Technische Mechanik: Statik-Elastostatik-Kinematik-Kinetik 9783110643572, 9783110643244

The book offers a compact but thorough introduction to basic engineering principles of mechanics, statics, kinetics, and

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Technische Mechanik: Statik-Elastostatik-Kinematik-Kinetik
 9783110643572, 9783110643244

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Statik des starren Körpers
2. Elastostatik
3. Kinematik und Kinetik
Personenverzeichnis
Stichwortverzeichnis

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Eberhard Brommundt, Gottfried Sachs, Delf Sachau Technische Mechanik De Gruyter Studium

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Eberhard Brommundt, Gottfried Sachs, Delf Sachau

Technische Mechanik | Statik-Elastostatik-Kinematik-Kinetik 5. Auflage

Autoren Prof. em. Dr. Eberhard Brommundt Kauzwinkel 3 38108 Braunschweig [email protected] Prof. Dr. Gottfried Sachs Technische Universität München Physik-Department 85747 Garching [email protected] Prof. Dr. Delf Sachau Helmut-Schmidt-Universität Univ. der Bundeswehr Hamburg Holstenhofweg 85 22043 Hamburg [email protected]

ISBN 978-3-11-064324-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064357-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064477-7 Library of Congress Control Number: 2019941247 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: HSU Medienzentrum, Regina Franck Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Dieses Buch wendet sich an Ingenieurstudenten der Anfangssemester. Es will den Le­ ser mit den Grundlagen der Statik, Elastostatik, Kinematik und Kinetik vertraut ma­ chen und ihm die Fähigkeit zum selbständigen Lösen von Aufgaben vermitteln. Es will darlegen, wie sich Intuition und Anschauung mit Hilfe von Begriffen klar fassen und durch formale Ansätze ausdrücken lassen. Die Erfahrung der Autoren zeigt, daß viele Anfänger den Weg von der Problem­ stellung zur Lösung verlieren, wenn man ihn nicht systematisch anlegt. Deshalb fas­ sen wir die Grundannahmen in zehn Axiomen zusammen und lösen Aufgaben (ab Abschnitt 1.10) nach einem einheitlichen Schema, das von der Statik ausgehend auch die Kinetik erfaßt, wozu dort konsequent mit d’Alembertschen (Trägheits-)Kräften und Momenten gearbeitet wird. Diese Systematik unterstützend werden die Beispiele und auch eine Reihe von allgemeinen Aussagen nach dem Muster Gegeben/Gesucht/Lö­ sung behandelt. Trotz der kurzen Darstellung wiederholen wir wichtige Dinge gele­ gentlich, um sie zu betonen. Die Forderung nach Anschaulichkeit und der knappe Raum gebieten, viele Aussa­ gen am charakteristischen Beispiel herauszuarbeiten und zu besprechen; der Leser er­ kennt unmittelbar die allgemeine Bedeutung. Auf graphische Methoden wird weitge­ hend verzichtet; dreidimensionale (räumliche) Aufgabenstellungen werden nur ver­ einzelt betrachtet. Ursprünglich für Studenten der Elektrotechnik verfasst (z. B. werden deshalb Schwingungen auch komplex behandelt), wurden ab der 4. Auflage zur Nutzung durch andere Ingenieur-Studiengänge die Kapitel Statik und Elastostatik erweitert und (u. a. durch die Arbeitssätze) ergänzt. Für die 5. Auflage wurden die Bilder neu gezeichnet, der Text neu durchgesehen. Wir danken dem Verlag De Gruyter für die gute Zusammenarbeit und die gute Aus­ stattung. Braunschweig, München, Hamburg

https://doi.org/10.1515/9783110643572-201

E. Brommundt G. Sachs D. Sachau

Inhalt Vorwort | V 1 Statik des starren Körpers | 1 Grundüberlegungen zu Kräften und Gleichgewicht | 1 1.1 Allgemeine Überlegungen | 1 1.2 Zur Vektorrechnung | 6 1.3 Axiome der Statik | 11 1.4 Kräfte und Gleichgewicht an einem Punkt in vektoriell-zeichnerischer Behandlung | 18 1.5 Kräfte und Gleichgewicht an einem Punkt in vektoriell-rechnerischer Behandlung | 21 Zusammenfassen und Vereinfachen von Kräftesystemen | 26 1.6 Die Resultierende eines ebenen Kräftesystems | 26 1.7 Kräftepaar und Moment | 30 1.8 Das Arbeiten mit Momenten | 36 1.9 Räumliche Kräftesysteme | 40 Statisches Gleichgewicht von Körpern | 43 1.10 Gleichgewichtsbedingungen für einen starren Körper | 43 1.11 Koordinaten und Bindungen | 52 1.12 Beispiele zur Bestimmung von Lagerkräften | 62 1.13 Mehrteilige Körper (Systeme) in der Ebene | 66 1.14 Stabwerke | 69 1.15 Überlagerung von Lösungen (Superposition) | 74 Schwerpunkt und Massenmittelpunkt | 77 1.16 Definitionen und Erklärungen | 77 1.17 Praktische Schwerpunktbestimmung | 85 Innere Kräfte und Momente bei Balken | 89 1.18 Normalkraft, Querkraft, Biegemoment bei Balken | 89 Haftung und Reibung | 101 1.19 Vorgänge bei Haftung und Reibung | 101 1.20 Haftung | 102 1.21 Reibung | 107 1.22 Das Prinzip der virtuellen Verrückungen | 111 2 Elastostatik | 119 Spannungen und Verzerrungen | 119 2.1 Spannungen | 119 2.2 Verzerrungen | 132 2.3 Stoff-Gesetze | 138

VIII | Inhalt

Stabwerke und Federverbände | 144 2.4 Verformung von Stabwerken | 144 2.5 Statisch unbestimmte Stabwerke | 148 2.6 Federverbände | 150 2.7 Wärmedehnungen und Wärmespannungen | 156 Biegung von Balken mit symmetrischen Querschnitten | 160 2.8 Gleichungen der Balkenbiegung | 160 2.9 Flächenmomente zweiten Grades | 166 2.10 Biegespannungen | 176 2.11 Biegelinien von Balken | 181 2.12 Statisch unbestimmt gelagerte Balken | 194 Torsion von Stäben | 199 2.13 Stäbe mit Kreis- oder Kreisringquerschnitt | 199 Arbeitsaussagen der Elastostatik | 206 2.14 Energieüberlegungen | 206 2.15 Das Prinzip der virtuellen Kräfte | 214 Stabilität | 222 2.16 Einführende Überlegungen zur Stabilität | 222 2.17 Statische Stabilität eines Feder-Stab-Systems | 223 2.18 Knicken von Druckstäben | 227 3 Kinematik und Kinetik | 233 Kinematik eines Punktes | 233 3.1 Ort, Bewegung, Koordinaten | 233 3.2 Geschwindigkeit | 241 3.3 Beschleunigung | 249 3.4 Berechnung von Geschwindigkeit und Weg aus vorgegebener Beschleunigung | 254 Kinetik des Massenpunktes | 262 3.5 Der freie Fall und die kinetischen Grundgleichungen | 262 Prinzip von d’Alembert. Reine Translation und reine Rotation eines starren Körpers | 271 3.6 Das Prinzip von d’Alembert | 271 3.7 Translationsbewegungen eines starren Körpers | 272 3.8 Rotationsbewegung eines starren Körpers | 275 Arbeit und Leistung, Energiesatz | 286 3.9 Arbeit und Leistung, Potential | 286 3.10 Die Kinetische Energie | 294 3.11 Der Energiesatz | 295 Impulssatz und Drallsatz für den Massenpunkt | 304 3.12 Der Impulssatz | 304 3.13 Der Drallsatz (Drehimpuls-Satz) | 309

Inhalt | IX

Kinetik des Punkthaufens | 312 3.14 Annahmen, Schwerpunktsatz, Impulssatz | 312 3.15 Der Drallsatz (Drehimpuls-Satz) für den Punkthaufen | 317 3.16 Kinematik des parallel zu einer Ebene bewegten starren Körpers | 320 3.17 Kinetik des parallel zu einer Ebene bewegten starren Körpers | 324 3.18 Bewegung in der Ebene: Zusammenfassung und Beispiele | 327 3.19 Der Energiesatz bei ebenen Bewegungen | 333 3.20 Vermischte Aufgaben und Probleme | 335 Schwingungen | 340 3.21 Freie Schwingungen | 340 3.22 Freie gedämpfte Schwingungen | 346 3.23 Erzwungene gedämpfte Schwingungen | 352 3.24 Freie ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei | 361 3.25 Erzwungene ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei | 371 Personenverzeichnis | 381 Stichwortverzeichnis | 383

1 Statik des starren Körpers Die Statik ist die Lehre von den Kräften und dem Gleichgewicht an ruhenden Körpern (griech. στατιϰός stehend, στατιϰή Kunst des Wiegens). Der starre Körper ist eine Idealisierung: Er verformt sich unter der Einwirkung von Kräften nicht, seine Punkte behalten festen Abstand. Die Annahme eines starren Körpers ist brauchbar, weil 1. im speziellen Fall die Verformungen klein (gegenüber den Abmessungen) sein mögen, 2. im allgemeinen Fall jeder verformte Körper während der Untersuchung als jeweils „eingefroren“ (= starr) angesehen werden kann.

Grundüberlegungen zu Kräften und Gleichgewicht 1.1 Allgemeine Überlegungen 1.1.1 Kraft, Schnittprinzip Aus unserer Alltagserfahrung „wissen“ wir, was eine Kraft ist! Als Grundbegriff einer Wissenschaft – der Physik – läßt sich die Kraft nicht streng definieren, man kann sie nur an Beispielen erläutern (vgl. „Punkt“, „Gerade“, „Ebene“ in der Geometrie). Die Abbildungen 1.1.1a und 1.1.2a zeigen zwei Beispiele. In der ersten Abbildung ist eine Kraft erforderlich, um den Klotz vom Gewicht G am Seil zu halten, im zweiten dehnt die Gewichtskraft G die Feder. Wir erkennen das Da-Sein einer Kraft an ihrer Wirkung. Um rechnen zu können, müssen wir die Kräfte sichtbar machen. Dies gelingt durch

SCHNEIDEN (Eulersches Schnittprinzip).

1.1.2 Schnittbilder Gedankliches Aufschneiden der Systeme, d. h. der abgegrenzten Gebilde, in den Lage­ plänen – vgl. die Stellen 1, 2, 3 in Abbildung 1.1.1b bzw. 1.1.2b – liefert die Schnittbilder (vgl. Abbildung 1.1.1c bzw. 1.1.2c), in denen die Kraftwirkungen durch Pfeile erfaßt, als Kräfte „sichtbar“ herausgestellt sind. Die dabei entstehenden Teilsysteme (Mensch in Abbildung 1.1.1c oder Feder in Abbildung 1.1.2c) „merken“ vom Schneiden nichts. Das Klotzgewicht G als „Fernkraft“ ist in den Schnittbildern ebenfalls als Pfeil gezeichnet (vgl. Abschnitt 1.1.3). https://doi.org/10.1515/9783110643572-001

2 | 1 Statik des starren Körpers

S‘‘2 S‘1

S‘2 S‘‘3

2

Kraft 1

S‘‘ 1

3

S‘3

G

G

G (a)

(b)

(c)

Abb. 1.1.1: Seilzug. (a), (b) Lagepläne, (c) Schnittbilder

1

Feder Kraft

Feder

F‘1 F‘‘ 1

2 G

G

(a)

(b)

F‘2 F‘‘ 2

(c)

G

Abb. 1.1.2: Feder. (a), (b) Lagepläne, (c) Schnittbilder

Lageplan, Schnittbild, Freikörper-Bild Lagepläne zeigen die Lage – die räumliche Anordnung, die Geometrie – des betrach­ teten und zu untersuchenden mechanischen Systems. In der Regel enthalten sie auch einige bekannte (vorgegebene) Kräfte; in den Beispielen etwa den Hinweis auf das Ge­ wicht G. Schnittbilder entstehen aus den Lageplänen durch gezielte gedachte Schnitte, die die interessierenden Kräfte „sichtbar“ machen, sie herausstellen. Dazu muß das Sys­ tem noch einmal in geschnittener Form gezeichnet werden. Freikörper-Bild (engl. free body diagram): Ein Körper oder ein Teilsystem von Kör­ pern heißt freigeschnitten, wenn es mit keinem anderen Teil des Gesamtgebildes mehr in Verbindung steht und alle Kraftwirkungen, die von „außen“ wirken, durch Kraft­ pfeile erfaßt sind. (Obige Schnittbilder enthalten die Freikörper-Bilder für die Klötze, das Seilstück zwischen den Schnitten und für die Feder.)

1.1 Allgemeine Überlegungen | 3

Vektorcharakter der Kraft Die Schnitte zeigen (vgl. Abbildung 1.1.3): Kraft = gerichtete Größe. Sie wird dargestellt durch einen Vektor

=

Pfeil ↕ Richtung mit Orientierung (Richtungssinn)

mit

Maßzahl . ↕ Größe

F

Abb. 1.1.3: Kraftvektor

Reaktionsprinzip Die Schnitte zeigen auch: Die Kräfte auf die beiden Ufer eines Schnittes gehen aus­ einander hervor, sie müssen gleiche Größe (Aktion = Reaktion) und Richtung, doch entgegengesetzte Orientierung haben (3. Newtonsches Gesetz). In Abbildung 1.1.4, das ein Seil unter der Wirkung zweier Kräfte F zeigt, gilt also S󸀠 = S󸀠󸀠 =: S. Auch in den 󸀠󸀠 󸀠 Abbildungen 1.1.1c und 1.1.2c treten die Kräfte paarig auf: S󸀠1 = S󸀠󸀠 1 , F 1 = F 1 usw. Man kann sich vorstellen, daß bei einem Wieder-Zusammensetzen der Teile der Schnittbil­ der die paarigen Kräfte sich gerade wieder wegheben. S‘ F

F

S‘‘

F

F Schnittufer

(a)

(b)

Abb. 1.1.4: Kräfte an einem Seil. (a) Lageplan, (b) Schnittbild

1.1.3 Einteilung und Benennung von Kräften Die Einteilung und Benennung kann nach unterschiedlichen Gesichtspunkten er­ folgen. Physikalischer Charakter: Abbildung 1.1.5a zeigt einen auf der Erde liegenden Kör­ per. Sein Gewicht G ist eine Fernkraft. Sie hängt von der gegenseitigen Lage von Körper und Erde sowie von einer physikalischen Konstanten, der Gravitationskonstanten, ab. Andere Fernkräfte stammen z. B. aus dem elektrischen und dem magnetischen Feld.

4 | 1 Statik des starren Körpers

G D G

D

G

G

Erde (a)

(b)

Abb. 1.1.5: Kräfte an einem Körper auf der Erde. (a) Lageplan, (b) Schnittbild

Die in Abbildung 1.1.5b durch den Schnitt „freigesetzte“ Druckkraft D ist eine Nah­ kraft (Berührkraft, Kontaktkraft). Sie entsteht als Reaktion der Körper auf die Berüh­ rung und heißt deshalb Reaktionskraft (vgl. Zwangskraft unten). Zählt man die Kraft-Wechselwirkungen der Atomphysik zu den Fernkräften, so entfallen die Nahkräfte. Das Reaktionsprinzip gilt in allen Fällen. Beim frei fallenden Körper nach Abbildung 1.1.6 gilt zwar auch das Reaktionsprin­ zip, doch sind dort Körper und Erde nicht im statischen Gleichgewicht. Abgrenzung des Systems: Kräfte zwischen Teilen des betrachteten Systems heißen innere Kräfte, die von außerhalb wirkenden heißen äußere Kräfte. Die Benennung er­ folgt oft sinnfällig, z. B. Seilkraft, Federkraft usw. G

G Erde Abb. 1.1.6: Fallender Körper

Virtuelle Arbeit (vgl. Abschnitt 1.21): Eingeprägt nennt man alle Kräfte, die zur vir­ tuellen Arbeit beitragen; das sind die äußeren Kräfte und die von physikalischen Parametern abhängenden Kräfte. Zwangskräfte (Reaktionskräfte) heißen die Kräfte, die geometrische Bindungen („Zwänge“) aufrechterhalten und keine Arbeitsbeiträge liefern.

1.1 Allgemeine Überlegungen |

5

1.1.4 Angriffspunkt, Wirkungslinie Beobachtung: Die Wirkung einer an einem starren Körper angreifenden Kraft auf das System bleibt gleich, wenn man den Angriffspunkt A auf dem starren Körper in Rich­ tung der Wirkungslinie w der Kraft verschiebt, z. B. von A󸀠 nach A󸀠󸀠 oder A󸀠󸀠󸀠 auf dem starren Wagenkasten nach Abbildung 1.1.7. Die Verschiebung ist dort nicht an den elas­ tischen Federn bemerkbar. Man verzichtet deshalb bei starren Körpern häufig auf die Angabe eines Angriffspunktes.

F starrer Wagenkasten

A‘‘‘ A‘‘ Wirkungslinie w der Kraft F

A‘ G Federn Abb. 1.1.7: Kraft auf einen Wagen

1.1.5 Zusammenfassung: Kraft Die Kraft ist ein Vektor, den man auf einem starren Körper längs seiner Wirkungslinie verschieben kann; man nennt die Kraft dann auch linienflüchtig (längs der Wirkungs­ linie w, vgl. Abbildung 1.1.8). Übliche Bezeichnungen sind F, F,⃗ F. Wir benutzen F und eine im Abschnitt 1.2.3 erklärte Bezeichnungsweise (vgl. Abbildungen 1.2.10 bis 1.2.12).

Angriffspunkt A

F

Wirkungslinie w starrer Körper

Abb. 1.1.8: Kraft an starrem Körper

Genormter Buchstabe ist F (Force). Daneben wählen wir jedoch auch hinweisende Be­ nennungen, wie z. B. S für eine Stab- oder Seilkraft, N für eine Normal-, Q für eine Querkraft.

6 | 1 Statik des starren Körpers

1.1.6 Dimension, Einheit Auf die Dimension (den „Typ“) einer physikalischen Größe weist man durch dim(⋅) hin, z. B. dim F = Kraft. Wir kürzen ab: dim F = K (Kraft), dim l = L (Länge), dim t = T (Zeit), dim m = M (Masse). Es gelten die in Tabelle 1.1.1 angegebenen Einheiten. Man deutet auf die Einheiten, in denen eine physikalische Größe gemessen wird, durch [⋅] hin, z. B. [F] = N, [m] = kg. Tab. 1.1.1: Einheiten Größe

DIN 1301

F l t m σ

N (Newton) m (Meter) s (Sekunde) kg (Kilogramm) Pa (Pascal)

1.2 Zur Vektorrechnung Wir beschränken uns auf das Auflisten der geometrischen Definitionen, an die wir anschaulich anknüpfen, und auf einige Hinweise. Um mit Vektoren rechnen und um­ gehen zu lernen, greife man zu einem Mathematikbuch. Besonders wichtig sind in der Technischen Mechanik die Addition nach der Parallelogrammregel (Abbildung 1.2.2c) und die Schreibweise mit Einsvektor und Maßzahl (Abschnitt 1.2.3). In der Physik unterscheidet man skalare Größen (lat. scalaris: zu einer Leiter, Treppe gehörig), die durch Angabe eines Zahlenwertes und einer Einheit bestimmt sind, von den Vektoren (lat. vector: Fahrer, Träger), deren Bestimmung die Angabe von Richtung, Orientierung, Zahlenwert und Einheit erfordert. Beispiele für Skalare: Temperatur, Masse, Volumen usw. Beispiele für Vektoren: Kraft, Geschwindigkeit, magnetische Feldstärke usw.

1.2.1 Operationen Gegeben seien zwei Vektoren A, B, vgl. Abbildung 1.2.1. Der Pfeilschaft gibt die Rich­ tung (Wirkungslinie), der Pfeil gibt die Orientierung (Pfeilsinn), die Pfeillänge gibt – in bestimmtem Maßstab – die Größe (= Zahlenwert ⋅ Einheit) an. A

B Abb. 1.2.1: Vektorpfeile

1.2 Zur Vektorrechnung |

7

Summation Die Regeln und Eigenschaften sind in Abbildung 1.2.2 dargestellt.¹ Summe:

S := A + B,

vgl. Abbildung 1.2.2a;

Kommutatives Gesetz:

A + B = B + A,

vgl. Abbildung 1.2.2b;

Parallelogrammregel:

S = A + B,

vgl. Abbildung 1.2.2c.

A

B

B S

S B

A (a)

S A

B

(b)

A

(c)

Abb. 1.2.2: Geometrische Addition

Multiplikation mit Skalar Sei λ ein Skalar und C := λA . Für den Vektor C gilt dann (vgl. Abbildung 1.2.3): Richtung von C ist gleich Richtung von A (A und C sind kollinear); Pfeillänge von C ist gleich Produkt aus Betrag von λ und Pfeillänge von A; λ > 0 : C ist wie A orientiert; λ < 0 : C ist entgegen A orientiert. Sonderfall λ = −1 (vgl. Abbildung 1.2.4): C = (−1)A = −A. C A Abb. 1.2.3: Kollineare Vektoren

A –A

Abb. 1.2.4: Vektoren A und −A

1 Wir benutzen gelegentlich die ALGOL-Symbole := oder =:, um der auf der Seite des Doppelpunktes stehenden neuen Größe (oder Variablen) den auf der anderen Seite stehenden, bereits bekannten Wert zuzuweisen.

8 | 1 Statik des starren Körpers

Subtraktion Abbildung 1.2.5 zeigt den Differenzvektor D := A − B = A + (−B) .

A

B –

A

A

–B

=

+

–B

= D

Abb. 1.2.5: Differenzvektor

Hinweise zum Skalarprodukt findet man in Abschnitt 1.5.1, zum Kreuzprodukt in 1.7.2 und 1.9.1.

1.2.2 Betrag, Einsvektor Betrag Mit Betrag, |A|, bezeichnet man die Länge eines Vektors, gemessen in den jeweiligen Einheiten, vgl. Kraft A in Abbildung 1.2.6.

A 5N Abb. 1.2.6: Betrag eines Vektors

Einsvektor Der Einsvektor erfaßt die Richtung und Orientierung eines Vektors (s. Abbildung 1.2.7): eA := A/|A| ;

dim e = 1 .

Es gilt A = |A|eA . A eA 1

Abb. 1.2.7: Einsvektor

1.2 Zur Vektorrechnung | 9

1.2.3 Schreibweise mit Einsvektor und Maßzahl Die Bezeichnungsweise mit Hilfe eines Pfeiles und mit A ist in gewissem Sinne redun­ dant: Pfeil und A bedeuten dasselbe! In Abbildung 1.2.8 sei der Vektorpfeil A maßstäb­ lich gezeichnet, z. B. sei der Kräftemaßstab 1 cm =̂ 1 N. In diesem Fall ist der Vektor durch das geometrische Bild des Pfeils vollständig bestimmt, und das Symbol A hat nur noch den Charakter einer Benennung. Hier ermöglicht die Einführung des Eins­ vektors mit Maßzahl eine vereinfachte Darstellung.

A Abb. 1.2.8: Vektor

Vorgehensweise (s. Abbildung 1.2.9): Bei Rechnungen kennt man oft die Wirkungslinie des Vektors, vgl. Abschnitt 1.1.4, doch ist die Orientierung (der Pfeilsinn) noch unbe­ kannt. Man legt einen Einsvektor eA auf der Wirkungslinie w von A willkürlich fest – führt also eine bestimmte Orientierung als positiv ein – und schreibt A = Ae A .

orientierte Richtung w eA

Abb. 1.2.9: Wirkungslinie von A und Einsvektor eA

Die Größe A heißt Maßzahl; sie kann positiv oder negativ sein. Bei negativer Maß­ zahl A ist A dann entgegen eA orientiert. Man sollte jedoch Maßzahlen mit vorge­ stelltem Minuszeichen vermeiden und stattdessen die Pfeile umkehren (vgl. Abbildun­ gen 1.2.11 und 1.2.12b). Der Vergleich von A = AeA und A = |A|eA liefert |A| = |A|. Vereinfachte Darstellung von Vektoren Die Schreibweise von Einsvektor mit Maßzahl gestattet eine vereinfachte und sehr zweckmäßige Darstellung von Vektoren, vor allem von Kräften in Skizzen, die man einer Berechnung zugrunde legen will (s. Abbildung 1.2.10): Der Pfeil steht für den Einsvektor eA (= orientierte Richtung), der Buchstabe A ist Maßzahl (= skalarer Fak­ tor) und dient gleichzeitig zur Bezeichnung.

10 | 1 Statik des starren Körpers

A

Abb. 1.2.10: Vereinfachte Darstellung eines Vektors

Hinweise: Ein Vektor, wie in Abbildung 1.2.10, muß in Vektoraussagen (Vektorfor­ meln) stets und in Fällen eines möglichen Mißverständnisses auch im Text mit A oder AeA – und nicht mit A – bezeichnet werden. Häufig kommen die Vekto­ ren A und −A mit gleichen oder verschiedenen parallelen Wirkungslinien in der­ selben Skizze vor (z. B. als Paar von Reaktionskräften). Aus A = AeA folgt dann −A = −AeA = A(−e A ) = Ae∗A , wobei e∗A := −eA der gegensinnig zu eA liegende Eins­ vektor ist (vgl. Pfeil bei −A in Abbildung 1.2.11). Da man in der Zuordnung der Pfeile zu A und −A frei ist, weisen wir in solchen Abbildungen mit =: A und =: −A auf die gewählte Zuordnung hin. Wenn man will, kann man die Kräfte auch mit A󸀠 und A 󸀠󸀠 unterscheiden, wie wir es in den Abbildungen 1.1.1, 1.1.2 und 1.1.4 getan haben.

A =:A –A:= Abb. 1.2.11: Entgegengesetzt orientierte Vektoren

A

Interpretationsbeispiele zur vereinfachten Darstellung Gegeben sei eine Darstellung wie in Abbildung 1.2.10. Die zugehörige Rechnung liefere z. B. a) A = 3,7 N, b) A = −3,7 N. Dann gelten für das Ergebnis die in Abbildung 1.2.12 gezeigten Darstellungen. –3,7 N

3,7 N

(a) Abb. 1.2.12: Ergebnisdarstellungen

(b)

ten rbo V e hler- ) (fe fällig an

3,7 N

(c)

1.3 Axiome der Statik |

11

1.3 Axiome der Statik Das Ziel dieses Abschnittes ist nicht ein axiomatischer Aufbau der gesamten Mecha­ nik, sondern eher eine Auflistung aller experimentellen Erfahrungen, die die Statik von Körpern betreffen. Der Anfänger soll hieran vor allem erkennen, in welcher Weise man Erfahrungen abstrahiert, soll sehen, wie man Idealgebilde (Modelle) an die Stelle der realen Körper setzt. Die Erfahrungen sind in der Form von Axiomen zusammengefaßt, von deren Gül­ tigkeit sich der Anfänger überzeugen muß und die er experimentell – wenigstens ge­ danklich und an Hand seiner eigenen Erfahrungen und Anschauungen – überprüfen sollte. Das Axiomensystem trägt nur die einfachste Statik, wie sie in den Abschnitten 1.4 bis 1.14 ausgeführt wird. In den späteren Abschnitten werden weitere Annahmen ad hoc eingeführt und plausibel gemacht.

1.3.1 Zur Ausdrucksweise der Statik Die Statik befaßt sich mit dem Gleichgewicht von Körpern K unter der Wirkung von Kräften F i , i = 1, . . . , n; vgl. Abbildung 1.3.1. Man sagt: „Der Körper K ist unter der Wirkung der Kräfte F i im (statischen) Gleich­ gewicht“ – kurz „K ist im Gleichgewicht“ – oder „Eine Gruppe (oder ein System) von Kräften F i hält sich am Körper K im Gleichgewicht“, wenn der Körper unter der Wir­ kung dieser Kräfte in Ruhe bleibt. Halten sich die Kräfte F i (am Körper K) nicht im Gleichgewicht, so bleibt der Kör­ per nicht in Ruhe, sondern bewegt sich. Das ist kein Problem der Statik, sondern der Kinetik (siehe Kapitel 3). Wenn man nach dem „Gleichgewichtszustand“ des Körpers K fragt, meint man damit das Feststellen, ob K im (statischen) Gleichgewicht ist oder nicht; im ersten Fall endet die Aufgabe zum Beispiel mit der Angabe der wirkenden Kräfte, im zweiten mit dem Verweis auf die Kinetik. Die Aussagen der Statik beziehen sich zunächst auf das Idealgebilde des einzel­ nen freien, starren Körpers. F2

F1

K F3

Abb. 1.3.1: Körper K und Kräfte

12 | 1 Statik des starren Körpers

Starr heißt ein Körper, der sich nicht verformt, ganz gleich, wie groß die Kräfte sind, die auf ihn wirken mögen. Starr bedeutet zum Beispiel, daß sich der Abstand zweier beliebiger Punkte des Körpers unter der Wirkung der Kräfte nicht ändert. Ei­ ne Steigerung zum „starreren“ oder „absolut starren“ Körper gibt es in der deutschen Fachsprache nicht! Ein fester Körper, der sich unter der Einwirkung von Kräften nur wenig verformt, heißt steif . Frei heißt ein Körper, der mit seiner Umgebung keinen Kontakt oder keine (kräf­ temäßige) Wechselwirkung hat, auf den also nur die jeweils angegebenen Kräfte – die (in der Skizze) eingetragenen Kraftpfeile – wirken; man nennt solche Kräfte auch (äu­ ßere) eingeprägte Kräfte (vgl. Abschnitt 1.1.3).

1.3.2 Grund-Gesetze und Axiome Durch Abstraktion und Verallgemeinerung von zum Teil jahrhundertealten Erfahrun­ gen gelangte man zu einigen – wenigen – „Grund-Gesetzen“, auf denen die Statik beruht (einen Teil davon haben wir schon erwähnt). Solche – nicht beweisbaren – Grund-Gesetze nennt man Axiome. Durch mathematische Schlußweise kann man aus diesen Axiomen die gesamte elementare Statik herleiten: Wenn man die erforderliche Mathematik beherrscht und genügend Phantasie hat, braucht man eigentlich nur die Axiome zu lernen. Andere Axiomensätze, die im Rahmen der Erfahrung auf dieselben Ergebnis­ se führen, sind möglich (zum Beispiel gibt es den Axiomensatz der „analytischen Statik“). Grundsätzlich stellt man an einen Axiomensatz vier Forderungen: 1. Vollständigkeit: Alle Fragen des Gebietes müssen sich aus dem Axiomensatz be­ antworten lassen. 2. Widerspruchsfreiheit: Logisch einwandfreie Schlüsse aus den Axiomen dürfen nicht zu Widersprüchen führen. 3. Geringste Anzahl (Unabhängigkeit): Ein Axiom, dessen Aussage sich aus den an­ deren erschließen läßt, ist überflüssig. (Hier ist man bequemlichkeitshalber oft nicht konsequent.) 4. Übereinstimmung mit der Erfahrung (bei physikalisch relevanten Axiomensyste­ men): Die aus den Axiomen gezogenen Schlüsse müssen mit der Erfahrung über­ einstimmmen.

1.3.3 Die zehn Axiome der elementaren Statik Die unten jeweils als Folgerungen gekennzeichneten Aussagen sind Beispiele für ein­ fache aus den Axiomen fließende Folgen, die meistens unmittelbar einleuchten. Mit den Hinweisen deuten wir auf Verknüpfungen und andere Sichtweisen hin.

1.3 Axiome der Statik

| 13

Gleichgewicht für zwei Kräfte am starren Körper F2 A2

A1 K F1

Abb. 1.3.2: Körper im Gleichgewicht

F2 A1

F1

A2

a

K

Abb. 1.3.3: Körper nicht im Gleichgewicht

Axiom 1: Ein freier, starrer Körper K ist unter der Wirkung von zwei Kräften F 1 , F 2 dann und nur dann im Gleichgewicht, wenn sie in die Verbindungslinie ihrer beiden Angriffspunkte A1 , A2 fallen, entgegengesetzt orientiert und gleich groß sind, vgl. Ab­ bildung 1.3.2. Formal bedeutet dies zweierlei (vgl. Abbildungen 1.3.2 und 1.3.3): Die Vektorsumme F 1 + F 2 und der Abstand a müssen verschwinden: F1 + F2 = O ,

a =0;

wo

O := Nullvektor .

Durch die erste Gleichung wird der Axiomenteil „entgegengesetzt orientiert und gleich groß“ erfaßt, erst mit a = 0 werden die Kräfte auch in die Verbindungslinie der beiden Angriffspunkte gezwungen. Kräfteparallelogramm Axiom 2: Greifen zwei Kräfte F 1 und F 2 an einem gemeinsamen Angriffspunkt A an, so können sie durch eine Kraft R ersetzt werden, die sich als die Diagonale des durch die beiden Kräfte aufgespannten Parallelogramms ergibt, Abbildung 1.3.4. Gemäß Abschnitt 1.2.1, Abbildung 1.2.2c, ist die Diagonale R die (geometrische) Sum­ me der beiden Vektoren F 1 und F 2 : R = F1 + F2 . Das Kräfteparallelogramm (Abbildung 1.3.5a) enthält den Angriffspunkt A, im Kräfte­ dreieck (Krafteck, Kräfteplan) bleibt der Angriffspunkt unberücksichtigt (vgl. Abbil­ dung 1.3.5b).

14 | 1 Statik des starren Körpers R

F1

A

F2

K

R

F1

A (a)

Abb. 1.3.4: Zusammensetzen von zwei Kräften

F2 F1

F2 (b)

R

Abb. 1.3.5: Kräftesumme. (a) im Kräfteparallelogramm, (b) im Kräftedreieck

Definition: Gemäß dem Kräfteparallelogramm in Abbildung 1.3.5a führt man R als resultierende Kraft – kurz Resultierende – der beiden (Einzel-)Kräfte F 1 und F 2 ein. Die Resultierende ersetzt die (Wirkung der) Einzelkräfte! Hinweis 1: Bildet man die Resultierende für zwei Kräfte in einem Lageplan oder Schnittbild, so muß man mit dem Kräfteparallelogramm und darf nicht mit dem Kraft­ eck arbeiten. Hinweis 2: Man kann auch die Wirkung einer (resultierenden) Kraft R gemäß Kräfte­ parallelogramm (Abbildung 1.3.5a) durch die Wirkung der beiden Kräfte F 1 und F 2 ersetzen. Dann heißen F 1 und F 2 Komponenten von R. Hinweis 3: Die erste Gleichung von Axiom 1 kann man nun als F 1 + F 2 = R und R = O interpretieren. Notwendig für das Gleichgewicht des in Abbildung 1.3.2 gezeigten Körpers ist es, daß die Resultierende der beiden Kräfte F 1 und F 2 verschwindet. Hinzufügen oder Wegnehmen einer Gleichgewichtsgruppe Definition: Eine Gruppe von zwei oder mehr Kräften, die sich – allein auf einen frei­ en, starren Körper K wirkend – im Gleichgewicht hält, heißt Gleichgewichtsgruppe. Beispiel: Die beiden Kräfte aus Axiom 1. Axiom 3: Befindet sich ein freier, starrer Körper K (unter der Wirkung von irgendwel­ chen Kräften) im Gleichgewicht, so bleibt er im Gleichgewicht, wenn eine Gleichge­ wichtsgruppe hinzugefügt oder weggenommen wird. In dem als Beispiel skizzierten System von Abbildung 1.3.6 sei der Körper K unter der Wirkung der Kräfte F 1 , F 2 im Gleichgewicht (Axiom 1). Die hinzugefügte Gleich­ gewichtsgruppe F 3 , F 4 , die ihrerseits Axiom 1 genügt, ändert den Gleichgewichtszu­ stand des Körpers K nicht!

1.3 Axiome der Statik

| 15

F2 K A2 A4

F4

A3 F3

A1

Abb. 1.3.6: Körper mit hinzugefügter Gleichgewichtsgruppe

F1

Folgerung 1: Ist ein freier, starrer Körper nicht im Gleichgewicht, so kommt er auch durch Hinzufügen einer Gleichgewichtsgruppe nicht ins Gleichgewicht. Folgerung 2: Das Gleichgewicht eines freien, starren Körpers ändert sich nicht, wenn man eine Kraft längs ihrer Wirkungslinie verschiebt (vgl. Abschnitt 1.1.4). Beweis: Sei der in Abbildung 1.3.7 gezeigte Körper unter der Wirkung der Kräfte F 1 , F 2 . . . im Gleichgewicht. Wir legen die Gleichgewichtsgruppe F 1 , −F 1 (in Abbil­ dung 1.3.7 gestrichelt) so auf den Körper, daß −F 1 bei A1 und F 1 im Punkt A󸀠1 angreift. Dann heben sich die bei A1 angreifenden Kräfte auf (ihre Resultierende verschwin­ det), wir erhalten die „längs der Wirkungslinie w nach A󸀠1 verschobene Kraft F 1 .“

w F1 K A1 A2

F1 A3

F2

F1

A‘1 F3 Abb. 1.3.7: Kraftverschiebung

Übertragen einer Gleichgewichtsgruppe auf einen anderen Körper Axiom 4: Ist ein freier, starrer Körper K1 unter einer gegebenen Gruppe von Kräften im Gleichgewicht, so ist auch der freie, starre Körper K2 unter der Wirkung dieser Kräfte (allein) im Gleichgewicht. Nutzen: Man kann den Gleichgewichtszustand an dem der Anschauung am besten zugänglichen Körper überprüfen.

16 | 1 Statik des starren Körpers

Befreiungsprinzip von Lagrange Axiom 5: Das Gleichgewicht eines nicht freien, starren Körpers ändert sich nicht, wenn man ihn von den (Ver-)Bindungen mit seiner Umgebung befreit – ihn frei­ schneidet –, falls man nur die Bindungen durch die von ihnen ausgeübten Kräfte (= Kraftpfeile) ersetzt. (Dies ist eine Erweiterung des Eulerschen Schnittprinzips, vgl. Abschnitt 1.1.1). Die Frage nach den Bindungstypen und den von ihnen übertragenen Kräften wird an einfachsten Beispielen in den folgenden Überlegungen zum Reaktionsprinzip und zu den Kräften auf glatte Körper, in allgemeiner Form in Abschnitt 1.11 behandelt. Reaktionsprinzip (Gegenwirkungsprinzip; 3. Newtonsches Gesetz) Axiom 6: Seien in Abbildung 1.3.8 die beiden Körper K1 und K2 zunächst miteinan­ der (am Punkt P) verbunden. Durch einen Schnitt (Axiom 5) werden sie voneinander befreit (Abbildung 1.3.9). Der Körper K2 übe auf den Körper K1 die Kraft F aus; dann übt der Körper K1 auf den Körper K2 die Kraft −F aus. Die Kräfte haben gleiche Grö­ ße und Richtung, doch entgegengesetzte Orientierung; in Skizzen werden sie durch gleiche Maßzahlen F und entgegengesetzt orientierte Pfeile gekennzeichnet; vgl. Ab­ schnitt 1.2.3. Man spricht kurz von der Reaktionskraft F; die Bedeutung – welche Kraft man mit F und welche mit −F meint – entnimmt man den Skizzen.

K1

F1

K2 F2

F3

P

F4 Abb. 1.3.8: Zwei verbundene Körper

K1 F1 =:F F

F2

K2

P

P

F3 F =:–F

F4

Abb. 1.3.9: Reaktionskräfte

1.3 Axiome der Statik | 17

Kräfte auf glatte Körper Definition: Greift eine Kraft an einem Punkt P eines Körpers „von außen“ an und steht sie senkrecht auf der Tangentialebene an den Körper in diesem Punkt (s. Ab­ bildung 1.3.11), so kennzeichnen wir dies durch die Benennung Normalkraft und die Bezeichnung N. Axiom 7: Berühren sich zwei glatte Körper (s. Abbildung 1.3.10), so steht eine Reakti­ onskraft senkrecht auf der gemeinsamen Tangentialebene und ist ins Innere der Kör­ per gerichtet (s. Abbildung 1.3.11). Es gilt N ≥ 0 (bei N < 0 würden die Körper vonein­ ander abheben).

glatt Tangentialebene

F1

K1

P F3

F2 K2 F4 Abb. 1.3.10: Sich berührende glatte Körper

F1 0

N

K1

P

N N

P

F3

F2 K2 F4

Abb. 1.3.11: Reaktionskräfte zwischen glatten Körpern

Das Erstarrungsprinzip Axiom 8: Ein freier, nicht starrer Körper ist genau dann im Gleichgewicht, wenn er als starrer Körper im Gleichgewicht wäre. Anschauliche Deutung: Wenn man sich einen Körper momentan „eingefroren“ vor­ stellt, ändert sich das Gleichgewicht nicht.

18 | 1 Statik des starren Körpers

Systeme von Körpern Axiom 9: Ein System von Körpern ist genau dann im Gleichgewicht, wenn alle Einzel­ körper im Gleichgewicht sind. (Man beachte die Verbindung zum Befreiungsprinzip, Axiom 5.) Bewegte Körper Definition: Man sagt, ein Körper sei masselos, wenn man die aus seiner (beschleu­ nigten) Bewegung herrührenden (Massen-Trägheits-)Kräfte gegenüber den anderen auftretenden Kräften vernachlässigen kann (vgl. Kapitel 3). Axiom 10: Ein bewegter, freier, starrer, masseloser Körper ist genau dann im Gleichge­ wicht, wenn er von einem mit ihm mitgeführten Bezugssystem aus gesehen in jedem Augenblick im „statischen Gleichgewicht“ ist.

1.4 Kräfte und Gleichgewicht an einem Punkt in vektoriell-zeichnerischer Behandlung Ziel dieses Abschnittes ist es, das zeichnerische Umgehen mit Kräften an Hand von Skizzen zu lernen. Da rein zeichnerische Lösungen an Bedeutung verloren haben, soll­ te man sich um eine Skizze bemühen, die die Verhältnisse etwa korrekt wiedergibt und die man einer trigonometrischen Rechnung oder einer rechnerischen Behandlung zu­ grunde legen kann. Wir greifen auf die Axiome zurück, wiederholen aber auch gelegentlich.

1.4.1 Resultierende mehrerer Kräfte mit gemeinsamem Angriffspunkt Gegeben: Lageplan (Abbildung 1.4.1a) eines Körpers mit drei im Punkt A angreifenden Kräften F 1 , F 2 , F 3 (maßstäblich gezeichnet). Gesucht: Die Resultierende R.

F1

F1

F2

F2 (a)

A

R12

A

F3

R

F3 R

(b)

Abb. 1.4.1: Resultierende dreier Kräfte

(c)

1.4 Kräfte und Gleichgewicht in vektoriell-zeichnerischer Behandlung | 19

Lösung (nach Axiom 2): Der Kräfteplan (Krafteck) in Abbildung 1.4.1b zeigt: 1. Schritt: Teil-Resultierende

R 12 = F 1 + F 2 ,

2. Schritt: Resultierende

R = R12 + F 3 = F 1 + F 2 + F 3 .

Die Übertragung von R in den Lageplan ist in Abbildung 1.4.1c wiedergegeben. Verallgemeinerung auf n Kräfte F i : n

R = ∑ Fi ,

kurz

R = ∑ Fi .

i=1

Der Kräfteplan wird zu einem Vieleck („Kräftepolygon“).

1.4.2 Gleichgewicht am Punkt Gegeben: Ein bereits freigeschnittener Körper (Abbildung 1.4.2a). Der Lageplan, das Freikörper-Bild, zeigt die drei in Punkt A des Körpers angreifenden Kräfte F 1 , F 2 , F 3 . Gesucht: Die Bedingung, unter der der Körper im Gleichgewicht ist.

F1 F2

F1

A F2

(a)

F3

F3

(b)

Abb. 1.4.2: Gleichgewicht am Punkt

Lösung: Aus den Axiomen 1 und 2 folgt (vgl. auch Hinweis 3 zu Axiom 2 und Abschnitt 1.4.1) die Gleichgewichtsbedingung: F1 + F2 + F3 = R = O . Am Punkt A herrscht Gleichgewicht, wenn die Resultierende R verschwindet, d. h., wenn sich das Krafteck schließt, s. Kräfteplan in Abbildung 1.4.2b. Alle Pfeile des Kraftecks werden dabei in einheitlichem Sinn durchlaufen. Verallgemeinerung auf n Kräfte F i : n

∑ Fi = R = O ,

kurz

∑ Fi = O .

i=1

Gleichgewicht herrscht, wenn sich das Kräftepolygon schließt.

20 | 1 Statik des starren Körpers

1.4.3 Anwendungsbeispiel und Vorgehensweise Gegeben: Lageplan (Abbildung 1.4.3a) einer Straßenlampe, die an zwei gewichtslosen Seilen hängt (Daten: Gewicht G, Winkel α, β; als allgemeine Größen gegeben). Gesucht: Seilkräfte S1 und S2 . Hinweis 1: Teile heißen „gewichtslos“, wenn ihr Gewicht gegenüber den übrigen Kräf­ ten vernachlässigbar klein ist. Von nun an seien alle Teile als gewichtslos angenom­ men, denen kein Gewicht zugewiesen wurde.

S2 S1 α

Schnittlinien

S1

β

S2

S1 A

Seil 2

Seil 1

S2

S2

A G G G

(a)

(b)

G

S1

β α

G

(c)

Abb. 1.4.3: Straßenlampe

Lösung: Wir schneiden die Seile 1 und 2 an den im Lageplan markierten Stellen. (Nach Axiom 5 wird das Gleichgewicht dadurch nicht geändert.) Das erzeugte Schnittbild (s. Abbil­ dung 1.4.3b) enthält vier Freikörper-Bilder für die Lampe, den „Knoten“ A und zwei Seilstücke. Hinweis 2: Ein gewichtsloses (biegeschlaffes) Seil überträgt wegen Axiom 1 nur eine Kraft in Richtung seiner Achse. Die übliche Vorzeichenwahl ist in Abbildung 1.4.4 er­ läutert; S > 0: Zugkraft (bei Stäben kann S negativ werden; S < 0: Druckkraft).

S

S

Abb. 1.4.4: Seilkraft

Im Schnittbild haben wir Axiom 1 und das Reaktionsprinzip (Axiom 6) bei den Seil­ kräften S1 (im Seil 1) und S2 (im Seil 2) bereits berücksichtigt. Die Kraft G in dem die Lampe tragenden senkrechten Seilstück folgt ebenfalls aus Axiom 1. Für das Gleich­

1.5 Kräfte und Gleichgewicht an einem Punkt in vektoriell-rechnerischer Behandlung

| 21

gewicht am Knoten A läßt sich ein Krafteck wie folgt zeichnen (Abbildung 1.4.3c): Der Pfeil G liegt fest; S 1 und S 2 müssen parallel zu den Seilen 1 bzw. 2 verlaufen und das Krafteck schließen. Zur Bestimmung der Größe von S1 und S2 gibt es hier zwei Wege: a) Zu vorgegebenen Zahlenwerten α, β, G wird das Krafteck maßstäblich gezeichnet, und S1 , S2 werden herausgemessen. b) Das Krafteck wird als „Plandreieck“ aufgefaßt, und S1 , S2 werden trigonometrisch berechnet. Auf beiden Wegen muß man die Orientierungen von S 1 , S 2 , die Vorzeichen von S1 , S2 , aus dem Pfeilsinn des Kraftecks ablesen. Bei trigonometrischer Rechnung (Weg b) lie­ fert zum Beispiel der Sinussatz: G/ sin(α + β) = S1 / sin(90° − β) = S2 / sin(90° − α) . Daraus folgen S1 = G cos β/ sin(α + β) ,

S2 = G cos α/ sin(α + β) .

1.5 Kräfte und Gleichgewicht an einem Punkt in vektoriell-rechnerischer Behandlung Die zeichnerischen Vorgehensweisen des vorigen Abschnittes eignen sich zum Ein­ blick und zur Untersuchung „kleiner“ Aufgaben. Bei umfangreichen Systemen ist die rechnerische Untersuchung zweckmäßiger. Dazu ist die vektoriell-rechnerische Vor­ gehensweise geeignet.

1.5.1 Komponenten einer Kraft in einem kartesischen Koordinatensystem Hinweis: Erster Schritt jeder Rechnung ist die Wahl eines geeigneten Koordinatensys­ tems. Gegeben sei ein kartesisches Koordinatensystem (0, x, y, z) mit den Einsvektoren (e x , e y , e z ) als Basis in Richtung der Koordinatenachsen. Bezogen auf diese Basis zerlegen wir die am Ursprung 0 angreifende Kraft F, gemäß Hinweis 2 zu Axiom 2, wie folgt (vgl. Abbildung 1.5.1): F = Fx + Fy + Fz = ex Fx + ey Fy + ez Fz . Die Vektoren F x , F y , F z sind die Komponenten von F bezüglich des vorgegebenen Ko­ ordinatensystems bzw. der Basis. Die Maßzahlen, die Koordinaten F x , F y , F z entstehen durch Projektion von F auf e x , e y bzw. e z . Man kann sie durch die Skalarprodukte der

22 | 1 Statik des starren Körpers

z y

Fz ez 0

ey ex

F

Fy

γ α

β

Fx Abb. 1.5.1: Kraftkomponenten

x

Vektorrechnung ausdrücken: F x = e x ⋅ F = |F| cos α ,

F y = e y ⋅ F = |F| cos β ,

F z = e z ⋅ F = |F| cos γ ,

wo |F| = √ F 2x + F 2y + F 2z . Abkürzende Matrizen-Schreibweise Wenn das Koordinatensystem und damit die Basisvektoren (e x , e y , e z ) feststehen, schreibt man statt F = e x F x + e y F y + e z F z häufig die Spaltenmatrix seiner Koordinaten an: Fx F = (F y ) . Fz Um Platz zu sparen, schreibt man F oft als „gestürzte“ – als „transponierte“ (Sym­ bol T) – Zeilenmatrix: F T = (F x , F y , F z )

oder

F = (F x , F y , F z )T .

In der Literatur spricht man überwiegend vom Spaltenvektor F oder vom Zeilenvektor F T ; wir reservieren das Wort „Vektor“ für gerichtete physikalische Größen, zum Beispiel die Kraft F. Faßt man die Basisvektoren (e x , e y , e z ) ebenfalls in einer Spaltenmatrix zusam­ men, e := (e x , e y , e z )T , so erhält man als Produkt von „Zeile mal Spalte“ nach den Regeln der Matrizenrech­ nung Fx F = e x F x + e y F y + e z F z =: (e x , e y , e z ) ( F y ) =: eT F Fz oder e x

F = F x e x + F y e y + F z e z =: (F x , F y , F z ) ( e y ) =: F T e ; ez ganz rechts stehen die Abkürzungen dafür.

1.5 Kräfte und Gleichgewicht an einem Punkt in vektoriell-rechnerischer Behandlung |

23

Arbeitet man bei einer Rechnung durchgängig mit einer Basis e, so unterschei­ det man häufig nicht zwischen F und F. Dem werden auch wir gelegentlich folgen. Mehrere Kräfte unterscheidet man zum Beispiel durch Indizes: F i = (F xi , F yi , F zi )T = F i . Beispiele für Kraftzerlegungen Das Anschreiben der Kraftkoordinaten erfordert Sicherheit im Umgang mit der Trigo­ nometrie und ähnlichen Dreiecken sowie Übung.

Beispiel 1: Gegeben: Drei Kräfte F 1 , F 2 , F 3 (Maßzahlen F1 , F2 , F3 ), deren Richtungen durch den in Abbildung 1.5.2 gezeichneten Quader (Seitenverhältnisse 5 : 3 : 4) erfaßt sind. Gesucht: Zerlegung der Kräfte bezüglich (e x , e y , e z ).

F2 F1

F3

3

z

4

y

ez ey 5

0

ex

x

Abb. 1.5.2: Räumliche Kräftezerlegung

Lösung (mit Hilfe ähnlicher Dreiecke): F 1 = (F x1 , F y1 , F z1 )T = (0, 0,6 F1 , 0,8 F1 )T , F 2 = (F x2 , F y2 , F z2 )T = (−F2 /√2, 0,6 F2 /√2, 0,8 F2 /√2)T , F 3 = (F x3 , F y3 , F z3 )T = (−5F3 /√41, 0, 4F3 /√41)T . Beispiel 2: Gegeben: Die drei Kräfte F, H, S in der x-y-Ebene, vgl. Abbildung 1.5.3 mit dort ange­ gebener Vermaßung. Gesucht: Zerlegung der Kräfte nach x, y.

24 | 1 Statik des starren Körpers y H

β

F

γ

α x

0

Abb. 1.5.3: Kräftezerlegung in der Ebene

S

Lösung (trigonometrisch): F=(

F cos α ) , F sin α

−H sin β H=( ) , H cos β

S=(

S cos γ ) . S sin γ

1.5.2 Resultierende mehrerer Kräfte mit gemeinsamem Angriffspunkt Ausgehend von Axiom 2 und Abschnitt 1.4.1 erhält man mit den Bezeichnungen aus Abschnitt 1.5.1 die Resultierende zweier Kräfte zu: R = F 1 + F 2 = (e x F x1 + e y F y1 + e z F z1 ) + (e x F x2 + e y F y2 + e z F z2 ) = e x (F x1 + F x2 ) + e y (F y1 + F y2 ) + e z (F z1 + F z2 ) = ex Fx + ey Fy + ez Fz . Mit Spaltenmatrizen geschrieben lautet die Resultierende F x1 + F x2 Fx R = (F y ) = ( F y1 + F y2 ) . Fz F z1 + F z2 Projektionssatz: Die Projektionen der Resultierenden sind gleich den Resultierenden der Projektionen. Verallgemeinerung auf n Kräfte F i : n

∑ F xi

Fx

n

F x = ∑ F xi = ∑ F xi ,

∑ F xi

i=1

) ( ) ( ) (n ) ( ) ( ) R=( ( F y ) = ( ∑ F yi ) = (∑ F yi ) i=1 n

(

Fz

)

∑ F zi ( i=1 )

(

∑ F zi

)

i=1 n

oder

F y = ∑ F yi = ∑ F yi , i=1 n

F z = ∑ F zi = ∑ F zi . i=1

Hinweis: Die etwas laxe Schreibweise ohne Summationsgrenzen ist bequem und ein­ fach. Sie führt zu keinen Fehlern, wenn man jeweils über ALLE gerade betrachteten Kräfte summiert. Gelegentlich läßt man unter dem Summenzeichen auch noch den Index weg; z. B. ∑ F x .

