid Replies of Shihāb al-Dīn al-Qarāfī (d. 684/1285) (History of Christian–Muslim Relations, Band 23), Leiden 2015. 35 Neben dieser kontroverstheologischen Herausforderung veranlassten noch zwei weitere Problemstellungen die Entstehung der islamischen Theologie: die Herausforderung an die politische Theologie, die jeweils augenblickliche Herrschaft als gottgewollt zu begründen; und die Herausforderung an die theologische Anthropologie, wie die Mitglieder der doch als Einheit entworfene islamischen umma sich zerstreiten konnten.
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christlichen Denkens geworden. Der vierte Fragebereich, die Rolle der Kirche, wurde zwar erst am Ausgang des Mittelalters zu einem ausgefeilten theologischen Traktat. Wie aber ihr Verhältnis zur politischen Ordnung zu denken ist: auch mit dieser Frage hatte man längst vor der Islambegegnung Debattenerfahrung und Begriffswerkzeug. Deshalb und insofern ist die Beobachtung dann doch nicht verkehrt: „Der Islam ist für das Christentum von Anfang an mehr eine politische als eine intellektuelle Herausforderung gewesen“ (181). Die Einwände klangen ja nicht neu. Man versuchte es denn auch mit den alten Formeln und wunderte sich kaum darüber, dass die klassischen Schrift- und Vernunftbeweise, die man ins Feld führte, islamischerseits auf so wenig Verständnis stießen. Den koranischen Einwand gegen die Gottessohnschaft Jesu, dass Gott sich kein Kind zulegt, weil das unter seiner Würde ist (2:116, s.o.), hätte man als Missverständnis klären können, etwa mit der Formel: Die Gottessohnschaft Jesu schmälert Gottes Gottheit nicht; Jesus ist ewiger Sohn Gottes, weil der von Jesus bezeugte himmlische Vater seinen Geschöpfen schon immer durch seinen einzigen Sohn volle Lebensgemeinschaft mit sich selbst schenken wollte. Aber selbst damit hätte man die wirkliche theologische Herausforderung noch nicht gesehen. Im Blick auf die islamisch–christliche Begegnungsgeschichte muss man neu ansetzen, indem man sieht: Die Christen nahmen die intellektuelle Herausforderung zwar an, gingen aber auf sie ein, als läge sie auf der Ebene der alten Einwände gegen den christlichen Glauben. Man verrannte sich in die Debatten um Monotheismus, Christologie und Prophetie; dabei übersah man, worum es dem Islam fundamental-theologisch geht. Auch Pannenberg selbst ist in diese Falle gegangen. Denn auch seine theologischen Antworten behandeln lediglich die Fragen um Monotheismus, Christologie und Prophetie. Aber was steht in der islamisch–christlichen Begegnung tatsächlich zur Debatte? Worum geht es dem trinitarischen und christologischen Dogma, worum geht es dem Islam mit seinen Einwänden gegen das Christentum grundsätzlich? Dies kann man heute mit den theologischen Kategorien Pannenbergs besser benennen als mit dem begrifflichen Werkzeug, über das die islamischen und christlichen Gesprächspartner früher verfügten. Nicht auf der ausdrücklichen Ebene, aber unter der Oberfläche sind in der islamisch–christlichen Begegnung in Wirklichkeit drei andere theologische Fragebereiche aufgerufen und als die wahre Kontroverse zu entdecken: die Theologie der Geschichte (Vorsehungslehre), der Erlösung (Sündenlehre) und der Person (Ontologie).36
36 Vgl. vom Verfasser, Kirche im Angesicht des Islam. Theologie des interreligiösen Zeugnisses, Stuttgart 2008, S. 289–292.
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(1) „Musste der Messias nicht all das erleiden?“ (Lukas 24,26): Theologie der Geschichte37 – Die christliche Hoffnung besagt, dass am Ende der Zeit Gottes Gottheit allen offenbar sein wird; auch alle Ablehnung seines Willens wird sich dann als Teil der einen guten Geschichte erwiesen haben. Nun will Gott sich aber nicht gewaltsam durchsetzen; sein Reich erfüllt sich vielmehr durch unsere ungezwungene Anerkennung seiner göttlichen Wirklichkeit. Daher bleibt Gottes Gottheit vorerst strittig und der Erfolg seines Planes vorerst fraglich. Nur aufgrund des Osterzeugnisses können wir die Vollendung der Schöpfungsgeschichte erhoffen. – Die islamische Alternative zu einer solchen Theologie der Geschichte wäre: Gottes Plan verwirklicht sich nicht mit riskiertem Scheitern, sondern durch dessen Verhinderung. „Yans.urkum ‘alayhim – Er verhilft euch gegen sie zum Sieg“ (9:14). (2) „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe“ (Johannes 13,34): Theologie der Erlösung38 – Die Bestimmung des Menschen ist, wirklich zu lieben – also die Erfüllung der Bestimmung aller Geschöpfe zu erstreben. Damit aber sind wir überfordert. Wir müssen erst dazu befreit werden, wahrhaft lieben zu können. Diese Befreiung wird uns geschenkt, indem wir – durch Verkündigung und Feier – die Barmherzigkeit Jesu erfahren. Wer vom österlichen Geist ergriffen ist, lebt nicht mehr aus der Angst, sich im Scheitern zu verlieren, sondern in der Vorfreude, die uns verstehen und verwirklichen lässt, was wahrhaft Liebe ist. – Die islamische Alternative zu einer solchen Theologie der Erlösung wäre eine Theologie der Rechtleitung: Die Menschen haben in sich bereits die Fähigkeit, ihre Bestimmung zu erfüllen: gerecht zu leben. Nicht erst durch die Kenntnis einer bestimmten Geschichte – des Christusereignisses –, sondern durch jederlei Erinnerung lässt sich der Mensch zum guten Leben bewegen. „Allaḏīna āmanū wa-‘amilū s.-s.ālih.āt – Diejenigen, die glauben und tun, was recht ist, bringen wir nicht um ihren Lohn“ (18:30). (3) „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren“ (Matthäus 16,25): Theologie der Person39 – Die dem Evangelium zugrundeliegende Strukur, die Grunddynamik des in ihm bezeugten Lebens – ist die der Hingabe, der Selbstauslieferung; jedoch nicht wegen einer angeblichen Minderwertigkeit des eigenen Lebens, sondern im Blick auf die Erfüllung des Lebens in der Liebe: danach zu streben, dass alle ihre Fülle leben können. Das zeitliche Leben steht ja in Gefahr, sich aus Angst vor Selbstverlust in sich selbst zu verschließen und so zu verhindern. Daher geschieht die Selbsthingabe in Achtung auch vor dem eigenen Leben, das erst im Hinausgehen über sich – im „Sich-Verlassen auf den Anderen“ – zur Erfüllung kommt. Und auch 37 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Band 2, Göttingen 1991, S. 188–201 und Band 3, Göttingen 1993, S. 689–694. 38 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Band 2, Göttingen 1991, S. 274–290 und S. 484–487. 39 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 258–265 und S. 507–517.
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Gott ist neutestamentlich als der bezeugt, der sozusagen über sich hianausgeht: Der Herr kommt zu den Knechten und „wird sich gürten, sie am Tisch Platz nehmen lassen und sie der Reihe nach bedienen“ (Lukas 12,37). Diejenige Existenzform, die im andern ihrer selbst zu sich kommt, kann man „Person“ nennen. – Die islamische Alternative hierzu ist, Leben zu verstehen als Einnehmen eines bestimmten Lebensraumes. „Kullu man ‘alayhā fānin wa-yabqā waǧhu rabbika ḏu l-ǧalāli wa-l-ikrām – Jeder, der auf Erden weilt, muss vergehen, doch das Antlitz deines Herrn voll Hoheit und Ehre bleibt bestehen“ (55:26f.). Muslimische Deutungen40 von Koranversen wie diesem, die an sich der Psalmenfrömmigkeit entsprechen (vgl. Psalm 102,27), können so weit gehen, wahrhaftes Sein nur Gott zuzusprechen; mit der Perspektive, dass daher alles geschöpfliche Sein zugunsten Gottes zu seinem Ende kommen soll. Unsere Untersuchung von Pannenbergs religionstheologischer Stellungnahme zum Islam führte uns zu kontroverstheologischen Überlegungen. Wie lautet nun das Ergebnis? Die theologische Debatte von muslimischen und christlichen Theolog*innen sollte stärker die Geschichts-, Erlösungs- und Personalitätsfrage in den Blick nehmen. Bevor wir schließen, sei noch klargestellt: Das so vorgetragene Ergebnis lässt sich leicht in fünf Richtungen missverstehen. (1) Man könnte verstehen, dass die offenbarungs- und trinitätstheologischen sowie die christologischen und ekklesiologischen Fragen im Gespräch zwischen Muslimen und Christen nebensächlich sind. Sie sind jedoch wichtig und tatsächlich strittig. Diese Fragen lassen sich aber nur weiterführend klären, wenn auch offengelegt wird, welche Grunddynamiken in der Auseinandersetzung eigentlich gegeneinanderstehen. (2) Eine kritische Auseinandersetzung mit Pannenbergs islambezogenen Bemerkungen ließe sich wohl auch dahingehend verstehen, dass sein religionstheologischer Beitrag nicht weiterhilft. Das tut er aber sehr wohl. Nur sind es weniger seine im Blick auf den Islam gemachten Einzeläußerungen, die das christlich–islamische Gespräch bereichern, als vielmehr die Grundmuster der Pannenberg’schen Theologie. (3) Weiterhin könnte sich die Offenlegung der Tiefenkontraste verstehen lassen als Beleg für die moralische Überlegenheit der Christen: als subtiler, milder, dynamischer. Das ist keineswegs gemeint. Vielmehr sind die angedeuteten Kontraste in dem Bewusstsein aufgezählt, dass sich die Christenheit nie in großer Zahl der wahren Herausforderung des Evangeliums gestellt hat. Was mit dem christlichen Glauben eigentlich ermöglicht ist, das müssen wir benennen; was davon bisher tatsächlich verwirklicht wurde, das können wir nur beschämt fragen.
40 William C. Chittick, „Rūmī and wah.dat al-wujūd“, in: A. Banani, R. Hovannisian, G. Sabagh (Hg.), Poetry and Mysticism in Islam. The Heritage of Rūmī, Cambridge 1994, S. 70–111.
Der Islam in der Religionstheologie Wolfhart Pannenbergs
(4) Sodann könnte man meinen, die ausgewählten Bibel- und Koranzitate sollten den Kerngehalt der jeweiligen Schrift oder gar der jeweiligen Religion wiedergeben. Sie sollen nicht einmal die gesamte Beweislast dafür tragen, wie treffend die gegeneinander gestellten theologischen Sichtweisen sind. Die Schriftverse können und sollen in Wirklichkeit nicht mehr und nicht weniger leisten, als an einzelne Motive in Neuem Testament und Koran zu erinnern. (5) Ein letztes mögliches Missverständnis wäre der Eindruck, dass mit den hier aufgezeigten Gegensätzen erwiesen ist, dass Islam und Christentum nicht zusammenwirken können, dass Muslime und Christen nicht miteinander ein und dieselbe Gesellschaft gestalten können. Auch dies ist mit den angedeuteten Unterschieden keineswegs gesagt. Vielmehr kann es einer heutigen pluralen Gesellschaft nur nützen, wenn sie aus verschiedenen religiösen Perspektiven heraus Inspiration erhält.
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Erhebung zum Erhabenen Die israelitisch-jüdische Religion bei Hegel, Vatke und im Pannenbergkreis Knapp zwei Monate vor dem geplanten Beginn des Pannenbergkolloquiums 2020, das coronabedingt leider ausfallen musste, jährte sich zum zweihundertfünfzigsten Mal der Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Wenige Denker haben zum Thema der Tagung derart grundlegende Beiträge geleistet wie er. So gehört es zu den unbestreitbaren Vorzügen seiner Philosophie der Religion, den Religionsbegriff zwar als sinnidentisch vorauszusetzen, es aber nicht bei dieser abstrakten Voraussetzung zu belassen, sondern den abstrakten Idealbegriff im Durchgang durch die Religionsgeschichte seiner realen und konkreten Bestimmtheit zuzuführen. Man kann fragen, ob die besonderen Religionen bei Hegel wirklich in ihrer spezifischen Eigenart oder nicht doch nur als Epiphänomene eines prädeterminierenden Allgemeinbegriffs der Religion in den Blick kommen. Anzuerkennen ist in jedem Fall die Intention, den religionsgeschichtlichen Prozess in der differenzierten Einheit seiner historischen und systematischen Implikationen zu rekonstruieren. Indem dies im Zusammenhang einer Theorie des Absoluten geschieht, ist Hegels Philosophie der Religionsgeschichte ihrem Selbstverständnis nach zugleich und in einem eine Theologie der Religionsgeschichte. Ohne den fundierenden Wirk- und Zielgrund von Selbst und Welt ins Auge zu fassen, kann das religiöse Verhältnis ihm zufolge nicht als dasjenige wahrgenommen werden, was es seinem Wesen nach ist: Beziehung zum Unbedingten. Wolfhart Pannenberg, dessen Theologie der Religionsgeschichte das diesjährige Kolloquium der Pannenbergforschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie gewidmet sein sollte, war eigenem Bekunden zufolge niemals ein Hegelianer. Dennoch hat er kein Hehl daraus gemacht, wieviel theologische Anregungen er der Philosophie und namentlich der Religionsphilosophie Hegels verdankte. Auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht sind trotz aller Differenzen Parallelen in der Theorieanlage unschwer zu erkennen. Zwar ist die Entstehung der Religionsgeschichte als einer wissenschaftlichen Disziplin1 in vielen Einzelpunkten über
1 Zur Geschichte des Begriffs „Religionsgeschichte“, zu Ansätzen einer historischen Betrachtung der Religionen von der vorchristlichen Antike bis zum Zeitalter der Aufklärung sowie zur Entwicklung der Religionsgeschichte als einer wissenschaftlichen Teildisziplin der modernen Religionswissenschaft vgl. B. Maier, Art. Religionsgeschichte (Disziplin), in: TRE 28, 576–585. Zur Klärungsbedürftigkeit
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Hegels Philosophie der Religionsgeschichte hinausgegangen. Nicht wenige empirische Daten, mit denen der Philosoph arbeitete, sind wissenschaftlich überholt. Die Verwissenschaftlichung religionsgeschichtlicher Forschung hat im Übrigen zu einer derartigen Steigerung der Komplexität historischer Befunde geführt, dass es viel schwerer fällt als zu Hegels Zeiten, das differenziert aufbereitete Material mit einer klaren Entwicklungslinie zu verbinden. Pannenberg etwa hat gar nicht erst versucht, seine Theologie der Religionsgeschichte abgesehen von der religiösen Überlieferungsgeschichte von Judentum und Christentum (einschließlich des altgriechischen Denkens und einiger weniger Bezüge zum Islam) materialiter auszuarbeiten, sondern sich auf programmatische Theorievorgaben beschränkt, wozu er als Systematiker nicht nur guten Grund, sondern auch das Recht hatte. Pannenbergs Vorgaben zielen auf ein Unternehmen, das nicht nur historische Fakten benennt, sondern aus ihrem Zusammenhang heraus den Geist der einzelnen Religionen und ihrer internen und externen Entwicklung zur Erkenntnis bringt. In dieser Zielausrichtung wusste er sich mit der Konzeption Hegels einig, wenngleich er dessen typisierendes Vorgehen kritisierte und die im System absoluten Wissens in Anschlag gebrachte Beziehung von Begriff und Geschichte generell und nachgerade in Bezug auf die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte als problematisch erachtete. Tatsächlich hat Hegel die Religion des Judentums auf einen einheitlichen Begriff zu bringen versucht, ohne ihren religionsgeschichtlichen Entwicklungsprozess genauer in Betracht zu ziehen. Doch erweist sich dieses Defizit als unter Hegel‘schen Bedingungen behebbar, wie der Hegelianer Wilhelm Vatke bewiesen hat. Vatkes Werk über „Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt“ von 1835 wird neben der Hegel‘schen Philosophie der Religionsgeschichte im Zentrum nachfolgender Studien stehen, wobei im Blick auf Hegel zwar der gesamte religionsgeschichtliche Prozess in seiner Grundstruktur ins Auge gefasst, aber ebenfalls primär die alttestamentliche Religion interessieren wird, also die Religion des vorchristlichen Judentums, wohingegen dessen nach der Trennung von Kirche und Synagoge erfolgte religionsgeschichtliche Entwicklung unberücksichtigt bleibt. Dass diese Ausblendung nicht minder problemhaltig und erklärungsbedürftig ist wie die Bezeichnung der hebräischen Bibel als Altes Testament, bedarf keiner Betonung. Vatkes Werk über die Religion des Alten Testaments, das als erster Band einer – unausgeführt gebliebenen – wissenschaftlichen Gesamtdarstellung biblischer Theologie konzipiert war, ist forschungsgeschichtlich u. a. deshalb von großer Relevanz, weil es mit vielen seiner Ergebnisse bereits Einsich-
des in dem Kompositum „Religionsgeschichte“ jeweils in Anschlag gebrachten Begriffs der Religion bzw. der Geschichte vgl. G. Ahn, Art. Religion. I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 28, 513–522 sowie G. Lanczkowski, Art. Geschichte. I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 12, 565–569.
Erhebung zum Erhabenen
ten von Julius Wellhausen antizipiert, der in der alttestamentlichen Wissenschaft Epoche machte. Epochemachend waren in der Geschichte ihrer Disziplin später auch Albrecht Alt und seine Schüler, unter denen neben Martin Noth Gerhard von Rad herausragte. Letzterer war als alttestamentlicher Lehrer Pannenbergs und der Mitglieder von dessen Kreis für die Formierung des Programms von „Offenbarung als Geschichte“ und für die Pannenberg’sche Konzeption einer Theologie der Religionsgeschichte von kaum zu überschätzender Bedeutung. Aus der Spannung, die sich aus den weitreichenden Differenzen zwischen Wellhausen und der Altschule im Allgemeinen sowie zwischen der v. Rad’schen „Theologie des Alten Testaments“ und dem von Hegel inspirierten Werk Vatkes ergeben, beziehen die nachfolgenden Studien einen wesentlichen Teil ihrer Motivation. Dies gilt umso mehr, als die beherrschende Stellung von Alt, Noth oder v. Rad, die Pannenbergs und seiner Heidelberger Freunde Bild der alttestamentlichen Theologie und Religionsgeschichte wesentlich prägten, mittlerweile selbst Geschichte ist, wohingegen Wellhausen seit geraumer Zeit – sit venia verbo – wieder im Kommen ist; ob ihm die Zukunft gehört, ist eine andere, noch offene Frage. G. v. Rad hat das Bekenntnis Dtn 26,5–9 als kleines geschichtliches Credo und als einen Nukleus der alttestamentlichen Darstellungen der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk von der Väterzeit über den Exodus bis zur Landnahme bezeichnet. Entsprechend kann man die in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Heidelberger Jungtheologenkreisen im Rahmen vor allem alttestamentlicher Studien ausgebildeten Wendungen, die Geschichte und Offenbarung aufs engste zusammenschließen, Kurzformeln eines theologischen Programms und den Zellkern nicht zuletzt dessen nennen, was Pannenberg, der führende Ideengeber des Kreises, in seinen „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ von 1962 bald nach Erscheinen von „Offenbarung als Geschichte“ ausgeführt hat, um es in „Wissenschaftstheorie und Theologie“ enzyklopädisch zu entfalten. Auf diese Zusammenhänge und die Entstehungsbedingungen von Pannenbergs Konzept einer Theologie der Religionen ist der erste Teil des vorliegenden Aufsatzes bezogen. Er wird zeigen, inwiefern nach Urteil Pannenbergs die israelitisch-jüdische Religion als Religion der Geschichte zu gelten hat und als solche die geschichtliche Voraussetzung und Möglichkeitsbedingung religionsgeschichtlicher Betrachtung darstellt. Der zweite und umfangreichste Teil der Untersuchung ist auf Hegels Philosophie der Religionsgeschichte bezogen, die auf der Basis seines Berliner Kollegs von 1827 thematisiert wird. Das Hauptaugenmerk gilt auch hier der jüdischen Religion; doch muss, um sich zu ihr als der Religion der Erhabenheit erheben zu können, der religionsgeschichtliche Prozess, welcher zu ihr führt, zumindest skizzenhaft mitberücksichtigt werden. Der anschließende dritte Teil wird sich demgemäß der von Hegel weitgehend ausgesparten religionsgeschichtlichen Entwicklung zuwenden,
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welche die jüdische Religion selbst durchlaufen hat; Referenztext wird das Werk des Hegelschülers Wilhelm Vatke zur „Religion des Alten Testamentes“ sein, das 1835, im „großen Revolutionsjahr der modernen Theologie“2 , erschienen ist. Der vierte und letzte Teil weist auf den ersten zurück, damit die Ausführungen zu Hegel und Vatke gerahmt und in die Kolloquiumsthematik entsprechend eingebunden seien: geboten werden Fallstudien zu alttestamentlichen Diskursen, die im Heidelberger Pannenbergkreis oder im Zusammenhang mit ihm geführt wurden. Zu reden sein wird dabei auch von dem Verdikt eines ehemaligen, in „Offenbarung als Geschichte“ mit einem eigenen Beitrag vertretenen Mitglieds des Heidelberger Kreises, wonach dem Programm von „Offenbarung als Geschichte“ „implizit eine ‚Substitutionstheorie‘ von äußerster Konsequenz zugrunde“3 liege, welche faktisch auf eine geschichtliche Marginalisierung der jüdischen Religion und die Behauptung ihres Ersatzes durch die christliche Kirche hinauslaufe. Von einer möglichen Substitution anderer Art muss vorher schon gesprochen werden, nämlich von dem in mancher Hinsicht grundstürzenden Wandel, der sich in der alttestamentlichen Wissenschaft gegenüber der Periode v. Rads vollzogen hat. Das kleine geschichtliche Credo ist mittlerweile auch nicht mehr, was es zu Heidelberger Zeiten war. Doch wie auch immer: Erstlingsfrüchte des Landes darzubringen, mit dessen Pflege man betraut ist, und sich des Guts zu erfreuen, das einem gegeben wurde, bleibt trotz allem geboten (vgl. Dtn 26,10).
1.
Religionsgeschichte und Religion der Geschichte. Pannenbergs Konzept einer Theologie der Religionen
1.1 Kleines Heidelberger Credo Die 50er Jahre des vergangenen Säkulums waren eine hohe Zeit der alttestamentlichen Wissenschaft in Deutschland. „Selten, vielleicht nie hat das Alte Testament hierzulande in der akademischen Theologie, aber auch darüber hinaus so viele
2 Th. Ziegler, David Friedrich Strauß. Erster Teil: 1808–1839, Straßburg 1908, 196f. 1835 war auch Straußens berühmt-berüchtigtes Werk über das „Leben Jesu“ erschienen. Strauß war im November 1831 nach Berlin gekommen, um Hegel zu hören, der für das Wintersemester 1831/32 Kollegs über Religionsphilosophie und Geschichte der Philosophie angekündigt hatte. Als der Meister nur wenige Tage, nachdem Strauß ihn besucht hatte, verstarb, wandte sich dieser den Berliner Hegelschülern zu und freundete sich insbesondere mit Wilhelm Vatke an. 3 R. Rendtorff, Offenbarung und Geschichte. Partikularismus und Universalismus im Offenbarungsverständnis Israels, in: J. Petuchowski/W. Strolz (Hg.), Offenbarung im jüdischen und christlichen Glaubensverständnis, Freiburg/Basel/Wien 1981, 37–49, hier: 39.
Erhebung zum Erhabenen
Freunde gehabt wie um die Mitte des 20. Jahrhunderts.“4 Der Alttestamentler, der wie kein anderer zur damaligen Blütezeit seiner Wissenschaft beigetragen hat, war Gerhard von Rad. „Seine Hörsäle in Göttingen und Heidelberg waren Wallfahrtsorte, einige seiner Bücher Bestseller auf ihrem Gebiet. Von seinem gesprochenen und geschriebenen Wort ging ein Zauber aus, der viele Menschen berührte.“5 Der Student Wolfhart Pannenberg zählte zur Schar der Bewunderer v. Rads. In seiner Heidelberger Studienzeit besuchte er zahlreiche Lehrveranstaltungen des berühmten Gelehrten, „im SS 1950 neben einer AT-Bibelkunde eine vierstündige Jesaja-Vorlesung, im WS 1950/51 ein ebenfalls vierstündiges Kolleg zur Theologie des Alten Testaments, im WS 1951/52 drei (Genesis [Vätergeschichten], Hiob und ein Seminar zum Deuteronomium), im SS 1952 zwei Lehrverstanstaltungen (Einleitung ins Alte Testament und ein Seminar über messianische Hoffnung)“6 . Durch v. Rad wurden Pannenberg nach eigenen Angaben Einsichten erschlossen, die für die Ausbildung seines künftigen Theologiekonzepts grundlegend werden sollten. Es formierte sich „the so-called Heidelberg Circle“7 , der aus den exegetischen Vorgaben v. Rads systematische Schlüsse zu ziehen versuchte. „It was a pity, or so it appeared to us students, that systematic theology at Heidelberg was not yet quite up to that new agenda. Thus a group of students tried to find out for themselves what a systematic theology would look like on the basis of von Rad’s exegetical vision.“8 Zur Kernmannschaft des Heidelberger Zirkels, den man später
4 R. Smend, Gerhard von Rad (1901–1971), in: ders., Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, 794–824, hier: 794. 5 Ebd. – Vgl. bspw. R. v. Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, 101: „Einen starken Eindruck hat der Alttestamentler Gerhard von Rad auf mich gemacht. Ihm verdanke ich das Verständnis von der Kraft der Erinnerung in der menschlichen Existenz, wie sie in einem religiösen Sinn der jüdische Glaube vielleicht am tiefsten erfaßt, für den der Glaube an Gott der Glaube an Gottes Wirken in der Geschichte ist. Das Alte Testament, die Bibel der Juden, ist zugleich ihr Geschichtsbuch. Ihre Erinnerung ist demzufolge ihre Erfahrung von Gottes Wirken in ihrer eigenen Geschichte und damit zugleich ihre Hoffnung auf Erlösung, das heißt auf die Überwindung des Zwiespältigen, auf Wiedervereinigung des Getrennten. Erinnerung heißt in diesem Sinne für sie das Geheimnis der Erlösung. Wer aber vergißt, verliert den Glauben.“ 6 G. Wenz, Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie, in: ders. (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017, 13–47, hier: 20. 7 W. Pannenberg, An Autobiographical Sketch, in: C.E. Braaten/Ph. Clayton (Ed.), The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critics, with an autobiographical Essay and Response, Mineapolis 1988, 11–18, hier: 14. 8 Ebd. Vgl. im Einzelnen G. Wenz, Pannenbergs Kreis. Genese und erste Kritik eines theologischen Programms, in: ders., Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018, 17–57; ferner: M. Arneth, Alttestamentliche Aspekte der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“, in: a.a.O., 59–70.
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den Pannenbergkreis nannte, gehörten neben Pannenberg Klaus Koch, Rolf Rendtorff, Dietrich Rössler und Ulrich Wilckens. Koch und Rendtorff standen in engster Beziehung zu v. Rad. Beide hatten ihr Grundstudium bereits abgeschlossen. Rendtorff promovierte 1950 im Fach Altes Testament, Koch 1953. Beider Doktorvater war v. Rad, als dessen Assistent Koch von 1950–1954 fungierte. Auch Rössler, seit 1951 Doktor der Medizin, stand im Begriff, ein Alttestamentler zu werden; 1957 promovierte er mit einer Untersuchung zur Theologie der jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie. Auf sie und die Dissertationen von Koch und Rendtorff wird zurückzukommen sein. Bis zum SS 1952 kam Pannenbergs Jungtheologenzirkel in regelmäßigen, meist 14-tägigen Abständen zusammen. Man diskutierte theologische Grundthemen und vereinbarte eine längere Zusammenarbeit, die tatsächlich und über die gemeinsame Heidelberger Zeit hinaus zustande kam, nachdem zunächst Martin Elze und später Rolf Rendtorffs Bruder Trutz zusätzlich in den Kreis aufgenommen worden waren. Bald wird als Credo des Kreises formuliert: „Geschichte ist Offenbarung“, woraus später die zurückhaltendere Formel „Offenbarung als Geschichte“ werden sollte. Beide Wendungen schließen nach Pannenbergs Bekunden direkt an v. Rads alttestamentliche Theologie an: „History was the code word of biblical exegesis at Heidelberg in those years, and to my ears it was echoed by the lecture of Karl Löwith on philosophy of history.“9 Mit letzterer Bemerkung bezieht sich Pannenberg besonders auf eine Vorlesung über Geschichtsphilosophie und Theologie, die er im SS 1952 in Heidelberg bei Löwith besuchte. Dieser war im selben Jahr durch Vermittlung Hans-Georg Gadamers10 an die Ruprecht-Karls-Universität berufen worden; einen Namen gemacht hatte er sich u. a. mit dem 1949 publizierten Werk „The Meaning of History“, das 1953 unter dem Titel „Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die Theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie“ auf Deutsch erschien. Die darin und im Heidelberger Kolleg von 1952 traktierten Inhalte haben Pannenberg „tief und nachhaltig“11 beeindruckt, „wenn auch“, wie er hinzufügt, „nicht immer in dem von ihm (sc. Löwith) intendierten Sinne“12 . Zusammen mit Einflüssen Gerhard v. Rads bilden die durch Löwith erschlossenen 9 W. Pannenberg, a.a.O., 14. 10 Zu Gadamers Bedeutung für Pannenberg vgl. G. Wenz, Von der Kunst, Hermeneutik zu verstehen. Zur Frage nach dem Sinn des Ganzen beim Heideggerschüler Gadamer und bei Pannenberg, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, 347–379. 11 W. Pannenberg, Das Nahen des Lichts und die Finsternis der Welt, in: E. Angehrn u. a. (Hg.), Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1992, 237–251, hier: 237. 12 Ebd. Vgl. im Einzelnen: G. Wenz, Karl Löwith. Heideggerschüler und philosophischer Lehrer Pannenbergs, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, 381–403.
Erhebung zum Erhabenen
Perspektiven ein wesentliches Motiv für die Ausbildung des geschichtstheologischen Programms von Pannenberg und seinem Kreis, zu dessen Zentralanliegen von Anfang an die enge Verbindung historischer und systematischer, exegetischer und dogmatischer Arbeit gehörte. Die Thematik des vierstündigen Kollegs, das Pannenberg im WS 1950/51 bei ihm hörte, hatte Gerhard v. Rad damals bereits breit ausgearbeitet. 1957/60 übergab er seine „Theologie des Alten Testaments“ in Form einer zweibändigen Monographie der Öffentlichkeit. Der erste Band behandelte die Theologie der geschichtlichen, der zweite Band die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels.13 Das Werk stellte eine Summe des vormaligen Wirkens seines Autors dar. „Alles Bisherige war, bewusst oder nicht, Vorbereitung hierauf gewesen.“14 Als regulative Idee der Stofforganisation fungierte die Einsicht in den wechselseitigen Zusammenhang der „alttestamentlichen Glaubensaussagen mit der Geschichte“ 15 , worunter v. Rad als
13 G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments. Band I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 1957; Band II: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 1960. Pannenberg hat beide Bände, wie seine Handexemplare belegen (PannenbergBibliothek 03773/4), intensiv studiert. – Zum Rang, der Pannenberg zufolge von Rads „Theologie des Alten Testaments“ für das gesamttheologische Gespräch der damaligen Zeit beizumessen sei, vgl. ders., Kerygma und Geschichte, in: R. Rendtorff/K. Koch (Hg.), Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen (FS G.v. Rad), Neukirchen 1961, 129–140; wieder abgedruckt in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen (1967) 2 1971, 79–90, bes. 84ff. Von zentraler Wichtigkeit für Pannenbergs Verständnis von Offenbarung als Geschichte ist die Einsicht, wonach Überlieferungsgeschichte „als der tiefere Begriff von Geschichte überhaupt anzusehen“ (88) sei. – Zu den Debatten zu „Hermeneutik und Universalgeschichte“ (1963; vgl. a.a.O., 91–122) sowie „Über historische und theologische Hermeneutik“ (1964; vgl. a.a.O., 123–158) und zu den Auseinandersetzungen mit Heidegger, Gadamer und Löwith, die im Zusammenhang damit stehen, vgl. im Einzelnen meine Studie „Geschichte versus Geschichtlichkeit. Pannenberg und der frühe Heidegger“ (in: G. Wenz [Hg.], Offenbarung als Geschichte, 269–345) und die genannten Texte zu Gadamer und Löwith – J. L. Crenshaw, Gerhard v. Rad. Grundlinien seines theologischen Werks, München 1979, bezeichnet Pannenberg ausdrücklich als „Schüler v. Rads“ (37). Eine seiner einflussreichsten Bücher hat Klaus Koch v. Rad „in Dankbarkeit für Ratschläge und Ermunterungen“ gewidmet (Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibelexegese, Neukirchen/Vluyn 19642 1967, hier: IX; die Drittauflage des Werkes enthält ein Nachwort zu „Linguistik und Formgeschichte“). Vgl. ferner die „Gerhard von Rad unserem Lehrer zum 60. Geburtstag“ gewidmeten „Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen“, die R. Rendtorff und K. Koch herausgegeben haben (Neukirchen 1961). Pannenberg ist mit einem Beitrag zu „Kerygma und Geschichte“ (129–140) vertreten. Aufschlussreich u. a. der Beitrag R. Rendtorffs über „Geschichte und Überlieferung“ (81–94, hier: 93f.: „Die Geschichte Israels vollzieht sich in äußeren Vorgängen, die herkömmlicherweise Gegenstand der historisch-kritischen Geschichtsforschung sind, und in den vielfältigen und vielschichtigen inneren Vorgängen, die wir in den Begriff der Überlieferung zusammenfassen. Erst das Gesamtbild, das sich aus beiden ergibt, zeigt im vollen Sinne Israels Geschichte.“) 14 R. Smend, a.a.O., 814. 15 Ebd.
