Textgeschichte und Rezeption der plautinischen Komödien im Altertum
 3110173360, 9783110173369

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Marcus Deufert

Textgeschichte und Rezeption der plautinischen Komödien im Altertum

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Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Gustav-Adolf Lehmann, Heinz-Günther Nesselrath und Otto Zwierlein

Band 62

Walter de G r u y t e r • Berlin • N e w

2002

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Textgeschichte und Rezeption der plautinischen Komödien im Altertum

von

Marcus Deufert

W a l t e r de- ( i r u y t c r • B e r l i n • N e w

2002

York

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Die Deutsche Bibliothek

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Deufert, Marcus: Textgeschichte und Rezeption der plautinischen Komödien im Altertum / von Marcus Deufert. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte ; Bd. 62) Zugl.: Göttingen, Univ., HabiL-Schr., 2000/2001 ISBN 3-11-017336-0

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH Sc Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

OTTONI ZWIERLEIN MAGISTRO

Vorwort

Die folgende Untersuchung wurde im Wintersemester 2000/2001 von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen als Habilitationsschrift angenommen. Meinen Gutachtern, den Professoren Siegmar Döpp, Ulrich Schindel, Klaus Nickau, Gustav Adolf Lehmann und Klaus Grubmüller, danke ich für die zügige Lektüre des Manuskripts. Ihr kritisches Urteil hat die Arbeit sehr gefordert; besonders Herrn Schindel und Herrn Nickau verdankt sie zudem wichtige Berichtigungen und Ergänzungen. Die Mühen des Korrekturlesens haben die Kollegen und Kommilitonen Hans Bernsdorff, Sascha Fenz, Jonas Grethlein, Uwe Heinemann, Manfred HofFmann, Aniela Knoblich, Kersten Lison, Jens Michuners, Christoph Schünemann und Diane WolfF mit mir geteilt; Klaus Fetkenheuer hat das gesamte Manuskript mit großer Sorgfalt durchgesehen; Ulrich Klauer besorgte die Druckvorlage und berichtigte eine Vielzahl von Fehlern, die bis zum Ende stehengeblieben waren. Ihnen allen gebührt mein herzlicher Dank. Meinen Kollegen Robert Cramer (Bonn, jetzt Wuppertal) und Marcus Beck (Halle) danke ich für die große Liebenswürdigkeit, mit der sie über Jahre meinen bibliographischen Anfragen nachgegangen sind. Zahlreiche Überlegungen dieser Arbeit habe ich in Göttingen in statu nascendi mit Rolf Heine und Gerrit Kloss besprechen können; ihnen beiden gilt darüber hinaus mein besonderer Dank dafür, daß sie stets ein offenes Ohr hatten für ihren in vielen fachlichen und praktischen Fragen der Lehre Rat suchenden jüngeren Kollegen. Für die Aufnahme der Arbeit in die,Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte' bin ich den Herausgebern zu Dank verpflichtet; Heinz-Günther Nesselrath hat wichtige Hinweise gegeben, die der endgültigen Fassung sehr zugute kamen. Weiter gilt mein Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Übernahme der Druckkosten und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für die Verleihung eines Feodor-Lynen-Forschungsstipendiums, das es mir ermöglichte, in Ruhe das Register zu erstellen und die Drucklegung der Arbeit abzuschließen. Zwei Gelehrten will ich schließlich besonders danken: Siegmar Döpp hat die Untersuchung von Beginn an mit Interesse und Rat begleitet und mir in unseren gemeinsamen Oberseminaren großzügig Raum gewährt, schwierige Probleme eingehend durchzusprechen. Seine heitere Art und seine zuverlässige Unterstützung in allen schwierigen Situationen schufen

VIII

Vorwort

ein Klima, unter dem ein unbeschwertes Forschen möglich war. Darüber hinaus hat er auch in Zeiten großer eigener Belastung seinem Assistenten stets den Freiraum gelassen, der unentbehrlich ist, damit umfangreiche wissenschaftliche Arbeiten zum Abschluß gelangen können. Otto Zwierlein hat die Anregung zu dieser Arbeit gegeben und ihren Werdegang auch nach meinem Wechsel von Bonn nach Göttingen und trotz eigener drängender Forschungen mit der mir vertrauten kritischen Aufmerksamkeit verfolgt. Er hat das gesamte Manuskript, teilweise in stark divergierenden Fassungen, gelesen. Wie sehr die Arbeit von seiner Kennerschaft der römischen Komödie profitierte, bedarf kaum eines Wortes. Seit nunmehr zehn Jahren fördert er meinen wissenschaftlichen Werdegang, wie kein zweiter hat er mein philologisches Arbeiten geprägt. Es ist mir eine Freude, ihm als kleines Zeichen der Dankbarkeit dieses Buch zu widmen. Otto Zwierlein hat mir über das in den vier Abhandlungen vom Anfang der neunziger Jahre Mitgeteilte hinaus die bisherigen Ergebnisse seiner echtheitskritischen Analyse des Corpus Plautinum zur Verfugung gestellt. Sie markieren insofern einen Höhepunkt der Echtheitskritik, als sie den gesamten anstößigen oder auffälligen Versbestand des notorisch überarbeiteten Plautuscorpus zusammenstellen wollen. Eine endgültige Trennlinie zwischen dem echten Plautus und dem Bearbeiter seiner Stücke ist freilich noch nicht gezogen, und so müssen beim jetzigen Stand der Forschung sämtliche Aussagen über das ,Plautinische' vorläufig bleiben, mögen sie die sprachliche und metrische Gestaltung eines einzelnen Verses oder den Witz, Bau und Gedankengang einer Szene oder eines ganzen Stückes betreffen. Dem ist in der folgenden Untersuchung dadurch Rechnung getragen, daß Verse aus verdächtigen Partien mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet sind, wenn auf sie echtheitskritisch nicht näher eingegangen wird. Die Arbeit selbst beansprucht keinen Fortschritt in der Echtheitskritik. In den Kapiteln I und II ist vorausgesetzt, daß hinreichend unechtes Versmaterial zur Verfugung steht, um in allgemeinen Zügen die Arbeitsweise des Bühnenbearbeiters und die Textbeschaffenheit der ersten Gesamtausgabe des Corpus würdigen zu können; in Kapitel IX, daß genügend authentisches Versgut vorhanden ist, um einen Aspekt der Metrik des Plautus, seine Handhabung des Hiats, historisch einordnen zu können. Die Kapitel III bis VIII, der umfangreichste Teil der Untersuchung, verfolgen das Schicksal des Komödiencorpus von der Erstausgabe bis zum Einsetzen der handschriftlichen Tradition; das überiicferungsgeschichtliche Hauptergebnis, daß der Plautustext in diesem Zeitraum weniger Schaden gelitten hat, als man seit Leo gemeinhin annimmt, mag optimistisch stimmen für die Zukunft wei terer plautinischer Forschungen. Gi3ttingcn/London, im März 2002

Marcus Deufert

Inhalt

Vorwort

VII

Einleitung

i

I. Uraufführungen und Wiederaufführungen 1. Der Komödientext zu Lebzeiten des Plautus 1.1. Entstehungsvoraussetzungen 1.2. Aufführungen, Autographen, Überlieferungsbedingungen bis zum Tod des Plautus 2. Der Text in der Zeit zwischen Plautus' Tod und der ersten Wiederaufführung: Die Plautuskenntnis des Terenz 3. Die Wiederaufführungen des Plautus seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts 3.1. Der Zeitraum. Die erste Wiederaufführung: Der Prolog der Casina

3.2. Charakteristika der Plautusbearbeitung 3.3. Eingriffe in übernommene Textpartien? II. Die erste Gesamtausgabe 1. Chronologische Fixierung: Die ersten Plautusleser. Lucilius und Accius 2. Charakterisierung der Epoche: Philologie in Rom am Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. 2.1. Suet. gramm. 2 2.2. Das Anecdoton Parisinum

3. Die Anlage der Ausgabe 3.1. Gesamtumfang und Textbeschaffenheit. Interpolationen. Arbeitsweise des Herausgebers 3.2. Kritische Zeichen

3.3. Kolometrie

4. Zusammenfassung

18 18 18 20 25 29 29

32 35

44 44 48 48



54 54 58

59 61

X

Inhalt

III. Die Rezeption der Erstausgabe von Accius bis Verrius Flaccus . . .. 1. Literaturgeschichtliche Rezeption 1.1. Der ßioc; des Plautus 1.2. Literaturkritik 1.3. Die Chronologie der frühlateinischen Literatur 1.4. Varros de actis scaenicis und die Plautus- und Terenzdidaskalien 2. Echtheitskritische Studien zum plautinischen Corpus 2.1. Die Verfasser der plautinischen Jndices' und die Kriterien der Echtheitskritik 2.2. Varros de comoediis Plautinis 3. Formen der Plautuserklärung 3.1. Fachschriften 3.1.1. Varros quaestiones Plautinae 3.1.2. Eine Fachschrift des Servius Clodius 3.2. Plautuskommentare 3.3. Plautusglossare 3.4. Zusammenfassung 4. Plautusrezeption in grammatischen Schriften 5. Plautusrezeption in antiquarischen Schriften 6. Zusammenfassung

gj gj gj 7! 84 88 96 96 104 107 107 107 in 115 117 121 121 126 137

IV. Die Plautuszitate bei Varro, Cicero und Verrius Flaccus und die handschriftliche Überlieferung 139 1. Die Plautuszitate Varros 139 2. Die Plautuszitate in der rhetorica ad Herennium und bei Cicero . 151 2.1. Die rhetorica ad Herennium und Ciceros de inventione .. 151 2.2. Die übrigen Plautuszitate bei Cicero 155 3. Die Plautuszitate bei Verrius Flaccus 158 V. Die weitere Wirkung bis zum Einsetzen der archaisierenden Bewegung: Plautusrezeption im ersten und frühen zweiten Jahrhundert n. Chr, . 176 1. Die Rezeption der archaischen Literatur von Verrius Flaccus bis Probus 17^ 2. Die grammatische Tätigkeit des Probus und seine Bedeutung für den Plautustext 18J 3. Die archaische Literatur inflavischer und trajanischer Zeit . . . . 19*

Inhalt

XI

VI- Die jvarronische Auswahlausgabe

200

1. Entstehungsvoraussetzungen: Plautusrezeption in hadrianisch-antoninischer Zeit 2. Chronologische Fixierung 3. Ausstattung der Ausgabe: Szenentitel und Personensiglen 3.1. Systematik, Herkunft und Funktion der Szenentitel und Sprechersiglen 3.2. Chronologische Fixierung 4. Ausstattung der Ausgabe: Didaskalien und nicht-akrostichische Argumenta 4.1. Die Verbindung von Didaskalien und metrischen Argumenta in der Terenzüberlieferung und im Bodmer-Papyrus des Menander 4.2. Die Terenz- und Plautusdidaskalien 4.3. Die nicht-akrostichischen Plautusargumenta: Überlieferung und Datierung 4.4. Herkunft und Funktion der metrischen Argumenta . . . . 5. Zusammenfassung VII. Die Rezeption der ,varronischen' Auswahl bis zum Einsetzen der direkten Überlieferung 1. Eine Ausgabe des Caecus und die Rezeption der ,varronischen' und nicht-,varronischen' Stücke in der grammatischen Tradition 2. Der Kommentar des Sisenna zu den ,varronischen' Stücken 2.1. Die Entstehungszeit des Kommentars 2.2. Anlage und Umfang des Kommentars 2.3. Prosodische und metrische Interpretamente 2.4. Grammatische Interpretamente und ihre Rezeption bei Nonius 2.5. Text- und echtheitskritische Interpretamente 2.6. Zusammenfassung 3. Die Rezeption der ,varronischenc Stücke im Schulunterricht der Spätantike 3.1. Plautus kein Autor des Grammatikunterrichts 3.2. Plautus und die frühlateinischen Autoren im Rhetorikunterricht: Ein Überblick 3.3. Plautuslektüre im Unterricht des vierten Jahrhunderts: Hieronymus, Donat und Servius 3.4. Ausblick 4- Plautus und die archaisierende Senardichtung der Spätantike 4.1. Das Wissen der spätantiken Metriker

200 213 217 217 221 224 224 225 226 232 236 238 240 245 245 246 246 250 253 255 256 256 258 260 269

.. 270

XII

Inhalt

4.2. Das Weiterleben der frühlateinischen Dramenmetren bei Liebhabern und Dichtern

273

4.3. Der ludus Septem sapientum des Ausonius

4.4. Die akrostichischen Plautusargumenta 4.5. Zusammenfassung VIIL Der Archetypus der direkten Überlieferung und seine Zeugen . . . 1. Ein Codex als Archetypus der direkten Überlieferung 1.1. Die beiden Zeugen: Der Ambrosianus und die antike Vorlage der Palatini 1.2. Geteilte Langverse als Beweisfiir eine gemeinsame Codexvorlage 2. Die Korruptelen des Archetypus: Gemeinsame Fehler in A und P 2.1. Glossierung/Eingriffe zur Verständnishilfe 2.2. Weitere absichtliche Eingriffe: Änderungen von nicht Verstandenem, vermeindiche Verbesserungen oberflächlicher Verderbnisse 2.3. Normalisierung/Modernisierung 2.4. Mechanische Fehler 3. Die Provenienz des Archetypus und das Alter seiner Verderbnis . 4. Die Plautustexte des Nonius und ihr Verhältnis zum Archetypus der direkten Überlieferung 4.1. Nonius Exemplar der 21 ,varronischen' Stücke

277

283 290 293 293 293 296 302 303 308 310 311 316 320 321

4.2. Nonius Ausgabe von Amphitruo, Asinaria und Aulularia

5. Die Varianz der beiden antiken Ausgaben IX. Die Hiate des Plautustextes 1. Plautinische und nachplautinische Hiate: Die Bedeutung des Hiats für die Überlieferungsgeschichte des Plautus 2. Mehrung des Hiates durch Überlieferungsfehler 2.1. Hiate als Sonderfehler der palatinischen Tradition: Das Zeugnis des Ambrosianus 2.2. Hiate als Sonderfehler des Archetypus: Das Zeugnis der indirekten Überlieferung 3. Plautinische Hiate 3.1. Hiate in der Erstausgabe: Die Zitate bei Varro und Verrius Flaccus 3.2. Der Hiat bei den frühlateinischen Szenikern 3.3. Der metrische Hiat in der frühlateinischen Dichtung . •« 4. Folgerungen für die Behandlung der überlieferten Hiate des Plautuscorpus

328

329 34° 34° 344 344 347 35& 3&2 3^7 377

Inhalt

XIII

5\V i ' \

Ergebnisse und Folgerungen 1. Mouvance, Konsolidierung, Depravation: Die drei Phasen der Überlieferungsgeschichte des Plautus im Altertum 2. Das Schicksal des Plautustextes im Licht der Überlieferungsbedingungen der antiken Literatur 3. Folgerungen fiir die Kritik

3^9 393

Literaturverzeichnis

397

Register 1. Sachen, Namen, Wörter 2. Stellen

407 407 417

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transl. ... by A. Grafton, G. W. Most, J. E. G. Zetzel, Princeton 1985, 3 ff. 3 Die hier gegebenen Ausführungen über Wilamowitzens textgeschichtliche Untersuchungen fugen sich gut in das allgemeinere Bild, das M. Landfester, Ulrich von Wilamowitz-MoellendorfF und die hermeneutische Tradition des 19. Jahrhunderts, in: Philologie und Hermeneutik. Zur Gcschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hrsg. v. H, Flashar, K. Gründer u, A. Horitmann, Göttingen 1979,15sff. über dessen Stellung zur Philologie des 19, Jahrhunderts zeichnet.