1.5 Kräfte und Gleichgewicht an einem Punkt in vektoriell-rechnerischer Behandlung |

25

1.5.3 Gleichgewicht am Punkt Aus den Axiomen 1 und 2 haben wir in Abschnitt 1.4.2 für Kräfte an einem Punkt die Gleichgewichtsbedingung n ∑ Fi = R = O i=1

gewonnen. Nach Wahl einer Basis (vgl. Abschnitt 1.5.1) folgen hieraus gemäß Ab­ schnitt 1.5.2 die drei skalaren Gleichgewichtsbedingungen ∑ F xi = 0 ,

∑ F yi = 0 ,

∑ F zi = 0 .

Hierbei ist über alle angreifenden Kräfte zu summieren! Wir sprechen diese Bedingungen als „Gleichgewicht in x-Richtung“ usw. an. Hinweis: Da man für Gleichgewicht nur irgendwie R = O (vektoriell) sicherstellen muß, kann man die Koordinatenachsen bzw. die Basisvektoren so legen, daß die Pro­ jektionen und die Rechnungen einfach werden.

1.5.4 Vorgehensweise bei einer Gleichgewichtsuntersuchung; Beispiel Gegeben: Auf einer glatten schiefen Ebene (∡α, vgl. Lageplan in Abbildung 1.5.4a) liegt ein Klotz vom Gewicht G, der durch eine Kraft H gehalten wird. Gesucht: Größe der Haltekraft H. H

H

y

y‘

N

x glatt α

N G

(a)

x‘

G α (b)

(c)

Abb. 1.5.4: Klotz auf schiefer Ebene

Hinweis 1: „Glatt“ bedeutet nach Axiom 7, daß eine Fläche nur Normalkräfte übertra­ gen kann. Lösung: Der Klotz wird als Punkt aufgefaßt (Rechtfertigung dafür folgt in Abschnitt 1.16.3) und von der schiefen Ebene FREIGESCHNITTEN. Mit Rücksicht auf obigen Hinweis erhält man das in Abbildung 1.5.4b gezeigte Freikörper-Bild des Klotzes. (Die teilweise freige­ schnittene Ebene, Abbildung 1.5.4c, interessiert nicht weiter.) Wir setzen die Gleich­ gewichtsbedingungen in zwei Formen an (vgl. Koordinaten x, y und x󸀠 , y󸀠 in Abbil­ dung 1.5.4b).

26 | 1 Statik des starren Körpers

a) Koordinate x parallel zu schiefer Ebene, y senkrecht dazu. Gleichgewicht in x-Richtung: ∑ F xi = 0 :

H − G sin α = 0 ;

man erhält H = G sin α. b) Koordinaten x󸀠 , y󸀠 parallel und senkrecht zur Grundfläche. Gleichgewicht in x󸀠 -Richtung: ∑ F x󸀠 i = 0 :

H cos α − N sin α = 0 ;

Gleichgewicht in y󸀠 -Richtung: ∑ F y󸀠 i = 0 :

H sin α + N cos α − G = 0 .

Man erhält hier zwei Gleichungen für die beiden unbekannten Kräfte H und N (nach N ist nicht gefragt). Das „schiefliegende“ Koordinatensystem a) bietet of­ fensichtlich Vorteile! Hinweis 2: Das hier am Beispiel dargelegte Vorgehen gilt allgemein. Wichtig sind 1. ein korrekt freigeschnittener Körper, 2. ein klares Schnittbild, aus dem man die Kräfte und die geometrischen Verhältnisse – insbesondere die Winkel – eindeutig ablesen kann, 3. ein geschickt gewähltes Koordinatensystem und richtige Projektionen der Kräfte.

Zusammenfassen und Vereinfachen von Kräftesystemen Wir greifen mehrere der auf einen starren Körper wirkenden Kräfte heraus und nennen sie Kräftesystem oder (gleichbedeutend) Kräftegruppe. Im Unterschied zur bisherigen Betrachtung sollen die einzelnen Kräfte nun nicht mehr an einem gemeinsamen Punkt angreifen. Ziel dieses Kapitels ist es, solche Kräftegruppen zusammenzufassen und dadurch zu vereinfachen. Dabei kommt es zunächst nicht auf das Gleichgewicht an. Deshalb sind in den Lageplänen nur die jeweils betrachteten Kräfte eingetragen. Wir gehen zunächst von der ebenen Kräftegruppe aus, bei der alle Wirkungslinien wi parallel zu einer Ebene liegen (in Skizzen meistens die Zeichenebene, vgl. Abbil­ dung 1.6.1a), und bearbeiten sie in den Abschnitten 1.6 bis 1.8. In Abschnitt 1.9 verall­ gemeinern wir dann auf räumliche Kräftegruppen.

1.6 Die Resultierende eines ebenen Kräftesystems 1.6.1 Allgemeine Lage der Kräfte Gegeben sei ein starrer Körper K, an dem drei Kräfte F 1 , F 2 , F 3 angreifen. Der in Ab­ bildung 1.6.1a skizzierte Lageplan zeige maßstäblich die Geometrie und die Kräfte, insbesondere die Lage der Wirkungslinien wi .

1.6 Die Resultierende eines ebenen Kräftesystems |

27

Gesucht ist die Resultierende R (mit ihrer Wirkungslinie wR ), die die Wirkung der drei Kräfte ersetzt. Lösung: Da die Kräfte auf dem starren Körper K in ihren Wirkungslinien verschoben werden können (vgl. Abschnitt 1.1.4 und Folgerung 2 aus Axiom 3), läßt sich die Aufgabe schrittweise auf das Vorgehen in Abschnitt 1.4.1 zurückführen (vgl. Lageplan und Krafteck in Abbildung 1.6.1a bzw. b): 1. Wirkungslinien w1 , w2 schneiden sich in Punkt A12 . 2. Kraft F 1 wird längs w1 , F 2 längs w2 nach A12 verschoben. 3. Im Krafteck (Abbildung 1.6.1b) wird Resultierende R 12 = F 1 + F 2 gebildet. 4. Resultierende R 12 ersetzt Wirkung von F 1 , F 2 , greift in A12 an und bestimmt Wir­ kungslinie w12 . 5. Wirkungslinien w12 und w3 schneiden sich in Punkt A123 . 6. Kraft R12 wird längs w12 , F 3 längs w3 nach A123 verschoben. 7. Im Krafteck wird Resultierende R = R12 + F 3 gebildet. 8. Resultierende R ersetzt Wirkung von R12 und F 3 – also auch von F 1 , F 2 , F 3 –, greift in A123 an und bestimmt Wirkungslinie wR .

w123= wR

K A12 F3

w3 w2

w1 A123 F2

(a)

F1

F1

R12

w12

R

F2

R12 F3

R

(b)

Abb. 1.6.1: Reduktion eines ebenen Kräftesystems

Hinweis 1: Man sieht (vgl. Abbildung 1.6.1b): R = F1 + F2 + F3 . Die Resultierende wird gebildet, wie wenn alle Kräfte F i in einem Punkt angriffen (vgl. Abschnitt 1.4.1). Die geometrische Konstruktion im Lageplan (Abbildung 1.6.1a) ist er­ forderlich, um die Lage der Wirkungslinie wR – den Punkt A123 – zu ermitteln. Hinweis 2: Die Erweiterung auf mehr als drei Kräfte erfolgt durch aufeinanderfolgen­ de Hinzunahme jeweils einer weiteren Kraft.

28 | 1 Statik des starren Körpers

Hinweis 3: Die Kraftangriffspunkte A12 usw. und die Wirkungslinien w12 usw. brau­ chen nicht auf den Körper K zu treffen. Zum Rechnen ersetzt man den Körper dann gedanklich durch einen größeren (vgl. Axiom 4). Schneidet bei einer praktischen Auf­ gabe die Wirkungslinie wR der Resultierenden R den Körper nicht, so muß man einen „Ausleger“ oder „Hebel“ anbringen, wenn R als Einzelkraft am Körper angreifen soll. (Eine andere Sichtweise werden wir in Abschnitt 1.7.3, Hinweis 2, kennenlernen.)

1.6.2 Zusammenfassen paralleler Kräfte Die Konstruktion gemäß Abschnitt 1.6.1 gelingt nicht mehr, wenn man auf die Aufga­ be stößt, die Resultierende von zwei parallelen Kräften zu ermitteln, weil sich deren Wirkungslinien nicht schneiden. Dann gelangt man durch Hinzufügen einer Gleichge­ wichtsgruppe (Axiom 3) zum Ziel. Gegeben sei ein starrer Körper K, an dem zwei Kräfte F 1 , F 2 mit parallelen Wirkungs­ linien w1 bzw. w2 angreifen, vgl. Abbildung 1.6.2a. Gesucht ist die Resultierende R (mit ihrer Wirkungslinie wR ), die die Wirkung von F 1 , F 2 ersetzt. Lösung: 1. Zeichnerisch Abbildung 1.6.2b zeigt einen modifizierten Lageplan, bei dem die Kraftangriffs­ punkte A1 , A2 bequemlichkeitshalber auf gleiche Höhe gelegt wurden. Außerdem ist die Gleichgewichtsgruppe P, −P mit wP ⊥ w1 hinzugefügt; dadurch wird die Wirkung der beiden Kräfte F 1 , F 2 , nicht beeinflußt (Axiom 3). Wir bilden nun, vgl. Lageplan in Abbildung 1.6.2b und Krafteck in Abbildung 1.6.2c, die folgenden Zusammensetzungen: R 1 := F 1 + P ,

2.

R2 := F 2 − P

sowie

R = R1 + R2 = F 1 + F 2 .

Die Wirkungslinien w󸀠1 von R1 und w󸀠2 von R2 schneiden sich in A, und das ist der Angriffspunkt von R (dessen Wirkungslinie wR natürlich parallel zu w1 , w2 verläuft). Rechnerisch Wir führen eine (in Abbildung 1.6.2 strichpunktierte) Bezugsgerade 0–0 parallel zu w1 , w2 ein und vermaßen ihr gegenüber die Abstände von w1 , w2 und wR mit x1 , x2 bzw. x. Mit Hilfe ähnlicher Dreiecke liest man aus Abbildung 1.6.2b ab: (x1 − x) : h = P : F1 ,

(x − x2 ) : h = P : F2 .

Nach Elimination der Hilfsgrößen P und h erhält man (vgl. auch Abbildung 1.6.2c): x=

x1 F1 + x2 F2 R

mit

R = F1 + F2 .

1.6 Die Resultierende eines ebenen Kräftesystems | 29

F1 F2

0 x2

x1

K

w1

a

w2

(a)

R

P

F1

R1 F1

R1

R

F2

R2

wp A2

P

A1 w‘1

w‘2

R2 K

A

F2

(c)

wR

x

(b)

P

P

h

0 Abb. 1.6.2: Zusammenfassen paralleler Kräfte

Hinweis: Diese Aussagen gelten auch für negative x i (links von 0 − 0 liegende wi ) und negative F i (entgegen den Pfeilen in Abbildung 1.6.2a orientierte Kräfte).

1.6.3 Sonderfall gleich großer, antiparalleler Kräfte Im Sonderfall antiparalleler Kräfte gleichen Betrags gilt F 2 = −F 1 . Setzt man F 1 = F und F 2 = −F (vgl. Abbildung 1.6.3), so folgt aus Abschnitt 1.6.2 R=F−F=O,

F 0 F

F

–F K

x2

ɑ x1

Abb. 1.6.3: Kräftepaar

30 | 1 Statik des starren Körpers

die Resultierende verschwindet. Für den Abstand x ergibt sich formal ein unsinniges Ergebnis: x1 F − x2 F aF = . x= R 0 Es ist nicht möglich, zwei gleich große, antiparallele Kräfte durch eine Einzelkraft zu ersetzen! Zusammenfassung von Abschnitt 1.6 Ein ebenes Kräftesystem kann zu einer Resultierenden zusammengefaßt werden, es sei denn, die Resultierende verschwindet und ein Paar gleich großer, antiparalleler Kräfte mit einem Abstand a ≠ 0 bleibt übrig, vgl. Abbildung 1.6.3.

1.7 Kräftepaar und Moment 1.7.1 Grundüberlegungen zum Kräftepaar Das in Abschnitt 1.6.3 eingeführte Paar gleich großer, antiparalleler Kräfte −F und F im Abstand a, kurz Kräftepaar (engl. couple) genannt, läßt sich nicht weiter vereinfa­ chen. Wir erweitern deshalb unsere Betrachtungsweise und führen auf seiner Grund­ lage das Moment als neuen physikalischen Begriff ein. Bezeichnungen und Deutungen Abbildung 1.7.1 zeigt das Kräftepaar {−F, a, F}. Der Abstandspfeil a = ae a weise (senk­ recht) von w− nach w+ . Das Kräftepaar „versucht“den Körper K zu drehen; dies deutet + an, wobei in der Regel die Linksdrehung man auch durch den beigefügten Drehpfeil ↺ positiv gezählt wird. In der Sichtweise von Abschnitt 1.3.3 (Axiome l bis 3) entnimmt man Abbil­ dung 1.7.1: 1. Die Resultierende verschwindet, R = −F + F = O ;

2.

das Kräftepaar hat keine „Tendenz“, den Körper K zu verschieben. Für a = 0 verschwindet die „Tendenz“ des Kräftepaares, den Körper K zu drehen.

Die beiden Forderungen aus Axiom l (Abschnitt 1.3.3), F1 + F2 = O

und

a =0,

schließen also gerade diese beiden Tendenzen aus.

1.7 Kräftepaar und Moment | 31

w–

w+ F F a K

F –F Abb. 1.7.1: Kräftepaar mit Drehsinn

Äquivalenz von Kräftepaaren Gemäß den Abschnitten 1.1.4 und 1.3.3 (Axiom 3) können wir ein Kräftepaar {−F, a, F} in Richtung seiner Wirkungslinien w− , w+ verschieben. Wir zeigen jetzt: Die Wirkungslinien lassen sich auch drehen, die Größen F oder a lassen sich frei vorgeben, ohne daß sich an der Wirkung auf den starren Körper K etwas ändert, wenn nur das Produkt aF seinen Wert beibehält. Gegeben sei das Kräftepaar {−F, a, F} nach Abbildung 1.7.2a und zwei andere parallele Wirkungslinien w󸀠− , w󸀠+ im Abstand a󸀠 , vgl. Abbildung 1.7.2b. Gesucht ist die Kraft F 󸀠 des Kräftepaares {−F 󸀠 , a 󸀠 , F 󸀠 }, das im Sinne der Axiome l bis 3 das Kräftepaar {−F, a, F} ersetzt.

F a F w+

w–

(a) P

A F‘ (c)

F

D w‘–

(b)

wp

F F‘ B

C

P

a‘ w‘+ Abb. 1.7.2: Äquivalente Kräftepaare

Lösung (vgl. Abbildung 1.7.2c): Wir führen die folgende Konstruktion aus: 1. Schnittpunkte A und B von w− mit w󸀠− bzw. von w+ mit w󸀠+ aufsuchen. 2. Wirkungslinie wP durch A, B legen.

32 | 1 Statik des starren Körpers Kräfte −F, F nach A bzw. B schieben und Gleichgewichtsgruppe −P, P so auf wP legen, daß −F 󸀠 := −F − P auf w󸀠− und F 󸀠 := F + P auf w󸀠+ fällt. 4. Größe von F 󸀠 aus maßstäblicher Zeichnung entnehmen. Ähnlich kann man verfahren, wenn man F 󸀠 vorgibt und nach a 󸀠 fragt. Kräftepaare, wie {−F, a, F} und {−F 󸀠 , a 󸀠 , F 󸀠 }, die sich mit einer Konstruktion gemäß Abbildung 1.7.2 ineinander überführen lassen, sind auf dem starren Körper äquivalent. 3.

Äquivalenzrelation Aus Abbildung 1.7.2c liest man die folgenden Beziehungen ab: 1. Das Dreieck ABC hat die Fläche aF/2. 2. Die Dreiecke ABC und ABD haben die gleiche Fläche (gleiche Grundlinie AB und gleiche Höhe, denn CD ‖ AB). 3. Das Dreieck ABD hat die Fläche a󸀠 F 󸀠 /2. Daraus folgt die Äquivalenzrelation: Zwei (in der gleichen Ebene liegende) Kräftepaare sind äquivalent, d. h. {−F, a, F} ∼ {−F 󸀠 , a󸀠 , F 󸀠 } , wenn sie die folgende Bedingung erfüllen: aF = a󸀠 F 󸀠 .

1.7.2 Moment Definition Die Menge (Klasse) aller äquivalenten Kräftepaare {−F, a, F} – mit gleichem Produkt aF und gleichem Drehsinn – fassen wir zum Moment M = aF zusammen, vgl. Abbildung 1.7.3a, b.

F a

M

~

F (a) Abb. 1.7.3: Kräftepaar und Moment

(b)

1.7 Kräftepaar und Moment | 33

Die Bezeichnung des Moments durch den Drehpfeil und den Buchstaben M, vgl. Abbildung 1.7.3b, ist genauso als Richtungspfeil und Maßzahl zu lesen wie die Kraft­ bezeichnung in Abschnitt 1.2.3. Vom mathematischen Standpunkt handelt es sich beim Moment M um eine Äqui­ valenzklasse, und irgendein herausgegriffenes Kräftepaar {−F, a, F} ist ein Repräsen­ tant dieser Klasse, die im allgemeinen noch andere Elemente enthält, wie zum Bei­ spiel „Biegemomente“ und „Drehmomente“ (vgl. Kapitel 2). Dimension, Einheit (vgl. Abschnitt 1.1.6) Dimension: dim M = dim(aF) = dim a ⋅ dim F = L ⋅ K. Einheiten: [M] = N m oder in der älteren Darstellungsweise [M] = kp m. Vektordarstellung des Moments Abbildung 1.7.4a zeigt ein Kräftepaar. Dabei haben wir an Stelle des senkrechten Ver­ bindungsvektors a von w− und w+ den beliebigen Verbindungsvektor r gezeichnet. (Vergleich mit Abbildung 1.7.1 liefert a = |r| sin γ). Wir bezeichnen das Kräftepaar dann auch mit {−F, r, F}.

r

–F

M

F γ ez

ez ey (a)

ex

ey

K (b)

K

ex

Abb. 1.7.4: Kräftepaar perspektivisch und zugehöriger Momentenvektor

Liege die Basis (e x , e y , e z ) in Abbildung 1.7.4 mit den Einsvektoren e x und e y in der von r und F aufgespannten Ebene; e z steht dann senkrecht darauf. Man definiert nun M := e z M = e z aF = e z |r| |F| sin γ als senkrecht auf der Ebene von {−F, r, F} stehenden Vektor der „Länge“ M (vgl. Ab­ bildung 1.7.4b). Es ist üblich, den Momentenvektor durch eine doppelte Pfeilspitze vom Kraftvektor zu unterscheiden; wir sprechen kurz vom „Doppelpfeil“. Der Dreh­ sinn wird dabei durch Richtung und Orientierung des Doppelpfeils erfaßt, wenn man ihn mit dem Drehpfeil über eine Rechtsschraubung gemäß Abbildung 1.7.5 verknüpft:

34 | 1 Statik des starren Körpers

Abb. 1.7.5: Rechtsschraubung K

M A‘‘

A‘ A

Abb. 1.7.6: Tisch unter der Wirkung eines Momentes

Hinweis 1: Man bezeichnet M nun wahlweise durch Drehpfeil mit Maßzahl (vgl. Ab­ bildung 1.7.3b) oder durch Einsvektor und Maßzahl (vgl. Abbildung 1.7.6 mit Abbil­ dung 1.2.10). Hinweis 2: Der obige Ausdruck M = e z |r| |F| sin γ fällt mit dem Kreuzprodukt der Vek­ torrechnung zusammen: M =r×F. Wir gehen im Abschnitt 1.9.1 noch näher darauf ein. Wegen F × r = −r × F kommt es bei M = r × F auf die richtige Reihenfolge der Faktoren an! Der Vektor r weist von −F nach F; s. Abbildung 1.7.4. Verschiebbarkeit eines Moments Gemäß Abschnitt 1.7.1 sind auf einem ebenen starren Körper alle Kräftepaare mit glei­ chem Moment äquivalent (vgl. Abschnitt 1.9.1 zur Aussage für den Raum). Dies bedeu­ tet: Der Momentenvektor M darf auf dem starren Körper K frei verschoben werden. Deshalb nennt man M auch „freien“ Vektor (die Kraft ist dagegen nur „linienflüchtig“, vgl. Abschnitt 1.1.5); diese verschiedenen Eigenschaften legen auch unterschiedliche Bezeichnungen – durch Doppel- bzw. Einfachpfeil – nahe. Zur Veranschaulichung der Konsequenzen dieser Aussage diene die Tischplatte auf biegsamen Beinen nach Abbildung 1.7.6: Die Verdrehung der Platte unter der Wir­ kung des Moments M ist dieselbe, gleichgültig, ob es bei A, A󸀠 oder A󸀠󸀠 angreift (vgl. Kraft in Abbildung 1.1.7).

1.7.3 Moment einer Einzelkraft bezogen auf einen vorgegebenen Punkt Gegeben sei ein Körper K, auf den die Kraft F (Wirkungslinie w0 ) wirkt, ein Bezugs­ punkt A und der Abstandsvektor a oder der Vektor r, vgl. Abbildung 1.7.7a.

1.7 Kräftepaar und Moment | 35

F

F F

γ

a

F

a

~

r

~

M

A A

A

w0 K

(a)

K (b)

F

K (c)

Abb. 1.7.7: Moment einer Einzelkraft

Gesucht ist ein Weg, wie man F wirkungsgleich – aus w0 heraus – nach A parallel verschieben kann. Lösung: Man legt die Gleichgewichtsgruppe −F, F auf den Punkt A (vgl. Abbildung 1.7.7b), faßt {−F, a, F} als Kräftepaar auf und erhält, vgl. Abbildung 1.7.7c, als wirkungsgleiche Be­ lastung die nach A parallel verschobene Kraft F zusammen mit dem zusätzlichen Mo­ ment M = aF. Ergebnis: Verschiebt man eine Kraft parallel aus ihrer Wirkungslinie heraus, Abbil­ dung 1.7.7a bis 1.7.7c, so tritt ein Moment hinzu. Hinweis 1: Der Momentenvektor M in Abbildung 1.7.7c ist frei verschieblich, man trägt ihn allerdings oft in der Nähe des Bezugspunktes ein. Ausdrucksweise: Man nennt – unpräzise, aber einprägsam – „M das Moment der (Einzel-)Kraft F bezüglich des Punktes A“. Den Abstand a, von A nach w0 , nennt man „Hebelarm“. Rezept: Will man F parallel in einen Punkt A verschieben (Übergang von Abbil­ dung 1.7.7a nach 1.7.7c), so trage man F in A an und füge unter Beachtung des Dreh­ sinns – von „F um A“ – (vgl. Abbildung 1.7.7a und c) das Moment M = aF – „Hebelarm mal Kraft“ – hinzu. Hinweis 2: Mit Hilfe der in Abbildung 1.7.7 gezeigten Parallelverschiebung kann man in dem in Abschnitt 1.6.1, Hinweis 3, genannten Fall die Resultierende stets mit dem Körper K zum Schnitt bringen, indem man ein Moment hinzufügt.

36 | 1 Statik des starren Körpers

1.8 Das Arbeiten mit Momenten In diesem Abschnitt üben wir das Umgehen mit Momenten.

1.8.1 Resultierendes Moment, Momentengleichgewicht Resultierendes Moment Gegeben: Ein Körper K, an dem zwei Kräftepaare {−F 1 , a1 , F 1 }, {−F 2 , a2 , F 2 }, vgl. Ab­ bildung 1.8.1a, oder – äquivalent – zwei Momente M 1 bzw. M 2 , vgl. Abbildung 1.8.1b, angreifen. Gemäß Abschnitt 1.7.2 gelten M1 = a1 F1 , M2 = a2 F2 . Gesucht ist das aus den Kräftepaaren bzw. den Momenten resultierende Moment Mres . F1 a1 M1

~

F1

~

F2

(a)

F2

a2

Mres K

K (b)

K

M2

Abb. 1.8.1: Resultierendes Moment

Lösung: Nach Abschnitt 1.7.1 ist es möglich, zu {−F 1 , a1 , F 1 } und {−F 2 , a2 , F 2 } die äquivalen­ ten Kräftepaare {−F 󸀠1 , a, F 󸀠1 } bzw. {−F 󸀠2 , a, F 󸀠2 } mit gleichem a und zusammenfallen­ den Wirkungslinien zu zeichnen. Mithin gilt {−F 1 , a1 , F 1 } + {−F 2 , a 2 , F 2 } ∼

{−F 󸀠1 , a, F 󸀠1 } + {−F 󸀠2 , a, F 󸀠2 }

= {−F 󸀠1 − F 󸀠2 , a, F 󸀠1 + F 󸀠2 } .

Daraus folgt (vgl. Abbildung 1.8.1) a1 F1 + a2 F2 = M1 + M2 = Mres . Momentengleichgewicht Ersetzt man Mres in Abbildung 1.8.1c durch ein beliebiges Kräftepaar {−F, a, F} als Re­ präsentanten, so herrscht nach Axiom 1 am Körper K – unter der Wirkung von Mres allein – Gleichgewicht, wenn −F und F aufeinanderfallen, also a = O gilt. Die Forde­ rung a = 0 in Axiom 1 führt auf die Bedingung für Momentengleichgewicht Mres = 0 .

1.8 Das Arbeiten mit Momenten | 37

Reaktionsprinzip für Momente Gemäß den Überlegungen in den beiden Abschnitten 1.7.1 und 1.7.2 überträgt sich das 3. Newtonsche Gesetz (Axiom 6) auf Momente: Zwei zunächst miteinander verbunde­ ne Körper K1 und K2 werden durch einen Schnitt voneinander befreit. Der Körper K2 übe auf den Körper K1 das Moment M aus; dann übt der Körper K1 auf den Körper K2 das Moment −M aus. Abbildung 1.8.2a zeigt als Beispiel einen aus Motor und Kreiselpumpe bestehen­ den Pumpensatz. Ein Schnitt zwischen dem Anker des Motors (Körper K1 ) und dem Rotor der Pumpe (Körper K2 ) legt das Momentenpaar −M, M frei (vgl. Abbil­ dung 1.8.2b). Motor K1

Kreiselpumpe

(a)

K2 M

M

M

–M

(b)

Abb. 1.8.2: Reaktionsmomente an einem Pumpenansatz

Das Moment −M treibt die Pumpe an, das Moment M hemmt den Motor (ohne es wür­ de sich seine Drehung beschleunigen).

1.8.2 Der Momentensatz für das ebene Kräftesystem Der Satz lautet: Das Moment der Resultierenden mehrerer Kräfte bezüglich eines gege­ benen Punktes A ist gleich der Summe der Momente der Einzelkräfte um diesen Punkt (vgl. Abschnitt 1.7.3). Beweis des Satzes für zwei Kräfte Alle vier in Abbildung 1.8.3 gezeigten Lastfälle sind äquivalent, da sie sich durch die Operationen aus den Abschnitten 1.6 und 1.7 ineinander überführen lassen. Ergebnis: M = aR = a1 F1 + a2 F2 ,

wo

R = F1 + F2 .

Die Verallgemeinerung auf mehr als zwei Kräfte erfolgt durch schrittweises Hinzufü­ gen einer weiteren Kraft. Man erhält + ↺ M = aR = ∑ a i F i ,

wo

R = ∑ Fi .

38 | 1 Statik des starren Körpers

Dabei erinnert der Drehpfeil über dem Summenzeichen an die als positiv gewählte Drehrichtung, vgl. Abbildung 1.7.1. Es muß über ALLE betrachteten Kräfte summiert werden; vgl. Hinweis in Abschnitt 1.5.2. Hinweis: Ist R ≠ O, so kann man in der Ebene den Punkt A so wählen, daß M = 0 wird.

F1 R

F1 A a 1

A

~

a2

F2

M

F2 (a)

K

K

(b)

~ A

~ R

F1

A R

a

(c)

K

~

M

F2 (d)

K

Abb. 1.8.3: Äquivalente Lasten

1.8.3 Anwendungsbeispiele für den ebenen Fall Vereinfachte Momentenberechnung Gegeben: Die Kraft F greift unter dem Winkel α am Punkt (x, y) des Körpers K an, vgl. Abbildung 1.8.4. Gesucht: Moment M von F um den Ursprung 0. Lösung: Zerlegung von „Resultierender“ F in horizontale und vertikale Komponente, (F cos α, F sin α)T , liefert: + ↺ M = ∑ a i F i = F(x sin α − y cos α) . Aus der Figur liest man M = −Fa ab; man hat eine Bestimmungsgleichung für a.

1.8 Das Arbeiten mit Momenten |

F sin α

39

F

α F cos α

y w

a

x

0

K Abb. 1.8.4: Moment einer Einzelkraft

a1 a2 a3

K

F2

F3

F1

a R

Abb. 1.8.5: Resultierende paralleler Kräfte

Lage einer Resultierenden Der Momentensatz aR = ∑ a i F i , vgl. Abbildung 1.8.3, liefert den Hebelarm a der Re­ sultierenden R, indem man R graphisch, vgl. Abschnitt 1.4.1, oder rechnerisch, vgl. Abschnitt 1.5.2, bestimmt und M = ∑ a i F i berechnet. Beispiel: Wir betrachten das System nach Abbildung 1.8.5 (vgl. Abschnitt 1.6.2). Gegeben: Parallele Kräfte F i mit Abständen a i von einer Bezugsparallelen. Gesucht: Resultierende R und deren Abstand a. Lösung: Aus Abbildung 1.8.5 liest man ab R = ∑ Fi , Der Momentensatz liefert a=

↻+ M = ∑ ai Fi . ∑ ai Fi . R

Aufgabe: Man zeige, daß die Lage von R relativ zu den F i nicht von der Wahl der Be­ zugslinie abhängt.

40 | 1 Statik des starren Körpers

1.9 Räumliche Kräftesysteme Wir beschränken uns auf die Angabe der wesentlichen Ergebnisse für ein rechneri­ sches Vorgehen parallel zu den Abschnitten 1.7 und 1.8. Die Einzelheiten überlege man sich selbst, sie unterscheiden sich von den vorangehenden nur durch größeren Auf­ wand, neue Begriffe sind nicht erforderlich.

1.9.1 Vektorform des Moments, Moment um einen Punkt Für das am Körper K nach Abbildung 1.9.1a allgemein räumlich angreifende Kräftepaar {−F, r, F} erhält man parallel zu Abschnitt 1.7.2 den Momentenvektor M =r×F, vgl. Abbildung 1.9.1b. Der Vektor M ist auf dem Körper K frei verschiebbar.

F w+

w–

r

–F

M ~

K K

(a)

(b)

Abb. 1.9.1: Räumliches Kräftepaar

Sind die Vektoren r und F in Komponenten bezüglich der kartesischen Basis (e x , e y , e z ) gemäß Abbildung 1.9.2a gegeben, r = ex x + ey y + ez z ,

F = ex Fx + ey Fy + ez Fz ,

so liefert das Kreuzprodukt für das Moment M den Ausdruck 󵄨󵄨󵄨 e x e y e z 󵄨󵄨󵄨 󵄨󵄨 󵄨󵄨 󵄨 󵄨 M = r × F = 󵄨󵄨󵄨 x y z 󵄨󵄨󵄨 󵄨󵄨 󵄨 󵄨󵄨F x F y F z 󵄨󵄨󵄨 󵄨 󵄨 = e x (yF z − zF y ) + e y (zF x − xF z ) + e z (xF y − yF x ) =: e x M x + e y M y + e z M z . In der letzten Zeile stehen die Komponenten von M bezüglich der Basis (e x , e y , e z ); vgl. Abbildung 1.9.2b mit der Abbildung 1.5.1 für die Kraft. Wegen der Schraubenregel

1.9 Räumliche Kräftesysteme | 41

nach Abbildung 1.7.5 kann man die Komponenten wahlweise als Momentenvektoren in Richtung der Basisvektoren ansehen, vgl. Abbildung 1.9.2b, oder als Momente – Dreh­ pfeile – um die Achsen eines in einen Körperpunkt 0 gelegten Koordinatensystems auffassen, vgl. Abbildung 1.9.2c. Wenn 0 für den Bezugspunkt (vgl. Punkt A in Abschnitt 1.7.3) steht, ist M = r × F das „Moment von F um den Punkt 0“; vgl. das Beispiel in Abschnitt 1.9.2. ez

ey ex

(a)

M Mz

z

My 0

0

Mx

(b)

Mz

y My Mx x

(c)

Abb. 1.9.2: Komponenten und Koordinaten eines Momentes

1.9.2 Zusammenfassen eines räumlichen Kräftesystems Gegeben sei ein starrer Körper K, auf den ein räumliches Kräftesystem F i wirkt (Abbil­ dung 1.9.3a zeigt zwei der Kräfte). Gesucht sind für einen gewählten Bezugspunkt 0 die resultierende Kraft R und das resultierende Moment M res . K

K F2 r2

0

R

~

0

r1 Mres (a)

F1

(b)

Abb. 1.9.3: Resultierende Kraft und resultierendes Moment für ein räumliches Kräftesystem

Lösung: Nach der Wahl des Bezugspunktes 0 liegen die Vektoren r i von 0 zu den Wirkungsli­ nien wi der Kräfte F i fest, vgl. Abbildung 1.9.3a.

42 | 1 Statik des starren Körpers

Entsprechend dem Vorgehen in den Abschnitten 1.7.3 und 1.8.2, verschiebt man alle Kräfte F i parallel in den Punkt 0 und erhält (vgl. Abbildung 1.9.3b) die resultierende Kraft

R = ∑ Fi ,

das resultierende Moment

M res = ∑ r i × F i .

(0)

Hinweis: Bei einem Wechsel des Bezugspunktes bleibt R fest, M res ändert sich. Im Raum gibt es im allgemeinen jedoch keinen Bezugspunkt 0󸀠 , für den M res verschwin­ det (vgl. den Hinweis auf das ebene System in Abschnitt 1.8.2). Durch Parallelver­ schiebung von R kann man lediglich die zu R senkrechte Komponente von M res zum Verschwinden bringen. Das dann zueinander parallele Paar R, M res nennt man Kraft­ schraube oder Dyname. Beispiel Gegeben ist ein Körper K, an dem im Punkt P die beiden Kräfte F 1 , F 2 angreifen. Be­ 󳨀→ zogen auf den Punkt 0 und die skizzierte Basis sind der Vektor r = 0P mit |r| = r und die beiden Winkel α, β vermaßt. Die Kräfte F 1 , F 2 liegen parallel zur Ebene y = 0 bzw. parallel zur y-Achse. Bekannt sind |F 1 | = F1 , |F 2 | = F2 und der Winkel γ. (0)

Gesucht: Resultierende Kraft und Moment M res für den Bezugspunkt 0.

F2 P

z y ez ey

γ

r

F1

β

0 ex

α K

x

Abb. 1.9.4: Körper mit angreifenden Kräften

Lösung: Resultierende Kraft: R = F 1 + F 2 = (F1 cos γ, 0, F1 sin γ)T + (0, F2 , 0)T = (F1 cos γ, F2 , F1 sin γ)T =: (F x , F y , F z )T . Resultierendes Moment: M res = r × F 1 + r × F 2 = r × (F 1 + F 2 ) = r × R , wo r = (r cos α cos β, r sin α cos β, r sin β)T =: (x, y, z)T .

1.10 Gleichgewichtsbedingungen für einen starren Körper | 43

Formale Rechnung: 󵄨󵄨 󵄨󵄨 e x 󵄨󵄨 M = 󵄨󵄨󵄨 x 󵄨󵄨 󵄨󵄨F x 󵄨

ey y Fy

󵄨 rF1 sin α cos β sin γ − rF2 sin β e z 󵄨󵄨󵄨 yF z − zF y 󵄨󵄨 z 󵄨󵄨󵄨 = ( zF x − xF z ) = ( rF1 (sin β cos γ − cos α cos β sin γ) ) . 󵄨󵄨 F z 󵄨󵄨󵄨 xF y − yF x rF2 cos α cos β − rF1 sin α cos β cos γ

Momente um Achsen (anschaulich, entsprechend Aufgabe zur Abbildung 1.8.4): M x = rF1 sin α cos β sin γ − rF2 sin β , M y = rF1 (sin β cos γ − cos α cos β sin γ) , M z = rF2 cos α cos β − rF1 sin α cos β cos γ . Aufgabe: Wählen Sie Zahlenwerte für r, F1 , F2 , α, β, γ und tragen Sie M in das Koor­ dinatensystem von Abbildung 1.9.4 ein.

Statisches Gleichgewicht von Körpern 1.10 Gleichgewichtsbedingungen für einen starren Körper 1.10.1 Gleichgewichtsbedingungen bei einem ebenen Kräftesystem Gegeben sei ein freigeschnittener starrer Körper K mit ALLEN auf ihn wirkenden Kräf­ ten F k (k = 1, 2, . . .) und Momenten M j (j = 1, 2, . . .). Das Freikörper-Bild 1.10.1a zeigt nur je zwei der Kräfte und Momente. Gesucht sind die Gleichgewichtsbedingungen.

F1

M2

F1 A

M1 F2 (a)

a1 F2 a2

F2

F1

M2

F1 (b)

R M1

A Mres

F2 (c)

Abb. 1.10.1: Gleichgewicht beim ebenen Kräftesystem

Lösung: Im ersten Schritt faßt man die Kräfte F k und die Momente M j zu Resultierenden zu­ sammen. Dazu wird ein Bezugspunkt A gewählt, und man bestimmt die Hebelarme a k der Kräfte F k (vgl. Abbildung 1.10.1b). Die Kräfte F k selbst werden durch Anbringen

44 | 1 Statik des starren Körpers von Gleichgewichtsgruppen −F k , F k in den Punkt A verschoben (vgl. Abschnitt 1.7.3 und Abbildung 1.10.1b). Im zweiten Schritt bildet man (gemäß den Abschnitten 1.4.1 oder 1.5.2) die am Punkt A angreifende resultierende Kraft R = ∑ F k = F1 + F2 + . . . und (gemäß den Abschnitten 1.7.3, 1.8.1 und 1.8.2) das resultierende Moment „um den Punkt A“ – um eine bei A senkrecht aus der Blattebene tretende Achse: + + + ↺ ↺ ↺ (A) (A) Mres = ∑ M i = ∑ M j + ∑ a k F k = M1 + M2 + . . . + a1 F1 + a2 F2 + . . .

(A)

Hier weisen die Drehpfeile auf die als positiv gewählte Drehrichtung hin; ∑ M i steht für die Summe ALLER Momente um A, die sich aus der Summe ∑ M j der als Momente vorgegebenen Lasten und der Summe ∑ a k F k der von den Kräften F k um A ausgeübten Momente zusammensetzt. Abbildung 1.10.1c zeigt den mit R und M res belasteten Körper. Für ihn formulieren wir im dritten Schritt die Gleichgewichtsbedingungen: Kräftegleichgewicht herrscht (s. Abschnitte 1.4.2 und 1.5.3), wenn ∑ Fk = R = O

(entspricht erster Aussage von Axiom 1) ,

Momentengleichgewicht herrscht (s. Abschnitt 1.8.1), wenn (A)

∑ Mi

= M res = O

(entspricht zweiter Aussage von Axiom 1) .

Koordinatenschreibweise der Gleichgewichtsbedingungen Wählt man ein Koordinatensystem, vgl. Abbildung 1.10.2, so erhält man parallel zu Abschnitt 1.5.3 die Bedingungen für das Kräftegleichgewicht ∑ F xk = 0 ,

∑ F yk = 0

sowie für das Momentengleichgewicht + ↺ (A) ∑ Mi = 0 .

Die Momente um A wird man im allgemeinen gemäß der Definition in den Abschnit­ ten 1.7.2 und 1.7.3 oder nach Abschnitt 1.8.3 berechnen. F1 M2 M1

y A

x F2

Abb. 1.10.2: Koordinatensystem für Gleichgewichtsbedingungen

1.10 Gleichgewichtsbedingungen für einen starren Körper |

45

Wichtige Hinweise: 1. Die Gleichgewichtsbedingungen gelten für einen starren Körper K unter der Ein­ wirkung ALLER auf ihn wirkenden Kräfte und Momente. Der Körper muß also vollständig freigeschnitten werden. 2. Die Kräfte und Momente sind gerichtete Größen (haben Vorzeichen). Nach dem Einführen eines Koordinatensystems und einer positiven Drehrichtung muß man auf die Vorzeichen achten. 3. Wenn die Gleichgewichtsbedingungen für den Bezugspunkt A erfüllt sind, sind sie auch um jeden beliebigen anderen Bezugspunkt B erfüllt. Folge: Der Bezugs­ punkt ist beliebig, er kann zweckmäßig gewählt werden (z. B. so, daß sich Momen­ te leicht berechnen lassen). 4. Die Kraft-Gleichgewichtsbedingungen ∑ F xk = 0, ∑ F yk = 0 können einzeln oder gemeinsam durch – häufig vorteilhafte – Momentenbedingungen + ↺ (B) ∑ Mi = 0 ,

5.

+ ↺ (C) ∑ Mi = 0

um Bezugspunkte B oder C ersetzt werden, wobei zwei Bezugspunkte nicht zu­ sammenfallen und drei nicht auf einer Geraden liegen dürfen (s. unten). Aus den drei statischen Gleichgewichtsbedingungen für ein ebenes Kräftesystem kann man nicht mehr als drei unbekannte Größen bestimmen. Liegen mehr als drei Unbekannte vor, so nützt es nichts, z. B. zwei Kraftgleichgewichtsbedingun­ gen und drei Momentenbedingungen anzuschreiben, denn nur drei dieser Glei­ chungen sind linear unabhängig; man hat es dann vielleicht mit einem „statisch unbestimmten System“ zu tun, vgl. Abschnitte 1.11.4, 2.5 und 2.12.

Zu Hinweis 4: Seien für den Bezugspunkt A die Resultierende R = (F x , F y )T , mit F x = ∑ F xk , + (A) (A) F = ∑ F , und das Moment M = ∑ ↺ M berechnet. Dann gelten gemäß Abbil­ y

yk

res

i

dung 1.10.3 für die Bezugspunkte B und C dieselbe Resultierende R und die Momente (B)

(A)

(C)

(A)

Mres = Mres + yB F x − xB F y , Mres = Mres + yC F x − xC F y .

yC Fy

C R B

yB M(A) res

0=A

xC

Fx xB

Abb. 1.10.3: Gleichgewichtsbedingungen bei unterschiedlichen Bezugspunkten

46 | 1 Statik des starren Körpers (A)

(B)

(C)

Mit dem Momentengleichgewicht Mres = 0 erhält man aus Mres = 0 und Mres = 0: yB F x − xB F y = 0 ,

yC F x − xC F y = 0 .

Hieraus folgen F x = ∑ F xk = 0, F y = ∑ F yk = 0 genau dann, wenn x B y C − x C y B ≠ 0 ist. Die drei Punkte A, B, C dürfen also nicht auf einer Geraden liegen.

1.10.2 Das Arbeiten mit den Gleichgewichtsbedingungen Bei der Lösung von Aufgaben aus der Statik werden wir in der Regel gemäß dem fol­ genden Schema in sechs Schritten vorgehen. Wir empfehlen dem Anfänger dringend, dieser Systematik zu folgen: Lösungsschema für Aufgaben aus der Statik² Die Einzelschritte haben in den Aufgaben unterschiedliches Gewicht und Umfang. (Noch sind uns nicht alle hier benutzten Begriffe geläufig.) 1. Schritt: System skizzieren (Lageplan). Koordinaten einführen; Bindungen und Frei­ heitsgrad überlegen, geometrische Beziehungen anschreiben. 2. Schritt: System aufschneiden (Freikörper-Bilder); Schnittkräfte und Schnittmo­ mente eintragen und benennen (Reaktionsprinzip beachten). 3. Schritt: Gleichgewichtsbedingungen für freigeschnittene Systemteile (Körper) an­ setzen. (Randbedingungen überlegen und anschreiben). 4. Schritt: Unbekannte und Gleichungen abzählen. Möglicherweise zusätzlich erfor­ derliche Gleichungen als Kennlinien einführen, z. B. für Reibungs- oder Fe­ derkräfte, für Stoffverhalten (z. B. Hookesches Gesetz) usw. Nicht interes­ sierende Variable eliminieren; man erhält einen Gleichungssatz. 5. Schritt: Gleichungen lösen und Lösungen an Randbedingungen (ggf. auch Zahlen­ werte) anpassen. 6. Schritt: Lösungen ausdeuten. Anwendungsbeispiel: Auflagerkräfte An diesem Beispiel üben wir das systematische Arbeiten mit den Gleichgewichtsbe­ dingungen.

2 Das Schema wird später auf die Kinetik erweitert. In dieser ergänzten Form findet man es auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels.

1.10 Gleichgewichtsbedingungen für einen starren Körper | 47

F γ

A

h

B

c Abb. 1.10.4: Zweifach gelagerter Balken

l

Gegeben: Zweifach gelagerter dünner, gewichtsloser Balken, Abmessungen l, h, c (vgl. Lageplan in Abbildung 1.10.4), belastet durch die Kraft F, die unter dem Winkel γ angreift. Gesucht: Auflagerkräfte. Bevor wir zur Lösung kommen, einige Bemerkungen zur Ausdrucks- und Bezeich­ nungsweise und zu den Symbolen: „Dünn“ bedeutet h/l ≪ 1, der Einfluß der Höhe des Balkens wird vernachlässigt, um die Rechnung einfach und übersichtlich zu halten.

A

(a)

(b) α

oder A

y

Ay

A

x

Ax Ay

α

(c)

Ax

(d)

Abb. 1.10.5: Festes Gelenklager

Lagersymbole a) Festes Gelenklager Abbildung 1.10.5a zeigt schematisch zwei Ausführungsformen fester Gelenklager (kurz Festlager). Symbolisch stellt man sie gemäß Abbildung 1.10.5b dar. Ein festes Gelenklager kann Kräfte in zwei Richtungen, jedoch kein Moment übertragen, vgl. Abbildungen 1.10.5c, d; dort gilt A x = A sin α, A y = A cos α. b) Verschiebliches Gelenklager Abbildung 1.10.6a zeigt schematisch zwei Ausführungsformen verschieblicher Ge­ lenklager (kurz Loslager). Symbolisch stellt man sie gemäß Abbildung 1.10.6b dar. Ein verschiebliches Gelenklager kann nur Kräfte senkrecht zu seiner Grundlinie, jedoch keine Kraft parallel dazu und kein Moment übertragen.

48 | 1 Statik des starren Körpers

A

(a)

(b)

A

A A

A

oder

(c)

(d)

Abb. 1.10.6: Verschiebliches Gelenklager

Unter Auflagerkräften – auch Auflagerreaktionen – eines Gebildes oder Systems ver­ steht man die Gesamtheit aller Kräfte und gegebenenfalls auch aller Momente, die von den Lagern auf das Gebilde oder umgekehrt wirken. Zurück zum Berechnen der Auflagerkräfte, zur Lösung der gestellten Aufgabe: Wir arbeiten nach obigem Schema. 1. Schritt: Der Lageplan liegt vor, Abbildung 1.10.4; Koordinaten x, y, Abbildung 1.10.7. 2. Schritt: Balken freischneiden, an Schnittstellen Kräfte einführen und benennen, vgl. Abbildung 1.10.7. Zerlegen von F in x- und y-Komponente (Kräfteparallelogramm!) ist rechengünstig, Abbildung 1.10.8. 3. Schritt: Gleichgewichtsbedingungen für freigeschnittenen starren Körper anschrei­ ben (Abbildung 1.10.8). Hier werden zwei Vorgehensweisen gezeigt. Vorgehensweise a) mit zwei Kräftegleichgewichten und einem Momentengleich­ gewicht: ∑ F xi = 0 : A x + F cos γ = 0 , ∑ F yi = 0 :

A y − F sin γ + B = 0 ,

↺ (A) ∑ Mi = 0 :

−cF sin γ + lB = 0 .

+

Vorgehensweise b) mit einem Kräftegleichgewicht und zwei Momentengleichgewich­ ten (vgl. Hinweis 4, in Abschnitt 1.10.1): ∑ F xi = 0 :

A x + F cos γ = 0 ,

+ ↺ (A) ∑ Mi = 0 :

−cF sin γ + lB = 0 ,

+ ↺ (B) ∑ Mi = 0 :

−lA y + (l − c)F sin γ = 0 .

1.10 Gleichgewichtsbedingungen für einen starren Körper |

y γ

Ax

49

F

x Ay

B

Abb. 1.10.7: Freikörper-Bild für Balken

F sin γ

Ax F cos γ Ay

B

c

Abb. 1.10.8: Rechengünstige Kraftzerlegung

l

4. Schritt: Unbekannte und Gleichungen zählen. Wir haben drei Unbekannte, nämlich A x , A y , B und je drei Gleichungen nach Vorge­ hen a) oder b). 5. Schritt: Gleichungen lösen (Ergebnis). A x = −F cos γ ,

A y = [(l − c)/l]F sin γ ,

B = (c/l)F sin γ .

Die Vorgehensweise b) bietet hier den Vorteil, daß jede Gleichung nur eine Unbekann­ te enthält: Rechenfehler pflanzen sich nicht fort; ∑ F yi = 0 kann in b) zur Kontrolle benutzt werden. 6. Schritt: Dimensionsprobe, Darstellung des Ergebnisses. Dimensionen: K = K für A x -Gleichung, K = (L/L)K für A y - und B-Gleichung. Abbildung 1.10.9 zeigt den Balken mit allen an ihm angreifenden Kräften.

Ax F cos γ

γ

F

l-c F sin γ l

c F sin γ l

Abb. 1.10.9: Balken mit allen Kräften

1.10.3 Gleichgewichtsbedingungen im Raum Vektorschreibweise Gegeben sei ein Körper mit den auf ihn wirkenden Kräften F k (k = 1, 2, . . .) und Mo­ menten M j (j = 1, 2, . . .), vgl. Abbildung 1.10.10a. Gesucht sind die Gleichgewichtsbedingungen.

50 | 1 Statik des starren Körpers F1

F2

F1

F2 M2

r2

M1

r3

M1 F3

M2 A

F3

K

(a)

Mres

r1

R

A K

K

(b)

(c)

Abb. 1.10.10: Gleichgewicht bei räumlichem Kräftesystem

Lösung: Nach Abschnitt 1.9.2 und analog zu Abschnitt 1.10.1 erhält man mit den Abbildun­ gen 1.10.10b und 1.10.10c die Gleichgewichtsbedingungen ∑ Fk = R = O , (A)

∑ Mi

= ∑ Mj + ∑ rk × F k (A)

= M 1 + M 2 + . . . + r 1 × F 1 + r 2 × F 2 + . . . = M res = O . (A)

Hier steht ∑ M i für die Summe ALLER Momente um A, während ∑ M j die als Mo­ mente gegebenen Lasten erfaßt, und ∑ r k × F k die Momente der Kräfte.

Koordinatenschreibweise Nach Wahl eines geeigneten (A, x, y, z)-Koordinatensystems gehen die beiden vekto­ riellen Gleichgewichtsbedingungen über in die folgenden Bedingungen für die Kom­ ponenten: Kräftegleichgewicht ∑ F xk = 0 ,

∑ F yk = 0 ,

∑ F zk = 0 ,

Momentengleichgewicht (A)

∑ M xi = 0 ,

(A)

∑ M yi = 0 ,

(A)

∑ M zi = 0 .

Die Hinweise 1 bis 5 aus Abschnitt 1.10.1 gelten hier analog. Nur hat man im Raum sechs Gleichgewichtsaussagen statt der drei in der Ebene, und man kann (vgl. Hinweis 4) im Raum um sechs Achsen (statt um drei Punkte in der Ebene) Momente ansetzen, zum Beispiel, wenn die Achsen durch die Kanten eines Tetraeders oder parallel dazu verlaufen. Anwendungsbeispiel Klapptisch Gegeben: Ein Klapptisch mit sechs Beinen (starren Stäben), die bei A󸀠 , B󸀠 , C󸀠 an der starren, gewichtslosen Tischplatte und bei A󸀠󸀠 , B󸀠󸀠 , C󸀠󸀠 am Boden gelenkig (Kugelge­ lenke!) angeschlossen sind. Abbildung 1.10.11a zeigt den Lageplan und die gegebenen Abmessungen l, a, h.