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Schüler Albrecht Alts nicht eine Ansammlung von bruta facta, sondern Überlieferungsgeschichte verstand.16 Wie alle Traditionen des Alten Testaments ist auch das Zeugnis der alttestamentlichen Propheten überlieferungsgeschichtlich geprägt und auf nacherzählende Weitergabe ausgerichtet. Dies hatte schon der Lehrer betont, dem man deshalb einen durch den Schüler vermittelten Einfluss „bis hin zu der 1961 proklamierten Theologie der ‚Offenbarung als Geschichte‘“17 attestierte. Auch nach Alt ist das Gesamtzeugnis des Alten Testament überlieferungsgeschichtlich bestimmt und in seiner worthaften Bedeutung vom historischen Geschehenszusammenhang nicht ablösbar. Der neben v. Rad zweite berühmte Altschüler, Martin Noth, hat das auf seine Weise bestätigt: „So sehr seine eigene Antwort einer am Wort orientierten Theologie zugute kommen konnte und zugute kam, er selbst war doch vor allem anderen … auf Geschichte aus. In diesem wesentlichsten Punkt sah er seine Aufgabe ganz wie sein Lehrer Alt.“18 Nicht umsonst ist Noth als Historiograph zu Berühmtheit gelangt. „1950 erschien die ‚Geschichte Israels‘, das Buch, mit dem er weit über die Fachkreise hinaus gewirkt hat.“19 Noths Lehrbuch verfolgt gemäß Vorwort zur Erstauflage die Primärabsicht, „das Tatsachenmaterial zur Geschichte Israels dar(zu)bieten, so wie es nach dem gegenwärtigen Stande der wissenschaftlichen Erkenntnis vorliegt“20 . Der erste Teil basiert auf Noths Amphyktioniethese und thematisiert die Entstehung der israelitischen Stämme, des Systems des Zwölfstämmebunds sowie seiner Einrichtungen und sakralen Tradition von der Exodus- über die Väter- hin zur Sinaiüberlieferung.
16 Auch die Geschichte der Bibelauslegung lässt sich als überlieferungsgeschichtlicher Prozess beschreiben, in dem Historie und Deutung wie in der Hl. Schrift selbst einen einheitlichen Zusammenhang bilden. Bezeichnenderweise nimmt die Bibelauslegung bereits innerhalb der hebräischen Bibel ihren Anfang, um zwischen den Testamenten und im Neuen Testament ihre Fortsetzung zu finden. Zwar ist zwischen einer Auslegungsgeschichte vor und nach erfolgter Kanonisierung zu unterscheiden. Aber als Trennung lässt sich diese Unterscheidung nicht verstehen, weil sowohl die Bildung des Kanons als auch diejenige seiner Bestände das Ergebnis einer traditionsgeschichtlichen Entwicklung darstellt. Vgl. im Einzelnen: H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung. Band I: Vom Alten Testament bis Origenes, München 1990. Die Folgebände thematisieren die Geschichte der Bibelauslegung von der Spätantike bis zum ausgehenden Mittelalter, in Renaissance, Reformation und Humanismus sowie von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. Der vierte Band des Werkes (München 2001) schließt mit Bemerkungen zu Karl Barth und Rudolf Bultmann im Anschluss an die von Hermann Gunkel, Wilhelm Bousset und Johannes Weiß repräsentierte Religionsgeschichtliche Schule. In den vorangegangenen Abschnitten über die Bibelwissenschaft im 19. Jahrhundert wird Wilhelm Vatke ein eigener Abschnitt eingeräumt (VI.3). Zum Thema der Bibelauslegung vgl. auch: M. Saebø (Ed.), Hebrew Bible/Old testament. The History of its Interpretation. Vol. I-III, Göttingen 1996ff. 17 R. Smend, Albrecht Alt (1883–1956), in: ders., a.a.O., 648–677, hier: 675. 18 Ders., Martin Noth (1902–1968), in: ders., a.a.O, 825–846, hier: 829. 19 A.a.O., 842. 20 M. Noth, Geschichte Israels, Göttingen 6 1966, 5.
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In einem zweiten Teil wird das Leben des Alten Israel in der palästinisch-syrischen Umwelt zur Darstellung gebracht, nämlich die Selbstbehauptung der Stämme im Kulturland und ihr Übergang zur politischen Machtentfaltung. Gehandelt wird von der Episode des Königstums Sauls, von der davidisch-salomonischen Herrschaft und dem Nebeneinander der Kleinstaaten Juda und Israel. Vergleichsweise konventionell ist der dritte Teil der Noth’schen „Geschichte Israel“ gehalten, der die Zeiten der assyrischen und neubabylonischen sowie der persischen und makedonischen Herrschaft zum Gegenstand hat. Das Werk schließt mit dem „Restauration, Verfall, Untergang“ umschriebenen vierten Teil, der die makkabäische Erhebung und die Erneuerung des Königtums sowie die römische Zeit bis zu den Aufständen gegen Rom erörtert, welche „das Ende Israels“21 zur Folge hatte. An besagtem Schluss ist u. a. die Tatsache bemerkenswert, dass Noth den Namen „Israel“ „bis in die römische Zeit hinein für angemessen (hält); erst nach den Aufständen gegen die Römer, als durch den Verlust des Heiligtums und des Landes ein gemeinsames geschichtliches Handeln unmöglich geworden ist, ist der Ausdruck Judentum am Platz.“22 Bei Wellhausen hingegen und in der von ihm geprägten Geschichtsschreibung wurde „mit dem Exil die israelitische Geschichte durch die jüdische abgelöst“23 . Auch ansonsten ergeben sich aus einem Vergleich der „Geschichte Israels“ von Noth aus dem Jahr 1950 mit Wellhausens „Israelitischer und jüdischer Geschichte“ von 1894 erhebliche Differenzen und zwar insbesondere in Bezug auf die vorexilische Zeit. Sie geben Anlass, die Geschichte der Historiographie innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft zu bedenken und ein Bewusstsein ihrer eigenen Geschichtlichkeit zu entwickeln. Während Noth das vorstaatliche Israel im Sinne seiner Amphyktioniethese als ein durch Gottesgesetz geordnetes und um ein Kultobjekt, die sog. Bundeslade, gruppiertes sakrales Gemeinschaftssystem von zwölf Stämmen ohne politische Zentralgewalt modellierte, deutete Wellhausen die in der biblischen Geschichte Israels am Anfang stehende, theonom geregelte Hierokratie als eine Rückprojektion aus nachstaatlicher Zeit, als das Gottesvolk unter Fremdherrschaft lebte. Aus dieser grundlegenden Alternative ergaben sich entsprechende Differenzen in Bezug auf die Beurteilung des geschichtlichen Ablaufs und sein theologisches Verständnis. Zwar erneuerte Noth ebensowenig wie sein Lehrer Alt oder der zweite berühmte Altschüler G. v. Rad die Vorstellung einer mosaischen Verfasserschaft des Pentateuch oder einer durch Mose repräsentierten Sakralordnung; aber an der Annahme einer hierokratischen Herrschaftsform im vorstaatlichen Israel, eines genuin altisraelitischen Rechts von apodiktischer, nicht lediglich kasuistischer Geltung, einer
21 A.a.O., 386. 22 R. Smend, Martin Noth, 843. 23 Ebd.
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Form charismatisch geprägter Führerschaft und einer klaren Abgrenzung gegenüber Kanaan und seinen religiösen Überlieferungen und Gebräuchen hielt man fest.24 Die Wellhausen’sche Hypothese, dass sich das Alte Israel erst allmählich zu dem religiösen Gemeinwesen entwickelt hat, als das es im Alten Testament vorstellig wird, wurde zwar nicht einfachhin verworfen, aber in vielfacher Hinsicht relativiert und eingeschränkt mit der Folge, dass sich der Zusammenhang der vor- und nachexilischen Zeit historisch und theologisch ungleich kontinuierlicher darstellte. Die Annahme einer über alle unleugbaren Brüche hinweg kontinuierlich sich fortentwickelnden Traditionsgeschichte erwies sich auch für die Konzeption der v. Rad’schen Theologie des Alten Testaments als bestimmend. Dabei bildete die Konstituierung der nachexilischen Kultgemeinde durchaus einen Fluchtpunkt der überlieferungsgeschichtlichen Entwicklung. Aber deren Ergebnis erwies sich v. Rad als mit den Anfängen des Jahwekultes im Alten Israel dergestalt rückvermittelt, dass das Gottesvolk und seine Hl. Schrift als eine religiös einheitliche Größe in den Blick genommen werden konnte. Es war das Konzept der Überlieferungsgeschichte, welches ihm diese Annahme einer in, mit und unter allen Wandlungen sich erweisenden Religionseinheit ermöglichte. 1.2 Enzyklopädie der theologischen Wissenschaft Siebzehn Jahre nach Beginn des 19. Jahrhunderts ist Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ in Erstauflage erschienen, siebzehn Jahre vor Ende des 20. Jahrhunderts hat Wolfhart Pannenberg im Rahmen seines Werkes über „Wissenschaftstheorie und Theologie“ eine „Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften“ publiziert. Während der erste Teil des Werkes vom Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt der Wissenschaften handelt, in dem sich die Theologie zu verorten hat, handelt der zweite von der ihr eigenen Wissenschaftlichkeit. Bietet der erste einen Überblick über die wissenschaftstheoretische Entwicklung vom Positivismus zum kritischen Rationalismus, Studien zur Emanzipation der Geistes- von den Naturwissenschaften sowie Erwägungen zur Hermeneutik als Methodik des Sinnverstehens, bestimmt der zweite nach einer vorhergehenden „Untersuchung der verschiedenen Formen, in denen das Selbstverständnis der Theologie sich im Verlaufe ihrer Geschichte ausgeprägt hat“25 , die
24 Vgl. R. Smend, Das alte Israel im Alten Testament, in: ders., Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 1–14, hier: 5. 25 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, 299. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Vgl. G. Wenz, Wissenschaft von Gott. W. Pannenbergs Dogmatik im Kontext von Wissenschaftstheorie und theologischer Enzyklopädie, in: ders., „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Er-
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Theologie als Wissenschaft von Gott, um anschließend ihre innere Gliederung aufzuweisen. Dabei wird der anthropologisch fundierten Theologie der Religionen die Funktion einer „Fundamentaldisziplin“ (361) zuerkannt. Als Fundamentaldisziplin der Wissenschaft von Gott fungiert die Religionswissenschaft nach Pannenberg unter der Voraussetzung, dass sie die Religionen als diejenige menschliche Lebensform betrachtet, „in der die jeweilige Erfahrung der Wirklichkeit im ganzen ausdrücklich wird“ (315), und sie „darauf befragt, inwiefern sich in ihren Überlieferungen Selbstbekundung göttlicher Wirklichkeit dokumentiert“ (317). Nur so gewinnt die Religionswissenschaft, wie von Pannenberg gefordert, den Charakter einer Theologie der Religion und der Religionen. Was das Verfahren der theologischen Prüfung der religiösen Überlieferungen anbelangt, so habe diese „am Maßstab ihres eigenen Verständnisses der göttlichen Wirklichkeit“ (322) zu erfolgen. Sie erstrecke „sich jedoch nicht nur darauf, ob die übrigen Überlieferungsinhalte der betreffenden Religion mit ihrem Gottesverständnis übereinstimmen, sondern vor allem auf die Frage, ob die betreffende Überlieferung in einer historischen Situation geleistet hat oder heute leistet, was ihr Reden von einer der Wirklichkeit mächtigen Gottheit zu leisten beansprucht, nämlich die tatsächlich erfahrene Wirklichkeit im verstehenden Umgang mit ihr zu erschließen“ (323). Dieser Prüfungsfrage habe sich auch die christliche im Verein mit der israelitisch-jüdischen Religion auszusetzen, die Pannenberg ausdrücklich nicht von der allgemeinen Religionswissenschaft absondern, sondern entschieden in ihren Zusammenhang stellen will. Die Theologie der religiösen Überlieferungen von Judentum und Christentum sind kein abgesonderter, sondern ein besonderer Fall der Theologie der Religionen, die mit Religionspsychologie, -soziologie oder -phänomenologie etc. verbunden ist, ohne auf sie reduzierbar zu sein. Ihr Status ist nach Pannenberg derjenige von „Hilfsdisziplinen“ (371), welche die „Ordnung des religionskundlichen Stoffes“ (ebd.) vorbereiten und „durch ihre Mittelstellung zwischen Empirie und begrifflicher Systematik die beiden religionswissenschaftlichen Hauptdisziplinen der Religionsphilosophie und der Religionsgeschichte“ (ebd.) vermitteln, auf denen die Theologie der Religion bzw. der Religionen basiert. Wie nahe er sein religionstheologisches Konzept damit an die Hegel’sche Philosophie der Religion heranrückt, wird von Pannenberg ausdrücklich vermerkt, wenngleich unter dem Vorbehalt, dass in der Hegel’schen Systematik der Allgemeinbegriff der Religion eine Prädominanzstellung gegenüber den geschichtlichen Religionen in ihrer Besonderheit einnehme, was zwangsläufig zu Abstraktionen führe (vgl. 369ff., Anm. 688).
öffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ Göttingen 2015, 37–55.
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Der bei aller Nähe verbleibende Vorbehalt der Hegel’schen Religionsphilosophie gegenüber wird durch die Betonung der untrennbaren Einheit der systematischen und historischen Aufgabe der Theologie sowie durch die Herausstellung des hypothetischen Charakters ihrer Theoriebildung unterstrichen. Faktisch habe „auch in Hegels Verfahren die spekulative Anschauung hypothetische Funktion. Ihre dogmatische Verfestigung ist daher sogar auf dem Boden des Hegelschen Denkens selbst unangemessen.“ (343) Denn dieses hat seiner systematischen Bestimmung nach offen zu sein für empirische Befunde, die wenn nicht abschließend verifizierbar, doch falsifizierbar sein müssen. Entsprechendes gilt von der theologischen Dogmatik. Sie ist als systematisch betriebene Wissenschaft konstitutiv auf Empirie, näherhin auf die historische Wahrnehmung des Verlaufs der Religionsgeschichte angewiesen, weil sie sich ihrem Gegenstand nicht direkt, sondern „nur indirekt“ (349) zuwenden kann. „Theologie muß systematisch verfahren, sofern sie nach der Wahrheit der religiösen Überlieferung hinsichtlich ihres religiösen Gehaltes fragt.“ (350) Sie bedarf aber der historischen Kenntnis der religiösen Überlieferungen und des in ihnen tradierten geschichtlichen Geschehens, um ihres religiösen Sinngehaltes überhaupt gewahr werden zu können. So ist das Verhältnis der systematischen zur historischen Aufgabe der Theologie, von dem der erste Abschnitt des Kapitels über die innere Gliederung der Theologie in „Wissenschaftstheorie und Theologie“ handelt, als zwar differenzierter, aber untrennbarer Zusammenhang in der Einheit von Denken und Sein zu gestalten. Die Zusammengehörigkeit von Historie und Systematik ist in Bezug auf alle religiös- religionsgeschichtlichen Erscheinungen theologisch zu behaupten, sie gewinnt aber für die jüdisch-christlichen Überlieferungen eine besondere Bedeutung, sofern diese nicht nur der Religionsgeschichte angehören, sondern reflex auf sie bezogen sind, weil die jüdische und die christliche Religion als Religionen der Geschichte zu gelten haben. Pannenberg sieht „die Besonderheit der jüdischchristlichen Traditionslinie gegenüber anderen religiösen Überlieferungsprozessen“ (370) wesentlich darin begründet, dass in Judentum und Christentum der Verlauf der Geschichte und der geschichtliche Wandel des Glaubensbewusstseins selbst elementarer Bestandteil religiöser Selbstverständigung geworden ist. Dies habe ihnen eine Offenheit auf Zukunft hin ermöglicht und größere „assimilative und integrative Kraft“ (ebd.) verliehen als etwa mythisch geprägten und an gründender Urzeit orientierten Religionen. Die spezifische Stellung von Judentum und Christentum in der Geschichte der Religionen ist nach Pannenberg dadurch gekennzeichnet, dass es sich bei diesen um Religionen der Geschichte handelt. Darin sieht er zugleich ihre wesentliche Zusammengehörigkeit und die Einheit biblischer Theologie begründet. Ihren unveräußerlichen Kontext bildet die Weltgeschichte der Religionen, ihre innere Mitte „die israelitisch-jüdische und urchristliche Religionsgeschichte“ (388). Diese „ist als ein einheitlicher Überlieferungsprozeß zu betrachten, in welchem das urchristliche
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Hineinwachsen in die Welt des Hellenismus nur als die letzte Phase einer Kette von Rezeptionen außerisraelitischer religiöser Überlieferungen in das religiöse Bewußtsein Israels erscheint: Angefangen von der kanaanäischen Religionswelt über die Berührungen mit Ägypten und Babylonien bis hin zur Symbiose der jüdischen Gemeinde mit dem Perserreich und zum langwierigen Ringen um ihre Stellung zum Hellenismus sind vergleichbare Vorgänge immer wieder aufgetreten. In diesen Prozeß haben sich jüdischer Glaube und jüdische Überlieferung immer wieder in einer neuen, eben durch jene Religionen geprägten und repräsentierten Erfahrungswelt behauptet, und zwar zumeist nicht durch Abschließung gegen sie, sondern indem sie der Eigenart jüdischen Glaubens anverwandelt wurden.“ (389f.) Die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte erweist die Religion Israels und des Judentums als die Religion der Geschichte, auf deren Traditionslinie „das geschichtliche Verständnis der Wirklichkeit überhaupt und auch die geschichtliche Untersuchung der eigenen und andere religiöse Überlieferungen allererst ermöglicht“ (370) wurde. Ohne die Überlieferungsgeschichte der israelitisch-jüdischen Religion, an welche die urchristliche anschließe, wäre es zu einer geschichtlichen Betrachtung der Welt der Menschheit und ihrer Religionen gar nicht gekommen. In diesem Sinne bildet die Religion der Geschichte die Voraussetzung der religionsgeschichtlichen Betrachtung, als deren Möglichkeitsbedingung sie fungiert. Nach Urteil Pannenbergs hat diese Feststellung keinen axiomatischen, sondern einen empirischen und entsprechend nachprüfbaren Charakter: „darin allein wird heute wohl niemand mehr eine dogmatische Befangenheit erblicken können, die den Blick für eine vorurteilslose Würdigung der Phänomene verstellen würde.“ (Ebd.) Konzeptionell ist dieser Befund von entscheidender Bedeutung, wie unschwer zu erkennen ist. Was schließlich die durch die eigene Entwicklung erschlossene religionsgeschichtliche Betrachtung der israelitisch-jüdischen (samt der urchristlichen) Religion der Geschichte anbelangt, so lässt sich ihr prozessualer Verlauf nach Pannenberg „nicht zureichend als ein nur geistesgeschichtlicher Vorgang beschreiben. Er ist vielmehr mit der politischen und sozialen Geschichte Israels und des Judentums, des Alten Orients und der Mittelmeerwelt auf das engste verbunden. Umgekehrt interessiert die politische Geschichte Israels und des Judentums sowie der urchristlichen Gemeinde im Rahmen der Theologie nicht für sich, sondern nur im Hinblick auf ihre religiöse und religionsgeschichtliche Relevanz.“ (390) Die Rekonstruktion der Geschichte der Religion(en) muss Pannenberg zufolge politisch-soziokulturelle und theologische, historische und systematischdogmatische Aspekte miteinander verbinden und vereinen, was entsprechend für eine biblische Theologie zu fordern ist, in deren Mittelpunkt die israelitisch-jüdische und urchristliche Religionsgeschichte zu stehen hat. Ziel einer biblischen Theologie müsse eine Darstellung des israelitisch-jüdischen-urchristlichen Überlieferungsprozesses sein, welche den Gegensatz einer an institutionellen Objektivationen und einer an den subjektiven Glaubensanschauungen der einzelnen Traditionsträger ori-
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entierten Perspektive ebenso hinter sich lässt wie denjenigen „einer untheologisch deskriptiven Religionsgeschichte Israels und des Urchristentums zu einer Theologie des Alten Testaments“ (392). Wiederholt wird in diesem Zusammenhang auf v. Rad und seinen Entwurf einer gesamtbiblisch ausgerichteten, überlieferungsgeschichtlich konzipierten alttestamentlichen Theologie Bezug genommen. Dies geschieht nicht unkritisch, jedoch so, dass die konstruktiven Einflüsse des v. Rad’schen Werkes auf Pannenbergs Konzept einer Theologie der Religionen und ihrer Geschichte im Allgemeinen und einer Religionsgeschichte von Judentum und Christentum im Besonderen offenkundig werden. Wie auf v. Rad, dessen Einfluss auf das Programm von „Offenbarung als Geschichte“ schwer zu überschätzen ist, hat Pannenberg im Rahmen seiner Enzyklopädie der theologischen Wissenschaft im zweiten Teil von „Wissenschaftstheorie und Theologie“ mehrmals auch auf seine „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ hingewiesen, die wenige Monate nach Publikation der Programmschrift 1961 erschienen sind. Sie nehmen inhaltlich vieles von dem vorweg, was in dem Werk von 1973 breit ausgeführt ist und antizipieren die Struktur der Argumentation, welche die dortigen Ausführungen zum Verhältnis der systematischen zur historischen Aufgabe der Theologie, zur Religionswissenschaft als Theologie der Religionen bis hin zur biblischen Theologie und darüber hinaus prägen. Vorgetragen wurden die „Erwägungen“ im Herbst 1962 anlässlich einer Tagung von Altorientalisten, Altphilologen, Althistorikern und Theologen im hessischen Berlepsch. Pannenberg will zeigen, dass die Religionsgeschichte gemäß dem religiösen Verhältnis und seinem Gegenstand „als Geschichte des Erscheinens des in der Struktur des menschlichen Daseins vorausgesetzten göttlichen Geheimnisses zu verstehen (ist), dessen Wirklichkeit und Eigenart aber im Prozeß dieser Geschichte selbst auf dem Spiel stehen“26 . Supranaturale Prämissen oder dogmatische Axiome hinsichtlich göttlicher Realität in Anschlag zu bringen, wird abgelehnt. Gleichwohl, so Pannenberg, sei der Titel einer Theologie der Religionsgeschichte insofern ein angemessener Ausdruck für die intendierte Betrachtungsweise, „als die Wirklichkeit Gottes (oder der Götter) für sie gerade der Gegenstand ihrer Beschäftigung mit der Religionsgeschichte ist“ (290). Eine ihrem Gegenstand angemessene religionsgeschichtliche Betrachtung könne nicht vom Gottesbezug des religiösen Verhältnisses absehen, weil dieser konstitutiv zu ihm gehöre. Dabei müsse er auf anthropologischer Basis und so ins Auge gefasst werden, dass die Strittigkeit des jeweiligen Glaubensstandpunkts deutlich werde. Nur in Anbetracht des geschichtlichen Wettstreits um das rechte
26 W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 3 1979, 252–295, hier: 290. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Wirklichkeitsverständnis, in dem die einzelnen religiösen Positionen untereinander stünden, lasse sich über die Einheit und Wahrheit des religionsgeschichtlichen Prozesses befinden. Dabei müsse u. a. den Wandlungen Rechnung getragen werden, denen die Religionen intern und in ihrem Verhältnis zueinander unterliegen. Pannenberg leugnet nicht, dass seine Theologie der Religionsgeschichte in jüdisch-christlicher Perspektive konzipiert ist. Der „Einfall, die Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses zu verstehen, (komme) nicht von ungefähr“ (ebd.): „Denn, wenn die religiösen Wandlungsvorgänge selbst als göttliche Erscheinungsgeschichte gedacht werden sollen, dann bedarf es ja eines Gottesverständnisses, das jenseits der Gedankenkreise fast aller der in ihren Wandlungen untersuchten Religionen liegt, sofern diese gerade für den Vorgang ihrer eigenen Verwandlung verschlossen sind. Wenn es einer Religion, die sich auf Urbildliches, Urzeitliches richtet, unmöglich ist, die Wandlungen ihrer Inhalte anzuerkennen, dann erfordert das Verstehen solcher Wandlungen offenbar einen Blickpunkt, der jenseits dieses Bannkreises liegt.“ (290f.) Dieser Blickpunkt, so Pannenberg, ist durch die religiösen Überlieferungen von Judentum und Christentum erschlossen. In ihrem Zusammenhang habe man gelernt, die Daseinswirklichkeit als eine auf ein umfassendes Ganzes hingeordnete Geschichte zu verstehen. Insofern gehörten die jüdischen und die christlichen Traditionen in den Entdeckungszusammenhang einer als religiöse Überlieferungsgeschichte zu konzipierenden Geschichte der Religion. Doch sei die jüdisch-christliche Perspektive auf die religionsgeschichtlichen Phänomene nicht im Sinne einer axiomatischen Prämisse vorgegeben, sondern selbst an deren „Sachlogik“ (290) zu prüfen. Die „Entdeckung der Geschichtlichkeit des Daseins im jüdischen und christlichen Geschichtsdenken“ (293) müsse also wie dieses den Bedingungen des eigenen Geltungsanspruchs unterstellt werden. Nach Pannenberg kommt der Religionsgeschichte Israels weichenstellende Bedeutung insofern zu, als diese im Unterschied zu den mythischen, an der Vorstellung gründender Urzeit orientierten Religionen der altorientalischen Umwelt grundsätzlich offen war für „die Zukunft ihrer eigenen Verwandlung“ (286). Sie hat damit, wenn man so will, ein geschichtliches Verständnis der Religion allererst erschlossen und den Begriff der Religionsgeschichte ansatzweise generiert. „Im Unterschied zu andern Völkern und ihren Religionen hat … Israel im Lichte seiner besonderen Gotteserfahrung die Daseinswirklichkeit als Geschichte auf ein noch nicht erschienenes Ziel hin verstehen gelernt. Die radikale Umorientierung, die in dieser Erkenntnis liegt, ist selbst erst durch einen schmerzhaften Prozeß geschichtlicher Erfahrung angebahnt worden. Verließ sich das Israel der frühen Königszeit noch auf die in der Vergangenheit geschaffenen Heilsfakten, denen es die Grundlagen seines staatlichen Eigendaseins verdankte – die Gabe des Landes und die Erwählung des Zion mit dem
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davidischen Königtum, – so wurden durch den Verlust dieser Heilsgüter seine Hoffnungen ganz auf ein zukünftiges, endgültiges Heilshandeln Jahwes gelenkt und damit die Weltgeschichte als der Weg durch das gegenwärtige Elend zu jenem noch nicht erschienenen Heil gedeutet, als die Weise, wie der Gott des künftigen Heils auch in der Gegenwart schon mächtig ist. Doch immer noch suchte Israel die grundlegende Offenbarung seines Gottes in Ereignissen der Vergangenheit, in der Gesetzgebung vom Sinai, nicht in der Zukunft seiner Herrschaft. Erst Jesus kehrte dieses Verhältnis um und setzte sich über die religiösen Traditionen seines Volkes hinweg, wo es um der kommenden Herrschaft Gottes willen nötig schien.“ (291)
Jesu Auftreten in Wort und Tat ist im Zuge prophetisch-apokalyptischer Erwartung der Endzeit ganz von der Botschaft der kommenden Gottesherrschaft bestimmt. Von ihrer Zukunft macht er sein eigenes Geschick abhängig, das sich in Kreuz und Auferstehung erfüllt. In der Auferweckung des Gekreuzigten gelangt nach Pannenberg nicht nur die Geschichte Jesu von Nazareth, sondern die Geschichte von Menschheit und Welt insgesamt in Erfüllung, weil sich an Ostern „das Ende alles Geschehens vorweg ereignet“, wie es in der zentralen vierten, der „Dogmatischen Thesen zur Lehre der Offenbarung“ in der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ heißt27 , auf der Pannenbergs „Erwägungen seiner Theologie der Religionsgeschichte“ aufbauen und zu der sie zurücklenken. Mit dem Osterereignis der Auferweckung des Gekreuzigten ist Pannenberg zufolge die Endzeit angebrochen, das Eschaton antizipiert und mit der Religionsgeschichte überhaupt die Traditionsgeschichte der israelitisch-jüdischen Religion zur Vollendung, aber nicht zum Stillstand gebracht, weil das österliche Perfekt nicht verschlossen ist in sich selbst, sondern in der Kraft des göttlichen Geistes aufgeschlossen für die universale Heilszukunft von Menschheit und Welt, die als Zukunft des in Jesus Christus proleptisch offenbarten Gottes zu verkünden die Kirche von dem Auftrag her bestimmt ist, welcher ihr Wesen ausmacht. Wie sich die ekklesiologische Wesensbestimmung der Kirche zur Erwählung des Gottesvolkes Israel verhält und welche religiös-theologische Bedeutung diesem auch nach Ostern christlicherseits zuzuerkennen ist, hat Pannenberg wiederholt und an verschiedenen Stellen erörtert, worauf aufgrund der Themenstellung hier nicht einzugehen ist. Vermerkt sei nurmehr, welche Stellung er der Kirchengeschichte im Zusammenhang seiner Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften zudenkt.
27 Ders., Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte (1961) Göttingen 3 1965, 91; bei P. gesperrt.
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Die Kirchengeschichte ist nach Pannenberg „die Religionsgeschichte des Christentums“28 und ihr Thema „die Geschichte einer Religion, die durch den Glauben an einen in der Geschichte handelnden Gott konstituiert ist“ (398). Hinzugefügt wird, dass es sich „im Christentum nicht nur um die Geschichte Gottes mit einem besonderen Volk, sondern um die gesamte Menschheit“ (ebd.) handelt. Ob damit ein entscheidender Unterschied zur israelitisch-jüdischen Religion markiert ist, wird zu fragen sein und zwar nicht zuletzt in Bezug auf den Universalisierungsanspruch, welchen diese zu Zeiten mit dem Gedanken der Gerechtigkeit Gottes und seiner Weisung verbunden hat und noch verbindet. Für die systematische Darstellung des Christentums, auf welche die Kirchengeschichte nach Pannenbergs Enzyklopädiekonzept hinführt, ist diese Frage von nicht geringer Bedeutung. Sie wird deshalb im Verein mit derjenigen nach dem Verhältnis von „Begriff und Geschichte“ (423) auch Hegel zu stellen sein, der, wie Pannenberg im Anschluss an Michael Theunissen konstatiert (vgl. 439, Anm. 836), der Philosophie die Aufgabe gestellt hat, die in Jesus Christus geschichtlich vollbrachte und im Geist der Gemeinde wirksam bezeugte Versöhnung Gottes und des Menschen zu begreifen sowie sich selbst als Moment des Versöhnungsprozesses zu verstehen, dessen Perfekt zwar mit der österlichen Selbstoffenbarung Gottes bereits gegeben ist, in der Geschichte der Welt aber noch aussteht, so dass auch der österliche Christus seine Zukunft in bestimmter Weise noch vor sich hat, ohne deshalb der Vergangenheit zu verfallen und aufzuhören, perfekt zu sein. 1.3 Begriff und Geschichte Wer in der Mitte des 20. Jahrhunderts und in den Jahren danach in Deutschland evangelische Theologie studierte, dessen Verständnis der Geschichte Israels und der Theologie des Alten Testaments wurde, wie erwähnt, wesentlich von Albrecht Alt und insbesondere durch seine beiden Meisterschüler Martin Noth und Gerhard v. Rad geprägt. Wolfhart Pannenberg stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Insbesondere v. Rad hatte es ihm angetan. Nach Besuch einiger Lehrveranstaltungen des Meisterexegeten fiel der Groschen, wie Pannenberg in einem autobiographischen Rückblick notierte. „I discovered a new world, the traditions and history of ancient Israel, because von Rad was unique in communicating to his audience its exotic charm: the mind of ancient Israel was presented as exotic, but at the same time as more real than the world of our modern experience. In this way the Old Testament, through the aesthetic skill of von Rad’s exegesis, came alive in the hearts of
28 Ders., Wissenschaftstheorie und Theologie, 395; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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innumerable students.“29 Einen Beleg hierfür liefert Pannenberg selbst, insbesondere durch das intensive Studium der zweibändigen „Theologie des Alten Testaments“ von Rads, von der sein Handexemplar kündet.30 Zwar finden sich am Rande eine Reihe von Fragezeichen, die zeigen, dass die Lektüre nicht unkritisch erfolgte, aber insgesamt überwiegen doch die Zeichen, die Zustimmung signalisieren. Sie häufen sich dort, wo v. Rad in prinzipieller Absicht von der unauflöslichen Verbindung von Theologie und Geschichte im alttestamentlichen Überlieferungszusammenhang handelt, wie etwa im Vorwort zum zweiten Band seines opus magnum (II, 5–13). Pannenberg findet es, wie am Rande notiert, richtig, wenn v. Rad die Einheit von wirklicher und gedeuteter Geschichte im Alten Testament betont und die Gegenüberstellung beider für „unhaltbar“ (II,9) erklärt. Er unterstreicht mit Nachdruck die These einer unauflöslichen Bindung der religiösen Überlieferungen an „Geschichtsfakten“ (II,11) und die Annahme, dass Geschichte kein „Akzidens der Offenbarung“ (II,12), sondern der „Ort des wirklichen Handelns Gottes“ (ebd.) sei. Dass dabei unter Geschichte nicht lediglich eine Ansammlung von bruta facta, sondern „Traditionsgeschichte“ (ebd.) zu verstehen ist, gilt als ausgemacht. Neben den grundsätzlichen Überlegungen zu Beginn des zweiten Bandes haben v. Rads methodische Vorerwägungen am Anfang des II. Hauptteils des ersten Bandes Pannenbergs besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen und zwar vor allem diejenigen zum Gegenstand einer Theologie des Alten Testaments (vgl. I,111ff.). Als fraglich erscheint ihm die Unterscheidung, die v. Rad zwischen der „eigentlich theologische(n) Aufgabe am Alten Testament“ (I,111) und der „allgemein religionswissenschaftlichen“ (ebd.) sowie zwischen der vom Glauben wahrgenommenen und der historisch-kritisch verifizierbaren Geschichte vornimmt. Zustimmung findet dagegen die Annahme, dass die Faktizität der vom Glauben in Anschlag gebrachten Geschichtstatsachen auf künftige Bewährung angelegt sind, ohne die über ihre Wahrheit nicht abschließend zu befinden ist. Im Grundlegungsteil des Bandes zur Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels hatte v. Rad eigens von Israels Vorstellungen von der Zeit und der Geschichte sowie von der Eschatologisierung des hebräischen Geschichtsdenkens gehandelt. Nach seinem Urteil ist die Konzeption von der Geschichte als einer gottgeleiteten, sich nicht in Kreisläufen sempiterner Wiederkehr des Gleichen erschöpfender, sondern linear und unumkehrbar verlaufenden „Geschichte, die Israel in Jahrhunderten nach ganz verschiedenen Richtungen theologisch ausgestaltet hat, … eine der größten Leistungen dieses Volkes“ (II,121). Keine altorientalische Religion habe „die Dimension der Geschichte so erfaßt wie Israel“ (II,123), das 29 Ders., An Autobiographical Sketch, 14. 30 Vgl. Pannenberg-Bibliothek 03773/4, wo sich die Bandausgaben von 1957 und 1960 befinden (vgl. oben Anm. 13). Darauf beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt die nachfolgenden Seitenverweise im Text.