2

Einleitung

wendeten stemmatischen Methode4 aus der handschriftlichen Überlieferung zwar die sekundären Lesarten auszusondern weiß, den im Idealfall aus ihr abgeleiteten mittelalterlichen oder spätantiken Archetypus dann aber mehr oder minder gleichsetzt mit einer Abschrift des Autorenexemplars, in das sich lediglich Schreibversehen - etwa Auslassungen, Glossen, Verstellungen, Buchstaben- und Wortverwechslungen - eingeschlichen haben, wie sie in der mittelalterlichen Überlieferung haufenweise hervortreten. In der frühen Phase seiner Überlieferung ist ein Text ganz anderen Veränderungen ausgesetzt als den Verderbnissen, die sich innerhalb eines kontinuierlichen Abschreibeprozesses ansammeln; gerade die voralexandrinischen Autoren, auf die Wilamowitz sein besonderes Augenmerk richtet, weil sie ihre Werke nicht in einer eigenen Buchausgabe vorlegen konnten, „haben eine Entwicklung von Jahrhunderten durchgemacht, ehe sie den Grad von Festigkeit erlangten, den Horaz und Vergil und vorher Arat und Kallimachos ihren Werken durch die solide Buchausgabe gegeben haben. Demnach verschiebt sich das was man wagen darf und was man erreichen kann."5 In den Untersuchungen über die Textgeschichte der homerischen Epen6 und der archaischen Lyrik steht denn auch ganz die voralexandrinische Phase im Vordergrund, in der die durch keine maßgebliche Buchausgabe geschützten Texte in Folge eines lebendigen Rezeptionsprozesses modernisiert, weiterund umgedichtet worden sind. Dagegen ist in Wilamowitzens umfangreichster textgeschichtlicher Studie, der,Geschichte des Tragikertextes'7, auch die nachalexandrinische Periode bis zum Ausgang der Antike mitbehandelt; in ihr tritt dann besonders deutlich der zweite Gewinn hervor, den textgeschichtliche Untersuchungen abwerfen, wenn sie die gesamte dem Archetypus vorangehende Periode umfassen: Sie klären nicht nur den Textzustand eines Werkes in den verschiedenen Phasen seiner Tradition und dokumentieren die aus der offenen Überlieferung zu Beginn resultierende Distanz gegenüber der ursprünglichen Form, sondern zeichnen darüber hinaus auch ein Bild davon, wie die konkrete Gestalt zustande gekommen ist, in der ein Autor handschriftlich überliefen ist (ob vollständig oder in einer Auswahl, kommentiert oder unkommentiert), und erläutern, nach welchen Gesichtspunkten etwa eine Auswahl vorgenommen oder ein Autor kommentiert worden ist.

Vgl. S. Timpanaro, La genesi del metodo del Lachmann, Padua 3I98I und zuletzt mit abgewogenem Urteil C O. Brink, Klassische Studien in England. Historische Reflexionen über Bentley, Porson und Housman, Stuttgart/Leipzig 1997, 194 fr. 5 U. von Wilamowitz-MoellendorfF, DieTcxtgeschichte der griechischen l.yriker» Abh. d, königl. Gesell, d. Wiss. Gott., Phil.-hist. Kl. N. F. IV Nr. 3, Berlin 1900, 3 f. 6 U. von Wilamowitz-MoellendorfF, Homerische Untersuchungen, Berlin 1884,186 tf 7 U. von Wilamowitz-MoellendorfF, Euripidcs Herakles, 1. Bd.; Einleitung in die gricchischc Tragödie, Darmstadt 1969 (urspr. Berlin 1889), 121 fF.; zahlreiche Eituelergebnis>vefinden sich bereit« in Wilamowitzem ,Analecta L\uripidea\ Berlin 1875, ni ff.» allerdings noch nicht in Jtf tyitematUchc Form einer historischen Untersuchung gefaßt.

4

Einleitung

Die Bedeutung, die Wilamowitz textgeschichtlichen Untersuchungen beimißt, wird aus seinen Schriften immer wieder ersichtlich: Seine großen kritischen Ausgaben begleiten Untersuchungen über die antike Textgeschichte (mit Ausnahme des Kallimachos, der wie Arat, Vergil, Horaz mehrfach als ein Autor genannt ist, dessen Text von Anfang an durch eine Buchausgabe geschützt ist8); seine der Zahl nach wenigen, doch stets auf Grundsätzliches zielenden Rezensionen in den ,Göttingischen Gelehrten Anzeigen' nutzt er für über die besprochenen Arbeiten hinausgehende Überlegungen zur frühen Textgeschichte etwa des Piaton und des griechischen Romans9. In seiner ,Geschichte der Philologie' sieht er den Hauptwert der Wolfschen ,Prolegomena ad Homerum' nicht in der ,Homerischen Frage' liegen, „sondern in der Erschließung der Scholien, also der Geschichte des Textes"10. Schließlich sind die Lehren, die aus der antiken Überlieferungsgeschichte fiir den Text eines Autors zu ziehen sind, in den philologischen Katechismus aufgenommen, den Wilamowitz in seinen autobiographischen ,Erinnerungen' mitteilt11. Seine textgeschichtlichen Forschungen haben nachhaltig gewirkt: Ihre Bedeutung für eine historisch fundierte Textkritik ist ebenso epochal wie die seit dem 19. Jahrhundert systematisch durchgeführte stemmatische Methode12; unter anderem haben sie die Erforschung antiker Textvarianz und Textabänderung, deren Ausmaß nach und nach sichtbar werden, auf eine neue Grundlage gestellt13. Als besonders dringend erachtete Wilamowitz textgeschichtliche Untersuchungen für die frühgriechische Literatur, die eine besonders lange Phase der Unsicherheit durchlaufen hat. Ihrem Schicksal kommt auf römischer Seite am nächsten die Überlieferung der plautinischen Komödien: Zwischen ihren Uraufführungen und den beiden antiken Ausgaben, aus denen der Text zu konstituieren ist (dem in Teilen erhaltenen Mailänder Palimpsest und der antiVgl. neben dem oben abgedruckten Zitat aus der,Textgeschichte der griechischen Lyriker etwa U. von Wilamowitz-Moellendorff, Die Textgeschichte der griechischen Bukoliker, Berlin 1906, 129; dagegen ist für Theokrit, dessen Gedichte nicht in einer von ihrem Autor veranstalteten Ausgabe gesammelt sind, wieder die „Überlieferung im Altertum" eigens untersucht. 9 Vgl. U. Schindel, Wilamowitz in den GGA, GGA 234,1982,1ff. (v. a. 6 £). 1 0 U. von Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie, Leipzig 1921, 48; ähnlich auch R. Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, 215-217. 1 1 U. von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848-1914, Leipzig 1928,102. 1 2 Vgl. R. Pfeiffers eindrucksvolle Würdigung in seinem ,Nachruf auf Ulrich von WilamowitzMoellendorff1, in: R. Pfeiffer, Ausgewählte Schriften (hrsg. v. W. Bühler), München 1960,271 f. IC Büchner, Überlieferungsgeschichte der lateinischen Literatur des Altertums, in: H. Hunger (Hrsg.), Geschichte der Textüberlieferung, Bd. i, München 1961, 313 läßt zu Recht mit Lachmann die „Epoche der Textrezension", mit Wilamowitz die „Epoche der Textgeschichte" beginnen. Zur Bedeutung Lachmanns vgl. die oben, Anm. 4 genannte Literatur. Zur neueren Echtheitskritik und zur Bedeutung, die sie antiken Textcingriffcn beimißt, vgl. Verf., Pseudo-Lukrezisches im Lukrez. Die unechten Verse in Lukrezens „de rerum natura*, Berlin/New York 1996,6ff, dens., Lukrez und Marullus. Ein kurter Blick in die Werkstatt eines humanistischen Interpolators, RhM 142, 1999, 210ff. und zuletzt C Gnilka, Prudcntiana l Gritka, München/Lcipzig 2000 (». darin das Register III Intcrpolationswcsen). 8

4

Einleitung

ken Quelle des mittelalterlichen Archetyps der palatinischen Tradition), stehen ungefähr 600 Jahre Überlieferung, für die keine direkten Zeugen greifbar sind. Beide Ausgaben tradieren eine identische Auswahl von 21 Stücken aus einem ursprünglich viel größeren Corpus, Plautus verfaßte seine Komödien für eine einmalige Aufführung, besorgte aber keinen Lesetext. Der Verbreitung in Buchform geht eine Phase voran, in der die Stücke auf den römischen Bühnen wiederaufgeführt worden sind. Kein erhaltener lateinischer Dichter weicht in den Formen, im Idiom und in der Prosodie stärker von den bis in die Spätantike maßgeblichen Augusteern ab. Die Gefahren, die dem Text unter diesen Verhältnissen drohen, liegen unmittelbar auf der Hand. So ist es fast eine Selbstverständlichkeit, daß Wilamowitzens Göttinger Kollege Friedrich Leo seine 1895 gleichzeitig mit der Ausgabe und zu deren Stütze veröffentlichten,Plautinischen Forschungen' mit einem Kapitel über die „Geschichte der Überlieferung der plautinischen Komödien im Altertum" eröffnet14. Auf knapp sechzig Seiten entwirft Leo eine geschlossene, den gesamten Zeitraum umgreifende Skizze der antiken Textgeschichte des Plautus, vor deren Hintergrund erst das Verhältnis zwischen der in der direkten Überlieferung greifbaren Textfassung und dem ursprünglichen Text der plautinischen Komödien sichtbar wird. In diesem Kapitel sieht Leo den Plautustext fünf Phasen durchlaufen15. In der ersten (von Plautus' Tod bis etwa 100 v. Chr.) zirkulierten die Komödien als Bühnentexte, waren somit willkürlichen Eingriffen, vor allem Erweiterungen und Kürzungen ausgesetzt, die Bearbeiter bei Neuinszenierungen vorgenommen haben. Erst um 100 v. Chr. sei der gesamte Nachlaß von 130 Komödien wissenschaftlich herausgegeben worden; dieses kritische Interesse habe dann bis zum Ende der Republik fortbestanden und unter anderem eine echtheitskritische Auseinandersetzung mit dem plautinischen Nachlaß hervorgerufen, in deren Folge nur 21 Stücke von allen Kritikern übereinstimmend als echt befunden wurden. In der dritten Phase, von der frühen Kaiserzeit bis Probus, sei dann das wissenschaftliche und literarische Interesse an Plautus zunehmend geschwunden, seine Texte seien schließlich in Rom verloren gegangen. Erst in flavischer Zeit, der vierten Phase, habe mit dem Grammatiker Probus die philologische Tätigkeit erneut eingesetzt. Dabei mußte Probus fiir eine neue kritische Ausgabe erst das Textmaterial aus der Provinz beschaffen, wo die Texte nur von Liebhabern rezipiert worden und ohne wissenschaftlichen Schutz verwahrlost seien. Dieses uneinheitliche Textmaterial habe Probus in seiner Ausgabe konservativ behandelt, auch evidente Korruptelen im Text nicht verbessert, 14

F. Leo, Plautinische Forschungen zur Kritik und Geschichte der Komödie, Berlin 1895* Im folgenden ist allen Zitaten und Verweisen die 2» Auflage (Berlin 1912) zugrunde gelegt. Der Einfluß von Wilamowitzens textgeschichtlichcn Forschungen auf Leo ist unverkennbar; knapp hervorgehoben hat ihn bereits E. Norden in seiner Besprechung der %Plautinischcn Forschungen4 in der Zeitschrift ftir das Gymnasialwescn 50,1896, 463, Die hier gegebene Zusammenfassung lehnt «ich eng an Leos eigene an, die er in den (JGA 166t 1904, 358 ff. gibt; der raffiniert-verschlungene Weg, auf dem er in den PlautinltcKcn Forschungen zu seinen Ergebmwcn gelangt, kann hier unmöglich nachgcicichnet werden.

Einleitung

nur durch adnotatio gekennzeichnet. Auf dieser vielfach verderbten des Probus basiere dann eine Auswahlausgabe aus hadrianischer Zeit, die allein die 21 von den republikanischen Gelehrten übereinstimmend für echt befundenen Stücke aufgenommen habe. Diese Ausgabe betrachtet Leo als den Archetypus der direkten Überlieferung, auf den die gemeinsame Verderbnis der beiden antiken Ausgaben, des Ambrosianus und der Quelle der Palatini, zurückgeht. In der fünften Phase, während des dritten und vierten Jahrhunderts, seien auf Grund des weiter bestehenden Interesses neue Ausgaben der 21 Stücke entstanden, in denen das Bemühen, den schwer verderbten Text lesbar zu machen, zu erheblichen Eingriffen gefuhrt habe. Dies schlägt sich in der Varianz nieder, die der Ambrosianus und die Quelle der Palatini trotz ihres gemeinsamen Archetypus voneinander aufweisen. An Leos Darstellung beeindrucken die Geschlossenheit und Konsequenz, mit der er drei Schichten der Textverfalschung (verursacht durch die Willkür der Bühnenbearbeiter, durch die Verwahrlosung in der Provinz und durch die freie Emendation spätantiker Rezensenten) isoliert, diese historischfixiert und einerseits in der gemeinsamen, andererseits in der individuellen Verderbnis der beiden antiken Ausgaben dokumentiert. Die Geschlossenheit seines Bildes von der Textgeschichte des Plautus im Altertum tritt besonders deutlich hervor, wenn man es mit den auf Punktuelles beschränkten und unvollständigen Vorstellungen vergleicht, die sich die vorangegangene Plautusphilologie von dem Zustandekommen der Tradition gemacht hat 16 . sondern Ausgabe

Daß in der mittelalterlichen Überlieferung nur wenige Stücke eines ursprünglich viel größeren plautinischen Corpus bewahrt sind, welches in der Antike echtheitskritisch heftig umstritten war, erörtert erstmals ausfuhrlich der Paduaner Humanist Sicco Polentonus im zweiten Buch seiner scriptorum illustrium Latinae Linguae libri XVIII, die in zwei Ausgaben, einer ersten Fassung von etwa 1426 und der endgültigen von spätestens 1437, erhalten sind17; nach Sicco dann Georgius Merula in dem Abschnitt „de vita comoediisque Plauti excerpta quaedam ex auctoribus gravissimis" seiner 1472 in Venedig gedruckten ersten Gesamtausgabe der Komödien des Plautus. Beide Gelehrte stützen sich vor Zur Geschichte der neuzeitlichen Plautusphilologie bis in das frühe 19. Jahrhundert noch immer grundlegend E Ritsehl, Ueber die Kritik des Plautus. Eine bibliographische Untersuchung, RhM 4,1835,153ff. und 485ff.; nachgedruckt und mit Nachträgen versehen in Ritschis Opuscula philologica, Bd. 2, Leipzig 1868,1ff. Für Hilfe bei meinen eigenen Nachforschungen danke ich Felix Gaertner (Oxford). 1 7 Zur Entstehungsgeschichte des Werkes und den handschriftlichen Zeugen der beiden Ausgaben 1. B. L Ullman (ed.), Sicconis Polentoni scriptorum illustrium Latinae linguae libri XVIII, Rom 1928, XII sqq.; der Plautusabschnitt ist nach der zweiten Ausgabe bei Ullman« P- 53>f~55»26 gedruckt, nach der ersten Ausgabe bei F. Ritsehl, Parerga Plautina, 633ff. In der ersten Fassung schreibt Sicco ausdrücklich, daß nur acht Komödien erhalten sind; in der /.weiten unterbleibt eine explizite Angabe: Zwischen den beiden Ausgaben liegt das Jahr 1430» in dem Giordano Orslni den Ckidex D nach Rom brachte und Italien tw6\( neue Stücke des PtautuA »chrnkte.