1.10 Gleichgewichtsbedingungen für einen starren Körper |

51

l a

M

C‘ 3 C‘‘

A‘ 6

1

B‘ 2

4 5

M

C‘ h

A‘

S3

B

C‘‘ S6

A‘‘

B‘‘

S4

S2

z

S5

(a)

(b)

B

S1 A‘‘

y

x

Abb. 1.10.11: Klapptisch

Gesucht: Stabkräfte S1 , . . . , S6 in den Beinen bei Belastung mit dem vertikalen Mo­ ment M. Lösung (nach Schema): 1. Lageplan liegt mit Abbildung 1.10.11a vor, Koordinaten s. Abbildung 1.10.11b. 2. Freikörper-Bild, vgl. Abbildung 1.10.11b. 3. Gleichgewichtsbedingungen. ∑ F xi = 0 :

S4 l/√a2 + h2 + l2 − S5 l/√h2 + l2 = 0 ,

∑ F yi = 0 :

−S4 a/√a2 + h2 + l2 − S6 a/√a2 + h2 = 0 ,

∑ F zi = 0 :

−S1 − S2 − S3 − S4 h/√a2 + h2 + l2 − S5 h/√h2 + l2 − S6 h/√a2 + h2 = 0 ,

(B󸀠󸀠 )

= 0:

−aS3 = 0,

(B󸀠󸀠 )

= 0:

lS1 + hS4 l/√a2 + h2 + l2 = 0 ,

(B󸀠󸀠 )

= 0:

M − aS4 l/√a2 + h2 + l2 = 0 .

∑ M xi ∑ M yi ∑ M zi 4. 5.

6.

Gleichungen zählen: 6 Unbekannte, S1 , . . . S6 , und 6 Gleichungen. Ergebnisse (in der Reihenfolge der Auflösung): S3 = 0

(Nullbein) ,

S4 = M √a2 + h2 + l2 /(al)

(Zugbein) ,

S1 = −Mh/(al)

(Druckbein) ,

S5 = M √h2 + l2 /(al)

(Zugbein) ,

S6 = −M √a2 + h2 /(al)

(Druckbein) ,

S2 = 0

(Nullbein) .

Die Beine 2 und 3 sind bei der gegebenen Momentenbelastung kräftefrei. Trotz­ dem wird man sie anbauen, weil sie für andere Belastungsfälle erforderlich sind.

52 | 1 Statik des starren Körpers

1.11 Koordinaten und Bindungen 1.11.1 Der Freiheitsgrad Definition: Der Freiheitsgrad f ist die Anzahl der Koordinaten, die man mindestens braucht, um die Lage (oder Stellung oder auch die Verformung) eines mechanischen Systems eindeutig zu beschreiben. Hinweis: Vielfach spricht man heute auch eine einzelne dieser Koordinaten als „Frei­ heitsgrad“ – im Sinne von Bewegungsmöglichkeit („Freiheit“) – an und nennt ihre Gesamtheit „die Freiheitsgrade“. Beispiele für Koordinaten in der Ebene 1. Punkt in der Ebene Man erfaßt die Lage von P, vgl. Abbildung 1.11.1, durch kartesische Koordinaten q = (x, y) , oder Polarkoordinaten

q = (ϱ, φ) ; Freiheitsgrad

f =2.

Der Freiheitsgrad hängt nicht vom Typ der gewählten Koordinaten ab. Das Zusammenfassen der Koordinaten zum Koordinatensatz (einem Zeilentu­ pel) q dient hier als bequeme Schreibweise. (Bei kartesischen Koordinaten fallen Koordinatensatz und Zeilenmatrix zusammen; vgl. Abschnitt 1.5.1).

P P

y

ρ φ

0 (a)

x

0 (b)

Abb. 1.11.1: Koordinaten eines Punktes in der Ebene (a) kartesische Koordinaten, (b) Polarkoordinaten

2. Starrer Körper (Scheibe) in der Ebene Legt man den körperfesten Punkt A durch (x, y) fest, vgl. Abbildung 1.11.2, so kann man K noch um A drehen; die Drehung erfaßt man durch den Winkel ψ. Man erhält

1.11 Koordinaten und Bindungen | 53

das Koordinatentripel q = (x, y, ψ) ; f =3.

Freiheitsgrad Andere Koordinaten sind möglich.

K ψ

A y

0

Abb. 1.11.2: Koordinaten einer Scheibe

x

3. Beweglich verbundene starre Scheiben in der Ebene Abbildung 1.11.3 zeigt zwei beweglich verbundene starre Scheiben K1 , K2 in der Ebene. In Abbildung 1.11.3a sind die Scheiben bei G durch ein Gelenk (Stift) verbunden. Gegenüber Abbildung 1.11.2 kommt die Koordinate ψ2 hinzu, die die Lage von K2 er­ faßt, wenn K1 festgelegt ist. Wir erhalten das Koordinatentupel q = (x, y, ψ1 , ψ2 ) ; f =4.

Freiheitsgrad

In Abbildung 1.11.3b gleitet der Stift in einem Langloch von Körper K2 , der Ort des Stifts ist mit s vermaßt. Im konkreten Fall kennt man die Form des Langlochs – es kann z. B. ein Kreisbogen sein – und man vermag aus der Kenntnis des Ortes von G und der Koordinaten s, ψ2 auf die Lage von K2 zurückzuschließen. Wir erhalten das Koordinatentupel q = (x, y, ψ1 , s, ψ2 ) ; f =5.

Freiheitsgrad

K1

K1 ψ2 y 0 (a)

ψ1

s

G

A x

Abb. 1.11.3: Starre Scheiben in der Ebene

K2

y 0 (b)

ψ1

ψ2 G K2

A x

54 | 1 Statik des starren Körpers

4. Flexible Scheibe in der Ebene Abbildung 1.11.4a zeigt eine ebene Rechteckscheibe aus einem verformbaren Werkstoff in unbelastetem Zustand. Es wird z. B. ein (0, x, y)-Koordinatensystem gewählt, und jeder Punkt P der Scheibe erhält in dieser Bezugs- oder Referenzlage ein Koordinaten­ paar – z. B. P(x, y) – zugewiesen, mit dessen Hilfe er in Abbildung 1.11.4b angespro­ chen wird. Da die „Referenzkonfiguration“ zwei Koordinaten erfordert, nennt man die Scheibe ein zweidimensionales oder ebenes (begrenztes) Kontinuum.

P(x,y)

y+v (x,y) P(x,y)

y

0 (a)

x

(b)

0

x+u (x,y)

Abb. 1.11.4: Flexible Scheibe in Ebene. (a) Referenzkonfiguration, (b) verzerrte Scheibe

Abbildung 1.11.4b zeigt die durch irgendwelche Lasten verzerrte Scheibe (die Lasten sind nicht gezeichnet). Die Verschiebungen des Punktes P(x, y) sind durch die Koordi­ natenfunktionen u(x, y) in x-Richtung, v(x, y) in y-Richtung erfaßt. Man erhält q = (u(x, y), υ(x, y)) ; (funktionaler) Freiheitsgrad

f =2.

Die Art der Funktionen, ihre Stetigkeitseigenschaften usw. hängen von der Belastung und dem Werkstoff ab (sie sind z. B. stetig, wenn die Scheibe nicht zerreißt). Beispiele für Koordinaten im Raum 1. Punkt im Raum Den Punkt P nach Abbildung 1.11.5 erfaßt man zum Beispiel durch kartesische Koordinaten

q = (x, y, z) ,

Zylinderkoordinaten³

q = (ϱ, φ, z) ,

Kugelkoordinaten⁴

q = (r, φ, ϑ) ; Freiheitsgrad

3 Punkte mit ϱ = konstant liegen auf einem Zylinder. 4 Punkte mit r = konstant liegen auf einer Kugel.

f =3.

55

1.11 Koordinaten und Bindungen |

z

ϑ

z

r

y

0

P

P

P

0

ρ

0 φ

x

(a)

φ

(b)

(c)

Abb. 1.11.5: Koordinaten eines Punktes im Raum. (a) Kartesische Koordinaten, (b) Zylinderkoordinaten, (c) Kugelkoordinaten

2. Starrer Körper im Raum In Abbildung 1.11.6a sei der Punkt P des Körpers K durch die Koordinaten (x, y, z) fest­ gelegt. Der Körper kann sich dann noch um P drehen. Um die Drehungen zu erfassen, denken wir uns in der Körperstellung von Abbildung 1.11.6a die Geraden g1 und g2 parallel zur x- bzw. y-Achse und durch P laufend im Körper befestigt. Werde nun die Gerade g1 um P nach g󸀠1 geschwenkt; g󸀠2 verbleibe in der Ebene z = const., vgl. Ab­ bildung 1.11.6b. Die Stellung von g󸀠1 wird durch die Winkel (φ, ϑ) beschrieben. Der Körper kann sich nun noch um die Achse g󸀠1 drehen; diese Drehung wird als Winkel ψ zwischen den Geraden g󸀠2 und g󸀠󸀠 2 gemessen, vgl. Abbildung 1.11.6c. Man erhält das Koordinatentupel q = (x, y, z, φ, ϑ, ψ) . Der starre Körper im Raum hat den Freiheitsgrad f =6. Die Winkelkoordinaten (φ,̃ ϑ, ψ) := (φ + 90°, ϑ, ψ) heißen Eulersche Winkel. K

K

K

z

z g‘1

g1 P x

g2 0

g‘2

g‘‘ 2

ϑ

ψ

P

φ

0

x

0

x

φ

φ y

y (a)

ϑ P

φ

z g‘‘ 1 =g‘1

(b)

y (c)

Abb. 1.11.6: Koordinaten eines Körpers im Raum. (a) Punkt P festgelegt, (b) Achse g 󸀠1 festgelegt, (c) Achse g 󸀠󸀠 2 festgelegt

56 | 1 Statik des starren Körpers

1.11.2 Bindungen Soll ein zunächst bewegliches System oder Gebilde im Raum festgelegt werden, so muß man seine Bewegungsmöglichkeiten aufheben, es „binden“, „fesseln“ oder „zwängen“. Definition: Eine Bindung hat die Wertigkeit a, wenn sie a Bewegungsmöglichkeiten aufhebt, wenn sie a (neben-)Bedingungen für Koordinaten setzt, zum Beispiel a Ko­ ordinatenwerte vorschreibt. Beispiele für Bindungen in der Ebene 1. Festes Gelenklager Abbildung 1.11.7a zeigt den vom festen Gelenklager gehaltenen Körper, Abbil­ dung 1.11.7b den gelösten Körper und Abbildung 1.11.7c die Lagerkräfte. Man entnimmt Abbildung 1.11.7: Das feste Gelenklager liefert zwei Bindungen, x = 0 und y = 0, hat also die Wertigkeit a = 2. Den zwei Bindungen entsprechen im allgemeinen zwei Kräfte (oder Kraftkomponenten) A x ≠ 0, A y ≠ 0. 2. Verschiebliches Gelenklager Entsprechend Abbildung 1.11.7 zeigt Abbildung 1.11.8 die Verhältnisse am ver­ schieblichen Gelenklager. Man hat es hier mit der einen Bindung y = 0, also a = 1 und demgemäß einer Kraft A ≠ 0 zu tun. 3. Undehnbare Stange In Abbildung 1.11.9a ist eine undehnbare Stange der Länge l gelenkig am festen Punkt 0 (Ursprung des x-y-Koordinatensystems) und am Punkt A eines Körpers angeschlossen. Man hat es hier mit der einen Bindung x2 + y2 = l2 , also a = 1, und demgemäß mit der einen Kraft S ≠ 0 zu tun. (Der Winkel α stellt sich in den Abbildungen 1.11.9a, b je nach der Belastung ein.) 4. Starre Einspannung eines Balkens Abbildung 1.11.10a zeigt einen starr eingespannten Balken, Abbildung 1.11.10b den gelösten Balken und Abbildung 1.11.10c die Lagerreaktionen. Man liest die drei Bindungen x = 0, y = 0, ψ = 0, also a = 3, ab und findet entsprechend zwei Kräfte A x ≠ 0, A y ≠ 0 sowie ein Moment MA ≠ 0. Hinweis: Die Zusammenhänge zwischen Bindungen und Kräften wie Momenten wer­ den besonders deutlich, wenn man mit dem Prinzip der virtuellen Verrückungen ar­ beitet (vgl. Abschnitt 1.21).

1.11 Koordinaten und Bindungen | 57

A y A

Ax

0 (a)

x

Ay

(b)

(c)

Abb. 1.11.7: Festes Gelenklager

A y A 0 (a)

x

A

(b)

(c)

Abb. 1.11.8: Verschiebliches Gelenklager

A

y

A

α l S

α 0

x

(a)

(b)

Abb. 1.11.9: Bindung durch eine undehnbare Stange

ψ

y

MA

A 0 Schnitt (a)

Ax

x

Ay (b)

Abb. 1.11.10: Bindungen beim eingespannten Balken

(c)

58 | 1 Statik des starren Körpers

Beispiele für Bindungen im Raum Wir beschränken uns auf zwei Prinzipskizzen von „Raumgelenken“ mit Bindungen der Wertigkeiten a = 2 bzw. a = 3. Aufgabe: Man formuliere Bindungsgleichungen für die Körper K nach Abbildung 1.11.11a, b (Dazu muß man geeignete Koordinaten einführen und die Gelenke verma­ ßen). Welche Kräfte und Momente können auftreten?

K

(a)

K

(b)

Abb. 1.11.11: Raumgelenke

1.11.3 Statisch bestimmte Lagerung starrer Körper Definition: Ein System starrer Körper (Scheiben) heißt statisch bestimmtgelagert, wenn die Wertigkeit a der Bindungen den Freiheitsgrad f gerade aufhebt, f −a =0, und sich zu beliebig vorgegebenen Lasten alle Lagerkräfte allein aus den Gleichge­ wichtsbedingungen der Statik ermitteln lassen. An Hand der Beispiele in Abschnitt 1.11.1 sieht man unmittelbar ein, daß die Bedin­ gung f − a = 0 für ein Festhalten der Körper geometrisch notwendig ist. Sie ist jedoch nicht hinreichend, denn man kann zum Beispiel den Körper K1 in Abbildung 1.11.3a durch zwei feste Gelenklager halten („überbestimmen“, a = 2 + 2 = 4) und ψ2 offen­ lassen. Dann ist zwar f − a = 0 erfüllt, doch das System bleibt beweglich; formales Abzählen genügt also nicht. Der starre Körper in der Ebene (die Scheibe) hat den Freiheitsgrad f = 3 (Abbil­ dung 1.11.2), man kann für ihn drei Gleichgewichtsbedingungen ansetzen (vgl. Ab­ schnitt 1.10.1). Bei geometrischer Festlegung mit a = f = 3 treten nach Abschnitt 1.11.2 drei unbekannte Lagerkräfte oder -momente auf. Die Gleichgewichtsbedingungen ge­ nügen gerade, um die drei Lagerkräfte (und evtl. -momente) zu berechnen. Die Be­ dingung f − a = 0 ist also auch statisch notwendig (aber nicht hinreichend), um

1.11 Koordinaten und Bindungen |

59

die Lagerkräfte aus den Gleichgewichtsbedingungen zu ermitteln. Durch Abzählen erweitert man diese Aussage auf allgemeinere Systeme. Für den starren Körper im Raum mit f = 6, zum Beispiel, gelten die sechs Gleichgewichtsbedingungen nach Ab­ schnitt 1.10.3. Beispiele für statisch bestimmte Lagerungen in der Ebene Abbildung 1.11.12 zeigt eine starre Scheibe, die bei A gelenkig gelagert und gegen Dre­ hung durch den gelenkig angeschlossenen Stab BC gesichert ist; die Lasten sind nicht eingetragen.

C

Ay

B

A Ax B (a)

(b)

Abb. 1.11.12: Statisch bestimmt gelagerte Scheibe

Man hat den Freiheitsgrad f = 3 und die Bindungen der Wertigkeit a = 2 + 1 = 3; die Bedingung f − a = 0 ist erfüllt. Abbildung 1.11.13 zeigt zwei gelenkig verbundene Scheiben (Lasten nicht gezeich­ net). Man hat den Freiheitsgrad f = 4 und Bindungen der Wertigkeit a = 4; die Bedin­ gung f − a = 0 ist erfüllt.

G A

B

D

C

Abb. 1.11.13: Statisch bestimmt gelagertes Scheibensystem

1.11.4 Statisch unbestimmte Systeme Statisch unbestimmt heißen Systeme, bei denen sich die Kräfte nicht allein aus den Gleichgewichtsbedingungen der Statik bestimmen lassen.

60 | 1 Statik des starren Körpers

Beispiel für ein System, das „im Großen“ beweglich ist Für das System nach Abbildung 1.11.14 gilt ohne Lager A: f = 3; Wertigkeit der Bindung bei A: a = 2. Es folgt: f − a = 3 − 2 = 1. Das gebundene System hat noch den Frei­ heitsgrad f g = 1, es dreht sich unter der Wirkung der Kraft F. Die Drehung muß mit den Hilfsmitteln der Kinetik untersucht werden (vgl. Abschnitt 3.8).

F A

Abb. 1.11.14: Im Großen bewegliches System

Beispiel für ein System, das „im Kleinen“ beweglich ist Im System nach Abbildung 1.11.15a sind das Lastmoment M0 und der Abstand l ge­ geben. Ohne die Lager A und B hat die Scheibe den Freiheitsgrad f = 3, die Lager gemeinsam haben die Wertigkeit a = 3; die Bedingung f − a = 0 ist erfüllt. Ist das System statisch bestimmt? Die Gleichgewichtsuntersuchung an Hand von Abbildung 1.11.15b ergibt ∑ F xi = 0 :

Ax + B = 0 ,

+ ↺ (B) ∑ Mi = 0 :

B

A

∑ F yi = 0 :

Ay = 0 ,

− M0 − lA y = 0 .

C

Ax

M0

B

Ay

M0

l (a)

(b)

C

A c (c) Abb. 1.11.15: Im Kleinen bewegliches System

M0 B

1.11 Koordinaten und Bindungen |

61

Die zweite und die dritte Gleichung widersprechen sich. In der Matrizenform dieses Gleichungssystems, 0 Ax 1 0 1 (0 1 0) ( A y ) = ( 0 ) , −M0 B 0 l 0 wirkt sich das so aus, daß die Koeffizientendeterminante verschwindet. Zur anschaulichen Deutung nehmen wir an, daß sich der Stab BC unter der Wir­ kung des Moments M0 ein wenig dehnt. Dann stellt sich der Körper schräg (in Abbil­ dung 1.11.15c übertrieben gezeichnet), und für die Stabkraft B bildet sich bezüglich A der Hebelarm c aus. Das Momentengleichgewicht um den Punkt A im zugehörigen Freikörper-Bild liefert −M0 + Bc = 0 ,

also

B = M0 /c .

Für einen sehr wenig verformten Stab, d. h. für ein sehr kleines c, erhält man also eine sehr große Stabkraft B. Das bedeutet, die Annahme eines starren Stabes – gleichwer­ tig eines starren Körpers oder starrer Lager – ist hier nicht erlaubt, denn die auftre­ tenden Kräfte wachsen über alle Grenzen. Anders gesehen: Ein kleines Moment M0 genügt, um das System so weit zu verformen, daß sich ein (kleiner) Hebelarm c aus­ bildet und damit Gleichgewicht möglich wird. Das System ist „im Kleinen beweglich“ („wacklig“); die Kräfte hängen auch von den Verformungen ab. Beispiel für ein System mit „zuvielen“ Bindungen Für die in Abbildung 1.11.16 gezeigte Brücke gilt f = 3 und a = 4. Man erhält 3 Gleichge­ wichtsbedingungen für 4 unbekannte Kräfte. Hier muß die Verformung berücksichtigt werden; vgl. Abschnitt 2.12 Auch Systeme mit „zuvielen“ Bindungen können „wacklig“ sein. F A

B

C Abb. 1.11.16: Vierwertig gelagerte Brücke

Zusammenfassung Die notwendige Bedingung f − a = 0 stellt nur die richtige Anzahl von Gleichun­ gen sicher (Gegenbeispiele zeigen die Abbildungen 1.11.14 und 1.11.16). Für statische Bestimmtheit hinreichend ist die Bedingung, daß die Koeffizientendeterminante des Gleichungssystems nicht verschwindet, daß die Koeffizientenmatrix regulär ist (Ge­ genbeispiel in Abbildung 1.11.15a).

62 | 1 Statik des starren Körpers

1.12 Beispiele zur Bestimmung von Lagerkräften 1.12.1 Kragträger Gegeben ist der Kragträger ABC mit den Abmessungen a, b nach Abbildung 1.12.1, be­ lastet mit den Kräften F1 und F2 (unter dem Winkel α angreifend) sowie den Momen­ ten M1 , M2 . Gesucht sind die Lagerreaktionen bei A. F2 B

A

M1

α C

M2

a

F1

b

Abb. 1.12.1: Kragträger, belastet mit Kräften und Momenten

Lösung (nach Schema): 1. Lageplan gegeben; f = 3, a = 3, f −a = 0: Die notwendige Bedingung für statische Bestimmtheit ist erfüllt. 2. Freikörper-Bild (s. Abbildung 1.12.2).

y Ax

F2

MA

B

A

x

a Ay

3.

M1 α

M2 b

C F1

Abb. 1.12.2: Freigeschnittener Kragträger

Gleichgewicht. ∑ F xi = 0 :

A x + F2 cos α = 0 ,

∑ F yi = 0 : A y + F2 sin α + F1 = 0, + ↺ (A) ∑ M i = 0 : − MA − M2 + M1 + aF2 sin α + bF1 = 0 .

4. Unbekannte und Gleichungen zählen. 3 Unbekannte: A x , A y , MA ; 3 Gleichungen. 5. Gleichungen lösen. A x = −F2 cos α , A y = −F1 − F2 sin α , MA = M1 − M2 + aF2 sin α + bF1 . 6.

Ergebnis skizzieren (s. Abbildung 1.12.3).

1.12 Beispiele zur Bestimmung von Lagerkräften

F2

MA

M1

α

F2 cos α

| 63

M2

F1

F1+F2 sin α

Abb. 1.12.3: Lagerreaktionen am Kragträger

1.12.2 Mit Stäben gestütztes System Gegeben ist die Rechteckscheibe nach Abbildung 1.12.4, Breite 2a, Höhe b; gestützt durch drei Stäbe S1 , S2 und S3 (S2 und S3 parallel, unter dem Winkel α geneigt); be­ lastet durch die Kraft F und das Moment M0 . Gesucht: Stabkräfte S1 , S2 , S3 .

F

a

a 3

b

M0 α

1

2

Abb. 1.12.4: Rechteckscheibe, mit Stäben gestützt

Lösung (nach Schema): 1. Lageplan gegeben; f = 3, a = 3, f − a = 0. 2. Freikörper-Bild (s. Abbildung 1.12.5). B b A

F

α b· cos α

S3 M0

S1

S2

α

y

x

Abb. 1.12.5: Rechteckscheibe, freigeschnitten

64 | 1 Statik des starren Körpers

3./4./5. Gleichgewicht/Abzählen/Lösen. Ziel: Die gesuchten Kräfte unabhängig voneinander bestimmen, damit sich Re­ chenfehler nicht fortpflanzen können (vgl. Hinweis 4 in Abschnitt 1.10.1). S1 und S2 schneiden sich in A, deshalb + ↺ (A) ∑ Mi = 0 :

− S3 b cos α − Fa − M0 = 0 ,

also

S3 = −(Fa + M0 )/(b cos α) .

also

S2 = (Fa + M0 )/(b cos α) .

S1 und S3 schneiden sich in B, deshalb + ↺ (B) ∑ Mi = 0 :

S2 b cos α − Fa − M0 = 0 ,

S2 , S3 sind parallel, deshalb y-Achse senkrecht zu S2 , S3 wählen; es gilt ∑ F yi = 0 : 6.

− S1 cos α − F cos α = 0 ,

also

S1 = −F .

Ergebnis skizzieren (s. Abbildung 1.12.6). Bei cos α → 0, d. h. für α → 90°, wird das System wacklig. Das Stützen durch drei parallele Stäbe muß man also ausschließen. F (F a + M0) b cos α M0

F

(F a + M0) b cos α

Abb. 1.12.6: Kräfte an Rechteckscheibe

1.12.3 Räumliches System Gegeben ist ein auf einer Konsole stehender Motor (vgl. schematischen Lageplan in Abbildung 1.12.7a). Motor und Konsole sind durch sechs Stäbe S1 , . . . , S6 gehalten; die Stabanschlußpunkte sind reibungsfreie Kugelgelenke. Die Abmessungen b, h1 , h2 , l1 und l2 sind bekannt. Das Motorgewicht G greift senkrecht im Mittelpunkt des Quaders, das Moment greift wie skizziert an. Gesucht sind die Stabkräfte S1 bis S6 . Lösung (nach Schema): 1. Lageplan gegeben; f = 6, a = 6, f − a = 0. Koordinatensystem (0, x, y, z) ge­ mäß Abbildung 1.12.7b gewählt. Es ist zweckmäßig, die folgenden (Hilfs-)Größen einzuführen: 󵄨󵄨󳨀→󵄨󵄨 l := l1 + l2 , h := h2 − h1 , L := 󵄨󵄨󵄨AC󵄨󵄨󵄨 = √l2 + b 2 + h2 , 󵄨 󵄨 󳨀󳨀→ 󳨀󳨀→ OA =: r A := le x + h1 e z , OG =: r G := (l1 + l2 /2)e x + (b/2)e y .

1.12 Beispiele zur Bestimmung von Lagerkräften

C

l1

h2

B A

1 2

G 3

S6

S5

6

5 4

l2 S4

h1 b

S1

M (a)

z 0

(b)

B

A

y G x

S2

| 65

M

S3

Abb. 1.12.7: Konsole mit Motor. (a) Lageplan, (b) Freikörper-Bild

2.

Freikörper-Bild (s. Abbildung 1.12.7b). Die eingetragenen Kräfte lauten S 1 = −S1 e x ,

S2 = −S2 e y ,

S 3 = −S3 e z ,

S 6 = S6 (−le x + be y + he z )/L ,

G = −Ge z ,

S 4 = −S4 e x ,

S5 = S5 e y ,

M = Me y .

3./4./5. Gleichgewicht/Abzählen/Lösen (gemischtes Vorgehen). Alle unbekannten Kräfte S i außer S6 schneiden die y-Achse oder fallen darauf; deshalb Moment um die y-Achse: (0)

∑ M yi = 0 :

M ⋅ e y + (r A × S 6 ) ⋅ e y + (r G × G) ⋅ e y = 0 ;

man erhält

M − S6 l(h + h1 )/L + (l1 + l2 /2)G = 0 , S6 = [2M + (2l1 + l2 )G]L/(2lh2 ) . ∑ F yi = 0 : (0)

∑ M xi = 0 :

−S2 + S 6 ⋅ e y = −S2 + S6 b/L = 0 ; S5 b − Gb/2 + (r A × S6 ) ⋅ e x = 0 ;

man erhält

S2 = S6 b/L .

man erhält

S5 = G/2 + S6 h1 /L . (0)

∑ M zi = 0 :

S4 b + (r A × S 6 ) ⋅ e z = S4 b + S6 lb/L = 0 ;

man erhält

S4 = −S6 l/L . (B)

6.

∑ M zi = 0 :

−S1 b = 0 :

∑ F zi = 0 :

−S3 + S5 + S 6 ⋅ e z − G = 0 ;

man erhält

S1 = 0 . man erhält

S3 = −G/2 + S6 h2 /L .

Zur Kontrolle berechne man auch S3 aus einem Momentengleichgewicht.

66 | 1 Statik des starren Körpers

1.13 Mehrteilige Körper (Systeme) in der Ebene Aufbauend auf den Überlegungen in den Abschnitten 1.10 und 1.11 wird hier die Gleichgewichtsuntersuchung mehrteiliger Systeme entwickelt, wobei wir uns auf die Ebene beschränken.

1.13.1 Abzählen der Unbekannten und der Gleichungen Gegeben sind zwei Körper K1 und K2 in der Ebene, die nach Abbildung 1.13.1a bei G gelenkig miteinander verbunden und bei A, B, C gestützt sind. Die (nicht gezeichnete) Belastung sei beliebig. Gesucht sind die Stützkräfte und die Gelenkkräfte. Lösung: Nach Abschnitt 1.11.1 (vgl. Bild l.11.3a) gilt f = 4, a = 4. Die für statisch bestimmte Lagerung notwendige Bedingung f − a = 0 ist erfüllt. Wir gehen in zwei Stufen vor: Zuerst denken wir uns das Gelenk G „eingefroren“ (vgl. das Erstarrungsprinzip in Axiom 8) und schneiden nur die Stützen weg; man erhält das in Abbildung 1.13.1b gezeigte Freikörper-Bild. Das von seinen Stützen freigeschnittene System kann man (wegen des eingefrorenen Gelenks) als starren Körper ansehen und dann drei Gleich­ gewichtsbedingungen anschreiben. Man gewinnt also drei Gleichungen für die vier

K1 A

G

K2

K1

C

B A

(a)

(b)

K1

Gy

Gx

Gx

Gy A

G

B

(c) Abb. 1.13.1: Zwei-Körper-System

K2

Cx Cy

B

K2

Cx Cy

1.13 Mehrteilige Körper (Systeme) in der Ebene | 67

Unbekannten Kräfte A, B, C x , C y (die Richtungen von A und B sind durch die Stab­ richtungen gegeben). Die fehlende vierte Bedingung folgt aus der hier nicht erfaßten Gelenkigkeit bei G. In der zweiten Stufe heben wir die Erstarrung des Gelenks auf und trennen die Kör­ per voneinander sowie von den Stützen; man erhält die beiden in Abbildung 1.13.1c ge­ zeigten Freikörper-Bilder mit den beiden zusätzlichen, unbekannten Kräften G x , G y . Beide Körper haben jeweils den Freiheitsgrad 3, f1 = 3 ,

f2 = 3 ,

man kann also 6 Gleichgewichtsbedingungen für sie anschreiben. Dem stehen an den Stützen Bindungen mit der Wertigkeit a = 2+2 und am Gelenk „zusätzliche“ Bindungen mit der Wertigkeit z = 2 gegenüber. (Der zweiwertigen zu­ sätzlichen Bindung entsprechen die zwei Gelenkkraftkomponenten G x , G y zwischen den beiden Körpern.) Es gilt f1 + f2 − a − z = 6 − 6 = 0 , die Anzahl der unbekannten Kräfte ist gleich der Anzahl der Gleichgewichtsbedingun­ gen. Bei n Körpern in der Ebene stehen insgesamt 3n Gleichungen zur Verfügung. Dort lautet die notwendige Bedingung für statische Bestimmtheit 3n − a − z = 0 . Hinweis: Die aus dem Schnitt nach Abbildung 1.13.1b gewonnenen Gleichungen kann man durch passende Umformungen der Gleichungen für Abbildung 1.13.1c herleiten, die ersten sind nicht unabhängig von den zweiten (man kann z. B. also nicht 3n + 3 Gleichungen auf diese Weise anschreiben). Im allgemeinen ist es vorteilhaft, das erste Schnittbild auf jeden Fall zu benutzen und sich die fehlende(n) Gleichung(en) mit Hilfe des zweiten anzuschreiben.

1.13.2 Beispiel „Gerberträger“ Gegeben: Träger nach Abbildung 1.13.2 mit Gelenk bei G; Längen l1 , l2 , l3 , l4 , l5 ; Las­ ten M0 und F mit dem Winkel α. Gesucht: Auflagerkräfte. l5 A

M0

l1

F B

C α

G

l2

l3

l4

Abb. 1.13.2: Gerberträger mit Kraft und Moment

68 | 1 Statik des starren Körpers

M0

Ax Ay

α

G B

F

Ay

C

(a)

Gy

M0

Ax

α

Gx

F

Gx B

1

Gy 2

(b)

C

Abb. 1.13.3: Freigeschnittenes System. (a) Gesamtsystem, (b) Teilsysteme

Lösung: 1. Lageplan gegeben; a = 4, f = 4; a + z = 6. 2. Schnittbilder (vgl. Abbildung 1.13.3). 3./4./5. Gleichgewicht/Abzählen/Lösen. Man kann mit den Schnittbildern nach Abbildung 1.13.3b arbeiten und schema­ tisch sechs Gleichungen mit sechs Unbekannten anschreiben. Vorteilhafter ist das folgende „gemischte“ Vorgehen. Auswertung von Abbildung 1.13.3a: ∑ F xi = 0 :

A x + F cos α = 0 ,

also

A x = −F cos α .

Auswertung von Abbildung 1.13.3b: Teilsystem 2 + ↺ (G) ∑ Mi = 0 :

Cl3 − (l3 + l4 )F sin α = 0 ,

also

C = (1 + l4 /l3 )F sin α ,

+ ↺ (C) ∑ Mi = 0 :

G y l3 − l4 F sin α = 0 ,

also

G y = (l4 /l3 )F sin α ;

Teilsystem 1 + ↺ (A) ∑ Mi = 0 :

G y (l1 + l2 ) + Bl1 − M0 = 0 , also

+ ↺ (B) ∑ Mi = 0 :

B = M0 /l1 − (1 + l2 /l1 )(l4 /l3 )F sin α ,

G y l2 − M0 − A y l1 = 0 , also

A y = −M0 /l1 + (l2 /l1 )(l4 /l3 )F sin α .

1.13.3 Schnitte an einem Gelenk mit Last Die Form und der Aufbau eines Lastangriffspunktes, die Art und Weise, wie eine Last in einen Körper „eingeleitet“ wird (vgl. die Lager in den Abbildungen 1.10.5a und 1.10.6a), machen sich nur in der unmittelbaren Umgebung der Einleitungsstelle bemerkbar. Weiter entfernt wirken sich die Einzelheiten der Lasteinleitung nicht aus. Wir erläutern das beispielhaft an Hand von Abbildung 1.13.4a, wo „am Gelenk G“, vgl. Abbildung 1.13.4b, die Last F angreift.

1.14 Stabwerke | 69

F A

B

G C

G l (a)

S

r

(b)

Abb. 1.13.4: Lastangriff am Gelenk

Zuerst greife die Kraft F am Stift S von Abbildung 1.13.4b an. Trennen des Gelenks in linkes Auge, Stift und rechtes Auge liefert als Schnittkräfte die vier Gelenkkräf­ te G l,r x,y nach Abbildung 1.13.5a. Nach Abschnitt 1.5.3 gelten für den Stift zwei Gleich­ gewichtsbedingungen. Damit kann man zwei Gelenkkräfte durch die beiden anderen und durch F ausdrücken. Für die verbliebenen Gelenkkräfte gelten die Überlegungen in Abschnitt 1.13.1. Gyl

Gyl Gxl Gxl

Gyr

Gyr

Gyr

Gxr Gxr F

(a)

Gxr

Gyr

Gyl

Gxr

Gxl

F (b)

Gyl Gxl F

(c)

Abb. 1.13.5: Unterschiedliche Schnitte am Gelenk

Stellt man sich den Stift mit der Kraft F in das linke oder das rechte Auge gesteckt vor (vgl. Abbildungen 1.13.5b bzw. c), so bedeutet dies jeweils einen anderen Schnitt, wobei G lx,y bzw. G rx,y „eliminiert“ sind. (Die Kraft F könnte dann auch unmittelbar am linken bzw. rechten Auge angreifen.) Für die verbliebenen Gelenkkräfte gelten wieder die Aussagen von Abschnitt 1.13.1. Wir erkennen: Je nach Aufbau der Krafteinleitung und Schnittwahl berechnet man unterschiedliche Gelenkkräfte. Jedoch ist es nur für das Gelenk selbst (für sei­ ne Beanspruchung) wichtig, wie die Kräfte dort angreifen. Die übrigen Lager- und Schnittkräfte sind unabhängig von der Form der Krafteinleitung und dem gewählten Gelenkschnitt.

1.14 Stabwerke Als Stabwerke (auch Fachwerke bezeichnet man Baukonstruktionen, die aus gelenkig miteinander verbundenen Stäben bestehen, die nur Zug- oder Druckkräfte und keine Momente übertragen, vgl. Abbildung 1.14.1. Die Verbindungsstellen heißen „Knoten“. Äußere Kräfte greifen nur an den Knoten an. Längs eines Stabes angreifende Kräfte, z. B. sein Gewicht, werden auf die Knoten an seinen Enden umgelegt.

70 | 1 Statik des starren Körpers

a

a

a

a

F1 h B

A F2

Abb. 1.14.1: Stabwerk

Abb. 1.14.2: Knotenblech

Bei der realen Konstruktion sind die Stäbe an den Knoten oft über „Knotenbleche“ miteinander vernietet oder verschweißt, vgl. Abbildung 1.14.2. Die dort übertragenen Momente werden – weil klein – in der Rechnung vernachlässigt; es genügt meistens, das einfachere Stabwerk mit den gelenkigen Knotenpunkten zu untersuchen.

1.14.1 Berechnen der Stabkräfte Bei der Berechnung von Stabwerken geht es zunächst um die von den Lasten (z. B. den Kräften F1 , F2 in Abbildung 1.14.1) hervorgerufenen Stabkräfte und die Spannun­ gen in den Stäben, um die Haltbarkeit. (Die Längenänderungen der Stäbe und die dadurch bedingten Verschiebungen der Knotenpunkte, die Stabwerksverformungen, werden im Abschnitt 2.4 untersucht.) Bei – gegenüber den Abmessungen – kleinen Stabwerksverformungen, das ist die Regel, werden die Stabkräfte am unverformten System berechnet.

Lösungsweg Bei statisch bestimmten Stabwerken (s. unten) empfiehlt es sich, die Stabkräfte in zwei Schritten zu ermitteln: 1. Stabwerk als Ganzes freischneiden und alle auf die Knoten wirkenden äußeren Kräfte bestimmen. Im Stabwerk mit s Stäben und k Knoten die Stäbe mit i = 1, . . . , s, die Knoten mit j = 1∗ , . . . , k ∗ durchnumerieren. (Statt 1∗ , 2∗ , . . . fin­ det man in der Literatur auch römische Ziffern.) 2. Stabkräfte S i durch selektives Abschneiden von Knoten oder Auseinanderschnei­ den von Stabwerksteilen aus Gleichgewichtsbedingungen berechnen. Bei den Schnitten werden die Stabkräfte stets für Zug positiv (S i > 0) eingeführt (vgl. Abbildungen 1.14.3b und 1.14.4).

1.14 Stabwerke | 71

Statische Bestimmtheit Wir beschränken uns auf ebene Stabwerke. Im einfachen Fall hat das Fachwerk – bereits freigeschnitten – die (ausgezogen gezeichnete) Dreiecksform von Abbildung 1.14.3a, wo die gegebenen äußeren Kräfte F 1 , F 2 , F 3 eine Gleichgewichtsgruppe bil­ den mögen. Abbildung 1.14.3b zeigt die Schnittbilder der Knoten 1∗ , 2∗ , 3∗ mit den äußeren Kräften F1 , F2 , F3 und den Schnittkräften S1 , S2 , S3 (Richtungen und Orien­ tierungen aus Lageplan). F2

F2 4

2* 1

4*

S1

2 5

F1 1*

F4

3

(a)

3*

F1

F3

1*

(b)

S1

2* S2 S2

S3 S 3 3*

F3

Abb. 1.14.3: Einfaches Stabwerk. (a) Aufbau, (b) Stabkräfte

Jeder Stabwerksknoten muß im statischen Gleichgewicht sein. Dann gelten für ihn, sagen wir in der x -y-Ebene, die zwei Gleichgewichtsbedingungen ∑ F xi = 0 ,

∑ F yi = 0 ,

vgl. Abschnitt 1.5.3. (Das Momentengleichgewicht ist stets erfüllt, weil alle am Knoten angreifenden Kräfte durch den Knotenpunkt gehen.) Da die Richtungen bekannt sind, kann man aus den zwei Gleichgewichtsbedingungen an jedem Knoten (bis zu) zwei unbekannte Stabkräfte berechnen (oder bekannte kontrollieren). Hinweis 1: In die Berechnung der Stabkraft S i gehen die vorher berechneten Stabkräf­ te, auch die Lagerkräfte, ein: Rechenfehler pflanzen sich fort! Hinweis 2: Beim (unbelasteten!) T-Knoten nach Abbildung 1.14.4 liegen die beiden Stäbe 1 und 2 auf einer Geraden, der Stab 3 ist senkrecht oder schräg dazu gerichtet. Dann gelten S1 = S2 , und Stab 3 ist ein Nullstab, S3 = 0. (Übungsaufgabe!).

S1

2

1

S2

3 S3

Abb. 1.14.4: T-Knoten im Stabwerk

72 | 1 Statik des starren Körpers

Augenscheinlich ist das Stabwerk nach Abbildung 1.14.3a statisch bestimmt. Fügt man schrittweise Knoten hinzu, die jeweils von zwei neuen Stäben gehalten werden (in Ab­ bildung 1.14.3a gestrichelt: Knoten 4∗ und Stäbe 4, 5; geänderte Gleichgewichtsgrup­ pe F 1 , F 2 , F 3 , F 4 ), so bleiben wir bei einem einfachen Fachwerk, bei dem die Knoten bzw. die Stabkräfte nacheinander abgearbeitet werden können. Insbesondere bleibt die statische Bestimmtheit bei dieser Aufbauregel gewahrt. Durch Induktion erhält man die Abzählbedingung für statische Bestimmtheit: 2k = s +3 , k Anzahl der Knoten, s Anzahl der Stäbe. Diese Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend, vgl. Abschnitt 1.11.4. Zwei einfache Stabwerke kann man als starre Scheiben ansehen (vgl. Abschnitt 1.11.3) und durch ein Gelenk (an Knoten) oder durch Stäbe zu einem – im allgemei­ nen nicht einfachen – Fachwerk verbinden. Auch wenn man Stäbe, also Knoten-Ver­ bindungen, austauscht, vgl. Abbildung 1.14.6, kann man nicht-einfache (nicht auf die einfache Aufbauregel rückführbare) Stabwerke erhalten. Für statische Bestimmtheit muß die Abzählbedingung in allen Fällen erfüllt sein.

1.14.2 Berechnen der Stabkräfte einfacher Fachwerke Gegeben sei das vierfeldrige Fachwerk nach Abbildung 1.14.1, Feldweite a, Höhe h, wie gezeigt gelagert und durch die Kräfte F1 , F2 belastet. Gesucht sind die Stabkräfte. Lösung auf dem Weg aus Abschnitt 1.14.1: 1. Abbildung 1.14.5 zeigt das freigeschnittene Stabwerk mit der Stab- und Knotennu­ merierung. Die Gleichgewichtsbedingungen für das Stabwerk als Ganzes liefern A x = −F1 , A y = (−hF1 + aF2 )/4a ,

B = (hF1 + 3aF2 )/4a .

2.

Stabkräfte S i : Ausgehend, zum Beispiel, von Knoten 10∗ hangelt man sich so von Knoten zu Knoten durch das Stabwerk, daß man jeweils (nicht mehr als) zwei (noch) unbekannte Stabkräfte aus den gegebenen Lasten und den bereits ermit­ telten Stabkräften berechnet. (Im Beispiel beginnt die Folge mit 10∗ , 5∗ , 4∗ , 9∗ .)

F1

1* 1 2* 2 3* 3 4* 4 5* 6 5

Ax

8 7

9

12 10 11

13

10* 6* 14 7* 15 8* 16 9* 17 F2 Ay B

Abb. 1.14.5: Freigeschnittenes Stabwerk

1.14 Stabwerke | 73

Aufgabe 1: Vervollständigen Sie die angedeutete Folge und berechnen Sie die Stab­ kräfte S1 bis S17 . (Kontrollmöglichkeit unten durch Ritter-Schnitte.) Aufgabe 2: Kennzeichnen Sie – ohne zu rechnen – in Abbildung 1.14.5 die Nullstäbe. Aufgabe 3: Gegeben ist das nicht-einfache Stabwerk nach Abbildung 1.14.6, Lagerab­ stand a, Höhe h = a, Längen l = a, belastet durch die Kraft F. (Ist die Abzählbe­ dingung erfüllt?) Gesucht sind die 9 Stabkräfte. (Lösungshinweis: Hier müssen Sie die Gleichgewichtsbedingungen für mehrere Knoten gemeinsam ansetzen und nach den Stabkräften auflösen. Symmetrien ausnutzen!)

F

a

h l

l

A

B Abb. 1.14.6: Nicht-einfaches Stabwerk

1.14.3 Der Rittersche Schnitt Grundgedanke des Ritterschen Schnitts: Statt beim Lösungsschritt 2 zum Berech­ nen der Stabkräfte einzelne Knoten freizuschneiden, wird das ganze Stabwerk (an einer geeigneten Stelle) geschnitten, vgl. Abbildung 1.14.7a. Dann treten die Stab­ kräfte (S2 , S8 , S15 in Abbildung 1.14.7b, Numerierung wie in Abbildung 1.14.5) als – gegenüber Abbildung 1.14.7a – neue Schnittkräfte heraus. Sie müssen sich mit den äußeren Kräften an den als starren Scheiben angesehenen Teilsystemen 1 und 2 das Gleichgewicht halten.

F1

a

Schnitt

2*

F1 h

Ax

Ay

F2

B

Ax

Ay

7* 1

S2 S2 S8

S8

S15

S15

3*

8* F2 2

Abb. 1.14.7: Stabwerk. (a) Gesamtsystem, (b) Teilsysteme nach Ritter-Schnitt

B

74 | 1 Statik des starren Körpers

Da das Gesamtsystem im Gleichgewicht ist, kann man für die beiden Teilsysteme (insgesamt) drei neue Gleichgewichtsbedingungen anschreiben (vgl. Abschnitt 1.13.1), also drei unbekannte Stabkräfte (hier S2 , S8 , S15 ) bestimmen. Drei linear unabhängige Gleichgewichtsbedingungen lauten und liefern (mit A y und B aus Lösungsschritt 1 in Abschnitt 1.14.2) aus Teilsystem 1 Moment um Knoten 7∗ : + ↺ (7∗ ) ∑ M i = 0 : −aA y − hF1 − hS2 = 0 , also S2 = −F1 − a/h ⋅ A y , aus Teilsystem 2 + ↺ (3∗ ) ∑ Mi = 0 : ∑ F yi = 0 :

2aB − aF2 − hS15 = 0 , −S8

h √ a2

+ h2

also

− F2 + B = 0 ,

a (2B − F2 ) , h √ a2 + h2 S8 = (B − F2 ) . h

S15 = also

Aufgabe: Berechnen Sie die übrigen Stabkräfte des Stabwerks mit Hilfe geeigneter Rit­ ter-Schnitte. Hinweis 1: Die Ritterschen Schnitte eignen sich vor allem zum Berechnen einzelner Stabkräfte. Durch geeignet formulierte Gleichgewichtsbedingungen lassen sich die Stabkräfte unabhängig voneinander berechnen und Fehlerfortpflanzung vermeiden. Hinweis 2: Vor allem lange Stabwerke, z. B. Fachwerkbrücken, lassen sich als Balken ansehen, wo – nach Ritter-Schnitt – die Diagonalstäbe (die Stäbe 6, 8, 10, 12 in Abbil­ dung 1.14.5) die jeweilige Querkraft aufnehmen müssen, während die Gurtstäbe (Stä­ be 1, 2, 3, 4 und 14, 15, 16, 17) die Biegungen übertragen (vgl. Abschnitt 1.18).

1.15 Überlagerung von Lösungen (Superposition) 1.15.1 Aufgabenstellung Es ist vorteilhaft, verwickelt zusammengesetzte Belastungen in einfachere „Lastfäl­ le“ zu zerlegen, dafür jeweils die gesuchten Kräfte und Momente zu berechnen und die entsprechenden Ergebnisse zu addieren. Man nennt dies Überlagern oder Super­ ponieren von Teillösungen. Solches Vorgehen ist immer möglich, wenn die gegebenen und die gesuchten Größen linear zusammenhängen. (In der Technik spricht man von der „Anwendbarkeit des Superpositionsprinzips“.) Wir zeigen das Vorgehen an Hand eines Beispiels.

1.15.2 Beispiel Dreigelenkbogen Gegeben: Dreigelenkbogen (Brücke) nach Abbildung 1.15.1a mit den Abmessungen h, l1 , l2 , s1 , s2 , den Gewichten G1 , G2 und der bei a (0 ≤ a ≤ l1 ) angreifenden Kraft F.

1.15 Überlagerung von Lösungen (Superposition)

G

G1

G2

s1

s1 Ax

B

S1

Gy

Gx

Gx

G Gy

h

G1

Ay

s2 l1

F

a S2

S1 A

75

F

a

h

|

S2 s 2 G2 l2

l1

Bx By

l2

(a)

(b)

Abb. 1.15.1: Dreigelenkbogen

Gesucht: Lagerkräfte bei A und B, Gelenkkräfte in G. Lösung (nach Schema): 1. Lageplan liegt vor. 2. Freikörper-Bilder (s. Abbildung 1.15.1b). 3. Gleichgewicht. In Matrizenschreibweise lauten 6 (unabhängige) Gleichgewichtsbedingungen für die 6 gesuchten Kräfte A x , A y , B x , B y , G x , G y : 1 0 (0 ( (0 0 (0

0 1 0 0 0 0

0 1 (0 =( (0 0 s ( 1

1 0 0 1 0 0

Ax 0 0 0 0 Ay 1 1 0 0 ) ( ) ( 0 h l2 ) ( B x ) ( 0 = 0 −1 0 ) ( B y ) ( 0 Gx 1 0 −1 0 0 −h l1 ) ( G y ) (s1

0 0 0 1 1 1 G1 (0 0 −s2 ) )( 0 )+ ( (0 0 0 ) 0 0 1 0 s a 0 ) ( 1

0 0 1 1 G1 0 −s2 ) )( F ) 0 0 ) G2 0 1 a 0 )

0 0 0 1 1 1 0 (0 0 −s2 ) ) (F ) + ( (0 0 0 ) 0 0 1 0 s a 0 ) ( 1

0 0 1 1 0 0 −s2 ) )( 0 ). 0 0 ) G2 0 1 a 0 )

Anstatt diese Gleichungen (z. B. numerisch) zu lösen, stellen wir die folgende Überle­ gung an: Die obige Matrizengleichung ist linear und hat die Form Lf = Mg = M g1 + M g2 + M g3 . Dabei bezeichnet L die quadratische 6 × 6-Koeffizientenmatrix auf der linken Seite und M die rechteckige 6 × 3-Koeffizientenmatrix auf der rechten. Die 6-elementige

76 | 1 Statik des starren Körpers

Tab. 1.15.1: Zusammenstellung der Lösungen Kraft

Lastfall 1

2

3



Ax

G1 s1 l2 h(l1 + l2 )

Fal2 h(l1 + l2 )

G2 s2 l1 h(l1 + l2 )

(G1 s1 + Fa)l2 + G2 s2 l1 h(l1 + l2 )

Ay

G1 (l1 + l2 − s1 ) l1 + l2

F(l1 + l2 − a) l1 + l2

G2 s2 l1 + l2

(G1 + F)(l1 + l2 ) − G1 s1 − Fa + G2 s2 l1 + l2

Bx



Gy



G1 s1 l1 + l2

By Gx

G1 s1 l2 h(l1 + l2 )



G1 s1 l2 h(l1 + l2 ) G1 s1 l1 + l2

Fal2 h(l1 + l2 ) Fa l1 + l2



Fal2 h(l1 + l2 )



G2 s2 l1 h(l1 + l2 )



G2 (l1 + l2 − s2 ) l1 + l2 −

Fa l1 + l2

G1 s1 + Fa + G2 (l1 + l2 − s2 ) l1 + l2

G2 s2 l1 h(l1 + l2 ) −

(G1 s1 + Fa)l2 + G2 s2 l1 h(l1 + l2 )



(G1 s1 + Fa)l2 + G2 s2 l1 h(l1 + l2 ) G1 s1 + Fa − G2 s2 l1 + l2

G2 s2 l1 + l2

Spaltenmatrix f enthält die gesuchten Kräfte (in anderen Fällen auch Momente), f = (A x , A y , B x , B y , G x , G y )T . Die 3-elementige Spaltenmatrix g enthält die gegebenen Lasten, g = (G1 , F, G2 )T . Sie ist in der zweiten Zeile in die Summe g = g 1 + g 2 + g 3 = (G1 , 0, 0)T + (0, F, 0)T + (0, 0, G2 )T zerlegt. Entsprechend dieser Zerlegung setzen wir an: f = f1 + f2 + f3 und L f 1 = M g1 ,

L f 2 = M g2 ,

L f 3 = M g3 .

Wegen des linearen Zusammenhangs von f und g kann man f aus den Lösungen f i der drei letzten Gleichungen zusammensetzen. Anstatt dies zu tun, interpretieren wir diese Gleichungen als Gleichgewichtsbedingungen für die in Abbildung 1.15.2 rechts gezeigten drei „Lastfälle“, aus denen sich die Ausgangsbelastung zusammensetzen läßt.

1.16 Definitionen und Erklärungen | 77

F

A

G

G2

G1

F

G

B

~

A

B

G1

+

G

A

Lastfall 1

G

B Lastfall 2

+

A

G2

B

Lastfall 3

Abb. 1.15.2: Zerlegung einer Belastung in Lastfälle

Jetzt lösen wir den Lastfall 1 (mit Hilfe obiger Gleichungen oder auf andere Wei­ se); das Ergebnis steht in Spalte 1 von Tabelle 1.15.1. Lastfall 2 geht offensichtlich aus Lastfall 1 hervor, indem man G1 durch F und s1 durch a ersetzt. Lastfall 3 geht (durch Spiegeln) aus Lastfall 1 hervor, indem man die Indizes 1 und 2 vertauscht sowie A y in B y , A x in −B x , B x in −A x , G y in −G y umbenennt.

Schwerpunkt und Massenmittelpunkt 1.16 Definitionen und Erklärungen 1.16.1 Schwerefeld Jeder Körper, z. B. auch die Erde, besitzt ein Gravitationsfeld: Auf einen Nachbarkör­ per wird eine Kraft ausgeübt. Diese Kraft heißt Gewichtskraft, kurz Gewicht, wenn der erste Körper ein Himmelskörper und der zweite klein dagegen ist; das Gravitationsfeld nennt man dann auch Schwerefeld. Die Gewichtskräfte hängen nach Betrag und Richtung von der gegenseitigen Lage der Körper ab. Bei veränderter Lage, vgl. Abbildung 1.16.1a, gilt für dasselbe Körper­ paar G1 ≠ G2 .