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durch diese Einsicht „von seiner Umwelt radikal geschieden“ (ebd.) sei. Pannenberg konnte dem nur zustimmen, wie seine Unterstreichungen und Beifallskundgebungen am Rande des Textes beweisen. Zustimmung fand auch v. Rads Feststellung, dass Israel zwar keineswegs sofort, aber doch allmählich und nach einem längeren Erkenntnisprozess dazu gelangte, „das universale Weltgeschehen als Geschichte zu begreifen“ (II,120). Erstmals sei dies im apokalyptischen Danielbuch gelungen. Die Eschatologisierung des israelitischen Geschichtsdenkens, das im Buche Daniel weltgeschichtliches Format annehmen sollte, sieht v. Rad tendenziell schon bei den Propheten gegeben. Bereits für sie sei die „Hinwendung auf die Zukunft“ (II,127) und auf ein Neues charakteristisch, das über alles Herkommen grundsätzlich hinausweist. Wie es in Jes 43,18f. als dem Wort heißt, das v. Rad dem zweiten Band seiner „Theologie des Alten Testaments“ als Motto vorangestellt hat: „Gedenket nicht an das Alte und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ICH will ein Neues machen.“ Obwohl er Traditionskontinuen zwischen Prophetie und Apokalyptik nicht nur nicht in Abrede stellt, sondern selbst in Anschlag bringt, hält v. Rad das apokalyptische mit dem prophetischen Geschichtsverständnis für prinzipiell unvereinbar, wie in dem Daniel gewidmeten Kapitel ausdrücklich gesagt wird (vgl. II, 314ff.). In der erweiterten Fassung dieses Kapitels in der Viertauflage der „Theologie des Alten Testaments“, das zusammen mit dem „Rückblick und Ausblick“ am Ende des Buches Pannenberg in Form eines Sonderdrucks vorlag, hat er diese Auffassung unterstrichen und erneut betont, „daß in der Apokalyptik aufgrund von ganz anderen theologischen Voraussetzungen eine Konzeption von dem göttlichen Geschichtswalten auf den Plan getreten ist, die sich von der der Propheten grundsätzlich unterscheidet“31 . Er hat es aber nicht bei diesem Satz belassen, sondern einen weiteren hinzugefügt: „Darüber, ob diese Geschichtskonzeption als eine notwendige Gegenaussage und als ein Durchbruch zu neuen Horizonten zu verstehen sei, oder als eine beeinträchtigende Überfremdung des Jahweglaubens, ist die Diskussion noch lange nicht abgeschlossen.“32 Pannenberg und die Mitglieder seines Kreises haben sich intensiv an dieser Diskussion beteiligt und in Bezug auf Daniel und die Apokalyptik nicht nur in traditionsgeschichtlicher Hinsicht anders optiert als ihr alttestamentlicher Lehrmeister. Die Apokalyptik war im Heidelberger Pannenbergkreis vor allem aus zwei Gründen ein Thema erster Ordnung: wegen ihrer universalgeschichtlichen Orientierung und – in enger Verbindung damit – wegen ihrer „Erwartung einer allgemeinen Auferstehung zuerst – wie es scheint – nur der Frommen (Jes. 26,19), dann einer
31 G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments. Bd. II: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 4 1965, 322. 32 Ebd.; vgl. den Verweis auf D. Rössler in Anm. 14.
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Auferstehung aller, der einen ‚zu ewigem Abscheu‘, der anderen zum ‚ewigen Leben‘ (Dan. 12,1–3)“ (I,405). Die apokalyptische Auferstehungserwartung und Annahme einer endzeitlichen Scheidung war in v. Rads „Theologie des Alten Testaments“ nur ein Randthema, das einen „tiefgreifenden Wandel“ (ebd.) gegenüber den bisherigen geschichtlichen und prophetischen Überlieferungen Israels indizierte. Im Kreis um Pannenberg dagegen betonte man viel stärker die traditionsgeschichtliche Kontinuität und zwar nicht zuletzt wegen der „Vergegenwärtigung des Alten Testaments im Neuen“ (vgl. II,329ff.), die im Schlussteil der v. Rad’schen „Theologie des Alten Testaments“ thematisiert wurde. In diesem Zusammenhang wurde zur Zufriedenheit Pannenbergs noch einmal die Eigentümlichkeit betont, „daß Israel im Gespräch mit seinem Gott gelernt hat, seine Welt und seine Geschichte, d. h. seine Welt als Geschichte zu erkennen und zu benennen“ (II, 365f.), zugleich aber beklagt, „daß uns heute für diese vorbereitende Funktion der alttestamentlichen Heilsgeschichte eine saubere Begrifflichkeit noch fehlt“ (II,368). Hier wollten Pannenberg und die Mitglieder des Heidelberger Kreises Abhilfe schaffen und zwar nachgerade dadurch, dass sie das Christusgeschehen und das österliche Urdatum des Christentums aus einem apokalyptischen Kontext heraus als Vorwegereignung der universalgeschichtlichen Endzeit und der endzeitlichen Totenauferstehung zu begreifen suchten. Auch die Gesetzesthematik, mit der v. Rad seine „Theologie des Alten Testaments“ beschloss, sollte in diese Rahmenbedingungen eingezeichnet und unter ihrer Voraussetzung verstanden werden, wie an D. Rösslers alttestamentlicher Dissertation „Gesetz und Geschichte. Untersuchungen zur Theologie der jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie“ an späterer Stelle zu belegen sein wird. Gerhard v. Rads „Theologie des Alten Testaments“ endet mit einem Wort, das man als eine Prolepse der späten Wendung ihres Autors zur „Weisheit in Israel“33 interpretieren könnte: „Es gibt“, so heißt es, „überhaupt keine normative Deutung des Alten Testaments. Jede Zeit muß von ihrer Erkenntnis und von ihren Notwendigkeiten her das Wort des alten Buches zu hören suchen.“ (II, 424) Man kann diese Sätze im Sinne einer Selbstanwendung des hermeneutischen Prinzips lesen, das v. Rads überlieferungsgeschichtlich konzipierte „Theologie des Alten Testaments“ durchgängig bestimmte: Die Geschichte Jahwes mit seinem Volk war „von vornherein darauf angelegt“ (II, 375), immer neu gedeutet zu werden: „Ihre eigentümliche Offenheit auf eine Zukunft hin forderte solche Neuinterpretationen von seiten der Späteren geradezu heraus …“ (Ebd.) Entsprechendes gilt, wie es scheint, nicht nur für das Alte Testament, sondern auch für die alttestamentliche Wissenschaft. Ihr aktuelles Mehrheitsurteil über die Altschule bestätigt dies; es lässt sich als Erfül-
33 Ders., Weisheit in Israel, Neukirchen 1970, vgl. I, 439ff: Die theologische Weisheit Israels. Die Skepsis.
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lung der Weissagung v. Rads und als Bewahrheitung seiner weisheitlichen Skepsis gegenüber der Beständigkeit des eigenen Werkes verstehen. Nach Urteil eines bewährten Historiographen seiner Wissenschaft besteht bei aller in historischer Hinsicht gebotenen Skepsis „(k)ein Zweifel: die Epoche der alttestamentlichen Wissenschaft, in der Alt, Noth und v. Rad dominierten, ist abgeschlossen, wie 1914 die Epoche Wellhausen abgeschlossen war.“34 So werde, um ein Beispiel zu geben, heute von beinahe niemandem mehr „die lange Zeit hindurch kaum angefochten(e)“35 Annahme Noths vertreten, wonach sich die Stämme Israels nach Inbesitznahme ihrer Territorien in Form eines entsprechend auch in Griechenland und Italien nachweisbaren Amphyktiomiemodells organisiert hätten. Mit der These eines vorstaatlichen Gemeinwesens, das in der Verehrung eines einzigen Gottes an einem zentralen, von allen Stämmen beständig oder im Wechsel versorgten Zentralheiligtum ihren äußeren und inneren Zusammenhalt fand, sei die Basis für weitere – einstmals verbreitete – Vorstellungen bezüglich der Frühgeschichte Israels dahin. Zwar habe sich nach Auffassung vieler die von Noth im Anschluss an Alt vertretene Ansicht bewährt, dass die im Alten Testament als kriegerisch charakterisierte „Besetzung Kanaans im wesentlichen einen allmählichen, friedlichen Übergang von halbnomadischer zu seßhafter Lebensweise bedeute und daß Erzählungen wie die von den Erzvätern allenfalls lokale Erinnerungen verstreuter und unabhängiger Stammesgruppen enthielten, die sich erst … später zusammenschlossen“36 ; aber in welcher Form dieser Zusammenschluss erfolgte und wie das Alte Israel zu einer Einheit fand, ist wieder eine offene Frage. Verbunden ist die forschungsgeschichtliche Entwicklung der alttestamentlichen Wissenschaft mit dem Zurücktreten von Themen, „die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren (sc. des 20. Jahrhunderts) ein lebhaftes Interesse fanden. Dazu gehören die heute fast vergessenen (Re-)Konstruktionen hypothetischer Feste und kultischer Begehungen als ‚Sitze im Leben‘ zahlreicher berichtender und beschreibender Texte in Prosa und Poesie.“37 Wie auch immer: Die Geschichte und insbesondere die Religionsgeschichte des vorstaatlichen sowie in Teilen des vorexilischen Israel überhaupt ist erneut in hohem Maße zum Problem geworden. Klare, von einer Mehrheit von Forschern vertretene Alternativen zur Sicht der Vertreter der Altschule zeichnen sich allenfalls in Umrissen ab; jedenfalls in der deutschsprachigen Forschung herrscht „ein Methoden- und Meinungspluralismus von bislang nicht bekannten Umfang“38 . Dennoch steht fest: nur noch einzelne
34 R. Smend, Albrecht Alt, 676. 35 S. Herrmann, Art. Geschichte Israels, in: TRE 12, 698–740, hier: 707. 36 J. W. Rogerson, Art. Bibelwissenschaft I/2, 1–5: Geschichte und Methoden, in: TRE 6, 346–361, hier: 356. 37 B. J. Diebner, Art. Bibelwissenschaft I/2,6: Geschichte und Methoden, in: TRE 6, 361–374, hier: 361. 38 A.a.O., 367.
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schließen, was die Geschichte des Alten Israel betrifft, an „Noths langjähriges, nun aber doch“ – wie es scheint – „überholtes Standardwerk an“39 . Auch Gerhard v. Rads opus magnum von 1957/60, von dem „die bedeutendsten Anstöße zur Behandlung der alttestamentlichen Theologie in der jüngsten Phase der Diskussion ausgegangen sind“40 hat seine Standardstellung verloren, wobei offenbleiben kann, ob dies allein oder im Wesentlichen durch Faktoren historischer Forschung oder durch andere Motive bedingt war. Auch in der alttestamentlichen Wissenschaft hat sich mittlerweile das Bewusstsein dafür verfeinert, dass in allen Epochen „die Fragen der Forschung und die von ihr gefundenen Antworten den Geist der jeweiligen Zeit“41 widerspiegeln. Ein Indiz dafür ist die „bereits seit dem Ende der fünfziger Jahre (sc. des 20. Jahrhunderts) neben der Erforschung der Quellen zu beobachtenden Tendenz zur ‚Sekundärforschung‘ – zur Aufarbeitung der Forschungsgeschichte besonders seit dem 18. und 19. Jh.“42 . Ein kompetenter Sekundärforscher der besagten Art ist der eingangs zitierte Rudolf Smend. Wer sich „über die Epochen der Bibelkritik“ seit Johann Gottfried Eichhorn kurz und bündig informieren möchte, der lese Smends gleichnamigen Artikel, der in der Sammlung historischer Aufsätze zu „Bibel und Wissenschaft“ erschienen ist. Sehr interessant sind u. a. die Überlegungen zu den Beweggründen der Entwicklung innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft. Als ein entscheidendes Motiv der Forschungen Albrecht Alts und seiner Schüler wird das Bestreben angegeben, die durch die Wellhausen’sche Literarkritik und die Spätdatierung umfänglicher Teile des Alten Testaments „scheinbar einigermaßen leer geworden(e)“43 „vorexilische Periode der israelitischen Geschichte“44 historisch wieder zugänglich zu machen und mit theologischen Inhalten zu füllen. Schon Repräsentanten der Religionsgeschichtlichen Schule seien auf ihre Weise in dieser Richtung unterwegs gewesen. Auf ihren Bahnen hätte S. Mowinckel die von Wellhausen durchgängig nachexilisch datierten Psalmen in Teilen mit einem vorexilischen Thronbesteigungsfest Jahwes in Verbindung gebracht45 , und Alt und seine Schüler seien auf diesem Wege weiter vorwärts geschritten, um die Geschichte des vorexilischen Israel und seine Theologie zu neuem Leben zu erwecken. Doch seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts sei eine Gegenbewegung in Gang gekommen und das
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A.a.O., 365. W. Zimmerli, Art. Biblische Theologie I. Altes Testament, in: TRE 6, 426–455, hier: 443. B. J. Diebner, a.a.O., 370. A.a.O., 369. R. Smend, Über die Epochen der Bibelkritik, in: ders., Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 28–50, hier: 46. 44 Ebd. 45 Vgl. Smends Beiträge zu Mowinckel und Noth a.a.O., 159ff.
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Bedürfnis größer geworden, die Geschichte des vorexilischen Israel und die Theologie des Alten Testaments in Abkehr von Noth und v. Rad neu zu konzipieren, wobei gelegentlich der Eindruck einer Wellhausen-Renaissance und einer Rückkehr zu den von ihm favorisierten Methoden zu verzeichnen sei. Um mit dem Psalmisten und mit Rudolf Smend zu reden: „Ihre Stätte kennt sie nicht mehr“ (Ps, 103,16): Es stehe „zu befürchten, daß dieses Psalmwort allmählich auch auf die Mehrzahl der überlieferungsgeschichtlichen und geschichtlichen Thesen Albrecht Alts und seiner Schüler zutrifft, die in der Jahrhundertmitte die Diskussion beherrschten …“46 Smends Ende des 20. Jahrhunderts geäußerte Befürchtung oder Erwartung darf zwanzig Jahre danach als im Wesentlichen bestätigt gelten. Was tun? Vielleicht ist es an der Zeit, im Kontext der alttestamentlichen Wissenschaft und unter Konzentration auf das Verständnis der israelitisch-jüdischen Religion und ihrer vorchristlichen Geschichte erneut und beispielhaft das Problem des „Verhältnisses zwischen Begriff und Geschichte“47 zu erörtern, das im Zentrum von Pannenbergs Werk „Wissenschaftstheorie und Theologie“ steht und sein Bemühen um eine rechte Zuordnung systematischer und historischer Arbeit bestimmte. Paradigmatischer Bezugspunkt der Urteilsbildung war dabei in Kritik und Konstruktion von Anbeginn Hegels Philosophie und insbesondere die Hegel’sche Philosophie der Religion, wie die im unmittelbaren Anschluss an die programmatischen Thesen von „Offenbarung als Geschichte“ vorgetragenen Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte bekunden. Der frühe Text ist auf das Projekt einer „Theologie der Vernunft“ angelegt, dass Pannenberg bei Zeiten verfolgt hat.48 Absicht war es, die Vernunft in der Religion aufzuweisen. In dieser Intention trifft sich Pannenbergs Programm mit demjenigen, das Hegel in seiner Philosophie der Religion und ihrer Geschichte verfolgt, auch wenn sich in der Durchführung die Wege trennen. In Hegels Philosophie waren nach Pannenberg die seither auseinandergetretenen Aspekte religionswissenschaftlicher Betrachtung noch „zu einem Gesamtbild“49 verbunden und Religionsgeschichte und Religionsphilosophie eins. „In der Folgezeit machte die empirische Kenntnis der fremden Religionen, die allerdings bereits von Hegel in für seine Zeit erstaunlichem Umfang verarbeitet worden war, gewaltige Fortschritte, das religionskundliche Material schwoll an,
46 Ders., Richtungen. Ein Rückblick auf die alttestamentliche Wissenschaft im 20. Jahrhundert, in: ders., a.a.O., 265–28ß, hier: 278. 47 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 423. 48 Vgl. G. Wenz, Theologie der Vernunft. Zum unveröffentlichten Manuskript einer Vorlesung Wolfhart Pannenbergs vom SS 1969, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 355–377. 49 W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, 257; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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damit wuchsen die Anforderungen an die Differenziertheit seiner systematischen Ordnung. Doch der Evolutionsgedanke ermöglichte noch eine Zeitlang unterschiedliche Theorien der Religionsgeschichte im ganzen, die jeweils zugleich ein Gesamtverständnis der Religion, ihrer Ursprünge und ihrer höchsten Entfaltung, implizierten. Erst mit dem Verzicht auf Gesamtkonzeptionen des Verlaufs der Religionsgeschichte fielen Religionsgeschichte und Religionsphilosophie endgültig auseinander.“ (258) Pannenberg ist nicht bereit, sich mit diesem Sachverhalt abzufinden oder sich im Sinne einer vergleichenden Religionsforschung auf den Nachweis analoger Strukturen in den religiösen Verhältnissen der Menschen zu beschränken, ohne die Wahrheitsfrage und die Frage nach der Wirklichkeitserschließung der Religionen zu stellen. Insoweit geht er mit Hegels Religionsphilosophie konform. Bedenken werden in Bezug auf deren logische Basis und auf die Art und Weise geäußert, in der Hegel eine religiöse Erscheinungsgestalt mit jeweils einer Entwicklungsstufe der Religionsgeschichte identifiziert, ohne innere Wandlungen zu berücksichtigen. Jede Konzeption der Religionsgeschichte müsse unzureichend bleiben, die – wie die Hegel’sche – „die einzelnen Religionen als je in sich geschlossene, mehr oder weniger unveränderliche Typen behandelt und sie nur untereinander durch eine geschichtliche Abfolge verbunden sein läßt“ (263). Das typisierend-typologische Verfahren Hegels kann nach Pannenbergs Urteil nicht überzeugen. „Seine Religionsphilosophie stellte jede der großen Religionen als einen bestimmten Typus der Religion überhaupt dar auf dem Wege ihres geschichtlichen Selbstwerdens von der Naturreligion zur Geistesreligion, in einem Prozeß stufenweiser Erhebung des Geistes über die Natur. Von einer Geschichte der einzelnen Religionen für sich war bei Hegel kaum die Rede.“ (263f.) Dass es sich dabei um ein Defizit handelt, liegt auf der Hand. Doch scheint der Schaden behebbar und in einigen Fällen wenn nicht von Hegel selbst, so doch von Hegelschülern tatsächlich behoben worden zu sein, wie unter Bezug auf die jüdische Religion am Beispiel Wilhelm Vatkes aufgezeigt werden soll. In Gerhard v. Rads „Theologie des Alten Testaments“ wird auf Vatke wiederholt und an prominenter Stelle Bezug genommen. Im Vorwort des zweiten Bandes wird er als derjenige hervorgehoben, mit dessen Werk von 1835 der, wie es heißt, geistesgeschichtlich orientierte Zweig biblischer Wissenschaft „zum ersten Male in großer Form auf den Plan getreten“ (II, 5) sei. Vatke habe „die geistig-religiöse Entwicklung Israels als ein Ganzes, d. h. als einen folgerichtigen Ablauf in den Griff zu bekommen (versucht), wobei zutagetreten sollte, wie sich in dem scheinbar Besonderen doch immer zugleich das Allgemeine der menschlichen Religion manifestierte“ (ebd.) V. Rad begegnet Vatkes Unternehmen mit Respekt, ohne an es anschließen zu wollen. Zu massiv sind die Vorbehalte Hegel gegenüber, als dessen Schüler sich Vatke verstand. Auch das Verhältnis zwischen diesem und Wellhausen wird unter dem besagten Gesichtpunkt betrachtet, wobei das Ergebnis der Betrach-
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tung nicht eindeutig ausfällt. Einerseits wird der Weg von ersterem zu letzterem als Vollzug einer Befreiung bezeichnet, „nämlich einer Befreiung aus dem Gefängnis religionsphilosophischer Fragestellungen, unter deren Diktat das Alte Testament doch noch wenig zum Reden kam“50 . Andererseits soll auch noch Wellhausen zu seinem Schaden „letztlich von Hegel stark beeinflußt“51 gewesen sein. „Aber was bei Vatke von Hegel stammte, hatte er (sc. Wellhausen) gerade nicht übernommen“52 , hört man von Seiten Rudolf Smends. „Die Motive und Maßstäbe seiner eigenen Geschichtsschreibung waren dem spekulativen System so fern wie damals möglich“53 . Dies ist richtig – anders als v. Rads Vermutung eines dauerhaften Hegelianismus von Wellhausen es nahelegt. Aber muss man es für selbstverständlich erachten, dass diese Feststellung in jeder Hinsicht für Wellhausen und gegen Vatke spricht? Smends ehemaliger Göttinger Kollege Lothar Perlitt54 wollte diese Frage jedenfalls nicht ohne weiteres bejaht wissen, als er die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen und historiographischen Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Vatke und Wellhausen untersuchte. Es spricht vieles dafür, dass Vatke mehr und anders war als das „entscheidende Zwischenglied zwischen de Wette und Wellhausen“55 , obwohl auch diese Stellung in der Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft nicht zu verachten ist. Pannenbergs Einwand gegen Hegel, dieser habe wie die einzelnen Religionen überhaupt, so auch die Religion des Judentums unter Abstraktion von ihrem geschichtlichen Werden und vom Wandel ihrer historischen Erscheinungsgestalt auf einen spezifischen Typus reduziert, lässt sich so gegen Vatke eindeutig nicht vorbringen, weil er eine der wesentlichen Aufgaben seines Werkes über „Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern entwickelt“ darin sah, Genese und Entwicklungsverlauf der im Werden begriffenen israelitisch-jüdischen Religion zu rekonstruieren. Er wollte dies erklärtermaßen durch Verbindung von historischer und systematischer Arbeit leisten, die er auf differenzierte Weise zu vereinen trachtete. Einen vergleichbaren Anspruch hatte übrigens schon Hegel hinsichtlich seiner Lehre von den Religionen in ihrer geschichtlichen Bestimmtheit
50 G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments. II. Band: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen, München 4 1965, 438. 51 Ders., Theologie des Alten Testaments. I. Band: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 1957, 119. 52 R. Smend, Julius Wellhausen, in: ders., Kritiker und Exegeten. Portraitskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, 343–356, hier: 351. 53 Ebd. Vgl. auch: F. Boschwitz, Julius Wellhausen. Motive und Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung, Darmstadt 1968. 54 Vgl. R. Smend, Lothar Perlitt (1930–2012), in: ders., a.a.O., 925–933. 55 Ders., Johann Gottfried Herder (1744–1803), in: ders., a.a.O., 154–175, hier: 174.
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erhoben. Dieser Anspruch ist mit dem Pannenberg’schen Verdikt zu konfrontieren, wonach die religionsgeschichtliche Typenreihung, die Hegel vornehme, durch logische Vorgaben apriorisch determiniert und weder in Bezug auf die einzelnen Typen noch in Bezug auf ihre Abfolge einer historisch-kritischen Verifizierung zugeführt worden sei. Hegel hätte diesen Vorwurf vermutlich zurückgewiesen. Nichtsdestoweniger bleibt sein Verständnis der Religionsgeschichte von der Annahme getragen, diese könne auf logischer Basis dergestalt strukturiert werden, dass Idee und Historie konvergierten56 und die religionsgeschichtliche Entwicklung sich als zielgerichtet und innerlich eins zu erkennen gebe. Der Begriff der Religion im Allgemeinen und derjenige der israelitisch-jüdischen im Besonderen ist im Werden begriffen und nur als im Werden begriffen zu begreifen, sagt Hegel und entsprechend auch Pannenberg. Die Kontroverse beginnt und endet bei der Frage, ob ein geschichtsoffenes Begreifen sich im Begriff des Begriffs und in absoluter Weise zu vollenden vermag oder stets Vorgriff bleibt, der in hypothetischer Prolepse das geschichtliche Sinnganze zu antizipieren sucht. Einer der Gründungsmitglieder des Heidelberger Pannenbergkreises, der Alttestamentler und Apokalyptikforscher Klaus Koch, hat einmal gesagt, man könne versucht sein, „Hegel den Daniel des 19. Jahrhunderts“57 zu nennen, weil er wie kein anderer Philosoph seiner Zeit geschichtlich gedacht und die Geschichte zum Gegenstand seines Denkens gemacht habe. Umgehend fügte Koch jedoch hinzu, dass zwischen dem idealistischen Geschichtsphilosophen und dem Apokalyptiker
56 Vgl. W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 361–436, bes. 386ff. Besonders virulent wurde der Streit um beider Verhältnis spätestens mit dem Erscheinen der Schrift über „Das Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß 1835 (D.F. Strauß, das Leben Jesu kritisch bearbeitet. 2 Bde. Tübingen 1835–1836. Zum systematischen Verhältnis von „Leben Jesu“ und Straußens Werk „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft“ von 1840/41 vgl. F.W. Graf, Kritik und Pseudospekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982, 211ff.) Strauß hatte, was man bisher für die geschichtlichen Grundlagen der christlichen Religion hielt, zum Mythos erklärt und einer historischkritischen Analyse mit in wesentlichen Teilen negativem Resultat ausgesetzt. In seiner Wahrheit zu erweisen sei das Christentum, wenn überhaupt, nur auf gedankliche Weise und nach Maßgabe des philosophisch-spekulativen Begriffs. Auch manche Gegner von Strauß, die man im Unterschied zu ihm nicht den Links-, sondern den Rechtshegelianern zuzurechnen gewohnt ist, schlugen die „Flucht in den Begriff “ (W. Jaeschke, a.a.O., 388; vgl. F.W. Graf/F. Wagner [Hg.], Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982) ein, um den vermeintlich oder tatsächlich desaströsen Folgen historischer Kritik zu entgehen und ihr Heil in spekulativen Gedanken zu finden, deren Inhaltsidentität mit der dogmatischen Tradition sie behaupteten. 57 K. Koch, Europa, Rom und der Kaiser vor dem Hintergrund vor zwei Jahrtausenden Rezeption des Buches Daniel, Hamburg 1997, 156.
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bei aller Vergleichbarkeit ein gravierender Unterschied bestehe, der den bei ersterem zu konstatierenden Ausfall der futurischen Eschatologie betreffe: „Für ihn (sc. Hegel) ist das eschatologische Ziel der Geschichte in seiner Gegenwart bereits realisiert.“58 In Bezug auf unsere wird man dies nicht sagen können.
58 Ebd. Vgl. dazu G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 15–70, bes. 52ff.
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Religion der Erhabenheit. Hegels Begriff des Judentums
2.1 Philosophie der Religion und ihrer Geschichte Obwohl die Geschichte Israels, deren Schauplatz „der höchstens 150km breite Kulturlandstreifen zwischen dem Ostrand des Mittelmeeres und der syrisch-arabischen Wüste“59 bildet, erst viel später begann als etwa diejenige des pharaonischen Ägypten oder der Imperien im Zweistromland von Euphrat und Tigris, reichen ihre (im Einzelnen schwierig zu rekonstruierenden) Anfänge doch ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurück. Von Judentum zu sprechen hingegen ist frühestens ab einer Zeit sinnvoll, in der „jene inneren Kräfte wirksam wurden, die jüdische Existenz unabhängig vom Bestand eines zentralen Heiligtums und dem Leben in einem eigenen Land ermöglichten. Das ist wohl seit dem babylonischen Exil und der persischen Zeit der Fall.“60 Aus dieser Feststellung geht bereits hervor, dass der Begriff des Judentums primär nicht territorial oder ethnisch, sondern durch eine Religionskultur bestimmt ist, die zu Land, Volk und zur Verfassung des Gemeinwesens zwar in einer bestimmten Beziehung steht, ohne von dieser Relation konstitutiv abhängig zu sein.
59 S. Herrmann, Art. Geschichte Israels, in: TRE 12, 698–740, hier: 699. Zu den territorialen und ethnischen Voraussetzungen und zur Zeit bis zur Niederlassung israelitischer Stämme im Lande Kanaan vgl. im Einzelnen a.a.O., 699–711, zum Zeitalter der Monarchien, a.a.O., 711–723. Mit dem Babylonischen Exil in den Jahren 597 und dann vor allem 587/86 v. Chr. wird ein neues Kapitel in der Geschichte Israels aufgeschlagen. Zum Begriff Israel, „der zum zentralen Stichwort für die Identität verschiedener Strömungen im Judentum und im Christentum wurde“ und zu seinen diversen Bestimmungen vgl. R. Albertz, C. Thoma, H. Hübner, W. Kickel, Art. Israel, I. Altes Testament; II. Frühes und rabbinisches Judentum; III. Neues Testament. IV. Moderne Zeit, in: TRE 16, 368–393, hier: 368. Ferner: K. Weingart, Stämmevolk – Staatsvolk – Gottesvolk. Studien zur Verwendung des Israel-Namens im Alten Testament, Tübingen 2014. Zur Landesbezeichnung Judäa, die „auf den hebräischen Stammesnamen Juda zurück(geht)“, und zum Namen Palästina („Land der Philister“) vgl. K. Holum, Art. Palästina, in: TRE 25, 591–599, hier: 591. 60 F. Dexinger, Art. Judentum, in TRE 17, 331–377, hier: 332f. Zur jungen Universitätsdisziplin der Judaistik als Wissenschaft des Judentums vgl. G. Stemmberger, Art. Judaistik, in TRE 17, 290–296. Was den Begriff des Judenchristentums angeht, so bezeichnet er late dictu „jede christliche Vorstellung und jede(n) christliche(n) Inhalt, soweit dieser aus dem Judentum abgeleitet werden kann“ (G. Strecker, Art. Judenchristentum, in: TRE 17,310–325, hier: 311) , wohingegen er stricte dictu und üblicherweise eine „genetische Definition“ (a.a.O., 310) darstellt: „Zum Judenchristentum zählen danach die Christen, die als Juden geboren wurden.“ (A.a.O., 311) Zur Geschichte der christlichen Judenmission und ihrer Problematik vgl. P. G. Aring, Art. Judenmission, in: TRE 17, 325–330.
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Die Rede von Judentum und jüdischer Identität ist wesentlich durch den kulturellen Faktor der Religion bestimmt.61 Wie in der noch verhältnismäßig jungen akademischen Disziplin der Judaistik war daher schon in der Philosophie Hegels die Beschäftigung mit dem Judentum primär religionswissenschaftlich ausgerichtet. Zwar ist vom Judentum auch in philosophie- und weltgeschichtlicher Hinsicht oder im Rahmen der Ästhetik die Rede, aber in erster Linie im Zusammenhang der Religionsphilosophie, näherhin ihrer Lehre von den Religionen in ihrer geschichtlichen Bestimmtheit.62 Sie sucht die Religionsgeschichte als einen Prozess zu rekonstruieren, in dem sich der Begriff der Religion realisiert und zu jener Konkretion gelangt, die er in seiner anfänglichen Bedeutung nicht hat. Wie Hegel in diesem Zusammenhang das Wesen der jüdischen Religion zu erfassen sucht, wird im Folgenden anhand einer seiner Berliner Vorlesungen zum Thema, nämlich derjenigen aus dem Jahr 1827 erörtert werden. Auf die Stellung, die dem Judentum im enzyklopädischen System in welt-, kunst- und philosophiegeschichtlicher Hinsicht zukommt, soll lediglich am Rande eingegangen werden. Gänzlich ausgeblendet bleibt vorerst die historische Genese der Hegel’schen Religionsphilosophie und ihres Begriffs vom Judentum, obwohl in frühen Entwürfen der Berner und Frankfurter Zeit wie bspw. in den Studien zur Positivität der christlichen Religion sowie zum Geist des Judentums und des Christentums bereits entscheidende Weichen gestellt werden.63 Religion erhebt. Indem sie den Menschen ins Verhältnis zum Sinngrund seiner selbst und aller Welt setzt, führt sie ihn über die Schranken seines Daseins hinaus zum Unendlichen, das alles Endliche fundiert und umfasst. Dabei vollzieht sich der religiöse Transzendierungsprozess in der differenzierten Einheit von Erhobenwerden und Sicherheben, die keine Trennung von wesentlich Zusammengehörigem 61 Dabei ist allerdings mitzubedenken, dass Religion in weiten Teilen der Geschichte des Alten Israel kein soziales Subsystem darstellte wie in modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften (vgl. F. Stolz, Art. Religionsgeschichte Israels, in: TRE 28, 585–603, hier: 585f.). 62 „Zur Logik der Bestimmten Religion“ vgl. im Einzelnen den gleichnamigen Beitrag von W. Jaeschke, in: D. Henrich u. R.-P. Horstmann (Hg.), Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie in der Theorie des absoluten Geistes, Stuttgart 1984, 172–188. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Der Beitrag, der die nach R. Heedes Untersuchungen ausführlichste Stellungnahme zu den Kompositionsproblemem des zweiten Teils der religionsphilosophischen Vorlesungen Hegels enthält, ist in überarbeiteter Form wieder abgedruckt in: W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion, 274–295. In Jaeschkes Monographie sind die historischen und systematischen Voraussetzungen der spekulativen Religionsphilosophie Hegels (vgl. 18–133) und ihre Grundlegung in den Jenaer Schriften (vgl. 134–218) ebenso informativ und kenntnisreich dargelegt wie die konzeptionelle Struktur und Durchführung der Berliner Vorlesungen zum Thema (vgl. 219–360). Differenzen in der Architektonik zeigen sich nicht nur in Bezug auf die Ausführungen zu den außerchristlichen Religionen, sondern auch auf diejenigen zum Christentum als der vollendeten Religion (303ff.). Zum „Streit um die spekulative Religionsphilosophie“ vgl. 361–436. 63 Vgl. W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben-Werk-Schule, Stuttgart/Weimar 2003, 69ff., 85ff.