16

6

Einleitung

allem auf das für die frühe Textgeschichte wichtige Kapitel 3,3 der Noctes Atticae des Gellius; wie dort sind auch bei Sicco und Merula jene 21 fabulae Varronianae hervorgehoben, die Varro und den vorangehenden Kritikern für fraglos echt gegolten haben. Merula vermerkt außerdem, daß bei Gellius umfangreiche Zitate aus Plautusstücken gegeben sind, die nicht zu den 21 Varronianae zählten; eine Verbindung zwischen den Varronianae und den zwanzig von ihm aus der handschriftlichen Überlieferung edierten sieht er jedoch noch nicht. Die Identität der erhaltenen Stücke mit den Varronianae vermutet als erster Simon Charpentarius in seiner in Lyon gedruckten Ausgabe von 151318, der auch eine erste, höchst dürftige Sammlung der Fragmente der verlorenen Stücke vorlegt19. Eine begründete Identifizierung der 21 Varronianae mit dem handschriftlich erhaltenen Corpus gelang dann Ioachimus Camerarius, der in seiner Basier Ausgabe von 1552 erstmals den ältesten Zeugen der palatinischen Tradition, den heutigen Codex Vaticanus Pal. lat. 1615 (B), ausgewertet hat. In dessen Subscriptio zum Truculentus, dem 20. und letzten überlieferten Stück, ist als weiteres die Vidularia fiir einen Vorgänger der palatinischen Tradition bezeugt: Plauti Truculentus explicit, incipit Vidularia. Hieraus folgert Camera-

rius 20 : „eae (seil. Varronianae sunt), ut opinor, quae adhuc extant: et praeter illas insuper Vidularia, cuius et in nostro veteri libro nomen exaratum cernitur, sed in hac inscriptione ille finitur, cum magno crimine inertis et pigri scriptoris, qui non addiderit ad titulum etiam fabulam."21 Nach dem Zustandekommen der ,varronischenc Auswahl und dem Überlieferungsschicksal der Stücke außerhalb der Auswahl fragt Camerarius ebenso wenig wie Georgius Fabricius, derfiir den Basler Nachdruck des Camerarischen Textes von 1558 die Fragmentsammlung des Charpentarius stark erweitert22. Erst Friedrich Ritsehl erkennt in denfabulae Varronianae die 21 von allen republikanischen Echtheitskritikern bis hinab zu Varro übereinstimmend als echt akzeptierten Stücke des Plautus: In seiner Interpretation des Kapitels 3,3 der Noctes Atticae des Gellius ist die durch die Wiederaufführungen im zweiten Jahrhundert hervorgerufene Echtheitsproblematik, die sich für die römischen Grammatiker ergab, ebenso behandelt wie die Das Titelblatt seiner Ausgabe lautet: „M. Plauti sarssinatis comedie XX varroniane ex antiquis recentioribusque exemplaribus invicem collatis diligentissime emendate"; in seiner „Vita Plauti" rechnet Charpentarius „illas XX quas in praesentiarum habemus" ganz selbstverständlich und ohne weitere Ausfuhrungen zum Grundstock der von den bei Gellius genannten antiken Echtheitskritikern als echt akzeptierten Stücke. Nach der 21. Varroniana fragt er aber nicht. 1 9 Auf den Truculentus folgt die die Sammlung einleitende Bemerkung: „Ex multis Plauti comoediis amissis haec reperiuntur citatae a gravissimis authoribus M. Tulio (sie!) C. Au, Gellio Nonio Marcello Festo Pompeio et Prisciano quae ordine litterarum disposuimus." Das alphabetische Anordnungsprinzip ist bis heute gleichgeblieben. 2 0 In den übrigen Handschriften der Palatini ist das incipit des neuen Stückes fortgelassen, 2 1 S. 900 in Anschluß an die Adnotationes zum Truculentus. 1 2 S. 913 ff. werden unter dem Titel „loci ex XU amissis Plauti comoediis, a grammaticLs citatf Fragmente und Testimonien aus 41 verlorenen Stücken ohne einleitende Bemerkungen und Erklärungen vorgelegt; die ganz ungleiche Verteilung der Zitate auf die einzelnen Jahrhunderte bleibt unerkannt. 18

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Verfahrensweisen und Ergebnisse der Gelehrten, die die echten von den Plautus 23 falschlich zugeschriebenen Stücken sondern wollten . Aus den von Ritsehl initiierten24, von seinen Schülern F. Winter 25 und G. Goetz 26 zum Abschluß gebrachten Fragmentsammlungen und den sie begleitenden quellenkritischen Untersuchungen geht schließlich hervor, daß seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert mit wenigen Ausnahmen allein die ,varronischen' Stücke rezipiert werden. Aus diesem Quellenbefund schloß dann erst Friedrich Leo, daß in hadrianischer Zeit eine maßgebliche Auswahlausgabe entstanden ist, die sich auf die 21 übereinstimmend für echt befundenen Stücke beschränkte, deren Einfluß in der Folgezeit die übrigen Stücke verdrängt hat 27 . Über eine andere wichtige Phase der Textgeschichte, die der ungefähr eine Generation nach dem Tod des Dichters einsetzenden Wiederaufführungen, legt der Prolog der Casina ein explizites Zeugnis ab, dessen Sprecher in den Versen 5-20 die erneute Inszenierung des ,alten', d.h. bereits früher aufgeführten, Stückes rechtfertigt. Daß die Wiederaufführungen im überlieferten Plautustext ihre Spuren in Zusätzen wie eben diesen nachträglichen Prologversen hinterlassen haben, bemerkt als erster der Mailänder Rechtsgelehrte Andreas Alciatus (1492-1550), der im sechzehnten Kapitel des sechsten Buchs seiner 1536 in Pavia gedruckten „Parerga iuris sive obiter dicta" 28 Anspielungen auf Gesetze bei Plautus behandelt, darunter auch die Bemerkungen *Cas. 69-76 über das Recht der Sklaven auf Ehe. In diesem Zusammenhang spricht er den gesamten Prolog dem Plautus ab und weist ihn auf der Grundlage von Vers 72 et hic in nostra terra fin Apulia f, den er in der Form et hic in terra nostra Etinae in Apulia

liest, einem Schauspieler aus Apulien zu 2 9 , sieht in ihm also einen aus einer Wiederaufführung hervorgegangenen Zusatz. Seitdem gilt der Casinaprolog vielen Kritikern als unecht 30 , ohne daß sich jedoch das bei Alciatus erkennbare 23

E Ritsehl, Die Fabulae Varronianae des Plautus, in: F. Ritsehl, Parerga zu Plautus und Terenz. Erster Band, Leipzig 1845, 73 ff 24 F. Ritsehl, Deperditarum Plauti fabularum fragmenta, Opuscula philologica, Bd. 3, Leipzig 1877,177 ff

fabularum deperditarum fragmenta, coli. F. Winter, Bonn 1885. T. Macci Plauti Cistellaria, rec. F. Schoell. Accedunt deperditarum fabularum fragmenta a G. Goetz recensita, Leipzig 1894,125 ff.; die quellenkritischen ,Epilegomena' dort 189 ff.

25 Plauti 26 27

PF, 18 ff

Nachgedruckt in Bd. 4 der Opera omnia, Basel 1582; das unten gegebene Zitat dort Sp. 447. Zu Alciatus vgl. zuletzt V. W. Callahan, ^Andrea Alciati', in: Contemporaries of Erasmus, hrsg. v. P. G. Bietenholz, Bd. 1, Toronto 1985, 23 ff. (mit Lit.). in prologo Casinae, quem Apulus aliquis comoedus Plautinae fabulae praefixit." Welche Teile des Casinaprologs echt, welche nachplautinisch sind, ist bis heute umstritten; vgl* zuletzt W.-W. Ehlers, Zum Prologschluß der Casina, in: Dissertatiunculae criticae. Festschrift G,-C Hansen, Würzburg 1998,183 ff. 10 Vgl. z. B. Valens Acidalius, In comoedias Plauti quae exstant divinationes et interpretationes, Frankfurt 1607, in denen 124 der Casinaprolog bczcichnct ist als ein „Prologus quem Plauti non at$e satis constat, aed talem mchcrcule, cuius ncc pudere ipsum possit". Die beiden Urteile de* Alciatus und des Acidalius sind dann anonym wiedergegeben in der Ausgabe von loh&nncs Pareui (Frankfurt i6to), ihnen namentlich /^geschrieben in den Ausgaben von Fridericus 28

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Bewußtsein um Textzusätze aus antiken Wiederaufführungen aufrecht hält und zu einer entsprechenden Einschätzung vergleichbar signifikanter früher Zusätze fuhrt. Ganz unhistorisch verfährt etwa Camerarius mit dem Schluß des Poenulus, für den sämtliche Handschriften in Folge einer Wiederaufführung eine Doppelfassung aufweisen: Er gibt in seiner Ausgabe nur den ersten Schluß, der alter exitus bleibt in seinem Text ebenso ungedruckt und unerwähnt wie die meisten der in den Handschriften nicht überlieferten Humanistensupplemente - ein einheitlich überlieferter antiker Zusatz ist hier gleich behandelt wie die nur in den Ausgaben überlieferten Zusätze des 15. und 16. Jahrhundens31! Echtheitskritisch konsequent durchgearbeitet werden die plautinischen Komödien erstmals von dem französischen Jesuiten Fran^ois Guyet (1575-1655), dessen adnotiertes Handexemplar, die 1621 in Wittenberg erschienene Ausgabe von Jan Gruter, der zweisprachigen Plautusausgabe von Michael de Marolies (Paris 1658) zugrunde liegt32. In ihr sind rund 63533 Verse ohne weitere Begründung als unecht gekennzeichnet34. Daß Guyet von den frühen Wiederaufführungen wußte und zumindest einen Teil der von ihm getilgten Verse den Bühnenbearbeitern zuwies, macht seine Bemerkung zu dem nachgestellten Götterprolog der Cistellaria wahrscheinlich, dessen Echtheit er in Zweifel zieht und den er mit dem Casinaprolog vergleicht35: „Hic Prologus Plauti utrum sit dubitari potest: nihil enim dicit quod scena praecedenti a Lena tactum non sit, praeterea loco alieno hic positus est, quare et alienus esse nec Plautinus videtur, nec miretur quisquam additum fuisse Prologum huic Comoediae, cum et Casinae idem acciderit." Alciatus' Einschätzung des Casinaprologs als eines Tauhmanus (Wittenberg 1605) und Jan Gruter (Wittenberg 1621), das des Alciatus auch in der Ausgabe von Johannes Gronovius (Leiden 1624), der Plautusvulgata bis ins 19. Jahrhundert. Alle Ausgaben (bis heute) drucken den Casinaprolog freilich ohne kritische Kennzeichnung, d. h. genauso wie den echten Plautustext. 3 1 Vgl. Ritsehl, Opuscula philologica, 113 und O. Zwierlein, Zur Kritik und Exegese des Plautus I. Poenulus und Curculio, Mainz 1990, 56 ff.; zu den Humanistensupplementen vgl. L Braun, Scenae Suppositiciae oder Der falsche Plautus, Göttingen 1980. 3 2 Vgl. hierzu E. Benoist, Le Piaute de Francis Guiet, Milanges Graux, Paris 1884, 461ff» der die erste Hälfte von Guyets auf zwei Teile umgebundenem Handexemplar entdeckt und eine vollständige Kollation seiner Noten zur Cistellaria mitgeteilt hat. Benoist weist mit Nachdruck auf die Ungenauigkeit hin, mit der Marolles Guyets Textgestaltung wiedergibt. Dennoch ist Guyets Handexemplar bis heute nicht vollständig nachkollationiert worden. 3 3 Die meisten Verse (78) sind im Miles Gloriosas getilgt, nämlich (nach der Zählung Lindsays): M> 73 £1 77» 95> 155» l 8 6 > i89*> ™5> f., 219-225,271,403-406,438,466 f., 478-480» 546, 599» 621 f., 625, 6436 707, 710, 714 f., 779, 786-788, 850 f„ 854, 894-5, 945,1006,1045 1049,1086-1093,1287-1289,1295 f., 1416-1424. Die von H. D. Jocelyn, Gnomon 6 8 , 4 0 ? gemachten Angaben über Guyets Athetesen im Miles sind unvollständig. Nicht mitgerechnet sind der fiir unecht befundene Casinaprolog und der verdächtigte Prolog der Cistellaria. Mit wenig Verständnis beschreibt Marolies die Athetesen Guyets ak »vtrs que ce s^auant hommc a iugez inutiles, ou superflus, ou supposez"; er bestätigt damit Wikmowitzens Urteil, der in seiner «Geschichte der Philologie* (27) Guyet voller Anerkennung »einer Zeit weit voraus einschätzt, ** Zitiert nach Benoist, 472,

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Zusatzes eines „Apulus aliquis comoedus" war Guyet aus Gruters Kommentar bekannt36; es liegt auf der Hand, daß er sich Alciatus' aus dem Prologtext selbst unmittelbar hervorgegangene Anschauung zu eigen gemacht hat, also mit Zusätzen in Folge der Wiederaufführungen rechnete und durch seine Athetesen zu beseitigen suchte. Auf ein methodisch gesichertes Fundament stellt die Echtheitskritik jedoch erst im frühen 19. Jahrhundert Friedrich Osann, der über den Casinaprolog hinaus die antiken Zeugnisse für Wiederaufführungen der Komödien des Plautus und Terenz zusammenstellt und aus ihnen die Notwendigkeit ableitet, die überlieferten Texte auf nachträgliche Interferenzen aus der Bühnenpraxis hin zu untersuchen37. Die Tatsache, daß die Komödien des Plautus in ihrer überlieferten Form Entstellungen aufweisen, die durch die Wiederaufführungen verschuldet sind, ist seitdem allgemein anerkannt; das Ausmaß der „retractatio" bleibt freilich bis heute umstritten38. In die Phase der Wiederaufführungen verlegte Friedrich Ritsehl schließlich auch eine durchgreifende Modernisierung der plautinischen Sprache, als er, gestützt durch seine Forschungen zu den frühlateinischen Inschriften, in seinen ,Neuen Plautinischen Excursen' zur Vermeidung des Hiats die systematische Einführung des auslautenden -d in den Ablativformen, aber auch bei Adverbien wie z. B. interea(d) undperegre(d) forderte39. In Anschluß an bei Plautus vereinzelt überliefertes med und ted hatte bereits Camerarius zur Hiatvermeidung diese Formen aus me und te hergestellt. Nachdem dann erstmals Iustus Lipsius Quint, inst. 1,7,12 a Latinis veteribus d plurimis in verbis adiectum ultimum als Beleg für die Existenz des auslautenden -d im frühen Latein in Anschlag gebracht hat 40 , wurde der Buchstabe von Guyet und Friedrich Bothe (in seiner vierbändigen Plautusausgabe, Berlin 1809-1811) willkürlich und ohne Konsequenz zur Hiatvermeidung an jede vokalische Endung angehängt41. Im Gegensatz zu Bothe, der mit einem allmählichen Verlust der alten Form durch den gesamten Zeitraum der antiken und mittelalterlichen Überlieferung rechnete42, 36