G1

Gt

Erde G1 = G M (a)

G2 = G

(b)

Abb. 1.16.1: Gewichtskräfte. (a) entfernt von der Erde, (b) im gleichförmigen Schwerefeld

78 | 1 Statik des starren Körpers

In einem hinreichend beschränkten Bereich kann man die Gewichtskräfte jedoch als ortsunabhängig (konstant und parallel) ansehen; das Schwerefeld ist dort gleich­ förmig, vgl. Abbildung 1.16.1b. Das Gewicht ist proportional zur Masse m des Körpers, die ein (universelles) Maß für seine Stoffmenge ist: G = mg . Der Proportionalitätsfaktor g ist die örtliche Schwere- oder Fallbeschleunigung (s. Ab­ schnitte 3.5.1, 3.5.2). Im beschränkten Bereich eines gleichförmigen Schwerefeldes ist die Schwerebe­ schleunigung konstant. Für Paris gilt der Normwert g = 9,80665 m/s2 . Wo nicht aus­ drücklich anders gesagt, setzen wir stets ein gleichförmiges Schwerefeld voraus und arbeiten mit dem üblichen Näherungswert g ≈ 9,81 m/s2 . In Skizzen sei das Ge­ wicht vertikal nach unten gerichtet, häufig weisen wir mit Vektoren G oder g darauf hin. Wenn sich die Richtung aus dem Zusammenhang versteht, schreibt man skalar G = mg.

1.16.2 Dichte, spezifisches Gewicht Annahmen und Definitionen Bei vielen Aufgaben aus Physik und Technik braucht man die atomistische Struktur der Stoffe nicht zu berücksichtigen. Dann sieht man den Körper als Kontinuum an, in dem der Stoff in der atomaren Größenordnung gleichförmig über das Volumen „ver­ schmiert“ ist. Denkt man sich einen solchen Körper in Volumenelemente ∆V zerlegt (vgl. das quaderförmige Element in Abbildung 1.16.2), so enthalte ein herausgegriffe­ nes Element ∆V die Masse ∆m (das Massenelement), die im homogenen Schwerefeld g das Gewicht ∆G = g ∆m aufweist (Gewichtselement).

Δm

ΔV

Abb. 1.16.2: Körper als Kontinuum

Für den Körper als Kontinuum definiert man die Dichte: das spezifische Gewicht:

∆m , ∆V→0 ∆V ∆G γ := lim . ∆V→0 ∆V

ϱ := lim

1.16 Definitionen und Erklärungen

| 79

Wegen ∆G = g ∆m gilt γ = ϱg . Die Grenzübergänge dienen nur als Vorstellungshilfe zur mathematischen Deutung des Kontinuum-Modells; sie lassen sich physikalisch natürlich nicht durchführen. Im allgemeinen ist die Dichte über den Körper veränderlich, d. h., es gilt ϱ = ϱ(x, y, z) = ϱ(r), wo r den Ort bezeichnet (vgl. Abbildung 1.16.3). Die Dichte kann auch unstetig sein (z. B. bei Körpern aus unterschiedlichen Stoffen).

ri

∆Vi

V

Abb. 1.16.3: Diskretisierter Körper

Dimensionen dim ϱ = M/L3 , dim γ = K/L3 . Berechnen von Masse und Gewicht über Dichte und spezifisches Gewicht Gegeben: Körper mit Volumen V und Dichte ϱ = ϱ(r), s. Abbildung 1.16.3. Gesucht: Masse m des Körpers (Gewicht G). Lösung (an Hand von Abbildung 1.16.3): Das Volumen V wird in Volumenelemente ∆V i zerlegt (wird „diskretisiert“), so daß ϱ i := ϱ(r i ) in ∆V i etwa konstant ist. Dann enthält ∆V i die Masse ∆m i = ϱ i ∆V i , und die Körpermasse m ist die Summe ALLER ∆m i : m = lim ∑ ∆m i = lim ∑ ϱ i ∆V i . ∆V→0

∆V→0

(V)

(V)

Die Summen erstrecken sich über die Elemente i des Körpervolumens V (das ist die Bedeutung von (V) unter dem Summenzeichen; hier Zahlen für den i-Bereich zu set­ zen, würde wenig sagen). Grenzübergang ∆V → 0 (mit ∆V > ∆V i > 0) führt auf die Volumenintegrale m = ∫ dm = ∫ ϱ(r) dV = ∫ ϱ dV . V

V

V

Sie haben dieselbe Bedeutung wie die Summen nach dem Grenzübergang, lediglich die Schreibweise ist anders. (Bei einer Computerauswertung der Summen dürften die ∆V i wegen der numerischen Fehler eine bestimmte Grenze nicht unterschreiten!).

80 | 1 Statik des starren Körpers

Analog zum Vorgehen bei der Masse erhält man für das Gesamtgewicht die (Vektor-)Summe aller Teilgewichte: G = ∫ dG = ∫ γ(r) dV = mg . V

V

Sonderfälle und Hinweise Körper konstanter Dichte Mit ϱ(r) = ϱ folgt m = lim ∑ ϱ i ∆V i = ϱ lim ∑ ∆V i = ϱV . ∆V→0

∆V→0

(V)

(V)

In Integralschreibweise lautet dies m = ∫ ϱ(r) dV = ϱ ∫ dV = ϱV . V

V

Ebene Scheibe Gegeben: Ebene Scheibe nach Abbildung 1.16.4, Dicke h, Fläche A, Dichte ϱ(r) über Höhe konstant. Gesucht: Masse m.

∆A r 0

A h

V

Abb. 1.16.4: Scheibe

Lösung: Da ϱ sich über die Höhe h nicht verändert, kann man das Volumenelement „stabför­ mig“ wählen und erhält mit dessen „Länge“ h und dem (Stirn-)Flächenelement ∆A den Ausdruck ∆V = h ∆A sowie ∆m = ϱ ∆V = hϱ ∆A. Damit folgt m = h lim ∑ ϱ i ∆A i = h ∫ ϱ(r) dA . ∆A→0

(A)

A

Das Flächenintegral rechts hat dieselbe Bedeutung wie die Summe in der Mitte nach dem Grenzübergang. Im Sonderfall ϱ = const. erhält man wieder m = ϱhA = ϱV .

1.16 Definitionen und Erklärungen |

81

Zerlegung eines Körpers in Teilkörper: Es kann zweckmäßig sein, das Volumen V in Teilvolumina V1 , V2 , . . . zu zerlegen (vgl. Abbildung 1.16.5): m=

∫ ϱ dV = ∫ ϱ dV + ∫ ϱ dV + . . .

V 1 +V 2 +...

V1

V2

Die Integration ist „additiv“, es gilt: m = m1 + m2 + . . . ,

wo

m i := ∫ ϱ dV . Vi

V2 V1

V = V1 + V2 Abb. 1.16.5: Zerlegung von V in V 1 und V 2

1.16.3 Statische Momente, Schwerpunkt, Massenmittelpunkt Definition des statischen Moments Gegeben ist der massebehaftete Körper nach Abbildung 1.16.6 mit einem kartesischen Koordinatensystem. Gesucht ist das von den Gewichtskräften ausgeübte Moment um die x-Achse, wenn das Schwerefeld in die positive z-Richtung wirkt. (Zyklische Vertauschung der Koor­ dinaten, vgl. Abbildung 1.16.7, führt auf andere Fälle.)

x ∆G ∆V

0 y

z

Abb. 1.16.6: Körper mit Koordinatensystem

82 | 1 Statik des starren Körpers x

z

y

Abb. 1.16.7: Zyklische Koordinatenvertauschung

Lösung: Abbildung 1.16.6 zeigt die am Volumenelement ∆V angreifende Gewichtskraft ∆G für den Fall g = ge z . Sie übt um die x-Achse das Moment(-enelement) ∆M xz aus: ∆M xz = y ∆G = gy ∆m = gyϱ ∆V . Summation (Integration) über den Körper liefert M xz = ∫ y dG = g ∫ y dm = g ∫ yϱ dV . V

V

V

Zur Bedeutung dieser Volumenintegrale vergleiche man mit der Summenschreibweise in Abschnitt 1.16.2. Zyklisches Vertauschen der Koordinaten liefert M yx = ∫ z dG = g ∫ z dm = g ∫ zϱ dV , V

V

V

M zy = ∫ x dG = g ∫ x dm = g ∫ xϱ dV . V

V

V

Definition: Die Momente M xz usw. heißen statische Momente. Auch die durch g divi­ dierten Größen M xz = ∫ y dm g V

nennt man statische (Massen-)Momente (ersten Grades); das Schwerefeld dient nur zur anschaulichen Begründung. Es gelten: M xz = −M zx usw.; erster Index: Wirkung (Moment um x-Achse), zweiter Index: Ursache (Schwerefeld ge z ). Schwerpunkt als Massenmittelpunkt Da im gleichförmigen Schwerefeld alle ∆G eines Körpers parallel sind, kann man sie zum (resultierenden) Gewicht G (als Vektor) zusammenfassen, vgl. Abschnitte 1.8.3 und 1.9.2. Der Angriffspunkt von G ist der Schwerpunkt S, vgl. Abbildung 1.16.8. Ge­ mäß den genannten Abschnitten muß das Gewicht G jeweils die gleichen statischen Momente erzeugen wie die Einzelkräfte ∆G. Mit Abbildung 1.16.8 (und durch zyklische Vertauschung) ergeben sich G xS = M zy ,

G yS = M xz ,

G zS = M yx ,

1.16 Definitionen und Erklärungen | 83

x

xS 0 rS zS

yS

y S

z Abb. 1.16.8: Schwerpunkt eines Körpers

G

und es folgen xS =

1 1 ∫ xγ dV = ∫ xϱ dV , G m V

V

1 1 yS = ∫ yγ dV = ∫ yϱ dV , G m V

V

1 1 zS = ∫ zγ dV = ∫ zϱ dV . G m V

V

Diese Gleichungen kann man vektoriell zusammenfassen: xS 1 1 ∫ ϱr dV . r S = (yS ) = ∫ γr dV = G m zS V V Im gleichförmigen Schwerefeld ist der Schwerpunkt S körperfest, seine Lage also un­ abhängig vom gewählten Koordinatensystem. Er fällt hier mit dem Massenmittelpunkt C zusammen, dessen Lage durch den zuletzt angeschriebenen Ausdruck definiert ist. Ein Beispiel, bei dem man zwischen S und C unterscheiden muß, folgt unten. Da wir im übrigen nur Systeme betrachten, wo S und C aufeinanderfallen, brauchen wir sie nicht zu unterscheiden und sprechen weiter vom Schwerpunkt. Statische Momente um den Schwerpunkt verschwinden Der Ursprung des Koordinatensystems x∗ , y∗ , z∗ liege im Schwerpunkt S, Abbil­ dung 1.16.9. Aus mg r ∗S = g ∫ ϱr ∗ dV V

folgt wegen r ∗S = O: ∫ ϱr ∗ dV = O . V

Diese Beziehung wird auch in der Elastostatik (z. B. Abschnitt 2.8.4) und in der Kinetik (z. B. Abschnitte 3.15.2 und 3.19.2) ausgenutzt.

84 | 1 Statik des starren Körpers

∆V z* r* S

y*

x* Abb. 1.16.9: Körper mit Koordinatensystem im Schwerpunkt

Ebene Scheibe, Flächenmomente Gegeben: Ebene Scheibe mit Koordinatensystem nach Abbildung 1.16.10, Dicke h, Flä­ che A, Dichte ϱ konstant. Gesucht: Schwerpunktkoordinaten xS , yS .

y ∆A

z y S

h S

0

∆V xS x Abb. 1.16.10: Scheibe konstanter Dichte

Lösung: Parallel zur Masseberechnung der ebenen Scheibe im Abschnitt 1.16.2 erhält man aus den beiden ersten Schwerpunktgleichungen oben xS =

1 1 ∫ xϱh dA = ∫ x dA , ϱAh A A

A

yS =

1 1 ∫ yϱh dA = ∫ y dA . ϱAh A A

A

Die Ausdrücke ∫A x dA, ∫A y dA heißen Flächenmomente ersten Grades um die y- bzw. x-Achse, weil die ersten Potenzen x1 , y1 bei dA stehen.

Schwerpunkt bei ungleichförmigem Gravitationsfeld Abbildung 1.16.11 zeigt einen hantelförmigen Satelliten, der aus zwei gleichen Punkt­ massen m1 = m2 besteht, die durch eine masselose Stange verbunden sind. Sein Massenmittelpunkt C liegt dann in Stangenmitte. Nimmt der Satellit beim Umlauf um die Erde momentan die gezeigte Stellung an, so ist |G1 | ein wenig größer als |G 2 |; außerdem sind die beiden Kräfte nicht mehr parallel. Je nach Stellung verschiebt sich der Schwerpunkt S als Angriffspunkt der Resultierenden G1 + G2 ; vgl. die momen­

1.17 Praktische Schwerpunktbestimmung | 85

m1 G1

S

C m2 G2

Erde Abb. 1.16.11: Hantelförmiger Satellit

tane Lage von S in Abbildung 1.16.11. Da die Trägheitskraft im Massenmittelpunkt C angreift (vgl. Abschnitt 3.17.1), stellt sich ein solcher ungeregelter Satellit nach einiger Zeit radial.

1.17 Praktische Schwerpunktbestimmung 1.17.1 Körper mit Symmetrieebenen oder Symmetrieachsen Hat ein Körper eine zu einer Ebene oder Achse symmetrische Massenverteilung, so liegt der Schwerpunkt in der Ebene bzw. auf der Achse. In Abbildung 1.17.1 bezeichnet die strichpunktierte Linie die senkrecht auf der Bildebene stehende Symmetrieebene bzw. die Symmetrieachse. Wegen ∆m = ∆m󸀠 für r = r󸀠 verschwinden die statischen Momente um diese Linie für ein senkrecht zur Bild­ ebene gerichtetes Schwerefeld. Symmetrieachse oder -ebene

r‘ ∆m‘ ∆m S

r

Abb. 1.17.1: Schwerpunkt bei symmetrischem Körper

1.17.2 Mittellinien Denkt man sich einen glatt umrandeten Körper in infinitesimal dünne Streifen oder Scheiben zerschnitten, so bilden deren Schwerpunkte eine sogenannte Schwerelinie.

86 | 1 Statik des starren Körpers

S

a/2

a/2

Abb. 1.17.2: Dreieckförmige, ebene Scheibe

Hat ein Körper eine gerade Schwerelinie, vgl. z. B. Abbildung 1.17.2, so ist dies der Masseverteilung nach eine Mittellinie, die statischen Momente darum verschwinden, der Schwerpunkt liegt darauf.

1.17.3 Schwerpunktbestimmung durch Zerlegung Wir zeigen das Vorgehen für Flächen, also ebene Scheiben konstanter Dicke und Dich­ te entsprechend Abbildung 1.16.10. Gegeben seien die Fläche A, Abbildung 1.17.3, mit einer Zerlegung in n Teilflächen A i sowie die Abstände xSi der Teilschwerpunkte Si von einer Bezugslinie. Gesucht: Abstand xS des Gesamtschwerpunktes S von dieser Bezugslinie. xSi Ai Si

S

xS A

Abb. 1.17.3: Flächenzerlegung

Lösung: Den Flächenschwerpunkt haben wir im Anschluß an Abbildung 1.16.10 eingeführt. Es gilt n

n

AxS = ∫ x dA = ∑ ∫ x dA = ∑ xSi A i . A

i=1 A

i

i=1

Hier ist das Flächenintegral über A zunächst gemäß A = A1 + A2 + . . . additiv zerlegt (vgl. die Volumenzerlegung in Abbildung 1.16.5), und anschließend sind die Integrale über die Teilflächen A i durch die gegebenen Größen A i und xSi ausgedrückt. Mit obiger Formel kann man Flächenschwerpunkte einfach berechnen, wenn Teil­ schwerpunkte bekannt sind.

1.17 Praktische Schwerpunktbestimmung |

87

1. Beispiel I-Profil Gegeben ist das I-Profil nach Abbildung 1.17.4 mit den Abmessungen b 1 , b 2 , b 3 , h1 , h2 , h3 . Gesucht ist der Schwerpunktabstand xS . b1 xS2

S1

h1

xS3

S2 S

h2

h3

xS2

A1

b2

xS

A2

S3 A3

b3

Abb. 1.17.4: I-Profil

Lösung (vgl. Abbildung 1.17.4): Zerlegung in 3 Rechtecke A1 , A2 , A3 : 3

3

A = ∑ Ai = ∑ bi hi . i=1

i=1

Teilschwerpunkte: xS1 = h1 /2, xS2 = h1 + h2 /2, xS3 = h1 + h2 + h3 /2. Gesamtschwerpunkt: xS =

b 1 h21 + b 2 h2 (2h1 + h2 ) + b 3 h3 (2h1 + 2h2 + h3 ) . 2(b 1 h1 + b 2 h2 + b 3 h3 )

2. Beispiel Kastenquerschnitt Gegeben ist der Kastenquerschnitt nach Abbildung 1.17.5 mit den Abmessungen a1 , a2 , b1 , b2 , h1 , h2 . Gesucht ist der Schwerpunktabstand xS . b1 a1 yS h1

S2

xS2 x S1

S1

h2 a2

xS

y*

S x* b2

A2 A1

Abb. 1.17.5: Kastenquerschnitt

88 | 1 Statik des starren Körpers

Lösung (vgl. Abbildung 1.17.5): Zerlegung in 2 Rechtecke A1 , A2 : A = A1 − A2 = b 1 h1 − b 2 h2 . Teilschwerpunkte:

xS1 = h1 /2 ,

xS2 = a1 + h2 /2 .

Gesamtschwerpunkt:

A xS = A1 xS1 − A2 xS2 ,

also

b 1 h21 − b 2 h2 (2a1 + h2 ) . 2(b 1 h1 − b 2 h2 ) Die Schwerpunktkoordinate yS berechnet man entsprechend. Wenn man den Ursprung eines Koordinatensystems x∗ , y∗ in den Schwerpunkt S1 legt, so folgen x∗S1 = 0, x∗S2 = xS2 − xS1 = a1 + (h2 − h1 )/2 und (im Kopf zu rechnen) xS =

x∗S = −(A2 /A)x∗S2 .

1.17.4 Schwerpunktbestimmung durch Integration In den wenigsten technisch wichtigen Fällen der Schwerpunktbestimmung ist man gezwungen, die Volumen- oder Flächen-Integrale aus Abschnitt 1.16.3 wirklich auszu­ werten. Man arbeitet meistens mit Zerlegungen in „Elemente“ mit bekanntem Schwer­ punkt (ganz parallel zu Abschnitt 1.17.3); dann braucht man nur noch eindimensionale („gewöhnliche“) Integrale auszuwerten. Beispiel Dreieck Gegeben: Dreieckfläche nach Abbildung 1.17.6, Höhe h, Breite b 0 . Gesucht: Schwerpunkthöhe xS . Lösung (vgl. Abbildung 1.17.6): Das gezeigte Flächenelement ∆A = ∆x b(x) hat bezüglich der horizontalen Grundlinie das statische Moment x ∆A. Es gilt also h

A xS = ∫ x dA = ∫ xb(x) dx . A

h ∆A x

b(x)

xS 0

∆x

S

b0

Abb. 1.17.6: Dreieck

0

1.18 Normalkraft, Querkraft, Biegemoment bei Balken | 89

Der Strahlensatz liefert b(x) = b 0 (h − x)/h. Man erhält h

A xS =

b0 b0 h2 ∫(hx − x2 ) dx = . h 6 0

Mit A = b 0 h/2 ergibt sich xS = h/3.

Innere Kräfte und Momente bei Balken Lasten verursachen nicht nur Auflagerkräfte und Einspannmomente, sondern auch Beanspruchungen (Kräfte, „Spannungen“) im Inneren von Bauteilen. Als einfaches Beispiel wird hier, vorbereitend für genauere Untersuchungen im Abschnitt 2.8, der gerade Balken behandelt. Zusammenfassend bezeichnet man die inneren Kräfte und Momente als Schnitt­ größen, Schnittkräfte oder Spannungsresultanten.

1.18 Normalkraft, Querkraft, Biegemoment bei Balken 1.18.1 Grundgedanke: Aufschneiden des Balkens Gegeben sei ein dünner Balken unter der Einwirkung äußerer Lasten, wie er zum Bei­ spiel in Abbildung 1.18.1 gezeigt ist. Gesucht sind die durch die Last im Inneren des Balkens hervorgerufenen Kräfte und Momente. x

y z

F

A

C B l1

l2

Abb. 1.18.1: Belasteter Balken

Lösung: Wir wenden das Schnittprinzip, nach dem wir bisher Körper von ihren Bindungen frei­ geschnitten oder Mehrkörper-Systeme zerlegt haben, nun auf den Körper selbst an: Wir schneiden den Balken senkrecht zu seiner Achse an der Stelle x auf, trennen ihn in zwei Teile und machen dadurch die an der Schnittstelle, an den Schnittufern, wir­ kenden Kräfte und Momente sichtbar.

90 | 1 Statik des starren Körpers

Qz S ∆A

My

x

∆F

S Qy Mx

y

Mz

N x

(a)

z

(b)

Abb. 1.18.2: Verteilte Kräfte und Schnittgrößen am positiven Schnittufer

Abbildung 1.18.2a zeigt eine vergrößerte Ansicht des positiven Schnittufers (das in die positive x-Richtung weist). Am Flächenelement ∆A greift die Kraft ∆F an. (Das Flächenelement ist zu klein, um ein beachtenswertes Kräftepaar, also ein Moment, aufzunehmen.) Gemäß Abschnitt 1.9.2 kann man alle über das Schnittufer verteilt an­ greifenden ∆F im Querschnittsschwerpunkt S zu einer resultierenden Kraft und einem resultierenden Moment mit je drei Komponenten zusammenfassen. Abbildung 1.18.2b zeigt im einzelnen N = N(x)

Normalkraft

in positive x-Richtung ,

Q y = Q y (x)

Querkraft

in positive y-Richtung ,

Q z = Q z (x)

Querkraft

in positive z-Richtung ,

M x = M x (x)

Moment

in positive x-Richtung ,

M y = M y (x)

Moment

in positive y-Richtung ,

M z = M z (x)

Moment

in positive z-Richtung .

Bei einer Belastung gemäß Abbildung 1.18.1 treten nur die Schnittgrößen N(x), Q z (x) und M y (x) auf. Man vereinfacht dann, bezeichnet Q z = Q = Q(x) als Querkraft und M y = M = M(x) als Moment schlechthin. Wir beschränken uns im folgendem auf die Überlegungen zu diesem vereinfachten Fall. (Den allgemeinen Fall löst man durch Überlagern von einfachen Fällen, vgl. Abschnitte 2.10.3 und 2.11.8.) Abbildung 1.18.3 zeigt den bei x geschnittenen Balken. Im Rahmen der vereinfachenden Annahme ersetzen die drei Schnittgrößen N, Q, M, wie sie in Abbildung 1.18.3 eingetragen sind, die inneren Kräfte. x

M

MQ

F α

A

N

C B

N l2

Q positives Schnittufer Abb. 1.18.3: Geschnittener Balken

negatives Schnittufer

1.18 Normalkraft, Querkraft, Biegemoment bei Balken | 91

Wichtig ist beim Schneiden von Körpern: Man muß in der Regel beide Schnitt­ ufer im Auge behalten und dabei das Reaktionsprinzip beachten: Die auf die beiden Schnittufer wirkenden Kräfte und Momente sind jeweils entgegengesetzt orientiert. Die durch den Schnitt entstandenen beiden Balkenteile müssen je für sich als starre Körper unter der Wirkung der sonstigen Lasten, der Lagerreaktionen und der Schnittgrößen, die jetzt als äußere Lasten aufgefaßt werden, im Gleichgewicht sein (vgl. Axiom 9). Vorzeichenkonvention und Symbolik Schnittgrößen untersucht man meistens mit Hilfe von festen Formelsätzen. Dabei muß man alle einmal eingeführten Vorzeichen stets beibehalten. Wir arbeiten mit der Vorzeichenkonvention gemäß obigen Abbildungen. Teilweise symbolisiert, faßt man sie gemäß Abbildung 1.18.4 oder Abbildung 1.18.5 zusammen.

M

x

M

Q

0 N Q

N Abb. 1.18.4: Schnitt mit positiven Schnittgrößen

z

x

N

N

Q

M

Q

M

Abb. 1.18.5: Balkenelement mit positiven Schnittgrößen

Merkregel für Vorzeichen: x-Achse nach rechts positiv, z-Achse nach unten positiv, N bei Zug positiv (s. Abbildung 1.18.5), Q am positiven Schnittufer nach unten positiv (wie z), M positiv, wenn es als „Biegemoment“ den Balken nach unten konvex biegt (s. Ab­ bildung 1.18.5). Man trägt N(x), Q(x) und M(x) in Diagrammen über x auf und erhält Normalkraft-, Querkraft- bzw. Momenten-Kurven (oder -„Linien“). Die Fläche zwischen x-Achse und jeweiliger Kurve heißt Normalkraft-, Querkraft- bzw. Momenten-Fläche, vgl. Abbil­ dung 1.18.8.

92 | 1 Statik des starren Körpers

1.18.2 Bestimmen der Schnittgrößen Vorgehensschema 1. Balken freischneiden und Lagerkräfte bestimmen. 2. Balken bereichsweise – bei x – schneiden und Schnittgrößen antragen. 3. Schnittgrößen aus Gleichgewichtsbedingungen bestimmen (abhängig von x). 4. Ergebnisse in Diagramme eintragen („Linien“ oder „Flächen“ zeichnen), „Eckda­ ten“ = ausgezeichnete Werte (Extrema, Nullstellen usw.) angeben. Hinweis: Die Gleichgewichtsbedingungen zu Punkt 3 kann man für den linken oder den rechten Balkenteil (als freigeschnittenen starren Körper) ansetzen. Für den jeweils zweiten Teil angeschrieben, liefern sie dieselben Werte für die Schnittgrößen (Kon­ trollmöglichkeit!), denn der Balken als Ganzes ist gemäß Punkt 1 im Gleichgewicht (vgl. Axiom 9). Beispiel (Lösung der Aufgabe aus Abschnitt 1.18.1) 1. Lagerkräfte bestimmen: Abbildung 1.18.6 zeigt das Ergebnis. F F cos α l2 l1 + l2

α l1

F sin α

l2

l1 l1 + l2

F sin α

Abb. 1.18.6: Balken mit Last und Lagerkräften

2.

Balken bereichsweise schneiden: Abbildung 1.18.7a zeigt Schnitt für den Bereich 0 < x < l1 , Abbildung 1.18.7b zeigt Schnitt für den Bereich l1 < x < l1 + l2 . x F cos α l2 (a)

l1 + l2

M

M

N

N

Q α

l1 + l2 F

l2

α l1

F sin α

x

(b) Abb. 1.18.7: Geschnittener Balken

l1

l2

F sin α Q

F cos α

l1 + l2

F

Q

M

M

N

N

F sin α

Q ξ

l1 l1 + l2

F sin α

1.18 Normalkraft, Querkraft, Biegemoment bei Balken |

3.

93

Schnittgrößen aus Gleichgewichtsbedingungen bestimmen. Bereich 0 < x < l1 ; linkes Teilsystem von Abbildung 1.18.7a zugrundegelegt: ∑ Fx = 0 :

N − F cos α = 0,

also

N = F cos α ,

∑ Fz = 0 :

Q − [l2 /(l1 + l2 )]F sin α,

also

Q = [l2 /(l1 + l2 )]F sin α ,

also

M = [xl2 /(l1 + l2 )]F sin α .

+ ↺ ∑ M (x) = 0 : M − [xl2 /(l1 + l2 )]F sin α = 0,

Bereich l1 < x < l1 + l2 ; rechtes Teilsystem von Abbildung 1.18.7b zugrundegelegt: Hilfsgröße ξ := l1 + l2 − x (vgl. Abbildung 1.18.7b); ∑ Fx = 0 :

−N = 0,

also

N =0,

∑ Fz = 0 :

−Q − [l2 /(l1 + l2 )]F sin α = 0,

also

Q = −[l1 /(l1 + l2 )]F sin α ,

+ ↺ ∑ M (x) = 0 : −M + [ξl1 /(l1 + l2 )]F sin α = 0,

4.

also M = [1 − x/(l1 + l2 )]l1 F sin α .

Diagramme Abbildung 1.18.8 zeigt die Verläufe der gefundenen Schnittgrößen N(x), Q(x) und M(x) mit den ausgezeichneten Werten. N

Normalkraftfläche

F cos α + 0

(a)

l2

l1

Q

l1 + l2 Querkraftfläche

l1 + l2 · F sin α 0

+

F sin α

l1 + l2 l1



x

x –

l1

l1 + l2 (b) · F sin α M l1 · l2 l1 + l2 · (c) F sin α 0

Momentenfläche + l1

l 1 + l2

x

Abb. 1.18.8: Schnittgrößenverläufe. (a) Normalkraftlinie, (b) Querkraftlinie, (c) Momentenlinie

94 | 1 Statik des starren Körpers

An Kraft- und Momenten-„Einleitungsstellen“ (in Abbildung 1.18.1 z. B. an den Lager­ stellen x = 0, x = l1 + l2 sowie bei x = l1 ) haben Kraft- bzw. Momentenlinien Sprünge, man muß zwischen den Werten links und rechts von der Einleitungsstelle klar unter­ scheiden (vgl. die Abbildungen 1.18.8a, b). Auf der Einleitungsstelle haben die Lini­ en keine Bedeutung. Sie sind hier und in der näheren Umgebung für die Beurteilung der Balkenbelastung unbrauchbar, weil der Schnitt nach Abbildung 1.18.2 dort nicht sachgerecht ist (vgl. die Überlegungen in Abschnitt 1.13.3). In der Regel sieht man die Einleitungsstellen als (Ausnahme-)„Punkte“ an und zieht die Linien bis dahin durch.

1.18.3 Streckenlasten (kontinuierlich verteilte Lasten) Die meisten Lasten greifen nicht punktförmig, sondern über eine gewisse Fläche oder Strecke „verteilt“ am Balken an. Betrachten wir als Beispiel die Belastung durch das Eigengewicht bei dem in Abbildung 1.18.9 skizzierten Kragbalken mit x-abhängigem Querschnitt A(x). Ein scheibenförmiges Element der Dicke ∆x an der Stelle x hat das Gewicht ∆G = γA(x) ∆x . Es liegt nahe, lim

∆x→0

∆G = γA(x) ∆x

als „spezifische (Quer-)Last“, d. h. als auf die Länge bezogene Last, einzuführen. Man definiert die Streckenlast q(x) := γA(x) .

x

∆x

A (x)

∆G

Abb. 1.18.9: Kragbalken mit Eigengewicht

Streckenlasten können auch durch Wind, elektromagnetische Felder usw. verursacht sein. Dimension dim q = K/L.

1.18 Normalkraft, Querkraft, Biegemoment bei Balken |

95

q = q0 q

q q0

q (x)

q = q0 (1 – x/l) l

(c) 0 (a)

0

l x

l x

q0

(b)

(d)

l1

l2 l

Abb. 1.18.10: Darstellungen von Streckenlasten

Im folgenden wird die Streckenlast in Form eines Diagramms gegeben oder als „pfeil­ gefüllte“ oder senkrecht gestrichelte Fläche über einem Balken dargestellt; Abbil­ dung 1.18.10 zeigt Beispiele.

1.18.4 Schnittgrößen bei Streckenlasten Gegeben: Balken nach Abbildung 1.18.11a, Länge l, belastet mit Streckenlast q(x) und Moment MA . Gesucht: Schnittgrößen und Auflagerkräfte. (Die Punkte 1, 2, 3 des Vorgehenssche­ mas nach Abschnitt 1.18.2 werden hier gemeinsam abgehandelt.) x

q (x)

MA A

B

Rand

(a)

Rand

l „Feld“ ∆ξ ξ

x–ξ

Q0

(b)

x

M (x)

M0

x

q (ξ) ∆ ξ Q (x)

Abb. 1.18.11: Balken mit Streckenlast

z

96 | 1 Statik des starren Körpers

Lösung in drei Schritten 1. Aufstellen von Feldgleichungen Der Balken wird „unmittelbar rechts“ vom Lager A, bei x = 0+, und an der (allge­ meinen) Stelle x geschnitten. In Abbildung 1.18.11b ist nur dieses linke Stück des Bal­ ken-„Feldes“ gezeichnet. Die Schnittgrößen unmittelbar rechts vom Lager, M0 := M(0+) ,

Q0 := Q(0+) ,

werden als freie (d. h. unbekannte) Größen eingeführt und sind zusammen mit Q(x) und M(x) gemäß den Vorzeichenregeln nach Abschnitt 1.18.1 in Abbildung 1.18.11b eingetragen. (Normalkräfte treten im vorliegenden Fall nicht auf.) Wir halten x, d. h. den Schnitt, fest und führen zusätzlich eine laufende Koordi­ nate ξ ein (0 ≤ ξ ≤ x), mit deren Hilfe wir das Lastelement (das „Lastpaket“) q(ξ) ∆ξ an der Stelle ξ erfassen, vgl. Abbildung 1.18.11b. Am betrachteten Balkenstück muß Gleichgewicht herrschen: In x-Richtung treten keine Kräfte auf; Kräfte in z-Richtung x

∑ Fz = 0 :

− Q0 + ∫ q(ξ) dξ + Q(x) = 0 ; 0+

Moment um Punkt x x + ↺ ∑ M (x) = 0 : − M0 − Q0 x + ∫ (x − ξ)q(ξ) dξ + M(x) = 0 . 0+

(Da die Integranden beschränkt sind, darf man in der unteren Integrationsgrenze 0+ durch 0 ersetzen.) Wir erhalten die Feldgleichungen: x

Q(x) = Q0 − ∫ q(ξ) dξ , 0

x

x

M(x) = M0 + xQ0 − ∫(x − ξ)q(ξ) dξ = M0 + xQ(x) + ∫ ξq(ξ) dξ . 0

0

In diesen Gleichungen sind Q0 und M0 zunächst unbekannt. 2. Formulieren von Randbedingungen Abbildung 1.18.12a, b zeigt die beiden Balkenenden – die „Balken-Randelemente“, kurz Balkenränder –, die von den Lagern A bzw. B freigeschnitten und vom Balken selbst bei x = 0+ bzw. x = l− abgeschnitten sind. (Wir stellen uns diese Randelemente „unendlich kurz“vor; vgl. Hinweis unten.)

1.18 Normalkraft, Querkraft, Biegemoment bei Balken | 97

Q (l–) MA

M0 = M (0+) A

M (l–) B

Q0 = Q (0+) (b)

(a) Abb. 1.18.12: Balken-Randelemente

Da in Abbildung 1.18.12 keine horizontalen Kräfte auftreten, gelten für die BalkenRandelemente je zwei Gleichgewichtsaussagen. Dies sind die Randbedingungen für den linken Rand: Q(0+) = A , M(0+) = MA , rechten Rand:

Q(l−) = −B ,

M(l−) = 0 .

Man sieht: Für jedes Ende des Balkens gibt es hier zwei Randbedingungen, eine Kraftund eine Momentenbeziehung. Ist das Ende nicht (vertikal) verschiebbar oder nicht verdrehbar, so drücken die entsprechenden Gleichungen nur die Lagerreaktionen durch die Schnittgrößen aus; in unserem Fall sind das A = Q(0+) ,

B = −Q(l−) .

Ist das Ende verschiebbar und/oder verdrehbar, so sind die entsprechenden Schnitt­ größen durch die Randvorgaben bestimmt; oben: M(0+) = M A ,

M(l−) = 0 .

Hinweis: Bezeichnungen wie x → 0+, x ↓ 0, x = 0+, M(0+); x → l−, x ↑ l, x = l−, Q(l−) usw. weisen darauf hin, daß wir unmittelbar rechts vom linken Lager und un­ mittelbar links vom rechten Lager geschnitten haben (daß wir mit infinitesimal kurzen Elementen arbeiten). Man kann auch x = 0, M(0), x = l, Q(l) usw. schreiben, wenn die Schnittstelle klar ist. Die saubere Unterscheidung ist bei Schnittgrößen wichtig, die in der Nachbarschaft des Schnittes springen, vgl. Abbildungen 1.18.8a, b. 3. Anpassen der Feldgleichungen an die Randbedingungen Die Feldgleichungen für Q(x) und M(x) müssen für x ↓ 0 und x ↑ l an die Randbedin­ gungen „passen“. Man erhält bei unserer Balkenlagerung l

für Q(x) :

A = Q(0+) = Q 0 ,

B = −Q(l−) = −Q0 + ∫ q(ξ) dξ , 0 l

für M(x) :

M A = M(0+) = M0 ,

0 = M(l−) = M0 + lQ0 − ∫(l − ξ)q(ξ) dξ . 0

98 | 1 Statik des starren Körpers

Im vorliegenden Fall ergeben sich die freien Größen Q0 and M0 beide aus den Momen­ tenbedingungen (das ist je nach Lagerungsart unterschiedlich). Sie lauten l

M0 = MA ,

1 Q0 = [−MA + ∫(l − ξ)q(ξ) dξ ] . l 0 ] [

Die Querkraftbedingungen liefern hier die Auflagerkräfte, nämlich l

A = Q0

und

1 B = [MA + ∫ ξq(ξ) dξ ] . l 0 ] [

Die beiden Ausdrücke in den eckigen Klammern kann man als Momente um die La­ gerpunkte B bzw. A interpretieren. Einsetzen der gefundenen Werte Q0 und M0 in die Feldgleichungen liefert die ge­ suchten Verläufe Q(x) und M(x) in allgemeiner Form. Aufgabe: Zu den gegebenen Streckenlasten q(x) = q0 , q0 x/l, q0 sin(πx/l), q0 (x − l/2)/l, q0 cos(2πx/l) berechne man A, B, Q(x), M(x) und zeichne die Querkraft- und Momentenlinien.

1.18.5 Differentialbeziehungen zwischen Streckenlasten, Querkräften und Biegemomenten Aus

x

Q(x) = Q0 − ∫ q(ξ) dξ 0

folgt durch Differentiation nach x: Q󸀠 (x) =

dQ = −q(x) . dx

Die negative Streckenlast ist gleich der Ableitung (Neigung) der Querkraftlinie. Analog dazu erhält man aus x

M(x) = M0 + xQ(x) + ∫ ξq(ξ) dξ 0

durch Differentiation nach x: M󸀠 =

dM = Q(x) + xQ󸀠 (x) + xq(x) = Q(x) . dx

Die Querkraft ist gleich der Ableitung (Neigung) der Momentenlinie. Mit Q󸀠 = −q(x), M 󸀠 = Q(x) liegen die Feldgleichungen als Differentialgleichungs­ paar vor. Zu deren Lösung gibt es eine wohlausgebaute Theorie (der „Randwertaufga­ ben“) und ausgefeilte Computerprogramme.

1.18 Normalkraft, Querkraft, Biegemoment bei Balken | 99

Formale (bestimmte) Integration der Differentialgleichungen führt neben der be­ kannten Gleichung x

x

Q(x) = Q0 − ∫ q(ξ) dξ

auf

M(x) = M0 + ∫ Q(ξ) dξ .

0

0

Deutung: Die Änderung der Querkraft (des Moments) zwischen den Stellen 0 und x ist gleich der negativen (positiven) Fläche unter der Streckenlastlinie (Querkraftlinie) zwischen ξ = 0 und ξ = x. Diese Aussagen eignen sich sehr gut zu einer Kontrolle des Vorgehens nach dem Sche­ ma von Abschnitt 1.18.2 (neigungen, Flächen vergleichen); die darauf aufgebauten for­ malen Lösungswege sind bei komplizierteren Belastungsfällen verwickelt. Beispiel Gegeben: Kragbalken AB, Länge l, belastet mit q(x) gemäß Abbildung 1.18.13: Drei­ eckslast mit Spitzenwert q0 . Gesucht: Lagerreaktionen bei A, Querkraft- und Momentenlinie.

q0

A

B l x

Abb. 1.18.13: Kragbalken mit Dreieckslast

Erster Lösungsweg : Formale Integration (Abbildungen 1.18.14a–d). Vorweg lesen wir aus Abbildung 1.18.13 für x = l die Randbedingungen Q(l) = 0 ,

M(l) = 0

ab (am Balkenende x = l wirken weder eine Kraft noch ein Moment). Den folgenden Rechengang ordnen wir parallel zu den Teilabbildungen 1.18.14a–d an: a)

Streckenlast

q(x) = q0 (1 − x/l) . x

b)

Querkraft

Q(x) = Q0 − ∫ q(ξ) dξ 0

= Q0 − q0 l[1 − (1 − x/l)2 ]/2 . Aus der Randbedingung Q(l) = 0 folgen Q0 = q0 l/2 und die Querkraftlinie Q(x) = q0 (l − x)2 /(2l) .

100 | 1 Statik des starren Körpers q q0

(a)

0

l

Q q0l

quadratische Parabel

2

(b)

x

0

l

x

M l

0

kubische Parabel

q0l2 – (c) 6 q0l

x

2 l q0l2 (d)

6

Abb. 1.18.14: Diagramme für Kragbalken mit Dreieckslast

x

c)

Moment

M(x) = M0 + ∫ Q(ξ) dξ 0

= M0 + q0 [l3 − (l − x)3 ]/(6l) . Aus der Randbedingung M(l) = 0 folgen M0 = −q0 l2 /6 und die Momentenlinie M(x) = −q0 (l − x)3 /(6l) . d)

Schnittgrößen am Lager Q(0) = q0 l/2 ,

M(0) = −q0 l2 /6 .

Zweiter Lösungsweg : Aufschneiden. Der Kragbalken wird an der Stelle x geschnitten und am betrachteten rechten Teil wird die Hilfskoordinate ξ := l − x eingeführt, vgl. Abbildung 1.18.15. Die Dreieckslast auf dem abgeschnittenen Stück hat die Größe (die Fläche) q0 (1 − x/l)ξ/2 ; ihr Schwerpunkt liegt nach Abschnitt 1.16.3 bei 2ξ/3; vgl. Abbildung 1.18.15.

1.19 Vorgänge bei Haftung und Reibung | 101

q0 (1 – x/l) Q S

M

2ξ/3 ξ

x

Abb. 1.18.15: Schnitt an Kragbalken mit Dreieckslast

Aus den Gleichgewichtsbedingungen folgen ∑ Fz = 0 :

−Q(x) + q0 (1 − x/l)ξ/2 = 0 ,

also die Querkraftlinie + ↺ ∑ M (x) = 0 :

Q(x) = q0 (l − x)2 /(2l) ; −M(x) − q0 (1 − x/l)(ξ/2)(ξ/3) = 0 ,

also die Momentenlinie M(x) = −q0 (l − x)3 /(6l) . Vergleich der beiden Lösungswege: Die Kenntnis der Dreiecksfläche entspricht der ers­ ten Integration, die Kenntnis des Dreiecksschwerpunkts der zweiten.

Haftung und Reibung 1.19 Vorgänge bei Haftung und Reibung Untersuchungen über Haftung und Reibung im Rahmen der Statik starrer Körper bau­ en auf Idealisierungen auf, mit denen man eine Vielzahl technischer Probleme hinrei­ chend genau behandeln kann. Eine Reihe von wichtigen Phänomenen, wie z. B. die unten erwähnten Kriechvorgänge, läßt sich damit jedoch nicht erfassen. Oberflächen natürlicher fester Körper sind rauh, vgl. Abbildung 1.19.1. Dies hat zwei Folgen: 1. Aufeinander ruhende Flächen „verhaken“ miteinander, auch ein lokales Ver­ schweißen und andere intermolekulare Vorgänge treten auf. Will man die Flä­ chen – tangential – gegeneinander bewegen, muß man sie erst „losreißen“, wozu P F

Abb. 1.19.1: Körper mit rauhen Oberflächen

102 | 1 Statik des starren Körpers

2.

eine Mindestkraft erforderlich ist. Wir sagen, die gegeneinander ruhenden Körper haften mit ihren Flächen aneinander und sprechen kurz von Haftung. Hat man die Haftung überwunden und bewegen sich die Flächen gegeneinander, so werden fortlaufend Haken abgeschert, Schweißstellen gebildet und wieder ab­ gerissen (dies ist zeitabhängig). Zum Aufrechterhalten der Bewegung ist wieder eine Kraft erforderlich. Wir sagen, die gegeneinander bewegten Körper reiben mit ihren Flächen aneinander und sprechen kurz von Reibung.

Häufig spricht man von „Haftreibung“ bzw. „Gleitreibung“ oder von „statischer Rei­ bung“ bzw. „kinetischer Reibung“. Diese einander ähnlich klingenden Bezeichnun­ gen und manche formalen Ähnlichkeiten in der rechnerischen Untersuchung verlei­ ten viele Anfänger dazu, Haftung und Reibung durcheinanderzuwerfen. Andererseits ist die scharfe Unterscheidung idealisiert: Bei Körpern aus Gummi und Weichplastik können sich Teile der Kontaktflächen momentan gegeneinander be­ wegen, während andere Teile zur selben Zeit haften. Wechseln diese Teile miteinander ab, so kommt es zum „Kriechen“. Solche Vorgänge können aber nicht mit den Hilfs­ mitteln der Statik allein untersucht werden.

1.20 Haftung Wir entwickeln das Vorgehen an Hand einer speziellen Aufgabe.

1.20.1 Beispiel einer Haftungsaufgabe Gegeben: In Abbildung 1.20.1 steht ein Mann vom Gewicht G an der Stelle a auf einer Leiter der Länge l (Leitergewicht vernachlässigbar), die unter dem Winkel α gegen eine Wand angelehnt ist. Oben stützt sich die Leiter über eine Rolle gegen die Wand, am Fußboden soll sie haften. Gesucht: Wie weit, bis zu welchem Wert a, darf der Mann die Leiter hinaufsteigen, ohne daß sie zu rutschen beginnt? Rolle A G

l a

α

µ0 B

Abb. 1.20.1: An Wand gelehnte Leiter

1.20 Haftung

|

103

Bezeichnung: Wir weisen auf haftende Flächen stets mit μ 0 , die unten eingeführte Haftungszahl, hin (vgl. Abbildung 1.20.1). Lösung: Eine Haftungsaufgabe löst man in zwei aufeinanderfolgenden Schritten: 1. Kräfte in den Flächenpaaren, die aufeinander gleiten könnten, bestimmen. 2. Für alle Flächenpaare prüfen, ob die jeweilige Haftungsbedingung erfüllt ist (vgl. Abschnitt 1.20.2).

A G α (a)

H

H N

N Abb. 1.20.2: Kräfte auf Leiter und Fußboden

(b)

Schritt 1: Kräfte auf Leiter. Die Kraft tangential zur Ebene, längs der der Körper gegebenenfalls rutscht, nennt man meistens Haltekraft H (auch „Haftkraft“), die Kraft senkrecht dazu Normal­ kraft N. Das Vorzeichen von H erkennt man im allgemeinen nicht im voraus; H ist eine Zwangskraft (eine Reaktionskraft), deshalb legt man die Orientierung von H willkür­ lich fest. Die Normalkraft N (ebenfalls eine Zwangskraft) wählt man bei Haftungs- und Reibungsaufgaben als Druck positiv. Errechnet man dann ein negatives N, so heben die Körper voneinander ab: Die Aufgabe oder die Annahmen sind unzulässig! Abbildung 1.20.2 zeigt die nach diesen Regeln freigeschnittene Leiter und den Fußboden. Für die Leiter, Abbildung 1.20.2a, gelten die folgenden Gleichgewichtsbe­ dingungen (x nach rechts, y nach oben positiv): ∑ Fx = 0 :

A−H =0,

also

A=H,

∑ Fy = 0 :

N−G=0,

also

N = G,

+ ↺ ∑ M (C) = 0 :

Ga cos α − Hl sin α = 0 ,

also

H = (a/l)G cot α .

Für den zweiten Schritt brauchen wir die Coulombsche Haftungsbedingung.

1.20.2 Die Coulombsche Haftungsbedingung Experiment: Ein ruhender Klotz, Abbildung 1.20.3, wird mit der Kraft P (einschließlich Gewicht) auf eine Unterlage gedrückt, dann wird mit der Kraft F daran gezogen.

104 | 1 Statik des starren Körpers

P F µ0 Abb. 1.20.3: Ruhender Klotz auf rauher Unterlage

Das Experiment zeigt: Der Körper rutscht nicht, solange die Coulombsche Haftungsbe­ dingung |F| < μ 0 P erfüllt ist, das heißt, solange die Zugkraft F dem Betrage nach kleiner als die mit μ 0 multiplizierte Druckkraft ist. Die Haftungszahl μ 0 ist näherungsweise unabhängig von der Größe der Kontaktfläche, hängt aber stark von der Werkstoffpaarung und dem Oberflächenzustand ab (geschmiert, ungeschmiert). Bei „anisotropen“ (d. h. richtungsstrukturierten) Oberflächen, z. B. Holz, hängt μ0 auch von dem Winkel zwi­ schen F und der Faserrichtung ab. Einige μ 0 -Werte für trockene Flächen sind in Tabelle 1.20.1 zusammengestellt. Tab. 1.20.1: Werte für Haftungszahlen Werkstoffpaarung

μ0

Stahl auf Stahl Metall auf Holz Stahl auf Eis Holz auf Holz

0,15 . . . 0,3 0,6 . . . 0,7 0,03 0,4 . . . 0,6

Haftungszahlen μ 0 > 1 sind möglich (man denke an Sandpapier auf den Kontaktflä­ chen)! Für unsere Untersuchung müssen wir die oben angegebene Form der Coulomb­ schen Haftungsbedingung umformen: Trennt man den in Abbildung 1.20.3 gezeigten Klotz von der Unterlage, so legt man die in Abbildung 1.20.4a und b gezeigten über die Kontaktfläche ungleichförmig verteilten Normal- und Tangentialkräfte (die „Span­ nungen“ σ und τ, vgl. Abschnitt 2.1.1) frei. Die Resultierenden dieser verteilten Kräfte P

P F

F

σ τ

τ (a)

H σ

(b)

Abb. 1.20.4: Spannungen und Kräfte auf Klotz und Unterlage

(c)

N

1.20 Haftung

| 105

sind in Abbildung 1.20.4c als Normalkraft N und Haltekraft H zusammengefaßt. Für den so freigeschnittenen Klotz lauten die Gleichgewichtsbedingungen ∑ Fx = 0 :

F−H =0,

∑ Fy = 0 :

N−P=0.

Die Bedingung für Momentengleichgewicht liefert, unter Berücksichtigung der Kör­ perabmessungen, den hier nicht interessierenden Angriffspunkt von N (meistens zeichnet man N einfach in die Flächenmitte). Mit F = H, P = N erhält die Coulombsche Haftungsbedingung die Form |H| < μ0 N . Damit ein Körper auf einem anderen haftet, muß die Haftkraft (Haltekraft) dem Betrag nach kleiner als die mit der Haftungszahl μ 0 multiplizierte Normalkraft sein. Von H wird der Betrag genommen, da das Vorzeichen gleichgültig ist. Gelegent­ lich schreibt man |H| ≤ μ 0 N und faßt die Gleichheit als Grenzfall auf. Zur geometrischen Deutung der Coulombschen Haftungsbedingung berechnet man zur Haftungszahl μ0 gemäß ϱ 0 := arctan μ0

oder

μ0 = tan ϱ 0

den Haftungswinkel ϱ 0 , vgl. Abbildung 1.20.5a.

ρ0

R

tan ρ0 N µ0

H 0 (a)

ρ0

π/2 (b)

Abb. 1.20.5: Deutungshilfen. (a) Haftungswinkel, (b) Haftungskegel

Mit dem Winkel ϱ 0 als (halbem) Öffnungswinkel zeichnet man den Haftungskegel nach Abbildung 1.20.5b. Faßt man nun die Kräfte N und H vektoriell zu ihrer Resul­ tierenden R=N+H zusammen, vgl. Abbildung 1.20.5b, so fordert die Coulombsche Haftungsbedingung, daß die Kraft R im „Inneren“ des Haftungskegels liegt.

106 | 1 Statik des starren Körpers

Schritt 2 zur Aufgabe aus Abschnitt 1.20.1: Haftungsbedingung. Für die in Schritt l gefundene Normalkraft N = G und die Haltekraft H = (a/l)G cot α lautet die (Coulombsche) Haftungsbedingung |(a/l)G cot α| < μ 0 G . Wegen H > 0 folgt daraus die gesuchte Aussage: Die Leiter rutscht nicht, wenn a < μ0 l tan α . Damit man bis a = l steigen kann, muß μ0 tan α > 1 sein; man muß die Leiter genü­ gend steil anstellen.