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kennt und nur das Unwesen in sich verkehrter Verhältnisse ausschließt, die sich mit dem widrigen Schein des Religiösen umgeben. Ihrem Wesensbegriff nach verbindet Religion Differentes, um eine Identität zu erwirken, in der die Verschiedenen eins und Endliches und Unendliches versöhnt sind. Sie vermag dies deshalb, weil das Unendliche, auf welches sich das religiöse Verhältnis bezieht, dem Endlichen gegenüber nicht verschlossen, sondern aufgeschlossen ist, um diesem einen unveräußerlichen Bestand in ihm selbst zu geben. Nicht so, als ob das Unendliche durch einen abstrakten Gegensatz zum Endlichen bestimmt wäre. Dann würde es am Endlichen sein Ende finden und seinem Begriff nicht entsprechen, sondern widersprechen. Das wahrhaft Unendliche umgreift die Differenz zum Endlichen, um dieses mit sich zu vereinen. Nach Maßgabe ihres Hegel’schen Verständnisses ist die Religion im Vollzug der Vereinigung von Endlichem und Unendlichem begriffen, indem sie vom Endlichen zum Unendlichen erhebt. In seinen Bestimmungsmomenten entfaltet hat Hegel den Begriff der religiösen Erhebung im ersten Teil seiner Philosophie der Religion mit dem Ziel, ein Elementarverständnis dessen zu entwickeln, was Kultus heißt. Im religiösen Kult sind Denken und Handeln, Wissen und Tun gleichermaßen am Werke, damit der Sinngrund aller Theorie und Praxis zur Gewissheit gelange. Konkrete Gestalt nimmt der kultische Vollzug in den besonderen Religionen an, ohne deren Verständnis der allgemeine Begriff der Religion abstrakt bleiben müsste. Um Bestimmtheit zu erreichen, bedarf der Begriff der Religion der Einsichtnahme in die religionsgeschichtliche Entwicklung. Sie ist Gegenstand des zweiten Teils der Hegel’schen Religionsphilosophie64 , bis schließlich im dritten der vollendete Begriff der absoluten Religion expliziert wird, wie er nach Hegels Urteil im Christentum als der offenbaren Religion manifest geworden ist. Systematisch grundgelegt ist Hegels Religionsphilosophie in der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 und in der zehn Jahre später erstmals veröffentlichten „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“, von der zu Lebzeiten Hegels 1827 und 1830 zwei weitere Auflagen erfolgten. In der Enzyklopädie von 1817 ist der Religionsphilosophie eine präzise Stellung im System zugewiesen. In
64 Zum Quellenmaterial, das Hegel bei der Darstellung der einzelnen Religionen verwendet hat, vgl. R. Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, Göttingen 1975. Zur jüdischen Religion vgl. 145–180; der Passus enthält eine eindringliche Analyse der Hegel’schen Jugendschriften und ihrer Fragmente zum Thema, wobei den Einflüssen von Moses Mendelssohn, Schiller und Hölderlin besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird (vgl. 145ff.); Bezüge zu den Ausführungen über das unglückliche Bewusstsein in der Phänomenologie von 1807 werden hergestellt (vgl. 166ff.), ausführliche Darlegungen zu den religionsphilosophischen Vorlesungen der Berliner Zeit geboten. Zur Frage, warum die jüdische Religion trotz ihrer universalen Anlage partikular beschränkt blieb, vgl. 177ff.
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engem Verbund mit der Kunst als dem ersten gilt die Religion als zweites Realisierungsmoment des absoluten Geistes, bis dieser im Begriff des Begriffs, wie er sich spekulativer Vernunft erschließt, zum absoluten Wissen und damit zum vollendeten Bewusstsein seiner selbst als des alles in sich aufhebenden Absoluten gelangt. Wurden in den drei Enzyklopädieausgaben die einzelnen Momente der Gedankenentwicklung von Hegels Theorie des Absoluten lediglich in Grundzügen benannt, so sind sie in Bezug auf die Religion wie auch bezüglich der Kunst in thematisch einschlägigen Kollegien ausführlich zur Darstellung gebracht worden. Seine erste, eigens der Philosophie der Religion gewidmete Vorlesung hat Hegel im Sommersemester 1821 an der Berliner Universität zeitgleich mit dem Erscheinen des ersten Bandes der christlichen Glaubenslehre seines Dauerantipoden F. D. E. Schleiermacher gehalten. Besagtem Kolleg kommt auch deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil zu ihm ein umfangreiches Manuskript Hegels erhalten ist (vgl. GW 17, 1–300).65 In den Sommersemestern 1824, 1827 und 1831 hat Hegel erneut über Religionsphilosophie gelesen und dabei nicht unerhebliche Modifikationen an seiner Konzeption vorgenommen. Zu einer Publikation der religionsphilosophischen Vorlesungen Hegels kam es zu Lebzeiten des Philosophen nicht. Sie besorgte erst kurz nach Hegels Tod der ihm kollegial und freundschaftlich verbundene Theologe Philipp Konrad Marheineke, der Zeitgenossen bald als Oberhaupt des rechten und orthodoxen Flügels der Hegelschule galt. Die Marheinekeedition der Hegel’schen Religionsphilosophie, die 1832 im Rahmen der sog. Freundesvereinsausgabe erschien (Bd. 11 u. 12) und die einzelnen Vorlesungsgänge zu einer homogenen Einheit zu verschmelzen suchte, gelangte zu großer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung, da sie und ihre Inhalte es waren, an der sich die Spaltung zwischen sog. Rechts- und Links-, Alt- und Neuhegelianern entzündete, die zur Auflösung der Schule führen sollte. An den Entwicklungen Bruno Bauers, der u. a. Karl Marx Anlass zu scharfen Invektiven gab, ließe sich diese Entwicklung exemplarisch darstellen. Im gegebenen Zusammenhang sei lediglich vermerkt, dass Bauer in Fortführung von Marheinekes Edition im Jahr 1840 eine neubearbeitete Zweitauflage der Hegel’schen Vorlesungen über die Philosophie der Religion bewerkstelligte. Auch er kompilierte dabei Materialien der verschiedenen
65 Das Manuskript gleicht allerdings eher einer Skizze als einem streng durchkomponierten und detailliert ausgearbeiteten Konzept. Die Dreiteilung der Religionsphilosophie steht bereits fest. Zunächst wird der Begriff der Religion exponiert, dann ihre Bestimmtheit religionsgeschichtlich bzw. religionstypologisch entwickelt schließlich in der geoffenbarten oder absoluten Religion, wie Hegel gelegentlich auch sagen kann, ihrer Vollendung zugeführt. Diese triadische Struktur wird dann in den Folgekollegien mutatis mutandis auch in Bezug auf die einzelnen Religionen in Anwendung gebracht, die jeweils nach ihrem unmittelbaren Begriff, ihrer reflexiven Wesensgestaltung und nach Maßgabe des Kultus dargestellt werden, in dem sich das religiöse Bewusstsein und sein Grund vermitteln, sodass die Differenz aufgehoben ist, welche anfänglich zwischen ihnen besteht.
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Kollegien. Die von H. Glockner herausgegebene sog. Jubiläumsausgabe bietet einen Nachdruck der Baueredition. Ihr gegenüber stellt die in den Jahren 1925–1929 entstandene Ausgabe des Berliner Pfarrers Georg Lasson insofern einen Fortschritt dar, als sie Hegels eigenhändiges Kollegheft zur Religionsphilosophie von 1821 edierte. Indem er es zur Grundlage der Gesamtkonzeption erklärte, um ihm alle Nachschriften in vereinheitlichter Form zuzuordnen, verstellte Lasson aber mehr noch, als das bisher der Fall war, die Einsicht in den Gestaltwandel, den Hegels religionsphilosophische Vorlesungen im Laufe der Jahre durchliefen und auf den er selbst im Vorwort seiner Edition hingewiesen hatte. Einen editionsgeschichtlichen Quantensprung stellt gegenüber allen vormaligen Ausgaben die in der Reihe ausgewählter Nachschriften und Manuskripte Hegel’scher Vorlesungen (Bd. 3–5) erschienene Ausgabe von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion dar, die Walter Jaeschke, langjähriger Direktor des Bochumer Hegel-Archivs, in den Jahren 1983 bis 1985 herausgegeben hat. Sie nimmt von den Versuchen einer Totalintegration der Quellen in eine religionsphilosophische Einheitskonzeption dezidiert Abstand und bietet die Texte der verschiedenen Vorlesungsjahrgänge gesondert, um auf diese Weise offenen Einblick in konzeptionelle Veränderungsprozesse und Wandlungen formaler und inhaltlicher Art zu geben. Jaeschkes Ausgabe beabsichtigte nach eigenen Angaben nicht, Teile der historisch-kritischen Edition vorwegzunehmen. Sie bietet keinen textkritischen Apparat, weicht im Interesse der Modernisierung vom Sprachstand der Quellenvorlagen ab und verzichtet im Allgemeinen auf die Mitteilung von Varianten. Doch leistet sie unbeschadet dessen eine außerordentlich wichtige Vorarbeit für die im Gang befindliche Edition der Hegel’schen Religionsphilosophie im Rahmen der Gesammelten Werke.66 66 Die in den Bänden 3–5 der Edition ausgewählter Nachschriften und Manuskripte Hegel’scher Kollegien erschienene Ausgabe W. Jaeschkes zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Bd. 3: Teil 1. Einleitung. Der Begriff der Religion, Hamburg 1983; Bd. 4a u. b.: Teil 2. Die bestimmte Religion, Hamburg 1985; Bd. 5: Teil 3. Die vollendete Religion, Hamburg 1984) wird im folgenden zitiert (V3; V4; V5); falls keine näheren Angaben gemacht werden, bezieht sich das Zitat stets auf V4: angegeben werden die Seitenzahlen von V4 und die am Rande vermerkte Zeilenzählung, die auch den Notizen im Anhangsband jeweils beigegeben sind (vgl. 4b; Kursivierungen im Anhangsband werden nicht wiedergegeben.). In den von der Nordrhein-Westfälischen Akadamie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebenen Gesammelten Werke Hegels (=GW) sind für Nachschriften der religionsphilosophischen Kollegien drei Teilbände geplant. Der bereits vorliegende (GW 29,1) enthält zum einen die Nachschrift Anton Philipp Ganzonis zum Kolleg vom Sommersemester 1821, zum anderen diejenige von Karl Gustav Julius von Griesheim (mit Varianten aus Nachschriften u. a. Heinrich Gustav Hothos und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehlers) zur religionsphilosophischen Vorlesung vom Sommersemester 1824. Die Griesheimnachschrift bildete bereits in Jaeschkes Ausgabe von 1983/84/85 den Leittext der Edition der Vorlesung von 1824. Hegel selbst hatte sich im Kolleg von 1827 zum Teil auf sie gestützt. Wenn auch diese Vorlesung, die Jaeschke im Wesentlichen auf der Basis der Lassonausgabe edierte,
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Den primären Referenztext der folgenden Ausführungen zu Hegels Verständnis der Religion in ihrer Bestimmtheit wird das religionsphilosophische Kolleg von 1827 bilden (vgl. 411–607), das in der Jaeschkeausgabe von 1985 zwar im Wesentlichen auf der Basis der Lassonausgabe (vgl. V3,LIV ff.) wiedergegeben wird, aber nicht nur in Form einer Zusammensetzung der bei Lasson in ihre Einzelteile zerlegten Nachschriften, sondern auch in einer durch die verbesserte Quellenlage bereinigten und korrigierten Gestalt (vgl. V3, LXXIff.). Die Entscheidung zu einer Priorisierung des Kollegs von 1827 ist wesentlich durch den in ihm erreichten Entwicklungsstand der Ausarbeitung, durch seine im Vergleich zu den Strauß’schen Auszügen aus einer Nachschrift der Vorlesung 1831 viel größere Ausführlichkeit und durch die „Mittel“-Stellung bedingt, die der jüdischen Religion im Rahmen des Kollegs konzeptionell zugewiesen ist, was gerade unter dem Gesichtspunkt christlicher Theologie hervorgehoben und favorisiert zu werden verdient, ohne dass deshalb variierende Konzeptionsformen, wie sie in anderen Vorlesungen begegnen, ausgeblendet werden dürften; sie werden im Gegenteil eigens berücksichtigt werden. Wie seine Philosophie der Religion insgesamt ordnet Hegel auch ihren zweiten Teil in der Regel triadisch, wobei die Gliederung des Folgezusammenhangs der Religionen in ihrer Bestimmtheit darauf abgestellt ist, die Vernünftigkeit der religionsgeschichtlichen Entwicklung zu erschließen. Schon bei einem oberflächlichen Vergleich der Kollegtexte bzw. Vorlesungsnachschriften zu den bestimmten Religionen fällt allerdings auf, wie sehr Hegel die konzeptionelle Gliederungsstruktur variieren konnte. Die triadische Unterteilung der Religionsgeschichte nach Maßgabe des Aufbaus der Wissenschaft der Logik in Sein, Wesen und Begriff findet sich nur im ersten Kolleg und wird später aufgegeben; die Dreigliederung gemäß den Formen der Gottesbeweise, die in der Vorlesung von 1824 bestimmend wird, hält sich ebenfalls nicht durch. Beides hängt aufs engste mit der Frage zusammen, wie die außerchristlichen Religionen anzuordnen seien, wenn dem Christentum die vollendete Realisierung des Begriff der Religion und die Verwirklichung dessen zugedacht werden soll, worauf das ontologische Argument zielt. Bilden sie eine Trias oder eine Zweiheit von Naturreligionen und Religionen jener geistigen Individualität, wie sie die jüdische Religion der Erhabenheit, die griechische der Schönheit und die römische der Zweckmäßigkeit repräsentieren? Fest steht, dass die römische Zweckmäßigkeitsreligion und nicht die griechische oder die jüdische Religion die Stufe des Übergangs zum Christentum markiert.
und diejenige des Jahres 1831, von der David Friedrich Strauß (der Jaeschkeausgabe beigegebene) Exzerpte angefertigt hat, in GW 29 verbunden mit sonstigen Materialien erschienen sein wird, wird sich noch deutlicher als bisher die Bewegung erkennen lassen, die Hegels Religionsphilosophie in den Berliner Jahren durchlaufen hat und zwar insbesondere, was den zweiten Teil der Religionsphilosophie betrifft.
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Ergibt sich daraus für sie eine Vorzugsstellung den beiden anderen Religionen endlicher Geistigkeit gegenüber? Oder steht nicht die Religion der Römer für einen Niedergang, der gegenläufig ist zu dem Prozess des mit der Zauberei beginnenden religionsgeschichtlichen Aufstiegs? Ist letzteres der Fall, dann wäre der Wechsel in der Reihung der Religion der Schönheit und der Erhabenheit und die Erstplatzierung der jüdischen Religion innerhalb der Religionen endlicher Geistigkeit nicht im Sinne von deren Diminuierung, sondern im Gegenteil als deren Erhöhung zu jenem Stande zu deuten, der auf die vollendete Religion des Christentums vorausweist. Die Variationsbreite der religionsgeschichtlichen Konzeptionsgestalten im zweiten Teil der Hegel’schen Religionsphilosophie ist groß und nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Triadische Strukturen stehen in Spannung zu einer Zweigliederung der Geschichte der außerchristlichen Religionen. Zwar hält Hegel erkennbar an dem Gedanken fest, „daß die Geschichte der Religion durch den Begriff geordnet sei“67 . Doch wie diese Ordnung konkret auszusehen habe, ist damit nicht eindeutig festgelegt. „Statt der vermeintlich starren Gewalt logischer Konstruktionsprinzipien unterworfen, zeigt sich Hegels Bearbeitung der Religionsgeschichte eher als ein Experimentierfeld, auf dem nahezu nichts unversucht geblieben ist.“ (181f.) Man kann in solcher Flexibilität einen Vorteil und ein Indiz dafür entdecken, dass der häufig geäußerte Vorwurf „aprioristische(r) Überfremdung der Wirklichkeit“ (183) so nicht zutrifft. Doch stellt die Variabilität der logisch-kategorialen Konstruktionsprinzipien der religionsgeschichtlichen Entwicklung nicht am Ende das Grundsatzprogramm in Frage, an dem Hegel bei allem Wandel zweifellos festzuhalten gewillt war, nämlich Vernunft in der Religion und in den Momenten ihrer Geschichte zu entdecken? Bietet seine Lehre von der Religion in ihrer Bestimmtheit überhaupt eine religionsgeschichtliche Theorie und nicht eher eine typologisierende „Religionsgeographie“ (188) analog der Konzeption der Philosophie der Weltgeschichte, der zufolge die Entwicklung des Geistes im Ausgang von China „von Osten nach Westen fortschreite(t)“ (182)? „Was konstituiert das Nebeneinander zum zeitlichen Zusammenhang, die bloße Mannigfaltigkeit von Realisierungen der Momente des ‚Begriffs der Religion‘ zur Einen Universalgeschichte der Religion?“ (184f.) Und wie verhält sich eine mögliche Universalgeschichte der Religion zu entsprechend umfassend angelegten Entwicklungen einerseits in der Kunst, andererseits in der Philosophie? Um auf das religionsphilosophische Kolleg von 1827 zurückzukommen, anhand dessen Hegels Begriff der jüdischen Religion beispielhaft verdeutlicht werden soll, so gliedert sich die Religion in ihrer Bestimmtheit in die, wie es heißt, unmittelbare Religion oder Naturreligion in den Formen der Religion der Zauberei, des
67 W. Jaeschke, Zur Logik der Bestimmten Religion, 181. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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Insichseins, der indischen Religion und der Religionen des Übergangs, zweitens in die Religion der Schönheit oder die griechische Religion sowie die Religion der Erhabenheit oder die jüdische Religion und drittens in die Religion der Zweckmäßigkeit als Religion der Römer. Die Schlussstellung der römischen Religion innerhalb der besonderen Religionen scheint dafür zu sprechen, in ihr das Ziel des Entwicklungsprozesses der vorchristlichen Religionsgeschichte zu sehen. Warum diese Stellung gleichwohl der jüdischen Religion zuzuerkennen ist, wird ebenso zu erörtern sein wie die Frage, weshalb Hegel die Reihenfolge innerhalb der sog. Religionen der geistigen Individualität, nämlich diejenige der jüdischen Erhabenheitsreligion und der griechischen Religion der Schönheit variieren kann. Zu vermerken bleibt, dass Hegels Religionsphilosophie insgesamt und namentlich seine Philosophie der Religionsgeschichte in enger Beziehung stehen zur Philosophie der Welt-, der Kunst- und der Philosophiegeschichte. Diese Bezüge sind für alle Momente der religionsgeschichtlichen Entwicklung von Bedeutung, auch wenn sie im gegebenen Zusammenhang nur hinsichtlich des Judentums explizit wahrgenommen werden. Um den Begriff der jüdischen Religion in seiner eigentümlichen Bestimmtheit erkennen und ihn in Zusammenhang bringen zu können mit der welt-, kunst- und philosophiegeschichtlichen Entwicklung bedarf es der Bestimmung der Momente des vorhergehenden religionsgeschichtlichen Prozesses. In Betracht zu kommen hat dabei zunächst die sog. Naturreligion in ihren diversen Formen. Sodann sind die sog. Religionen des Übergangs vom Natürlichen zum Geistigen hin ins Auge zu fassen, denen eine Vermittlungsfunktion für die sog. Religionen der geistigen Individualität zukommt. Erst unter diesen Voraussetzungen können deren Erscheinungsgestalten sinnvoll thematisiert werden, wobei dem Problem eine hermeneutische Schlüsselstellung zukommt, wie sich die Religionen der Schönheit und der Erhabenheit zueinander verhalten. Denn ohne Bezug auf die griechische Religion lässt sich der Begriff der jüdischen Religion in seiner spezifischen Eigenart Hegel zufolge nicht bestimmen. Dies gilt auch umgekehrt, weshalb die genaue Bestimmung der Beziehung der griechischen Religion der Schönheit und der jüdischen Religion der Erhabenheit schließlich auch die Bedingung dafür ist, die Zwecksmäßigkeitsreligion der Römer zu begreifen, in der sich die differenzierte Einheit der Gegensatzpaarung von Griechentum und Judentum auflöst, um im Christentum auf eine neue Basis gestellt zu werden. 2.2 Die Naturreligion in ihren Formen Um das allgemeine Wesen der Religion in seiner konkreten Bestimmtheit zu erfassen, bedarf es nach Hegel der Kenntnis der besonderen Religionen, in deren geschichtlicher Entwicklung sich der Prozess religiöser Erhebung vollzieht. Verharrte er in der Unmittelbarkeit des Allgemeinen, bliebe der Begriff der Religion
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abstrakt. Indem mittels Wahrnehmung ihrer Geschichte von der Abstraktheit des bloßen Allgemeinbegriffs der Religion abstrahiert wird, gelangt dieser zu seiner konkreten religiösen Bestimmung. Erst in den besonderen Religionen, sagt Hegel, nicht schon in der abstrakten Sphäre religiöser Allgemeinheit fängt Religion im eigentlichen Sinne an und mit ihr „das Erkennen von Gott“ (412,14), wobei die Erkenntnis Gottes von menschlicher Selbst- und Welterkenntnis zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen ist. Denn es gilt: „ Das Prinzip, nach dem Gott für die Menschen bestimmt ist, ist auch das Prinzip dessen, wie der Mensch in sich bestimmt ist, für den Menschen in seinem Geiste. Ein schlechter Gott, ein Naturgott, hat schlechte, natürliche, unfreie Menschen zu seinen Korrelaten; der reine Begriff von Gott, der geistige Gott, hat den freien, geistigen, wirklich von Gott wissenden Geist zu seinem Korrelat.“ (413,19–24) Sage mir, welche Gottheit du religiös verehrst, und ich sage dir, welcher Mensch du bist und wie die Welt beschaffen ist, in der du lebst! Die Welt, in welcher der Mensch sich vorfindet und im Modus der Unmittelbarkeit lebt, ist diejenige der Natur. Allerdings ist menschliches Weltdasein lediglich anfänglich ein bloß natürliches, weil es zum Menschsein des Menschen gehört und seine humane Bestimmung ausmacht, sich differenziert zur Natur einschließlich der ursprünglichen Natürlichkeit des Eigenen zu verhalten. Der Mensch ist mithin seinem Wesen nach in einem Transzendierungsprozess begriffen und bestimmungsgemäß nur als in diesem Prozess begriffen zu begreifen. Es gehört, wenn man so will, zu seiner Natur, alles bloß Natürliche zu übersteigen. Die Religion bietet einen Beleg hierfür; sie kennzeichnet den Menschen als ein naturtranszendierendes Wesen. Auch in ihrer Gestalt als Naturreligion stellt sie daher kein Natur-, sondern ein geistiges Phänonem dar, wenngleich eine Geisterscheinung lediglich anfänglicher und weiterer Entwicklung bedürftiger Art. In der Naturreligion, mit der Hegel die Religionsgeschichte ihren in der differenzierten Einheit von Begriff und Chronologie zu fassenden Anfang nimmt, verharrt der Geist der Religion noch in einer momentanen Naturbefangenheit, um sich erst allmählich von ihr zu befreien. Die naturbefangenste unter den Naturreligionen und damit unter den Religionen überhaupt nennt Hegel Zauberei. Damit ist die Vorstellung definitiv abgewiesen, „daß die erste Religion auch die wahrhafte, vortreffliche gewesen und alle der Zeit nach späteren Religionen nur ein Verkommensein dieser Religion darstellen, und daß aus dem Untergang dieser Religion sich Trümmer, Bruchstücke, Andeutungen erhalten haben und diese das seien, was den späteren Religionen zu Grunde liege, und das lasse sich auch erkennen, und es historisch zu erkennen habe besonderes Interesse.“ (419,147–153)
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Wenn die Bibel von einem status integritatis rede, in welchem der Mensch seine iustitia originalis realisiert und bewahrt habe, so sei dies nicht auf einen naturhaften Anfangszustand zu deuten, sondern auf das Wesen des Menschen, das zu verwirklichen er bestimmt sei. Andernfalls würde das Paradies als „ein Tiergarten“ (424,271) und der Status des Menschen in ihm als „Zustand der Zurechnungsunfähigkeit“ (424,272f.) missverstanden. Kurzum: der Mensch im natürlichen Anfangsstadium seiner Entwicklung steht erst im Begriffe, sein Menschsein zu realisieren. Insistiert er auf seiner natürlichen Unmittelbarkeit, dann verfehlt er seine Bestimmung statt sie zu gewinnen und verharrt in einem „Zustand der Roheit“ (424,279f.), der mit Unschuld nicht zu verwechseln sei, weil er mit seiner natürlichen Beschränktheit gleichsam noch jenseits von Gut und Böse und nahe am Animalischen angesiedelt werden müsse, wie das auch für den Fall der Zauberei am Beginn der Religionsgeschichte gelte. Sie erfülle im Grunde noch nicht den Begriff der Religion und könne allenfalls als eine Vorform derselben und als unterentwickelte Form der Naturreligion gelten, wie sie für ein „prähistorisches“ Vorstadium der Menschheitsgeschichte charakteristisch sei. Dass der Mensch in diesem „die höchste Kenntnis des Guten und der Natur gehabt habe, ist wohl schon angenommen worden, aber ganz absurd“ (427,362–364). Naturmensch ist nach Hegel wie Naturreligion ein uneindeutiger Begriff, der in seiner Uneindeutigkeit eindeutig erfasst werden muss, um nicht zweideutige und in ihrer Zweideutigkeit zu Missverständnissen Anlass gebende Vorstellungen zu erzeugen. Sofern der Naturmensch rechtens als Mensch zu qualifizieren ist, ist er bereits über seine bloße Natürlichkeit und über alles, was unmittelbar Natur heißt, tendenziell hinausgeschritten. Dies gilt auch für den Zauberer und seine Religion. Die Zauberei, „wenn wir sie Religion nennen wollen“ (429,416f.), steht zwar noch ganz im Banne der Natur, ohne ein lediglich naturhaftes Verhalten zu sein. Denn schon in ihr vollzieht sich ein erster Schritt hin zur Emanzipation von der Natur, die im Modus des Zaubers mit gleichsam natürlichen Mitteln zur Raison und dahin gebracht werden soll, dem menschlichen Sinnen und Trachten willfährig zu sein. So rudimentär die mehr oder minder ganz von sinnlichen Begierden bestimmten Neigungen des Zauberers auch sein mögen; sein Geschäft ist nach Hegel gleichwohl ein anfangsweise menschliches und religiös insofern zu nennen, als es von einem Verhalten bestimmt wird, das kein bloß natürliches zu nennen ist, sondern einen ersten, wenngleich noch indifferenten Transzendenzverweis in sich enthält. Dessen gewahr zu werden, ist nach Hegel allerdings methodisch schwierig, weil es unter den Bewusstseinsbedingungen, die für jede Form von Theoriebildung unerlässlich sind, als kaum möglich erscheinen muss, sich in eine Situation hinzuversetzen, die noch weithin der Sphäre des Unbewussten angehört. Indem es solches versucht, gleicht das Unternehmen des Religionsphilosophen in gewisser Weise demjenigen des Prähistorikers bzw. des Psychoanalytikers, die beide je auf ihre Weise Vorgeschichtliches zu erhellen suchen, das ins Vor- bzw. Unterbewusste
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hinabreicht. Nähere Aufschlüsse hierzu gibt Hegels Anthropologie als der erste Teil seiner Philosophie des subjektiven Geistes. In der Primärform der Naturreligion, der Zauberei, sucht das Geistige Macht über die Natur zu gewinnen, aber noch nicht auf geistige, sondern auf gleichsam natürlich-naturhafte Weise. Sofern der Zauberer bei seiner Zauberei Instrumente nutzt, sind diese mit technisch hervorgebrachten Werkzeugen der Naturbewältigung nur bedingt zu vergleichen, weil sie selbst noch weitgehend der Natur angehören. Nicht durch in bewusster technischer Praxis hergestelltes Gerät, sondern auf naturhafte Weise und mit Mitteln, die selbst der Natur entstammen, soll auf sie eingewirkt und Macht über sie gewonnen werden. Das Bestreben, das den Zauberer und seine Zauberei kennzeichnet, ist durch Direktheit charakterisiert und noch nicht reflexiv gebrochen. Seinem Begriff nach gehört es mithin in den Anfang der Menschheits- und Religionsgeschichte, was nicht ausschließt, dass es durch die Zeiten hindurch bis in die Gegenwart fortwirkt, um in ihr sowohl in kollektiven als auch in individuellen Formen zu begegnen. Hegel erinnert in diesem Zusammenhang an „das Hexenwesen im Christentum und die Teufelsbeschwörungen“ (438,559f.) und erwähnt, dass beispielsweise das Gebet zu faulem Zauber und zu magischen Zwecken missbraucht werden kann. Dass sie nicht nur diachron, sondern auch synchron begegnen, trifft für alle Entwicklungsmomente der Religion zu und zeigt, dass der Ablauf der Religionsgeschichte nicht nur chronologisch, sondern auch und vor allem begrifflich zu bemessen ist, wenn er verstanden werden soll. Das heißt nicht, dass die Bemessungsgrundlage, auf der Hegel die Erscheinungen der Religion in ihrer Bestimmtheit beurteilt, von deren Konkretionsgestalten, die sie im Laufe der Zeit annehmen, einfachhin abgehoben wäre. Hegel ist, wie etwa seine sehr eingehenden Erörterungen zur Zauberei zeigen, redlich darum bemüht, empirisch zu forschen und alle Einsichten zu verarbeiten, die ihm durch Erfahrungsberichte zugänglich geworden sind. Indes hat dies im Sinne des Verständnisses, das er von Philosophie insgesamt und namentlich von Religionsphilosophie hat, systematisch und in begrifflich strukturierter Weise zu geschehen. Nach der Logik des Begriffs der Religion folgt auf die Religion der Zauberei, zu deren ausgebildeteren Formen Hegel noch die Staatsreligion im chinesischen Reich rechnet (vgl. 445ff.), diejenige Naturreligion, in der sich das Verhältnis des Menschen zur Natur nicht mehr so äußerlich wie in der ersten Form, sondern innerlicher gestaltet. Hegel nennt sie deshalb die Religion des Insichseins (458ff.). Das religiöse Verhalten in ihr bleibt zwar naturgebunden, aber auf eine im Vergleich zur Äußerlichkeit der Zaubererei verinnerlichte Weise. Der Mensch beginnt, in sich zu gehen, sich zu sammeln und auf eine Macht im Inneren der Natur zu besinnen, die er den äußeren Naturmächten fortschreitend entgegensetzt. Vorbereitet ist die Naturreligion des Insichseins nach Hegel in bestimmten Traditionen des Taoismus, entfaltet in Erscheinungsgestalten des Buddhismus und des Lamaismus, worauf
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im gegebenen Zusammenhang nicht einzugehen ist. Es genügt die Feststellung, dass in der Religion natürlicher Innerlichkeit die Begierden, welche die Zauberei motivieren und durchherrschen, tendenziell gestillt sind mit dem Ziel einer Ruhe, die im natürlichen Nichts ihre Erfüllung findet. Wie alles Natürliche aus dem Nichts hervorgegangen sei, so gehe es bestimmungsgemäß dem Nichts entgegen, um die Indifferenz seines Ursprungs wiederzuerlangen und gegen alles Besondere gleichgültig zu werden. „Um glücklich zu sein, muß der Mensch sich durch ewiges Sinnen in sich bemühen, nichts zu wollen, [nichts] zu wünschen und nichts zu tun. Wenn er zu diesem gekommen ist, so ist gar keine Rede mehr von etwas Höherem, von Tugend und Unsterblichkeit. Die Heiligkeit des Menschen ist, daß er in dieser Vernichtung sich vereinigt hat mit Nichts und ebenso mit Gott, mit dem Absoluten. Hat der Mensch diese Heiligkeit, diese höchste Stufe erreicht, so ist er von Gott ununterscheidbar, ewig identisch mit Gott, so hört alle Veränderung auf; die Seele hat keine Wanderung mehr zu befürchten.“ (462,134–143) Ist die Zauberei darauf aus, sich die Natur äußerlich und auf naturhafte Weise gefügig zu machen, intendiert die Religion des Insichseins das natürliche Nichts der Natur einschließlich der menschlichen. „Der Mensch hat aus sich Nichts zu machen.“ (463,146f.) In der Religion des Insichseins ist die erste Form der Naturreligion und mit ihr die naturhafte Unmittelbarkeit der Religion zum Verschwinden gebracht, aber lediglich unmittelbar, namentlich in der Weise abstrakter Negation, bei der es weder begrifflich noch dem Sein der Religion gemäß sein Bewenden haben kann. Der Gegensatz zur Religion der Zauberei und der entzauberten Religion des Insichseins muss dafür aufgehoben werden, was Hegel zufolge in der indischen Religion geschieht. 68 Als die dritte im Bunde der Naturreligionen, die den Zwiespalt der beiden ersten beheben soll, verbindet diese religiöse Innerlichkeit und Äußerlichkeit, ohne bereits einen Begriff von dieser Verbindung zu haben, die mithin nach naturhaften Mustern und auf unverständliche, tendenziell widervernünftige Weise geknüpft wird. Das Band zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit bleibt sonach lose und in der beständigen Gefahr der Auflösung bzw. Konfusion. Daher kann sich das religiöse Insichsein einerseits in eine unermessliche Vielfalt und dasjenige verlieren, was Hegel „ungebundene(n) Polytheismus“ (479,496f.) nennt; umgekehrt kann sich die zahllose Schar der Göttergestalten augenblicklich dadurch als scheinbar erweisen, dass sie auf die Leere reiner Innerlichkeit zurückfällt, in der sich alle Vielfalt verflüchtigt. So herrscht in der indischen Religion Hegel zufolge Wirrwarr und ein ewiges Hin und Her zwischen den Extremen, ohne dass eine stabile Einheit zu erfassen wäre. Am Verhältnis, in dem Brahma, Wischnu oder Krischna sowie Schiwa, Mahaweda zueinander stehen, wird dies illustriert. Statt dass es zu einer Explikation des Einen im Anderen und zu einer Identität von
68 Vgl. im Einzelnen I. Viyagappa, G.W.F. Hegel’s Concept of Indian Philosophy, Rom 1980.
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Einheit und Verschiedenheit käme, wie es dem Wesen des zu sich kommenden Geistes gemäß wäre, läuft alles auf „Veränderung überhaupt“ (487,662f.; 671), auf ein unaufhörliches Wechselspiel von „Zeugen und Zerstören“ (487,671) hinaus. Es geschieht nichts als bloßes Werden, dem stetiges Vergehen korrespondiert. Dabei kann es nicht bleiben. 2.3 Die Religionen des Übergangs vom Naturreligiösen zu geistiger Religiosität In seiner religionsphilosophischen Vorlesung, die er im Jahr 1827 an der Berliner Universität gehalten hat, rechnet Hegel neben der Zauberei, der Religion des Insichseins und der indischen Religion, in der die Differenz der beiden vorhergehenden Gestalten vorläufig behoben wird, mit einer vierten Form der Naturreligion. In ihr soll die Entzweiung von Geist und Natur offenkundig und die „Objektivierung dessen, was als das Höchste gewusst wird“ (432,432f.), will heißen: die Abhebung der Bezugsgröße des religiösen Verhältnisses von den naturhaften Konditionen des menschlichen Daseins manifest werden. Zu geschehen hat dies in zwei Gestalten: „Die erste ist, daß in dieser Objektivierung dem Konkreten das Einfache gegenübergesetzt wird, aber dies Einfache noch abstrakt in natürlicher Weise, das aber ebenso geistige Bestimmung in sich enthält. Die zweite Gestalt der Objektivierung des Substantiellen besteht also darin, daß der Begriff der Subjektivität, des Konkreten, die Entwicklung des Konkreten und diese Entwicklung als Totalität so für sich dem Subjekt zum Bewußtsein kommt.“ (432,433–440)69 Es spricht nichts dagegen, die beiden besagten Religionsgestalten als vierte Form der Naturreligion hinzuzuzählen, wie Hegel selbst dies vorschlägt. Doch gibt es auch gute Gründe, sie von der naturreligiösen Sphäre zu unterscheiden, was der Philosoph faktisch ebenfalls tut, wenn er sie als Religionen des Übergangs bezeichnet. Die erste unter den beiden Gestalten der Religion des Übergangs nennt Hegel die Religion des Lichts, die zweite findet er in der ägyptischen Religion realisiert. Die Religion des Lichts zeichnet sich gegenüber den vorhergehenden Formen der Naturreligion Hegel zufolge dadurch aus, dass sich in ihr das religiöse Verhältnis
69 Um den Formunterschied und den differenzierten Zusammenhang der beiden im Übergang von Naturreligion zu geistiger Religiosität begriffenen Religionen sowie den zu vollziehenden Übergang selbst näher zu bestimmen, bedient sich Hegel, wie er sagt, zweier „Lehnsätze“ (501,925) aus der Wissenschaft der Logik. Der erste geht die Logizität jener Einheit an, in der alle Unterschiede ideal aufgehoben, nämlich bestimmt negiert, bewahrt und der Realität ihres wahren Begriffs zugeführt sind; der zweite Begriff die Idee, dass besagte Einheit mit keiner empirischen Größe gleichgesetzt und auch mit dem Sichwissen des in Selbsterfahrung begriffenen Ich nicht verwechselt werden darf, weil es ein Absolutum darstellt, welches alles sinnlich Gegebene unendlich transzendiert, obwohl es auf die Vielheit des Endlichen konstitutiv bezogen ist.