Dort ist im Kommentar zu Beginn des Casinaprologs das Urteil des Alciatus ausgeschrieben:

„Alciatus Parerg. lib. 6:16. hunc prologum ait Apulum aliquem comoedum Plautinae fabulae praefixisse" F. Osann, Analecta Critica poesis Romanorum scaenicae reliquias illustrantia, Berlin 1816, 141 ff. 3 8 Vgl. z. B. G. Goetz, Dittographien im Plautustext nebst methodischen Folgerungen, Act. Soc. Phil. Ups. 6,1876, 233ff.; A. Thierfelder, De rationibus interpolationum Plautinarum, Leipzig 1929 und zuletzt O. Zwierlein, Zur Kritik und Exegese des Plautus I-IV, Mainz 1990-1992. 3 9 F. Ritschl, Neue Plautinische Excurse. Erstes Heft: Auslautendes D im alten Latein. Leipzig 1869. Zur Problematik s. unten, 38-40. 4 0 1. Lipsius, Antiquarum lectionum commentarius, Antwerpen 1575, p. 62, wo Lipsius seine palmare (von den Quintilianherausgebern bis heute Späteren zugewiesene) Konjektur Dtälio infijro in Quint. 1,7,12 begründet. 4 1 Vgl. hierzu B. Maurenbrecher, Forschungen zur lateinischen Sprachgeschichtc und Metrik. Heft 1: Hiatu« und Vcrschleifung im alten Latein, Leipzig 1899,107 ff. 4* In Band IV p. 14 zu Amph, piol. 149: „hulus (seil, litterac d usus) vero puueissima apud cum 37

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lokalisiert Ritsehl die Verderbnis in der frühesten Phase der Textgeschichte: Da weder die handschriftliche noch die Sekundärüberlieferung des Plautus (v0n med und ted abgesehen) irgendwelche auf -d auslautenden Formen bezeuge, müsse der Verlust vor dem Erschließen des Plautustextes durch die republikanischen Grammatiker erfolgt sein, somit in die vorangehende Periode der Wiederaufführungen fallen43. Dieser Überblick zeigt, daß Leo zu Recht den Anspruch erhebt, als erster eine „historisch begründete recensio des Plautustextes"44 vorgelegt zu haben: Vor ihm gibt es keine zusammenhängende Theorie von dem Zustandekommen der handschriftlichen Tradition des Plautus, dementsprechend auch keine prinzipiellen Überlegungen über die Distanz, die zwischen den plautinischen Autographen und den Zeugnissen der direkten Überlieferung liegt. Auch Friedrich Ritsehl war bei all seinen grundlegenden Verdiensten für die Konstitution des Plautustextes noch nicht zu einem durchgehenden historischen Verständnis der Tradition gelangt. In den Prolegomena zu seiner 1848 erschienenen ersten Ausgabe des Trinummus^ die als erster Text mit der über Jahrhunderte verfestigten Vulgata bricht und allein auf der Grundlage unabhängiger handschriftlicher Überlieferung konstituiert ist, schließt Ritsehl aus den beiden antiken Ausgaben - dem 1815 von Mai 45 entdeckten, aber erst von Ritsehl fiir die Textkritik systematisch ausgenutzten Mailänder Palimpsest und der von ihm erkannten antiken Vorlage der palatinischen Tradition - wegen der gemeinsamen Verderbnisse auf einen gemeinsamen Archetypus, den er in das vierte Jahrhundert zu datieren scheint46. Ritsehl hat keinerlei Zweifel daran, aus dem Text des Archetypus durch Emendation den ursprünglichen des Plautus herstellen zu können, auch wenn sich die angewendeten Mittel von der ersten zur zweiten Ausgabe des Trinummus (Leipzig 1871) etwa bei der Beseitigung der für unplautinisch befundenen Hiate signifikant verschieben: Wurden sie in der ersten Ausgabe durch Wortergänzungen, Umstellungen und Konjekturen (also unter Voraussetzung von Fehlern, wie sie in der mittelalterlichen Überlieferung reichlich dokumentiert sind) behoben, so dient ihrer Beseitigung in der zweiten Auflage, die durch die,Neuen Plautinischen Excurse* vorbereitet ist, das Einsetzen des auslautenden -d. So stark die beiden Ausgaben voneinander abweichen, so sehr hat Rischl stets an der Überzeugung festgehalten, die ,ipsa verba des Plautus wiederhergestellt zu haben. Überlegungen zur Textgeschichte, wie sie (seil. Plautum) monumenta tum magistrorum veterum prava diligentia, cum priscae loquelae ac scripturae reliquias ex oculis diseipulorum amoverent, tum librariorum Christianorum ignorantia oscitantiaque reliquerunt." 4 3 Auslautendes D, 109 ff. 4 4 E Leo, PF, 1. 4 5 A. Mai, M. Acci Plauti fragmenta inedita, Mailand 1815. 4 6 F Ritsehl, »Prolegomena de rationibus criticis grammaticis prosodicis metricis cmendarionU Plautinac in der Ausgabe de« Trinummus (Bonn 1848), V U - C C X L V I ; wieder abgedruckt in den Opuscula philologica V, Leipzig 1879, 285ff., dort tum Archetypus und «einen Zruflcn *99ff., zur Datierung de« Archetypus 300 f.

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am Ende der ,Neuen Plautinischen Excurse zum Ausdruck kommen, haben keinen eigenständigen Wert und fuhren nicht zur prinzipiellen Frage nach der Zuverlässigkeit des im Archetypus gebotenen Textes, sondern dienen ganz dem Zweck, eine systematisch vorgenommene Form der Verbesserung (in diesem Fall das Einsetzen früher Formen) methodisch zu rechtfertigen. Es ist diese optimistische Überzeugung, durch Emendation von den Textzeugen zum Autor selbst gelangen zu können, mit der Leo in seiner ,Geschichte der Überlieferung der plautinischen Komödien im Altertum' entschieden bricht. Nach seiner Vorstellung ist der Text in jenem Zeitraum, der zwischen den Uraufführungen und der handschriftlichen Überlieferung liegt, in einer Weise Abänderungen unterlegen, die mit den Mitteln der Kritik letztlich nicht rückgängig zu machen sind: Wer aber emendiren will, der soll sich bewußt sein, daß er über zwei Phasen wilder Überlieferung hinwegemendirt, in deren erster der Text durch willkürliche, in der zweiten durch mechanische Änderungen entstellt worden ist; daß zum Abschluß beider Perioden der Text fixirt worden ist wie ihn die Zeit gestaltet hatte. Wer das bedenkt, der wird oft die Unmöglichkeit erkennen wahrhaft zu emendiren, öfter sich mit dem Geschäft des Philologen begnügen, das mehr als Kunst ist, und interpretiren, das heißt den Gedanken des Dichters verstehen; das ist mehr als die Form herstellen in der der Gedanke ausgesprochen war.47 Leos Textgeschichte und ihre Konsequenzen - die aus tieferer historischer Einsicht abgeleitete Selbstbescheidung gegenüber der vorliegenden Tradition, die Abkehr von den „paläographischen Manipulationen"48 der vorangegangenen Gelehrtengeneration, die Hinwendung zur Interpretation - wurden von einflußreicher Seite als ein methodologisches Lehrstück für die Latinistik gefeiert49. Sie haben auf die Folgezeit nachhaltig gewirkt: Auf ein Jahrhundert, in dem die Kritik des Plautus „geradezu im Mittelpunkt der lateinischen Philologie"50 gestanden hatte, folgte ein Jahrhundert, in dem die Plautusforschung, zumal nach dem Auftauchen umfangreicher Papyrusbruchstücke aus Menander, Fragen der Interpretation beherrschten, insbesondere nach dem Verhältnis des Plautus zu den griechischen Vorlagen sowie den römischen und individuellen Elementen in seinen Stücken51. Demgegenüber traten Arbeiten F. Leo, PF, 55 f. R Leo, PF, 62. 4 9 So insbesondere E. Norden in seiner enthusiastischen Besprechung der »Plautinischen Forschungen' in der Zeitschrift für das Gymnasialwesen 50,1896, 462 ff.; vgl. auch Wilamowitz, Textgeschichte der griechischen Lyriker, 4. 5 0 E, Norden, Kleine Schriften zum klassischen Altertum, hrsg. v. B. Kytzler, Berlin/New York 1966,128. $ l Nach Leos eigenen Arbeiten in dem Kapitel »Plautus und seine Originale1 in den »Plautinischen Forschungen' 87 fr. und in seiner »Geschichte der römischen Literatur1, Berlin 1913, 93 ff. grundJegend E. Fraenkel, Plautinisches im Plautus, Berlin 1922 (ital. Übers, mit Nachträgen: Element! Plautini in Plauto, Florenz i960); zu Forschungen aus neuerer Zeit vgl. K> Gaiser, Zur E igen an der römischen Komödie: Plautus und Terenz gegenüber ihren griechischen

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zur Textkritik, aber auch zur plautinischen Sprache, Prosodie und Metrik, wie sie im 19. Jahrhundert blühten, zunehmend in den Hintergrund, da ihnen durch die Ergebnisse der Leoschen Textgeschichte das sichere Fundament entzogen schien: Aus einer so tiefgehend verderbten Überlieferung, wie sie in Leos Augen flir Plautus vorliegt, lassen sich schwerlich sichere Aussagen über sein Idiom, seinen Satz- und Versbau ableiten. Auf Leos Textgeschichte beruft sich daher auch bis heute die kühle Skepsis, die den energischen Bemühungen entgegengebracht wird, der Überlieferung den ursprünglichen Komödientext des Plautus abzugewinnen52. Leos Rekonstruktion der Textgeschichte des Plautus im Altertum ist freilich nicht ohne Widerspruch geblieben. An der Bedeutung, die er dem Grammatiker Probus für die Überlieferung des Plautus beimaß, wurden rasch Zweifel laut53; daß Leo den Archetypus, den er in die hadrianische Zeit datierte, zu früh angesetzt hat, ist inzwischen nachgewiesen worden54. Gleichwohl gilt seine Untersuchung bis heute als „the basic study of the history of the text in Antiquity"55 - gewiß deshalb, weil es noch immer an einer neueren überzeugenden Darstellung über den gesamten Zeitraum der vorhandschriftlichen Überlieferung fehlt, die die gemeinsame Verderbnis und die individuelle Varianz, die die beiden antiken Ausgaben, aber auch die Zitate der antiken Sekundärüberlieferung aufweisen, aus der Geschichte des Textes überzeugend erklärt. Eine solche Gesamtdarstellung versuchte W. M. Lindsay in seinem Buch Jhe ancient editions of Plautus'56 zu geben, in dem er in der Textrezension des Ambrosianus weitestgehend den ursprünglichen Wortlaut des Plautus, in der palatinischen Rezension hingegen den durch die Wiederaufführungen verfälschten „revival text" erhalten sieht: der Ambrosianus gehe unmittelbar auf Plautus selbst, die Palatini auf einen Textzustand der späten Republik zurück; beide Ausgaben seien lediglich durch spätere grammatische Tätigkeit zu einem gewissen Grad verfälscht und einander angeglichen worden. Lindsays Rekonstruktion scheitert jedoch an den von ihm zu Unrecht hartnäckig bestrittenen gemeinsamen Vorbildern, ANRWI 2, Berlin/New York 1972,1027ff. und P. G. McC. Brown, Gnomen 1995, 676 ff. 5 2 Vgl. H. D. Jocelyns Besprechung von O. Zwierlein, Zur Kritik und Exegese des Plautus 1» in: Gnomon 65,1993,126: „Leo s account of the text... has in fact highly disturbing implications for anyone who wams to isolate the 'real* Plautus.44 Vgl. z. B. die Zweifel in den Besprechungen der »Plautinischen Forschungen* durch O. Seytfart, BPhW 16, 1896, 236 f. und H. Schenkl, DLZ 18, 1897. f-; mit gewichtigeren Einwanden dann I. Aistermann, De M. Valerii Probi Berytii vita et scriptis, Diss. Bonn 1909, 7 f. 5 4 C. Questa, Numeri innumeri. Ricerche sui cantica e la tradizione manoscritta di Plauto» Rom 1984, 23-129; eine spätere Datierung hatte bereits G. Pasquali, Storia della tradizione e critica del testo, Florenz ^971, 339 f. vermutet. **R. Tarrant, .Plautus4, in: L D. Reynolds (Hrsg.), Texra and Transmission. A Survty of the Iatin Classic«, Oxford 1983, 301. 5 6 Oxford 1904, Zu Lindsays Plaurusfonchungcn vgl. HL IX Jocelyn» W. M. Und**?'* Oxh>ni Carecr, in: H. D, Jocelyn (Hrsg.). Aspectx of nincteenth-century British ClA*sic*l Schi>tar*hif> Liverpool Classical Paper« No. 5, Liverpool 1996, nof.

Einleitung Fehlern des Ambrosianus und der Palatini, die sich nur dadurch erklären lassen,

daß beide Ausgaben von einer gemeinsamen (bereits verderbten) Vorlage abhängen57. Sie hat in der Folgezeit zwar erstaunlich viel Beachtung gefunden; eine ernstzunehmende Alternative zu Leos Erklärung fiir das Zustandekommen der handschriftlichen Tradition gibt sie aber nicht58. G. Pasquali deutet in seinem knappen Abriß der plautinischen Textgeschichte Modifizierungen gegenüber Leo lediglich in Thesen an, versucht aber keine umfassend begründete Neubewertung der Tradition59. Wichtige Vorarbeiten hierfür leisten aus jüngerer Zeit neben den bereits erwähnten Arbeiten von Questa6° drei reichhaltige Aufsätze von H. D. Jocelyn über die indirekte Überlieferung des Pseudolu$6\ die freilich zuvörderst den Wert der Zitate für die Konstitution des Pseudolustextes prüfen und in ihrer Beschränkung auf ein Stück nicht zu einer Neubewertung der Überlieferung des gesamten Corpus gelangen können. An Leos grundsätzlich skeptischer Einschätzung der Überlieferung scheint Jocelyn auch nach seinen eigenen Untersuchungen festzuhalten62. Der hier skizzierte Forschungsstand rechtfertigt eine erneute Untersuchung der Geschichte des Plautustextes im Altertum. Das Wissen um das Schicksal des Textes in seiner frühen Phase ist, wie Leo gelehrt hat, unentbehrliche Voraussetzungfiir die Einschätzung der handschriftlichen Überlieferung; jedes Edieren auf der Grundlage der Handschriften ist blauäugig, wenn es nicht mit einer genauen Vorstellung von der frühen Textgeschichte einhergeht. Die Kritik, die an Leo laut wurde, und die unsicheren und hypothetischen Punkte, die in seiner Rekonstruktion nachgewiesen wurden, geben Anlaß zu der Hoffnung, ein neues Bild vom Zustandekommen der Tradition zu gewinnen, das den lähmenden Skeptizismus überwindet, zu dem Leos Textgeschichte führte. Jede Neueinschätzung hat freilich nur dann eine Möglichkeit zu bestehen, wenn sie den gesamten Zeitraum von den Uraufführungen bis zum Einsetzen der direkten Uberlieferung berücksichtigt; jede Rekonstruktion muß, was bislang allein Mit Verweis auf die gemeinsamen Fehler hat bereits Leo in seiner Besprechung des Buches in GGA 166, 1904, 358 £F. Lindsays Thesen widerlegt; Lindsays zahlreiche Erwiderungen (zusammengestellt von H. D. Jocelyn, W. M. Lindsays Oxford Career, m, Anm. 113) fruchten nichts. 5 8 Vgl. zuletzt zu Recht H. D. Jocelyn, Studies in the Indirect Tradition of Plautus Pseudolus I: Rufinus, Pliny, Varro, in: Filologia e forme letterarie. Studi offerti a Francesco della Corte, Bd. II, Urbino 1987, 58 £ mit umfangreicher Forschungsliteratur in Anm. 13. 5 9 Storia della tradizione e critica del testo, 331-354. 6 0 Vgl. oben* Anm. 54. Neben dem oben zitierten Aufsatz s. H. D. Jocelyn, Studies in the Indirect Tradition of Plautus* Pseudolus II: Verrius Flaccus De significatu uerborum, in: Studi difilologia dassica in onore di G. Monaco, Bd. II, Palermo 1991» 569 fr., Studies in the Indirect Tradition of Plautus Pseudolus III: The Archaising Movement', Republican Comedy and Aulus Gellius Noctes Atticae, in: Vir bonus ducendi peritus. Studies in Cclebration of Otto Skutscivs cightieth birthday, BICS Suppl. 51, Ixindon 1988,57 ff. 6 1 Vgl. oben, Anm. 51.