1.20.3 Haftung bei starren, statisch unbestimmten Systemen Statisch unbestimmte Haftungsaufgaben lassen sich, wie alle statisch unbestimm­ ten Aufgaben, nicht mit dem Modell des starren Körpers behandeln! Als Beispiel zeigt Abbildung 1.20.6a, b zwei Körper mit je zwei haftenden Kontaktflächen, für die man nach der „Losbrechkraft“ bzw. nach dem „Losbrechmoment“ fragt (das sind die Mindestkraft F ∗ bzw. das Mindestmoment M ∗ , um die Körper in Bewegung zu setzen). Die Schnitte in Abbildung 1.20.6c,d weisen jeweils die 4 unbekannten Kräf­ te N1 , H1 , N2 , H2 auf, die man aus den 3 Gleichgewichtsbedingungen allein nicht ermitteln kann; die Körper sind statisch unbestimmt gelagert. Das Erfüllt- oder Ver­ letzt-Sein der Haftungsbedingungen läßt sich bei statisch unbestimmten Systemen mit dem Modell des starren Körpers also nicht untersuchen. Wie die Haftungsaufgabe in Abschnitt 2.6.3 zeigt, muß man bei solchen Fragen die „relativen“ Steifigkeiten der Gebilde berücksichtigen. Man erkennt daran auch, daß der häufig benutzte Hinweis, man untersuche den „Grenzfall“, daß beide (oder mehr) Kontaktflächen „gleichzei­ tig“ zu rutschen begännen, im allgemeinen Fiktion ist. (Vgl. auch das zweite Beispiel in Abschnitt 1.21.2.) G1

G2

µ10 F

µ0

(a)

µ0

G1

G2

µ20

(b)

M r

F

M r

G

G

H (c)

Abb. 1.20.6: Statisch unbestimmt haftende Systeme

N2

H1 N1

H2 (d)

N2

H1 N1

1.21 Reibung |

107

1.21 Reibung 1.21.1 Das Coulombsche Reibungsgesetz Experiment: Ein mit der Kraft P belasteter Körper (Abbildung 1.21.1) wird mit konstan­ ter Geschwindigkeit v über eine „rauhe“ Ebene gezogen. Das Experiment zeigt: Für die zum Ziehen erforderliche Kraft F gilt das Coulombsche Reibungsgesetz F = μP .

v

P F

µ Abb. 1.21.1: Bewegter Körper

Die Reibungszahl μ ist näherungsweise unabhängig von der Größe der Kontaktflä­ che, hängt aber stark von der Werkstoffpaarung, dem Oberflächenzustand und auch von der Geschwindigkeit ab. Abbildung 1.21.2 zeigt zwei typische Verläufe von Rei­ bungs-„Kennlinien“. Das Fallen von μ mit steigendem v ist Ursache für eine Reihe von Ratter- und Quietschvorgängen (Kreide auf Tafel, knarrende Tür). µ µ0

µm

0

v0

v

Abb. 1.21.2: Typische Verläufe von Reibungs-Kennlinien

Die gestrichtelte Kennlinie gilt für kriechende Materialien, v0 liegt bei Bruchteilen von mm/s. Die Haftungszahl μ0 liegt in der Regel oberhalb μ. Meistens approximiert man μ(v) durch einen Mittelwert μ = μ m (strichpunktiert, der Index wird nicht geschrie­ ben). Oft findet man auch μ = μ m = μ 0 gesetzt, ohne daß es ausdrücklich gesagt wird. Tabelle 1.21.1 zeigt einige μ-Werte (Mittelwerte).

108 | 1 Statik des starren Körpers

Tab. 1.21.1: Werte von Reibungszahlen μ Werkstoffpaarung

trocken

gefettet

Stahl auf Stahl Metall auf Holz Stahl auf Eis Holz auf Holz Bremsbelag auf Stahl

0,15 (frißt) 0,4 . . . 0,5 0,015 0,2 . . . 0,4 0,5 . . . 0,6

0,01 0,1 – 0,08 0,3 . . . 0,5

v

P F

R

N

Abb. 1.21.3: Kräfte auf bewegtem Klotz

Ähnlich wie die Haftungsbedingung in Abschnitt 1.20.2 formen wir hier das Rei­ bungsgesetz um. Aus dem Schnittbild 1.21.3 liest man ab N=P,

F=R.

Die Zugkraft F muß die Reibungskraft R aufnehmen, die sich stets so einstellt, daß sie die Bewegung der aufeinander reibenden Flächen zu hemmen sucht. Einsetzen in die Beziehungen oben liefert das Coulombsche Reibungsgesetz R = μN ,

R hemmt Relativbewegung .

1.21.2 Beispiele Schiefe Ebene Gegeben: Ein Klotz, Gewicht G, wird nach Abbildung 1.21.4 eine schiefe Ebene hin­ aufgezogen, Neigungswinkel α, Reibungszahl μ. Gesucht: Erforderliche (horizontal wirkende) Kraft F.

µ v y

x

F α

G Abb. 1.21.4: Klotz auf rauher schiefer Ebene

1.21 Reibung | 109

y

α

x

F R α

N Abb. 1.21.5: Freigeschnittener Klotz

G

Lösung (nach Schema): 1. Lageplan und Koordinaten, s. Abbildung 1.21.4. 2. Freikörper-Bild, s. Abbildung 1.21.5. 3. Gleichgewicht. ∑ F x = 0 : −R + F cos α − G sin α = 0 , ∑ Fy = 0 : 4.

N − F sin α − G cos α = 0 .

Unbekannte und Gleichungen zählen. 3 Unbekannte: R, F, N; 2 Gleichgewichtsbedingungen. Zusätzlich erforderlich: Reibungsgesetz R = μN. Gleichungen lösen.

5.

R = F cos α − G sin α , Mit R = μN folgt F=G 6.

N = F sin α + G cos α .

sin α + μ cos α . cos α − μ sin α

Lösung ausdeuten.

Das Ausdeuten der Lösung wird durch Einführen des Reibungswinkels ϱ := arctan μ

oder

μ = tan ϱ

erleichtert, vgl. Abbildung 1.21.6a (vgl. den Haftungswinkel ϱ 0 in Abschnitt 1.20.2). Setzt man nämlich μ = tan ϱ = sin ϱ/ cos ϱ in den Ausdruck für F ein, so erhält man

G

tan ρ

F µ

ρ α

0 (a)

ρ

π/2 (b)

Abb. 1.21.6: Deutungshilfen. (a) Reibungswinkel ϱ, (b) steilere schiefe Ebene

110 | 1 Statik des starren Körpers

nach Erweitern mit cos ϱ/ cos ϱ F=G

sin(α + ϱ) sin α cos ϱ + cos α sin ϱ =G = G tan(α + ϱ) . cos α cos ϱ − sin α sin ϱ cos(α + ϱ)

Für die glatte schiefe Ebene (mit μ = 0, ϱ = 0) gilt F = G tan α. Für μ > 0, also ϱ > 0, kann F = G tan(α + ϱ) als Kraft aufgefaßt werden, die erforderlich ist, um den Klotz eine glatte schiefe Ebene hinaufzuziehen, die um den Reibungswinkel ϱ steiler als α geneigt ist, vgl. Abbildung 1.21.6b. Auch die Fälle mit negativem α und positivem oder negativem (α + ϱ) sind auf diese Weise leicht durchschaubar. Strebt α + ϱ → 90°, so wächst F unbegrenzt, die Komponente von F senkrecht zur Ebene erzeugt eine so hohe Normalkraft, daß die Komponente von F parallel zur Ebe­ ne die Reibungskraft nicht mehr überwinden kann, man spricht von Selbsthemmung. Für α + ϱ > 90° ergibt sich formal ein negatives F, ein bedeutungsloses Ergebnis, es liegt Selbsthemmung vor. Das Einführen des Reibungswinkels ϱ liefert auch bei anderen (einfachen) Aufga­ ben anschaulich deutbare Ergebnisse.

Walze an der Wand Gegeben: Eine sich mit ω = const. > 0 drehende Walze nach Abbildung 1.21.7, die an der rauhen Wand und auf dem rauhen Boden reibt; Reibungszahlen μ 1 bzw. μ2 , Radius r, Gewicht G. Gesucht: Erforderliches Antriebsmoment M.

µ1

ω

M r

µ2

G Abb. 1.21.7: Drehende Walze

Lösung (nach Schema): 1. Lageplan, s. Abbildung 1.21.7. 2. Freikörper-Bild, s. Abbildung 1.21.8. 3. Gleichgewicht. ∑ Fx = 0 : R2 − N 1 = 0 , ∑ Fy = 0 : + ↺ ∑ M (s) = 0 :

R1 + N 2 − G = 0 , − M + (R1 + R2 )r = 0 .

1.22 Das Prinzip der virtuellen Verrückungen | 111

M r

N1

S G

R2

4.

5.

R1

N2

y x

Abb. 1.21.8: Freigeschnittene Walze

Unbekannte und Gleichungen zählen. 5 Unbekannte: N1 , R1 , N2 , R2 , M; 3 Gleichgewichtsbedingungen. Zusätzlich erforderlich: 2 Reibungsgesetze R1 = μN1 , R2 = μ 2 N2 . Gleichungen lösen. N1 =

μ2 G , 1 + μ1 μ2

N2 =

G , 1 + μ1 μ2 M = rGμ 2

6.

R1 =

μ1 μ2 G , 1 + μ1 μ2

R2 =

μ2 G , 1 + μ1 μ2

1 + μ1 . 1 + μ1 μ2

Interpretation Ist das auf die Walze wirkende Moment kleiner als der angegebene Wert, bleibt sie stehen, ist es größer, wird sie beschleunigt. (Bei μ < μ 0 kann man von dieser Lösung nicht auf die Haftungsaufgabe in Abschnitt 1.20.3 zurückzuschließen.)

Falls man in dieser Aufgabe Grenzwerte μ → 0 („glatt“) und μ → ∞ („verzahnt“) zuläßt, verfügt man über ein „physikalisches“ Beispiel für nicht vertauschbare Grenz­ übergänge: Bei μ 2 → 0 (und endlichem μ 1 > 0) wird M = 0, weil die Walze nicht an die Wand drückt (limμ1 →∞ limμ2 →0 M = 0). Bei μ 1 → ∞ (und μ2 > 0) strebt M gegen rG, d. h., die Walze hebt „fast“ vom Boden ab (limμ2 →0 limμ1 →∞ M = rG). Aufgabe: Man diskutiere μ 2 → ∞.

1.22 Das Prinzip der virtuellen Verrückungen Eine an einem Körper angreifende Kraft verrichtet eine Arbeit, wenn sich ihr Angriffs­ punkt bei einer Bewegung des Körpers verschiebt; s. unten. In der Statik schließt man in der Regel Bewegungen aus. Häufig gewinnt man jedoch einen tieferen Einblick in die statischen Zusammenhänge, wenn man gedanklich Bewegungen in die Betrach­ tungen mit einbezieht. Ähnlich sind wir schon im Abschnitt 1.11 bei dem Freiheits­ grad und den Bindungen verfahren. Löst man in Gedanken an einem im statischen Gleichgewicht befindlichen System Bindungen (wobei natürlich Schnittkräfte einge­ führt werden müssen) und unterwirft es gedachten kleinen Verschiebungen – man spricht von virtuellen Verrückungen – so verschwindet die Summe der bei diesen Verrü­ ckungen von den Kräften am System verrichteten Arbeiten, die virtuelle Arbeit. Diesen Schluß kehrt man im Prinzip der virtuellen Verrückungen um: Gleichgewicht herrscht,

112 | 1 Statik des starren Körpers

falls die virtuelle Arbeit für alle kleinen, beliebigen Verrückungen verschwindet, die mit der Geometrie des beweglichen oder beweglich gemachten Systems verträglich sind. Mit dieser Aussage kommt man häufig rascher zum Ziel als mit den Gleichge­ wichtsbedingungen aus Abschnitt 1.10. Wir gehen systematisch vor und behandeln ein Beispiel.

1.22.1 Definition der Arbeit Definition Ein Körper K bewege sich gemäß Abbildung 1.22.1. Dabei durchlaufe der Angriffs­ punkt A der Kraft F die strichpunktiert gezeichnete Bahn (Raumkurve). Gezeichnet sind zwei benachbarte Lagen, A󸀠 und A󸀠󸀠 , die sich um die kleine Verschiebung ∆r unterscheiden. F

1

2 α A

∆r A‘‘

Bahn

K Abb. 1.22.1: Verschiebung eines Kraft-Angriffspunktes

Bei der Verschiebung ∆r des Angriffspunktes A verrichtet die Kraft F am Körper K die Arbeit (engl. work) ∆W := F ⋅ ∆r , wobei rechts das Skalarprodukt von F und ∆r steht: F ⋅ ∆r := |F||∆r| cos α . Die zwischen zwei Bahnpunkten 1 und 2 (vgl. Abbildung 1.22.1) verrichtete Arbeit er­ hält man durch Integration obigen Ausdrucks längs der Bahn(-Linie) zu Punkt 2

W=



F ⋅ dr

– Linienintegral .

Punkt 1

Man kürzt dies sinnfällig wie folgt ab: 2

W12 = ∫ F ⋅ dr . 1

Wirken auf einen Körper K mehrere Kräfte mit unterschiedlichen Angriffspunkten, so ist die gesamte an ihm verrichtete Arbeit gleich der Summe der einzelnen Arbeiten.

1.22 Das Prinzip der virtuellen Verrückungen | 113

Vorzeichen, Dimension, Einheit Je nach Vorzeichen wird Arbeit dem Körper zugeführt: ∆W > 0, oder dem Körper ent­ zogen: ∆W < 0. Dimension: dim W = dim(F ⋅ ∆r) = KL. Einheiten: [W] = N m oder [W] = J (Joule) mit 1 J = 1 N m. Arbeit eines Kräftepaares Gegeben sei das Kräftepaar {−F, a, F}, das am Körper K in A− bzw. A+ angreift, vgl. Abbildung 1.22.2. Gesucht ist die Arbeit ∆W a) bei kleinen Parallelverschiebungen des Körpers im Raum und b) bei kleinen Drehungen um Achsen in der Ebene des Kräftepaares und senkrecht dazu.

K –F

A– a

A+

r– r+

0 F Abb. 1.22.2: Arbeit eines Kräftepaares

Lösung: a) Verschiebt sich der Körper K parallel (ohne Drehung), so ist ∆r für alle seine Punk­ te gleich, man erhält ∆W = −F ⋅ ∆r + F ⋅ ∆r = 0. b) Führt der Körper eine kleine Drehung um eine Achse in der Ebene des Kräftepaares aus, so entstehen Verschiebungen ∆r − , ∆r + , die senkrecht auf −F bzw. F stehen, es gilt: ∆W = −F ⋅ ∆r − + F ⋅ ∆r + = 0, weil −F ⋅ ∆r − = 0, F ⋅ ∆r + = 0. Sei 0 der Drehpunkt für die kleine Drehung ∆φ = e∆φ um e senkrecht zur Ebene des Kräftepaares. Dann gelten r + = r − + a und ∆r − = ∆φ × r− , ∆r + = ∆φ × r+ . Damit erhält man ∆W = −F ⋅ ∆φ × r − + F ⋅ ∆φ × (r − + a) = F ⋅ ∆φ × a = ∆φ × a ⋅ F = ∆φ ⋅ a × F = a × F ⋅ ∆φ , also mit M := a × F ∆W = M ⋅ ∆φ . Bei ebenen Systemen, vgl. Abbildung 1.22.3, erhält man die skalare Aussage ∆W = M ∆φ .

114 | 1 Statik des starren Körpers

M φ Abb. 1.22.3: Arbeit eines Moments in der Ebene

K

1.22.2 Virtuelle Verrückungen Eine virtuelle Verrückung ist eine gedachte Bewegung eines mechanischen Systems, das man durch Lösen eines Teils oder aller seiner Bindungen in Gedanken beweg­ lich gemacht hat. Soweit die Beweglichkeit es zuläßt, soll die virtuelle Verrückung beliebig, doch infinitesimal klein sein: Dann ändert sich die Geometrie des Systems beim Verrücken nicht wesentlich, und man darf mit Differentialen rechnen. Entspre­ chend dem Vorgehen in der Variationsrechnung kennzeichnet man virtuelle Verrü­ ckungen durch ein vorgestelltes δ, vgl. die virtuelle Verrückung δr des Punktes A in Abbildung 1.22.4. F‘

A‘ F

δr

A

r

Abb. 1.22.4: Virtuelle Verrückung

Beispiel Gegeben sei nach Abbildung 1.22.5a ein starrer gewichtsloser Stab AB der Länge l, der durch glatte Flächen unter dem Winkel φ0 gehalten wird, und an dem die Kraft H und das Moment M angreifen. Gesucht ist die Vertikalkraft VB am Widerlager B, vgl. Freikörper-Bild 1.22.5b. VB

φ0

M

yB

M H

M

H

H xA

VA

A (a)

l

HB

l

B

VB

(b)

(c)

Abb. 1.22.5: Gleichgewicht an einem Stab nach dem Prinzip der virtuellen Arbeit

1.22 Das Prinzip der virtuellen Verrückungen |

115

Die Lösung erfolgt in zwei Schritten: 1. Bindungen geeignet lösen, virtuelle Verrückungen formulieren (s. unten). 2. Ausdruck für virtuelle Arbeit anschreiben (folgt unter Abschnitt 1.22.3). Lösungsschritt 1: Da nur nach der Kraft VB gefragt ist (nicht auch nach den Normalkräften VA und HB in Abbildung 1.22.5b), genügt es, die horizontale Anlagefläche des Widerlagers B wegzuschneiden. Dadurch wird erstens die gesuchte Kraft VB freigelegt (vgl. Abbil­ dung 1.22.5c), und zweitens ist der Stab jetzt beweglich, er hat den Freiheitsgrad 1, vgl. Abschnitt 1.11.1. Zwischen den in Abbildung 1.22.5c eingeführten Koordinaten xA , yB und φ be­ stehen die Beziehungen x2A + y2B = l2 ,

xA = l sin φ ,

yB = l cos φ .

Formale Ableitung liefert die Differentialbeziehungen 2xA dxA + 2yB dyB = 0 ,

dxA = l cos φ dφ ,

dyB = −l sin φ dφ .

Der Übergang dxA → δxA , dyB → δyB , dφ → δφ liefert für die virtuellen Verrückun­ gen δxA , δyB , δφ – deren positive Richtungen mit denen von xA , yB bzw. φ überein­ stimmen – die Verträglichkeitsbedingungen xA δxA + yB δyB = 0 ,

δxA = l cos φ δφ ,

δyB = −l sin φ δφ .

Hier kann man nun wieder φ = φ0 , xA = l sin φ0 , yB = l cos φ0 entsprechend Abbil­ dung 1.22.5a einsetzen, denn nur die (infinitesimal) kleinen virtuellen Verrückungen um die vorgegebene Ausgangslage (φ = φ0 ) interessieren. Man beachte: Wegen des Freiheitsgrades 1 kann man nur eine der drei Verrückun­ gen δxA , δyB , δφ frei wählen, die zwei anderen folgen dann aus den Verträglichkeits­ bedingungen.

1.22.3 Virtuelle Arbeit Definition Greifen an einem beweglichen mechanischen System die eingeprägten – also als Pfei­ le vorgegebenen oder von physikalischen Parametern abhängenden – Kräfte F i und Momente M k an, und sind δr i bzw. δφ k die virtuellen Verrückungen deren Angriffs­ punkte, so wird an dem System die virtuelle Arbeit δW = ∑ F i ⋅ δr i + ∑ M k ⋅ δφ k i

verrichtet.

k

116 | 1 Statik des starren Körpers

Prinzip der virtuellen Verrückungen Ein mechanisches System ist im (statischen) Gleichgewicht, wenn zu beliebigen virtu­ ellen Verrückungen die virtuelle Arbeit aller an ihm angreifenden eingeprägten Kräfte und Momente verschwindet: δW = 0 . Beispiel (Fortsetzung des Beispiels aus Abschnitt 1.22.2) Lösungsschritt 2: Nach Abbildung 1.22.5c und obiger Definition erhält man die virtuelle Arbeit δW = −H δxA − VB δyB + M δφ . Die Reaktionskräfte VA , HB stehen senkrecht auf den virtuellen Verrückungen und lie­ fern daher keinen Beitrag. Nimmt man nun eine Verrückung δφ an und drückt δxA , δyB gemäß Lösungs­ schritt 1 durch δφ und die Systemgeometrie aus (man könnte auch δxA oder δyB an­ nehmen), so ergibt sich δW zu δW = (−Hl cos φ0 + VB l sin φ0 + M) δφ . Das Prinzip der virtuellen Verrückungen fordert nun δW = 0 für δφ ≠ 0, woraus −Hl cos φ0 + VB l sin φ0 + M = 0 , also das gesuchte VB = H cot φ0 − M/(l sin φ0 ) folgt. (Natürlich ist hier Gleichgewicht nur für VB > 0 möglich!)

1.22.4 Ablesen der virtuellen Verrückungen aus einem Lageplan Das vorangehende Beispiel zeigte, wie man mit dem Prinzip der virtuellen Verrü­ ckungen gezielt einzelne Kräfte (oder Momente) berechnen kann, ohne das System vollständig aufzuschneiden. Dabei wurden die Verträglichkeitsbedingungen zwi­ schen den virtuellen Verrückungen, ihre kinematischen Beziehungen (vgl. Kapitel 3: Kinematik und Kinetik) am durch den Schnitt beweglich gemachten System durch Ab­ leiten der Bindungsgleichungen bestimmt. Das folgende Beispiel zeigt, wie man die Verträglichkeitsbedingungen aus einem für das (bewegliche und) etwas ausgelenkte System gezeichneten Lageplan abliest. Gegeben: Zwei Balken ABC und DEG nach Abbildung 1.22.6a, Längen l1 , l2 , haben die unverschieblichen Gelenklager A und G. Die vertikalen Stäbe 1, 2, Längen h, Ab­ stand a, sind an den Punkten B, D bzw. C, E angelenkt und halten die Balken horizon­ tal. Wie gezeigt, greifen am Balken ABC das Moment M und an den Gelenken D und E die Kräfte F1 bzw. F2 an.

1.22 Das Prinzip der virtuellen Verrückungen | 117

l1 C

B

M A

l2

h 1

φ

y

2

a E

D

x

F2

F1

(a)

δyB

G

C

B

δyC

S2

δφ S2

M

2

1

A δyD

(b)

D

δyE

F1

F2

S2 E

G S2 (c)

Abb. 1.22.6: Balken-Stab-System

Gesucht ist die Stabkraft S2 . Lösung gemäß den zwei Schritten aus Abschnitt 1.22.2. Lösungsschritt 1: Stab 2 herausschneiden, Schnittkräfte antragen (s. Abbildung 1.22.6b,c). Im aufge­ schnittenen System können die Balken um die Lager A bzw. G schwenken. Punkte auf den Balken beschreiben dabei Kreisbogenstücke um A bzw. G, die – weil die virtuellen Verrückungen infinitesimal klein sind – durch ihre Tangenten ersetzt werden dürfen. Abbildung 1.22.6b zeigt den Lageplan für die gewählte kleine Verrückung δyC . Ein­ getragen sind dort alle die virtuellen Verrückungen, die, wie δyB , zur geometrischen Konstruktion oder zum Anschreiben der virtuellen Arbeiten im Lösungsschritt 2 ge­ braucht werden. Alle virtuellen Verrückungen müssen durch das gewählte δyC ausgedrückt wer­ den. Aus Abbildung 1.22.6a liest man ab: δφ =

1 δyC , l1

δyB =

l1 − a δyC , l1

δyD = δyB ,

δyE =

l2 − a δyD . l2

Lösungsschritt 2: Die am beweglichen System bei der virtuellen Verrückung verrichtete Arbeit lautet δW = Mδφ + F1 δyD − F2 δyE − S2 δyC + S2 δyE . Mit den kinematischen Beziehungen aus Schritt 1 folgt δW = (

1 l1 − a l1 − a l2 − a l1 − a l2 − a M+ F1 − ⋅ F2 − S2 + ⋅ S2 ) δyC . l1 l1 l1 l2 l1 l2

118 | 1 Statik des starren Körpers Mit der Forderung δW = 0 bei δyC ≠ 0 ergibt sich S2 =

l2 M + (l1 − a)l2 F1 − (l1 − a)(l2 − a)F2 . a(l1 + l2 − a)

Bemerkung Häufig wird das Prinzip der virtuellen Verrückung als Prinzip der virtuellen Arbeit, gelegentlich auch als Arbeitssatz der Statik benannt. Wir ziehen die erste Benennung vor, um das Prinzip der virtuellen Verrückungen deutlich vom Prinzip der virtuellen Kräfte, dem Arbeitssatz der Elastostatik zu unterscheiden (vgl. Abschnitt 2.15).

2 Elastostatik In der Elastostatik geht man von der Idealisierung des starren Körpers ab und betrach­ tet elastisch verformbare feste kontinuierliche Körper (griech. ελαστός: verformbar). Ziel der Untersuchungen ist es, die Beanspruchung von Bauteilen und ihre Verfor­ mung unter den auftretenden Belastungen vorauszuberechnen und die Abmessungen wie den Werkstoff so zu wählen, daß die Haltbarkeit gewährleistet ist und zulässige Verformungen nicht überschritten werden – man spricht vom Dimensionieren oder Be­ messen der Bauteile. Die Grundbegriffe der Elastostatik, die Spannungen – als Maß für die innere Be­ anspruchung des Werkstoffes – und die Verzerrungen – als Maß für die örtliche Defor­ mation des Werkstoffes –, werden anschaulich, im einfachsten Fall als Meßvorschrift, begründet. Der Zusammenhang zwischen Spannungen und Verzerrungen – das StoffGesetz – ist eine physikalische Eigenschaft des jeweiligen Werkstoffes und kann nur experimentell ermittelt werden. Spannungen, Verzerrungen und Stoff-Gesetz gemein­ sam lassen sich in einer „Theorie“ zusammenfassen, die die oben erwähnten Vor­ ausberechnungen gestattet. Die Haltbarkeit ist gewährleistet, wenn die berechneten Spannungen kleiner als die „zulässigen Spannungen“ sind, die man teils objektiv an Hand der Werkstoffeigenschaften, teils subjektiv durch Abwägen von Gesichtspunk­ ten der Gefahren, der Kosten und des Funktionierens festlegt.

Spannungen und Verzerrungen 2.1 Spannungen Spannungen erfassen die im Körper wirkenden Kräfte.

2.1.1 Normal- und Tangentialspannungen Normalspannungen (Zugspannungen) Der Probestab mit der Querschnittsfläche A0 nach Abbildung 2.1.1a ist durch die bei­ den Kräfte F belastet. Diesen äußeren Kräften wird im Stab durch innere Kräfte das Gleichgewicht gehalten; bei einem Schnitt l–l wird die Normalkraft N (= F) sichtbar (Abbildung 2.1.1b; vgl. Abschnitt 1.17.1). Stellt man sich den Stab als Faserbündel vor, so setzt sich die Kraft N aus den von den einzelnen Fasern – den Flächenelementen ∆A0 des Querschnitts A0 – getragenen Kräfte ∆N zusammen. Sind diese Kräfte alle gleich, so erhält man – als auf die Fläche

https://doi.org/10.1515/9783110643572-002

120 | 2 Elastostatik

F

N σ 1

A0

1

F (a)

F

F (b)

Abb. 2.1.1: Normalspannung

(c)

bezogene Normalkraft – die Normalspannung σ zu σ = lim

∆A 0 →0

∆N N = , ∆A0 A0

also

σ=

F ; A0

man stellt sie etwa wie in Abbildung 2.1.1c dar. Vorzeichen, Dimension, Einheit Vorzeichen: σ > 0 Zugspannung, σ < 0 Druckspannung. Dimension: dim σ = dim(F/A0 ) = dim F/ dim A0 = K/L2 . Einheiten: [σ] = N/mm2 oder [σ] = Pa, 1 Pa := 1 Pascal := 1 N/m2 .

Tangentialspannungen (Schubspannungen) Außer den Spannungen normal zu einer Querschnittsfläche gibt es Spannungen tan­ gential dazu. Abbildung 2.1.2a zeigt einen solchen Fall. Der Schnitt l–l – in Verlängerung der Wirkungslinie von F durch den Körper – macht die Tangentialkraft T (= F) sichtbar (Abbildung 2.1.2b; vgl. die Querkraft im Abschnitt 1.17.1). Stellt man sich auch hier vor, daß die einzelnen Elemente ∆A0 der

1

A0

T

τ

1 F

(a)

F

F

(b)

Abb. 2.1.2: Tangentialspannung

(c)

2.1 Spannungen |

121

Querschnittsfläche A0 gleichmäßig an der Kraftübertragung über den Schnitt beteiligt sind – alle ∆T gleich sind –, so erhält man als auf die Fläche bezogene Tangentialkraft die Tangentialspannung τ zu τ = lim

∆A 0 →0

∆T T = , ∆A0 A0

also

τ=

F ; A0

man stellt sie etwa wie in Abbildung 2.1.2c dar. Die Tangentialspannungen werden auch Schub- oder Scherspannungen genannt. Eine genauere Untersuchung zeigt, daß im Schnitt nach Abbildung 2.1.2c die Schub­ spannungen τ stark ungleichförmig über den Querschnitt verteilt sind (bei den Zug­ spannungen nach Abbildung 2.1.1c ist die Ungleichförmigkeit gering). Vorzeichen, Dimension, Einheit Vorzeichen: Erfaßt Abweichung von einer als positiv eingeführten Orientierung, vgl. etwa Abbildung 2.1.3c. Dimension: dim τ = dim(F/A0 ) = dim F/ dim A0 = K/L2 . Einheiten: [τ] = N/mm2 oder [τ] = Pa.

2.1.2 Abhängigkeit der Spannungen von der Schnittrichtung Nur der Einfachheit halber wurden in Abschnitt 2.1.1 Normal- und Tangentialspannun­ gen getrennt eingeführt. Im allgemeinen treten sie überlagert auf und hängen dabei von der Schnittrichtung ab: Gegeben sei ein Stab mit Rechteckquerschnitt, Fläche A0 = ab, unter der Einwirkung der Kräfte F (vgl. Abbildung 2.1.3a), die als gleichmäßig verteilte Spannungen σ1 auf die Stirnflächen wirken mögen, F = A0 σ 1 . Gesucht sind die Normalspannung σ φ und die Tangentialspannung τ φ bei einem Schnitt unter dem Winkel φ, vgl. Abbildung 2.1.3c.

F b

y

a

x

Nφ T φ

τφ

σφ

φ Schnitt

(a)

) A(φ φ

F

φ

(b)

F

(c)

Abb. 2.1.3: Spannungen in Abhängigkeit von der Schnittrichtung

122 | 2 Elastostatik

Lösung: Ein Schnitt unter dem Winkel φ, vgl. Abbildung 2.1.3a, führt auf die Querschnittsfläche A φ := A(φ) =

a ab A0 b= = . cos φ cos φ cos φ

Für die Normalkraft N φ und die Tangentialkraft T φ – mit Abbildung 2.1.3b sind die Vorzeichen festgelegt – erhält man aus den Gleichgewichtsbedingungen am gezeigten Körper ∑ F yi = 0 : N φ − F cos φ = 0 , also N φ = F cos φ , ∑ F xi = 0 :

T φ − F sin φ = 0 ,

also

T φ = F sin φ .

Wenn F durch gleichmäßig verteilte Zugspannungen σ1 erzeugt wird, sind auch die Normalspannung σ φ und die Tangentialspannung τ φ gleichmäßig verteilt. Man erhält normal

σφ =

Nφ F = cos2 φ , Aφ A0

also

σφ =

σ1 (1 + cos 2φ) , 2

tangential

τφ =

Tφ F = sin φ cos φ , A φ A0

also

τφ =

σ1 sin 2φ , 2

wobei rechts mit σ 1 = F/A0 und cos2 φ = (1 + cos 2φ)/2, sin φ cos φ = sin 2φ/2 umgeformt wurde. Die beiden oben stehenden Zusammenhänge lassen sich gemeinsam in dem kartesischen σ-τ-Koordinatensystem nach Abbildung 2.1.4 am Mohrschen Kreis vom Radius σ 1 /2 um den Mittelpunkt (σ 1 /2,0) ablesen: Der Ursprungsstrahl unter dem Winkel φ (= Schnittwinkel in Abbildung 2.1.3a) schneidet den Kreis gerade im Punkt (σ φ , τ φ ). Man erkennt zwei Extrema der Normalspannungen bei φ = 0 und φ = 90°, nämlich σ 0° =: σ 1 , und σ 90° = 0 =: σ 2 – dort verschwinden die Tangentialspan­ nungen –, und zwei Extrema der Tangentialspannungen bei φ = ±45°, nämlich |τ ±45° | = |τ φ |max = |σ 1 |/2. Die Spannungen σ 1 , σ 2 nennt man Hauptspannungen; die zugehörigen Rich­ tungen heißen Hauptspannungsrichtungen, sie stehen senkrecht aufeinander. In Schnitten senkrecht zu den Hauptspannungsrichtungen wirken keine Tangential­ spannungen. τ τσ σ2

φ σ1/2

2φ σφ σ1

σ

Abb. 2.1.4: Mohrscher Kreis für einachsigen Spannungszustand

2.1 Spannungen | 123

Der besprochene Spannungszustand, bei dem die zweite Hauptspannung ver­ schwindet, heißt einachsiger Spannungszustand.

2.1.3 Zweiachsiger Spannungszustand Überlagert man zwei einachsige Spannungszustände um 90° gegeneinander verdreht, so erhält man einen zweiachsigen oder ebenen Spannungszustand. In Abbildung 2.1.5 sind an einem rechteckigen Ausschnitt aus einem Körper die beiden (Haupt-)Span­ nungen σ 1 und σ 2 eines ebenen Spannungszustandes vorgegeben. σ1 τφ

σφ σ2

φ

σ2

φ σ2

(a)

σ1

(b)

σ2

σ1

Abb. 2.1.5: Zweiachsiger Spannungszustand, Schnittrichtung

Transformation der Spannungen bei Änderung der Schnittrichtung Bei Schnitt unter dem Winkel φ, vgl. Abbildung 2.1.5a bzw. b, erhält man gemäß den Formeln in Abschnitt 2.1.2, angewandt auf die Überlagerung von σ 1 mit φ und von σ 2 mit (90° + φ),

tangential also σφ =

σ2 σ1 (1 + cos 2φ) + [1 + cos 2(90° + φ)] , 2 2 σ1 σ2 sin 2φ + sin 2(90° + φ) , τφ = 2 2 σφ =

normal

σ1 + σ2 σ1 − σ2 + cos 2φ , 2 2

τφ =

σ1 − σ2 sin 2φ . 2

Auch diese Zusammenhänge kann man in einem Mohrschen Kreis darstellen (Abbil­ dung 2.1.6): Radius (σ 1 − σ 2 )/2, Mittelpunkt bei ((σ 1 + σ 2 )/2,0); ∡φ und Punkt (σ φ , τ φ ) vgl. Abbildung 2.1.6. Man sieht: Extrema der Normalspannung sind σ 1 und σ 2 , sie liegen bei φ = 0 bzw. φ = 90° – in zueinander senkrechten Schnitten –, τ0° = 0, τ90° = 0. Extrema der Schubspannung, |τ φ |max = |σ 1 −σ 2 |/2, liegen in unter φ = ±45° gegen die Hauptspan­ nungsrichtungen geneigten Schnittrichtungen. Für zwei Schnitte unter den Winkeln φ

124 | 2 Elastostatik

τ τφ

σ2

φ σφ+90°



σφ

σ1

σ Abb. 2.1.6: Mohrscher Kreis für zweiachsigen Spannungszustand

τφ+90°

und φ +90° liegen die Punkte (σ φ , τ φ ) und (σ φ+90° , τ φ+90° ) auf einem Kreisdurchmes­ ser; es gelten – unabhängig von φ („invariant“) – σ φ + σ φ+90° = σ 1 + σ 2

und

τ φ+90° = −τ φ .

Örtlich veränderlicher Spannungszustand Ein zweiachsiger Spannungszustand tritt zum Beispiel in dünnen (ebenen) Scheiben auf (dünn: Dicke ≪ Längenabmessungen), wenn sie in ihrer Ebene belastet sind. In solchen Scheiben, z. B. dem Steg eines I-Trägers, liegt im allgemeinen ein „örtlich veränderlicher“ Spannungszustand vor, σ und τ hängen nicht nur von der Schnittrichtung, sondern auch vom Ort ab. Schneidet man ein hinreichend kleines rechteckiges Element der Seitenlängen ∆x, ∆y aus einer Scheibe der Dicke b heraus (Koordinatensystem passend gewählt), so sind die Spannungen wegen ihres stetigen Verlaufs (vgl. Hinweis unten) über die Schnittflächen etwa konstant, man deutet sie deshalb durch einfache Pfeile an, vgl. Abbildung 2.1.7. Die Vorzeichen bezieht man jetzt auf das gewählte Koordinatensystem: Die Nor­ malspannungen σ x , σ y stehen senkrecht auf dem Schnitt, dessen Normale die x- bzw. y-Achse ist, und weisen am positiven Schnittufer in die positive, am negativen in die negative Koordinatenrichtung; die Tangentialspannungen τ xy , τ yx liegen jeweils in den Schnitten, deren Normale die x- bzw. y-Achse ist (erster Index!), und weisen am positiven Schnittufer in die positive y- bzw. x-Richtung (zweiter Index!), am negativen in die negativen Richtungen.

σy

τyx y ∆y

σx

τ xy

Abb. 2.1.7: Spannungen an einem Element

τ xy

σx

x 0 ∆x τyx

σy

2.1 Spannungen | 125

Aus Abbildung 2.1.7 liest man ab: Greifen am Element nur die gezeigten Span­ nungen (Kräfte) an, so liefern die Gleichgewichtsaussagen für die Kräfte in x- und y-Richtung bei Grenzübergang ∆x → 0, ∆y > 0 – bzw. umgekehrt – die Aussage, daß σ x , τ xy bzw. σ y , τ yx an den jeweils „zugeordneten“ (positiven und negativen) Schnitt­ ufern gleich sind und stetig vom Ort abhängen müssen (ist in Abbildung 2.1.7 bereits berücksichtigt). + (0) Das Momentengleichgewicht ∑ ↺ M i = 0 liefert b∆y

∆x ∆y ∆x ∆y τ xy − b∆x τ yx + b ∆y τ xy − b ∆x τ yx = 0 . 2 2 2 2

Dies führt auf τ xy = τ yx und ist gleichwertig mit obiger Aussage τ φ+90° = −τ φ . Das heißt, wir dürfen uns Abbildung 2.1.7 als durch Drehen der Schnittrichtungen am „Ele­ ment“ nach Abbildung 2.1.5 – mit geeigneten Hauptspannungswerten σ 1 , σ 2 – ent­ standen vorstellen, nur haben wir bei τ xy die positive Orientierung gewechselt. Bestimmen der Hauptspannungen Gegeben seien die Spannungen σ x , σ y , τ yx = τ xy in zwei zueinander senkrechten Richtungen, vgl. Abbildung 2.1.8a. Gesucht sind die Hauptspannungen, die Hauptspannungsrichtungen und die größte Schubspannung. Lösung: Da (σ x , −τ xy ) und (σ y , τ yx ) auf dem Mohrschen Kreis diametral liegen, liefert eine gra­ phische Konstruktion den Kreis nach Abbildung 2.1.8b. Man liest ab (Vorzeichen be­ achten!): σx + σy σx − σy 2 + √( σ1 = ) + τ2xy , 2 2 σx + σy σx − σy 2 − √( ) + τ2xy , 2 2 2τ xy . tan(180° − 2φ) = σx − σy σ2 =

τ τyx

σy τyx y σx

τxy x

τxy

φ

σx

0

σ2

σy

σy

(b)

Abb. 2.1.8: Bestimmen der Hauptspannungen

φ

2φ σx

σ1 σ

σ1

–τxy

τyx (a)

σ2

(c)

σ2

σ1

126 | 2 Elastostatik

Abbildung 2.1.8c zeigt die Hauptspannungsrichtungen: Man muß das Element um den Winkel φ „zurückdrehen“. Ausgezeichnete Spannungszustände Die Abbildung 2.1.9 zeigt gegenüberstellend unter a) den einachsigen Spannungszu­ stand, den reinen Schubspannungszustand und den hydrostatischen Spannungszu­ stand, unter b) die zugehörigen Mohrschen Kreise, unter c) die gegenüber a) um 45° gedrehten Elemente. τ σ0/2

σ0/2 σ0/2

y σ0

σ0

x

0

σ0/2

σ0

σ

σ0/2

45°

σ0/2 σ0/2

σ0/2 σ0/2

σ0/2

τ τ0

τ0

τ0

τ0

y τ0

τ0

x τ0 σ0

45° 0

–τ0

τ0

σ

τ0

τ0

τ

τ0

τ0

σ0

σ0

y σ0

45°

σ0

x

0

σ0

σ

σ0 σ0 (a)

σ0

(b)

σ0

(c)

Abb. 2.1.9: Ausgezeichnete Spannungszustände

2.1.4 Dreiachsiger Spannungszustand Der allgemeine Spannungszustand ist dreiachsig (oder räumlich). Man kann ihn ana­ log zu Abschnitt 2.1.3 aufbauen, indem man dem zweiachsigen Spannungszustand, mit dem Hauptspannungen σ 1 und σ 2 , einen weiteren einachsigen, mit der Haupt­ spannug σ 3 , – senkrecht zur Blattebene – überlagert. Dessen Diskussion ist verwi­ ckelt. Wir gehen darauf nicht näher ein, sondern beschränken uns auf einige Grund­ gedanken.

2.1 Spannungen | 127

Spannungen am Element Abbildung 2.1.10 zeigt ein aus einem Körper parallel zu den Achsen des Koordinaten­ systems (x, y, z), dem Dreibein (e x , e y , e z ), herausgeschnittenes quaderförmiges Ele­ ment mit dem Zentrum (x, y, z) und den Kantenlängen ∆x, ∆y, ∆z. An den (in der Ab­ bildung sichtbaren) positiven Schnittufern, den Schnittflächen bei x + ∆x/2; y + ∆y/2; z+∆z/2 greifen die Spannungen σ xx = σ x , τ xy , τ xz ; τ yx , σ yy = σ y , τ yz ; τ zx , τ zy , σ zz = σ z in x-, y- bzw. z-Richtung an (Indizes analog zu Abbildung 2.1.7). Die (in der Abbil­ dung verdeckten) negativen Schnittflächen liegen bei x − ∆x/2; y − ∆y/2; z − ∆z/2. Die dort angreifenden Spannungen, gestrichelte Pfeile in Abbildung 2.1.10, wirken ge­ gen die x-, y- bzw. z-Richtung. Im allgemeinen unterscheiden sie sich etwas von den Spannungen an den entsprechenden positiven Schnittflächen und sind deshalb mit σ 󸀠x , τ󸀠xy usw. bezeichnet. Man kann sechs Gleichgewichtsbedingungen für den Quader ansetzen: Die drei Momentengleichgewichte liefern, vgl. Abschnitt 2.1.3, τ xy = τ yx , τ yz = τ zy , τ zx = τ xz , die drei Kräftegleichgewichte führen auf partielle Differential­ gleichungen. ∆y ∆x τzx

σ’y ∆z

τzy τ’xy

τ’yx τxz Z

τ’yz σx

ez

σz

τ’xz

τyz τyx σy

τxy τ’zy

τ’zx

σ’z ex

σ’x

ey

y z

x

Abb. 2.1.10: Spannungen am Elementarquader

Schnitt an einem Körper; Spannungsvektor Sei ∆A ein an einem festen Körper durch einen Schnitt freigelegtes Flächenelement, vgl. Abbildung 2.1.11 und Abbildung 1.17.2a. Die Richtung des Schnittes wird durch den auf ∆A senkrecht stehenden Normaleneinsvektor n (nach außen positiv) erfaßt, siehe Abbildung 2.1.11.

128 | 2 Elastostatik

t∆A n

∆A

Abb. 2.1.11: Normaleneinsvektor und Kraftvektor

Dividiert man das am Flächenelement ∆A angreifende Kraftelement ∆F durch die Fläche ∆A, erhält man den Spannungsvektor t = lim

∆A→0 ( n fest)

∆F ∆A

Im allgemeinen Fall hängt der Spannungsvektor sowohl vom Ort (x, y, z) als auch der Schnittrichtung n ab: t = t(x, y, z, n). Spannungstensor Man zerlegt den Spannungsvektor t in seine Komponenten parallel zum Dreibein (e x , e y , e z ) aus Abbildung 2.1.10: t = ex tx + ey ty + ez tz . Ebenso bezieht man den Normaleneinsvektor auf diese Basis: n = ex nx + ey ny + e z nz , wo n x , n y , n z seine Richtungskosinus, die Kosinus der Richtungswinkel, bedeuten (s. Abbildung 2.1.12): n x = n ⋅ e x = cos(∡(n, e x )) = cos α x , n y = n ⋅ e y = cos(∡(n, e y )) = cos α y , n z = n ⋅ e z = cos(∡(n, e z )) = cos α z . ez

n

αz

αy αx ex

ey Abb. 2.1.12: Richtungswinkel des Normaleneinsvektors

Schneidet man von dem Quader in Abbildung 2.1.10 die hintere Ecke schräg ab, so entsteht der in Abbildung 2.1.13 gezeigte Tetraeder, dessen Kanten längs der Koordi­ natenachsen (wieder) ∆x, ∆y, ∆z genannt werden. (Mit der Wahl von ∆x, ∆y, ∆z liegen der Normaleneinsvektor n und die Schnittfläche ∆A fest.) An der schrägen Schnitt­

2.1 Spannungen | 129

z t

∆z

τyx σy

τxy

0

σx

n ∆y

τxz τzx τyz τzy

σz ∆x

y ∆A σz x

Abb. 2.1.13: Spannungen und Spannungsvektor

fläche des Tetraeders greift der Spannungsvektor t, an den drei anderen Flächen die Spannungen aus Abbildung 2.1.10 (die Unterscheidung zwischen σ x und σ 󸀠x usw. ist hier nicht notwendig). Der Tetraeder muß im Gleichgewicht sein. Zum Anschreiben der Gleichgewichts­ bedingungen brauchen wir die auf die Koordinatenebenen (x = 0, y = 0, z = 0) fallen­ den Tetraederflächen ∆A x , ∆A y , ∆A z . Zu gegebenen ∆A folgen sie durch Projektionen von ∆A auf die Koordinatenebenen: ∆A x = ∆A n x = ∆A (e x ⋅ n) , ∆A y = ∆A n y = ∆A (e y ⋅ n) , ∆A z = ∆A n z = ∆A (e z ⋅ n) . (Beweis als Übungsaufgabe). Am einfachsten faßt man die Gleichgewichtsbedingungen gemäß Abschnitt 1.10.1 mit „Kraft = Spannung mal Fläche“ in vektorieller Form zusammen (vgl. Ab­ schnitt 1.5.2): t ∆A − (σ x e x + τ xy e y + τ xz e z ) ∆A n x − (τ yx e x + σ y e y + τ yz e z ) ∆A n y − (τ zx e x + τ zy e y + σ z e z ) ∆A n z = 0 . Die Größe ∆A des Flächenelements fällt heraus, man erhält t = (σ x e x + τ xy e y + τ xz e z )(e x ⋅ n) + (τ yx e x + σ y e y + τ yz e z )(e y ⋅ n) + (τ zx e x + τ zy e y + σ z e z )(e z ⋅ n) . Es liegt nahe, den ganz rechts stehenden gemeinsamen Faktor, den Vektor n, heraus­ zuziehen: t = [(σ x e x + τ xy e y + τ xz e z )e x + (τ yx e x + σ y e y + τ yz e z )e y + (τ zx e x + τ zy e y + σ z e z )e z ] ⋅ n . Der Faktor ⋅n bedeutet, daß der Normaleneinsvektor n mit den rechts neben den run­ den Klammern stehenden Einsvektoren e x , e y , e z skalar multipliziert wird. (Wir wis­ sen: das Skalarprodukt steht für Projektionen.)

130 | 2 Elastostatik

Man multipliziert die rechts stehenden Einsvektoren auch in die Klammern hinein (sie bleiben rechts von den Spannungs-Einsvektoren stehen!): t =[ σ x e x e x +τ xy e y e x + τ xz e z e x + τ yx e x e y + σ y e y e y + τ yz e z e y + τ zx e x e z + τ zy e y e z + σ z e z e z ] ⋅ n . Achtung: Die Einsvektoren dürfen nicht vertauscht werden! Das Skalarprodukt, ge­ kennzeichnet durch den Punkt, verknüpft den jeweils rechts stehenden Einsvektor mit dem Normaleneinsvektor n. Man kürzt die vorstehende Gleichung ab: t=T⋅n. Die Größe T = (σ x e x e x + τ xy e y e x + τ xz e z e x + τ yx e x e y + σ y e y e y + τ yz e z e y + τ zx e x e z + τ zy e y e z + σ z e z e z ) heißt Spannungs-Tensor (Spannungs-„Spanner“), die Spannungen σ x , τ xy usw. sind seine Elemente. Der Tensor T überführt in Abbildung 2.1.13 den Vektor n in den Vektor t oder ordnet dem Vektor n den Vektor t zu. Hinweis 1: Tensoren kommen in Natur und Technik außerordentlich häufig vor. Im­ mer dann, wenn eine Wirkung eine räumlich andere Richtung hat als ihre Ursache, liegt eine Tensorverknüpfung vor. Beispiel: Bläst der Wind mit der Geschwindigkeit v auf das Segel eines Windsurfers, bewirkt er am Surfbrett die Kraft F = S ⋅ v. Der „Segel­ tensor“ S wird vor allem durch das Geschick des Surfers bestimmt und hängt von vie­ len Parametern ab. Mit der Spannungs-Matrix σx T = (τ xy τ xz

τ yx σy τ yz

τ zx τ zy ) σz

lautet der Spannungstensor wie folgt¹ T = eT T e Aus den oben aufgeschriebenen Momentengleichgewicht am Elementarquader (τ xy = τ yx usw.) folgt, die Spannungsmatrix ist symmetrisch: T = TT . 1 G. P. Ostermeyer: Das auf einer nachgiebigen Schiene rollende Rad. Habilitatischonsschrift TU Braunschweig 1989

2.1 Spannungen | 131

Hinweis 2: Drückt man t und n, wie einleitend gezeigt, durch ihre Maßzahlen (t x , t y , t z ) bzw. (n x , n y , n z ) aus, kann man die Tensorgleichung in Matrizenform überführen (Übungsaufgabe!): tx σx ( t y ) = (τ xy tz τ xz

τ yx σy τ yz

nx τ zx τ zy ) (n y ) , σz nz

kurz

t=Tn

Spannungen an Schnittfläche Oben haben wir den Spannungsvektor auf das Dreibein (e x , e y , e z ) bezogen: t = e x t x + e y t y + e z t z . Bei dem der Richtung nach durch den Normaleneinsvektor n erfaßten Schnitt, vgl. Abbildungen 2.1.11–2.1.13, braucht man jedoch die auf die Schnittebene bezogenen Spannungen. Dazu muß man t normal und tangential zur Ebene des Flä­ chenelements ∆A zerlegen, s. Abbildung 2.1.14. Man setzt an: t = σn + τe τ . Dabei weist die Normalspannung σ in Richtung von n, und die Tangentialspannung (oder Schubspannung) τ liegt in der Ebene des Flächenelements ∆A; der Einsvektor e τ , e τ ⊥n, wird unten bestimmt.

z

t eτ

0

e x

n y Abb. 2.1.14: Zerlegung des Spannungsvektors

Multiplikation des Zerlegungsansatzes mit n ⋅ liefert σ=n⋅t, woraus mit t = T ⋅ n folgt: σ=n⋅T⋅n. Hier werden die linken Einsvektoren von T mit n ⋅ von links multipliziert und die rechten mit ⋅ n von rechts, in Matrixschreibweise σ = nT T n . Mit dem nun bekannten σ und mit e τ = (e τx , e τy , e τz )T e =: eTτ e = eT e τ folgt aus dem Zerlegungsansatz (Übungsaufgabe!): τeT e τ = eT T n − eT n n T T n,

132 | 2 Elastostatik

vereinfacht

1 − n2x τe τ = (−n y n x −n z n x

−n x n y 1 − n2y −n z n y

−n x n z −n y n z ) T n . 1 − n2z

Hinweis 3: Nach dem Ausrechnen der rechten Seite muß man die Tangentialspan­ nung τ als Maßzahl und die Koordinaten e⊥ = (e τx , e τy , e τz )T des Einsvektors e τ ermitteln, vgl. Abschnitt 1.2.3. Aufgabe 1: Bezogen auf eine Basis (e x , e y , e z ) sei für einen Punkt P eines festen Kör­ pers der Spannungstensor T, d. h. die Spannungen σ x , τ xy, τ yx usw. gegeben. Der Kör­ per wird bei P geschnitten, die Schnittrichtung wird durch die Winkel (α x , α y , α z ) des Normaleneinsvektor erfaßt, für die Richtungscosinus sind die Werte n x = cos α x , n y = cos α y , n z = cos α z gegeben; n2x + n2y + n2z = 1. Berechnen Sie (in allgemeiner Form) den Spannungsvektor t, die Normalspannung σ, die Einsvektoren e ⊥ und e τ sowie die Schubspannung τ. (Nutzen Sie die Symmetrie der Schubspannungen aus.) Aufgabe 2: Zeigen Sie, wie der einachsige Spannungszustand, Abschnitt 2.1.2, und der zweiachsige Spannungszustand, Abschnitt 2.1.3, als Sonderfälle im dreiachsigen enthalten sind. Bemerkung Aus dem Spannungstensor T kann man mit den angegebenen Transformationen die Spannungen für jede beliebige Schnittrichtung berechnen. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn der Werkstoff, zum Beispiel Kreide, Holz, Knochen, kohlefaserverstärk­ ter Kunststoff, in bestimmten Richtungen besonders empfindlich ist.

2.2 Verzerrungen Verzerrungen sind die lokalen Deformationen eines Körpers.

2.2.1 Dehnung und Querkontraktion Gegeben sei ein Probestab vom Durchmesser d0 und der Querschnittsfläche A0 mit zwei Markierungen im Abstand l0 , vgl. Abbildung 2.2.1a. Eine Belastung, Kräfte F in Abbildung 2.2.1b, verformt den Stab, es stellen sich der Durchmesser d, die Querschnittsfläche A und der Markenabstand l ein. Man erhält bei Zug (F > 0) eine Längenänderung

∆l := l − l0 > 0 ,

Durchmesseränderung

∆d := d − d0 < 0 .