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nicht lediglich auf eine substantielle Einheit bezieht, der alles Differente äußerlich ist, sondern auf eine alle Differenzbestimmungen in sich enthaltende und damit selbstbestimmende Einheit. In ihr gehe „der Begriff der Subjektivität“ (504,4) auf, zu dessen religionsgeschichtlicher Realisierung sich die Lichtreligion unter Aufhebung der substanzbestimmten Naturreligionen anschickt. Wo Substanz war, soll Subjekt werden. Damit dies geschehe, wird in der Religion des Lichts alles auf eine absolute Macht zurückgeführt, aus deren Allvermögen alle Dinge hervorgehen. Das Wesen, in dem sich die Allmacht vereint, gilt als lichtvoll und gut, so dass auch das Kreatürliche, das von der Güte des Lichts erschaffen wurde, als grundsätzlich recht und erleuchtet zu werten ist. Das verbleibende Problem lässt sich mit dem geläufigen Sprichwort umschreiben, dass da, wo Licht, auch Schatten ist. Das Gute bleibt in der Lichtreligion, weil es sich unmittelbar und daher abstrakt zu bestimmen sucht, mit einem Gegensatz zu einem Anderen behaftet, und „dies Andere, Entgegengesetzte, ist das Böse“ (507,82). Weil in der Einfachheit des Guten das Negative „noch nicht in seinem Recht enthalten“ (507,83f.) ist, wird das Licht von einem finsteren Schatten verfolgt, den es selbst wirft. Es ergeben sich „zwei Prinzipien, das Reich des Guten und des Bösen, diesen orientalischen Dualismus. Es ist dieser große Gegensatz, der hier zu seiner allgemeinen Abstraktion gekommen ist. Das Gute ist wohl das Wahrhafte, das Mächtige, aber es ist im Kampfe mit dem Bösen, so daß das Böse als absolutes Prinzip gegenübersteht und stehenbleibt. Das Böse soll zwar überwunden, ausgeglichen werden; aber was soll, ist nicht. Sollen ist eine Kraft, die sich nicht ausführen kann, dieses Schwache, Ohnmächtige.“ (507,84–91) Exemplarisch realisiert findet Hegel den „orientalischen Dualismus“ (507,85), der die Lichtreligion kennzeichnet, im Zoroastrismus der Parsen (vgl. 510, 149ff.): „In allem, was die Parsen verehren, ist das Licht das Höchste.“ (513,203) Es wird mit dem Guten gleichgesetzt. „Das Licht ist das Gute, das Gute ist das Licht – diese untrennbare Einheit. Das ist die Grundidee.“ (510,147f.) Doch bleibt die untrennbare Einheit des Lichtes und des Guten von einem Gegensatz bestimmt, nämlich durch denjenigen zur Finsternis und zum Bösen. Dieser Grundgegensatz erweist sich als charakteristisch für die zoroastrische Lichtreligion. Hegel setzt sie in Beziehung zum Mithraskult und zum Manichäismus in der Absicht, jedwede Form eines religiösen Prinzipiendualismus als ambivalent zu erweisen, nämlich einerseits als elementar geistbestimmt und andererseits als bleibend naturverhaftet. „Das ist die Ohnmacht der Natur, daß das Licht und seine Negation nebeneinander sind, obzwar das Licht die Macht ist, die Finsternis zu vertreiben. Diese Idee von Gott also, die wir hier haben, ist selbst noch das Ohnmächtige, um ihrer Abstraktion willen den Gegensatz, Widerspruch noch nicht in sich zu enthalten und ihn ertragen zu können, sondern das Böse neben sich zu haben.“ (510,141–147) Einen Schritt über den Prinzipiendualismus der Lichtreligion hinaus sieht Hegel in der Religion Ägyptens getan, sofern in ihr der Gegensatz von Licht und Finsternis,
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Gut und Böse allmählich verinnerlicht und tendenziell auf den religiösen Einheitsgrund zurückgenommen wird. Der Dualismus „fängt hier an, sich zu vereinigen, so daß in die Subjektivität selbst dies Finstere, Negative fällt, das in seiner Steigerung auch zum Bösen wird. Die Subjektivität ist dies, die entgegengesetzten Prinzipien in sich zu vereinigen, die Gewalt zu sein, diesen Widerspruch in sich zu ertragen und aufzulösen.“ (515,231–235) Die ägyptische Religion als die zweite Übergangsstufe von den Naturreligionen hin zu geistiger Religiosität befindet sich laut Hegel auf dem Weg zu dieser Einsicht. Im Unterschied etwa zum parsischen Zoroastrimus hält in der ägyptischen Religion Negativität in den religiösen Einheitsgrund selbst Einzug. Das Negative „gehört hier zum Selbst des Gottes“ (517,297). Er stirbt, um aus dem Tod heraus zu neuem Leben zu erstehen. Vorstellungshaft zeichnet sich in diesem noch mehr oder minder naturhaft gedachten Vorgang Hegel zufolge das „Drama der Subjektivität“ (515,242) ab, „die Affirmation die durch die Negation selbst hindurchgeht und sie mit sich versöhnt, mit der Rückkehr in sich, der Versöhnung endet“ (515,243–245). Die ägyptische Religion transzendiert die substanzbestimmten Naturreligionen einschließlich der indischen, um sie prinzipiell hinter sich zu lassen: „Das tausendmalige Sterben des Indra, die Wiedererstehung des Krischna ist von anderer Art als der Tod beim Subjekt: Die Substanz bleibt nämlich ein und dieselbe. Bei dem Sterben des Lama ist die Negation nicht der Substanz angehörig; sie verläßt nur den Körper des einen Lama, hat sich aber unmittelbar einen anderen gewählt. Die Substanz geht dieses Sterben, diese Negation nichts an; die Negation ist hier nicht im Selbst gesetzt, im Subjekt als solchen; sie ist nicht eigenes, inneres Moment, immanente Bestimmung der Substanz, und diese hat nicht den Schmerz des Todes.“ (518,311–320) Anders in der ägyptischen Religion: in ihr haben wir, wie Hegel sagt, „das Sterben Gottes als in ihm selbst, die Bestimmung, daß die Negation in seinem Wesen immanent ist; und dadurch wesentlich ist dieser Gott eben als Subjekt charakterisiert. Das Subjekt ist dies, sich in sich dies Anderssein zu geben und durch Negation seiner zu sich zurückzukehren, sich hervorzubringen.“ (518,320–325) Im Auferstehen des Gottes aus dem Tod wird in der Religion Ägyptens der ExitusReditus-Vorgang, im Verlauf dessen sich das Subjekt seiner selbst bewusst wird, manifest, aber nicht eindeutig, sondern zweideutig, nämlich auf naturtranszendente, übernatürliche und doch zugleich bleibend naturbedingte Weise. „Osiris stirbt; aber er wird ewig wiederhergestellt und so – als ein zum zweiten Mal Geborener, als eine Vorstellung gesetzt – nicht ein Natürliches, sondern ein vom Natürlichen, Sinnlichen Abgeschiedenes, hiermit bestimmt, gesetzt als angehörig dem Reich des Vorstellens, dem Boden des Geistigen, das über dem Endlichen dauert, nicht dem Natürlichen als solchem. Osiris ist seiner inneren Bestimmung nach der Gott der Vorstellung, der vorgestellte Gott. Daß er stirbt, aber ebenso wiederhergestellt wird, damit ist ausdrücklich ausgesprochen, daß er in dem Reich der Vorstellung vorhanden ist gegen das bloß natürliche Sein.“ (519,338–347)
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Eine Bestätigung für die das natürliche Sein transzendierende Anlage der ägyptischen Religion findet Hegel ferner darin, daß in ihr der Gedanke der Seele und ihre Unsterblichkeit ausgebildet und damit die Gewissheit zum Ausdruck gebracht worden sei, dass dem Subjekt ein übersinnlicher, unvergänglicher Status zukomme. Es wird „als ein dauerndes gewußt …, entnommen dem Vergänglichen, für sich fest, unterschieden vom Sinnlichen. Es ist darum ein höchst wichtiges Wort, das Herodot von der Unsterblichkeit sagt, daß die Ägypter zuerst ausgesprochen hätten, die Seele des Menschen sei unsterblich.“ (520,363–367) Doch gilt auch das Andere: obzwar vom Geist beseelt und von der Verhaftung an die sinnliche Natur im Grundsatz entbunden, ist die ägyptische Religion nach Urteil Hegels noch nicht hinreichend geistig verklärt, sondern lediglich ein Vorzeichen jener geistigen Verklärung, wie sie im Griechentum statthat. Erst im Griechentum weiß der Geist die Natur zu durchdringen und nach seinem Gefallen zu gestalten. Die Materie ist allein dazu da, formiert zu werden. In Ägypten dagegen erhält die materielle Natur dem Geistigen gegenüber ein Eigenrecht und lässt sich nur symbolisch gebrauchen. Hegel verdeutlicht dies in Sonderheit am Beispiel der ägyptischen Kunst, die indes von der Religion ebenso wenig zu trennen sei wie die griechische: Die ägyptische Kunstreligion ist noch nicht zu vollkommener Verwirklichung der Idee des Schönen in der Lage; ihr Symbolismus gibt Rätsel auf, die erst von den Griechen gelöst werden. 2.4 Die griechische und die jüdische Religion In der griechischen Religion erfolgt die Lösung des Rätsels, das die ägyptische hinterlassen hat; „die Sphinx ist nach einem bedeutungs- und bewunderungsvollen Mythos von einem Griechen getötet und das Rätsel so gelöst worden: der Inhalt sei der Mensch, der freie, sich wissende Geist.“ (532,561–564) In selbstbewusster Freiheit hat sich der Geist über die Natur erhoben, um sich in ihr als reiner Geist jenseits aller Vermischung von Geistigem und Natürlichem zu verwirklichen. Die Natur und alles, was ihr zugehört, haben von nun an nur noch die Bestimmung, „der Verherrlichung, Manifestation, Offenbarung des Geistes“ (533,594f.) zu dienen. Zwar gibt es in der griechischen Religion noch genügend Beispiele dafür, „wie das Natürliche mit dem Geistigen vermengt wird“ (539,778f.). Aber die entscheidende Schlacht ist geschlagen und der Sieg des Geistes über die Natur im Grundsatz errungen. Im Krieg mit den Titanen und Giganten haben sich die griechischen Götter als Repräsentanten freier Geistigkeit die Mächte der Natur unterworfen, um einem humanen Leben die Basis zu bereiten. Die griechische Religion, wie Hegel sie sieht, ist „eine Religion der Menschlichkeit … Der Mensch kommt zu seinem Recht, zu seiner Affirmation, worin das, was der Mensch konkret ist, dargestellt wird als Göttliches. Es ist kein Inhalt in den griechischen Göttern, der wesentlich
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dem Menschen nicht bekannt wäre.“ (534,644–535,648) Weit davon entfernt, den Anthropomorphismus zu rügen, der Götter menschlich erscheinen lässt, wertet Hegel ihn als schätzenswerten Vorzug der griechischen Religion gegenüber den orientalischen. Es sei ein Zeichen entwickelter Humanität, dass die Griechen sich ihre Götter als Menschen vorgestellt hätten, denen nichts Menschliches fremd sei. Statt ihnen ihre menschlich-irdischen Vorstellungen von den Himmlischen übel zu nehmen, solle man sie dafür belobigen und glücklich preisen. Ist der Mensch nach Hegel doch die einzige Gestalt, in der der Geist unter irdischen Bedingungen existiert; „in Löwengestalt z. B. kann doch wohl das Geistige nicht hervortreten.“ (553,998f.) Die Götter der Griechen treten als Menschen in Erscheinung und werden in menschlicher Gestalt verehrt, wie die herrlichen Statuen zeigen, die für sie angefertigt wurden. Schöneres gab es nicht, Schöneres gibt es nicht, Schöneres wird es nie geben! Die griechische Religion stellt den realisierten Inbegriff einer Religion der Schönheit dar und zwar deshalb, weil sie eine Religion der Menschlichkeit ist. Im Kultus, für den im Verein mit Schönheit Heiterkeit kennzeichnend ist, „wird dem Gott Ehre angetan, aber die Verehrung Gottes wird zur eigenen Verehrung des Menschen selbst, der das Bewußtsein seines affirmativen Verhältnisses, seiner Einheit mit den Göttern an ihm selbst geltend macht“ (555,39–42). Trotz der Ehrenstellung, die ihr innerhalb der griechischen Religion zukommt, enthält die gottmenschliche Einheit, wie sie im Kult der Schönheit manifest ist, ein Problem, das Gottheit und Menschheit gleichermaßen betrifft. Es begegnet auf zweifache Weise, nämlich zum einen in der Sperrigkeit des natürlichen Materials, welches sich einer vollkommenen geistigen Durchformung verweigert, zum anderen darin, dass die Gottheiten, in deren Inkarnationsgestalten Menschen die freie Geistigkeit ihrer Subjektivität vorstellig wird, nicht die höchste Macht darstellen. „Die höhere Macht, die absolute Einheit steht über den Göttern als ihre reine Macht. Diese Macht ist das, was Schicksal, Fatum, die einfache Notwendigkeit genannt wird. Sie ist ohne Inhalt, die leere Notwendigkeit, die leere, unverstandene, begrifflose Macht. Sie ist nicht weise; die Weisheit fällt in den Götterkreis, enthält konkrete Bestimmungen, die in das Besondere, in die einzelnen Götter fallen – das Schicksal ist ohne Zweck, ohne Weisheit, blinde Notwendigkeit, die über allen steht, auch über den Göttern, unbegriffen und trostlos.“ (543,846–854) Dem Fatum blinder Notwendigkeit, das in trostloser Unbegreiflichkeit schaltet und waltet, korrespondiert die Tatsache, dass sich nach Urteil der Griechen die Sinnlichkeit in ihren tiefsten materiellen (Ab-)Gründen der Formung entzieht. Der Heiterkeit ihres Kultus bleibt so ein tragisches Element beigemischt, und das Schönheitsideal, welches die griechische Religion zu realisieren sucht, stößt auf eine harte Grenze, die sie gerade deshalb nicht zu transzendieren vermag, weil sie ihr äußerlich bleibt. Die Religion der Schönheit ist, wenn man so will, zu schön, um wahr zu sein. Dies ist deshalb der Fall, weil das Bewusstsein der
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Vergänglichkeit alles Sinnlichen nicht dergestalt in sie Eingang gefunden hat, dass der Tod als aufgehobenes Moment ewigen Lebens gelten könnte. Indem sie den naturüberlegenen Geist in der Natürlichkeit zu realisieren sucht, ohne das Ende alles Natürlichen in sich zu fassen, bleibt sie geistig im Endlichen befangen, statt des Unendlichen gewärtig zu sein. Die griechische Religion ist darauf aus, das Geistige als Geistiges im Natürlichen zu verwirklichen und das Endliche im Geiste zu verklären. Doch bleibt sie in ihrer Geistigkeit mit einer natürlichen Äußerlichkeit behaftet, die sich in der Sperrigkeit der Materie, die sich formlos gibt und auf formwidrige Deformation drängt, sowie in der Macht des Schicksals kundtut, die Götter und Menschen gleichermaßen beherrscht, ohne begriffen zu werden. Die Gefahr ist nicht gebannt, dass Ordnung in Chaos umschlägt und die schöne Seele einer Trauer verfällt, die ihre Heiterkeit vertreibt, um nichts als Trostlosigkeit zu hinterlassen. Um diese Gefahr definitiv zu bannen, bedarf die griechische Religion einer vollständigen Reinigung von allen äußerlichen Sinnlichkeitsresten, damit die Geistigkeit der Subjektivität, zu der sie bestimmt ist, sich zur Reinheit des Gedankens erhebt, in der sie wahrhaft frei sein kann. In der jüdischen Religion der Erhabenheit ist diese Erhebung vollzogen und der Geist endgültig hinausgeführt „über die Natürlichkeit, Endlichkeit, nicht mehr behaftet und getrübt von dem Äußerlichen, was bei der Form der Schönheit noch der Fall ist“ (534,636–638). Im religionsphilosophischen Kolleg von 1827 hat Hegel wiederholt die Notwendigkeit betont, sich von der Religion der Schönheit zu derjenigen der Erhabenheit zu erheben, um zur Erkenntnis einer geistigen Einheit zu gelangen, die von aller sinnlichen Abhängigkeit frei ist und daher das Vergehen alles Sinnlichen sowie das Enden alles Endlichen zu verschmerzen und gänzlich und ohne jede Äußerlichkeit in sich zu fassen vermag. Erst diese Einheit, die Hegel zufolge als Einheit nicht lediglich der Substanz, sondern der Subjektivität zu gelten hat, „verdient für uns den Namen Gott“ (561,192). Insofern habe es seine Richtigkeit, die Ausbildung eines strengen Monotheismus der jüdischen Religion zuzuerkennen. Der Gott der jüdischen Religion ist einer und einer allein und in seiner unvergleichlichen Einzigkeit der Welt als dem Inbegriff alles sinnlich Erfahrbaren kategorisch überlegen. Seine unbedingte Weltüberlegenheit ist nicht durch eine gesteigerte, sondern in absoluter Macht begründet. In seiner Allmacht ist Gott die alles bestimmende Wirklichkeit, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erde, die er aus dem Nichts ins Sein gerufen hat. Der Absolutheit seiner Einheit und der Allmacht seines Vermögens entspricht die Universalität seiner schöpferischen Wirksamkeit. Alles, was er nicht unmittelbar selbst ist, hat Gott gesetzt. Gott selbst aber ist, was er ist, aus und durch sich selbst und als eine Voraussetzung, die sich selbst voraussetzt und sich von sich aus versteht. In seiner absolut voraussetzungslosen Selbstverständlichkeit ist Gott schlechterdings über alles erhaben. Sein Sein transzendiert das Sein alles Seienden. Die
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biblische Forderung, sich kein Bild von Gott zu machen, folgt daraus konsequent. Gott ist in seiner Gottheit „gestaltlos – nicht für die sinnliche Vorstellung, sondern nur für den Gedanken. Die in sich unendliche reine Subjektivität ist die Subjektivität, die wesentlich denkend ist. Als denkend ist sie nur für das Denken, also in ihrem Urtheil.“ (563,224–228) Das Urteil, in welchem sich die erhabene Gottheit manifestiert, macht sich durch Scheidung geltend. Geschieden wird zum einen zwischen Gott und Nicht-Gott, Gott und Welt: diese, die Welt, „ist jetzt prosaisch, sie tritt uns wesentlich als eine Sammlung von Dingen entgegen, ist entgöttert.“ (567,335f.) Die entgötterte Dingwelt erscheint als von Gott zweckmäßig eingerichtet und verständig geordnet. Wunder stellen eine Ausnahme von der Regel dar, die diese und die Ordnung bestätigen, die ebenso verständig wie zweckmäßig ist. Wie aber der extrahumane Kosmos den Gesetzen der Natur zu entsprechen hat, so hat der Mensch den Geboten einer allgemeinverbindlichen Gerechtigkeit zu gehorchen, die Ausnahmen ebenfalls nur zur Bestätigung der geltenden Regel vorsieht. Auch für den Begriff der Gerechtigkeit ist Scheidung grundlegend, nämlich das Urteil im Sinne einer Ur-Teilung von Recht und Unrecht. Es entspricht der Gerechtigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu scheiden, und es ist ungerecht, das scheidende Gericht zu unterlassen und die Differenz von Täter und Opfer zu vergleichgültigen. Der jüdische Gott steht dafür und garantiert, dass eine Egalisierung und Indifferenzierung von Gut und Böse nicht statthat. Weil seine Erhabenheit mit „Weisheit und Heiligkeit“ (562,210) unscheidbar eins ist, gewährleistet er die richtige Ordnung der Natur und den gerechten Kosmos der Menschenwelt. Gott ist gut und seine Allmacht steht im alleinigen Dienst seiner Gerechtigkeit, der zu entsprechen das Menschengeschöpf bestimmt ist. Wer Gutes tut und dem göttlichen Gesetz gehorcht, dem wird es wohlergehen; wer hingegen böse handelt, dem wird Übles zuteil werden. Ausdrücklich verweist Hegel auf den Tun-ErgehenZusammenhang, der für die jüdische Religion kennzeichnend sei. Zwar scheint die Korrespondenz von Tun und Ergehen empirisch eher falsifiziert als verifiziert zu werden. Doch hält der jüdische Fromme auch unter widrigen Bedingungen mit Gewissensgewissheit an dem Glauben fest, dass Gott seine Gerechtigkeit durch gerechtes Gericht realisieren wird – wenn nicht heute, so doch am Jüngsten Tag. Das Postulat, „daß es dem, der Recht tut, auch wohl ergehe“ (572,463f.), beruht nach Hegel auf der die jüdische Religion bestimmenden Idee, dass alles Natürliche dem Geist, alles Sinnliche dem Übersinnlichen, alles Endliche dem Unendlichen unterworfen sei, welches jedwedes Äußere verinnerlicht und in seine erhabene Allmacht aufgehoben habe. Weil die unendliche Allmacht als geistiges Vermögen und nicht als Schicksal waltet, werden die Geschicke der Menschen und der Welt des Endlichen nicht auf fatale Weise, sondern gerecht und nach Gesetzen gefügt, die weise und gut sind. Der natürliche Kosmos hat den für ihn geltenden Gesetzen zu folgen, das Menschengeschöpf jenen gehorsam zu sein, die seine geistige Be-
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stimmung ausmachen. Wird der nötige Gehorsam geleistet, „ist das Wohlsein der Menschen affirmativ, göttlich berechtigt; aber es hat diese Berechtigung nur, sofern es dem Göttlichen gemäß ist, dem sittlichen göttlichen Gesetz.“ (572,473–475) Das göttliche Sittengesetz ist der Maßstab, an dem sich der Mensch zu bemessen hat in der gewissen Zuversicht, die Hegel ausdrücklich als bewunderungswürdig qualifiziert (vgl. 573,493f.), das nicht die blinde Notwendigkeit eines fatalen Naturgeschicks, sondern die als geistig notwendig erkannte Gottesgerechtigkeit über sein Schicksal entscheidet. In diesem Sinne herrscht, wie es heißt, in der jüdischen Religion das Bewusstsein einer „Harmonie zwischen Macht und Weisheit“ (573,514), erhabenem Vermögen und Gerechtigkeit: „es wird als Zweck Gottes gewußt, daß er es dem Guten gut gehen lasse.“ (573,502f.) Da dieses Wissen seinem Wesen nach auf Allgemeinheit ausgerichtet ist, drängt es gemäß innerer Logik über alle Grenzen hinaus mit der Folge, dass sich die jüdische Religion bestimmungsgemäß von einer ethnischen zu einer Welt- und Menschheitsreligion gestaltet. Das Imperium Romanum bietet der jüdischen Religion für diesen Gestaltungsprozess lediglich den äußeren Rahmen, wohingegen die Römer ansonsten nichts innerlich Weiterführendes zu bieten haben und zwar weder in religiöser noch in künstlerischer oder philosophischer Hinsicht. Im römischen Reich herrscht nach Hegels Auffassung eine geistlose Macht, der ein machtloser Geist korrespondiert.70 Die Religion der Zweckmäßigkeit, der die 70 Vgl. im Einzelnen G. Wenz, Geistlose Macht und machtloser Geist. Das Imperium Romanum im Urteil Hegels, in: KuD 65 (2019), 272–293. Zwar fungiert die römische Religion, um beim Kolleg von 1827 zu bleiben, als dritte im Bunde der bestimmten Religionen und als diejenige, in der nicht nur die Differenz zwischen den Naturreligionen in ihren Formen und der Religionsform geistigen Fürsichseins, sondern auch der Unterschied zwischen griechischer und jüdischer Religion aufgehoben sein soll. Aber die Aufhebung erfolgt bloß äußerlich, sodass die „Vereinigung der Religionen der Schönheit und Erhaben“ (579,612f.) abstrakt bleibt und zur Folge hat, dass beide ihre Vorzüge verlieren, statt sich wechselseitig zu bereichern: „Die Religion der Schönheit verliert die konkrete Individualität ihrer Götter und damit auch deren sittlichen, selbständigen Inhalt; die Götter werden zu Mitteln herabgesetzt. Die Religion der Erhabenheit verliert die Richtung auf das Eine, Ewige, Überirdische.“ (580,629–633) Mag es oberflächlicher Betrachtung zunächst so erscheinen, als sei die römische mit der griechischen Religion weitgehend identisch, so zeigt sich nach Hegel bei genauerem Zusehen rasch ein wesentlicher Unterschied, der mehr noch im Bezug auf die jüdische offenkundig werde. In der römischen Religion weiche sowohl der Geist heiterer Schönheit als auch derjenige erhabener Heiligkeit, Weisheit und Gerechtigkeit und an beider Stelle trete der Zweck formaler Herrschaft, auf welche alles in ihr abgestellt sei, die Götter eingeschlossen: „sie erscheinen als sinnlose Maschinerien.“ (585,771) Einziger Zweck der „Maschinengötter“ (ebd.) sei die Herrschaftsstabilisierung und die Befriedigung genuiner Bedürfnisse der Menschen, die sie verehren. Sie sind, was sie sind, indem sie sich auf gleichsam mechanische Weise als nützlich erweisen. Ihr Sinn ist zum Nutzzweck herabgesetzt. Der Kult der römischen Religion entspricht dem: „Es wird Gott gedient um eines Zweckes willen, und dieser Zweck ist ein menschlicher.“ (588,840f.) In einer Hinsicht ist er auf abstrakte Herrschaft und die Pflege eines „kalte(n) Patriotismus“ (589,867), in einer anderen auf eine juridische Ordnung ausgerichtet, die der Gleichschaltung aller individuellen
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Römer huldigen, führt weder über die Religion der Erhabenheit, noch über die der Schönheit hinaus, sondern ist eher als ein Rückfall zu beurteilen. Transzendiert werden sowohl die griechische als auch die jüdische Religion Hegel zufolge vom Christentum als der offenbaren, vollendeten, absoluten Religion. In der christlichen Religion ist nach Auffassung des Philosophen das Endliche als Endliches im Unendlichen aufgehoben und damit eine Beschränktheit überwunden, die auch noch die Gottesidee der jüdischen Religion in sich enthalte. „Der Mangel dieser Idee ist hier, daß Gott wohl der Eine ist, aber so in sich selbst auch nur in der Bestimmtheit dieser Einheit, nicht das in sich selbst ewig sich Entwickelnde ist.“ (574,541–544) Erst durch den trinitarischen Gottesgedanken, wie er sich in der christlichen Religion ausbildet, ist nach Hegel dieser Mangel behoben. 2.5 Die Religion der Erhabenheit im Wechsel der Vorlesungskonzepte In der Anordnung des Materials des zweiten Teils seiner religionsphilosophischen Vorlesungen, denen er „knapp die Hälfte der jeweils verfügbaren Kollegstunden“71 widmete mit dem Ziel, den religionsgeschichtlichen Prozess als vernunftgemäß zu erweisen, geht Hegel in der Organisation des Materials ganz eigene Wege, die sich signifikant von bis dahin geläufigen Anordnungen unterscheiden. Er „durchbricht die beiden Dreierschemata, in denen traditionell und bis in seine Zeit nicht-christliche Religionen zum Thema geworden sind: sowohl das spätantike Schema von Heiden, Juden und Christen als auch das seit dem späten Mittelalter aus der geschichtlichen Erfahrung des ‚christlichen Abendlandes‘ erwachsene und noch Lessings Nathan zu Grunde liegende Schema von Christentum, Judentum und Islam.“ 72 Bleibt die kritische Abkehr von überkommenen Gliederungsformen konstant, so ist die konstruktive Konzeptionalisierung der Religionsgeschichte bzw. der Abfolge der einzelnen Religionen und ihres Verhältnisses zueinander einem „rapiden Wandel“73 unterworfen. Es zeigen sich „kontinuierliche Neuansätze zur gedanklichen Durchdringung und Formierung der Religionsgeschichte“74 . Unter Aufnahme einschlägiger historischer Forschungen werden die Vorlesungen zum Thema nicht nur materialiter angereichert, sondern auch förmlich umgearbeitet, wobei die Umarbeitungen erstens „das Bild der jeweils einzelnen Religion“75 , zweitens deren
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Belange dient. Beide Aspekte koinzidieren in dem Punkt, auf den alles hinzielt: die Realisierung einer abstrakten Allgemeinheit, die religiös bezweckt und mittels verständiger Kalkulation verfolgt wird. W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 459. A.a.O, 460. A.a.O., 461. Ebd. Ebd.