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Leo gelungen ist, eine Erklärung finden für die gemeinsame und individuelle Verderbnis der vorliegenden Überlieferung. Das Material, über das eine neue Untersuchung zum jetzigen Zeitpunkt verfugt, ist gegenüber dem, auf das Leo 1895 zurückgreifen konnte, kaum erweitert. Die Zeugnisse der Sekundärüberlieferung liegen seit der großen, 1894 fertig gestellten Teubnerausgabe Ritschis und seiner Schüler Schoell, Goetz und Loewe63 vollständig gesammelt vor. Die Kollation des Ambrosianus gilt seit Studemunds 1889 veröffentlichter Abschrift als abgeschlossen64. Ein 1919 bekannt gemachtes Unzialfragment aus der Vidularia entlarvte nach vorangehenden Zweifeln der Paläographen eine chemische Untersuchung als neuzeitliche Fälschung65. Erweitert wurde lediglich die Kenntnis über das antike Exemplar der Palatini durch Lindsays Entdeckung der Duarenschen Kollationen des verlorenen Codex Turnebi in einem in der Bodleian Library aufbewahrten Exemplar der Plautusausgabe des Gryphius (Lyon 1540): Der dem mittelalterlichen Archetypus der Palatini stemmatisch gleichwertige Codex Turnebi weist eine Reihe von Fehlern der palatinischen Handschriften als mittelalterlich aus, von denen das antike Exemplar noch frei war 66 . Dagegen erwiesen sich die interessanten Lesarten einer fragmentarisch erhaltenen, vermeintlich mittelalterlichen Handschrift (Duke University Nr. 123) als Humanistenkonjekturen, nachdem das Fragment zu Recht in das 15. Jahrhundert herabdatiert worden ist 67 . Eine jüngere Arbeit über jene Handschriften der palatinischen Tradition, die die ersten acht Stücke überliefern, hat deren Stemma modifiziert und macht eine weitere Untersuchung zur mittelalterlichen und frühhumanistischen Plautustradition erforderlich; auf die Textgeschichte im Altertum bleibt dies aber ohne Auswirkung68. T. Macci Plauti Comoediae. recensuit instrumento critico et prolegomenis auxit Fridericus Ritschelius sociis operae adsumpds Gustavo Loewe Georgio Goetz Friderico Schoell, 20 Faszikel, Leipzig 1871-1894. Der erste Faszikel, Ritschis zweite Ausgabe des Trinummus, wurde 1884 von Schoell neu bearbeitet. 6 4 W. Studemund, Codicis rescripti Ambrosiani apographum, Berlin 1889; vgl. aber zuletzt A. Gratwick, Brauchen wir einen neuen Plautus?, in: E. Stärk-G. Vogt-Spira, Dramatische Waldchen. FS für E. Lefevre zum 65. Geburtstag, Hildesheim/Zürich/New York 2000, 327 i und 343. 6 5 H. Degering, Über ein Bruchstück einer Plautushandschrift des vierten Jahrhunderts, Siczungsb. preuss. Ak. Wiss. 1919, 468ff. und 497ff.; das Ergebnis der chemischen Üheiprütung ist mitgeteilt von E. Norden, Das gefälschte Plautusblatt, Sitzungsb. preuss. Ak. Wiss. 19*4* 163. Eine kurze Anspielung auf diese Fälschung findet sich bei Wilamowitz» Geschichte der Philologie, 18. 6 6 Vgl. M. L. Lindsay, The Codex Turnebi of Plautus, Oxford 1898 (mit Facsimile); ders.. Plauti codicis Senonensis (T) lectiones, Philologus Suppl. 7, 1899, 119ff. (Zusammenstellung der Lesarten). 6 7 Vgl. C. Questa, Un codice Plautino falsamente creduto del sec. X-Xl, Mai* 35» W«* Uttf. (gegen R. Tarrant,,Plautus', 304). 6 *K. H. Chelius, Die Codices minores des Plautus. Forschungen zur Geschichte und Kritik« Baden-Baden 1989. 63

Einleitung

Wenn daher die folgende Untersuchung bei einer im Kern unveränderten Quellenlage zu einer überzeugenden Neudarstellung der Textgeschichte des Plautus gelangen soll, muß sie anders vorgehen, als es Leo tat. Von skeptischen Stimmen ist sein textgeschichtliches Kapitel der,Plautinischen Forschungen' als eine „Konstruktion"69 oder auch eine „Theorie"70 bezeichnet worden. Dagegen hat sich Leo energisch zur Wehr gesetzt; im Nachtrag zur zweiten Ausgabe der ,Plautininischen Forschungen' spricht er von einer „historischen Untersuchung", in der „alles sichere Schritte" sind71. Der Eindruck einer Konstruktion drängt sich trotzdem auf, freilich nicht weil Leo die Textgeschichte des Plautus isoliert oder abstrakt behandelt hat oder seinem eigenen Grundsatz untreu geworden ist, daß „jede Geschichte eines lateinischen Textes ein Teil der Geschichte und Kultur des römischen Volkes und nur im Zusammenhang mit dieser zu verstehen ist" 72 . Auch wenn die Begriffe ,Nachleben' oder gar ,Rezeptionsgeschichte' nicht fallen, ist die Textgeschichte durchgehend in diesem umfassenderen kulturgeschichtlichen Zusammenhang gesehen, indem die Gestalt, die der Text zu einer bestimmten Zeit annimmt, festgemacht ist an den jeweils zu einer Zeit in Erscheinung tretenden Benutzern oder Rezipienten des Textes - etwa Theaterdirektoren, Grammatikern oder Liebhabern unterschiedlichen Bildungsstandes. Den Charakter einer Konstruktion verleiht seiner Darstellung nicht die Vernachlässigung der historischen Verhältnisse73, sondern vielmehr die schematisierende Generalisierung, mit der Leo die maßgeblichen Zeitströmungen zu erfassen und aus ihnen als geradezu zwangsläufig wirkenden Faktoren die Gestaltung des Plautustextes abzuleiten sucht, dabei jedoch die individuellen Rezeptionsdokumente vielfach unbehandelt läßt. So entsteht in aller Kürze ein Gesamtbild vom Ablauf der Überlieferung, das ohne Widersprüche bleibt und durch seine Geschlossenheit beeindruckt, sich aber gerade wegen seines Modellcharakters der Einzelkritik geradezu entzieht, die bezeichnenderweise dort angesetzt hat, wo Leo zum einzigen Mal ein Rezeptionsdokument ausfuhrlich interpretierend behandelt: an Suetons Darstellung der philologischen Tätigkeit des Probus74. Grundsätzlich bedenklich wird Leos Verzicht auf eine Behandlung der individuellen Zeugnisse dann, wenn sie sich nicht den entworfenen Grundtendenzen fugen. So leitet er aus der (unbestreitbaren) antiarchaischen Strömung der frühen Kaiserzeit den Verlust der O. Seyffert, BPhW 16,1896, 238. W. M. Lindsay, Classical Review 10,1896, 207; ebenso in seinen >Ancient Editions4,144. 7 1 PF, 58 und 60. So beurteilt sie auch Norden, Zeitschrift fiir das Gymnasialwesen so, 1896, 462ff, der Leos Textgeschichte als eine bewiesene historische Tatsache zusammenfaßt. 7 1 PF, 60. 7 } In diese Richtung zielen die von K. Büchner, Überlieferungsgeschichte der lateinischen Literatur des Altertums, 311ff. erhobenen Bedenken gegen die textgeschichtlichen Arbeiten Wilamowitzscher Prägung; doch ist weder bei Leo noch bei Wilamowitz (man denke etwa an das Tyrtaios-Kapitel in der Textgeschichie der griechischen Lyriker!) die Textgeschichte von der jeweiligen Zeitgeschichte isoliert betrachtet. 7 4 PF, ff *' zur Kritik vgl. oben, iz mit Anm. 53.

70

6

Einleitung

frühlateinischen Dichtung in Rom ab, aus der (ebenso unbestreitbaren) Dominanz des Terenz im Rhetorikunterricht der Spätantike die Nichtbehandlung des Plautus. Beide Schlüsse sind voreilig; für beide Epochen lassen sich Zeugnisse fiir ein Nachwirken des Plautus anführen. Die folgende Untersuchung ist somit von Grund auf anders angelegt als die Darstellung Leos. Sie nimmt ihren Ausgang von den überlieferten Rezeptionsdokumenten selbst, den Zitaten und Imitationen, den antiken Urteilen und Interpretationen der Komödien. Für ihre Auswertung bilden die jeweiligen literarischen Strömungen, die Ausrichtung der Grammatik und die Vorlieben der Schule den Hintergrund. Insbesondere aus dem reichen exegetischen Schrifttum zu Plautus, das bislang einseitig als antikes Hilfsmittel für die neuzeitliche Erklärung des Komödientextes herangezogen, aber nicht hinreichend als den Primärtext ihrer Zeit vermittelnde und aktualisierende Literatur verstanden worden ist 75 , kommt das Interesse zum Vorschein, auf das die plautinischen Komödien in der Antike gestoßen sind; die Ausrichtung und Ziele der Erklärung gestatten ihrerseits Rückschlüsse auf die Breite seiner Rezeption, den Bildungsstand seiner Leser und schließlich die Gefährdung, der ein Text in den Händen seiner Leser ausgesetzt ist. Arbeiten aus jüngster Zeit, die der Ausrichtung und den Grundsätzen der Exegese der wichtigsten erhaltenen römischen Kommentare gewidmet sind 76 , haben auch fiir das Verständnis der Rezeption der Primärautoren einen beträchtlichen Gewinn abgeworfen77. Daher scheint es vielversprechend, derart ausgerichtete Untersuchungen auch für die größtenteils nur fragmentarisch erhaltenen Reste der antiken Plautuserklärung anzustellen. Wenn auf diese Weise erstmals die Rezeptionsgeschichte der plautinischen Komödien im Altertum zusammenhängend aus den Dokumenten selbst erarbeitet wird 78 , so sollte bereits dies den gegenüber Leos knapp gefaßtem Abriß Zur theoretischen Klärung dieser Funktion von kommentierender Literatur waren wichtig M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt 1991,18 ff. [französische Erstausgabe Paris 1972] und die Arbeiten Jan Assmanns über die dem Bedürfnis nach Erinnerung erwachsene Speicherfunktion von Schriftlichkeit; vgl. etwa A. und J. Assmann-C. Hardmeier (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I, München 1983; J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Speziell zum Kommentar vgl. zuletzt die Aufsatzsammlungen von J. Assmann-B. Gladigow (Hrsg.), Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, München 1995 und von G. W. Most (Hrsg.), Commentaries - Kommentare, Göttingen 1999. 7 6 R* Jakobi, Die Kunst der Exegese im Terenzkommentar des Donat, Berlin/New York I996; A. Uhl, Servius als Sprachlehrer. Zur Sprachrichtigkeit in der exegetischen Praxis des sparantiken Grammatikerunterrichts, Göttingen 1998 (wichtig bereits das Serviuskapitel in dem Buch von R. A. Kaster, Guardians of Language: The Grammarian and Society in Late Antiquity* Berkeley 1988, 169ff.); S. Diederich, Der Horazkommentar des Porphyrio im Rahmen der kaiserzeitlichen Schul- und Bildungstradition, Berlin/New York 1999. 7 7 Vgl. zuletzt zu Servius D. Fowler, The Virgil commentary of Servius, in: C Martindale (Hrsg,)» Ihe Cambridge Companion to Virgil, Cambridge 1997, 73 ff. 7 1 Eine wichtige Vorarbeit fiir eine entsprechend angelegte Rezeptionsgeschichtc des Enniu-* hat jüngst H. Prinzen, Ennius im Urteil der Antike. Stuttgart/Weimar tgoi a', verkürzt und vereinfacht hat, ist heute nicht mehr festzustellen. 8 7 Neben dem bereits genannten Ersatzschluß des Poenulus sei an die Ersatzfassungen Merc. 619-624 fiir 615-618 und 625-637 (vgl. Leos Apparat und Enks Kommentar z.St.) und Mil. 226-228 fiir 200-225 (vgl. Zwierlein II 24 ff.) erinnert. Wie der heute vorliegende Text zustandegekommen ist, wird unten, 55-57 geklärt. 8 8 Vgl. Zwierlein I, 81, Anm. 152. Eine mögliche Ausnahme sind die Verse *Pseud. 384-388, die vielleicht ursprünglich Plautinisches verdrängt haben; vgl. Zwierlein III, 36 ff 8 9 Die hier aufgeführten Motive hat Zwierlein jeweils zu den Stellen herausgestellt und in den Indices erfaßt; sehr ähnlich äußerte sich in aller Kürze über die Grundzüge der Plautusbearbeitung bereit* Franz Bücheler in seiner Bonner Rektoratsrede »Philologische Kritik1, Bonn 1878, 23 f. 9 0 Zu den früher vollständig Plautus abgesprochenen Szenen Mil. Ul 1 und Pseud, III 1 siehe jetzt Zwierlein II, 96 ff. und Zwierlein III, 65 ff.