2.2 Verzerrungen

|

133

F

d

d0 A0

(a)

l0

l

A

(b)

F

Abb. 2.2.1: Probestab unter der Einwirkung von Kräften

Beide bezieht man auf die Ausgangsabmessungen und definiert Dehnung in Längsrichtung: Dehnung in Querrichtung:

∆l l − l0 = , l0 l0 ∆d d − d0 εq := = . d0 d0 εl :=

Vorzeichen, Dimension, Einheit Vorzeichen: ε > 0 Längung, ε < 0 Kürzung (Kontraktion). Dimension: dim ε = dim ∆l/ dim l0 = 1. Einheit: Für Metalle ist die Angabe in Prozent genormt, [ε] = 1 %. Verzerrungszustand bei einachsiger Belastung Bei der betrachteten einachsigen Belastung des Zugstabes gilt εl > 0 und εq < 0. Den Effekt des „Dünnerwerdens“ bezeichnet man als Querkontraktion. Experimentell findet man für kleine Verzerrungen εq = −νεl . Der Proportionalitätsfaktor ν heißt Querkontraktionszahl oder Poissonzahl. Für Metalle gilt etwa einheitlich ν ≈ 0,3. Verzerrungszustand bei zweiachsiger Belastung Bei Überlagerung zweier einachsiger Spannungszustände zu einem zweiachsigen (vgl. Abbildung 2.2.2 und Abschnitt 2.1.3) überlagern sich jeweils die Dehnung infolge der einen Hauptspannung mit der Querkontraktion infolge der anderen: Dehnung ε1 folgt aus Zug σ 1 minus Querkontraktion durch Zug σ 2 , Dehnung ε2 folgt aus Zug σ 2 minus Querkontraktion durch Zug σ 1 . Hinweis 1: Bei Druck sind σ 1 und/oder σ 2 negativ; auch die Dehnungsanteile wech­ seln entsprechend die Vorzeichen.

134 | 2 Elastostatik

Hinweis 2: Jede Belastung führt auf einen räumlichen Verzerrungszustand (vgl. Ab­ schnitt 2.3.6).

2.2.2 Schubverformung Gegeben sei ein unbelastetes, rechteckiges Element mit den Seitenlängen ∆x und ∆y, vgl. Abbildung 2.2.3a. Gesucht ist seine Verzerrung für den Fall, daß es mit Schubspannungen τ belastet ist, vgl. Abbildung 2.2.3b und die zweite Zeile von Abbildung 2.1.9. Lösung: Die Schubspannungen „schieben“ das Element um den Schubwinkel γ. Man spricht daher auch von Schiebung oder Gleitung. Vorzeichen, Dimension, Einheit Vorzeichen: Erfaßt Abweichung von einer als positiv eingeführten Orientierung; etwa Abbildung 2.2.3b. Dimension: dim γ = 1 (Bogenmaß!). Einheit: [γ] = 1 %.

2.2.3 Kleine Verzerrungen in der Ebene Gegeben sei eine ebene Scheibe, die in der Ausgangslage (Referenzkonfiguration) rechteckförmig ist, vgl. Abbildung 2.2.4a; wir betrachten den Punkt P mit den Koordi­ naten x, y. Durch Belastung werde die Scheibe in der Ausgangsebene verformt, vgl. Abbil­ dung 2.2.4b. Der Punkt P wird dabei nach P󸀠 verschoben: in x-Richtung um

u = u(x, y) ,

in y-Richtung um

v = v(x, y) .

Für diese Verschiebungen gelten |u|, |v| ≪ l, wobei l eine charakteristische Länge der Scheibe ist (z. B. l = x 2 − x1 ). σ2

σ1

ε2

ε1

σ2

σ1

Abb. 2.2.2: Hauptspannungen und -dehnungen an einem Element

2.2 Verzerrungen

∆x

|

135

τ γ

τ

∆y

(a)

(b)

τ Abb. 2.2.3: Schubverformung eines Rechteckelements

τ

y2 P

y

y

v P u

P‘

y1 0 (a)

x

x1

x2

0 (b)

x

Abb. 2.2.4: Verformung einer Scheibe in der Ebene

Gesucht seien die Verzerrungen (Verformungen). Lösung: Zur Untersuchung der Verzerrungen denken wir uns in der Referenzkonfiguration das rechteckige Scheibenelement PQSR markiert, Kantenlängen ∆x, ∆y; vgl. Abbil­ dung 2.2.5. Bei Belastung geht es in das verschobene Viereck P󸀠 Q󸀠 S󸀠 R󸀠 über. Bezogen auf das x-y-System haben die Eckpunkte die folgenden Koordinaten: Unverzerrt

Verzerrt

P : [x, y]

P󸀠 : [x + u(x, y), y + v(x, y)]

Q : [x + ∆x, y]

Q󸀠 : [x + ∆x + u(x + ∆x, y), y + v(x + ∆x, y)]

R : [x, y + ∆y]

R󸀠 : [x + u(x, y + ∆y), y + ∆y + v(x, y + ∆y)]

S : [x + ∆x, y + ∆y]

S󸀠 : [x + ∆x + u(x + ∆x, y + ∆y), y + ∆y + v(x + ∆x, y + ∆y)] .

Dehnungen Für die Seite PQ gilt (vgl. Abbildung 2.2.5): P󸀠 Q󸀠 − PQ ∆x→0 ∆x √[∆x + u(x + ∆x, y) − u(x, y)]2 + [v(x + ∆x, y) − v(x, y)]2 − ∆x = lim ∆x→0 ∆x

εPQ = lim

= √(1 +

∂u 2 ∂v 2 ) +( ) −1 ∂x ∂x

136 | 2 Elastostatik

S‘

R‘ β0 S

R

∆y y

0

φ+α(φ) Q‘ α0

P‘

φ

P

Q

∆x

Abb. 2.2.5: Verzerrung eines Rechteckelements

x

mit den partiellen Ableitungen ∂u u(x + ∆x, y) − u(x, y) ∂u(x, y) := := lim ∆x→0 ∂x ∂x ∆x

usw .

Wir setzen kleine Verschiebungsableitungen voraus, |∂u/∂x| ,

|∂v/∂x| ,

|∂u/∂y| ,

|∂v/∂y| ≪ 1 ,

und erhalten in linearer Näherung ∂u ∂u(x, y) = ∂x ∂x Entsprechend findet man εx =

εy =

∂v ∂v(x, y) = ∂y ∂y

– als kleine Dehnung in x-Richtung .

– als kleine Dehnung in y-Richtung .

Schubverformung Wir bilden für die Seite PQ (vgl. Abbildung 2.2.5) tan α0 = lim

∆x→0

v(x + ∆x, y) − v(x, y) ∂v/∂x = . ∆x + u(x + ∆x, y) − u(x, y) 1 + ∂u/∂x

Wegen der kleinen Verschiebungsableitungen folgt in linearer Näherung für α 0 ein kleiner Winkel: ∂v ∂v(x, y) tan α 0 ≈ α 0 ≈ = . ∂x ∂x Entsprechend findet man (vgl. Abbildung 2.2.5) tan β 0 ≈ β 0 ≈

∂u ∂u(x, y) = . ∂y ∂y

Ein Vergleich mit Abschnitt 2.2.2 liefert den (kleinen) Schubwinkel γ0 =

∂u(x, y) ∂v(x, y) + . ∂y ∂x

2.2 Verzerrungen

| 137

Verzerrungen bei gedrehter Richtung Werde ∆y/∆x = tan φ beim Grenzübergang festgehalten, dann gilt (vgl. auch Abbil­ dung 2.2.5): εx + εy εx − εy 1 + cos 2φ + γ0 sin 2φ , εPS =: ε(φ) = 2 2 2 ∂v/∂y − ∂u/∂x ∂v/∂x − ∂u/∂y ∂v/∂x + ∂u/∂y + cos 2φ + sin 2φ . α(φ) = 2 2 2 Man erhält β(φ) aus β(φ) = −α(φ + π/2) zu β(φ) = −

∂v/∂x − ∂u/∂y ∂v/∂x + ∂u/∂y ∂v/∂y − ∂u/∂x + cos 2φ + sin 2φ . 2 2 2

Dies liefert γ(φ) = α(φ) + β(φ) = γ 0 cos 2φ − (ε x − ε y ) sin 2φ bzw.

εx − εy 1 1 γ(φ) = − sin 2φ + γ0 cos 2φ . 2 2 2 Legt man das x-y-Koordinatensystem parallel zu den Hauptdehnungsrichtungen, so erhält man mit γ0 = 0, ε x ≡ ε1 , ε y ≡ ε2 die folgenden Transformationsbeziehungen ε(φ) =

ε1 + ε2 ε1 − ε2 + cos 2φ , 2 2

1 ε1 − ε2 − γ(φ) = sin 2φ . 2 2 Diese Zusammenhänge kann man analog zu Abschnitt 2.1.3 in einem Mohrschen Ver­ zerrungskreis darstellen. Veranschaulichung Abbildung 2.2.6 zeigt die Wirkung einer Verzerrung. Für die Verformungen wurden u(x, y) = 0,2x + 0,1y, v(x, y) = 0,1x − 0,2y angesetzt. Abbildung 2.2.6b entsteht aus Abbildung 2.2.6a, indem man die Punkte (x, y) um u, v verschiebt. Die Verzerrungen ergeben sich zu ε x = 0,2; ε y = −0,2 und γ = 0,2. y

y, v

x

(a)

x, u

(b)

Abb. 2.2.6: Wirkung einer Verzerrung

138 | 2 Elastostatik

Die Zahlenwerte der Verzerrungen wurden sehr groß gewählt, damit man sie mit bloßem Auge erkennen kann. Metallische Bauteile werden unter üblichen Ge­ brauchslasten etwa in der Größenordnung von 0,1 % verzerrt; große Verzerrungen kommen dagegen beim Schmieden und Pressen von Bauteilen sowie beim Ziehen von Blechen vor. 2.2.4 Kleine Verzerrungen im Raum Verzerrungen, also Dehnungen und Schubverformungen, im Raum leitet man parallel zu Abschnitt 2.2.3 her, indem man, bezogen auf ein dreidimensionales (räumliches) Koordinatensystem, ähnlich wie in Abbildung 2.2.4, den Punkt P : [x, y, z]

nach P󸀠 : [x + u(x, y, z), y + v(x, y, z), z + w(x, y, z)]

verschiebt. (Entsprechendes gilt für die sieben anderen Ecken eines quaderförmigen Elements der Kantenlängen ∆x, ∆y, ∆z. Wir verzichten auf die etwas mühsamen Ein­ zelheiten.) Für kleine Ableitungen der Verschiebungen u, v, w erhält man die (kleinen) Deh­ nungen εx =

∂u ∂u(x, y, z) = , ∂x ∂x

εy =

∂v ∂v(x, y, z) = , ∂y ∂y

εz =

∂w ∂w(x, y, z) = ∂z ∂z

in Richtung der Achsen x, y bzw. z und die (kleinen) Schubverformungen, die Gleitoder Schwerwinkel ∂u ∂v ∂v ∂w ∂w ∂u γ xy = γ yx = + , γ yz = γ zy = + , γ zx = γ xz = + , ∂y ∂x ∂z ∂y ∂x ∂z die in Ebenen parallel zu den Ebenen z = 0, x = 0 bzw. y = 0 liegen.

2.3 Stoff-Gesetze In Abschnitt 2.1 haben wir die Kräfte in Körpern – die Spannungen – und in Ab­ schnitt 2.2 die Formänderungen – die Verzerrungen – betrachtet. Dabei gingen wir induktiv vor und abstrahierten von den anschaulichen Größen Kraft bzw. Verfor­ mung. Die Beziehung zwischen den Spannungen und den Verzerrungen – die StoffGesetze (engl. constitutive equations) – muß man nun experimentell bestimmen, wenn man reale Bauteile untersuchen will. Alternativ kann man sich Stoff-Gesetze („Stoff-Modelle“) vorgeben und prüfen, ob man den damit abgeleiteten Ergebnissen bei Experimenten begegnet.

2.3.1 Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm Führt man mit einem Probestab wie in Abschnitt 2.1.1 einen Zugversuch (oder einen Druckversuch) aus, indem man die Kraft F langsam bis zum Bruch des Stabes erhöht

2.3 Stoff-Gesetze

| 139

und dabei die jeweilige Länge l (vgl. Abschnitt 2.2.1) mißt, so erhält man das in Abbil­ dung 2.3.1 dargestellte Spannungs-Dehnungs-Diagramm: Spannung σ Rm RH RE RP

RZ Zug

0 εP

Dehnung

ε

Druck

Abb. 2.3.1: Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Baustahl

Auf der Ordinate ist die Spannung σ=

F A0

(A0 – Ausgangsquerschnitt) ,

auf der Abszisse die (Längs-)Dehnung ε=

∆l l − l0 = l0 l0

(l0 – Ausgangslänge)

aufgetragen. Wir diskutieren die σ-ε-Kurve von Baustahl für steigende (Zug-)Kraft F: Von σ = 0 bis zu einem Wert σ = RP wächst die Dehnung ε proportional – linear – mit σ. Der Index P kennzeichnet die Proportionalitätsgrenze, den Buchstaben R (französisch résistance: Widerstandsfähigkeit) benutzt man, um anzudeuten, daß es sich bei die­ sem Spannungswert um eine Werkstoffeigenschaft handelt. Oberhalb RP wächst die Dehnung progressiv bis zum Punkt RE , der Elastizitäts­ grenze. Bis zu diesem Punkt wird die Kurve bei einer Verringerung von F „rückwärts“ durchlaufen, der Probestab hat dann bei vollständiger Entlastung keine bleibenden Verformungen erlitten, er ist „elastisch“. Bei Belastungen über RE hinaus treten bleibende plastische Verformungen auf. An der oberen Streckgrenze RH wächst die Dehnung sprungartig bei etwa konstan­ ter Last. Oberhalb der Streckgrenze steigt die Kurve weiter an, kurz vor Erreichen eines Ma­ ximums beginnt sich der Stab an einer Stelle merklich einzuschnüren, die auf den (festen) Ausgangsquerschnitt A0 bezogene Spannung steigt noch etwas an – bis zur

140 | 2 Elastostatik

Zugfestigkeit Rm – und fällt dann auf den Punkt RZ des Zerreißens ab. Die gestrichelte Kurve deutet die auf den eingeschnürten Querschnitt bezogene Spannung an. Für den Druckast der Kurve gilt ähnliches. Die folgende Abbildung 2.3.2 zeigt σ-ε-Linien für verschiedenartige Werkstoffe. σ

a b

c

d e ε

Abb. 2.3.2: Spannungs-Dehnungs-Linien verschiedener Werkstoffe. (a) hochfester Stahl, (b) Baustahl, (c) Grauguß, (d) Kupfer, e) Leder

2.3.2 Das Hookesche Gesetz für die einfache Zugspannung Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm zeigt, daß bei einachsiger Belastung die (Längs-)Dehnung der Spannung proportional ist, falls die Belastung nicht zu hoch ist; es gilt das Hookesche Gesetz: σ F . ε= oder σ = Eε mit σ = E A0 Der Proportionalitätsfaktor E heißt Elastizitätsmodul. Eine Belastung über die Propor­ tionalitätsgrenze RP hinaus scheidet in der Regel aus Sicherheitsgründen aus. (Bei Druck werden σ und ε negativ.) Dimension dim E = dim σ/ dim ε = dim σ = K/L2 . Der Elastizitätsmodul hat die Dimension einer Spannung. Der Elastizitätsmodul hängt stark vom Stoff ab. Beispiele hierzu sind in Tabel­ le 2.3.1 zusammengestellt. Mit steigender Temperatur nimmt bei Metallen der Elastizi­ tätsmodul ab. Tab. 2.3.1: Elastizitätsmoduln verschiedener Stoffe Stoff

Stahl

Grauguß

Aluminium

Kupfer

E 105 N/mm2

2,1

0,8–1,3

0,7

1,25

2.3 Stoff-Gesetze

|

141

2.3.3 Das Hookesche Gesetz für den zweiachsigen Spannungszustand Schreibt man für den einachsigen Spannungszustand das Hookesche Gesetz in der Form σ1 , ε1 = E so erhält man für die Querkontraktion (vgl. Abschnitt 2.2.1) σ1 ε2 = −ν ε1 = −ν . E Überlagert man für den zweiachsigen Spannungszustand die Wirkungen der beiden Einzelspannungen σ 1 und σ 2 (vgl. Abschnitt 2.2.1), so erhält man das Hookesche Ge­ setz in der Form σ1 σ2 σ2 σ1 ε1 = −ν , ε2 = −ν . E E E E Dies ist natürlich nur möglich, falls der Werkstoff isotrop ist, das heißt, daß die Ver­ formung nicht von der Belastungsrichtung abhängt. (Holz ist ein Beispiel für einen anisotropen Werkstoff.) Falls σ 1 , σ 2 Hauptspannungen sind (wie bisher vorausgesetzt), geben ε1 , ε2 die lokalen Verzerrungen vollständig wieder. Der Fall eines um den Winkel φ gedrehten Elementes wird im Abschnitt 2.3.5 behandelt. Beispiel Gegeben: Dünne Rechteckmembran (Seitenlängen a und b, Elastizitätsmodul E, Querkontraktionszahl ν) wird in „1“-Richtung um ε1 gedehnt, vgl. Abbildung 2.3.3. Gesucht: a) Spannung σ 1 für σ 2 = 0 (d. h. die Seiten sind frei), b) Spannungen σ 1 , σ 2 für ε2 = 0 (d. h. die Querverformung ist durch eine starre Einspannung verhindert); die Schubspannungen seien vernachlässigbar. Lösung: a) Mit σ 2 = 0 folgt aus dem Hookeschen Gesetz: σ 1 = Eε1 . Eε1 . b) Mit ε2 = 0 folgt σ 2 = νσ 1 und σ 1 = 1 − ν2 Für ν2 ≈ 0,1 ist die Spannung σ 1 im Fall b) etwa 10 % höher als im Fall a). σ2 a σ1

b

σ2

σ1

Abb. 2.3.3: Rechteckmembran

142 | 2 Elastostatik

2.3.4 Das Hookesche Gesetz für Schubverformungen Unmittelbares Vorgehen Parallel zum Hookeschen Gesetz für die einfache Zugspannung in Abschnitt 2.3.2 setzt man für das Rechteckelement nach Abbildung 2.3.4 das Hookesche Gesetz der Schub­ verformung als lineare Beziehung zwischen Schubspannung τ und Schubwinkel γ an: τ G

γ=

τ = Gγ .

oder

Der Proportionalitätsfaktor G heißt Schub- oder Gleitmodul. τ

4

3 γ

τ τ 1

2 τ

Abb. 2.3.4: Verformung infolge Schubspannung

Dimension dim G = dim τ/ dim γ = K/L2 . Der Gleitmodul hat die Dimension einer Spannung (Schubwinkel γ im Bogenmaß!). Man kann den Gleitmodul zum Beispiel an Hand einer Torsionverformung mes­ sen, vgl. Abschnitt 2.13. Für Stahl erhält man G ≈ 8 ⋅ 104 N/mm2 (Größenordnung von γ ist 1 ⋅ 10−3 ). Herleitung aus dem zweiachsigen Spannungszustand In Abbildung 2.1.9 haben wir für den reinen Schubspannungszustand die Gleichwer­ tigkeit der Abbildungen 2.3.5a und b für σ = τ gezeigt. σ

3

σ

τ

τ

1 σ

2

4

2

τ

τ 1 (a)

σ

(b)

Abb. 2.3.5: Reiner Schubspannungszustand

2.3 Stoff-Gesetze

| 143

In Abbildung 2.3.5a liegen offenbar die Hauptspannungen σ 1 = σ, σ 2 = −σ vor. Gemäß Abschnitt 2.3.3 erhält man die Verzerrungen σ σ σ 1+ν σ 1+ν σ , ε2 = − − ν = − σ. ε1 = + ν = E E E E E E Hiermit berechnet man nach der Endformel von Abschnitt 2.2.3 für das um 45°gedreh­ te Element nach Abbildung 2.3.5b – das mit Abbildung 2.3.4 übereinstimmt, wenn man die Ecken einander gemäß den eingetragenen Ziffern zuordnet – den Schubwinkel γ zu 1+ν γ=2 τ. E Vergleich mit γ = τ/G liefert E . G= 2(1 + ν) Diese Beziehung besagt, daß zwei der drei Stoffbeiwerte Elastizitätsmodul, Gleitmo­ dul und Querkontraktionszahl den dritten festlegen.

2.3.5 Verzerrungen beim allgemeinen ebenen Spannungszustand Zu den gegebenen Spannungen σ x , σ y und τ des ebenen Spannungszustandes erhält man die Verzerrungen (vgl. Abbildung 2.3.6): σy σy σx τ σx εx = −ν , εy = −ν , γ= . E E E E G σy τ τ

y σx

x

γ σx

τ τ (a)

σy

(b)

Abb. 2.3.6: Ebener Spannungszustand und Verformung.

2.3.6 Verzerrungen beim allgemeinen räumlichen Spannungszustand Beim räumlichen Spannungszustand wird der Körper jeweils durch die Zugspannung in Achsrichtung gedehnt, die zur betrachteten Achse senkrechten Zugspannungen be­ wirken Querkontraktionen. In Matrix-Schreibweise lautet das Hookesche Gesetz für die Dehnungen εx σx 1 −ν −ν 1 ( ε y ) = (−ν 1 −ν ) (σ y ) . E −ν −ν 1 εz σz

144 | 2 Elastostatik

Unabhängig hiervon gilt das Hookesche Gesetz für die Scherungen γ xy =

τ xy τ yz τ zx , γ yz = , γ zx = . G G G

Aufgabe 1: Skizzieren Sie für den Quader in Abbildung 2.1.10 die Gleitwinkel γ xy , γ yz , γ zx nach dem Muster von Abbildung 2.3.6b. Aufgabe 2: Lösen Sie obige Matrix-Gleichung für die Dehnungen nach den Spannun­ gen auf. Bemerkung Aus der Dehnungsgleichung folgt für den ebenen Spannungszustand (z. B. für σ z = 0) im allgemeinen (ε x , ε y , ε z ) ≠ (0, 0, 0): Der ebene Spannungszustand hat einen räum­ lichen Verzerrungszustand zur Folge! Entsprechend folgt für den ebenen Verzerrungs­ zustand (z. B. ε z = 0) im allgemeinen ein räumlicher Spannungszustand (σ x , σ y , σ z ) ≠ (0, 0, 0).

Stabwerke und Federverbände 2.4 Verformung von Stabwerken In der Statik, in Abschnitt 1.14, haben wir die durch äußere Lasten in Stabwerken (Fachwerken) bewirkten Stabkräfte S i berechnet. Dabei wurden die Stabwerksverfor­ mungen außer acht gelassen. Diese Verformungen ermitteln wir jetzt, indem wir sie aus den Längenänderungen der Stäbe i unter der Wirkung der Kräfte S i zusammenset­ zen. (Die im verformten Stabwerk herrschenden Kräfte unterscheiden sich vernach­ lässigbar wenig von den vorn berechneten, es sei denn, man hat es mit einem „im Kleinen“ beweglichen System zu tun; vgl. Abbildung 1.11.15.) Das Zusammensetzen der Stabwerksverformungen aus den Stab-Längenänderun­ gen erfordert sorgfältige geometrische Überlegungen, ist umständlich und mühsam. Viel einfacher gelangt man mit Hilfe des Arbeitssatzes, dem Prinzip der virtuellen Kräfte, Abschnitt 2.15, zum Ziel.

2.4.1 Verformung eines Einzelstabes Gegeben sei der Stab Nr. i eines Stabwerkes: Länge l i , Querschnittsfläche A i , Elasti­ zitätsmodul E i . Auf den Stab wirke die Kraft S i (S i > 0: Zug, S i < 0: Druck), s. Abbil­ dung 2.4.1. Gesucht ist die Längenänderung ∆l i (∆l i > 0: Verlängerung, ∆l i < 0: Verkürzung).

2.4 Verformung von Stabwerken |

145

li Si

Si li ∆li

Abb. 2.4.1: Einzelstab

Lösung: Der Stab ist einachsig belastet, nach Abschnitt 2.1.1 gilt für die Spannung σi =

Si . Ai

Aus dem Hookeschen Gesetz, Abschnitt 2.3.2, folgt für seine Dehnung εi =

σi Si = . Ei Ei Ai

Hiermit ergibt sich nach Abschnitt 2.2.1 (mit dem richtigen Vorzeichen!): ∆l i = ε i l i =

Si li . Ei Ai

Den Ausdruck (EA)i := E i A i nennt man die Dehnsteifigkeit des Stabes i. Beispiel Gegeben: Stab mit Querschnitt A = 100 mm2 , Länge l = 5 m, zulässige Spannung σ zul = 1000 N/mm2 , E = 2,1 ⋅ 105 N/mm2 . Gesucht: Die zulässige Last Szul und die Verformung ∆lmax unter dieser Last. Lösung: Szul = σ zul A = 105 N , lSzul lσ zul = = 0,024 m . EA E Dieses Beispiel, bei dem eine sehr hohe zulässige Spannung vorausgesetzt wurde, macht deutlich, daß die Verformungen von Bauelementen in der Regel klein gegen­ über ihren (Längs-)Abmessungen sind. ∆lmax =

2.4.2 Verformung eines Stabwerkes Die Längenänderungen der Einzelstäbe rufen die Verformungen des Stabwerkes – die Verschiebungen seiner Knoten – hervor. In einfachen Fällen kann man die Wirkung der Längenänderungen über das Stabwerk verfolgen; das führen wir unten für den in Abbildung 2.4.2 gezeigten Stabzweischlag beispielhaft vor. Enthält das Stabwerk viele Stäbe, ist solche Vorgehensweise zu mühsam, man benutzt dann sogenannte Arbeitssätze, die sich leicht schematisieren lassen; vgl. Abschnitt 2.15.

146 | 2 Elastostatik

Aufgabenstellung und Lösungsweg Gegeben sei der „Stabzweischlag“ nach Abbildung 2.4.2, bestehend aus den Stäben 1 und 2 mit den Dehnsteifigkeiten (EA)1 bzw. (EA)2 , sowie die Winkel α, β, die Länge c und die unter dem Winkel γ angreifende Kraft F. Gesucht wird die Horizontalverschiebung u und die Vertikalverschiebung w des Punk­ tes C. A 1 C

α β B

γ 2 c

x,u

F z,w

Abb. 2.4.2: Stabzweischlag

Lösungsweg: Unter der Voraussetzung, daß nur kleine Stablängenänderungen eintreten, |∆l i | ≪ l i (vgl. das Beispiel in Abschnitt 2.4.1), bleiben die Verschiebungen der Stabwerksknoten im Regelfall ebenfalls klein: Die Geometrie des Stabwerkes wird durch die Belastung nur wenig verändert. In diesem Fall unterscheiden sich die Stabkräfte im verformten System nur wenig von den auf der Grundlage der Geometrie des unverformten Systems berechneten Stabkräften. Deshalb kann man nach dem folgenden Schema vorgehen: 1. Stabkräfte S i infolge gegebener Lasten für das unverformte (starre) System berech­ nen, vgl. Abschnitt 1.14.2. 2. Stablängenänderungen ∆l i infolge der Stabkräfte S i berechnen. 3. Verschiebungspläne für die einzelnen Knoten skizzieren und (z. B. trigonome­ trisch) nachrechnen. Wir geben im folgenden allgemeine Hinweise und lösen obige Aufgabe nach diesem Schema. Stabkräfte Unser Beispiel hat nur den einen Knoten C. Gemäß Abschnitt 1.14.1 gilt (vgl. auch Ab­ bildung 2.4.3): ∑ F xi = 0 : F cos γ − S1 cos α − S2 cos β = 0 , ∑ F zi = 0 :

F sin γ − S1 sin α + S2 sin β = 0 .

Daraus ergeben sich die Stabkräfte zu S1 =

sin(β + γ) F, sin(α + β)

S2 =

sin(α − γ) F. sin(α + β)

Diese Beziehungen gelten unter Beachtung des Vorzeichens für beliebige Winkel α, β, γ, wenn nur sin(α + β) ≠ 0 ist.

2.4 Verformung von Stabwerken | 147

S1 α

x

z

β

γ

C

F

S2

Abb. 2.4.3: Kräfte am Knoten

Längenänderungen Nach Abschnitt 2.4.1 gilt ∆l i = S i l i /(EA)i , woraus sich mit den hier vorliegenden Stab­ längen l1 = c/ cos α, l2 = c/ cos β die folgenden Längenänderungen (mit Vorzeichen) ergeben: sin(β + γ) l1 S1 cF ∆l1 = , = (EA)1 (EA)1 cos α sin(α + β) ∆l2 =

sin(α − γ) l2 S2 cF = . (EA)2 (EA)2 cos β sin(α + β)

Verschiebungsplan Abbildung 2.4.4 zeigt gestrichelt die Geometrie des unbelasteten Stabzweischlags. A

l1+∆l1

C C‘ l2+∆l2 B

Abb. 2.4.4: Verschiebung des Knotens C

Die belasteten Stäbe haben die Längen l1 + ∆l1 und l2 + ∆l2 . Die Kreisbogen mit den Radien l1 + ∆l1 um A und l2 + ∆l2 um B schneiden sich in C󸀠 . Dies ist der Ort des Knotens C beim belasteten System. Wegen |∆l i | ≪ l i kann man das Aufsuchen von C󸀠 vereinfachen (vgl. Verschie­ bungsplan nach Abbildung 2.4.5): 1. Man trägt ∆l i vom Ausgangspunkt C in Richtung des Stabes S i ein, vgl. die ent­ sprechenden Pfeile in Abbildung 2.4.5. Dabei ist es – wie bei allen Planfiguren – zweckmäßig, von positiven ∆l i auszugehen. 2. Die Kreisbogen um A bzw. B in Abbildung 2.4.4 können bei kleinen Auslenkungen durch die Tangenten an die Kreise ersetzt werden: Man errichtet die Lote senk­ recht zu den ursprünglichen Stabrichtungen in den Endpunkten der verformten Stäbe (in den Pfeilspitzen von ∆l i ). Der Schnittpunkt C󸀠 der Tangenten ist der neue Ort des Knotens.

148 | 2 Elastostatik (1)

∆l2

α

C

(2)

β

u

α

β

β α

w

C‘ ∆l1

3.

Abb. 2.4.5: Verschiebungsplan für den Knoten C

Zur Berechnung von u und w tragen wir in den Verschiebungsplan wie gezeigt die Winkel α, β ein, Abbildung 2.4.5, und lesen daraus längs der waagrechten Gera­ den durch C – als Hypotenuse der rechtwinkligen Dreiecke mit den Katheten ∆l1 bzw. ∆l2 – ab: u + w tan α = ∆l1 / cos α ,

u − w tan β = ∆l2 / cos β .

Die Lösung dieses Gleichungssystems für u und w lautet u=

∆l1 sin β + ∆l2 sin α , sin(α + β)

w=

∆l1 cos β − ∆l2 cos α . sin(α + β)

Einsetzen von ∆l1 , ∆l2 liefert u=

cF sin(α − γ) sin α cF sin(β + γ) sin β + , (EA)1 cos α sin2 (α + β) (EA)2 cos β sin2 (α + β)

w=

cF sin(α − γ) cos α cF sin(β + γ) cos β − . (EA)1 cos α sin2 (α + β) (EA)2 cos β sin2 (α + β)

Die Überlegungen gelten für |α|, |β| < π/2, α + β ≠ 0 und beliebige Winkel γ.

2.5 Statisch unbestimmte Stabwerke Nach Abschnitt 1.11.4 lassen sich bei einem statisch unbestimmten System – das ist hier ein Stabwerk – die Stabkräfte nicht mehr allein aus den Gleichgewichtsbedin­ gungen berechnen. Daher ist der dreistufige Lösungsweg aus Abschnitt 2.4.2 nicht mehr gangbar, vielmehr müssen jetzt die Kräfte und Verformungen gemeinsam und verknüpft behandelt werden. Das unten am Beispiel eines Stabwerkes entworfene Lö­ sungsschema gilt auch für andere statisch unbestimmte Systeme.

2.5.1 Aufgabenstellung und Lösungsschema Gegeben sei ein Stabwerk aus drei Stäben 1, 2, 3 mit den Dehnsteifigkeiten (EA)1 , (EA)2 bzw. (EA)3 , den Abmessungen c bzw. l und dem Winkel α sowie die Kraft F; vgl. Ab­ bildung 2.5.1a. Gesucht werden die Stabkräfte S1 , S2 , S3 und die Verschiebungen u, w des Punktes C.

2.5 Statisch unbestimmte Stabwerke |

149

A 1

3

l S1

B 2c (a)

S3

α C

S2 F

(b)

C F

Abb. 2.5.1: Statisch unbestimmtes Stabwerk

Am Punkt C greifen drei unbekannte Kräfte S1 , S2 , S3 an, vgl. Abbildung 2.5.1b. Mit den zwei statischen Gleichgewichtsbedingungen für den Punkt C allein können wir die Kräfte nicht bestimmen, das gegebene Stabwerk ist statisch unbestimmt. Im folgenden Lösungsschema haben wir das Vorgehen beim Untersuchen statisch unbestimmter Systeme in vier Schritte aufgegliedert: 1. System so weit aufschneiden, daß statisch bestimmte Teilsysteme entstehen. Schnittkräfte in allen Teilsystemen einführen. 2. Verschiebungen der statisch bestimmten Teilsysteme unter den gegebenen Lasten und den (noch freien) Schnittlasten berechnen. 3. Geometrische Verträglichkeiten (Zusammenhangsbedingungen) für die Verschie­ bungen der Teilsysteme anschreiben; diese Bedingungen stellen Bestimmungs­ gleichungen für die unbekannten Schnittlasten dar. 4. Schnittlasten berechnen und in die Gleichungen aus Punkt 2 einsetzen; man er­ hält die Kräfte und Verschiebungen des statisch unbestimmten Systems.

2.5.2 Lösung für das Beispiel 1.

2.

Aufschneiden in statisch bestimmte Teilsysteme I und II (vgl. Abbildung 2.5.2): Der Stab 3 wird vom Knoten C gelöst, die Stabkraft S3 – als Zug positiv – wird bei CI (Knotenpunkt C im Teilsystem I) und bei CII (Knotenpunkt C im Teilsystem II) eingetragen. (Diese Zerschneidung wurde gewählt, weil sich für Teilsystem I die Verschiebungen aus Abschnitt 2.4.2 übernehmen lassen.) Verschiebungen: Für Teilsystem I ergeben sich aus Abschnitt 2.4.2 (vgl. die Abbil­ dungen 2.4.4 und 2.5.2) mit β = 0, γ = 90° und der Last F − S3 an Stelle von F die Verschiebungen von Punkt CI zu c(F − S3 ) cos3 α 1 + ] . [ sin2 α cos α (EA)1 (EA)2 Für Teilsystem II ergeben sich die Verschiebungen von CII zu S3 l wII = , (EA)3 vgl. Abschnitt 2.4.1; u II ist frei, denn der Stab ist am Lager D drehbar aufgehängt. uI = −

c(F − S3 ) , (EA)2 tan α

wI =

150 | 2 Elastostatik

D

u

II A

w

3 1

CII

2

S3 S3 CI

I B

F

3.

Abb. 2.5.2: Aufgeschnittenes Stabwerk

Geometrische Verträglichkeit: Die Verschiebungen von CI und CII müssen überein­ stimmen: u I = u II , wI = wII . Einsetzen obiger Ausdrücke für wI , wII in die letzte Gleichung liefert S3 =

c [1/(EA)1 + cos3 α/(EA)2 ] /(sin2 α cos α) c [1/(EA)1 + cos3 α/(EA)2 ] /(sin2 α cos α) + l/(EA)3

F.

Im Sonderfall gleicher Dehnsteifigkeit, (EA)1 = (EA)2 = (EA)3 =: EA, gilt S3 =

c(1 + cos3 α)/(sin2 α cos α) F. l + c(1 + cos3 α)/(sin2 α cos α)

Die Dehnsteifigkeit EA ist herausgefallen, S3 hängt nicht mehr von EA ab. Außer­ dem zeigt man leicht, daß |S3 | ≤ |F|. 4. Ergebnisse für das statisch unbestimmte System (wir beschränken uns auf den Sonderfall gleicher Dehnsteifigkeit): Mit dem nun bekannten S3 gilt c l F/(EA tan α) , l + c(1 + cos3 α)/(sin2 α cos α) c l F(1 + cos3 α)/(EA sin2 α cos α) . w = wII = l + c(1 + cos3 α)/(sin2 α cos α) u = uI = −

Aus den Gleichgewichtsbedingungen am Knoten C nach Abbildung 2.5.1b folgt S1 =

lF/ sin α , l + c(1 + cos3 α)/(sin2 α cos α)

S2 =

−lF/ tan α . l + c(1 + cos3 α)/(sin2 α cos α)

2.6 Federverbände 2.6.1 Federn als elastische Elemente Wir verstehen unter einer Feder ein recht allgemeines linear elastisches Bauelement, das wir uns meistens als Schraubenfeder vorstellen und symbolisch wie in Abbil­ dung 2.6.1b zeichnen. Unter der Wirkung einer Kraft F verlängere sich die Feder um

2.6 Federverbände | 151

EA

l

k

∆l (a)

F

∆l (b)

F

Abb. 2.6.1: Feder und Stab

das Stück ∆l. Man setzt F = k ∆l

oder

∆l = hF

und nennt sinnfällig k=

F ∆l

Steifigkeit ,

dim k =

K , L

h=

∆l F

Nachgiebigkeit ,

dim h =

L . K

Häufig bezeichnet man die Federverlängerung mit x und nennt k = 1/ h Federkon­ stante. Vergleicht man die Feder mit dem Stab nach Abschnitt 2.4.1, s. Abbildung 2.6.1a, so kann man wegen ∆l = lF/(EA) den Stab durch die Feder „ersetzen“, wenn sie die (Ersatz-)Steifigkeit

k :=

EA l

(Ersatz-)Nachgiebigkeit

h :=

l EA

oder die

besitzt. Entsprechend kann man (Ersatz-)Federn für andere elastische Bauelemente ein­ führen, wenn es der größeren Anschaulichkeit oder Übersichtlichkeit dient.

2.6.2 Federschaltungen Ähnlich den „Schaltungen“ von Bauelementen der Elektrotechnik (Kondensatoren, Widerständen, Spulen) zu Netzwerken kann man Federverbände als „Federschaltun­ gen“ behandeln und sich Analogien zwischen beiden zunutze machen. Parallelschaltung Gegeben seien zwei Federn mit den Steifigkeiten k 1 , k 2 , die über eine Traverse T mit­ einander verbunden – parallel geschaltet – und mit der Kraft F belastet sind, vgl. Ab­

152 | 2 Elastostatik

bildung 2.6.2a. Die Traverse T dient hier und im folgenden als symbolisches Verbin­ dungselement. Es wird stets angenommen, daß sie sich nur quer zu ihrer Ausgangs­ richtung verschiebt und sich nicht verdreht. Gesucht ist die Steifigkeit k e einer Ersatzfeder (Abbildung 2.6.2b), die sich unter der Last F genauso längt wie die beiden Ausgangsfedern.

k1

k2

F

(a)

ke

T (b)

F

Abb. 2.6.2: Parallelschaltung von Federn

Lösung: Für die Verlängerungen gilt x1 = x2 = x, für die Kräfte F1 = k 1 x, F2 = k 2 x. Aus dem Gleichgewicht an der Traverse folgt (vgl. Abbildung 2.6.3): F = F1 + F2 = (k 1 + k 2 )x . Der Vergleich mit der Ersatzfeder, wo F = k e x, liefert für die Parallelschaltung ke = k1 + k2 . Bei Parallelschaltung addieren sich die Kräfte, also die Federsteifigkeiten (vgl. Konden­ satoren).

k2

k1 (a) F1

F2

F1

F2

(b)

F

Abb. 2.6.3: Kräfte an Federn und Traverse

Hintereinanderschaltung Gegeben seien zwei Federn mit den Steifigkeiten k 1 , k 2 , die aneinander gehängt – hintereinander (in Reihe) geschaltet – und mit der Kraft F belastet sind, vgl. Abbil­ dung 2.6.4a. Gesucht ist die Steifigkeit k e einer Ersatzfeder (Abbildung 2.6.4b), die sich unter der Last F genauso längt wie die beiden Ausgangsfedern.

2.6 Federverbände | 153

k1

ke

k2 F (a)

F

Abb. 2.6.4: Hintereinanderschaltung von Federn

(b)

Lösung: Für die Verlängerungen der Federn 1 und 2 gelten x1 = F/k 1 , x2 = F/k 2. Die Verschie­ bung des Kraftangriffspunktes ergibt sich damit zu x = x1 + x2 = F (

1 1 + ) . k1 k2

Der Vergleich mit der Ersatzfeder, wo x = F/k e , liefert für die Hintereinanderschal­ tung: 1 1 1 = + oder he = h1 + h2 . ke k1 k2 Bei Hintereinanderschaltung addieren sich die Verschiebungen, also die Federnachgie­ bigkeiten (vgl. Kondensatoren).

2.6.3 Beispiele Ersatzfeder Gegeben: Starrer gewichtsloser Balken, Längen l1 , l2 , belastet mit der Kraft F und ge­ stützt durch eine Feder (Steifigkeit k), vgl. Abbildung 2.6.5. Gesucht: Steifigkeit k e einer bei C angreifenden Ersatzfeder für den Fall sehr kleiner Auslenkungen.

l1

F

l2 A

B k

C ke Abb. 2.6.5: Balken mit Feder

Lösung: Die Gleichgewichtsbedingung für das Moment um A bei kleiner Auslenkung liefert (vgl. Abbildung 2.6.6a): + ↺ ∑ M (A) = 0 : l2 FB − l1 F = 0 .

154 | 2 Elastostatik l1 l2

xB

F

A

B

(a)

FB

x: = xC

C (b)

Abb. 2.6.6: Ausgelenkter Balken

Geometrisch folgt aus dem Strahlensatz für den als starr vorausgesetzten Balken (vgl. Abbildung 2.6.6b): l1 x = xB . l2 Mit FB = kxB kann man FB und xB eliminieren und erhält F=

l2 l2 l2 2 FB = kxB = ( ) kx . l1 l1 l1

Der Vergleich mit F = k e x liefert ke = k (

l2 2 ) . l1

Vier-Feder-Schaltung Gegeben: Vier Federn mit den Steifigkeiten k 1 , . . . , k 4 sind gemäß Abbildung 2.6.7 verbunden und mit der Kraft F belastet. Gesucht: Ersatzsteifigkeit k e .

k2

k1

k4 k3 F Abb. 2.6.7: Zusammenschaltung von Federn

Lösung: Die Federn 1,2,3 sind parallel geschaltet: k 󸀠e = k 1 + k 2 + k 3 . Die Feder k 󸀠e liegt in Reihe mit der Feder 4: 1/k e = 1/k 4 + 1/k 󸀠e . Damit erhält man die Ersatzsteifigkeit ke =

k 4 (k 1 + k 2 + k 3 ) . k1 + k2 + k3 + k4

2.6 Federverbände | 155

Haftungsaufgabe Gegeben: Zwei Klötze, Gewichte G1 , G2 , haften gemäß Abbildung 2.6.8a auf einer rau­ hen unverformbaren (starren) Ebene, Haftungszahlen μ01 , μ02 . An den beiden Klöt­ zen greift über ein Zuggestänge mit den Federsteifigkeiten k 1 , k 2 eine Kraft F an (bei F = 0 sei das Gestänge kräftefrei). Gesucht: Der Wert F = F ∗ (> 0), bei welchem einer der Klötze zu rutschen beginnt, wobei die Kraft F von F = 0 ausgehend gesteigert werde.

G2

G1

k1

k2

F

µ02

µ01

(a) G2

G1 F2

H2 (b)

F1

H1

N2

N1

Abb. 2.6.8: Haftende Klötze

Lösung: Sei x die Auslenkung des Kraftangriffspunktes gegenüber der kräftefreien Ausgangs­ lage. Dann gelten, vgl. Abbildung 2.6.8b: F1 = k1 x ,

F2 = k2 x ,

F = F1 + F2 = (k 1 + k 2 )x .

Elimination von x liefert mit der relativen Steifigkeit κ := k 1 /k 2 : F1 =

k1 κ F= F, k1 + k2 1+κ

F2 =

k2 1 F= F. k1 + k2 1+κ

Die Haftungsbedingungen lauten (vgl. Abschnitt 1.20.2): |H1 | < μ 01 N1 ,

|H2 | < μ 02 N2 .

Daraus folgen hier die Bedingungen κ F = F1 < μ 01 G1 1+κ also

1+κ , κ F < μ 02 G2 (1 + κ) ,

F < μ 01 G1

und

1 F = F2 < μ 02 G2 , 1+κ

damit G1 nicht rutscht , damit G2 nicht rutscht .

156 | 2 Elastostatik

Ergebnis: Der Klotz, zu dem in den Ungleichungen die kleinere rechte Seite gehört, rutscht als erster. Es gilt F ∗ = min[μ 01 G1 (1 + κ)/κ, μ02 G2 (1 + κ)] . Zum Beispiel erhält man für k 1 = k 2 , also κ = 1, F ∗ = min[2μ 01 G1 , 2μ 02 G2 ] . Wichtig: In das Kriterium geht nur das Verhältnis κ der Steifigkeiten k 1 , k 2 ein, ihre absoluten Werte spielen keine Rolle. Die Aussage gilt also auch für k 1 , k 2 → ∞ – für gemeinsam „erstarrende“ Federn –, wenn nur κ erhalten bleibt, vgl. Abschnitt 1.20.3 (allerdings müßte man dann fragen, ob sich die Ebene nicht auch verformt).

2.7 Wärmedehnungen und Wärmespannungen 2.7.1 Wärmedehnungen Ein Stab von der Länge l = l0 bei der Temperatur t0 wird um ∆t auf t1 = t0 + ∆t erwärmt. Experimentell stellt man eine Verlängerung auf l1 = l0 + ∆l fest; man findet (vgl. Abbildung 2.7.1): ∆l = αl ∆t . Der Koeffizient α heißt (thermischer) Längenausdehnungskoeffizient. l1 = l + ∆l

l=l0 (a)

t0

(b)

t1

Abb. 2.7.1: Stabverlängerung durch Temperaturerhöhung

Dimensionen, Einheiten Dimensionen: dim t = T∗ (Temperatur), dim α = (dim ∆t)−1 = 1/T∗ . Einheiten: [t] = Kelvin = K, [α] = Kelvin−1 = K−1 . In Tabelle 2.7.1 sind Längenausdehnungskoeffizienten α von einigen Werkstoffen zu­ sammengestellt. In Analogie zu Abschnitt 2.2.1 definiert man die Wärmedehnung oder thermische Dehnung ∆l = α ∆t . ε th := l

2.7 Wärmedehnungen und Wärmespannungen |

157

Tab. 2.7.1: Thermische Längenausdehnungskoeffizienten von Werkstoffen Werkstoff

α/(10−5 /K)

Stahl Grauguß Aluminium Kupfer

1,2 0,9 2,3 1,7

Überlagerung von thermischen und spannungsbedingten Dehnungen Wird ein Stab mit einer Spannung belastet und erwärmt, so addieren sich die beiden Dehnungen: σ ε = + α ∆t . E Für die allgemeine Dehnung im Raum gilt (vgl. Abschnitt 2.3.6): 1 εx 1 ( ε y ) = (−ν E −ν εz

−ν 1 −ν

1 σx −ν −ν ) (σ y ) + α ∆t (1) . 1 1 σz

Auf die Schubverformungen, die Winkel γ xy , γ yz , γ zx , hat eine Erwärmung unmittel­ bar keinen Einfluß.

2.7.2 Wärmespannungen Zur Behandlung von Wärmespannungen werden im folgenden zwei Beispiele betrach­ tet, die typische Aufgabenstellungen deutlich machen. Stab zwischen zwei starren Wänden Gegeben: Stab mit Dehnsteifigkeit EA, Ausdehnungskoeffizient α; bei der Tempera­ tur t0 spannungsfrei eingepaßt zwischen zwei starre Wände mit Abstand l. Gesucht: Spannung σ nach Erwärmung um ∆t.

x

EA, α l Abb. 2.7.2: Stab zwischen zwei Wänden

158 | 2 Elastostatik

l

u Abb. 2.7.3: Herausgeschnittener Stab

F

Lösung: Schneidet man den Stab entsprechend der Darstellung von Abbildung 2.7.3 heraus, so erhält man – bei Vernachlässigung des Gewichtes – aus den statischen Gleichge­ wichtsbedingungen lediglich die Aussage, daß die Längskraft unabhängig von x ist; das System ist statisch unbestimmt. Wir gehen nach dem Schema für statisch unbe­ stimmte Systeme aus Abschnitt 2.5.1 vor: 1. Stab bei x = l freischneiden und Schnittkraft F – als Zug positiv – einführen. 2. Verschiebung bei x = l für das freigeschnittene System bestimmen: u = lε = l [ 3.

F + α ∆t] . EA

Geometrische Verträglichkeit berücksichtigen: u=0.

4. Kraft und Spannung bestimmen: F = −EA α ∆t ,

σ = F/A = −E α ∆t .

Zahlenbeispiel: Mit α = 1,2 ⋅ 10−5 K−1 , E = 2,1 ⋅ 105 N/mm2 und ∆t = 50 K erhält man σ = −126 N/mm2 . Damit ergibt sich bei einer Eisenbahnschiene mit einer Quer­ schnittsfläche von A = 6000 mm2 eine Kraft F = −7,56 ⋅ 105 N.

Schraube mit Dehnhülse Gegeben: Zwei Kupferplatten (Dicke s, Fläche ACu sehr groß) sind gemäß der Dar­ stellung von Abbildung 2.7.4 durch eine Stahlschraube (Länge lS = l + a + 2s,

s s

l a Abb. 2.7.4: Behälterverschraubung

2.7 Wärmedehnungen und Wärmespannungen |

159

Querschnitt AS ) zusammengeschraubt. Damit bei Temperaturschwankungen ∆t die Schraubenkraft nicht zu stark schwankt, ist zusätzlich zur Unterlegscheibe (Dicke a, Fläche AU sehr groß) eine Dehnhülse eingebaut (Länge l, Stahl, Querschnitt AD ); E Elastizitätsmodul von Stahl; αCu , α St Ausdehnungskoeffizienten. Gesucht: Kraftänderung in der Schraube bei einer Temperaturänderung ∆t. Lösung: Dem Modell nach Abbildung 2.7.5 liegt die Annahme zugrunde, daß die Verformungen von Schraubenkopf und Schraubenteil in Mutter sowie die Biegung und Zusammen­ pressung von Unterlegscheibe und Kupferplatten vernachlässigbar sind. Wir gehen nach dem Schema von Abschnitt 2.5.1 vor: 1. Schnitt oberhalb der Schraubenmutter liefert Schnittkraft F als Zug auf Schrau­ benschaft und Druck auf Dehnhülse – in Abbildung 2.7.5 in zweimal F/2 aufge­ teilt. 2. Verschiebungen der Schnittflächen (nach unten positiv). Schraubenschaft: u s = lS [α St ∆t + F/(EAS )] , Platten, Dehnhülse, Scheibe („Rest“): u R = 2sα Cu ∆t + (l + a)α St ∆t − lF/(EAD ) . 3.

Geometrische Verträglichkeit:

4.

Kraft bestimmen:

F=

uS = uR .

2s(α Cu − α St ) ∆t . lS /(EAS ) + l/(EAD )

Diese Kraft überlagert sich der Kraft, mit der die Schraube vorgespannt ist. Man er­ kennt: F ist um so kleiner, je größer l, lS und je kleiner AS , AD sind.

Bezugslinie

F/2 F/2

F/2 F F

F/2 Abb. 2.7.5: Rechenmodell für Schraubverbindung

160 | 2 Elastostatik

Biegung von Balken Im allgemeinen biegt sich ein Balken unter einer Last nicht einfach in deren Richtung, sondern irgendwie schräg oder schief dazu. Hat der Balken jedoch einen symmetri­ schen Querschnitt, also – in Längsrichtung – eine Symmetrieebene, und liegen die Lasten in dieser Symmetrieebene, so liegt auch die Biegelinie darin. Diese gerade Bie­ gung studiert man ausführlich und setzt dann schiefe Biegungen durch Überlagerung von zwei (oder mehr) geraden zusammen.

2.8 Gleichungen der Balkenbiegung 2.8.1 Aufgabenstellung Die bisherige Betrachtung von Balken als starre Körper war auf die Auflagerkräfte so­ wie die Schnittgrößen beschränkt, vgl. die Abschnitte 1.10.2, 1.17 und das Beispiel in Abbildung 2.8.1. Ausgehend von der Kenntnis dieser Größen, interessiert man sich für die Verformungen und die Spannungen. Insbesondere fragt man: 1. Welchen Querschnitt (Form und Größe) muß der belastete Balken erhalten, damit vorgegebene zulässige Spannungen nicht überschritten werden? Alternativ: Welche Spannungen treten bei gegebenem Querschnitt auf? 2. Wie biegt sich der belastete Balken bei gegebenem Querschnitt? Alternativ: Welchen Querschnitt muß man wählen, wenn vorgegebene zulässige Biegungen nicht überschritten werden dürfen?

l1

F1

l2

l3

A

B F2

(a) Q

0

x

(b)

M

(c)

0

x

Abb. 2.8.1: Schnittgrößenverlauf bei einem Balken

2.8 Gleichungen der Balkenbiegung | 161

2.8.2 Verformung des Balkenelementes Annahmen Ein Balken-„Element“ der Länge ∆x sei gemäß Abbildung 2.8.2a durch Momente und Querkräfte belastet. Wir betrachten die Wirkung der Lasten: 1. Der Querkraft entsprechen Schubspannungen τ im Balkenelement. Das ur­ sprünglich rechteckige Element wird, wie Abbildung 2.8.2b zeigt, rautenförmig verschoben. Ins einzelne gehende Beispielrechnungen zeigen, daß dieser Beitrag gegenüber den „Biegeverformungen“ infolge des Momentes vernachlässigt wer­ den kann, wenn die Balkenlänge groß gegenüber der Balkenhöhe ist, (wenn der Balken schlank ist). Die Schubspannungen spielen dann ebenfalls eine unterge­ ordnete Rolle. Wir vernachlässigen diese Einflüsse. ∆x Q M

(a)

2.