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Stellungszuweisung im religionsgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang und drittens die Prinzipien betreffen, nach Maßgabe derer die Abfolge der bestimmten Religionen systematisch geordnet wird. Trotz fortschreitender Differenzierung der Wahrnehmung ihres historischen Erscheinungsbildes scheint für Hegel die interne Entwicklung einer einzelnen Religion nur von nachrangigem Interesse zu sein. Sie wird, von Randbemerkungen abgesehen, weitgehend „ignoriert“76 , was auch in Bezug auf die jüdische Religion zutrifft. Dies gibt Anlass zu der Frage, wie es um das Verhältnis von Historiographie und begriffslogischer Systematik insgesamt bestellt ist. Um sie auch nur halbwegs präzise beantworten zu können, bedürfte es einer Klärung von Hegels Verständnis empirischer Forschung in ihrem Verhältnis zu spekulativer Systembildung, wie er sie als (Religions-)Philosoph auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht betreibt. Dabei ist zu bedenken, dass für Hegels systematische Formierung der Religionsgeschichte räumliche Hinsichten mindestens ebenso bedeutsam sind wie zeitliche. Der Gang der Entwicklung verläuft von Ost nach West, vom Morgenland zum Abendland, und er bemisst sich nur bedingt an der Chronologie. Auch in Bezug auf einzelne Religionen und die Bestimmung ihrer Besonderheit spielen zeitliche Aspekte eine eher nachgeordnete Rolle. Sie werden trotz gelegentlicher genetischer Perspektiven im Wesentlichen als perfekte Gegebenheiten behandelt. In einem lediglich eingeschränkten Maße relevant ist die Chronologie fernerhin für die Festlegung ihres Verhältnisses zueinander. Zeitlich früher auftretende Religionen können nach Maßgabe der Hegel’schen Entwicklungslogik höherwertig angesetzt werden als spätere, was erneut die Frage hervorruft, woran sich besagte Logik primär orientiert, an der historischen Empirie oder am spekulativen Begriff. Es ist indes nicht auszuschließen, sondern mehr als wahrscheinlich, dass Hegel die genannte Gegenüberstellung grundsätzlich nicht akzeptiert hätte. Ist sein Entwurf doch offenkundig darauf angelegt, die Differenz von Empirie und Metaphysik nachgerade in geschichtsphilosophischer Hinsicht aufzuheben. Statt diese weitreichende These im Einzelnen zu begründen, muss es bei einigen Bemerkungen zur Fassung der jüdischen Religion und zum wechselnden Status sein Bewenden haben, den Hegel ihr in seinem Konzept der Religionsgeschichte zuweist. Im Manuskript der Vorlesung von 1821 hat der Philosoph das religionsgeschichtliche Material nach Maßgabe der drei Teile seiner Wissenschaft der Logik in drei Bestimmtheitsformen gegliedert: in diejenige des Seins, des Wesens und des Begriffs. Die Religion in der Bestimmtheit des Seins ist die unmittelbare Religion, die sich, wie es heißt, bloß „in ihrer Substantialität“ (2,40; bei H. gesperrt) hält: „Spinozische Einheit, orientalisch; Endlichkeit nicht als Schein gesetzt.“ (2,45) In der Bestimmtheit des Wesens tritt die Religion aus ihrer Unmittelbarkeit heraus,
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um ihr Selbstbewusstsein von ihrem Gegenstand zu unterscheiden und reflexiv zu werden. Geschichtlich manifest ist die Religion in der Bestimmtheit reflexiven Wesens in zwei Religionen, der jüdischen als derjenigen der Erhabenheit und der griechischen als derjenigen der Schönheit (vgl. 29–94). Hegel behandelt sie gemeinsam nach ihrem metaphysischen Begriff (vgl. 34–40), ihrer konkreten Vorstellung und Form der Idee (40–58) sowie gemäß ihrem Kultus (58–94), wobei die Behandlung der jüdischen Religion derjenigen der griechischen jeweils vorangeht. Metaphysisch betrachtet bringt die jüdische Religion die Gottheit, wie sie an sich selbst ist, die griechische dagegen durch konkrete Gestalten vermittelt zur Geltung. Im Unterschied zum griechischen Götterhimmel ist der jüdische Gott strikt einer und in seiner Einzigkeit über alles erhaben. Sein Wesen ist Allmacht, die als Negationsfähigkeit überhaupt waltet. Alles steht unter der Herrschaft des Herrn, der in seiner Transzendenz durch nichts bedingt, aber alles bedingend, mithin der Schöpfer des Himmels und der Erde ist. Die Universalität seines Schöpfertums, durch das alles, was er nicht unmittelbar selbst ist, mediatisiert wird, entspricht der Absolutheit seiner Einheit, wobei hinzuzufügen ist, dass der eine Schöpfergott zugleich Erhalter, Lenker und Leiter alles Geschaffenen ist. Was die bestimmte Art und Weise des göttlichen Schaffens, Erhaltens, Lenkens und Leitens anbelangt, so spricht Hegel ausdrücklich von Güte und Gerechtigkeit, die als der Gottheit Gottes eignende Wesensattribute bezeichnet werden. Die göttliche Eigenschaft der Güte soll sich dabei auf das Sein der Endlichen, diejenige der Gerechtigkeit auf die Endlichkeit und das Enden des Endlichen beziehen und dessen Nichtigkeit indizieren. Entsprechend sei der Kult der israelitischen Religion ganz auf die Gleichschaltung des Endlichen mit dem Unendlichen und auf gehorsame Knechtschaft abgestellt, die dem erhabenen Herrsein des Herrn zu huldigen habe. „Furcht vor dem Herrn ist die absolute religiöse Pflicht, mich als Nichts zu betrachten, mich nur absolut abhängig zu wissen.“ (61,416f.) Bedingungslose Unterwerfung unter die Forderungen des mit absoluter Autorität gesetzten Gesetzes und opfernde Hingabe alles vermeintlich Eigenen an den allvermögenden Eigner sind Hegel zufolge gleichermaßen Charakteristika jüdischer Religiosität. Anders als im Manuskript der Vorlesung von 1821 hat Hegel den Kult der jüdischen Religion im Kolleg von 1824 eigens in drei Momente unterteilt und entsprechend systematisiert (vgl. 339–352). Das erste Moment ist dasjenige der Furcht des Herrn als des Innersten der religiösen Gesinnung. Mit einem Abhängigkeitsgefühl sei sie, wie Hegel mit einem – nur bedingt treffenden – Seitenhieb auf Schleiermacher vermerkt, nicht zu verwechseln. Denn die Furcht des Herrn fürchtet nicht etwas, sondern allein den Allmächtigen, um dessentwillen von allem einschließlich des Ureigenen abzusehen sei: „die Furcht des Herrn ist so die Befreiung von allen besonderen Interessen“ (344,682f.), „die Negation der eigenen Negativität, das Aufheben aller Abhängigkeit“ (ebd.), woraus eine gläubige Zuversicht folgt, die resistent gegen Enttäuschungen jedweder Art mache. „Diese unendliche Zuversicht
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ist das Aufgegebenhaben des Besonderen, Eigenen, und sich in den Herrn Hineinversenken, dies Eine zu seinem Gegenstand und Wesen Haben.“ (344,692–345,695) Betrifft das erste Moment des Kultus der jüdischen Religion das Einswerden mit dem Einen, das in seiner Einzigkeit allem Anderen als absolute Macht gegenüberstehend vorstellig wird, so ist das zweite darauf ausgerichtet, der gläubigen Zuversicht konkrete Gestalt zu geben und zwar in Form von Wohltaten und Besitztümern, die von dort unter der Bedingung von Gesetzesgehorsam zugeteilt werden, bei Nichtentsprechung indes wieder entzogen werden. Behoben werden könne die als Strafe empfundene üble Folge der Gesetzesmissachtung im Rahmen des Opferinstituts als der dritten Seite des Kults, in der sich mittels Selbsthingabe oder auf stellvertretende Weise Versöhnung vollzieht. Hinzuzufügen ist, dass der triadisch strukturierte Kultus im Kolleg von 1824 wie in demjenigen von 1821 das dritte Bestimmungsmoment der jüdischen Religion nach ihrem metaphysischen Begriff und der konkreten Form ihrer Gottesvorstellung darstellt. Hinzuzufügen ist fernerhin, dass die Religionen der Erhabenheit und der Schönheit, also die jüdische und die griechische, unter der Überschrift Religionen der geistigen Individualität zusammengefasst und mit der römischen Religion der Zweckmäßigkeit als einer „Übergangsreligion“ (282,37f.) verbunden sind. Vorangegangen war die Thematisierung der sog. Naturreligionen, im Vergleich zu denen sich die Folgereligionen durch fortgeschrittene Geistigkeit auszeichnen. „Die Grundbestimmung der neuen Sphäre ist die Subjektivität überhaupt.“ (283,974f.) Als freie Macht der Selbstbestimmung setzt sich die Subjektivität zunächst als Zweck an sich selbst, dann in besondere Zwecke, dann als vereinzelte Zweckmäßigkeit. Als reiner Selbstzweck wird die Negationsfähigkeit überhaupt, die der Subjektivität eignet, in der jüdischen, im Modus bestimmter Zwecksetzungen in der griechischen und in Form einer allgemeinen Zweckmäßigkeit in der römischen Religion manifest, wobei die drei besagten Religionen, wie Hegel vermerkt, „in umgekehrter Reihenfolge den vorhergehenden“ (289,175f.) entsprechen sollen, nämlich die jüdische der persischen, die griechische der indischen und die römische der naturhaft bestimmten Religion im Anfangsstadium ihrer Entwicklung. Hebt der naturreligiöse Entwicklungsprozess beim Dasein in seiner natürlich gegebenen Mannigfaltigkeit an, um sich zuletzt, wie in der persischen Religion der Fall, „in die einfache Natürlichkeit des Lichts“ (290,198f.) zurückzuziehen, nimmt die Geistreligion beim absoluten Ich in der Reinheit seiner Subjektivität ihren Ausgang, als welches der Gott der jüdischen Religion vorstellig wird, um in Abstraktion von der Abstraktheit unmittelbare Selbstbestimmung zu konkreten Ichgedanken und Subjektivitätsrealisationen zu gelangen. Natur und Geist entsprechen sich nicht im Modus der Analogie, die einen univoken logos analogans zur Voraussetzung hat, um zu funktionieren, sondern in dialektischer Weise. Für die Ordnung der Religionsgeschichte hat das zur Konsequenz, dass sich die Reihenfolge der Bestimmungsmomente in der Entwicklung
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der Naturreligionen im Vergleich zu derjenigen der Bestimmungsmomente in der Entwicklung der Geistreligionen als gegenläufig darstellt. Dieser Grundsatz behält für Hegels Konzeption der Geschichte der Religion seine methodische Richtigkeit, auch wenn die konkrete Reihung bestimmter Religionen in den jeweiligen Vorlesungen variieren kann. Solche Variationen begegnen in den einzelnen Vorlesungen sowohl in Bezug auf die naturreligiösen Formationen als auch hinsichtlich der Erscheinung der Religionen, die im Kolleg von 1824 solche der geistigen Individualität genannt werden und sich durch ihr reflexives Wesen auszeichnen. So kann, wie gesagt, die Stellung der jüdischen und der griechischen Religion wechseln, ohne dass dadurch das Verhältnis beider zueinander und zu den anderen Religionsgestalten als grundlegend verändert erscheinen müsste. Wie der differenzierte Zusammenhang der Religion der Erhabenheit und derjenigen der Schönheit stets auf die römische Religion der Zweckmäßigkeit hin angelegt bleibt, so wird er durchweg rückbezogen auf die Grundstruktur der naturreligiösen Entwicklung. Dem scheint zu widersprechen, was David Friedrich Strauß auszugsweise von Hegels letzter religionsphilosophischer Vorlesung aus dem Jahr 1831 überliefert. Zwar bleibt die triadische Grundstruktur auch dort erhalten: Auf die Religionen in den natürlichen Formen ihrer Unmittelbarkeit folgt die Entzweiung des Bewusstseins in sich, durch welche das Wesen der Religion erst eigentlich zu Tage tritt und Gott sich als absolute Macht realisiert, bis schließlich eine Versöhnung der Gegensätze zum Vorschein kommt. Auch innerhalb der Gesamtstruktur sowie ihrer Formationen lassen sich Kontinuitäten unschwer entdecken. Allerdings werden die chinesische, die indische und die lamaisch-buddhistische Religion nicht dem ersten, sondern dem zweiten Teil der religionsgeschichtlichen Entwicklung zugewiesen, in der sich die Entzweiung des religiösen Bewusstseins vollzieht. Der dritte Teil – „Die Religion der Freiheit“ überschrieben – ist sodann in religiöse Übergangsformen sowie in die griechische und römische Religion unterteilt, wobei den Übergangsformen die sog. Religionen des Guten, diejenigen des Schmerzes und die ägyptische Religion zugerechnet werden. Erstere soll, wie es heißt, „in zwei Formen vorhanden gewesen“ (624,452) sein, nämlich der persischen und der jüdischen. In der persischen Religion wird das Gute abstrakt als Licht, also in der „Form reiner Unmittelbarkeit des noch nicht besonderten Physikalischen“ (624,465f.) vorstellig gemacht, in der jüdischen als absolutes Subjekt, dessen Allmacht alle Wirklichkeit bestimmt: „die persische Lichtmacht ist nur Eines, der jüdische Gott ist Einer.“ (625,498f.) Als solcher ist er Herr aller Weltdinge, die in Anbetracht seiner Erhabenheit als entgöttert und prosaisch erscheinen. Was aber den Menschen als Ebenbild Gottes betrifft, so erfüllt er Hegel zufolge seine Bestimmung, indem er dem Herrn dient und seinen Gesetzen gehorsam ist, welche auf Machtautorität und nicht auf Vernunfteinsicht gründen, „so daß die an und für sich seienden ewigen Gesetze des Rechts und der Sittlichkeit in gleicher Form stehen mit Gesetzen über blaue oder gelbe Vorhänge“ (628,593f.).
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Bleibt der Geist nach Hegels Urteil in der jüdischen Religion sich selbst entfremdet und durch den Gegensatz von Herr und Knecht bestimmt, so muss es in der weiteren Religionsgeschichte darum zu tun sein, besagten Gegensatz und die mit ihm verbundene Entfremdung zu überwinden. Die Entwicklung, mittels derer dies geschieht, assoziiert Hegel neben „einigen vorderasiatischen, besonders phönizischen Religionen“ (629,613f.) mit der ägyptischen, die zur griechischen überleitet, auf welche die römische folgt, in der „das heitere Glück der vorhergehenden“ (641,73f.) vernichtet wird. Die abstrakte Macht beständig kalkulierender Herrschaft, der sich die römische Religion der Zweckmäßigkeit weiht, „brachte das ungeheure Unglück, den Schmerz in die Welt, welche die Geburtswehen für die Religion der Wahrheit wurden. Die Resignation auf Befriedigung in dieser Welt war die Bereitung des Bodens für die wahrhafte Religion. Als die Zeit erfüllet war, d. h. als in dem Geiste der Welt diese Verzweiflung hervorgebracht war, da sandte Gott seinen Sohn.“ (641,74–79) Sucht man die Stellung zusammenfassend zu würdigen, die Hegel der jüdischen Religion der Erhabenheit im Wechsel seiner religionsgeschichtlichen Vorlesungskonzepte zuerkennt, so fällt als erstes ihre durchgängige Bindung an die griechische Religion der Schönheit auf. Beide befinden sich in einem Verhältnis der Korrespondenz und wechselseitigen Verwiesenheit, was durch die Variation der Reihenfolge nicht falsifiziert, sondern im Gegenteil bestätigt wird. Jüdische und griechische Religion ergänzen sich und nehmen als integres Ganzes eine Vorzugsstellung nicht nur den vorhergehenden Religionen gegenüber, sondern auch gegenüber der römischen Religion der Zweckmäßigkeit ein, deren Sinn im Wesentlichen darin besteht, zur vollendeten Religion des Christentums überzuleiten. Jüdische und griechische Religion stehen nach Hegel der christlichen von ihrem Sinngehalt ungleich näher als die römische, die, obwohl nachgeordnet, ihnen gegenüber abfällt. Das Defizit von Judentum und Griechentum, das nicht etwa schon von den Römern, sondern erst im Christentum behoben wird, ist darin begründet, dass der Vorteil des einen Teils der Nachteil des anderen ist und umgekehrt. Der Vorteil der jüdischen Religion gegenüber der griechischen hat ihren Grund darin, dass sie den Polytheismus konsequent hinter sich lässt und sich zur Erhabenheit eines Gottes erhebt, der in seiner absoluten Transzendenz allem Seienden unendlich überlegen ist, um als sich selbst gleiches Ich allmächtig zu schalten und zu walten. Fichteassoziationen stellen sich ein und zwar nicht von ungefähr. Denn tatsächlich wird der Begriff der jüdischen Religion nach Grundsätzen formiert und modelliert, die der Theorie des sich selbst setzenden Ich des Wissenschaftslehrers entsprechen, den Hegel als den Vollender der Philosophie Kants betrachtet, die er ebenfalls bereits von früh an in Beziehung mit dem Geist des Judentums brachte. Wie Fichte lehrt Hegel zufolge schon die jüdische Religion die radikale Autonomie absoluter Subjektivität und schalte alles Nichtich dem Ich=Ich tendenziell gleich, ohne die Negationsfähigkeit überhaupt auf sich selbst anzuwenden und zum Ge-
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danken einer Selbstexplikation im Anderen bzw. einer Identität von Identität und Differenz zu gelangen. Ob diese Deutung Fichte entspricht, ist hier nicht Thema. Anfragen zu ihrer Sachgemäßheit in Bezug auf die jüdische Religion ergeben sich insbesondere hinsichtlich des in Anschlag gebrachten Begriffs göttlicher Gerechtigkeit. Dass der Gott Israels, wie er sich in der jüdischen Religion offenbart, in seiner Gottheit nicht nur einzig und allmächtig, sondern wesentlich gütig und gerecht ist, duldet keinen Zweifel. Dies sagt auch Hegel. Indes deutet er die göttliche Güte und Gerechtigkeit nach Maßgabe der Logizität unmittelbarer Selbstbestimmung und als Attribute eines absoluten Herrscherwillens, der Recht setzt nach seinem Belieben, ohne sich selbst zu binden. Gottes Güte und Gerechtigkeit erscheinen so als willkürlich, der menschliche Gehorsam als knechtisch und blind. Er beruht nicht auf Einsicht, sondern auf Unterwürfigkeit einer allmächtigen Autorität gegenüber, deren Satzungen gültig sind allein deshalb, weil sie von ihr gesetzt sind. Die Verallgemeinerungsfähigkeit der gesetzten Gebote erweist sich damit als beschränkt, welche Beschränktheit nach Hegel in zweierlei Hinsicht besonders zutage tritt: in der faktischen Begrenzung der Geltung der Tora auf ein Volk, das sich als von Gott auserwählt wähnt, und in der tendenziellen Gleichsetzung von Weisungen universaler Sittlichkeit mit solchen, die, wie Hegel sagt, blaue und gelbe Vorhänge betreffen. Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, dass die jüdische Religion durchaus zwischen beiden Sorten von Weisungen zu unterscheiden vermag und in der Lage ist, verallgemeinerungsfähigen Geboten der Tora vor ethnisch oder anderweitig beschränkten einen nicht nur relativen, sondern absoluten Vorrang einzuräumen, was mit religiösen Universalisierungsbestrebungen konform geht, die sich bereits in vorjesuanischer Zeit abzeichnen und das Judentum zu einer Weltreligion werden lassen. Theologisch aber ist der Gerechtigkeitsbegriff der jüdischen Religion unterbestimmt, wenn er auf eine potentia absoluta und nicht auf einen Gott zurückgeführt wird, der als Schöpfer seinen Menschengeschöpfen dadurch Gutes zu tun gewillt ist, dass er nicht nur Licht und Finsternis, sondern auch Recht und Unrecht scheidet und einen Korrespondenzzusammenhang zwischen Rechttun und Wohlergehen erschließt, der, wenn nicht hier und heute, spätestens am Tag Jahwes seine definitive Gültigkeit erweisen wird. 2.6 Das Judentum in welt-, kunst- und philosophiegeschichtlicher Hinsicht Die dreiteilige Grundkonzeption seiner Vorlesungen über die Philosophie der Religion hat Hegel durchgehend beibehalten. Nach Maßgabe von operativen Kategorien wie Ansich-, Fürsich- und Anundfürsichsein, Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, Begriff, Urteil und Schluss bzw. Begriff, objektive Realisierung desselben sowie Einheit von Idealität und Realität oder auch Identität, Differenz und Identität
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von Identität und Differenz etc. ordnet er dem Begriff der Religion deren Bestimmtheit und die vollendete Religion der Religionen einander zu. In der konkreten Durchführung der Konzeption kommt es allerdings zu „Interferenzen“77 und zu Variationen innerhalb der in der Regel ebenfalls triadisch gestalteten Ordnung der einzelnen Teile. Sie betreffen insbesondere die Komposition der Religion in ihrer Bestimmheit. Unterschieden wird seit dem Kolleg von 1821 zwischen Naturreligion, jüdischer und griechischer sowie römischer Religion. Allerdings werden ab 1824 die drei letztgenannten Religionen unter dem Titel „Religionen der geistigen Individualität“ zu einer eigenen Trias zusammengefasst, um als Mittelstück zwischen Naturreligion und absoluter Religion zu fungieren. Dadurch kommt es zu einer „Überschneidung der Triaden“ (112; bei H. hervorgehoben)78 woran sich exemplarisch zeigt, dass Hegel mit dem „scheinbar so festen hierarchischen Gefüge“ (115) seiner Systematik recht flexibel umgehen konnte. Detailbeobachtungen in Bezug auf die Gliederungsordnung einzelner Religionen in ihrem Verhältnis zueinander bestätigen diesen Eindruck. Zwar beansprucht Hegel, „sie systematisch auseinander entwickeln zu können“ (154); das hindert ihn indes nicht an bemerkenswerten Wechseln, etwa was die Reihung von jüdischer und griechischer Religion betrifft. Hegels Flexibilität hinsichtlich der religionsgeschichtlichen Organisation hat zu Fragen Anlass gegeben. Liegt seiner Lehre von den einzelnen Religionen durchweg ein unmittelbar von der Logik vorgegebenes Strukturgesetz zu Grunde, „das als Metaprinzip unabhängig vom konkreten Gang der Religionen Gültigkeit hat“ (157)? Wirkt nicht vielleicht doch auch die einzelne Religion in ihrer historischen Bestimmtheit und ihrem nur geschichtlich zu erhebenden Verhältnis zu anderen Einzelreligionen stärker auf das systematische Entwicklungsschema ein als man vermuten möchte? Die Variationen und Umgruppierungen, die Hegel vornimmt, sprechen offenbar für letztere Annahme. Gewiss soll der geschichtliche Gang der realen Religionen eine Entwicklung ergeben, in der sich der Prozess des Zusichkommens der Vernunft zu erkennen gibt. Doch muss dies heißen, dass die Durchführung der Lehre von den Religionen in ihrer geschichtlichen Besonderheit unmittelbar nach Maßgabe der Logizität des Denkens erfolgt? Hat nicht vielleicht der Gang der Geschichte selbst eine Vermittlungsfunktion für die Logik als die Lehre reiner Denkbestimmungen? Nicht als ob System und Phänomen in Hegels Philosophie auseinanderdividiert und in ein oppositionelles Verhältnis zueinander gebracht werden sollten: Ein solches Unternehmen wäre abwegig. Verfehlt dürfte aber auch die Annahme sein, Hegel sei ein systembefangener Dogmatist,
77 R. Heede, Die göttliche Idee und ihre Erscheinung in der Religion. Untersuchungen zum Verhältnis von Logik und Religionsphilosophie bei Hegel, Diss. Münster 1972, 112. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 78 Vgl. die ebd. beigegebene Skizze, die Kollegkonzeptionen schematisch veranschaulicht, sowie Heedes Vergleich des Aufbaus der Religionsphilosophie mit anderen Konzeptionsmodellen.
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der historische Gegebenheiten gewaltsam in ein vorgefasstes logisches Schema zu pressen suchte. Seine philosophische Intention scheint viel eher darauf gerichtet zu sein, Phänomenoffenheit und Systematik zu einem differenzierten Zusammenhang zu verbinden. Hegels Flexibilität im Umgang mit Ordnungsstrukturen kann als Indiz dafür gewertet werden. Man wird mithin die „Korrespondenz zwischen der Geschichte der Religionen und den Momenten der Logik“ (177) nicht im Modus unmittelbarer Entsprechung oder univokationsabhängiger Analogie, sondern dialektisch zu bestimmen haben. Eine entsprechende hermeneutische Forderung ist auch in Bezug auf die Werke zu erheben, in denen Hegel die welt-, kunst- und philosophiegeschichtliche Stellung des Judentums zu bestimmen sucht.79 Seine Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte hat Hegel vergleichsweise spät begonnen. Gehalten wurden sie auf der Basis handschriftlicher Aufzeichnungen, von denen nur noch wenig erhalten ist. Eine Veröffentlichung erfolgte zu Lebzeiten des Philosophen nicht, sondern erst in der Freundesvereinsausgabe, zunächst durch Eduard Gans, dann durch Hegels Sohn Karl und zwar in Form einer Kompilation von Manuskripten des Philosophen mit einzelnen Nachschriften der fünf Vorlesungsjahrgänge.80 Thematisch einschlägig für die Geschichte des antiken Judentums sind die Ausführungen zur orientalischen Welt, näherhin zu Persien, dessen Reichsgeschichte neben dem phönizischen Volk auch das jüdische zugeordnet wird. Diese Zuordnung ist insofern plausibel, als sich die religiöse Identität des Judentums vorzugsweise in persischer Zeit ausgebildet hat; u. a. die Genese weiter Teile des hebräischen Kanons fällt in diese Epoche. Da für Hegel ohnehin nicht die politische, sondern allein die religiöse Geschichte des Judentums von welthistorischer Relevanz ist, lässt sich verstehen, warum das jüdische Volk als „zum persischen Reiche im weiteren Verbande“ (260) gehörend ausgegeben und im Übrigen wesentlich dasjenige wiederholt wird, was im Bezug auf das Judentum Thema der Vorlesungen über die Religion in ihrer Bestimmtheit war. Die ursprüngliche Einsicht der jüdischen Religion markiert einen wichtigen Schritt in der Entwicklung vernünftigen Geistes und ist daher von weltgeschichtlicher Bedeutung, auch wenn das antike Judentum in sonstiger Hinsicht als historisch 79 „Der Begriff des Judentums in der klassischen deutschen Philosophie“ ist Thema des gleichnamigen Sammelbandes, den A. Kravitz und J. Noller herausgegeben haben (Tübingen 2018). Zu Hegel vgl. M. Bienenstock, Hegel über das jüdische Volk: „eine bewunderungswürdige Festigkeit […] ein Fanatismus der Hartnäckigkeit“, a.a.O., 117–134. „Der Beitrag legt den Fokus vor allem auf die Frage nach der systematischen Stellung und Bewertung des Judentums im Rahmen von Hegels Religionsphilosophie wie auch auf die Wandlungen, die der Begriff des Judentums in Hegels Interpretation erfahren hat.“ (A.a.O., 9; Einleitung der Herausgeber). Zum Stellungswechsel von Judentum und Griechentum im Kolleg des Jahres 1827 vgl. 130ff. 80 Vgl. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hg. v. H. Glockner. 11. Bd.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Mit einem Vorwort von E. Gans und K. Hegel, Stuttgart4 1961. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.
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eher marginal erscheinen mag. War das geistige bislang „noch durch die Naturseite beschränkt…, so zeigt es sich dagegen bei den Juden vollkommen gereinigt; das reine Product des Denkens, das Sichdenken kommt zum Bewußtseyn, und das Geistige entwickelt sich in seiner extremen Bestimmtheit gegen die Natur und gegen die Einheit mit derselben.“ (Ebd.) Dadurch ist, so Hegel, die Welt des Orients an ihre Grenze gelangt, ja „der Bruch zwischen dem Osten und dem Westen“ (ebd.) im Grunde bereits geschehen: „der Geist geht in sich nieder und erfaßt das abstracte Grundprincip für das Geistige. Die Natur, die im Orient das Erste und die Grundlage ist, wird jetzt herabgedrückt zum Geschöpf; und der Geist ist nun das Erste. Von Gott wird gewußt, er sey der Schöpfer aller Menschen, wie der ganzen Natur, so wie die absolute Wirksamkeit überhaupt.“ (Ebd.) Obgleich der jüdische Monotheismus das geistige Grundprinzip zunächst nur abstrakt und einseitig als „das ausschließende Eine“ (260f.) erfasst habe, komme in ihm der Skopus der weltgeschichtlichen Vernunftentwicklung bereits zum Vorschein. Das Judentum schrieb als Religion Weltgeschichte. Die Schranke der weltgeschichtlichen Bedeutung der jüdischen Religion besteht für Hegel in ihrem Exklusivitätscharakter. Das „Moment der Ausschließung“ (261) tritt dabei nach seinem Urteil in zweifacher Hinsicht in Erscheinung, nämlich zum einen in Form abstrakter Negation all dessen, was das geistige Prinzip nicht selbst ist; das Andere Gottes wird zum Ungöttlichen und lediglich Äußeren herabgesetzt. Zum zweiten habe zu gelten, „daß nur das Eine Volk den Einen erkennt, und von ihm anerkannt wird. Der Gott des jüdischen Volks ist nur der Gott Abrahams und seines Saamens; die nationelle Individualität und ein besonderer Localdienst sind in die Vorstellung desselben verflochten.“ (261) In dem Bewusstsein, im Unterschied zu allen anderen Völkern das auserwählte Gottesvolk zu sein, sieht Hegel nicht etwa einen Vorzug der jüdischen Religion, sondern ihre Grenze, die universalgeschichtlich transzendiert werden müsse. Um die Freundesvereinsausgabe gemäß der von Hermann Glockner veranstalteten Jubiläumsedition zu zitieren: „Ueberhaupt hat die jüdische Geschichte große Züge; nur ist sie verunreinigt durch das geheiligte Ausschließen der anderen Volksgeister (die Vertilgung der Einwohner Kanaan’s wird sogar geboten) … und durch den Aberglauben, der durch die Vorstellung von dem hohen Werthe der Eigenthümlichkeit der Nation herbeigeführt wird.“ (263) Im Judentum ist die Freiheit des Geistes rein erfasst, aber erst abstrakt und in der Weise unmittelbarer Selbstbestimmung. Damit der freie Geist konkret wahrgenommen werde, muss der Prozess seiner Selbstexplikation in demjenigen in Betracht gezogen werden, was er nicht unmittelbar selbst ist. Dazu gibt nach Hegels weltgeschichtlicher Konzeption das ägyptische Reich Anlass, das er dem persischen nachfolgen lässt, welchem er die Geschichte Judäas zugeordnet hatte. Die Nachschriften des Kollegs zur Philosophie der Weltgeschichte von 1822/23 bestäti-
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gen diesen Befund.81 Am Schluß der Ausführungen über Persien wird vom „Gott der Juden“ (V12, 267,78; vgl. GW 27,1,238f.) gehandelt, mit dessen Erkenntnis „der Moment des Umschlagens des morgenländischen Prinzips, das Moment des Umschlagens von der Natur zum Geist“ (V12,267,97–99) beginnt, obwohl dem geistigen Prinzip „noch nicht seine Allgemeinheit gegeben“ (V12,268,103) ist. Dies wird erst in der Geschichte der griechischen, der römischen und schließlich der germanischen Welt des Okzidents geschehen, in welche zwischen Ost und West vermittelnd einzuführen die Funktion Ägyptens im Gang der Weltgeschichte ist. „Hier ist das Land des Kampfes, der Dialektik, das Land der Aufgabe.“ (V12,309,306f.) Auch in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik als der Lehre vom Kunstschönen, die H.G. Hotho in der Freundesvereinsausgabe ediert hat, wird dem Land am Nil eine entscheidende Vermittlungsaufgabe und die Rolle zugedacht, zur klassischen Kunst hinzuführen, deren Ideal sich in Griechenland realisiert, um sich schließlich in
81 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23. Nachschriften von K.G.J. v. Griesheim, H.G. Hotho und F.C.H.V. v. Kehler. Hg.v. K.H. Ilting u. a., Hamburg 1996 (=V12). Geboten wird keine Synopse der drei der Edition zugrundeliegenden Nachschriften, sondern ein integraler Text unter besonderer Berücksichtigung der Mitschrift Hothos (vgl. hierzu das 534f. gegebene Textbeispiel). In dem bisher vorliegenden ersten Teilband des auf insgesamt fünf Teilbände geplanten 27. Bandes der von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe der Gesammelten Werke Hegels (GW 27,1) stellt die Hotho-Mitschrift der Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte die Textbasis dar; Varianten aus den Nachschriften von Griesheims, Kehlers sowie K. R. Hagenbachs sind beigegeben. Solange neben der Vorlesung von 1822/23 nicht auch die vier Kollegien, die Hegel bis 1830/31 in jedem zweiten Wintersemester zur Philosophie der Weltgeschichte gehalten hat, durch Nachschriftseditionen dokumentiert sind, wird man die von Gans über K. Hegel zu Lasson und Hoffmeister reichenden Ausgaben nicht unberücksichtigt lassen können, auch wenn das im Wesentlichen gemeinsame Prinzip ihrer Editionen von einem streng historisch-kritischen Verfahren abweicht. Das erste Kolleg, das Hegel zur Philosophie der Weltgeschichte im Winter 1822/23 hielt, beginnt mit einer ausführlichen Einleitung zum Begriff der Weltgeschichte und ihren Behandlungsarten, von denen drei unterschieden werden: erstens die ursprüngliche Historiographie, welche res gestae nach eigener Erinnerung beschreibt, sodann die reflektierte Geschichtsschreibung, welche historische Zusammenhänge dem Gedächtnis vermittelt, ohne aus unmittelbarem Erleben zu berichten, was in kompilatorischer, pragmatisch-moralischer oder anders gearteter Absicht geschehen kann, schließlich die philosophische Weltgeschichtsbetrachtung, welche den Gang des Geschehens denkend zu begreifen und den Sinn der geschichtlichen Entwicklung zu erfassen sucht. Folgt man Hegel, dann ist es die wesentliche Aufgabe der Philosophie der Weltgeschichte, diese als fortschreitende Realisierung der Idee der Freiheit zu begreifen. Geschichte im eigentlichen Sinn beginnt für Hegel erst dort, wo sie tradiert wird. Geschichte ist Traditionsgeschichte, mithin differenzierte Einheit von objektiven Geschehnissen und ihrer bewussten Wahrnehmung durch Historie bildende Subjektivität. Bloße bruta facta ergeben ebenso wenig Geschichte wie diese in fiktionalen Erzählungen aufgeht. Historiographie muss empirisch verfahren und stellt keine apriorische Wissenschaft dar; sie erschöpft sich aber auch nicht in einer aposteriorischen Methodik, welche die Frage nach dem Sinn des Ganzen zu stellen prinzipiell verweigert.