I. Uraufführungen und Wiederaufführungen

Schnitte entfernen91. Zweitens schloß Zwierlein auf Grund der großen Zahl metrischer und sprachlicher Gemeinsamkeiten der Zusätze auf einen an der Togata geschulten Hauptbearbeiter der plautinischen Stücke: Der in den Handschriften tradierte Text ist nicht das Resultat eines vielstufigen, gegeneinander laufenden und von der modernen Kritik kaum mehr entwirrbaren Überarbeitungsprozesses92, sondern verrät im wesentlichen eine Hand, deren Eingriffe feststellbar und herauslösbar sind93. Diese (für die Textherstellung letztlich optimistisch stimmende) Vermutung paßt zu dem, was wir über die Wiederaufführungen des Terenz wissen, von dessen Stücken ein einziger Schauspieldirektor, Atilius Praenestinus, zumindest fünf innerhalb weniger Jahre wieder auf die Bühne gebracht hat9! Im übrigen ist für Terenz nur eine einzige Wiederaufführung durch einen anderen Schauspieldirektor bezeugt, eine Aufführung der Hecyra durch den sonst nicht weiter bekannten L. Sergius95. Zu Terenzens Lebzeiten hatte dessen sämtliche Stücke Ambivius Turpio inszeniert, der zuvor offensichtlich über einen langen Zeitraum der ,Regisseur' des Caecilius gewesen war, vielleicht ebenfalls dessen gesamtes Repertoire auf die Bühne gebracht hatte 96 . Auch für Plautus liegt es nahe, angesichts des Erfolges seiner Aufführungen eine langfristige Zusammenarbeit mit ein und demselben Schauspieldirektor zu vermuten, der ohne triftigen Grund seinen erfolgreichen Autor nicht an einen Konkurrenten abtreten wollte. Dieser Theaterdirektor hatte die Stücke bewahrt und weitervererbt; ein Erbe des Betriebes dürfte dann in den fünfziger Jahren die bei ihrer Premiere besonders erfolgreiche Casina in einer revidierten Fassung97 wiederaufgeführt haben; ihr ließ er weitere Stücke folgen. Die Didaskalie des Stichus und die wahrscheinlich interpolierten Verse Bacch. 214 f. deuten auf Publilius Pellio als Intendanten zweier Wiederaufführungen {Epidicus und Stichus), der - wie Bacch. 214 f. nahelegt - auch die Bacchides neu inszeniert hat* Denn die Worte des Chrysalus etiam Epidicum, quam ego fabulam, aequ*M Diesesfiir die weitere Textkritik wichtige Ergebnis steht im Einklang mit dem, was wir über die Interpolationspraxis in der griechischen Tragödie wissen; vgl. G. Hutchinsons Komm, zu den Septem des Aischylos XLV und meine Hinweise in Gnomon, 71,1999, 580. Jocelyn, Gnomon 65> 1993, 125 f. stellt dieses Ergebnis in Frage; doch sein Hauptanhaltspunkt, die Varianten zwischen A und P, die er nach dem Vorgang Lindsays zumindest zum Teil auf die Tätigkeit der Bühnenbearbeiter zurückfuhren zu dürfen glaubt, ist mehr als fragwürdig; s. unten, 332-3379 2 Auf einen solchen schlössen etwa Ritsehl, Auslautendes A 109 t, Bücheler, Philologische Kritik, 24, Leo, PF, 175, Anm. 3 und neuerdings v. a. wieder Jocelyn (s. unten, 35» Anm. 100^. 9 3 Vgl. hierzu die wichtigen, freilich noch vorläufigen Bemerkungen in Zwierlein II» 228-23*9 4 S. oben, 29. 9 5 S. die Zeile 10 der Didaskalie im Bembinus und K. Dziatzko, Ueber die Terentianischcn Didaskalien II, RhM 21,1866, 78. 9 6 Vgl, Hec. 10-27 mit Leo, GRL, 218 f. 9 7 Das praktische Verfahren des Bearbeiters kann nicht sicher rekonstruiert werden; vermutlich hielt er seine Zusätze am Rand bzw, auf dem Verso fest. Vgl. hierzu unten, s? (*u PHcrc NMO* 234 (zu PSorb 72), sowie Verf., Lukrez und Marullus 221 f. (mit Lit.). 9* Diese Deutung zieht bereits Zwierlein IV, 211 in Erwägung.

91

3- Wiederaufführungen des Plautus

me ipsumamOy / nulUmjzeque w

35

?pectoK si agit - Pellio sind ohne Frage

dann besonders witzig, wenn Pellio selbst die Rolle des Chrysalus spielt - beide Rollen eignen sich vorzüglich für ein und denselben Schauspieler, und ähnliche Aprosdoketa sind dem Bearbeiter der Bacchides nicht unbekannt". All diese Zeugnisse stützen die dem Textzustand selbst abgewonnene Vermutung Zwierleins, in den der Phase der Wiederaufführungen zuzuschreibenden Zusätzen im wesentlichen eine Hand ausfindig zu machen. Es hieße das Ausmaß des römischen Theaterbetriebs gewaltig zu überschätzen, vor allem aber auch den Reiz der Neuheit, der sich wie einst bei der Premiere so auch eine Generation später bei der ersten Wiederaufführung ergeben mußte, außer Acht zu lassen, wenn man mit einer Vielzahl konkurrierender Bearbeiter rechnen wollte, deren Änderungen die Überlieferung bruchstückhaft: in sich aufgenommen und miteinander verschmolzen habe 100 . 3.3. Eingriffe in übernommene Textpartien? Zwierleins Analyse des Plautuscorpus hat Leos Urteil über die den Wiederaufführungen zuzuschreibenden Veränderungen des ursprünglichen Plautustextes vor allem dahingehend modifiziert, daß sich eigendiche Textverluste des Originals durch ersatzloses Streichen oder Verkürzen in sehr viel geringerem Maße in der Überlieferung niedergeschlagen haben, als es Leo angenommen hatte. Einen weiteren schwerwiegenden (und von der modernen Kritik nicht mehr rückgängig zu machenden) Schaden hat Leo (und mit ihm die nachfolgende communis opinio der Plautusforschung) ebenfalls jener frühesten Phase der Plautusüberlieferung, der Zeit der Wiederaufführungen, zugeschrieben. Nach dieser Auffassung haben die Bearbeiter nicht nur erweitert bzw. verkürzt, sondern auch in die übernommenen Partien freizügig eingegriffen, plautinische Wörter und Wendungen durch eigene ersetzt101. Denkbar scheinen derartige Eingriffe insbesondere aus zwei Motiven: zunächst um einen eigenen Zusatz an den Nahtstellen mit dem ursprünglichen Zusammenhang zu verfugen, dann um metrisch oder sprachlich überkommene Formulierungen des plautinischen Textes zu modernisieren. Vgl. nur die sicher interpolierten Verse Bacch. 506-511. So spricht H. D. Jocelyn, The Life-Style of the Ageing Bachelor and Theatrical Improvisation (Plaut. Mil. 596-812), in: Plautus und die Tradition des Stegreifspiels, hrsg. v. L. Benz (u. a.), Tübingen 1995,121 f. nach der Analyse der Szene III 1 des Miles Gloriosus von „each succeeding wavc of actors and producers" und „the debris of several revival Performances". Doch kommt Jocelyn zu diesem Befund weder durch eine eingehende Textanalyse noch auf Grund externer Zeugnisse. 1 0 1 Leo, PF, 30; nach ihm z. B. Pasquali, Storia, 350, wo Leo zitiert ist, und Jocelyn, Gnomon 65» 1993,126. Am weitesten geht in dieser Annahme Lindsay, Ancient Editions, 57ff., der bei seinem Vernich, möglichst viele P-Varianten als Umarbeitungen der Bühnenbearbeiter von dem weitgehend in A bewahrten plautinischen Original zu werten, immer wieder Modernisierung der Sprache vermutet. Dagegen siehe unten, 332-337.

99

100

I. Uraufführungen u n d Wiederaufführungen

3*

Tatsächlich ist das Umschreiben eines ursprünglichen Textes durch sein Bearbeiter an den Nahtstellen einer Interpolation, die hierdurch mit ^ ursprünglichen Textzusammenhang verwoben wird, dokumentarisch bezeu durch die beiden stark divergierenden Fassungen, in denen der Auftrittsmono log eines die kryptische Sprache seines Kochs beklagenden Greises aus dem $oivixtör)9) durch die Vermittlung Varros ein wörtliches Zitat12: Bei allem Streit um die Chronologie des Lucilius scheint die Entstehung der frühesten Satirenbücher 26-30 zwischen etwa 130 und 123 gesichert; vgl. J. Christes, Lucilius, in: Die römische Satire, hrsg. v. J. Adamietz, Darmstadt 1986, 67fr. und U.W. Scholz, Der frühe Lucilius und Horaz, Hermes 114,1986, 335 ff. 6 Gellius* Quelle ist Varros Abhandlung de comoediis Plautinis; vgl. Gell. 3,3,9 und unten, 104-107. 7 Zur schwankenden Schreibweise Clodius!Claudius s. Kasters Kommentar zu Suetons de grammaticis et rhetoribus, 70. 8 Zu diesem (in der Überlieferung oft zu Opilius verderbten) Namen s. jetzt Kaster, 110 f. 9 Vgl. hierzu unten, 96 f. 1 0 sS. Ritschl, Parerga, 238ff., Leo, GRL, 362-368 und 384-391 und L, Holford-Strevens, Aulus Gellius, Oxford 1988,116: „All these writers belong to Varros boyhood or his youth." " 7M einem weiteren möglichen Verfasser eines index s. unten, 96, Anm. 225, 1 7frft- *9 Funaioli. Zu den Didascalica als Quelle «. unten, 97 mit Anm. 2jo. 5

II. Die erste Gesamtausgabe

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M. tarnen Varro in libro de comoediis Plautinis primo Accii verba haec ponit: "Nam nec 'Geminei lenones nec 'Condalium nec'Anus Plauti, nec 'Bis compressa nec \Boeotid unquam fuity neque adeo Agroecus neque 'Commorientes* Macci Titi."

Aus dem Zitat geht hervor, daß Accius die genannten Stücke in Textausgaben vor sich hat. Dies beweist die ungewöhnliche Nachstellung des Praenomens in der Genitivform Macci Titi, bei der es sich um eine dichterische Freiheit handelt13. In einer Prosaschrift14 wie den Didascalica erklärt sie sich allein als ein Zitat, im Zusammenhang des Textes als Zitat aus einer ,didaskalischenc Angabe innerhalb eines Prologs einer Plautus zugeschriebenen Komödie15. Denn auch in den überlieferten Stücken begegnet als Autorenangabe neben der Formel Maccus bzw. Plautus vortit barbare mit nachfolgender Titelangabe16 einmal, *Merc. 9 f., die bequeme Versklausel Macci Titi mit vorausgehender Titelangabe: graece haec vocatur Emporos Philemonis / eadem latine Mercator Macci Titi17. Mit Plauti bzw. Macci Titi zitiert Accius also aus den didaskalischen Angaben in den Prologen der von ihm dem Plautus abgesprochenen Stücke, wie Leo richtig erkannt hat, der auch den Gedanken erschlossen hat, der bei Accius dem Zitat vorangegangen sein muß: Auch der Name Plautus in den Prologen beweist die Echtheit eines Stückes nicht: „denn weder ..." l8 . Trotz der ,Signatur' eines Plautus bzw. Titus Maccus hält Accius die Stücke Gemini lenones, Condalium, Anus, Agroecus und Commorientes ebenso fiir unecht wie die Bis compressa und Boeotiay in deren Prologen eine vergleichbare Zuweisung an Plautus offensichtlich fehlte19. Für die Bis compressa gibt es keine weiteren Zeugnisse; fiir die Boeotia bezeugt Varro zweimal, daß sie auch einem anderen Dichter, Aquilius oder Atilius20, zugeschrieben wurde: zunächst Gell. 3,3,4 (nach Varros de comoediis Plautinis) nam cum (seil. Boeotid) in illis una et viginti non sit et esse Aquili [Atilii Popma] dicatury nihil tarnen Varro dubitavit, S. Skutsch zu Enn. ann. 329 mit Literaturangaben und Beispielen. Die Versuche, das Accius-Zitat als Verse zu schreiben, hat erstmals Bücheler (RhM 35,1880, 441) zurückgewiesen; zusammenfassend s. jetzr E. Courtney, The Fragmentary Latin Poets, Oxford 1993, 60. 1 5 Zu den echtheitskritischen Vorbehalten gegenüber den didaskalischen Angaben in den Prologen s. oben, 28, Anm. 60.

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16

Asin. 12 Asinariam volt esse; Trin. 20 nomen Trinummo fecit.

Eine auf Vollständigkeit bedachte Fragmentsammlung sollte daherfiir Agroecus und Commorientes jeweils als frg. I Macci Titi geben. Ein ähnlicher Genitiv Plauti ist in den Prologen nicht überliefert (Muret hat Plauti in Poen. 54 zu Unrecht hergestellt: Die Erwähnung des Plautus in diesem Vers verlangt eine entsprechende des Dichters des griechischen Originals (ganz anders ist daher Mil. 86 f. formuliert), weshalb vor 54 eine Lücke anzusetzen ist; vgl. Leos Apparat und Maurachs Kommentar z. St.). r 8 Vgl. Leo, PF, 34, Anm. 1; GRL, 388. So Leos (PF, 34, Anm. r, GRL, 388, Anm. 4) richtige Deutung, die dem Satzbau und der Stellung von Plauti Rechnung trägt. Seine Übersetzung (GRL, 388) ist ungenau. 2 0 Zur Namensfrage s. Ritsehl, Parerga, ti f. Der Name Aquilius ist nur durch die Gelliusstdk bezeugt;fiir den Palliatendichter Atilius mit ziemlicher Sicherheit (s. Ribbcck, ORR r ^ ^ Verse, Ist er identisch mit Atilius Praenestinus, dem Bearbeiter des Tetrn*? Zu diesem siehe oben, 29 und 34.

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i. Die ersten Plautusleser

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quin Plauti firet; des weiteren Varro ling. Lat. 6,89 accensum solitum eiere Boeotia ostendit, quam comoediam faliif21 esse dicunty hoc versu. Wie es zu der Unsicherheit bei der Zuordnung kommen konnte, ist für uns nicht ersichtlich; möglicherweise hat Atilius das Stück des Plautus in einer eigenen Bearbeitung auf die Bühne gebracht und dabei als sein eigenes beansprucht22. In dem von hohem Selbstbewußtsein geprägten Satz des Accius zeigt sich fiir dessen echtheitskritisches Vorgehen ein formaler Ansatz (Stücke, deren Prologe Plautus als Verfasser ausweisen, und Stücke, in denen dies nicht der Fall ist), vor allem aber geht aus dem Satz hervor, daß Accius die Stücke (zumindest deren Prologe) vergleichend gelesen hat. Dies aber setzt eine den möglichst kompletten Nachlaß umfassende Ausgabe voraus, welche zu dem Zeitpunkt, als Accius seine Didascalica verfaßte, bereits vorgelegen haben muß 23 . Diese Ausgabe provozierte eine echtheitskritische Analyse des gesamten Nachlasses, wie sie sonst fiir keinen weiteren Autor der lateinischen Literatur bezeugt ist. Da uns fiir die Datierung der Didascalica des Accius genaue Anhaltspunkte fehlen24, läßt sich auch der Zeitpunkt nicht genau bestimmen, seit dem der plautinische Nachlaß erstmals in einer vollständigen Ausgabe vorlag. Aus den Plautuszitaten bei Lucilius darf auf eine Gesamtausgabe nicht geschlossen werden; sie geben aber einen Anhaltspunkt fiir den Zeitraum, in dem sich das Sammeln und Umschreiben des Nachlasses in eine Buchausgabe vollzogen hat. Erste Stücke lagen bereits um 130 v. Chr. als Buchtexte vor; andere haben wohl noch in den zwanziger Jahren durch Wiederaufführungen Zusätze erhalten25. So wird man die Jahre etwa zwischen 130 und 120 als den Zeitraum ansetzen dürfen, in dem der Nachlaß gesammelt und als Buchtext vorgelegt wurde; das so zustande gekommene Textcorpus ist die Grundlage fiir die beginnende Plautusphilologie in Rom.

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Aquilii Turnebus, Atilii Popma; denkbar ist freilich auch die von Ritsehl, Pärerga, 11 vorge-

schlagene Ergänzung alii (Plauti, alii Aquilii).