M

τ

(b)

Q

τ Abb. 2.8.2: Balkenelement

Dem Moment entsprechen – wie in Abschnitt 2.8.3 gezeigt – Normalspannungen σ am Balkenelement. Hatte der Balken ursprünglich z. B. Rechteckquerschnitt und wird er z. B. in einer Ebene parallel zu einer Rechteckseite (Symmetrieebene des Balkens) gebogen, so bleiben ursprünglich parallele Querschnittsebenen, Abbil­ dung 2.8.3a, auch nach der Biegung eben, vgl. Abbildung 2.8.3b. Dies gilt streng, wenn keine Querkräfte vorhanden sind und die Momente am Balkenende „rich­ tig“ eingeleitet werden. Es ist eine gute Näherung bei vorhandenen Querkräften und für Balkenquerschnitte, die nicht in unmittelbarer Nachbarschaft von Kraftoder Momenteneinleitungsstellen liegen. Querschnittsebenen

(a)

∆x 0

σ

(b)

Querschnittsebenen σ

Abb. 2.8.3: Biegeverformung

162 | 2 Elastostatik

3.

Je nach Form des Balkenquerschnittes treten auch andere Spannungen und Ver­ formungen – z. B. senkrecht zur Biegeebene – auf. Ihr Einfluß ist bei nicht zu brei­ ten Balken klein, wir berücksichtigen sie nicht.

Dehnung Ein Balken mit symmetrischem Querschnitt wird durch ein Moment in seiner Sym­ metrieebene gebogen. Ein gerades Element der Länge ∆x (Abbildung 2.8.4a, b) wird dabei zum Sektor eines Kreisringes mit dem Zentriwinkel ∆α, Abbildung 2.8.4c. Eine „Faser“ an der Oberseite des Balkens wird gedrückt, eine Faser an der Unterseite wird gezogen. Da die Verzerrung sich von oben nach unten stetig ändert, gibt es in der Sym­ metrieebene y = 0 eine Faser, die ungedehnt bleibt, die neutrale Faser. Auf diese Faser legen wir den Nullpunkt der z-Richtung, sein Ort wird in Abschnitt 2.8.4 bestimmt. Da­ mit liegt das x-y-z-Koordinatensystem im unverformten Balken (Abbildung 2.8.4a, b) vorläufig fest und gestattet es, die Balkenpunkte mit (x, y, z) zu benennen (Referenz­ konfiguration). Diese Benennung wird auch für die Punkte des gebogenen Balkens beibehalten. Den noch unbekannten Krümmungsradius der neutralen Faser bezeichnen wir mit ϱ. Für die Länge der neutralen Faser im betrachteten Element gilt ϱ ∆α = ∆x . Wir untersuchen die Dehnung einer Faser an der Stelle z. Aus Abbildung 2.8.4c liest man ihre Länge nach der Biegung ab: ∆s = (ϱ + z) ∆α . Unverformtes Element ∆x neutrale Faser

x y

x

z ∆z

(a)

(b)

∆α M

neutrale Faser

ρ M z Verformtes Element

(c)

∆s

Abb. 2.8.4: Verformung eines Elementes infolge eines Momentes

2.8 Gleichungen der Balkenbiegung | 163

Mit ∆x, der Länge vor der Biegung, folgt gemäß Abschnitt 2.2.1 für die Dehnung: ∆s − ∆x (ϱ + z) ∆α − ϱ ∆α z = = = ε(z) . ∆x ϱ ∆α ϱ

ε=

Die Dehnung hängt linear von z ab. Da ϱ für einen Querschnitt konstant ist, haben wir für ε eine Geradengleichung. Dies ist die mathematische Form der obigen Annahme 2 über das Ebenbleiben der Querschnitte (Bernoulli-Hypothese).

2.8.3 Spannungen Mit ε = z/ϱ nach Abschnitt 2.8.2 erhalten wir aus dem Hookeschen Gesetz (vgl. Ab­ schnitt 2.3.2): E σ = σ(z) = Eε = z . ϱ Wegen der Bernoulli-Hypothese hängen also auch die Spannungen linear von z ab, vgl. Abbildung 2.8.5.

x σ (z) Abb. 2.8.5: Verlauf der Spannungen in Abhängigkeit von z

z

2.8.4 Gleichgewichtsbeziehungen Bisher ging die Querschnittsform des Balkens nicht in unsere Überlegungen ein. Dies folgt nun über die Gleichgewichtsbedingungen: Die Spannungen σ(z) wirken in x-Richtung; man schreibt deshalb gelegentlich auch σ x (z). Sie können eine Längskraft N, ein Moment M z um die z-Achse (in Abbil­ dung 2.8.6 als Vektor M z gezeichnet) und ein Moment M y um die y-Achse (im folgen­ den mit M statt M y bezeichnet) hervorrufen. Also müssen die entsprechenden Gleich­ gewichtsbedingungen untersucht werden. Mz M y

x

N x σ (z)

z ∆A (a)

(b)

Abb. 2.8.6: Momente und Längskraft am Balkenelement

164 | 2 Elastostatik

Längskraft Die Bedingung für Kräftegleichgewicht in x-Richtung am Balkenelement liefert (vgl. Abbildung 2.8.6): N = ∫ σ dA . A

Mit σ(z) aus Abschnitt 2.8.3 ergibt sich N=

E ∫ z dA . ϱ A

Da gemäß unseren Annahmen keine Längskraft am Balken angreift, muß N ver­ schwinden. Wegen E/ϱ ≠ 0 folgt ∫ z dA = 0 . A

Ein Vergleich dieses Ausdrucks mit den Gleichungen für die Schwerpunktkoordinaten in Abschnitt 1.16.3 zeigt, daß N = 0 erfüllt ist, wenn der Koordinatenursprung 0 im Schwerpunkt S des Querschnittes liegt. Beim Balken ohne Normalkraft definiert der Querschnittsschwerpunkt also die neutrale Faser (vgl. Abschnitt 2.8.2). Moment um z-Achse Das Momentengleichgewicht um die z-Achse liefert (vgl. Abbildung 2.8.7): M z = − ∫ y (σ dA) . A

Mit σ(z) aus Abschnitt 2.8.3 ergibt sich Mz = −

E ∫ yz dA . ϱ A

Da nur das Moment M um die y-Achse am Balken angreift, muß M z verschwinden. Wegen E/ϱ ≠ 0 folgt ∫ yz dA = 0 . A

Mz M y ∆A (a)

x x σ (z)

z (b)

Abb. 2.8.7: Momente am Balkenelement

2.8 Gleichungen der Balkenbiegung | 165

Dieses Integral ist ein Flächenmoment zweiten Grades (s. Abschnitt 2.9.1) und wird auch als Deviationsmoment bezeichnet. Das Deviationsmoment verschwindet, wenn die z-Achse eine Symmetrieachse des Querschnittes ist (Beweis als Übungsaufgabe). Verschwindet es nicht, biegt sich der Balken aus der x-z-Ebene heraus (deshalb „De­ viation“), man hat es mit der schiefen Biegung zu tun, auf die wir später eingehen. Hinweis: Das Deviationsmoment verschwindet auch, falls (nur) die y-Achse Symme­ trieachse ist. Obige Überlegungen bleiben gültig, solange keine Querkraft wirkt. Zum Beispiel bei Trägern mit einem dünnwandigen, offenen Profil (etwa [-Träger, Dachrin­ ne hochkant) bewirken selbst durch (kleine) Querkräfte hervorgerufene Schubspan­ nungen, daß sich der Träger aus der Lastebene herauswindet, also tordiert. (Man hebt die Verwindung auf, indem man ein um die x-Achse drehendes Moment, vgl. M x in Ab­ bildung 1.17.2b, am Träger anbringt. Besonders eignet sich dazu ein Verschieben der Lastebene von y = 0 nach y = ySM durch den bei (y, z) = (ySM , 0) liegenden Schubmit­ telpunkt auf der konvexen Seite des Querschnitts A.) Moment um y-Achse Das Momentengleichgewicht um die y-Achse liefert (vgl. Abbildung 2.8.7): M y = M = ∫ z (σ dA) . A

Mit σ(z) aus Abschnitt 2.8.3 ergibt sich M=

E ∫ z2 dA . ϱ A

Hierin ist M das gegebene Moment, E der Elastizitätsmodul des Balkenwerkstoffes, ϱ der – unbekannte – Krümmungsradius der neutralen Faser. Das Integral I := I y := ∫ z2 dA A

ist das Flächenmoment zweiten Grades um die y-Achse (wird auch mit J, J y bezeichnet). Flächenmomente berechnen wir im nächsten Abschnitt. Bei bekanntem I können wir die obige Gleichung nach ϱ auflösen und erhalten für den Krümmungsradius EI ϱ= . M Hiervon ausgehend werden wir in Abschnitt 2.11 den Verlauf der neutralen Faser, die Biegelinie, bestimmen. Setzt man obiges ϱ in die Beziehung für σ(z) aus Abschnitt 2.8.3 ein, so erhält man Mz . I Hiermit werden wir im Abschnitt 2.10 Biegespannungen berechnen. σ(z) =

Aufgabe: Man kontrolliere die Dimensionen in den beiden letzten Gleichungen.

166 | 2 Elastostatik

2.9 Flächenmomente zweiten Grades 2.9.1 Allgemeine Definitionen und Beziehungen Definition Gegeben sei der Querschnitt A mit dem Koordinatensystem y, z, vgl. Abbildung 2.9.1; der Koordinatenursprung 0 braucht nicht mit dem Schwerpunkt S von A zusammen­ zufallen, es brauchen keine Symmetrien vorzuliegen.

y

0 r z ∆A

A Abb. 2.9.1: Querschnitt und Koordinatensystem

Man definiert die folgenden Flächenmomente zweiten Grades (früher: Flächenträg­ heitsmomente): I y = ∫ z2 dA ,

Flächenmoment um y-Achse:

A

I z = ∫ y2 dA ,

Flächenmoment um z-Achse:

A

I yz = ∫ y z dA ,

Flächen-Deviationsmoment:

A

Ip = ∫ r2 dA .

Polares Flächenmoment:

A

Das Deviationsmoment I yz wird in Abschnitt 2.9.3 zur Ermittlung der Querschnitts­ hauptachsen benötigt, das polare Flächenmoment Ip brauchen wir für die Torsion. Zur Unterscheidung von Ip nennt man I y , I z auch axiale Flächenmomente; man schreibt auch I yy und I zz an Stelle von I y bzw. I z . Zusammenhang zwischen I y , I z und I p Addiert man I y und I z , so folgt wegen y2 + z2 = r2 : I y + I z = ∫(y2 + z2 ) dA = ∫ r2 dA = Ip . A

A

Da sich Ip bei Drehung des Koordinatensystemes nicht ändert, ist die Summe I y + I z = Ip

2.9 Flächenmomente zweiten Grades

| 167

gegen Koordinatendrehungen invariant. Man kann diese Beziehung gelegentlich bei der Berechnung von Ip oder I y , I z ausnutzen.

2.9.2 Flächenmomente zweiten Grades für einige Querschnitte Rechteckquerschnitt Gegeben: Rechteckquerschnitt, Höhe h Breite b, vgl. Abbildung 2.9.2. Gesucht: Flächenmoment I y (um y-Achse durch den Schwerpunkt).

b

h y

∆A

z ∆z Abb. 2.9.2: Rechteckquerschnitt

Lösung: Als Flächenelement können wir den Streifen ∆A = b ∆z im Abstand z von der y-Achse wählen, denn er enthält alle Fasern mit gleichem z. Dann folgt aus der allgemeinen Definition: h/2

h 3 1 h 3 1 bh3 I y = ∫ z dA = ∫ bz2 dz = b [ ( ) − (− ) ] = . 3 2 3 2 12 2

−h/2

A

Quadratischer Querschnitt Gegeben: Quadrat der Kantenlänge a mit den Koordinatenachsen y, z und y∗ , z∗ , vgl. Abbildung 2.9.3. Gesucht: Flächenmoment I y .

a

a

y z*

y* z

Abb. 2.9.3: Quadratischer Querschnitt

168 | 2 Elastostatik

Lösung: Aus der obigen Formel für das Rechteck folgt mit b = a und h = a für das Quadrat I y∗ = I z∗ =

a4 12

und

Ip = I y∗ + I z∗ =

a4 . 6

Außerdem gelten auch Ip = I y + I z sowie I y = I z . Damit folgt: Iy = Iz =

Ip a4 = = I y∗ = I z∗ . 2 12

Kreisquerschnitt Gegeben: Kreis mit Radius R, vgl. Abbildung 2.9.4. Gesucht: Flächenmoment I y .

∆r r y

R ∆A Abb. 2.9.4: Kreisquerschnitt

z

Lösung: Wegen I y = I z gilt wieder I y = Ip /2. Das polare Flächenmoment bestimmen wir durch Integration: Alle Faserenden in einem Kreisring liegen auf dem gleichen Radius r und bilden das Flächenelement (vgl. Abbildung 2.9.4) ∆A = 2πr ∆r . Damit kann man schreiben R 2

Ip = ∫ r dA = ∫ r2 (2πr dr) = 0

A

Für das gesuchte Flächenmoment I y gilt dann: Iy =

π 4 π 4 R = D , 4 64

wo D := 2R den Durchmesser bezeichnet.

π 4 R . 2

2.9 Flächenmomente zweiten Grades |

169

2.9.3 Verschieben und Drehen des Bezugssystems; Hauptachsen Zusammengesetzte Querschnitte werden zur Bestimmung der Flächenmomente in einfache Teilquerschnitte zerlegt, deren Beiträge zum gemeinsamen Flächenmoment ermittelt und dann addiert, s. Abschnitt 2.9.4. Die Beiträge der Teilquerschnitte ent­ stehen dabei in der Regel aus ihren bekannten, auf die individuellen Schwerpunkt­ achsen bezogenen Flächenmomenten, die auf die gemeinsamen Achsen des Gesamt­ querschnittes transformiert werden. Die Transformation besteht im allgemeinen aus einer Parallelverschiebung oder einer Drehung des Bezugssystems (der Bezugs- oder Koordinatenachsen). Verschieben des Bezugssystems: der Satz von Steiner Gegeben sei der Querschnitt A mit den Flächenmomenten I y∗ , I z∗ , I y∗ z∗ bezogen auf die Achsen y∗ , z∗ durch den Schwerpunkt S, vgl. Abbildung 2.9.5a. Die Achsen y, z des neuen Bezugssystems liegen parallel zu y∗ bzw. z∗ , die Fläche A ist mit ihrem Schwerpunkt S (parallel) nach (a y , a z ) verschoben. Gesucht sind die Flächenmomente I y , I z und I yz .

y A

y* ∆A

y

0 az

S

αE

α y*

ay

z*

yH

0

S z*

A z

y*

S z

A

∆A (b)

(a)

(c)

zH

z*

Abb. 2.9.5: Wechsel des Bezugssystems. (a) verschobenes Bezugssystem, (b) gedrehtes Bezugssystem, (c) Hauptachsensystem

Lösung: Mit z = a z + z∗ folgt I y = ∫ z2 dA = ∫(a z + z∗ )2 dA = ∫ a2z dA + ∫ 2a z z∗ dA + ∫ z∗2 dA . A

A

A

A

Wir kennen ∫ a2z dA = a2z A ,

∫ z∗2 dA = I y∗

A

A

und haben ∫ 2a z z∗ dA = 2a z ∫ z∗ dA = 0 , A

A

A

170 | 2 Elastostatik denn z∗ ist auf den Schwerpunkt bezogen (vgl. Abschnitt 1.16.3). Damit folgt der Satz von Steiner: I y = I y∗ + a2z A . Der Satz von Steiner zeigt, daß das Flächenmoment zweiten Grades den kleinsten Wert annimmt, wenn die Bezugsachse durch den Flächenschwerpunkt läuft. Analog folgt mit y = a y + y∗ I z = I z∗ + a2y A . Das transformierte Flächen-Deviationsmoment lautet I yz = ∫ y z dA = ∫(a y + y∗ )(a z + z∗ ) dA = I y∗ z∗ + a y a z A . A

A

Das Deviationsmoment kann positiv oder negativ sein, aber auch verschwinden. Drehen des Bezugssystems Gegeben sei der Querschnitt A mit den Flächenmomenten I y∗ , I z∗ , I y∗ z∗ bezogen auf zwei zueinander senkrechte Achsen y∗ , z∗ , die nicht notwendig durch den Flächen­ schwerpunkt S laufen müssen. Das Bezugssystem (y∗ , z∗ ) wird gegenüber einem zu­ nächst festgehaltenen System (y, z) mit dem Winkel α um den Ursprung 0 gedreht, vgl. Abbildung 2.9.5b. Gesucht sind die Flächenmomente I y , I z und I yz . Lösung: An Hand der gestrichelten Hilfslinien liest man aus Abbildung 2.9.5b ab: y = y∗ cos α − z∗ sin α ,

z = y∗ sin α + z∗ cos α .

Damit folgen I y = ∫ z2 dA = I y∗ cos2 α + 2I y∗ z∗ sin α cos α + I z∗ sin2 α , A

I z = ∫ y2 dA = I y∗ sin2 α − 2I y∗ z∗ sin α cos α + I z∗ cos2 α , A

I yz = ∫ yz dA = (I z∗ − I y∗ ) sin α cos α + I y∗ z∗ (cos2 α − sin2 α) . A

Trigonometrische Umformung, ähnlich wie beim Mohrschen Kreis für die Spannun­ gen in den Abschnitten 2.1.2 und 2.1.3, führt auf I y∗ + I z∗ I y∗ − I z∗ + cos 2α + I y∗ z∗ sin 2α , 2 2 I y∗ + I z∗ I y∗ − I z∗ I z = I z (α) = − cos 2α − I y∗ z∗ sin 2α , 2 2 I y∗ − I z∗ I yz = I yz (α) = − sin 2α + I y∗ z∗ cos 2α . 2 I y = I y (α) =

2.9 Flächenmomente zweiten Grades

| 171

Aufgabe 1: Kontrollieren Sie I z (α) = I y (90∘ + α) und Ip = I y∗ + I z∗ = I y + I z . Aufgabe 2: Entwickeln Sie für die Flächenmomente einen Mohrschen Kreis nach dem Muster von Abbildung 2.1.6. Hauptachsen Gegeben sei der Querschnitt A aus Abbildung 2.9.5b mit den Flächenmomenten I y∗ , I z∗ , I y∗ z∗ . Jetzt liegt jedoch der Koordinatenursprung 0 auf dem Schwerpunkt S. Gesucht sind die Winkel α, für welche das Flächenmoment I y (α) Extremwerte an­ nimmt. Lösung: Damit I y (α) einen Extremwert annimmt, muß seine Ableitung nach α verschwinden: I y∗ − I z∗ dI y = 2 {− sin 2α + I y∗ z∗ cos 2α} = 0 . dα 2 Vergleich mit der dritten Gleichung oben zeigt: In der geschweiften Klammer steht das Flächendeviationsmoment I yz (α). Deshalb gilt – vorab (ohne Rechnung) – das Aussagenpaar: Damit das Flächenmoment bei Achsdrehung ein Extremum annimmt, muß das Deviationsmoment für das zugehörige Achsenkreuz verschwinden. Da bei einem Querschnitt mit einer Symmetrieachse das Deviationsmoment ver­ schwindet, sind die zugehörigen Flächenmomente extremal. Für den allgemeinen Fall (Querschnitt mit oder ohne Symmetrieachse) folgt der Winkel α = α E , unter dem der Extremwert von I y (α) auftritt, aus −

I y∗ − I z∗ sin 2α E + I y∗ z∗ cos 2α E = 0 2

zu (sin 2α E , cos 2α E ) = c (I y∗ z∗ ,

I y∗ − I z∗ ) . 2

Die – zunächst freie – Konstante c ergibt sich durch Einsetzen von (sin 2αE , cos 2α E ) in sin2 2α E + cos2 2α E = 1 zu c = ±1/√(I y∗ − I z∗ )2 /4 + I 2y∗ z∗ . Das positive c führt auf sin 2α E =

I y∗ z∗ √(I y∗ − I z

∗ )2 /4

+

I 2y∗ z∗

,

cos 2α E =

Daraus folgt der erste Winkel (Quadrant beachten!) α1 = αE .

I y∗ − I z∗ 2√(I y∗ − I z∗ )2 /4 + I 2y∗ z∗

.

172 | 2 Elastostatik

Für negatives c ergibt sich der zweite Winkel zu α 2 = α E − 90∘ . Die Extremwerte der Flächenmomente, I1 = I y (α 1 ), I2 = I y (α 2 ), lauten I1,2 =

I y∗ + I z∗ I y∗ − I z∗ 2 ± √( ) + I 2y∗ z∗ . 2 2

Das – gegenüber den Ausgangsachsen (y∗ , z∗ ) – um α E gedrehte Achsenkreuz heißt System der Hauptachsen (yH , zH ), vgl. Abbildungen 2.9.5b und c. (Die Winkel α 1 = α E , α 2 = α E − 90∘ legen die Hauptachsenrichtungen fest, I1,2 nennt man auch Haupt-Flä­ chenmomente.) Wegen I yH zH = 0 wirkt bei Balkenbiegung, s. Abschnitt 2.8.4, eine Hauptachse – eines unsymmetrischen Querschnitts – wie eine Symmetrielinie: Un­ ter einer Last in Hauptachsenrichtung biegt sich der Balken nicht aus der (Längs-) Ebene durch die Hauptachse heraus (vgl. jedoch den einschränkenden Hinweis in Ab­ schnitt 2.8.4). Hinweis: Bei Querschnitten mit mehr als zwei Symmetrieachsen, z. B. regelmäßigen n-Ecken, verschwindet das Deviationsmoment I y∗ z∗ (α) identisch, I y (α) ist konstant (Beweis als Übungsaufgabe!). Ein Balken mit einem solchen Querschnitt biegt sich unter einem Moment um alle Achsen in gleichem Maße, ist also – hinsichtlich der Biegung – von einem runden Balken nicht zu unterscheiden. (In diesem Sinne ist ein Balken mit dem quadratischen Querschnitt nach Abbildung 2.9.3 rund.)

2.9.4 Zusammengesetzte Querschnitte Allgemein Besteht ein Querschnitt aus mehreren Teilquerschnitten, A = A1 + A2 + A3 + . . ., vgl. Abbildung 2.9.6, so gilt für die Flächenmomente gemäß Abschnitt 2.9.1: I A = I A 1 + I A 2 + I A 3 + . . ., vgl. Abschnitt 1.16.3. Dabei müssen alle I A i auf dieselben Achsen bezogen sein.

A3 y

A1

A2

z

Abb. 2.9.6: Querschnittzerlegung

2.9 Flächenmomente zweiten Grades

| 173

Kastenquerschnitt Gegeben: Kastenquerschnitt mit Abmessungen b, h, B, H (Schwerpunkte der Recht­ ecke A1 = BH, A2 = bh in S), vgl. Abbildung 2.9.7. Gesucht: Flächenmoment I y .

B b

S

h H

y

Abb. 2.9.7: Kastenquerschnitt

z

Lösung: Mit der Formel für Rechteckquerschnitte aus Abschnitt 2.9.2 erhält man I y = I A1 − I A2 =

BH 3 − bh3 . 12

T-Querschnitt Gegeben: T-Profil mit den Abmessungen b 1 , h1 , b 2 , h2 (symmetrisch zur z-Achse), vgl. Abbildung 2.9.8. Gesucht: Schwerpunktlage und Flächenmoment I y (um y-Achse durch den Schwer­ punkt).

b2 h2

h1

A2

S2 y

S1

S

s2 a2 a1

s1

A1 b1 z

Abb. 2.9.8: T-Querschnitt

174 | 2 Elastostatik

Lösung: Aufteilung von A in Teilrechtecke nach Abbildung 2.9.8 ergibt: A1 = b1 h1

mit Flächenmoment

A2 = b2 h2

mit Flächenmoment

b1 h1 3 12 b2 h2 3 I2 = 12 I1 =

bezüglich S1 , bezüglich S2 .

1. Schritt: Schwerpunktabstände s1 , s2 bestimmen. Gemäß Abschnitt 1.16.3 ergeben sich b 1 h1 2 + b 2 h2 (2h1 + h2 ) s1 = , s2 = h 1 + h 2 − s1 , 2(b 1 h1 + b 2 h2 ) und

h1 h2 , a2 = s2 − . 2 2 2. Schritt: Flächenmoment bestimmen. Wir setzen das Flächenmoment nach der allgemeinen Regel und mit Hilfe des Satzes von Steiner zusammen: a1 = s1 −

I y = I A 1 + I A 2 = I1 + b 1 h1 a21 + I2 + b 2 h2 a22 . L-Querschnitt Gegeben: Winkelprofil nach Abbildung 2.9.9a mit den Abmessungen 2b 1 , 2c1 , 2b 2 , 2c2 (fürs Rechnen bequeme Vermaßung!). Gesucht: a) Lage des Schwerpunkts S und die Flächenmomente I y∗ , I z∗ , I y∗ z∗ für das kantenparallele Achsenkreuz (y∗ , z∗ ) durch S; b) die Hauptachsen und Haupt-Flä­ chenmomente für b 1 = b 2 = b, c1 = 4b, c2 = 6b.

2b2 A2

A2 2c2

S2

az*

S2

2

y*

S

ay*

y*

1

2

2b1

S

βE

ay*

az* 1

S1

A1

yH S1

z* 2c1 (a) Abb. 2.9.9: Winkelprofil

z* (b)

zH

A1

2.9 Flächenmomente zweiten Grades

| 175

Lösung a): Schritt 1: Querschnitt A in Teilrechtecke A1 , A2 zerlegen, deren Flächen und Flächen­ momente, bezogen auf eigene Schwerpunkte S1 , S2 und Achsen parallel zu (y∗ , z∗ ) zusammenstellen: A1 = 4b 1 c1 ,

I y∗1 = 4b 31 c1 /3 ,

I z∗1 = 4b 1 c31 /3 ,

I y∗1 z∗1 = 0 ,

A2 = 4b 2 c2 ,

I y∗2 = 4b 2 c32 /3 ,

I z∗2 = 4b 32 c2 /3 ,

I y∗2 z∗2 = 0 .

Schritt 2: Schwerpunkt-Vermaßungen in Abbildung 2.9.9a (z. B. wie gezeigt) eintragen und berechnen. Schwerpunktlage:

a y∗2 = (c1 − b 2 )A1 /A ,

a z∗1 = (b 1 + c2 )A2 /A .

Abstände:

a y∗1 = a y∗2 + b 2 − c1 ,

a z∗2 = a z∗1 − b 1 − c2 .

Schritt 3 : Gesamt-Flächenmomente berechnen (Steiner’scher Satz): I y∗ = (I y∗1 + a2z∗ A1 ) + (I y∗2 + a2z∗ A2 ) , 1

I

z∗

= (I

z∗1

+

2

a2y∗ A1 ) + (I z∗2 1

+

a2y∗ A2 ) 2

,

I y∗ z∗ = (I y∗1 z∗1 + a y∗1 a z∗1 A1 ) + (I y∗2 z∗2 + a y∗2 a z∗2 A2 ) . Hinweis: In der Regel ist es – schon bei einer Aufgabe dieses Umfangs – wenig sinn­ voll, nun die Gesamt-Flächenmomente durch die Eingangsdaten auszudrücken (also die Zwischengrößen zu eliminieren). Man wird die Gleichungen zu speziellen Daten­ sätzen auf einem Rechner auswerten. Lösung b): Die Auswertung obiger Gleichungen für die in der Aufgabenstellung genannten Daten liefert: I y∗ = 11456 b 4 /15 ,

I z∗ = 2696 b 4 /15 ,

I y∗ z∗ = −1008 b 4 /5 .

Für den Hauptachsenwinkel α E folgt nach Abschnitt 2.9.3 sin 2α E = −252/√196729 ,

cos 2α E = 365/√196729 .

(Der Drehwinkel 2α E muß demnach im 4. Quadranten liegen.) Man erhält (gerundet) α E = −17,31∘ ,

I1 = 826,57 b 4 ,

I2 = 116,90 b 4 .

Abbildung 2.9.9b zeigt die Lage der Hauptachsen (yH , zH ); β E := −α E .

176 | 2 Elastostatik

2.10 Biegespannungen 2.10.1 Spannungen bei reiner Biegung Für die Spannung berechneten wir am Ende von Abschnitt 2.8.4 σ(z) =

Mz . I

Jetzt können wir den bereits in Abschnitt 2.8.3 besprochenen linearen Spannungs­ verlauf zahlenmäßig verfolgen. Die Extremwerte liegen an den „Querschnittsrändern“ z = e1 und z = −e2 . Es gelten σ1 =

Me1 I

und

σ2 =

−Me2 . I

Mit dem Randabstand e definiert man das Widerstandsmoment W=

I . e

Bei bezüglich der y-Achse symmetrischen Querschnitten mit e := e1 = e2 gibt man oft geschlossene Formeln für W an; zum Beispiel (vgl. Abschnitt 2.9.2) bh2 ; 6 π 3 π W = R3 = D . 4 32

h , 2

W=

Rechteck:

e=

Kreis:

e=R=

D , 2

Mit W1 = I/e1 bzw. W2 = I/e2 erhält man für Abbildung 2.10.1 σ1 =

M W1

und

σ2 = −

M . W2

Je nach dem Vorzeichen von M sind σ 1 oder σ 2 positiv (Zug) oder negativ (Druck). Da manche Stoffe z. B. mehr Druck als Zug aufnehmen können (Beton), müssen Zug- und Druckspannungen im allgemeinen getrennt beurteilt werden. 2 S

x

y

(a)

e2

M

e1 z

σ (z) (b)

1

Abb. 2.10.1: Spannungsverlauf und Extremwerte

2.10 Biegespannungen | 177

Beispiel Gegeben: Kragbalken aus Holz, Länge l = 3 m, Breite b = 20 cm, soll mit F = 5 kN belastet werden, vgl. Abbildung 2.10.2. Gesucht: Höhe h, wenn für Biegung (Zug und Druck) die zulässige Spannung σ zul = 800 N/ cm2 angenommen wird.

b h

A l

F

Abb. 2.10.2: Kragbalken

Lösung: Das maximale Moment tritt an der Einspannstelle A auf, MA = −Fl = −1,5 ⋅ 106 Ncm . Die größte Spannung σ max darf die zulässige Spannung nicht überschreiten: σ max =

|MA | 6|MA | ≤ σ zul . = W bh2

Daraus folgt hmin = √

6|MA | = 23,7 cm . bσ zul

2.10.2 Überlagerung von Normalkraft- und Biegespannungen Bisher haben wir für Balken nur die Spannungen infolge eines Biegemomentes be­ rechnet. Kommt eine Normalkraft hinzu, so muß man deren Spannungen den ersten überlagern. Das ist möglich, weil die Spannungen hier und im folgenden linear von den Lasten abhängen, vgl. Abschnitt 1.14.1. Gegeben sei ein Balken mit der Querschnittsfläche A, dem Flächenmoment I, den Randabständen e1 , e2 , belastet durch das Moment M und die Normalkraft N; vgl. Ab­ bildung 2.10.3a. Gesucht ist die Gesamtspannung.

178 | 2 Elastostatik neutrale Faser mit Normalkraft

IN AM

M

0

N

x neutrale Faser ohne Normalkraft

z (a)

σM

(b)

σN

Abb. 2.10.3: Spannungen bei Momenten- und Normalkraftbelastung

Lösung: Die Gesamtspannung setzt sich zusammen aus der Biegespannung infolge des Mo­ mentes, M σ M = z , wird auch mit σ b bezeichnet , I und der Spannung infolge der Normalkraft, σN =

N . A

Überlagern liefert die Gesamtspannung (vgl. Abbildung 2.10.3b): σ(z) = σ M + σ N =

M N z+ . I A

Die neutrale Faser, das ist die unbelastete Faser (σ = 0), verschiebt sich infolge der Normalkraft aus der Schwerpunktachse an die Stelle z0 . Aus σ(z0 ) =

M N z0 + =0 I A

folgt (vgl. auch Abbildung 2.10.3b) z0 = −

IN . AM

2.10.3 Spannungen bei schiefer Biegung Gegeben sind der Rechteckquerschnitt (Breite b, Höhe h) nach Abbildung 2.10.4a und das Winkelprofil (L-Profil) aus Abschnitt 2.9.4. Das Biegemoment M liegt jeweils (als Vektor gesehen) in der Querschnittsebene schräg, unter dem Winkel γ gegen die ho­ rizontale Achse geneigt. Offensichtlich werden sich in beiden Fällen die Balken nicht einfach senkrecht zum M-Vektor auslenken: Es liegt schiefe Biegung vor. Gesucht sind der Verlauf der Spannungen über die Querschnitte und die SpannungsNull-Linie.

2.10 Biegespannungen |

2b 6b

b

y γ

h

S

γ

yH

2b

z M

z*

zH

(b)

(a)

M

12b

S

y* βE

M

My

179

MyH

γ Mz

(c)

(d)

M

MzH (γ–βE)

Abb. 2.10.4: Balkenquerschnitte mit schräg angreifendem Biegemoment

Lösung: Am einfachsten setzt man die schiefe Biegung durch Überlagerung von zwei geraden Biegungen um die Symmetrieachsen (beim Rechteck) oder – gleichwertig! – um die Hauptachsen (beim L-Profil) zusammen. Schritt 1: Das Biegemoment M wird parallel zu den Achsen zerlegt (vgl. die Momen­ ten-Parallelogramme in Abbildung 2.10.4c,d). Man erhält für das Rechteck M y = M cos γ , für das L-Profil

M z = M sin γ ,

M yH = M cos(γ − β E ) = M cos(γ + α E ) , M zH = M sin(γ − β E ) = M sin(γ + α E ) .

Schritt 2: Nach dem Muster von Abschnitt 2.10.1 werden die Spannungen angeschrie­ ben und addiert. Es ergeben sich – unter Beachtung der Vorzeichen – für das Rechteck σ(y, z) = σ M y + σ M z = für das L-Profil σ(yH , zH ) = σ M yH + σ M zH =

My z Mz y − , Iy Iz M yH zH M zH yH − . I1 I2

Dabei gelten für das Rechteck (vgl. Abschnitt 2.9.2) I y = b h3 /2 ,

I z = h b 3 /12 ,

und beim L-Profil sind I1 und I2 die in Abschnitt 2.9.4 berechneten Haupt-Flächenmo­ mente.

180 | 2 Elastostatik

Ergebnis (Ausdeutung): Die Spannungsverläufe σ(y, z) und σ(yH , zH ) beschreiben Ebenen im dreidimensiona­ len (σ, y, z)- bzw. (σ, yH , zH )-Raum. Dividiert man die Spannungen σ durch den Elas­ tizitätsmodul E, vgl. Abschnitt 2.8.3, erhält man die Dehnungen ε(y, z) bzw. ε(yH , zH ), und die Ebenen geben die Bernoulli-Hypothese wieder (s. Abschnitt 2.8.2). Die Spannungs-Null-Linie folgt, mit σ = 0, zu z=

Iy h2 Mz Iy y = tan γ y = 2 y tan γ My Iz Iz b

bzw. (vgl. Zahlenwerte in Abschnitt 2.9.4) zH =

M zH I1 I1 yH = tan(γ + αE ) yH = 7,07yH tan(γ − 17,31∘ ) . M yH I2 I2

Aufgabe 1: Zeigen Sie, daß die Spannung σ an einem Punkt P des Querschnitts pro­ portional zu seinem Abstand z⊥ von der Nullinie ist. Welche Randabstände e1 , e2 – vgl. Abschnitt 2.10.1 – muß man für z⊥ einsetzen, um die Extremwerte der Spannungen zu erhalten? Aufgabe 2: Berechnen Sie für das L-Profil zu γ = 0 die Randabstände e1 , e2 aus Auf­ gabe 1. Anwendungsbeispiel Gegeben: Durch fehlerhafte Montage wird ein Zugstab mit Rechteckquerschnitt (Brei­ te b, Höhe h), Last F, exzentrisch belastet. Statt im Flächenschwerpunkt S greift die Kraft F am Punkt P, bei (y, z) = (b/4, h/4) an, s. Abbildung 2.10.5a. Gesucht: Wie ändern sich die Spannungen durch die exzentrische Lasteinleitung? Lösung durch Rückführen auf einfache (bereits bekannte) Teilaufgaben und Überla­ gern von deren Lösungen. Schritt 1: Der Kraftvektor F wird (aus seiner Wirkungslinie) parallel auf die x-Achse verschoben. Abbildung 2.10.5b zeigt F mit dem neuen Angriffspunkt S und die gemäß b

S

y h/4

h

x

P

My

S F

F b/4 (a)

Mz

z (b)

Abb. 2.10.5: Zugstab mit exzentrischer Last

2.11 Biegelinien von Balken | 181

Abschnitt 1.7.3 hinzugetretenen Momente M y = h/4 ⋅ F ,

M z = −b/4 ⋅ F .

Der exzentrisch belastete „Zugstab“ wird damit zu einem „Balken“, der neben der Nor­ malkraft N = F einer schiefen Biegung durch die Momente M y , M z unterworfen ist. Schritt 2: Zusammensetzen (Überlagern) der Spannungen aus den Teillasten (vgl. Ab­ schnitt 2.10.2 und oben) mit den richtigen Vorzeichen (!): F My z Mz y − + A Iy Iz F z F y F y z F +3 +3 = = (1 + 3 + 3 ) . bh bh h bh b bh h b

σ(y, z) = σ N + σ M y (z) + σ M z (y) =

Ergebnis (Ausdeutung): Die Abbildungen 2.10.6a, b, c zeigen die Verläufe der einzel­ nen Spannungen, Abbildung 2.10.6d zeigt den resultierenden Spannungsverlauf. Die Normalspannung (bei zentrischer Belastung wirkt nur sie) beträgt σ N = F/bh. Bei der exzentrischen Belastung erhält man die Extremwerte σ(b/2, h/2) = 4σ N (Zug) und σ(−b/2, −h/2) = −2σ N (Druck).

Druckzone y

y

y σ N

σ My

σM z

y σ z

(a)

z

(b)

z

(c)

z

(d)

Abb. 2.10.6: Spannungen bei exzentrischer Zugkraft

Aufgabe 3: In welchem (rautenförmigen) Bereich um den Schwerpunkt S darf der An­ griffspunkt P der Kraft F im vorstehenden Beispiel liegen, wenn die maximale Zug­ spannung auf 2 σ N beschränkt ist?

2.11 Biegelinien von Balken Im Abschnitt 2.8.4 haben wir für den Krümmungsradius ϱ der neutralen Faser eines durch ein Moment M belasteten Balkens mit dem Elastizitätsmodul E und dem Flä­ chenmoment I die Beziehung 1 M = ϱ EI hergeleitet, vgl. auch Abbildung 2.8.4c. Das Produkt EI heißt Biegesteifigkeit, weil bei gegebenem Moment M die Krümmung 1/ϱ um so kleiner wird, je größer EI ist.

182 | 2 Elastostatik

Diese Beziehung gilt in guter Näherung nicht nur für längs des Balkens konstante Momente und Biegesteifigkeiten, sondern auch für veränderliche, falls die Änderun­ gen nicht zu abrupt erfolgen. Dann stellt sich die Aufgabe, zu vorgegebenen Verläu­ fen M(x) und EI(x), also zu Krümmungsverläufen, die Form der neutralen Faser am belasteten Balken zu ermitteln. Der Anschaulichkeit halber arbeitet man mit der (ur­ sprünglich geraden) Schwerelinie des deformierten Balkens und nennt sie Biegelinie (des Balkens schlechthin). Der Weg zur Biegelinie führt über Differentialgleichungen; damit deren Lösung nicht zu schwierig wird, beschränken wir uns auf Biegelinien, die nur wenig von einer Geraden abweichen.

2.11.1 Differentialgleichung der Biegelinie Die x-Achse des x-w-Koordinatensystems nach Abbildung 2.11.1a liege in der Schwere­ linie des unbelastet geraden Balkens, die w-Achse weise nach unten (in z-Richtung). 0

x

w

φ

(a) 0

x

M(x) (b)

w

Q(x)

Abb. 2.11.1: Auslenkungen und Schnittgrößen am Balken

Die Abbildung 2.11.1 zeigt zweimal ein Stück des betrachteten Balkens. Hervorgeho­ ben ist die Schnittstelle x. In Abbildung 2.11.1a sind zur Biegelinie die Auslenkungen eingetragen, nämlich die Durchbiegung (Absenkung) und der (Biege-)Winkel φ, in Ab­ bildung 2.11.1b die Querkraft Q und das Moment M (vgl. Abschnitt 1.18.1). Alle diese Größen sind Funktionen des Ortes x: w = w(x) – heißt ebenfalls Biegelinie –, φ = φ(x), M = M(x), Q = Q(x). Zwischen w(x) und φ(x) bestehen die gleichwertigen Differentialbeziehungen tan φ = w󸀠 ,

φ = arctan w󸀠 ,

cos φ =

1 √1 + w󸀠2

.

Abbildung 2.11.2 zeigt die gekrümmte neutrale Faser eines Balkenelementes der Länge ∆s, dessen linker Endpunkt bei x liegt. Da ∆s klein gegenüber den sonstigen Abmes­

2.11 Biegelinien von Balken | 183

0

x

x+∆x ∆α ρ

w

φ

φ–∆α =φ+∆φ

∆s

Abb. 2.11.2: Balkenelement, ausgelenkt und verformt

sungen sein soll, sind M und EI etwa konstant; es gilt M(x) 1 = . ϱ(x) EI(x) Man liest aus Abbildung 2.11.2 ab: ∆s = ϱ ∆α , ∆x ≈ ∆s cos φ , ∆α = φ(x) − φ(x + ∆x) =: −∆φ . Elimination von ∆s und ∆α liefert ∆φ/∆x = −1/(ρ cos φ), woraus mit ∆x → 0 folgt: φ󸀠 =

1 dφ =− . dx ϱ cos φ

Einsetzen der obigen Ausdrücke für φ, cos φ und 1/ϱ führt auf φ󸀠 cos φ = cos φ

M d w󸀠󸀠 w󸀠󸀠 1 (Arctan w󸀠 ) = cos φ . = =− =− dx ϱ EI 1 + w󸀠2 (1 + w󸀠2 )3/2

Man erhält für die Biegelinie w(x) die nichtlineare gewöhnliche Differentialgleichung zweiter Ordnung w󸀠󸀠 M =− . EI (1 + w󸀠2 )3/2 Häufig ist der Biegewinkel klein, |φ| ≪ 1, und dies werden wir im folgenden stets voraussetzen. Dann gilt φ ≈ tan φ = w󸀠 ,

also gilt auch |w󸀠 | ≪ 1 .

Wir können in der Differentialgleichung der Biegelinie 1+ w󸀠2 ≈ 1 setzen und erhalten die lineare Differentialgleichung w󸀠󸀠 = −

M , EI

wobei wir das Zeichen ≈ durch das Gleichheitszeichen = ersetzt haben.

184 | 2 Elastostatik

2.11.2 Allgemeine Bemerkungen zur Integration (Lösung) der Differentialgleichung der Biegeline Setzt man φ = w󸀠 in die Biegedifferentialgleichung ein, so erhält man dφ M =− . dx EI Diese Differentialgleichung kann man formal integrieren: x

φ(x) = C1 − ∫

M(ξ) dξ . EI(ξ)

0

Die Deutung der Integrationskonstanten C1 ergibt sich mit x = 0 zu φ(0) = C1 , also als neigungswinkel φ0 := φ(0) an der Stelle x = 0. Sei nun x

φ(x) = φ0 − ∫

M(ξ) dξ EI(ξ)

0

berechnet. Aus dw/dx = φ(x) folgt dann in einem zweiten Integrationsschritt x

w(x) = C 2 + ∫ φ(ξ) dξ , 0

wobei C2 = w(0) =: w0 die Absenkung bei x = 0 bedeutet. Dann gilt x

w(x) = w0 + ∫ φ(ξ) dξ . 0

Die beiden Integrationskonstanten C1 , C2 – oder φ0 , w0 – ergeben sich nicht aus den hier angestellten allgemeinen Überlegungen für das Feld (vgl. Abschnitt 1.18.4), son­ dern dienen zur Anpassung der allgemeinen Lösungen an die Randbedingungen, die die jeweilige Lagerungsart des Balkens beschreiben und stets besonders festgestellt werden müssen.

2.11.3 Anwendungsbeispiele Kragbalken mit Endmoment Gegeben: Kragbalken, Länge l, konstante Biegesteifigkeit EI, gewichtslos, durch End­ moment M0 belastet, vgl. Abbildung 2.11.3. Gesucht: Biegelinie w(x), insbesondere Endauslenkung f := w(l) und Endwinkel ψ := φ(l).

2.11 Biegelinien von Balken | 185

x EI

f l

ψ M0

w

Abb. 2.11.3: Kragbalken mit Endmoment

Lösung: Es gilt M(x) = −M0 = const. Aus Abbildung 2.11.3 liest man zwei Randbedingungen ab: w0 = w(0) = 0 , φ0 = φ(0) = 0 . Auswerten der Integrale aus Abschnitt 2.11.2 für unseren Fall liefert φ(x) =

M0 x, EI

M0 l EI

ψ = φ(l) =

sowie

w(x) =

M0 x2 , 2EI

f = w(l) =

M0 l2 . 2EI

Kragbalken mit Endlast Gegeben: Kragbalken, Länge l, konstante Biegesteifigkeit EI, gewichtslos, durch Kraft F am Ende belastet, vgl. Abbildung 2.11.4. Gesucht: Biegelinie w(x), insbesondere die Auslenkung f := w(l) und der Winkel ψ := φ(l).

x f ψ l w

F

Abb. 2.11.4: Kragbalken mit Endlast

Lösung: Momentenverlauf: M(x) = −(l − x)F; Randbedingungen: φ0 = 0, w0 = 0. Auswerten der Integrale aus Abschnitt 2.11.2 für unseren Fall liefert x

F x2 F ∫(l − ξ) dξ = (lx − ) , φ(x) = EI EI 2 0

ψ = φ(l) =

Fl2 2EI

186 | 2 Elastostatik

sowie x

w(x) =

F F lx2 x3 ∫(lξ − ξ 2 /2) dξ = ( − ) , EI EI 2 6

f = w(l) =

Fl3 . 3EI

0

2.11.4 Allgemeinere Randbedingungen Im allgemeinen sind w und φ nicht einfach für den linken Rand vorgegeben. Oft sind geometrische Bedingungen für beide Ränder, x = 0 und x = l (vgl. Abbildung 2.11.5), oder auch nur für den rechten Rand bekannt. Kennt man zwei unabhängige Bedin­ gungen, so kann man daraus die beiden Integrationskonstanten C1 = φ0 , C2 = w0 ermitteln. F1

x 0 A

F2

F x=l

x=0 A

w(l) = 0

w(0) = 0 (b)

x=0

x=l B

w(0) (a)

0

φ(0) = 0 w(0) = 0

φ(l) = 0

x=l

w(l) = 0

(c)

Abb. 2.11.5: Balken mit Randbedingungen für linken und rechten Rand

Kennt man für einen Balken mehr als zwei geometrische Bedingungen für w und/oder φ, so handelt es sich um ein statisch unbestimmtes System (vgl. Abbildung 2.11.5c). Die Behandlung solcher Systeme erfolgt in Abschnitt 2.12. Beispiel mit Bedingungen für beide Ränder Gegeben: Balken, Länge l, konstante Biegesteifigkeit EI, gewichtslos, durch konstan­ te Streckenlast q0 belastet, vgl. Abbildung 2.11.6. Gesucht: Biegelinie w(x), insbesondere Ort xm und Größe f := w(xm ) der maximalen Auslenkung.

l q0 A

B EI

Abb. 2.11.6: Balken mit Streckenlast und zwei Gelenklagern

2.11 Biegelinien von Balken | 187

Lösung: 1. Schritt: Bestimmen des Momentenverlaufes. Aus Symmetriegründen gilt für die Auflagerkräfte A = B = q0 l/2. Damit folgt für (x) das Moment (vgl. auch Abbildung 2.11.7) aus ∑ M i = 0: M(x) =

q0 lx q0 x2 q0 − = (lx − x2 ) . 2 2 2

M x

Q

q0l/2

Abb. 2.11.7: Bestimmung des Momentenverlaufes

2. Schritt: Einsetzen von M(x) in Biegedifferentialgeichung und Integration. Weil hier EI konstant ist, kann man, ausgehend von EIw󸀠󸀠 = −

q0 (lx − x2 ) , 2

unbestimmt integrieren: EIφ = EIw󸀠 = − EIw = −

q0 x2 x3 (l − ) + C∗1 , 2 2 3

q0 x3 x4 (l − ) + C∗1 x + C∗2 2 6 12

(allgemeine Lösung) .

Die Zuordnung von C∗1 und C∗2 zu den in Abschnitt 2.11.2 verwendeten Integrations­ konstanten ist durch C1 = C∗1 /(EI), C2 = C∗2 /(EI) gegeben. 3. Schritt: Aufstellen der Randbedingungen und Anpassen der allgemeinen Lösung an die Randbedingungen. Randbedingungen: w(0) = 0, w(l) = 0 Anpassen:

Biegelinie:

Aus

w(0) = 0 folgt

aus

w(l) = 0

w(x) =

folgt

0 = C ∗2 , 0=−

q0 l4 + C∗1 l , 24

also

C∗1 =

q0 l3 . 24

x4 l3 x q0 x(l − x) 2 q0 ( − lx3 + ) = [l + x(l − x)] , 12EI 2 2 24EI

φ = w󸀠 (x) =

l3 q0 ( − 3lx2 + 2x3 ) . 12EI 2

Die maximale Auslenkung ergibt sich für xm = l/2, da w󸀠 (l/2) = 0. Einsetzen in w liefert 5 q0 l4 f := wmax = . 384 EI

188 | 2 Elastostatik

2.11.5 Aneinanderstückeln von Biegelinien Wenn die Momentenlinie Knicke aufweist (vgl. Abbildung 1.18.8c), kann man M(x) nur bereichsweise angeben. Dann müssen die Integrale nach Abschnitt 2.11.2 ebenfalls bereichsweise ausgewertet werden. Dieses Vorgehen ist meistens sehr aufwendig und lohnt sich nicht, wenn nur spezielle Absenkungen interessieren. Man setzt einfacher das gesuchte Ergebnis aus Teillösungen für die einzelnen Bereiche zusammen und verwendet hierzu häufig die Kragbalkenformeln aus Abschnitt 2.11.3. Beispiel Gegeben: Zweiseitig gelenkig gelagerter Balken, Längen l1 , l2 , Biegesteifigkeit EI, ge­ wichtslos, durch Kraft F belastet, vgl. Abbildung 2.11.8. Gesucht: Absenkung f und Winkel ψ für den Lastangriffspunkt C.

F

l1

A

C

l2

B Abb. 2.11.8: Balken mit Knick in der Momentenlinie

EI

Lösung: Aus den Gleichgewichtsbedingungen erhält man für die Lagerkräfte (vgl. Abbil­ dung 2.11.9): l2 l1 A=F , B=F . l1 + l2 l1 + l2 Die Balkenteile C–A und C–B werden je für sich als Kragbalken unter den Lasten A bzw. B angesehen, die bei C an der Stelle f unter dem Winkel ψ(|ψ| ≪ 1) eingespannt sind, vgl. Abbildung 2.11.9. Für diese Kragbalken gelten die in Abschnitt 2.11.3 aufge­ stellten Biegeformeln. Aus Abbildung 2.11.9 erhält man damit für Balkenteil C − A w A = f − ψl1 −

Al31 =0, 3EI

denn w A muß verschwinden ,

und für Balkenteil C–B Bl32 = 0 , denn w B muß verschwinden . 3EI Dies sind zwei Gleichungen für ψ und f ; man findet w B = f + ψl2 −

ψ=

Fl1 l2 l2 − l1 , 3EI l1 + l2

f =

Fl21 l22 . 3EI(l1 + l2 )

Aufgabe: Unter Verwendung von w(x) aus Abschnitt 2.11.3 und obiger Ergebnisse be­ stimme man die Stelle xm und die Größe wm := w(xm ) der maximalen Auslenkung.

2.11 Biegelinien von Balken | 189

F wA

wB

f

A C

B ψ

l1

Abb. 2.11.9: Balken von Lagern gelöst, bei C eingespannt gedacht

l2

2.11.6 Überlagerung (Superposition) von Lösungen Im Abschnitt 1.15 haben wir Reaktionskräfte aus verschiedenen Lasten überlagert. Entsprechend kann man in Abschnitt 1.18 die Schnittgrößen für zusammengesetzte Lasten aus den Schnittgrößen der Einzellasten zusammensetzen (überlagern), denn die Gleichungen sind linear. Bei den Biegelinien (lineare Differentialgleichung!) ist das Überlagern besonders vorteilhaft, weil der Rechenaufwand meistens groß ist, und man spart viel Arbeit, wenn man bereits bekannte Ergebnisse verwertet. Beispiel für Superposition Gegeben: Zweiseitig gelenkig gelagerter Balken, Längen l1 , l2 , Biegesteifigkeit EI, ge­ wichtslos, belastet durch eine konstante Streckenlast q(x) = q0 und eine bei x = l1 angreifende Kraft F, vgl. Abbildung 2.11.10. Gesucht: Biegelinie w(x) und Absenkung w(l1 ) des Angriffspunkts von F.