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demjenigen aufzulösen, was Hegel die romantische Kunst genannt hat.82 Auf die Frage nach einem spezifischen Beitrag des Judentums zur Kunstgeschichte wird man am ehesten im Zusammenhang der Ausführungen zur Kunst der Erhabenheit fündig.83 Doch markiert, was jüdische Kunst zu nennen ist, nichts eigentlich Schönes, sondern eher eine Leerstelle, durch welche signalisiert werden soll, dass sich das geistige Prinzip aller sinnlichen Darstellung entzieht. Die religiöse Ursprungseinsicht des Judentums erweist sich mithin auch in ästhetischen Kontexten als das eigentlich Bestimmende. In seiner reinen Geistigkeit ist Gott weder ins Bild zu bringen, noch auf sonstige Weise darstellbar. Es herrscht grundsätzliches Abbildungsverbot: „Erst durch diese Anschauung vom Wesen Gottes als des schlechthin Geistigen und Bildlosen, dem
82 Auf der ersten Stufe der Kunst – und entsprechend der Religion, die Hegel in enger Verbindung mit ihr sieht – strebt das ästhetische Schaffen danach, die Natur progressiv zu vergeistigen, ohne sie förmlich durchdringen und ihren Gehalt geistgemäß gestalten zu können. Dies gelingt erst auf der zweiten Stufe, auf der die klassische Form die symbolische in sich aufhebt. Nun ist das Geistige das Fundament des Ästhetischen und das Natürliche nur noch äußere Erscheinung einer von innen heraus gebildeten Idee. In Griechenland wurde Hegels Urteil zufolge das ästhetische Ideal realisiert und die klassische Kunstform verwirklicht, die im plastischen Bildwerk der Skulptur ihre vollendete Darstellung fand. Im anthropomorphen Gott wird der inkarnierte Logos in sinnenfälliger Form vorstellig. Doch sind die Statuen der griechischen Klassik zu schön, um wahr zu sein. Ihr entscheidendes Wahrheitsdefizit erkennt Hegel in dem Mangel eines ausgebildeten Endlichkeitsbewusstseins. Das Wissen um die Vergänglichkeit alles Sinnlichen ist nicht in sie eingegangen, sondern geht ihnen ab. Deshalb fehlt ihrer Heiterkeit der nötige Ernst, den gegenüber der sinnlichen Welt verdrießlich geltend zu machen die wesentliche Aufgabe und Tugend ist, welche Hegel der römischen Kunst zuweist, die in den Ästhetikvorlesungen in der Regel vergleichsweise knapp abgehandelt wird. 83 Vgl. G.W.F. Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hg. v. H. Glockner. 12 Bd.: Vorlesungen über die Aesthetik. Erster Band. Mit einem Vorwort von H.G. Hotho, Stuttgart – Bad Canstadt4 1964, 494ff. Die systematischen Grundlagen der Hegel’schen Ästhetik sind in den drei Auflagen der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ entwickelt, in der Erstauflage von 1817 unter der Überschrift „Die Religion der Kunst“ (§§ 456–464; GW 13, 241–243), ab der erheblich modifizierten Auflage von 1827 unter der Überschrift „Die Kunst“ (vgl. §§ 556–563; GW 19, 392–400), die dann – wie im Großen und Ganzen auch der Inhalt der zweiten – in der dritten und letzten zu Lebzeiten des Denkers erschienenen Auflage von 1830 (vgl. §§ 556–563; GW 20, 543–549) beibehalten wurde. Monographisch zur Darstellung gebracht hat Hegel seine in der Enzyklopädie lediglich in Grundzügen skizzierte Philosophie der Kunst entgegen ursprünglichen Plänen nicht. Die ausgearbeitete Druckfassung stammt nicht von ihm selbst, sondern von seinem Schüler Heinrich Gustav Hotho, der sie 1835, vier Jahre nach des Meisters Tod, auf der Grundlage zweier inzwischen verschollener Hefte, die von Hegel für seine Ästhetikkollegs angelegt worden waren sowie einiger Vorlesungsnachschriften erstellt hatte. Die geringfügig überarbeitete Zweitauflage der Hothoausgabe bildete dann die Basis aller weiteren Textversionen und bestimmte mehr oder minder ausschließlich die Wirkungsgeschichte der Hegel’schen Ästhetik im 19. und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts. Da Hotho bei seiner Edition kompilierend und systematisierend verfuhr, bleibt der Quellenwert seines Textergebnisses eingeschränkt, so bewundernswert dieses in anderer Hinsicht ist.
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Weltlichen und Natürlichen gegenüber, ist das Geistge vollständig aus der Sinnlichkeit und Natürlichkeit herausgerungen und von dem Daseyn im Endlichen losgemacht. Umgekehrt jedoch bleibt die absolute Substanz im Verhältniß zu der erscheinenden Welt, aus der sie in sich reflektirt ist. Dieß Verhältniß erhält jetzt die … negative Seite, daß der gesammte Weltbereich, der Fülle, Kraft und Herrlichkeit seiner Erscheinungen ohnerachtet, in Beziehung auf die Substanz ausdrücklich als das nur in sich negative, von Gott erschaffene, seiner Macht unterworfene und ihm dienende gesetzt ist.“84 Unter diesen Bedingungen kann die sinnliche Welt nicht eigentlich als schön und bedeutungsvoll erscheinen. Sie wird vielmehr als entgöttert und prosaisch wahrgenommen. Mehr als bloße Verweise auf das Erhabene hat sie nicht zu bieten, wobei die Hinweiszeichen weniger für die Immanenz, als für die uneinholbare Transzendenz des Bezeichneten stehen: die Idee, um welche es geht, ist prinzipiell „gleichgültig gegen die Gestaltung“ (GW 28,1,66). In der Weltanschauung, wie sie durch die religiöse Ursprungseinsicht des Judentums begründet ist, trennt sich das „Eine, das Geistige … von der Erscheinung, Äusserlichkeit, Existenz, so ist diese heruntergesetzt zur Form des Endlichen, der Bestimmtheit“ (GW 28,2,678). Dem weltlosen Gott entspricht eine entgötterte Welt. „Das Absolute, Unendliche, Eine ist für sich gegen die Mannigfaltigkeit, diese ist nun in ihrer endlichen Bestimmung gesetzt, damit ist die Prosa gesetzt, die Befestigung, die Begränzung.“ (Ebd.) Ein Realsymbol Gottes kann die Welt unter diesen Bedingungen nicht sein. Ihre sakramentale Bedeutung hat sie grundsätzlich eingebüßt, was durch die in der hebräischen Bibel in Anschlag gebrachten Wunder nicht aufgehoben wird. Denn diese bestätigen als Ausnahmen die prosaische Grundregel, dergemäß sich die jüdischen Frommen in der Welt bewegen. „Das eigentlich Erhabene ist enthalten im Verhältniß des Gottes zu dem Prosaischen, der Welt, dem Endlichen. Dieß Endliche ist damit überhaupt bestimmt als beschränkt, nicht sich selbst Tragendes. Beispiele der Erhabenheit sind diese große Anzahl von Hymnen, Lobpreisungen der Erhabenheit, der Herrlichkeit Gottes wie in den Psalmen, dieß ist klassische Erhabenheit die für alle Zeit als Muster dient, in dem das was der Mensch in seiner religiösen Vorstellung von Gott vor sich hat auf das Glänzendste ausgedrückt ist z. B. der 90te und 104te Psalm.“ (GW 28,2,679) Doch belegen die Psalmen und viele andere Stücke der hebräischen Bibel nach Hegel zugleich die mit dem Lobpreis der Erhabenheit Gottes unmittelbar verbundene Tiefe des menschlichen Schmerzes über seine nichtige Endlichkeit und schuldhafte Befangenheit in ihr. „Da sind denn die Leiden aus der Tiefe der Seele auf eine durchdringende, ergreifende Weise geschildert, dieß Schreien der Seele aus sich. Die Furcht vor dem Zorn Gottes, diese Klage, dieser Jammer, dieß Schreien über den Schmerz; Beispiele hiervon sind genugsam bekannt.“ (GW 28,2,680)
84 G.W.F. Hegel, Sämtliche Werke, 12. Bd., 494.
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Die Religion des Judentums ist erhaben, weil alles in ihr auf die göttliche Erhabenheit bezogen ist; in ihr bringt sich aber zugleich das unglückliche Bewusstsein der Entzweiung von Gott und der Welt des Menschen, des Einen und des Vielen, des Geistigen in seiner Übersinnlichkeit und der Sphäre des Himmlischen etc. zum Ausdruck. Das Unendliche bleibt durch einen Gegensatz zum Endlichen bestimmt, der Einheit und Verschiedenheit trennt statt sie auf differenzierte Weise zu vereinen und miteinander zu versöhnen. In dieser für die Religion des Judentums kennzeichnenden Schranke sieht Hegel nicht zuletzt die prinzipielle Grenze dessen begründet, was jüdische Philosophie zu leisten vermöge, wenn man diese denn überhaupt als Erscheinung sui generis in den Blick nehmen wolle. Im Zusammenhang der Behandlung der orientalischen Philosophie als einer durchweg religiös konnotierten ist vom Judentum in Hegels philosophiegeschichtlichen Vorlesungen85 nur ganz
85 Seit seiner Jenaer Zeit hat Hegel insgesamt neun Kollegien über die Geschichte der Philosophie gehalten. Auf die Jenaer Vorlesung im Wintersemester 1805/06 folgten 1816/17 und 1817/18 zwei in Heidelberg, sodann insgesamt sechs in Berlin, ebenfalls jeweils im Winterhalbjahr, nämlich 1820/21 (vgl. GW 30,1), 1823/24, 1825/26, 1827/28 und 1829/30. Die Vorlesung vom Wintersemester 1831/32 hatte der Philosoph am 10.11.1831 begonnen; vier Tage später ereilte ihn der Tod. Eineinhalb Jahre danach hat sein Schüler Karl Ludwig Michelet auf der Basis eines Jenaer Heftes von Hegels eigener Hand sowie anhand von diversen Nachschriften von Hörern die Vorlesungen in kompilierter Form publiziert. Sie sind sonach „mit keinem einzelnen Jahrgang identisch, und doch der entsprechendste, allseitigste Ausdruck des Hegelschen Geistes“, wie es im Vorwort des Herausgebers heißt (G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. 17. Bd.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Erster Band. Mit einem Vorwort von K. L. Michelet, Stuttgart3 1959, 9). In der Edition von K. L. Michelet sind Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in drei Teile gegliedert: Die Geschichte der griechischen, der mittelalterlichen und der neueren Philosophie. Vorausgeschickt sind Erwägungen zum Begriff der Geschichte der Philosophie, zu ihrem philosophischen Verständnis im Verhältnis zu anderen Verständnisweisen sowie zur Einteilung, Quellen und Methodik. Beigegeben ist ein Prolog zur orientalischen Philosophie chinesischer und indischer Provenienz. In Bezug auf die griechische Philosophie werden drei Perioden unterschieden: die erst Periode umfasst die Philosophie der Vorsokratiker, von Sokrates und der Sokratiker sowie die platonische und die aristotelische. Die zweite Periode wird diejenige des Dogmatismus und Skeptizismus genannt, die dritte ist die Periode des Neuplatonismus. Die Gesamtperiode reicht von den Tagen des Thales bis zu Proklos im fünften Jahrhundert und umfasst damit einen „Zeitraum von um 1000 Jahre, dessen Ende mit der Völkerwanderung und dem Untergange des römischen Reichs zusammenfällt“ (144). Die Philosophie der römischen Welt wird der zweiten Periode der griechischen Philosophie zugerechnet. Warum ein serieller Abdruck aller Nachschriften von Hegels Philosophiegeschichtsvorlesungen nicht sinnvoll ist, wird im Vorwort der vierbändigen Edition zum Thema begründet, die P. Garniron und W. Jaeschke herausgegeben haben. (Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 6–9: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Hamburg 1994/1989/1996/1986 [= V6–9], hier: V6, XLVIII ff.; Kursivierungen im Vorwort des Herausgebers werden nicht wiedergegeben.) „Die Einleitungen, die Hegel – wie schon Michelet bemerkt hat – bei all ihrer Konstanz doch am stärksten umgearbeitet hat, werden vollständig, und zwar erstmals vollständig mitgeteilt. Von der eigentlichen Abhandlung der Geschichte der Philosophie hingegen gibt die Neuausgabe den Teil – Hegels Vortrag aus dem Wintersemester
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am Rande und unter Bezug auf die Ausnahmestellung die Rede, die es wegen seiner konsequenten monotheistischen Denkungsart in ihr spielt (vgl. V6,365ff.), die eine wahre Götterdämmerung nach sich zieht. Dabei bleibt es auch fernerhin: wenn etwa im Rahmen der neuplatonischen Philosophie auf Philo (V8,169,797: „ein Jude aus Alexandrien, der einige Jahre vor Christo geboren wurde“) oder in Bezug auf die nach der griechischen zweiten Periode der Philosophiegeschichte, die Philosophie des Mittelalters, auf „einige Juden, besonders Moses Maimonides“ (V9,20,94f.) verwiesen wird, dann stets in der Absicht die Erhabenheit des Gedankens eines Gottes hervorzuheben, dessen Transzendenz alles Seiende in unvergleichlicher Weise übersteigt. Als die Kehrseite dessen erweist sich nach Hegel die Annahme einer Nichtigkeit alles dessen, was Gott in seiner Gottheit nicht unmittelbar selbst ist. Sucht man in der Philosophie der neueren Zeit nach Ansätzen, die demjenigen des jüdischen Denkens vergleichbar sind, dann ist man Hegel zufolge, wie bereits gesagt, an Kant bzw. an die Philosophie Fichtes verwiesen, die „als eine konsequentere Darstellung und Ausführung der Kantischen Philosophie zu betrachten“ (V9,156,578f.) sei. Wie bei Kant, der in theoretischer Hinsicht Begriff und Anschauung ebenso wenig habe vermitteln können wie unter praktischen Gesichtspunkten Sinnlichkeit und Sittlichkeit, herrsche auch in Fichtes Ich-Philosophie der Geist der Entzweiung, sofern das Ich als Negationsfähigkeit überhaupt sich im Widerspruch zum Nicht-Ich befinde, der zwar aufgelöst werden solle, ohne doch wirklich behoben zu werden. „Die Auflösung desselben hat bei Fichte die Stellung, daß sie nur eine geforderte Auflösung ist, und bleibt eine solche, daß ich die Schranke immerfort aufheben kann, daß aber doch immer eine Grenze bleibt, über die Ich wieder hinausgehen kann und so fort ins Unendliche, d. h. in die Unendlichkeit , aber nach dieser Auflösung wieder eine neue Grenze, ein Nicht-Ich finde.“ (V9,161,731–162,736). Ähnlich verhalte es sich mit dem Geist des Judentums, der stets unstet und dauernd unterwegs sei, ohne das wahrhaft Unendliche zu erreichen. Abschließende Urteile wie diese, die Assoziationen an die Ahasverfigur antijudaistischer Volkssagen im mittelalterlichen Christentum hervorrufen, werden nicht besser, aber verständlicher, wenn man sie mit Debatten innerhalb der zeitgenössischen Philosophie in Verbindung bringt. Denn sie verraten gelegentlich mehr über diese Diskurse als über das geschichtliche Judentum, auf welche sie dem Wortlaut nach bezogen sind.86
1825/26 – für das Ganze.“ (V6, L) Die Edition stützt sich bezüglich dieses Kollegs auf fünf erhaltene Textzeugen; „der Text der Einleitung beruht auf sämtlichen überlieferten Hegelschen Manuskripten und auf den Nachschriften aller Kollegien.“ (V6, LI) Zur Entwicklungsgeschichte der Vorlesungen zur Philosophiegeschichte, zu ihren Quellen und bisherigen Editionen vgl. a.a.O., XI-XLVIII. 86 Vgl. insgesamt: H. Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967. Zu den zeitgenössischen Debatten vgl. K. Chr. Planck, Über die religionsphi-
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Monotheismus absoluter Subjektivität. Die Religion des Alten Testaments nach Wilhelm Vatke
3.1 Julius Wellhausen als Vatkeadept Julius Wellhausen (1844–1918) war ein großer Schwimmer vor dem Herrn. Er liebte das Bad – nicht in der Menge, sondern in freien Gewässern wie zum Beispiel in der Göttinger Leine, von der es zu Beginn der „Harzreise“ von Heinrich Heine heißt, sie sei „an einigen Orten so breit, daß Lüder“ – ein zur damaligen Zeit als Sportmann bekannter Göttinger Student – „wirklich einen großen Anlauf nehmen mußte, als er hinübersprang“87 . Was Wellhausen anbelangt, so behaupteten böse Zungen, er sei „vorzugsweise am Sonntagvormittag zum Schwimmen gegangen und habe es so eingerichtet, dass er auf dem Rückweg, das Badezeug über der Schulter, den frommen Göttingern auf ihrem Weg in die Kirche begegnete“88 . Dies ist, wie aus verlässlicher Quelle zu erfahren, ein Gerücht, das freilich zeigt, „wie man von
losophische Stellung des Judentums, in: Theologische Jahrbücher 2 (1843), 429–442. Eduard Zeller, der Herausgeber der „Theologischen Jahrbücher“, hat sich in den Hallischen Jahrbüchern 4 (1841) ausführlich zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion (2. Auflage [sc. der Freundesvereinsausgabe] 1840) geäußert (wiederabgedruckt in: F. W. Graf / F. Wagner [Hg.], Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982, 114–139). Er übt Kritik an dem Verfahren, die jüdische Religion mit der griechischen und römischen nicht nur in einer Klasse zu vereinen, sondern ihnen „sogar als die niedrigere voran zu stellen“ (130). Im Übrigen plädierte er dafür, sie primär nicht als Religion der Erhabenheit, sondern der Heiligkeit zu bestimmen, weil die Forderung einer der Gottesgerechtigkeit folgenden Heiligkeit „das Wesentliche, oder richtiger das Einzige ist, was die religiöse Moral der Juden von der aller anderen Völker unterscheidet“ (ebd.). – Aus der Perspektive des von ihm vertretenen spekulativen Theismus übt Chr. H. Weiße Kritik an Hegels Religionsphilosophie im Allgemeinen und seiner Bestimmung der jüdischen Religion im Besonderen. Im Unterschied zur Hegel’schen Auffassung sei in der „Gewißheit einer äußern und oberweltlichen Gottheit“ (Chr. H. Weiße, Über die eigentliche Grenze des Pantheismus und des philosophischen Theismus. Mit besonderer Beziehung auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: a.a.O., 64–96, hier: 79) davon auszugehen, dass Gott „durch freien Entschluß, und nicht durch metaphysische Nothwendigkeit“ (ebd.) die Welt erschaffen habe und Mensch geworden sei. Was aber das jüdische Volk anbelange, so sei dieses das einzige, welches vor der Christusoffenbarung zur Reinheit monotheistischen Glaubens gelangt sei, wodurch es dem Christentum ebenso bleibend verbunden wie vom vorchristlichen Griechen- und Römertum getrennt sei. Zu A. Staudenmaiers Besprechung von „G.W.F. Hegels Vorlesungen über Philosophie der Religion (Erste Auflage 1832)“ sowie zu anderen zeitgenössischen Besprechungen der Hegel’schen Religionsphilosophie vgl. a.a.O., 97–113 sowie 311ff. 87 H. Heine, Die Harzreise (1824). Hg. v. J. Bark, Stuttgart 2013, 10. 88 R. Smend, Julius Wellhausen und seine Prolegomena zur Geschichte Israels, in: ders., Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 141–158, hier: 144.
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Wellhausens Verhältnis zur Kirche dachte und wie es nicht zum geringsten Teil auch gewesen ist“89 . Trotz zweifellos gegebener persönlicher Frömmigkeit vertrugen sich wissenschaftliche Freiheit und kirchliche Bindung für den Gelehrten nur schwer. Er war daher erleichtert, als seinem Gesuch um Versetzung von der theologischen an die philosophische Fakultät stattgegeben wurde. Als 38-jähriger wechselte Wellhausen von Greifswald, wo er zehn Jahre als Alttestamentler mehr geforscht als gelehrt hatte, auf eine außerordentliche Professur für semitische Philologie nach Halle, um von dort über Marburg an die – an den östlichen Gestaden der Leine gelegene – Georgia Augusta, seiner letzten Wirkungsstätte, zu gelangen.90 Zu seiner die alttestamentliche Wissenschaft revolutionierenden Einsicht war Wellhausen nicht erst in Göttingen, sondern bereits in seiner Greifswalder Zeit von 1872 bis 1882 gelangt.91 Ihr Resultat ist dokumentiert in drei zusammengehörigen Hauptwerken: 1. „Die Composition des Hexateuch“, also der fünf Bücher Mose samt dem Josuabuch, von 1876/77, später komplettiert durch eine Analyse der Bücher Richter, Samuel und Könige. 2. „Geschichte Israels. In zwei Bänden. Erster Band“ von 1878, seit der zweiten Ausgabe von 1883 unter dem Titel „Prolegomena zur Geschichte Israels“ erschienen. Und 3. „Israelitische und jüdische Geschichte“, Erstauflage 1894. „Die Composition legt den quellenkritischen Grund, die Prolegomena ziehen die überlieferungs- und religionsgeschichtlichen Konsequenzen, die Israelitische und jüdische Geschichte zeichnet auf der Grundlage der so rekonstruierten Überlieferungs- und Religionsgeschichte den Verlauf der Geschichte Israels im historischen Zusammenhang nach, von den Anfängen unter Mose bis zum zweiten jüdischen Aufstand unter Bar Kochba. Die überragende Bedeutung der Trilogie liegt darin, dass sie aus einer gut 100 Jahre währenden historisch-kritischen Beschäftigung mit der Bibel die Summe zog und der Forschung zugleich eine neue Richtung gab.“92
89 Ebd. Vgl. ders., Ein Fakultätswechsel: Julius Wellhausen und die Theologie, in: J. Garbe u. a. (Hg.), Greifswalder theologische Profile. Bausteine zur Geschichte der Theologie an der Universität Greifswald, Frankfurt a.M. 2006, 57–75. 90 Zur damaligen Situation an der Georgia Augusta vgl. im Einzelnen ders., Göttingen 1887 – die Universität in Preußen, in: ders., Bibel, Theologie, Universität. Sechzehn Beiträge, Göttingen 1997, 166–186. 91 Vgl. im einzelnen ders., Wellhausen im Greifswald, in: ders., Bibel, Theologie, Universität, 135–165. 92 R. G. Kratz, Art. Wellhausen, Julius, in: TRE 35, 527–536, hier: 529. Vermerkt sei ferner, dass sich Wellhausen nicht nur mit Arbeiten zum Alten Testament, sondern auch mit Forschungen zum Neuen und zur Arabistik einen bleibenden Namen gemacht hat. Er war ein Bahnbrecher nicht nur in einer, sondern in drei Disziplinen, der neben der Welt des vorjüdischen Israel auch die Welten des vorislamischen Arabien und des vorkirchlichen Evangeliums erschloss. Bereits gegen Ende der Greifswalder Zeit beschäftigte sich Wellhausen mit arabischen Handschriften, wobei sein Interesse damals und später vor allem der Religionsgeschichte des vor- und frühislamischen
Erhebung zum Erhabenen
Um welche Grundannahmen geht es? „In des Alten Bundes Schriften / merke an der ersten Stell / Mose, Josua und Richter / Ruth und zwei von Samuel …“ Das Sammelwerk der hebräischen Bibel, das die Christen das Alte Testament nennen, hebt an mit dem Gefüge der fünf Bücher Mose, dem Pentateuch: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Dem an der kanonischen Abfolge der alttestamentlichen Bücher orientierten Leser stellt sich die biblische Geschichte als ein Entwicklungsverlauf dar, der – mit der Urgeschichte beginnend – über die Geschichte der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob durch Vermittlung Josephs nach Ägypten führt, aus dessen Knechtschaft das Volk durch Mose herausgeführt wird, um auf seinem Exodusweg die Tora zu erhalten, welche im Gelobten Land nach erfolgter Besitznahme das Leben des Volkes vor seinem Gott, welcher nicht nur einer allein, sondern der alleinige ist, für alle Zeiten verbindlich ordnen sollte. Kurzum: nach kanonischer Maßgabe ist das Alte Israel „eine durch Mose begründete Theokratie oder Hierokratie, bestehend aus zwölf Stämmen, mit einem einzigen Heiligtum, dessen Personal und Bedienung aufs genaueste durch ein umfangreiches Gesetz geregelt war, das nach Mose die Propheten interpretierten und dessen Befolgung oder Nichtbefolgung die ganze Geschichte des Volkes bestimmt hat“93 . Es ist der in kritischer Hinsicht wichtigste Beitrag Wellhausens zur alttestamentlichen Wissenschaft, das Bild, welches die biblische Geschichte vom Alten Israel zeichnete, als unhistorisch erwiesen zu haben. Das mosaische Gesetz, wie es sich in der später so genannten Priesterschrift des Pentatuechs am reinsten ausgeprägt hat, gehört historisch nicht an den Anfang der Geschichte des Alten Israel, „sondern ein halbes Jahrtausend später, an den Anfang der Geschichte des nachexilischen Judentums, der Gemeinde des zweiten Tempels“94 . Die Ordnung der Tora, welche das Leben des Volkes vor Gott genauestens regelte, ist im wesentlichen keine mosaische Einrichtung der vordavidischen und königlichen Ära, sondern eine ins hebräische Altertum lediglich zurückprojizierte Institution aus sehr viel späterer Zeit, als Israel aufgehört hatte, ein eigenständiges Gemeinwesen zu sein und fremden Mächten
Arabertums galt. Genannt seien als Ergebnis der Forschungen nur folgende Titel: Muhammed in Medina (1882), Reste arabischen Heidentums (1887), Prolegomena zur ältesten Geschichte des Islams (1899), Das arabische Reich und sein Sturz (1902). Als Neutestamentler hat sich Wellhausen insbesondere in den letzten Göttinger Jahren betätigt. Spezielles Thema sind die Synoptiker, aber auch das Johannesevangelium und die Apostelgeschichte. Betonte Wellhausen als Alttestamentler die Differenz zwischen Altem Israel und Judentum, so ist für seine neutestamentlichen Ergebnisse die Differenz zwischen dem historischen Jesus, der dem Judentum zugehört, und dem nachösterlichen Christentum und seinem österlichen Kerygma vom auferstandenen Gekreuzigten bestimmend. „Was im Neuen Testament der Tod Jesu, das ist im Alten das Exil, und was im Neuen Testament die Auferstehung ins christliche Evangelium, das ist im Alten die Wiederbelebung Israels in der Heilsgeschichte und im jüdischen Gesetz.“ (R.G. Kratz, a.a.O., 532) 93 R. Smend, Das Alte Testament in Greifswald, in: ders., Bibel und Wissenschaft, 130–140, hier: 132. 94 A.a.O., 133.
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untertan war. Die Tora gehört recht eigentlich nicht Israel, sondern dem Judentum an, das sich durch die historisch unzutreffende Verbindung des Gesetzes mit der gründenden Urzeit seines Volkes die geschichtliche Basis religiösen Überlebens und geistlicher Identität unter heidnischer Fremdherrschaft schuf. Die literarkritische Grundlage Wellhausen’scher Sicht der israelitischen und jüdischen Geschichte bildete die sog. Neuere Urkundenhypothese, der zufolge sich der Pentateuch im Wesentlichen aus vier Quellen zusammensetzt, dem sog. Jahwisten, dem sog. Elohisten, dem Urdeuteronomium und der Priesterschrift, die aus der Exilszeit um 550 v. Chr. stamme.95 Wie die Hypothese in der gegenwärtigen Forschung beurteilt wird und welche neuen Modelle sich in ihr abzeichnen, muss im gegebenen Zusammenhang nicht verfolgt werden. Festgehalten sei nur, dass sie und die Annahme, das jüdische Gesetz sei erst nach den Propheten Israels entstanden („Lex post prophetas“), in Grundzügen bereits von Wilhelm Vatke vertreten wurde, dessen Werk über „Die Religion des Alten Testaments“ der große Wellhausen in der Einleitung zum ersten Band seiner „Geschichte Israels“ von 1878 als den „bedeutenste(n) Beitrag“96 gewürdigt hat, der je zum Thema geschrieben worden sei. Die Hochschätzung rührt vor allem daher, „daß Wellhausen in Vatke den … eigentlichen Urheber der nach K.H. Graf (sc. und ihm selbst) benannten Hypothese sieht, nach der den … Gesetzen im Pentateuch ihre Stelle im historischen Ablauf der alttestamentlichen Religion hinter den Propheten zuzuweisen sei“97 . Die Gründe für diese Hypothese und die Wellhausensche Annahme ihrer Postulierung durch Vatke hat Lothar Perlitt in seiner Dissertation zu den geschichtsphilosophischen Voraussetzungen und historiographischen Motiven für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen in Detail erhoben.98 Zugleich hat er gezeigt, dass Wellhausen nur am historisch-kritischen 95 Vgl. G. Wenz, Art. Pentateuch, in: Knaurs Großer Bibelführer, München 1985, 535–537. 96 J. Wellhausen, Geschichte Israels. 1. Bd., Berlin 1878, 4. Vgl. das Beileidsschreiben, das Wellhausen bald nach Vatkes Tod an dessen Sohn Theodor schrieb und das „mit den Worten schloß: ‚Ich habe von keinem Menschen mehr, von kaum Einem so viel gelernt, als von Ihrem Herrn Vater. Es sind wunderliche Waisenknaben, die statt seiner in der Theologie und im Alten Testament das große Wort geführt haben und führen; aber da er selbst die Sache gelassen ansah, so wollen wir sie auch gelassen nehmen. Hegelianer oder nicht: das ist mir einerlei – aber Ihr seliger Vater hatte ein bewundernswerth treues und feines Gefühl für die Individualität der Sachen.‘“ (H. Benecke, a.a.O., 627) 97 M. Brömse, a.a.O., 48. Vgl. M. Kegel, Wilhelm Vatke und die Graf-Wellhausensche Hypothese, Gütersloh 1911. Nach Kegel hat der junge Vatke als Begründer der Graf-Wellhausenschen Hypothese „lex post prophetas“, der späte als deren Gegner insofern zu gelten, als er sich aus Sachgründen zu einer Revision einer Reihe seiner ursprünglichen Auffassungen genötigt gesehen habe. Vgl. hierzu M. Brömse, a.a.O., 52ff. 98 L. Perlitt, Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen, Berlin 1965. Die Hegel’schen Voraussetzungen der Geschichtsschreibung Vatkes werden
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Exegeten Vatke, nicht aber an dessen philosophischer Begriffsbildung interessiert war. Mit seinem erklärten Desinteresse an der Vatkeschen „Hegelei“ entsprach Wellhausen dem allgemeinen Trend seiner Zeit, der auch in der alttestamentlichen Wissenschaft Wirkungen zeigte. „Die Alttestamentler, an die sich Vatke ja vornehmlich gewandt hatte, machten aus ihrer Abneigung gegen philosophische und systematisch-theologische Konzeptionen überhaupt kein Hehl mehr.“99 Seine historisch-kritischen Ergebnisse zur Geschichte Israels und zur Genese der kanonischen Bücher des Alten Testaments werden von Kennern diskutiert, seine philosophischen Anliegen dagegen meist abgetan.100 Bei Wellhausen verhält es sich nicht anders: was literarische Analyse und historische Kritik anbelangt, so ist ihm Vatke Vorbild; seiner religionsphilosophischen Geschichtskonstruktion hingegen begegnet er reserviert bis ablehnend. „Damit wird freilich die Intention des Vatkeschen Werkes verfehlt“101 , wie Michael Brömse in seiner Studie zur „Biblischen Theologie“ Vatkes im Anschluss an Perlitt konstatiert. Habe Vatke seine Forschungen doch entschieden darauf angelegt, „den Religionsbegriff des Alten Testamentes kritisch und philosophisch zu entwickeln“102 : „weder um die historische Bibelkritik als solche noch um reine religionsphilosophische Systematik“103 sei es ihm zu tun gewesen, sondern „um die Synthese von kritischem und philosophischem Religionsbegriff des Alten Testaments“104 .
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a.a.O., 31ff. dargelegt. Mit Hegel wird das Programm „Offenbarung als Geschichte“ verbunden: „Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes ist … notwendig geschichtliche Offenbarung, besser: Offenbarung als Geschichte.“ (39); zur Differenz des Hegel’schen Entwurfs zu demjenigen des sog. Pannenbergkreises vgl. 53 Anm. 54) Die Ablösung der Geschichtsphilosophie durch den historischen Realismus wird a.a.O., 71ff. erörtert, hier: 73: „Was Hegel abstrakt nannte, heißt jetzt konkret – und umgekehrt, was Hegel eine Hilfswissenschaft nannte, steht jetzt für die Geschichtsbetrachtung methodologisch im Vordergrund.“ L. Perlitt, a.a.O., 144. Vgl. a.a.O., 132ff. M. Brömse, a.a.O., 48; vgl. L. Perlitt, a.a.O., 188: „Damit hätte aber auch Wellhausen die wirkliche Intention Vatkes verfehlt.“ Genaugenommen seien „die Wissenschaftsbegriffe Vatkes und Wellhausens … unvereinbar“ (ebd.). Perlitt kommt zu dem Schluss: „Vatkes Werk hatte gegenüber dem Wellhausens den großen Vorzug, die theologisch-hermeneutische Frage vehement gestellt und in gründlicher Reflexion systematisch beantwortet zu haben – von den Zwängen des Systems hier einmal abgesehen. Ein so differenziertes systematisch-theologisches Problembewußtsein wird man Wellhausen nicht zugestehen können.“ (243) M. Brömse, a.a.O., 48f. A.a.O., 63. Ebd. unter Verweis u. a. auf die Arbeit von R. Smend über „De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert“ (in: ThZ [Basel] 14 [1958], 107–119, bes. 112f.), die in der Untersuchung von L. Perlitt weitergeführt wurde.