Zu Unsicherheiten über den Verfasser griechischer Dramen auf Grund von Neubearbeitungen s. R. Kassel, KL Sehr., 314 (mit Literatur). 2 3 Neben den in dem Zitat genannten Stücken müssen Accius in jedem Fall die xi Komödien vorgelegen haben, die in die handschriftliche Überlieferung eingegangen sind, quas (seil. 22

Varro) idcirco a ceteris segregavit, quoniam dubiosae non emnt> set consensu omnium Plauti esse

censebantur (Gell. 3,3,3). Zur D*tictun% vgl. unten, 84 mit Anm. 144. 2 ' S. oben, ji.

14

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II. Die erste Gesamtausgabe

2. Charakterisierung der Epoche: Philologie in Rom am Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr.

2.1. Suet. gramm. 2 Die erste Ausgabe des Plautus fallt somit in die Zeit, die Sueton in seinem in drei Stufen gegliederten historischen Abriß über die Etablierung der ars grammatica in Rom 26 als die zweite Phase bezeichnet, in der das eigentliche Studium grammaticae begann. Diese Phase läßt Sueton von der Gesandschaftsreise des Krates (wahrscheinlich nach dem römischen Sieg bei Pydna, also 16727) bis zum Auftreten des Aelius Stilo dauern, mit dem die dritte Phase beginnt. Die Abgrenzung nach oben ist zwar durch einen Synchronismus konstruiert - den Aufenthalt des Oberhaupts der ,Schule' von Pergamon verbindet er mit dem Tod des Ennius, den Sueton nach Livius Andronicus als Hauptvertreter der Grammatik in der ersten Phase genannt hat —, trotzdem dürfte der Zeitansatz für den eigentlichen Beginn der grammatischen Schulung in Rom im wesentlichen richtig bestimmt sein28. Hauptkennzeichen dieser zweiten Phase ist nach Sueton, daß in ihr die Publikation, also die Bekanntmachung lateinischer Dichter durch Grammatiker erfolgt - in der ersten Phase war dies noch Sache der Dichter selbst gewesen die Philologie also zu einer selbständigen Disziplin wird. Die Publikation erfolgte entweder mündlich durch Vorlesen und Erläutern oder schriftlich durch die Gestaltung von Leseausgaben. Aus dieser Beengtheit der Grammatik als bloßer,Editionsphilologie' erklärt sich einerseits die Einschränkung (2,2), das große Vorbild Krates sei nur einseitig imitiert worden (hactenus tarnen (seil. Cratem) imitati), andererseits auch der Gegensatz zur dritten Phase, in der instruxerunt auxeruntque ab omni parte grammaticam L. Aelius Lanuvius generque Aeli Ser. Clodius (3,1). Über die Tätigkeit dieser

Förderer teilt Sueton keine Einzelheiten mit; doch weisen die sonstigen Zeug- nisse Aelius Stilo als einen Gelehrten von großer Breite aus29, weshalb Sueton , mit ihm die Etablierung der Grammatik in Rom zum Abschluß kommen läßt. „ Offensichtlich erst in der dritten Phase kommt die grammatische Tätigkeit über eine Publikation von Texten hinaus30. Daß Suetons Charakterisierung der * zweiten Phase so wenig von der Philologie des Krates, den die Zeugnisse eher als ) 16

Die Strukturierung von Suetonspraelocutio nach initium, incrernentum undflos der angrammJ- 1 tica dürfte auf Varros Buch de grammatica innerhalb seiner discipUwtrum Ubri IX zurückgehen:

vgl. Leo, PF, 30, Anm. 1 und v. a. Dahlmann, Varro ,De poetis\ 39ff.; Kasters Skepsis U> ^ 4 geht wohl zu weit. Z7 Zum umstrittenen Datum s. jetzt T. Viljamoa, Suetonius on Roman Teachers of Gram nur, „ ANRW II 33.5,1991,3845, Anm. 87; Köster zu Suet. gramm. (S. 59f.), t * S. Leo, PF, 30 f. und VUjamaa, 3845. : ** Fragmente und Terämonia bei Funaioli» p. 5*-?6* des Spektrum seiner grammatischen ft J tigkeit, dal u.a. auch antiquarische etymologische m «tthteoger syntaktische Arbeiten 3 umfaÄt«, beleuchtet Katter zu Suet gmmm* 3»! (mit Utermtuwiageben). -2 "Dem emiprioht 8mm* iptar* Urall über hobvü (gnmÄfc *wOv er eel aufgrund «wi £ Tätigkeit, 4*m*m*wtm, Atftofum mbmm Mtoer mmt^imh, tri Mjr mc *Ut

2. Philologie in Rom am Ende des 2. Jh. v. Chr.

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Exegeren denn ais Editor ausweisen, beeinflußt scheint31, unterstreicht erneut,

daß die chronologische Fixierung künstlich ist; dies mindert aber keineswegs die Glaubwürdigkeit von Suetons Bericht, der die wesentlichen Erscheinungen dieser Phase mitteilt, ohne sie nachträglich an die Haupttätigkeit des vermeintlichen Initiators anzugleichen. Die einzige BuchveröfFentlichung, die Sueton gramm. 2 bezeugt, ist Lampadios32 Ausgabe von Naevius' bellum Punicum, fiir das erst dieser eine Einteilung in sieben Bücher besorgte33. Lampadios Ausgabe muß sich letztlich durchgesetzt haben: Varros Zeitgenosse Santra kennt eine Ausgabe des Naevius in sieben Büchern neben der alten einbändigen (frg. 5 Funaioli)34; die späteren Grammatiker zitieren (mit Ausnahme des fünften Buches) aus allen sieben Büchern des bellum Punicum35. Den Ruhm des Lampadio als Herausgeber bezeugen noch im zweiten nachchristlichen Jahrhundert Fronto und Gellius, die den hohen Wert einer von Lampadio besorgten Ausgabe der Annalen des Ennius hervorheben36. Suetons Bemerkung über diese eine Ausgabe darf daher als repräsentativ gelten fiir vergleichbare Editionen jener Zeit, in der die zunehmend unter griechischen Einfluß kommende römische Kultur sich ihres literarischen Erbes bewußt wurde, sich dessen annahm und sich mit ihm auseinandersetzte37. Ein solches Bewußtsein fiir die literarische Leistung Roms läßt sich seit den sechziger Jahren nachweisen: In seiner Auseinandersetzung mit dem Bühnenkonkurrenten Luscius Lanuvinus beruft sich Terenz auf die Meister der römischen Komödie Naevius, Ennius und Plautus; der Dichter des unechten Cosina-Prologs kann die Zeit der Erstaufführung stolz als eine Periode desflos poetarum bezeichnen, und der Togatendichter Afranius bringt (wohl ebenfalls in einem Prolog) seine Hochachtung vor Terenz zum Ausdruck. grammaticae parti deditus. Kaster, 265 faßt zu Recht pars in 3,1 und 24,2 nicht als ein konkretes (jiipoq der arsgrammatica auf, sondern im weiteren Sinn als „aspect of grammatical endeavour". 31 S. Kaster, 62. Zur Philologie des Krates s. Pfeiffer, Geschichte, 289 ff. 3 2 Eine genaue Datierung ist nicht möglich; doch gibt es keinen Grund, Suetons Zuweisung in die zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts in Zweifel zu ziehen. 3 3 Zu dem Ausdruck uno volumine et continenti scriptum expositum s. oben, 22, Anm. 31. 3 4 Vgl. zuletzt Suerbaum, Zum Umfang der Bücher, 154 und Kaster, 64 f. 3 5 Vgl. Suerbaum, Zum Umfang der Bücher, 154. 36 Bei dem Fronto p. 15,14£f. van den Hout genannten Lampadionis ... manu scripta e[xem]pla handelt es sich, wie der Vorsatz deudich macht, um ein in der Hand des Lampadio geschriebenes Exemplar der Annalen des Ennius; Gell. 18,5,11 spricht im Zusammenhang von Ennius Annalen von einem kostbaren liber, quemfere constabat Lampadionis manu emendatum. J, E. G. Zetzel, Emcndavi ad Tironem, HStCPh 77,1973, 225 ff. hat wahrscheinlich gemacht, daß c$ sich bei dieser wie bei anderen von berühmten Gelehrten besorgten Ausgaben, denen die Archaisten de* 2. Jh.s n. Chr. so emsig nachjagten, um Fälschungen handelt; doch verlieren die beiden Steilen damit keineswegs ihre Beweiskraft daflir, daß von lampadio tatsachlich eine einflußreiche Enniusausgabe besorgt wurde. Denn sonst hätte eine Fälschung keinen Sinn. Zu gefälschten Autographen bzw. alten Ausgaben vgl. noch Lukian. Ind. 4 und Dion Chrys. u.n* 3 7 S, hierzu aus neuerer Zeit vor allem S. F. Bonner, Education in Andern Rome, London 1977. 47ft; &S. Gruen, The Hellenisric World and the Coming of Rome, Berkeley 1984, 150 ff,; E. Rawion, Jntdiectual Life in the Late Roman Rcpublic, London 1985, 66 ff,

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II. Die erste Gesamtausgabe

Wahrend in diesen Äußerungen lediglich ein Bewußtsein fiir eine eigene L* teratur deutlich wird, das keine unmittelbaren Rückschlüsse auf Verbreitun" der genannten Autoren in Textausgaben gestattet, setzen schließlich die Satiren des Lucilius Ausgaben der Komiker Plautus, Caecilius und Terenz, aber au^ des Tragikers Pacuvius voraus38. Im Gegensatz zur Epik,fiir deren Verbreite die Dichter selbst durch eigene Vorträge, vielleicht auch durch Abschriften sorgten39, waren die Dramen zunächst lediglich fiir ihre Aufführung bestimmt gewesen; ihrer Veröffentlichung mußte zunächst ein Sammeln des sich im Besitz der Schauspieldirektoren befindlichen Nachlasses vorangehen. Die philologi. sehen Voraussetzungen fiir das Sammeln, Herausgeben und schließlich auch das Bewerten von Literatur schuf ebenfalls der wachsende Einfluß der griechischen Kultur in Rom. Infolge der römischen Eroberungen der hellenistischen Welt kamen in großer Zahl griechische Gelehrte nach Rom. So konnten dort die philologischen Arbeitsmethoden der alexandrinischen Philologie heimisch werden. Die Einteilung des als ein Buch hinterlassenen bellum Punicum in sieben Bücher durch Lampadio, von der Sueton berichtet, entspricht dabei der vielleicht erst in hellenistischer Zeit 4 0 erfolgten Einteilung von Uias und Odyssee in 24 Bücher.

2.2. Das Anecdoton Parisinum

Einen weiteren Hinweis auf eine unter dem Einfluß der alexandrinischen Philologie stehende Editionstätigkeit im Rom der späten Republik gibt die unter dem Titel „Notae XXI quae versibus apponi consuerunt" überlieferte erste der beiden Listen kritischer Zeichen des Anecdoton Parisinum*1, der einzige aus der Antike erhaltene Notentraktat, der ausdrücklich auch römische Philologen S. C. Cichorius, Untersuchungen zu Lucilius, Berlin 1908,127ff., 171ff. und W. Krenkel, Zur literarischen Kritik bei Lucilius, 249 ff. 3 9 Vgl. Leo, GRL, 357, der allerdings Ausmaß und Bedeutung eines kommerziellen Buchmarktes im Rom des 2. Jahrhunderts v. Chr. weit überschätzt; siehe dagegen die wichtigen Bemerkungen bei E. Rawson, Intellectual Life, 40 ff. 4 0 S. O. Taplin, Homeric Soundings, Oxford 1992, 285 f. und Hillgruber zu [Plut.] de Hörnen 2,4, wo es heißt, daß die Bucheinteilung der homerischen Epen UITÖ TCÜV YP * Zu dieser Mittlmjudle «. P. Weber, Quacstionum Suetonianarum capita duo, Dtos. Halle 1901, 13 ff. 53

5

I

Die erste Gesamtausgabe

5. Die Anlage der Ausgabe 3.1. Gesamtumfang und Textbeschaffenheit. Interpolationen. Arbeitsweise des Herausgebers Nach Gell. 3,3,11 waren zur Zeit Varros rund 130 Komödien60 unter dem Namen des Plautus bekannt; die Rundung dürfte Gellius selbst nach einer exakten Liste vorgenommen haben, die Varro in seiner Schrift de comoediis Plautinis gegeben hat 61 . Zu diesen rund 130 Stücken gelangte ihr Herausgeber durch Nachforschungen bei den römischen Theaterdirektoren, in deren Besitz sich die Texte befanden. Das Streben nach einer möglichst vollständigen Sammlung der Hinterlassenschaft dokumentiert neben dem großen Gesamtumfang des Corpus auch der Textzustand der noch heute erhaltenen Stücke selbst. Sicherster Beweis hierfür sind Doppel- oder Ersatzfassungen, also jene Versgruppen, die miteinander konkurrieren und die sich daherfiir eine einzelne Auffuhrung gegenseitig ausschließen. Ein derartiger Überlieferungsbefund ist Beweis fiir die nachträgliche rezensorische Tätigkeit eines Herausgebers, dem von einem Text mindestens zwei Fassungen zur Verfugung stehen, die er in seiner Ausgabe zu bewahren sucht und nebeneinander stellt. Eben dieses Editionsverfahren ist charakteristisch fiir die von Aristophanes besorgten Ausgaben der griechischen Tragiker und Ursache dafür, daß die Überlieferung der griechischen Tragödie Verse aus späteren Bearbeitungen der Stücke, die sogenannten Schauspielerinterpolationen, bewahrt hat. Aristophanes hat dabei die von ihm jeweils fiir sekundär befundene Textfassung mit einem kritischen Zeichen versehen und somit kenntlich gemacht; während die Verse im weiteren Überlieferungsvorgang erhalten blieben, gingen die Zeichen verloren und haben lediglich vereinzelt ihre Spuren in den Scholien hinterlassen62. Ebenso wie fiir die griechische Tragödie hat auch fiir Plautus die Forschung Doppel- und Ersatzfassungen ausfindig gemacht, die Bühnenbearbeitungen zuzuschreiben sind; aus ihnen geht hervor, daß alle uns überlieferten Stücke des Plautus mindestens einmal wiederaufgeführt worden sind 63 , daß also der Herausgeber des Plautus mindestens zwei Textfassungen miteinander verwoben hat. Ein anerkanntes Beispiel sind die Verse Mil. 226-228, die der Bearbeiter als kürzende Ersatzfassung & den echten Szenenteil 200-225 verfaßte und unmittelbar auf 199 folgen ließ64Der Herausgeber hat die Ersatzfassung unmittelbar auf die ursprüngliche folgen lassen, wo sie die handschriftliche Überlieferung bis heute bewahrt. Feruntur autem sub Plauti nomine comoediae circiter centum atque triginta. Bei der Angabe Aö Servius praef. in Aen. 11. 88 sq. ed. Harv. Plautum alii dicunt scripsisse fabulas XXI\ alii XL C dürfte die Zahl 100 als Abrundung der 130 aufzufassen sein; vgl Ritsehl, Ruerga. 1*6. 6 1 S. hierzu unten, 104-107. 6 2 Vgl. hierzu Wilamowitz, Einleitung, 148 ff.; zuletzt H.-C Günther, Exercitationes Sophock^ Göttingen 1996, 92 ff. 6 j Vgl» 'Ihicrfclder, 153 f. und Zwierlein I, 40 f. 6 4 S , jetzt Zwierlein II, 24fr.

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3. Anlage der Ausgabe

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Daß die aus den Wiederaufführungen hervorgegangenen Bearbeiterzusätze bereits in die erste Buchausgabe eingegangen und seit ihr fester Bestand der plautusüberlieferung sind, beweisen auch die Plautuszitate in Varros de lingua Latina und in Verrius Flaccus' de verborum significatu: Zwar sind beide Werke wohl mehr als 50 bzw. 120 Jahre nach der Erstausgabe des Plautus entstanden, doch greifen beide Grammatiker für ihre Zitate nicht auf einen von ihnen selbst erstellten Text65, in zahlreichen Fällen überhaupt nicht unmittelbar auf eine Plautusausgabe zurück, sondern auf Plautuszitate, die sie in älteren grammatischen und glossographischen Arbeiten vorfanden. Diese Zitiertechnik ist zwar schuld an vielen Ungenauigkeiten im Wortlaut; andererseits ermöglicht sie uns einen direkten Zugriff auf den frühesten Buchtext der plautinischen Komödien, den Text, den die erste Gelehrtengeneration benutzt hat 66 . In welch hohem Umfang in beiden Schriften Verse aus dem Plautuscorpus angeführt werden, die unter echtheitskritischem Verdacht stehen, wird das vierte Kapitel dokumentieren. Hier genügt es, je einen sicheren Fall hervorzuheben: Varro zitiert in ling. Lat. 7,60 aus dem Mercator den Vers 619, der der interpolierten Ersatzfassung 619-624 angehört67; Verrius Flaccus zitiert mindestens zweimal (Fest. 166,30 ff. und 444,15ff.) aus der Aulularia den Vers 595, der in dem interpolierten Passus 592-598 steht 68 . Die Interpolationen waren also bereits in die erste Textausgabe eingeflossen. Entscheidend für das Verständnis der Textbeschaffenheit dieser Ausgabe (und damit überhaupt der Plautusüberlieferung) sind die Authentizität des herangezogenen Materials und das Editionsverfahren des Herausgebers. Während die Erstausgaben des Menander und Terenz, in deren Überlieferung sich Bühnenbearbeitungen so gut wie gar nicht niedergeschlagen haben, unmittelbar auf die Dichtertexte selbst zurückgegangen sein müssen69, während weiter die Für eine Plautusausgabe Varros, deren Existenz oft behauptet worden ist, gibt es kein einziges Zeugnis; aus ling. Lat. 9,106 quod Plauti aut librarii mendum si est, non ideo analogia, sed qui scripsit est reprehendendus geht, wie bereits Ritsehl, Auslautendes D im alten Latein, 111 gesehen hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit hervor, daß er zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Schrift noch keine Ausgabe gemacht hat, sondern sich auf einen Text stützt, der von einem Kopisten stammt und fiir dessen Konstituierung Varro nicht selbst verantwortlich ist. 6 6 Zu Datierung, Vorlagen und Zitierpraxis in den beiden genannten Werken s. unten, 139-151 und 158-175. S.Leo und Enkz. St. 6 8 Vgl. Stocken z. St. 6 9 Zu Menander vgl. Wilamowitz in seinem Kommentar zu den Epitrepontes, S. 6, den der Textzuwachs durch den Bodmer-Papyrus voll und ganz bestätigt hat. Eine Interpolation wurde - m. E. zu Unrecht - allein in Sam. 606-611 (desunt in B) vermutet: s. E Perusini, Nota a Menandro, Samia 606-611, in: Musa Iocosa (Festschr. Thierfelder), Hildesheim/New York 1974, 68 ff. Auf eine frühe Buchausgabe des Menander weisen die auf Aristophanes zurückgehenden didaskalischen Angaben zum Dyskolos (s. Handleys Kommentar, 123) und die Didaskalicn in POxy 1235 (hierzu unten, 90 f.) hin, ebenso das Kolophon am Ende dei Sikyonios in PSorb 2272 aus dem späten 3. Jh. v. Chr. (s, Kassels Ausgabe z. St, und Pfeiffer, Geschichte, 160) hin. Zu den wenigen auf Bühnenbearbeitungen zurückzuführenden Terenzintcrpolationen », Zwierlein I, 49 fr. In der ebenfalls um 100 v, Chr. einsetzenden 65

II. Die erste Gesamtausgabe

alexandrinischen Gelehrten bei ihren Ausgaben der griechischen Tragiker u des Aristophanes Zusätze aus den Bühnenexemplaren ergänzend einem weit hend die Originalfassungen widerspiegelnden Buchtext hinzufügen konnten?« standen dem Erstherausgeber des Plautus hingegen ausschließlich die Texte der Bühnendirektoren zur Verfügung. Wenn er nur auf einen Bühnentext zurückgreifen konnte, so hatte er keine weitere Kontrolle; und die Qualität des Textes hängt von dem Ausmaß der Bearbeitung ab, die dem Stück widerfahren ist. Bei mehreren Bühnentexten hat der Herausgeber, wie die Doppel- und Ersatzfassungen zeigen, versucht, divergierende Fassungen möglichst vollständig aufzunehmen. Dieses Bestreben zeigt sich am deutlichsten in der umfangreichsten Ersatzfassung, dem doppelten Schluß des Poenulus. Gerade über ihn hat Leo, der das gesamte der Erstausgabe zur Verfügung stehende Material sehr skeptisch beurteilte71, resignierend festgestellt: „Der echte Schluß vermutlich ging verloren, was bei dem In- und Übereinanderschieben verschiedener Versuche, wie die Überlieferung es aufweist, nicht verwunderlich ist." 72 Erst Zwierlein hat sich gegen Leos skeptische Haltung, der sich die nachfolgende Plautusphilologie weitgehend angeschlossen hat 73 , gewandt und gezeigt, daß der in den Handschriften zuerst überlieferte Schluß 1322-1371, den bereits die Verwendung des iambischen Senars als nachplautinisch ausweist, als eine Ersatzfassung aus dem ursprünglichen Schluß, dem sogenannten,alter exitus' (1372-1422) des Poenulus entwickelt ist, der der plautinischen Praxis entsprechend in trochäischen Septenaren (1398-1422) ausklingt. In die interpolierte Ersatzfassung ist ein vier Verse umfassender Auftrittsmonolog (1338—41) integriert, dessen Echtheit bereits Leo sehr wahrscheinlich gemacht hat 74 und in dem Zwierlein den ursprünglichen Beginn der echten Schlußszene sieht. Demnach folgt auf 1321 der ursprüngliche Schluß mit den Versen 1338-41 und 1372-1422. Ein fiir die weitere Plautuskritik besonders wichtiges Ergebnis Zwierleins besteht darin, daß er Leos Skepsis zurückweist, dem „In- und Übereinanderschieben verschiedener Versuche, wie die Überlieferung es aufweist'^ den ursprünglichen Text abgewinnen zu können; vielmehr ist in der gegebenen Überlieferung die unechte Fassung selbständig neben der originalen bewahrt. Seine Wiederherstellung der Schlußszene kommt daher ohne das Ansetzen von Lücken und ohne konjekturales Abändern des Wortlautes an den Schnittstellen aus. Aus diesem Resultat wird das Verfahren des Erstherausgebers sichtbar, der aus dem ihm zugänglichen Material keinen künstlichen Lesetext kontaminiert hat, sondern die divergierenden Fassungen möglichst vollständig nebeneinan* Terenzphilologie, über die die Suetonvita berichtet, spielen Fragen der Echtheit keine Rolk Vgl. Wilamowitz, Einleitung, 130-33; Günther, Excrcitationes Sophoclcae. 105. 7 1 S. PF, 30 und 54 f.; GRJL, 358; ähnlich auch Jocelyn, Gnomon 6$, 199), 1*6. 7 1 PF, 175» Anm- 3; vgl. auch GRL, 358. 7 i Eine Demographie bei Zwierlein 1.59PF, 1377* PF, 175, Anm. 3.

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3. Anlage der Ausgabe

5

der zu bewahren suchte76. Der von Zwierlein erschlossene Textbefund, daß aus einer 50 Verse umfassenden Ersatzfassung vier echte Verse isoliert und mit dem umliegenden echten Text verbunden werden müssen, deckt sich mit dem im Oxoniensis Bodl. Canon. 4 1 7 7 bewahrten Textbestand der sechsten Satire Juvenals, wo die echten Verse 366-373 von den Interpolationen O1-O34 und 373a-b umgeben und nach oben wie unten von ihren echten Anschlüssen abgeschnitten sind. Aus dem doppelten Schluß des Poenulus wird deutlich, daß der Erstherausgeber zunächst einen Text mit dem unechten Schluß ausschrieb und an diesen aus einem anderen Exemplar den ursprünglichen Schluß - wahrscheinlich einschließlich der Verse 1338-1341 vor 1372 - anhängte. Die Doppelfassung kennzeichnete er dann wohl mit dem antisigma cum puncto, von dem es Anec. Parisin. 140,10 ff. Reifferscheid heißt: ponebatur, cum eiusdem sensus versus duplices essent et dubitaretury quipotius legendi, sie et apud nostros. So läßt sich auch das Vorgehen des Erstherausgebers in den übrigen Stücken rekonstruieren: Er schrieb nach einer ersten Vorlage den Text ab und ergänzte in einem zweiten Arbeitsgang die aus anderen Exemplaren neu hinzukommenden Verse an den freien Stellen auf recto oder verso seiner Papyrusrolle. Die Reinschrift erfolgte dann in einem dritten Arbeitsgang, bei dem die ergänzten Verse an ihrer jeweiligen Stelle aufgenommen, wahrscheinlich mit kritischen Zeichen versehen worden sind. Die hier aus dem Textzustand der Handschriften erschlossene Arbeitsweise des Erstherausgebers ist gut vergleichbar mit der Arbeitsweise Philodems an seinem Academicorum index: Mit PHerc 1021 ist ein Textzeuge erhalten, der ein frühes Konzept dieser Schrift tradiert. Als eine beidseitig beschriebene, mit Zeichen versehene Materialsammlung geht sie dem eigentlichen Buch voran und dokumentiert so den zweiten von uns erschlossenen Arbeitsgang des Plautusherausgebers. In PHerc 164 liegt dagegen ein Fragment aus einer »Abschrift der abschließenden Edition' vor, also dem endgültigen Text, den Philodem publizieren ließ und der dem Text der Erstausgabe des Plautus entspricht, nachdem der dritte Arbeitsgang abgeschlossen war 78 . Es ist dabei durchaus möglich, daß in der Erstausgabe die Verse 1338-1341 nochmals vor 1372 geschrieben waren und vielleicht wegen ihrer Kennzeichnung als Wiederholung erst in einer späteren Phase der Überlieferung eliminiert wurden. Umgekehrt fehlen in A aus dem unechten Schluß die Verse 1333—1335 (= 1382-1384); die möglicherweise als Wiederholungen gekennzeichneten Verse standen im Archetypus vermutlich am Rand, von wo der Urheber der A-Redaktion nur die ersten drei Wörter an das Ende von 1332 angeflickt hat; vgl. Zwierlein l,

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Die Echtheit der 1899 von E. O. Winstedt entdeckten Plusverse war lange Zeit umstritten (ältere Literatur bei R. Tarrant, ,Juvenal\ in: Texts and Transmission, 203, Anm. 22); die Unechtheit ist jetzt erwiesen durch J. Willis, luvenalis male auetus, Mnemosyne 42, 1989, 44i ft '•Vgl. die höchst aufschlußreiche Analyse von T. Dorandi, Den Autoren über die Schulter geschaut. Arbeitsweise und Autographie bei den antiken Schriftstellern, ZPE 87, 1991, 15 (F.; das Zitat dorr S. 17,

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II. Die erste Gesamtausgabe

3.2. Kritische Zeichen Auf die oben vermutete Verwendung von kritischen Zeichen durch den Erst herausgeber des Plautus gibt die direkte Überlieferung, deren Zeugen keine Spuren von ihr aufweisen79, lediglich einen indirekten Hinweis durch ihr Schwanken im Versbestand. Sowohl der Ambrosianus wie die Palatini überliefern individuell jeweils Verse und Versgruppen, die in der anderen Rezension fehlen. Eine Reihe sicher früher Interpolationen wird durch die Auslassung in einer der beiden Rezensionen sofort kenntlich80: In der letzten Szene der Captivi läßt der Ambrosianus die Verse 1016-22 aus; der Zusatz dient der Verdeutlichung und emotionalen Intensivierung der von Plautus knapp gestalteten Schlußszene81. Ebenfalls mit Sicherheit einer Wiederaufführung zuzuschreiben sind die Verse Stich. 48-5782, deren Fehlen in A sich am einfachsten mit der Annahme einer ursprünglichen kritischen Adnotierung erklären läßt. Gleiches gilt auch fiir die in A fehlenden Verse Bacch. 540-551, deren Unechtheit seit dem Auftauchen der Fragmente aus Menanders Al ut contra si quis sentiat nihil sentiat: Caecilio palmam Statio do mimico, Plautus secundus facile exuperat ceteros, dein Naevius quifervetpretio in tertiost. si erity quod quarto detur, dabitur Licinio, post insequi Licinium facio Atilium, in sexto consequetur hos Terentiusy Turpilius septimum, Trabea octavum optinet, nono loco esse facile facio Luscium. decimum addo causa antiquitatis Ennium.

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Urteile über die Rangfolge verschiedener Dichter einer Gattung zu fallen, ist fester Bestandteil der griechischen Literaturkritik gewesen; ihre Wurzel hat die vergleichende Dichterkritik in den spätestens seit dem siebten vorchristlichen Zitiere nach der zweiten Ausgabe, Speyer 1619. Die Vordenker des Pareus kann ich leider nicht identifizieren; Lessings Abkanzelung der „sehr scharfsichtigen Herren Kurmrichter44 in seiner «Abhandlung von dem Leben und den Werken des Maccus Accius Plautus" (1750 - Band 4, S. 61 ff. in der von Muncker besorgten dritten Auflage der L-achmannschen Aufgabe) ist noch immer lesenswert. Ä 4 S. oben, 2,9 f.

(>1

III. Rezeption der Erstausgabe

Jahrhundert nachweisbaren musischen Agonen65, die es im republikanische Rom ebensowenig gibt wie dramatische Agone. Volcacius und seine anonymen Vorgänger tragen an Dichtern der Palliata eine literarische Streitfrage aus, dje ihnen durch entsprechende synkritische Schriften der Griechen66, vielleicht auch durch die didaskalische Literatur vermittelt ist, in der die Ergebnisse der dramatischen Agone verzeichnet waren67. Dabei fugt sich Volcacius Rangliste der Palliatendichter, die sich wahrscheinlich an die Behandlung der einzelnen Dichter angeschlossen hat 68 und die eine rückblickende Gesamtbewertung einer Gattung gibt, die zu seiner Zeit ihren Höhepunkt längst überschritten hat 69 , bei aller Hervorhebung des individuellen Urteils insgesamt gut in das Schema derrcepiTexviT^v~Schriften, * n ^ e n e n die Entwicklung einer ars (bei Volcacius also die der Palliata) in den Stufen apxfy aü£r)ai spricht Euanthius de com. 3,5 von illud inter Terentianas virtutes mirabile, quod eius fabulae eo sunt temperamento, ut neque extumescant ad tragicam celsitudinem neque abiciantur ad mimicam

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vilitatem (beide Stellen bei Leo, GRL, 225, Anm. 3); vgl. auch Jakobi, Kunst der Exegese, 127 ff. Frg. 322 Funaioli [= Geil. 6,14,6]. S. hierzu Jakobi, Kunst der Exegese, 127 ff. 7 6 Sie kommt am deutlichsten in der als Epitome erhaltenen ouyxpiaic; Äpiaxocpavouq xai Mev