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In einem damit „führt Vatke zum ersten Mal in der Geschichte der alttestamentlichen Bibelinterpretation konsequent den Versuch durch, die im Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus entstandene Kluft zwischen kritischer Exegese und kirchlich-dogmatischem Lehrsystem zu überbrücken“105 . Als Leitfaden hierzu dient ihm die Hegel’sche Religionsphilosophie, insbesondere der darin konzipierte Begriff der jüdischen Religion, den er an historischen Sachverhalten auf seine „Realitätsbezogenheit hin“106 zu erproben sucht mit dem Ergebnis, dass zwischen Gedanken und Fakten kein Missverhältnis, sondern tendenzieller Einklang bestehe: der von Hegel entfaltete alttestamentliche Religionsbegriff lasse sich „mühelos mit dem historisch-kritisch ermittelten geschichtlichen Tatbestand in Einklang setzen“107 . Auch wenn die Nachwelt wie schon er selbst in späteren Jahren in dieser Hinsicht skeptischer urteilte, das ursprüngliche Unternehmen, historische Arbeit mit der Anstrengung des Begriffs und umgekehrt zu verbinden sowie geschichtliche Anschauung und gedankliche Systematik auf differenzierte Weise zu vereinen, ist dadurch keineswegs obsolet geworden. 3.2 Programmatische Einheit von Spekulation und Empirie Obwohl sein Name auch in der Wissenschaft, die er vertrat, weithin der Vergessenheit anheimgefallen ist, war Wilhelm Vatkes Wirkungsgeschichte von erheblicher Bedeutung, wie das Beispiel Wellhausens zeigt. Dieser „sagte das meiste noch einmal, was Vatke gesagt hatte, aber ohne Hegelianismus“108 , zu dem der Berliner Student im Laufe seiner philosophisch-theologischen Entwicklung gelangt war. Es sei eine glänzende Zeit der dortigen Universität gewesen, als Vatke im ereignisvollen Jahr der Julirevolution 1830 seine Studien beschlossen und eine akademische Laufbahn begonnen habe: Hegel habe damals das Amt des Rektors der Hochschule inne gehabt, sein Gefolgsmann Philipp Konrad Marheineke (1780–1846) als Dekan der theologischen Fakultät amtiert, deren berühmtestes Mitglied Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) gewesen sei. Die Reminiszenz, mit der Adolf Hilgenfeld (1823–1907) sein Vorwort zu der nach Vorlesungen posthum edierten „Historisch-kritischen Einleitung in das Alte Testament“109 von Vatke beginnt, ist
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Vgl. M Brömse, a.a.O., 155. A.a.O., 159. Ebd. R. Smend, Universalismus und Partikularismus in der Alttestamentlichen Theologie des 19. Jahrhunderts, in: ders., Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien Bd. 3, München 1991, 117–127, hier: 123. 109 Wilhelm Vatke’s Historisch-kritische Einleitung in das Alte Testament. Nach Vorlesungen hg. v. H. Preiss. Mit einem Vorwort von A. Hilgenfeld, Bonn 1886. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf Hilgenfelds Vorwort. Das Nachlasswerk ist in zwei Teile gegliedert, in eine
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auf Kontrast angelegt und aufs engste mit der trüben Erinnerung daran verbunden, dass spätestens seit Hegels und Schleiermachers Tod in philosophisch-theologischer und in politischer Hinsicht die Kräfte der Reaktion immer mehr die Oberhand gewonnen und den Geist der Freiheit in Wissenschaft und öffentlichem Leben unterdrückt hätten. „Kein Wunder“, so Hilgenfeld, „dass der junge theologische Docent (sc. Vatke) ein Jahr nach Schleiermachers Tode, durch sein mit dem ‚Leben Jesu‘ von D.F. Strauss gleichzeitiges Werk: ‚Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt‘, Teil I, 1835, ebensowohl seinen wissenschaftlichen Ruf als auch seinen Verruf bei der aufkommenden Rückschritts-Theologie begründete. Sein zweites bedeutendes Werk: ‚Die menschliche Freiheit in ihrem Verhältnis zur Sünde und zur göttlichen Gnade‘, 1844, konnte diesen doppelseitigen Erfolg nur bestärken.“ (III)110 Diese Feststellung hat, abgesehen von der falschen Datierung
allgemeine und in eine besondere Einleitung. Die besondere Einleitung (213–754) thematisiert die einzelnen biblischen Bücher vom Pentateuch bis zu den sog. Apokryphen je für sich, die allgemeine (17–212) handelt in einem Grundlegungskapitel vom Geist und vom geschichtlichen Standpunkt des Volkes Israel im Kontext der Inder, der Iraner und insbesondere der semitischen Kulturvölker, von der Sprache des Alten Testaments und von Schrift und Schriftstellerei der Hebräer, um sodann die Geschichte des Kanons, seines Textes sowie seiner Auslegung zu thematisieren. – Die zweite posthum veröffentliche Schrift Vatkes ist ebenfalls aufgrund von Vorlesungen von H. Preiss herausgegeben worden: Wilhelm Vatkes Religionsphilosophie oder Allgemeine Philosophische Theologie. Nach Vorlesungen hg. v. H. Preiss, Bonn 1888. Das Werk enthält in seinem abschließenden Teil eine Darstellung der bestimmten einzelnen Religionen, beginnend mit den sog. Naturreligionen der Naturvölker, Chinas und Indiens, der Iraner, der Semiten und Ägypter. Es folgen unter der Überschrift „Die Religionen des endlichen Geistes oder der geistigen Subjektivität“ die griechische und die römische Religion. Der dritte Abschnitt ist den Religionen des Monotheismus gewidmet, nämlich Judentum, Christentum und dem, wie es heißt, „Mohammedanismus“ (vgl. 640ff.), den Vatke aus einer „Kreuzung von Judentum und Heidentum“ (641) herleitet; zentral sei für ihn die „Lehre der unbedingten Unterwerfung unter Gottes Willen“ (ebd.). 110 Eine knappe Zusammenfassung der beiden Hauptwerke Vatkes bietet J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Band I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 522f., 587ff. Zur „Religion des Alten Testament“ vgl. ferner ders., Historical, Cultural and Philosophical Aspects of the Nineteenth Century with Special Regard to Biblical Interpretation, in: M. Saebø (Ed.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of its Interpretation. Vol. III/1: The Nineteenth Century – a Century of Modernism and Historicism, Göttingen/Bristol 2013, 31–63, bes. 45ff.: G.W.F. Hegel – The Impact of His Philosophy on Old Testament Studies; zu Hegel selbst vgl. 45–48, zu Vakte 48–50. Zum weiteren Kontext vergleiche die Beiträge zur protestantischen Bibelhermeneutik im 19. Jahrhundert, in: O. Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016, 765–859. Auch die Freiheitsschrift Vatkes ist durch Hegel’sche Philosophie inspiriert und von der Überzeugung getragen, dass spekulatives Denken „mit der innern Ueberzeugung einer erleuchteten Frömmigkeit mehr übereinstimmt als die unspeculative oder halbspeculative Reflexionsansicht“ (W. Vakte, Die menschliche Freiheit in ihrem Verhältniß zur Sünde und zur göttlichen Gnade wissenschaftlich dargestellt, Berlin 1841, VI). Die Untersuchung handelt in drei Abschnitten erstens vom Willen im Allgemeinen, seinem
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der Vatke’schen Freiheitsschrift, die drei Jahre früher erschienen ist, ihre Richtigkeit. Der Gelehrte zog sich unter den gegebenen Umständen aus dem öffentlichen Wissenschaftsbetrieb zurück. Ab 1841 bis zu seinem Tod stellte er alle Publikationstätigkeiten ein und mühte sich nicht länger um ein universitäres Lehramt, was er sich dank der Heirat mit einer wohlhabenden Berliner Kaufmannstochter leisten konnte. Zu forschen aufgehört hat Vakte freilich nie, wobei er nach Urteil Hilgenfelds die Resultate seines zur Berühmtheit gelangten Erstlingswerks über die alttestamentliche Religion „nicht bloss fortgebildet, sondern auch berichtigt“ (V) hat: Aus dem Nachlasswerk möge man „ersehen, ob er wirklich der masslose Kritiker gewesen ist, als welcher er verschrieen ward“ (VI). Wie immer es um eventuelle Selbstkorrekturen Vaktes bestellt sein mag111 : das Bild, das man sich in der interessierten Öffentlichkeit von ihm machte, war im Wesentlichen durch das Werk über „Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern“ von 1835 und dessen nicht nur zeitliche Parallelität zum
Begriff und seiner endlichen Erscheinung, zweitens von der subjektiven Seite der Willensidee und drittens von der religiös-sittlichen Objektivität des Willens, die im Triumph göttlicher Liebe über den Ungeist der Entzweiung ihre vollendete Realisierung finden wird. 111 Die Grundintention des Werkes über „Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt“ von 1835 wird eindeutig auch in der posthum herausgegebenen „Historischkritischen Einleitung in das Alte Testament“ beibehalten, nämlich die Religionsgeschichte Israels durch differenzierte Vereinigung historisch-kritischer und geistphilosophischer Methodik konstruktiv zu erschließen. Es bleibt dabei: Jede „Vereinseitigung, sei es des Logischen, sei es des Empirischen“ (Chr. Bultmann, Art. Vatke, Wilhelm [1806–1882], in: TRE 34, 552–55, hier: 553), soll nach Kräften vermieden und der religionsgeschichtliche Verlauf so zur Darstellung gebracht werden, dass er als tatsächlich geschehene Geistentwicklung gefasst werden kann. Entsprechend setzt Vatkes „Historisch-kritische Einleitung in das Alte Testament“ mit einem Kapitel „Vom Geist und geschichtlichen Standpunkt des Volkes Israel“ und mit der Feststellung ein, dass die weltgeschichtliche Bedeutung des hebräischen Volkes und seine hervorragende Stellung im antiken Kosmos faktisch, aber in ihrer Faktizität nicht durch die Zahl der Volksangehörigen oder spezielle Machttaten, sondern geistesgeschichtlich begründet sei: „(D)enn es war ja das Organ des Monotheismus.“ (Historisch-kritische Einleitung, 19) Dieses habe sich in externer und interner Auseinandersetzung mit naturreligiösen Traditionen allmählich ausgebildet und zwar im Verein mit dem Schöpfungsgedanken, demzufolge alles, was Gott nicht unmittelbar selbst ist, als durch ihn gesetzt zu gelten hat. „Sie“, die Hebräer, „waren die einzigen wirklichen Monotheisten der alten Welt, die Träger des religiös-sittlichen Monotheismus mit seinen Konsequenzen, einer Wahrheit, welche die griechischen Philosophen nur theoretisch, aber nicht praktisch sittlich erreichten.“ (A.a.O., 43) Bleibt hinzuzufügen, dass für Vatke der in der differenzierten Einheit von faktischer Historie und geistesgeschichtlicher Entwicklung sich vollziehende Erhebungsprozess hin zum Monotheismus sowohl einen Prozess des Sicherhebens als auch des Erhobenwerdens darstellt. „Erhebung des menschlichen Wesens zum Bewusstsein wahrer Geistigkeit“ (a.a.O., 44) und erhebende Selbstoffenbarung Gottes koinzidieren. All dies und vieles mehr in seinem Werk ist von Hegel inspiriert, für dessen Philosophie er sich, wie „in Briefen dokumentiert“ (Chr. Bultmann, a.a.O., 552), „(s)eit Sommer 1828“ (ebd.) intensiv und nachhaltig interessiert hat.
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„Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß geprägt, mit dem er eng befreundet war. Wie dessen Andenken blieb auch das seine hauptsächlich durch die Krise bestimmt, in welche das System Hegels bald nach dem Tode des Meisters infolge der Erbstreitigkeiten insbesondere um seine Religionsphilosophie geraten war. Zumindest was ihre akademischen Ambitionen anbelangt, können beide, Vatke und Strauß, als Opfer der Krise und des durch sie mitbedingten Erstarkens restaurativer Kräfte betrachtet werden. Als Vatke am 21. April 1828 von Göttingen kommend, wo er – nach vier Semestern in Halle – zuletzt studiert hatte, mit der Postkutsche in Berlin eintraf, war von der krisenhaften Entwicklung, die bevorstand, noch wenig zu spüren. Der Ankömmling litt anfangs eher unter Orientierungslosigkeit als an den Folgen eines klaren Standpunkts, den er damals noch nicht hatte. Eine Woche nach seinem Eintreffen in der Stadt an der Spree begannen die Universitätskollegien. Am ehesten fühlte sich Vatke zunächst zu dem von vielen Studenten verehrten Kirchen- und Dogmengeschichtler Johann August Wilhelm Neander hingezogen, wohingegen ihm Schleiermacher nach eigenem Bekunden wenig behagte. Hegel verstehe er nicht, wie offen eingeräumt wird. Erst allmählich beginnt Vatke sich im Denken des Meisterphilosophen, der ihm mit persönlichem Wohlwollen begegnete, zurechtzufinden und im enzyklopädischen System heimisch zu werden, das dieser in seinen Berliner Vorlesungen fortschreitend entfaltete. Noch vor seinem Lizentiatenexamen, für das er am 1. Dezember 1829 eine Dissertation „De Platonicae philosophiae ratione ad doctrinam Clementis Alexandrini“ einreicht, meint Vatke die ersehnte geistige Klarheit erlangt zu haben: „Alle Wissenschaften sind mir verklärt und durchsichtig; ich weiß, was die Geschichte will, ich weiß, wie die Kunst sich gestaltet, wie Religion sich hinzaubert; ich bewundere, da ich erkenne, und suche immer mehr zu erkennen, da ich bewundere.“112 Zum Medium wissenschaftlicher Erkenntnis war dem Berliner Theologiestudenten nach eigenem Bekunden die Hegel’sche Philosophie geworden, deren Grundein-
112 H. Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften dargestellt, Bonn 1883, 48. Trotz einiger Vorbehalte (vgl. „Zur Kritik der Vatke-Biographie Heinrich Benneckes [Mit einem Brief Theodor Vatkes an Julius Wellhausen]“ in: M. Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, Diss. Kiel 1973, 165–177) bleibt Benneckes Buch bis auf Weiteres der für Vatkes Biographie und Werkgeschichte grundlegende Text. Nach Kindheit- und Jugendjahren wird die Studienzeit in Halle, Göttingen und Berlin bis zum Lizentiatenexamen erörtert. Der Freundschaft Vatkes mit David Friedrich Strauß ist ein eigenes Kapitel im Zusammenhang der Einflüsse gewidmet, die insbesondere Hegel und Schleiermacher auf sie nahmen. Sehr ausführlich kommen sodann Genese, Inhalt und Wirkungsgeschichte des wissenschaftlichen Erstlings zur Darstellung, der Vatke ebenso berühmt wie berüchtigt machte (90ff.). Erörterungen zu der Schrift „Die menschliche Freiheit in ihrem Verhältnis zur Sünde und zur göttlichen Gnade“ schließen sich an (332ff.). Breit sind ferner die Entwicklungen in der Zeit dargestellt, in der Vatke seine Publikations-, nicht aber seine Forschungstätigkeit eingestellt hatte.
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sichten er auf seinem Fachgebiet dergestalt zu belegen trachtete, dass Spekulation und Empirie zu differenzierter Einheit gelangten. Im Juli 1830, dem Monat der Pariser Revolution, war das Examen bestanden und die akademische Ausbildung zu Ende geführt. Bereits im darauffolgenden Wintersemester 1830/31 wollte Vatke mit Vorlesungen beginnen. Im Laufe der Zeit reifte schließlich der Plan einer wissenschaftlichen Darstellung der Biblischen Theologie, deren erste Hälfte eine breit angelegte Entwicklung der alttestamentlichen Religion nach den kanonischen Büchern bieten sollte. Als Vorbild fungierte erklärtermaßen Hegels Religionsphilosophie, näherhin die Lehre von der jüdischen Religion der Erhabenheit im Kontext der Theorie der Religion in ihrer Bestimmtheit als des zweiten Teils der Religionsphilosophie, der von der religionsgeschichtlichen Entwicklung des Begriffs der Religion handelt.113 Im Vergleich zu diesbezüglichen Studien Vatkes sind sowohl seine frühen Rezensionen114 als auch seine, – freilich nur geringfügige – Mitwirkung an dem Editionsprojekt von Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“ von „ganz untergeordneter Bedeutung“115 . 3.3 Die Idee der Alttestamentlichen Religion und ihrer Realisierung Vatkes „bedeutendstes und auf alttestamentlichem Gebiete einziges“116 Werk, die 1835 im Berliner Verlag von G. Bethge erschienene Monographie über „Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern dargestellt“, ist als erster Band einer wissenschaftlichen Darstellung biblischer Theologie konzipiert. 117 Ent-
113 Zur Hegelrezeption Vatkes vgl. im Einzelnen H. Bennecke, a.a.O., 36ff., bes. 81ff. sowie M. Brömse, a.a.O., 79ff., hier: 79 Anm. 1: „Die Abhängigkeit Vatkes von Hegel zeigt sich … weniger in einer direkten Bezugnahme auf Einzelheiten der Hegelschen Philosophie als vielmehr in dem die ‚Biblische Theologie‘ durchziehenden Gesamtbewußtsein.“ Zu Vatkes Verhältnis zu W.M.L. de Wettes „Biblischer Dogmatik“ vgl. a.a.O., 89ff. 114 Vgl. M. Brömse, a.a.O., 178ff. 115 A.a.O., 17. Vatkes wissenschaftliches Programm einer „Biblischen Theologie“ und seine partielle Durchführung in der Monographie über die alttestamentliche Religionsgeschichte ist ausführlich dargestellt a.a.O., 73ff. und 120ff. Zu ihrer Beurteilung im zeitgenössischen Schrifttum, in ersten theologiegeschichtlichen Besprechungen, in Stellungnahmen von Julius Wellhausen und in der neueren theologiegeschichtlichen Forschung vgl. 30ff. Nach allgemeiner Auffassung blieb Vatkes Werk „eine Episode in der Geschichte der Bibelwissenschaft“ (Chr. Bultmann, a.a.O., 554). Hatte der Gelehrte als junger Dozent beachtliche Lehrerfolge zu verzeichnen (seine Konzeption einer biblischen Theologie trug er im Sommersemester 1833 vor weit mehr als 100 Hörern vor), so breitete sich über sein Lebenswerk bald schon, mit seinem Schüler Hilgenfeld zu reden, „eine völlige Sonnenfinsternis“ (W. Vatke, Historisch-kritische Einleitung, VI [Vorwort Hilgenfeld]) aus. 116 L. Perlitt, a.a.O., 143. 117 W. Vatke, Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt. Erster Band: Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt, Berlin 1835. Die nachfolgenden Seitenund Paragraphenverweise beziehen sich hierauf; Sperrungen werden nicht wiedergegeben.
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sprechend ist dem Buch eine allgemeine Einleitung mit einer vorläufigen Angabe des Inhalts und Charakters der biblischen Theologie, eine Begründung ihrer wissenschaftlichen Behandlungsweise sowie eine Bestimmung ihrer wissenschaftlichen Form vorangestellt.118 Thema biblischer Theologie ist gemäß Vatke die Idee der Religion, wie sie das Bewusstsein des hebräischen Volkes und der Urchristenheit kennzeichnet und prägt (vgl. 2; §2). Um die jüdische und christliche Religionsidee zu erheben, muss die jeweilige geschichtliche Genese aktuell rekonstruiert werden, was ohne Anteilnahme des gegenwärtigen Bewusstseins nicht möglich ist. „Eine rein-objektive biblische Theologie kann es daher nicht geben.“ (10; §4) Als historische Wissenschaft teilt sie das Schicksal aller Geschichtsbetrachtung, vom Geist einer Zeit nicht gänzlich unabhängig zu sein. Die stetige Reflexion hierauf gibt weit eher die Gewähr von Objektivität als die Annahme, Geschichtswissenschaft könne auf gleichsam subjektlose Weise betrieben werden. Mit Vatke zu reden: „der objective Charakter unserer Wissenschaft kann nicht dadurch erreicht werden, daß man von ihrer wissenschaftlichen Seite abstrahirt, sich alles eigenen Urtheils begiebt und nur die historischen Thatsachen reden läßt; denn hieraus folgt kein
118 Zu den grundlegenden Ausführungen zum wissenschaftlichen Begriff einer biblischen Theologie, ihrer Stellung im Kontext der theologischen Disziplinen und ihrer inneren Form und Methode, die Vatkes Darstellung der alttestamentlichen Religion als Allgemeine Einleitung vorangestellt sind, ist seine bereits erwähnte „Religionsphilosophie oder Allgemeine Philosophische Theologie“ zu vergleichen, die H. Preiss nach Vorlesungen ediert hat (W. Vatke, Religionsphilosophie oder Allgemeine Philosophische Theologie). Sie stellt die Wissenschaft der biblischen Theologie in einen umfassenden Horizont, der ihre Eigenart weiter zu profilieren vermag. Nach erkenntnistheoretischen Analysen (vgl. 19ff.) und einer systematischen Entwicklung der Prinzipien alles Seins und alles Wissens, wie es heißt (vgl. 70ff.), sucht Vatke zunächst einen metaphysischen Begriff vom Wesen der Religion zu entwickeln und deren Erscheinungsweisen im menschlichen Selbstbewusstsein zu erheben (vgl. 123ff.). Auf dieser Basis wird sodann von den einzelnen Religionen in ihrer jeweiligen geschichtlichen Bestimmtheit gehandelt, ohne deren Kenntnis der allgemeine Begriff der Religion abstrakt bliebe. Die besonderen Religionen werden, um es zu wiederholen, von Vatke in drei Gruppen eingeteilt, in die sog. Naturreligionen (vgl. 448ff.), die Religion des endlichen Geistes oder der geistigen Subjektivität (vgl. 425ff.) und die monotheistischen Religionen (vgl. 475ff.). Der ersten Gruppierung werden in erkennbarem Anschluss an Hegel nach rudimentären Anfängen die chinesische (und japanische), die indische sowie die Religion der iranischen Völker samt den semitischen Naturreligionen (Babylons und anderer Gefilde) und der ägyptischen Religion zugerechnet. Der zweiten Gruppe gehören anders als bei Hegel nur zwei Religionstypen an, der griechische und der römische, wohingegen das Judentum herausgenommen, im Sinne einer biblischen Theologie an das Christentum herangerückt und mit diesem und dem Islam als monotheistisch charakterisiert wird. Die Religion des Alten Testaments und des späteren Judentums firmiert in der Religionsphilosophie Vatkes als erste der Religionen des Monotheismus, wobei zwischen der ältesten, zum Teil vorgeschichtlichen Zeit (vgl. 480ff.), der Zeit der Ausbildung des alttestamentlichen Prinzips (487ff.), der Zeit vom Exil bis zu den Makkabäern (503ff.) und der Periode der Auflösung des alttestamentlichen Prinzips (509ff.) unterschieden wird.
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wahres Verständniß der Geschichte, welches immer die Vermittlung des gegebenen Inhalts mit dem eigenen Denken voraussetzt…“ (13f.; §5) Auf die Grundsatzerwägungen zum Wissenschaftscharakter der von Vatke geplanten biblischen Theologie folgt die Feststellung, dass diese angemessen nur unter Voraussetzung eines allgemeinen Begriffs der Religion und im Rahmen der Religionsgeschichte konzipiert werden könne, in welcher die Idee der Religion in Erscheinung trete und ihre konkrete Bestimmtheit erlange. Was das Verhältnis von historischer Erscheinung der Religion zu ihrem Begriff anbelangt, so unterscheidet Vatke vorläufig drei Modi der Vermittlung von religiöser Idee und religiöser Geschichte, nämlich die unmittelbare Weise, die reflektierte Betrachtung und die geschichtliche Erklärung, welche die eigentlich spekulative Wahrnehmung eröffnet, mittels derer sich die einzelnen Religionen in ihrer spezifischen Besonderheit als Moment der konkreten Entwicklung des Begriffs der Religion in seiner Allgemeinheit erfassen und in ihrer Totalität als vollendete Manifestationen der Religionsidee wahrnehmen lassen. Ohne Spekulation ist diese Einsicht nach Vatkes Urteil ebensowenig zu erlangen wie diejenige in die Genese und eigentümliche Verfasstheit der jeweiligen Einzelreligionen. Auf empirischem Wege allein könne weder der Entwicklungsgang der, wie es heißt, endlichen noch gar derjenige der unendlichen und absoluten Religion „wahrhaft begriffen werden“ (120; §14), wie seine biblische Theologie es sich zur Aufgabe gemacht habe. Die absolute Religion des Christentums als die Religion der Religionen ist nach Vatkes an Hegel geschulter Auffassung das Ergebnis einer religionsgeschichtlichen Entwicklung, in der die Idee der Religionen konkrete Gestalt annimmt, deren subjektive Erscheinungsformen er unter Bezug auf Gefühl, Vorstellung und Denken bewusstseins- und selbstbewusstseinstheorethisch zu differenzieren sucht (vgl. 26ff.; §8–11). Sie resultiert aus einem Prozess, der fühlende, vorstellende und denkende Erhebung des endlichen Menschen und Erhobenwerden durch das Absolute in seine Unendlichkeit in einem ist. Am Ausgangspunkt der Entwicklung stehen die Naturreligionen: ihre Verfassung ist diejenige des natürlichen Bewusstseins „in unmittelbarer Einheit des Geistigen und Natürlichen“ (100; §13). Das Göttliche wird in ihr „als geistig-natürliche Substanz“ (ebd.) wahrgenommen. Auf der zweiten religionsgeschichtlichen Entwicklungsstufe, welche auf dem naturreligiösen Erhebungsvorgang basiert, unterscheidet sich das Bewusstsein „von dem Natürlichen, setzt sich als Subject, das sich frei in sich selbst bestimmend die Macht ist über das Natürliche, welches unselbstständig, ideell erscheint“ (ebd.); dem entspricht, dass Gott in der Religion geistiger Individualität als freiwaltendes, ewig sich wissendes und allmächtig wollendes absolutes Ich vorstellig wird, von dem alles Nicht-Ich als Nicht-Ich gesetzt ist. Diese religionsgeschichtliche Entwicklungsstufe wird nach Urteil Vatkes in der Religion des Judentums real. Im Christentum schließlich als der absoluten Religion verhält sich das sich im Endlichen explizierende unendliche Selbstbewusstsein „zu seinem Unterschied
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als zu sich selbst“ (ebd.), um eben so seine Absolutheit zu erweisen. Dies durch Rekonstruktion der biblischen Geschichte Alten und Neuen Testaments wissenschaftlich zu erfassen, ist nach Vatke Begriff und Wesensbestimmung biblischer Theologie (vgl. 147ff.; §15ff.). Ihre Methode kann nie lediglich formal sein, weil die subjektive Vorgehensweise, wenn sie denn recht ist, mit jener objektiven Dialektik koinzidiert, die den Gegenstand biblischer Theologie ausmacht und sie in Bewegung bringt. Bleibt hinzuzufügen, dass die Wissenschaft der biblischen Theologie Vatke zufolge nach Maßgabe des christlichen Kanons ihrem Begriff gemäß in zwei Hauptteile zerfällt, „die Darstellung der Religion des Alten und der Religion des Neuen Testaments“ (163; §18). Was die alttestamentliche Religion betrifft, so gibt Vatke vor, sie nur auf zwei Stufen ihrer Entwicklung „historisch-genau verfolgen (zu) können“ (ebd.), nämlich auf der Stufe der Blüte und derjenigen des Verfalls, wobei die Blütezeit nicht in der mosaischen, sondern in der Zeit des babylonischen Exils zu suchen und zu finden sei. Damals, so Vatke, „trat die höchste Weise des Selbstbewußtseins ein, welche der Stufe des Alten Testaments möglich war“ (168; §18). Vatkes wissenschaftliche Darstellung der alttestamentlichen Religion als erster Teil der Wissenschaft biblischer Theologie ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste bietet eine historisch-begriffliche Rekonstruktion der Religionsgeschichte Israels von den Anfängen bei Mose bis ins mazedonische und makkabäische Zeitalter. Dann wird der Allgemeinbegriff der alttestamentlichen Religion bestimmt, der in abstrakter Form bereits die implizite Voraussetzung der bisherigen Erörterungen bot, in konkreter Gestalt aber erst nach erfolgtem Durchgang durch den religionsgeschichtlichen Entwicklungsprozess zu erfassen ist. Im abschließenden dritten Kapitel geht es um die Beurteilung der alttestamentlichen Religion in ihrem Verhältnis zu den ihr vorangehenden Stufen, wobei es sich nicht lediglich um ein externes, sondern um ein internes Verhältnis handelt, wie an den Erörterungen zum Ursprung des Jahwenamens und zu naturreligiösen Elementen im israelitischen Gottesdienst exemplarisch verdeutlicht wird. Mit dem Hinweis, dass naturreligiöse Bestände als Teile ihrer Herkunftsgeschichte den Verlauf der alttestamentlichen Religionsentwicklung nicht nur äußerlich mitbestimmen, ist eine mögliche Antwort auf die Frage gegeben, warum Vatke die Erörterung über das Verhältnis der Religion des Alten Testaments zu den ihr vorangehenden Religionsstufen im dritten und abschließenden Kapitel seiner Ausführungen und nicht zu deren Beginn verhandelt. Das Kapitel über den Allgemeinbegriff der alttestamentlichen Religion hat er offenkundig deshalb hinter die Rekonstruktion seiner entwicklungsgeschichtlichen Bestimmungsmomente gestellt, um den Eindruck einer apriorischen Begriffsentwicklung entgegenzuwirken, welche empirischen Sachverhalten gegenüber verschlossen ist statt sie vernünftig zu erschließen. Es dauerte geraume Zeit, bis die alttestamentliche Religion zum Bewusstsein ihrer selbst gelangte und ihren Begriff realisierte. Dies tritt nach Vatke am
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deutlichsten darin zutage, dass sie in naturreligiösen Kontexten ihren Anfang nahm und das naturreligiöse Element, welches sein Beginnen bestimmte, erst allmählich aufhob und „zum verschwindenden Momente der freien Subjectivität“ (660; §44) herabsetzte. Der Kampf mit dem Heidentum wurde nicht nur nach außen hin, sondern innerlich ausgetragen (vgl. 662ff.; §45), weil sich der Zusammenhang mit den paganen Naturreligionen bis in die Exilzeit und gelegentlich auch darüber hinaus inmitten des Jahwedienstes wiederfindet. Der Monotheismus als charakteristisches Kennzeichen des Judentums blieb lange Zeit umstritten, ja man wird sagen müssen, dass ein naturreligiöser Polytheismus in der Geschichte Israels über die Jahrhunderte hinweg das allgemeine Bewusstsein bestimmte, um erst schrittweise einer Monolatrie zu weichen, welche die Verehrung nur eines Gottes empfahl, ohne die Existenz anderer Götter prinzipiell zu leugnen. Ein strikt monotheistisches Prinzip, wie es nach Vatke den Begriff der alttestamentlichen Religion ausmacht, ist mithin keineswegs ursprünglich realisiert; es hat sich vielmehr erst im Laufe eines langwierigen Prozesses ausgebildet, um nicht unmittelbar, sondern auf religionsgeschichtlich vermittelte Weise offenbar zu werden. Man hat gesagt, dass Vatkes theologische Intentionen in seiner komprimierten Darstellung des Begriffs der alttestamentlichen Religion „am deutlichsten“119 hervortreten. Dies trifft insofern zu, als die zusammenfassende Darstellung der Religionsidee des Alten Testaments dessen kanonischen Anspruch mittelbar wiederherstellt, der in seiner unmittelbar geltend gemachten Form zuvor in Abrede gestellt und bestritten wurde. Kanonisch ist das Alte Testament Vatke zufolge nicht kraft einer extern legitimierenden Autorität , sondern weil die in ihm bezeugte Geschichte zu einem Resultat führt, welches durch interne Wahrheit beglaubigt ist. Auch der geschichtliche Prozess der Kanonisierung selbst gewinnt von daher und nur von daher seine Überzeugungskraft. Was ist der Begriff der alttestamentlichen Religion, den ihr geschichtlicher Verlauf in der Totalität der historisch erscheinenden Momente darstellt? Antwort: Die Bestimmung Gottes als reine Subjektivität, „welche als die unendliche Macht alles Besondere als Negatives setzt, und als absolute Weisheit und Heiligkeit die Unterschiede des Besonderen zu einfacher in sich concreter Identität zusammenschließt“ (594f.; §30). Gott ist in seiner Gottheit allmächtiger Geist, die Setzung dessen hinwiederum, was er nicht unmittelbar selbst ist, der Akt seiner Weltschöpfung zu nennen, welche voraussetzungslos bzw. unter der Prämisse einer Voraussetzung erfolgt, die sich selbst voraussetzt und daher als selbstverständlich zu gelten hat. Die Schöpfungstätigkeit Gottes benötigt kein gottunterschiedenes Material oder irgendwelche vorgegebenen Ideen; sie schafft aus dem Nichts, und zwar aus einem
119 L. Perlitt, a.a.O., 126.
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schlechterdings nichtigen, durch keine Gegensatzrelation bedingtes Nichts. Daraus folgt, dass alles, was Gott nicht ist, nicht nur nicht Gott, sondern aus sich selbst heraus nichtig ist. Nichts Geschaffenes enthält den Konstitutions- und Erhaltungsgrund unmittelbar in sich. Alles, was in der Welt ist, ist kontingent (vgl. 605ff.; §32) und nicht in der Lage, das Absolute in seiner Notwendigkeit zu explizieren. „Der in der Schöpfung gesetzte Unterschied der reinen Subjectivität und des mannigfaltigen Daseins ist daher auf ganz einfache, abstracte Weise aufgehoben, sofern das Besondere von vornherein als unangemessene Erscheinung des Allgemeinen bestimmt und eben so einfach in den Grund der Einheit zurückgenommen wird.“ (605; §31) Diese Zurücknahme führt in concreto zu einer Beschränkung der durch den Schöpfungsgedanken intendierten Universalität des göttlichen Wirkens, was sich nach Vatke insbesondere in der Begrenzung der Offenbarung Gottes auf eine bestimmte Menschengruppe, nämlich auf das auserwählte Bundesvolk Israels zeigt. Die Selbstexplikation des allmächtigen Schöpfers in der geschaffenen Welt wird partikularisiert. „Dieser Particularismus“, so heißt es, „hat sich auf empirischem Wege ganz einfach gebildet, indem er früher gegeben war, als die erstere universalistische Anschauungsweise, und auch später, als die letztere hinzukam, festgehalten werden konnte, da die Wirklichkeit des religiösen Inhalts nach der hebräischen Begriffsform in der That in diesem besonderen Volke eingeschlossen war.“ (614; §34) Vatke leugnet nicht, dass sich d