Lastfall 1 q0

q0

x

~ EI

l1 (a)

F

Lastfall 2 l1

l2

+ l1 + l2

l2 (b)

EI (c)

F

Abb. 2.11.10: Überlagerung von Lasten

Lösung: Wir zerlegen das gegebene System gemäß Abbildung 2.11.10b, c in die Lastfälle 1 bzw. 2, für die wir nach Abschnitt 1.18 die Momentenlinien M1 (x) bzw. M2 (x) be­ stimmen können. Nach Abschnitt 2.11.1 gilt wegen M(x) = M1 (x) + M2 (x) für die Biegedifferentialgleichung w󸀠󸀠 =

M1 + M2 M1 M2 −M =− =− − . EI EI EI EI

190 | 2 Elastostatik

Wir zerlegen die Gesamtlösung in zwei Teile, −M1 −M2 , w󸀠󸀠 . 2 = EI EI Sowohl für das vollständige System als auch für die skizzierten Lastfälle 1 und 2 gelten die gleichen (homogenen) Randbedingungen w(x) = w1 (x) + w2 (x)

mit

w󸀠󸀠 1 =

w(0) = 0 ,

w1 (0) = 0 ,

w2 (0) = 0 ,

w(l1 + l2 ) = 0 ,

w1 (l1 + l2 ) = 0 ,

w2 (l1 + l2 ) = 0 .

Sie sind mit der Zerlegung w(x) = w1 (x)+ w2 (x) verträglich, das heißt, wenn die Rand­ bedingungen für w1 (x) und w2 (x) erfüllt sind, sind sie auch für w = w1 + w2 erfüllt. Dann sind w1 (x) und w2 (x) die Biegelinien der skizzierten Lastfälle, die man überla­ gern darf, um die Biegelinie w(x) des Ausgangssystems zu erhalten. Für die Auslen­ kung an der Stelle x = l1 folgt mit q0 l1 l2 [(l1 + l2 )2 + l1 l2 ] aus Abschnitt 2.11.4, 24EI Fl21 l22 aus Abschnitt 2.11.5 w2 (l1 ) = 3EI(l1 + l2 )

w1 (l1 ) =

durch Überlagerung: w1 (l1 ) =

Fl21 l22 q0 l1 l2 [(l1 + l2 )2 + l1 l2 ] + . 24EI 3EI(l1 + l2 )

Beispiel für Superposition mit Aneinanderstückeln Besonders viel Rechenaufwand spart man, wenn man die Vorteile der Superposition mit denen des Aneinanderstückelns verbinden kann. Dies wird an dem folgenden Bei­ spiel gezeigt. Gegeben: Kragbalken, Biegesteifigkeit EI, Längen l1 , l2 , belastet mit Kräften F1 , F2 . Gesucht: Absenkungen f1 := w(l1 ) und f2 := w(l1 + l2 ) an den Stellen 1 bzw. 2.

l1

EI

F1

l2

Stelle 1

F2

Stelle 2

Abb. 2.11.11: Kragbalken mit zwei Einzelkräften

Lösung in zwei Schritten: 1. Aufteilen der Gesamtlast in die beiden zu überlagernden Lastfälle 1 und 2 ge­ mäß Abbildung 2.11.12b bzw. c. Dabei werden die Auslenkungen doppelt indi­ ziert: f ik , ψ ik , nämlich erster Index: Stelle („Wirkung“), zweiter Index: Lastfall („Ursache“).

2.11 Biegelinien von Balken |

Lastfall 1 l1 l2 f1

1 F1

f2

~

2

F1 F2

(a)

Lastfall 2 l1 l2 +

f11

1

(b)

191

f21

1

ψ11

f12

f22

2

2 Gerade

F2

(c)

Abb. 2.11.12: Aufteilung in Lastfälle

2.

Ermitteln der Absenkungen. Lastfall 1 (anstückeln): f11 =

F1 l31 , 3EI

ψ11 =

F1 l21 , 2EI

f21 = f11 + l2 ψ11 =

F1 l21 (2l1 + 3l2 ) . 6EI

Lastfall 2 (anstückeln): f12 =

F2 l21 (2l1 + 3l2 ) , 6EI

f22 =

F2 (l1 + l2 )3 . 3EI

Damit gilt für die Gesamtabsenkungen: f1 = f11 + f12 =

F1 l31 F2 l21 + (2l1 + 3l2 ) , 3EI 6EI

f2 = f21 + f22 =

F1 l21 F2 (2l1 + 3l2 ) + (l1 + l2 )3 . 6EI 3EI

2.11.7 Biegedifferentialgleichung vierter Ordnung Im Abschnitt 1.18.5 haben wir für die Querkraft Q(x), das Moment M(x) und die Stre­ ckenlast q(x) die folgenden Differentialgleichungen hergeleitet: Q󸀠 = −q(x) ,

M 󸀠 = Q(x) .

Für die Biegelinie w(x) besteht gemäß Abschnitt 2.11.1 der folgende Zusammenhang mit dem Moment M w󸀠󸀠 = − oder M = −(EIw󸀠󸀠 ) . EI Danach kann M(x) durch (die zweite Ableitung von) w(x) ausgedrückt werden. Diffe­ renzieren wir diesen Ausdruck, so erhalten wir mit den zuerst genannten Gleichungen M 󸀠 = Q = −(EIw󸀠󸀠 )󸀠

und

Q󸀠 = −q = −(EIw󸀠󸀠 )󸀠󸀠 ,

also (EIw󸀠󸀠 )󸀠󸀠 = q(x) .

192 | 2 Elastostatik

Falls EI von x abhängt, muß es mit differenziert werden. Hängt EI nicht von x ab, EI = const., so gilt EIw IV = q(x) . In beiden Fällen haben wir es zu gegebenem q(x) mit einer linearen Differentialglei­ chung vierter Ordnung für den Verlauf der Biegelinie w(x) im Balkenfeld zu tun. Bei der Integration (der Lösung) der Differentialgleichung erhält man vier Integrationskon­ stanten, also freie Parameter. Für jedes Balkenende muß man nun zwei Randbedin­ gungen formulieren, nämlich Aussagen über Absenkung „oder“ Querkraft und Winkel „oder“ Moment (ausschließendes „oder“; Kombinationen sind möglich, z. B. bei elas­ tischen Einspannungen). Für zwei Ränder erhält man gerade die vier erforderlichen Bedingungen, die man alle durch w(x) und seine Ableitungen ausdrücken kann. Dies liefert die vier Bestimmungsgleichungen für die Integrationskonstanten. (Bei mehrfel­ digen Balken trifft man pro Feld auf vier freie Konstanten und muß dann die entspre­ chende Anzahl von Rand- und Zwischenbedingungen – für den Übergang von einem Balkenfeld zum nächsten – formulieren.) An dieser Stelle wirkt das Arbeiten mit einer Differentialgleichung vierter Ordnung etwas umständlich, deshalb unterlassen wir es hier und kommen erst bei den Eulerschen Knickstäben, im Abschnitt 2.17, darauf zu­ rück.

2.11.8 Schiefe Biegung Die allgemeine, die schiefe, räumliche Biegung eines Balken setzen wir, analog zu den Spannungen in Abschnitt 2.10.3, durch Überlagerung von zwei geraden Biegun­ gen um die Symmetrie- bzw. Hauptachsen seines Querschnitts zusammen. Nach dem Zerlegen der Last kann man die Aussagen aus den Abschnitten 2.11.3 bis 2.11.7 leicht hierher übertragen. Allerdings muß man sorgfältig auf die Orientierung der Koordina­ ten, besonders der Winkel, achten: Anwendungsbeispiel Kragbalken Gegeben: Kragbalken, wie in Abbildung 2.11.3, Länge l, Biegesteifigkeiten EI y , EI z , um die y- bzw. z-Achse, vgl. Abbildung 2.11.13a, gewichtslos, am Ende x = l durch die Kraft F belastet, die unter dem Winkel γ im Endquerschnitt liegt. l F y (a)

S z

γ

y,v ey e x ez z,w (b)

φy,ψy

x,u (c)

φz,ψz

φx,ψx

Abb. 2.11.13: (a) Kragbalken mit schräg angreifender Endlast, (b), (c) Koordinaten

2.11 Biegelinien von Balken | 193

Gesucht: Biegelinien v(x), w(x), die Auslenkungen f y := v(l), f z := w(l) und die Win­ kel ψ y = φ y (l), ψ z = φ z (l). (Siehe Abbildungen 2.11.13b und c für übliche Koordina­ ten.) Lösung: Schritt 1: Zerlegen der Last F liefert für F = e y F y + e z F z F y = F ⋅ e y = F cos γ ,

F z = F ⋅ e z = F sin γ .

Schritt 2: Übertragen der Ergebnisse für den Kragbalken mit Endkraft, Abschnitt 2.11.3, auf die hier vorliegenden Fälle liefert für die Verformungen unter der Kraft F y = F cos γ: Fy F y l2 x2 φ z (x) = (lx − ) , , ψ z = φ z (l) = EI z 2 2EI z v(x) =

F y lx2 x3 − ) , ( EI z 2 6

f y = v(l) =

F y l3 ; 3EI z

Verformungen unter der Kraft F z = F sin γ: φ y (x) = − w(x) =

Fz x2 (lx − ) , EI y 2

ψ y = φ y (l) = −

F z lx2 x3 − ) , ( EI y 2 6

f z = w(l) =

F z l2 , 2EI y

F z l3 . 3EI y

Hinweis: Faßt man die Auslenkungen f y , f z als Vektor zusammen, f := f y e y + f z e z , erhält man aus obigen Gleichungen f =(

l3 l3 l3 l3 ey Fy + ez Fz ) = ( ey ey + ez ez) ⋅ F . 3EI z 3EI y 3EI z 3EI y

Hier ist H := (

l3 l3 ey ey + ez ez ) 3EI z 3EI

der Nachgiebigkeits-Tensor (vgl. die Nachgiebigkeit h in Abschnitt 2.6.1), der den Kraft­ vektor F in den Auslenkungsvektor f überführt: f =H⋅F. In Matrix-Schreibweise lauten diese Bezeichnungen f =HF, wo f = (f y , f z )T , F = (F x , F y )T

und

H=(

l3 /3EI z 0

0 ) . l3 /3EI y

Aufgabe 1: Schreiben Sie die Endwinkel ψ und ψ in Tensor- bzw. Matrix-Schreibweise an. Aufgabe 2: Schreiben Sie die vorne berechneten Auslenkungen u, w des Knotens C aus Abbildung 2.4.5 in Matrix- und in Tensorform an.

194 | 2 Elastostatik

2.12 Statisch unbestimmt gelagerte Balken Für statisch unbestimmt gelagerte Balken gelten die allgemeinen Aussagen von Ab­ schnitt 2.5, man arbeitet bei ihrer Untersuchung nach dem Schema aus Abschnitt 2.5.1. Je nach den gewählten Schnitten und den Bestimmungsweisen der Biegelinien – Inte­ gration, Superposition aus bekannten Ergebnissen – ergeben sich verschiedene Mög­ lichkeiten des Vorgehens, die alle auf die gleichen Kräfte und Verformungen führen. Im folgenden werden typische Lösungswege an Hand von Beispielen näher erläutert.

2.12.1 Lösung durch Integration der Biegedifferentialgleichung Gegeben: Balken, Länge l, Biegesteifigkeit EI = const., eingespannt bei A, gestützt bei B, belastet mit Streckenlast q0 , vgl. Abbildung 2.12.1. Gesucht: Auflagerreaktionen bei A und B, Biegelinie w(x).

q0

A

B

EI x

Abb. 2.12.1: Kragbalken mit Endlager

l

Lösung: Da vier Bindungen vorliegen (vgl. Abschnitt 1.11.2), ist der Balken statisch unbestimmt gelagert. Das Schema aus Abschnitt 2.5.1 lautet hier: 1. Aufschneiden in statisch bestimmte Teilsysteme: Schneidet man das Lager B weg (Abbildung 2.12.2), so erhält man einen Kragbalken mit einfachen Randbedingun­ gen, vgl. Abschnitt 2.11.3. Die Belastungen sind durch q0 und B gegeben. q0

B EI

x

B

l (a)

(b)

Q

Abb. 2.12.2: Teilsysteme Kragbalken und Lager

q0

M x

l–x

B

Abb. 2.12.3: Schnittbild für das Teilsystem Balken

2.12 Statisch unbestimmt gelagerte Balken | 195

2.

Verschiebungen der Teilsysteme (hier Biegelinie, vgl. Abschnitt 2.11.4): 1. Schritt: Bestimmen der Momentenlinie. Bei Schnitt an der Stelle x gilt (vgl. Abbildung 2.12.3): + ↺ (x) ∑ Mi = 0 :

− M(x) −

q0 (l − x)2 + B(l − x) = 0 . 2

Daraus folgt M(x) = B(l − x) −

q0 (l − x)2 . 2

2. Schritt : Einsetzen von M in Biegedifferentialgleichung w󸀠󸀠 = −M/(EI) und un­ bestimmte Integration ergibt mit EI = const.: EIw󸀠󸀠 = −B(l − x) + EIw󸀠 =

q0 (l − x)2 , 2

B(l − x)2 q0 (l − x)3 − + C∗1 , 2 6

EIw = −

B(l − x)3 q0 (l − x)4 + + C∗1 x + c∗2 6 24

(allgemeine Lösung).

3. Schritt : Aufstellen der Randbedingungen und Anpassen der allgemeinen Lö­ sung. Die Randbedingungen lauten: w(0) = 0, w󸀠 (0) = 0. Anpassen der Lösung: EIw󸀠 (0) = 0 =

Bl2 q0 l3 − + C∗1 , 2 6

EIw(0) = 0 = −

Bl3 q0 l4 + + C∗2 , 6 24

also

C∗1 =

q0 l3 Bl2 − , 6 2

also

C∗2 =

Bl3 q0 l4 − . 6 24

Damit folgt für die Biegelinie des statisch bestimmten Teilsystems: w(x) = 3.

1 (l − x)4 l3 x l4 (l − x)3 l2 x l3 [q0 ( + − )− B( + − )] . EI 24 6 24 6 2 6

Geometrische Verträglichkeiten (hier Lager B): Da das Lager B sich nicht nach un­ ten verschieben kann, gilt w(l) = 0. Daraus folgt 0=

l4 l4 l3 l3 1 [q0 ( − ) − B ( − )] EI 6 24 2 6

und B=

3 q0 l . 8

Die Biegesteifigkeit EI fällt heraus, weil sie konstant ist.

196 | 2 Elastostatik q0 MA 5 q l 8 0

3q l 8 0

Abb. 2.12.4: Kräfte und Momente auf Balken

4. Schnittlasten und Verschiebungen: Für die Auflagerreaktionen bei A erhält man (vgl. auch Abbildung 2.12.4) MA = M(0) =

3 2 1 2 1 q0 l − q0 l = − q0 l2 , 8 2 8

A=

5 q0 l . 8

Die Biegelinie lautet w(x) =

x x 3 x 2 q0 l4 (1 − ) [2 (1 − ) − 3 (1 − ) + 1] . 48EI l l l

2.12.2 Lösung durch Superposition (Beispiel) Gegeben: Balken, Biegesteifigkeit EI, Längen l1 , l2 , gestützt auf starren Lagern A, B, C, belastet mit Streckenlast q0 , vgl. Abbildung 2.12.5. Gesucht: Lagerkräfte A, B, C.

q0 A

EI l1

C

B l2

Abb. 2.12.5: Balken mit Dreifach-Lagerung

Lösung: 1. Aufschneiden (und Zerlegen in die Lastfälle 1 und 2, vgl. Abbildung 2.12.6): Lastfall 1 q0

q0 A l1 (a)

C

B

~

A

l2

Lastfall 2

C

B l1

(b)

Abb. 2.12.6: Lastfälle für Balken mit Dreifach-Lagerung

+

A l1

l2 (c)

C

B l2

2.12 Statisch unbestimmt gelagerte Balken |

197

Verschiebungen (an der Stelle x = l1 ): Im Lastfall 1 erhält man nach Abschnitt 2.11.4

2.

w1 (l1 ) =

q0 l1 l2 [(l1 + l2 )2 + l1 l2 ] , 24EI

im Lastfall 2 nach Abschnitt 2.11.5 w2 (l1 ) = −

Bl21 l22 . 3EI(l1 + l2 )

Daraus folgt (vgl. Abschnitt 2.11.6): w(l1 ) = w1 (l1 ) + w2 (l1 ) =

Bl21 l22 q0 l1 l2 [(l1 + l2 )2 + l1 l2 ] − . 24EI 3EI(l1 + l2 )

Geometrische Verträglichkeit (für die Stelle x = l1 ): Bei x = l1 verschwindet w(x), es gilt w(l1 ) = 0. Damit folgt

3.

B= 4.

q0 (l1 + l2 )[(l1 + l2 )2 + l1 l2 ] . 8 l1 l2

Lagerkräfte: Mit dem gefundenen B ergeben sich für A und C aus den Momenten­ gleichgewichtsbedingungen A=

l2 q0 (l1 + l2 ) − B , 2 l1 + l2

C=

q0 l1 (l1 + l2 ) − B . 2 l1 + l2

2.12.3 Statisch unbestimmtes System mit elastischer Lagerung (Beispiel) Gegeben: Kragbalken, Biegesteifigkeit EI, Längen l1 , l2 , belastet mit Kraft F, gestützt bei B durch Feder mit Steifigkeit k, vgl. Abbildung 2.12.7. Weiter sei wegen Fertigungs­ ungenauigkeit vor der Montage bei B eine Lücke der Weite a vorhanden. Gesucht: Lagerreaktionen bei A und B, Absenkungen des Lastangriffspunktes und des Punktes B gegenüber der vor der Montage horizontalen Ausgangslage.

l1 A

F

l2 B

EI

a

Abb. 2.12.7: Kragbalken mit elastischem Endlager

198 | 2 Elastostatik

Lösung: 1. Aufschneiden (vgl. Abbildung 2.12.8): B

a fF

f1

A

k f2

1 2 F

B

Teilsystem 1

T eilsystem 2

(a)

(b)

Abb. 2.12.8: Teilsysteme Kragbalken und Feder

2.

Verschiebungen: Aus Abschnitt 2.11.6 folgen für das Teilsystem 1 Fl31 Fl2 Bl2 B − 1 (2l1 + 3l2 ) , f2 = 1 (2l1 + 3l2 ) − (l1 + l2 )3 . 3EI 6EI 6EI 3EI Für das Teilsystem 2, die Feder, gilt nach Abschnitt 2.6.1 f1 =

B . k Geometrische Verträglichkeit (für Anschlußpunkt B): Aus den Abbildungen 2.12.7 und 2.12.8 liest man ab: f2 = a + fF . fF =

3.

Einsetzen obiger Werte liefert Fl21 (2l1 + 3l2 ) B B − (l1 + l2 )3 = a + 6EI 3EI k und

Fl21 (2l1 + 3l2 )/(6EI) − a . 1/k + (l1 + l2 )3 /(3EI) 4. Lagerkräfte und Verschiebungen: Für die Lagerkräfte bei A folgt mit der bekannten Kraft B (vgl. auch Abbildung 2.12.9): B=

A=F−B,

MA = B(l1 + l2 ) − Fl1 .

Die Verschiebungen f1 , f2 und fF ergeben sich unter Verwendung der nun bekann­ ten Kraft B aus den unter Punkt 2 aufgestellten Beziehungen. MA l2

l1 A

F

B

Abb. 2.12.9: Lagerkräfte bei A

2.13 Stäbe mit Kreis- oder Kreisringquerschnitt | 199

Torsion von Stäben 2.13 Stäbe mit Kreis- oder Kreisringquerschnitt 2.13.1 Allgemeine Überlegungen Bisher haben wir die Längenänderungen von Stäben unter der Wirkung von Längsoder Normalkräften betrachtet (Abschnitt 2.4) und die Biege-Verformung von Balken unter der Wirkung von (Biege-)Momenten untersucht (Abschnitte 2.8 bis 2.12). Wir kommen nun zur Torsion – zur Verdrehung, Verdrillung, Verwindung – eines gera­ den Stabes unter der Wirkung eines (Dreh- oder Torsions-)Momentes um seine Achse (vektoriell ein Moment parallel zur Stabachse), vgl. Abbildung 2.13.1.

x M

l

M

Abb. 2.13.1: Stab unter Einwirkung eines Torsionsmomentes

Dabei beschränken wir uns auf Stäbe mit Kreis- oder Kreisringquerschnitten, weil die Torsion von Stäben mit allgemeineren Querschnittsformen einen erheblich umfang­ reicheren Aufwand an mechanischen und mathematischen Überlegungen erfordert. Die folgende Aufgabenstellung ist für Torsionsbeanspruchungen typisch: Gegeben ist ein zylindrischer Torsionsstab vom Radius R, der Länge l, den Konstan­ ten E und G zur Beschreibung der elastischen Eigenschaften, vgl. Abbildung 2.13.1. (Statt M schreibt man auch MT , wenn Verwechslungsmöglichkeiten mit dem Biege­ moment bestehen.) Gesucht ist der Verdrehwinkel des Stabes.

2.13.2 Herleitung der Gleichungen Verformungen Wir schneiden aus dem Stab ein Element in der Form eines Hohlzylinders, Länge ∆x, Radius r, Wanddicke ∆r, heraus; vgl. Abbildung 2.13.2. Eine im unbelasteten Element zur Achse parallele Mantellinie A–A geht bei Belastung in die Linie A–A󸀠 über. Fer­ ner bleiben alle auf einem Strahl durch die Mittelachse liegenden Punkte eines QuerSchnittes aus Symmetriegründen auch bei Belastung auf einem Strahl, der Winkel φ ist also unabhängig von r. Aus der Skizze liest man ab ∆φ r = γ ∆x .

200 | 2 Elastostatik

φ

A ∆φ

γ

A‘

A r

x ∆r Abb. 2.13.2: Herausgeschnittener Hohlzylinder

∆x

Daraus folgt γ = γ(r) = r

dφ = rφ󸀠 . dx

Der Winkel φ = φ(x) ist der (Ver-)Drehwinkel, seine Ableitung φ󸀠 = dφ/dx nennt man Drillung. Schubspannungen Ein an der Mantellinie liegendes, ursprünglich rechteckiges Element des Hohlzylin­ ders ist nach der Belastung um den Winkel γ verschoben, Abbildung 2.13.3. Aus dem Hookeschen Gesetz (Abschnitt 2.3.4) folgt τ = Gγ = Grφ󸀠 .

γ

τ τ τ A (a)

A

A (b)

τ

Abb. 2.13.3: Verformung eines Elementes des Hohlzylinders

A‘

Gleichgewicht Das Stabelement nach Abbildung 2.13.4 zeigt am negativen Schnittufer die Schub­ spannungen – gezeichnet sind sie nur für ein Flächenelement ∆A im Abstand r von der Stabachse – und am positiven Schnittufer das (Dreh-)Moment M. Die Bedingung für das Momentengleichgewicht um die x-Achse liefert M − ∫ rτ dA = 0 . A

(Die anderen Gleichgewichtsbedingungen sind erfüllt.) Mit τ = Grφ󸀠 ergibt sich dar­ aus M = ∫ r(Grφ󸀠 ) dA = Gφ󸀠 ∫ r2 dA . A

A

2.13 Stäbe mit Kreis- oder Kreisringquerschnitt

| 201

x

r ∆r

M R

τ Abb. 2.13.4: Momentengleichgewicht am Torsionsstab

A

Der Integralausdruck ist das in Abschnitt 2.9.1 eingeführte polare Flächenmoment zweiten Grades Ip = ∫ r2 dA . A

Man erhält für die Drillung eines Stabes mit dem Flächenmoment Ip und dem Schub­ modul G infolge des Momentes M den Ausdruck φ󸀠 =

M . GIp

Die Drillung ist um so kleiner, je größer das Produkt GIp ist, deshalb heißt GIp Drill­ steifigkeit. Die polaren Flächenmomente von kreis- und kreisringförmigen Querschnitten, vgl. Abbildung 2.13.5, haben wir in Abschnitt 2.9.2 berechnet: π 4 π 4 für Vollzylinder , R = d 2 32 π π (Da 4 − Di 4 ) für Hohlzylinder . Ip = (Ra 4 − Ri 4 ) = 2 32 Ip =

R

(a)

Ra

(b)

Ri

Abb. 2.13.5: Voll- und Hohlzylinder

Hinweis 1: Obige Überlegungen lassen sich nicht auf Stäbe mit anderen als kreisför­ migen Querschnitten übertragen. Allerdings gilt auch für sie eine Beziehung φ󸀠 = M/(GIT ). Dabei ist in der Torsionssteifigkeit GIT das IT eine Rechengröße von der Dimension eines Flächenmomentes zweiten Grades, und nur für Kreisquerschnitte gilt IT = Ip .

202 | 2 Elastostatik

Schubspannungsverlauf Einsetzen der Drillungsbeziehung φ󸀠 = M/(GIp ) in die Schubspannungsformel τ = Grφ󸀠 liefert M τ = τ(r) = r , Ip die Schubspannung wächst linear mit dem Radius, Abbildung 2.13.6. τ(r)

Ra Abb. 2.13.6: Verlauf der Schubspannungen

Sie nimmt außen, bei r = Ra , den Größtwert τ max an. Mit dem Torsions-Widerstands­ moment Ip Wp := Ra erhält man M MRa = . τmax = Wp Ip Hinweis 2: Bei anderen als kreisförmigen Querschnitten sind die Schubspannungen im allgemeinen nicht linear über den Querschnitt verteilt und haben ihre Extrema auch nicht an den Punkten mit der größten Entfernung vom Querschnittszentrum.

2.13.3 Drehwinkel Verdrehung einer Welle Gegeben: Welle, Länge l, Drillsteifigkeit GIp = const., festgehalten bei x = 0, belastet mit Torsionsmoment M, vgl. Abbildung 2.13.7. Gesucht: Verdrehung φB := φ(l).

φ

B A

M

l x

Abb. 2.13.7: Eingespannter Torsionsstab

2.13 Stäbe mit Kreis- oder Kreisringquerschnitt |

203

Lösung: Es gilt die Differentialgleichung φ󸀠 =

M = const. GIp

Die Integration liefert x

φ(x) = φ(0) + ∫ 0

M Mx dξ = φ0 + . GIp GIp

Mit der Randbedingung φ(0) = 0 folgt φB = φ(l) =

Ml . GIp

Drehfedern (vgl. Abschnitt 2.6) Man vergleicht die Verdrehung eines Torsionsstabes oder einer Welle mit der Verdre­ hung einer Spiralfeder (z. B. Unruhfeder), vgl. Abbildung 2.13.8. Aus der obigen Bezie­ hung für φ(l) folgt GIp M= φ. l Für die Drehfeder setzt man mit der Drehfedersteifigkeit (Torsionssteifigkeit) k T M = kT φ .

φ M

kT

Abb. 2.13.8: Drehfeder

Dimension dim k T = dim M = KL. Vergleich der beiden Beziehungen liefert kT =

GIp . l

Für Drehfeder-Schaltungen gelten Beziehungen analog zu Abschnitt 2.6.2.

204 | 2 Elastostatik

2.13.4 Beispiele Verdrehung einer abgesetzten Welle Gegeben: Abgesetzter Torsionsstab, Längen l1 , l2 , Drillsteifigkeiten (GIp )1 bzw. (GIp )2 , bei B und C belastet mit Momenten MB , MC (in Abbildung 2.13.9 als Vekto­ ren eingetragen). Gesucht: Drehwinkel φB , φC bei B bzw. C.

A

B MB

C M C x

l1

l2

Abb. 2.13.9: Abgesetzter Torsionsstab

Lösung (nach Abschnitt 2.13.3): Verdrehung von Teil 1: Verdrehung von Teil 2: Drehwinkel: Drehwinkel:

M1 l1 MB − MC = l1 , (GIp )1 (GIp )1 M2 l2 −MC l2 φ2 = = , (GIp )2 (GIp )2 MB − MC φB = φ1 = l1 , (GIp )1 MB − MC MC l1 − l2 . φC = φ1 + φ2 = (GIp )1 (GIp )2 φ1 =

Statisch unbestimmtes System Gegeben: Abgesetzter Torsionsstab, Längen l1 , l2 , Drillsteifigkeiten (GIp )1 bzw. (GIp )2 , fest eingespannt bei A und C, belastet bei B mit MB ; vgl. Abbildung 2.13.10. Gesucht: Drehung φB , Einspannmomente bei A und C.

A

B l1

MB l2

C x Abb. 2.13.10: Beidseitig eingespannter Torsionsstab

Lösung (nach Schema aus Abschnitt 2.5.1): 1. Aufschneiden: Schneidet man den Torsionsstab unmittelbar rechts von der Stelle B, so erhält man die beiden in Abbildung 2.13.11 dargestellten Teilsysteme; M ist das Schnittmoment.

2.13 Stäbe mit Kreis- oder Kreisringquerschnitt | 205

A

(a)

B1

MB

M

B2

M

(b)

Teilsystem 1

C

Teilsystem 2

Abb. 2.13.11: Aufgeschnittener Torsionsstab

2.

3.

Drehungen

φB1 =

Teilsystem 2:

φB2

Geometrische Verträglichkeit: Aus φB1 = φB2 = φB folgt M=−

4.

(MB + M)l1 , (GIp )1 Ml2 =− . (GIp )2

Teilsystem 1:

MB l1 /(GIp )1 . l1 /(GIp )1 + l2 /(GIp )2

Momente und Drehungen Momente (Vorzeichen gemäß Abbildung 2.13.12): Aus den Gleichgewichtsbedin­ gungen für die bei A bzw. C freigeschnittenen Teilsysteme 1 und 2, vgl. Abbil­ dung 2.13.11, erhält man MA =

MB l2 /(GIp )2 , l1 /(GIp )1 + l2 /(GIp )2

MC = −M =

MB l1 /(GIp )1 . l1 /(GIp )1 + l2 /(GIp )2

Drehungen: Für den gesuchten Drehwinkel ergibt sich φB = φB2 =

MA

MB

l1 /(GIp )1 ⋅ l2 /(GIp )2 MB MB = . l1 /(GIp )1 + l2 /(GIp )2 (GIp )1 /l1 + (GIp )2 /l2

MC

Abb. 2.13.12: Äußeres Moment und Auflagerreaktionen

Lösung (mit Federschaltungen nach Abschnitt 2.6.2): Faßt man die beiden Teile des Torsionsstabes als Drehfedern mit den Federsteifigkei­ ten (GIp )1 (GIp )2 k T1 = , k T2 = l1 l2 auf, vgl. Abschnitt 2.13.3, so liegt eine Parallelschaltung der Federn vor: k Te = k T1 + k T2 .

206 | 2 Elastostatik

Für die Drehung gilt dann φB =

MB MB = . k Te k T1 + k T2

Die Einspannmomente ergeben sich – mit dem Drehsinn von MA und MC gemäß Ab­ bildung 2.13.12 – zu MA = k T1 φB =

k T1 MB , k T1 + k T2

MC = k T2 φB =

k T2 MB . k T1 + k T2

Man zeige, daß diese Ergebnisse mit den obigen übereinstimmen.

Arbeitsaussagen der Elastostatik Mit Hife einer Arbeitsaussage, dem Prinzip der virtuellen Verrückungen, wurde in Ab­ schnitt 1.21 das statische Gleichgewicht von Systemen erfaßt. Zu diesem Zweck haben wir die Arbeit der eingeprägten äußeren Kräfte bei virtuellen Verrückungen berechnet. Die inneren Kräfte, d. h. die Kräfte in den Bauteilen, lieferten keine Beiträge, denn wir hatten starre Körper vorausgesetzt. Wir wollen jetzt Arbeitsaussagen für linear elastische Körper entwickeln. Dabei müssen wir nun auch die von den inneren Kräften bei der Verformung des Körpers verrichtete Arbeit berücksichtigen. Im Unterschied zum Abschnitt 1.21 behandeln wir hier tatsächliche Kräfte (und Momente) und tatsächliche Verformungen. Die Parallele zum Prinzip der virtuellen Verrückungen, mit dem man in der Statik tatsächliche Kräfte bestimmt, ist in der Elastostatik das Prinzip der virtuellen Kräfte, mit dem man tatsächliche Verformungen mit Hilfe von virtuellen – bloß gedachten – Kräften ermittelt.

2.14 Energieüberlegungen Wir betrachten „quasi-statische“, d. h. sehr langsam ablaufende Vorgänge, bei denen man die kinetische Energie nicht zu berücksichtigen braucht (vgl. z. B. Abschnitt 3.10).

2.14.1 Arbeit der äußeren Kräfte und Momente Gezogener Stab Gegeben ist der Zugstab nach Abbildung 2.14.1a, Ausgangslänge l, Dehnsteifigkeit EA, belastet mit der äußeren Kraft F0 , die das Stabende um f0 = F0 l/(EA) absenkt, vgl. Abschnitt 2.4.1. Gesucht ist die Arbeit W a der äußeren Kraft F0 , wenn sie auf den zunächst entlasteten Stab langsam aufgebracht wird.

2.14 Energieüberlegungen | 207

F0 F

l

∆f ∆Wa

f0 0 (a)

F0

f

f0

(b)

Abb. 2.14.1: Zugstab und Kraft-Verschiebungs-Diagramm

Lösung: Wir bezeichnen die während des Belastungsvorgangs ansteigende, also variable Kraft mit F, 0 ≤ F ≤ F0 , und die jeweils zugehörige Absenkung mit f , 0 ≤ f ≤ f0 . Zwischen f und F besteht nach Abschnitt 2.4.1 die Beziehung Fl F f = , = f0 EA F0 vgl. Abbildung 2.14.1b. Die von F bei einer kleinen Krafterhöhung ∆F und der damit verbundenen Zusatzauslenkung ∆f am Stab verrichtete Arbeit ∆W a beträgt nach Ab­ schnitt 1.21.1 ∆W a = F ∆f . Mit ∆f = ∆F f0 /F0 erhält man f0

W a = ∫ F df = 0

F0

f0 1 ∫ F dF = F0 f0 . F0 2 0

Die Arbeit W a ist gleich der Fläche des in Abbildung 2.14.1b schattierten Dreieckes. Führt man einen „Belastungsparameter“ λ mit 0 ≤ λ ≤ 1 (λ = 0: entlasteter Stab, λ = 1: mit F0 belasteter Stab) ein, und setzt man gemäß dem linearen Zusammenhang in Abbildung 2.14.1b f = λf0 , F = λF0 an, so kann man auch schreiben f0

1

a

W = ∫ F df = F0 f0 ∫ λ dλ = 0

1 F0 f0 . 2

0

Gebogener Balken Gegeben ist der Balken nach Abbildung 2.14.2, der sich unter der gemeinsamen Wir­ kung der Kräfte F i0 und der Momente M k0 an den Krafteinleitungsstellen um f i0 ab­ senkt und an den Momenteneinleitungsstellen um ψ k0 dreht. Gesucht ist die Arbeit W a der äußeren Lasten, wenn sie langsam aufgebracht werden.

208 | 2 Elastostatik

...Mk0...

... Fi0...

ψk0

Abb. 2.14.2: Balkenauslenkungen unter der Wirkung von Kräften und Momenten

fi0

Lösung: Wir bezeichnen mit F i , M k und f i , ψ k die während des Belastungsvorganges anstei­ genden, also variablen Größen. Es gilt nach Abschnitt 1.22.1 ∆W a = ∑ F i ∆f i + ∑ M k ∆ψ k . i

k

Da auch hier zwischen F i , M k und f i , ψ k ein linearer Zusammenhang besteht, vgl. Ab­ schnitt 2.11.6, können wir mit dem Belastungsparameter λ aus der obigen Betrachtung über den gezogenen Stab ansetzen F i = λF i0 ,

M k = λM k0 ,

f i = λf i0 ,

ψ k = λψ k0

und erhalten 1

W a = ∫ [∑ F i0 f i0 + ∑ M k0 ψ k0 ] λ dλ = 0

i

k

1 [∑ F i0 f i0 + ∑ M k0 ψ k0 ] . 2 i k

Nachdem nun die Ausdrücke für W a bekannt sind, lassen wir den Index 0 weg: F i0 → F i , f i0 → f i , M k0 → M k , ψ k0 → ψ k . Man sieht leicht ein, daß die Ausdrücke für die Arbeit der äußeren Kräfte bei be­ liebigen linear elastischen Systemen die obige Form haben.

2.14.2 Arbeit der inneren Kräfte und Momente Gezogener Stab Gegeben ist der Stab nach Abbildung 2.14.3a, der (langsam) bis auf eine Kraft F (im vorigen Abschnitt mit F0 bezeichnet) belastet wird. Ein Element, Ausgangslänge ∆x, verformt sich dann infolge der inneren (Schnitt-)Kräfte F gemäß Abbildung 2.14.3b. Gesucht ist die Arbeit W i der inneren Kräfte.

x l

∆x

u(x)

F

u(x+∆x) F (a)

(b)

Abb. 2.14.3: Zugstab mit inneren Kräften

2.14 Energieüberlegungen |

209

Lösung: Nach dem Schnitt an einem Stabelement – wie in Abbildung 2.14.3b – können wir die Kräfte F als äußere Kräfte auffassen, die auf ein lineares System wirken. Wir erhalten gemäß vorigem Abschnitt für die Arbeit ∆W i an dem betrachteten Element (unter der vollen Last!): ∆W i =

1 1 1 1 1 u(x + ∆x)F − u(x)F = F[u(x + ∆x) − u(x)] = F ∆u ≈ Fu 󸀠 ∆x . 2 2 2 2 2

Mit u 󸀠 = ε (vgl. Abschnitt 2.2.3) und ε = F/(EA) (vgl. Abschnitt 2.4.1) erhält man bei Integration über die Stablänge einerseits l

l

0

0

1 F 1 F2 ∫F dx = ∫ dx . 2 EA 2 EA

Wi =

Ist die Dehnsteifigkeit EA unabhängig von x (EA = const.), so gilt Wi =

1 F2 l . 2 EA

Andererseits folgt durch Integration von ∆W i = Fu 󸀠 ∆x/2: l

1 1 1 W = ∫ Fu 󸀠 dx = Fu(l) = Ff = W a . 2 2 2 i

0

Man findet die Arbeit der äußeren Kräfte also gerade im Stab als Arbeit der inneren Kräfte wieder: Wi = Wa . Man nennt W i auch Formänderungsenergie oder Potential. Im Abschnitt 3.11.3 werden wir obige Aussage als Sonderfall des allgemeinen Energieerhaltungssatzes sehen. Gebogener Balken Gegeben ist ein Balken der Länge l mit der Biegesteifigkeit EI(x), belastet mit einem Biegemoment M(x); vgl. etwa Abbildung 2.8.4. Gesucht ist die Arbeit W i der inneren Kräfte; das ist hier die Arbeit der Schnittmomen­ te. Lösung: Entsprechend dem Vorgehen beim Zugstab erhält man (vgl. Abbildung 2.8.4 und Ab­ schnitt 2.11.1) ∆W i =

1 1 1 1 M2 M ∆α = − M ∆φ ≈ − Mφ󸀠 ∆x = ∆x 2 2 2 2 EI

und l

1 M2 W = ∫ dx . 2 EI i

0

210 | 2 Elastostatik

Um dieses Integral berechnen zu können, braucht man nur den Momentenverlauf M(x) und den Biegesteifigkeitsverlauf EI(x) zu kennen. Wieder gilt W i = W a , nur läßt es sich hier nicht so unmittelbar wie beim Stab zeigen. Anwendungsbeispiel Gegeben: Kragbalken, Biegesteifigkeit EI, Länge l, belastet mit Kraft F; vgl. Abbil­ dung 2.14.4. Gesucht: Absenkung f .

x f

l w

F

Abb. 2.14.4: Kragbalken mit Einzelkraft

Lösung: Für die Arbeit der äußeren Kraft gilt nach Abschnitt 2.14.1 1 W a = Ff . 2 Die Formänderungsenergie ergibt sich mit M(x) = −(l − x)F zu l

Wi =

F 2 l3 1 (l − x)2 F 2 dx = . ∫ 2 EI 6EI 0

Durch Gleichsetzen erhält man (einfacher als in Abschnitt 2.11.3): f =

Fl3 . 3EI

2.14.3 Die Sätze von Castigliano Einflußzahlen In Abschnitt 2.11.6 haben wir für das in Abbildung 2.14.5 gezeigte System die Absen­ kungen l3 l2 f1 = 1 F1 + 1 (2l1 + 3l2 )F2 , 3EI 6EI f2 =

l21 (l1 + l2 )3 (2l1 + 3l2 )F1 + F2 6EI 3EI

2.14 Energieüberlegungen |

f1

1 F1

211

f2

2 F2

Abb. 2.14.5: Kragbalken mit zwei Einzelkräften

berechnet. Man kürzt diesen linearen Zusammenhang ab: f1 = h11 F1 + h12 F2 , f2 = h21 F1 + h22 F2 . Dabei gilt h11 =

l31 , 3EI

l21 (2l1 + 3l2 ) , 6EI

h12 = h21 =

h22 =

(l1 + l2 )3 . 3EI

Die h ik erfassen die Auslenkung (Wirkung) i infolge der Last (Ursache) k; sie heißen Verschiebungs-Einflußzahlen und entsprechen der Nachgiebigkeit h in Abschnitt 2.6.1. Man kann obige lineare Gleichungen nach den Kräften F1 , F2 auflösen (Übungs­ aufgabe!). Das Ergebnis hat die Form F1 = k 11 f1 + k 12 f2 , F2 = k 21 f1 + k 22 f2 . Die k mn erfassen die Last (Wirkung) m infolge der Auslenkung (Ursache) n; sie hei­ ßen Kraft-Einflußzahlen und entsprechen der Steifigkeit k in Abschnitt 2.6.1. Man sieht leicht ein, daß die am Beispiel besprochene Einfluß-Überlagerung unmittelbar auf an­ dere Systeme, mehrere Lasten (d. h. Kräfte und Momente) und mehrere Auslenkungen (d. h. Absenkungen und Winkel) angewendet werden kann, solange mit linearisierter Geometrie und linear elastischen Werkstoffen gearbeitet werden darf. Der erste Satz von Castigliano Drückt man für das oben genannte Beispiel die Arbeit W a der äußeren Kräfte mit Hilfe der Verschiebungseinflußzahlen aus, so ergibt sich für Wa =

1 (F1 f1 + F2 f2 ) 2

die bezüglich F1 , F2 quadratische Form Wa =

1 (h11 F1 2 + h12 F1 F2 + h21 F2 F1 + h22 F2 2 ) . 2

Wegen W i = W a erhält man durch partielles Differenzieren (mit h12 = h21 , s. unten): ∂W i = h11 F1 + h12 F2 = f1 , ∂F1

∂W i = h21 F1 + h22 F2 = f2 . ∂F2

212 | 2 Elastostatik

Die allgemeine Form dieser Aussage ist der erste Satz von Castigliano: Schreibt man die Formänderungsenergie W i als quadratische Form der Lasten, so ist die partielle Ableitung von W i nach einer Last gleich der Auslenkung des Lastangriffspunktes in Richtung der Last. Verschwindet die Auslenkung, z. B. am Angriffspunkt einer starren Lagerung, so muß auch die Ableitung von W i nach der Lagerreaktion verschwinden. Aus der gemischten zweiten Ableitung ∂2 W i ∂2 W i = ∂F1 ∂F2 ∂F2 ∂F1 folgt die oben schon benutzte Beziehung: h21 = h12 . In der allgemeinen Form h ik = h ki heißt diese Aussage Maxwellscher Reziprozitätssatz. Der zweite Satz von Castigliano Arbeitet man mit den Kraft- statt mit den Verschiebungs-Einflußzahlen, so erhält man auf entsprechende Weise (mit k12 = k 21 ) ∂W i = k 11 f1 + k 12 f2 = F1 ∂f1

usw .

Zweiter Satz von Castigliano: Schreibt man die Formänderungsarbeit W i als quadra­ tische Form der Auslenkungen, so ist die partielle Ableitung von W i nach einer Aus­ lenkung gleich der am Auslenkungspunkt angreifenden Last in Richtung der Auslen­ kung. Hinweis: Die Sätze von Castigliano gelten auch für nichtlinear elastische Systeme. Dann treten andere nichtlineare Funktionen an die Stelle der quadratischen Formen; die Einflußzahlen entfallen (vgl. das folgende Beispiel 2). Anwendungsbeispiele Beispiel 1 Gegeben: Kragbalken ABC nach Abbildung 2.14.6, Länge 2l, Biegesteifigkeiten EI0 und 2EI0 , belastet mit Streckenlast q0 , Kraft F und Moment MA . Gesucht: Absenkung f und Winkel ψ bei A. q0

q0 MA A x F

EI0 l

B

2EI0 l

C Abb. 2.14.6: Kragbalken

2.14 Energieüberlegungen | 213

Lösung (nach dem ersten Satz von Castigliano): Momentenverlauf: M(x) = MA − Fx − q0

x2 . 2

Formänderungsenergie: Wi =

2l

l

2l

0

0

l

M2 1 M2 1 [M(x)]2 1 dx = ∫ dx + ∫ dx . ∫ 2 EI(x) 2 EI0 2 2EI0

Auslenkungen: l

2l

x2 x2 1 [ ∂W i = 2 ∫ (MA − Fx − q0 ) dx + ∫ (MA − Fx − q0 ) dx] ∂MA 2EI0 2 2 [ 0 ] l 5 2 3 3 1 (3MA l − Fl − q0 l ) , = 2EI0 2 2

ψ=

l

2l

x2 x2 ∂W i 1 [ f = = 2 ∫ (−MA + Fx + q0 ) x dx + ∫ (−MA + Fx + q0 ) x dx ] ∂F 2EI0 2 2 [ 0 ] l 5 17 1 (− MA l2 + 3Fl3 + q0 l4 ) . = 2EI0 2 8 Die Formeln schließen auch die Fälle MA → 0 und F → 0 ein. Ist bei A zusätzlich eine starre Stütze angebracht, so folgt aus f = ∂W i /∂F = 0 die Auflagerkraft A := −F zu 5 MA 17 q0 l − . A= 24 6 l Beispiel 2 Gegeben: Der in Abbildung 2.14.7a gezeigte Kragbalken mit Endlast F, Länge (l + u), Biegesteifigkeit EI, steckt mit dem linken Ende in einer glatten starren Hülse, die ho­ rizontal in eine Wand eingelassen ist. Frage : Treten an dem Balken horizontal wirkende Kräfte auf?

glatte Hülse

Lager glatt

x

A f

EI u (a)

B ψ

l F

a (b)

Abb. 2.14.7: Längsverschiebliche Kragbalken mit Endkraft

l F

214 | 2 Elastostatik

Antwort (mit Hilfe des zweiten Satzes von Castigliano): Nach Abschnitt 2.11.3 wird das Balkenende um F(l + u)2 F(l + u)3 ψ= , f = 2EI 3EI ausgelenkt. Dann ergibt sich die Formänderungsarbeit W i aus der äußeren Arbeit 1 F ⋅ f mit W i = W a 2 Partielle Ableitung nach u liefert für u = 0: Wa =

zu

Wi =

1 F 2 (u + l)3 . 2 3EI

∂W i F 2 l2 F l2 = = F = ψ F =: FH . ∂u 2EI 2EI Der Balken drängt also mit der Horizontalkraft FH in Richtung u aus der Hülse heraus. (Als innere Kraft is FH in Abbildung 2.14.7a ohne Schnitt nicht darstellbar.) Es bedarf ∗ einer gleich großen, entgegen u gerichteten Haltekraft FH (in Abbildung 2.14.7a nicht eingetragen), um ihn in die Hülse zurückzudrücken! (Die Horizontalkraft FH ist ge­ rade so groß wie es die „Hangabtriebskraft“ wäre, die ein um das glatte Balkenende geschlungenes Seil erführe, an dem die Last F hängt.) Bemerkungen Die in Abbildung 2.14.7 gezeigten Kragbalken sind bei glatter Lagerung ohne Halte­ ∗ kräfte FH nicht im statischen Gleichgewicht! Beim Balken nach Abbildung 2.14.7a stammt die Horizontalkraft FH aus der bei starrer Hülse „unendlich großen“ Kanten­ pressung am rechten Hülsenende. Plausibilitätsüberlegung dazu: Man ersetze die starre Hülse durch ein Paar star­ rer, glatter Lager A, B im Abstand a, Abbildung 2.14.7b, und berechne die Lagerkräfte F A , F B , die senkrecht zur Oberfläche am schwach gebogenen Balken angreifen. Aus der Gleichgewichtsbedingung in x-Richtung folgt dann die oben berechnete Kraft FH , unabhängig von der Größe von a. (Der starren Hülse entspricht a ↓ 0). In der Regel genügen die in der Einspannung wirksamen Haftkräfte, um FH ab­ zufangen. Schwankt jedoch die Kraft F (evtl. sehr langsam), können sich Balken aus Einspannungen mit Losen durch Lastumlagerung (die Angriffspunkte von F A , F B wan­ dern auf der rauhen Balkenoberfläche) aus der Einspannung „herausarbeiten“. Dabei treten in der Einspannung beachtliche Tangentialkräfte auf.

2.15 Das Prinzip der virtuellen Kräfte Nach dem Prinzip der virtuellen Kräfte – auch Arbeitssatz der Elastostatik genannt – berechnet man Auslenkungen diskreter Punkte elastischer Gebilde durch vorgegebe­ ne Lasten. Besonders einfach und schematisch lassen sich damit Verformungen von Systemen untersuchen, die aus Balken und Stäben zusammengesetzt sind, wie wir sie vorne kennengelernt haben.

2.15 Das Prinzip der virtuellen Kräfte

| 215

2.15.1 Allgemeine Bezeichnungen Das aus Balken und (Zug- wie Torsions-)Stäben bestehende System sei durch die äu­ ßeren Kräfte F i , die Streckenlasten q j (x) und die Momente M k belastet. Sie bewirken in den Balken im allgemeinen sechs Schnittgrößen, vgl. Abbildung 1.18.2b, nämlich die Längs- oder Normalkraft N(x), zwei Querkräfte Q y (x), Q z (x), zwei Biegemomente M y (x), M z (x) sowie ein Torsionsmoment MT (x) := M x (x). In Stäben wirken nur die Stab- oder Normalkraft N(x) und das Torsionsmo­ ment MT (x). Der Einfachheit halber beschränken wir uns im folgenden, wie in Abschnitt 1.18, auf den ebenen Fall mit nur einer Querkraft Q(x) = Q z (x) und einem Biegemoment M(x) = M y (x). (Allgemeinere Belastungsfälle führt man durch Überlagerung auf ebe­ ne zurück, vgl. die schiefe Biegung in den Abschnitten 2.10.3 und 2.11.8.) Hinweis 1: Wir haben es jetzt mit Systemen zu tun, in denen x als Längskoordinate in mehreren Systemteilen vorkommt. Deshalb gilt: Soweit die Ortskoordinate x als Argu­ ment der Schnittgrößen geschrieben wird, bedeutet sie zweierlei: Erstens betont sie pauschal, daß die Schnittgrößen zu gegebenen Lasten „vom Ort des Schnittes abhän­ gen“. Zweitens steht sie, bei mehreren Systemteilen, als Repräsentant für die (geeignet eingeführte) lokale Längskoordinate x des jeweils betrachteten Balkens oder Stabes. Üblicherweise trägt man Schnittkraftlinien und Schnittkraftflächen in Skizzen verein­ fachter Lagepläne ein, vgl. Abschnitt 1.18.2 und Abbildung 2.15.1, und vermeidet damit umständliche Fallbeschreibungen. (Soweit das Argument x unmittelbar aus dem Zu­ sammenhang folgt, bleibt es oft weg.) Zusammensetzen der Schnittgrößen Wir greifen das Biegemoment M(x) als Repräsentanten für alle vier Schnittgrößen N(x), Q(x), M(x) und M T (x) heraus. Die folgenden Aussagen über M(x) gelten also für N(x), Q(x) und MT (x) analog. In Abschnitt 1.18 haben wir das durch die vorgegebenen Lasten am unverform­ ten System bewirkte Biegemoment M(x) aus Gleichgewichtsbedingungen berechnet. Es setzt sich dann aus einer Linearkombination der Wirkungen der einzelnen Lasten zusammen: x M(x) = ∑ M i (x)F i + ∑ ∫ M j (x, ξ)q j (ξ) dξ + ∑ M k (x)M k . ξ=0

Dabei muß über alle Lasten F i , q j (x), M k summiert werden. (Sind i, j, k Ziffern, wird man zur deutlichen Unterscheidung z. B. durchnumerieren.) In obiger Kombination bedeuten M i (x)

– Momentenlinie durch Eins-Kraft, die wie F i angreift ,

M j (x, ξ) – Momentenlinie durch Eins-Kraft, die wie q j (ξ) ⋅ ∆ξ bei ξ angreift , M k (x)

– Momentenlinie durch Eins-Moment, das wie M k angreift .

216 | 2 Elastostatik

Beispiel: Beim Anwendungsbeispiel 1 aus Abschnitt 2.14.3 gilt (vgl. Abbildung 2.14.6): M F (x) = −x ,

M q0 (x, ξ) = −(x − ξ) ,

M MA (x) ≡ 1 .

Hinweis 2: Die Unterscheidung der Eins-Wirkungen M i (x), M j (x, ξ), M k (x) von M(x) durch den Überstrich ist sehr üblich. Eine treffende Benennung gibt es nicht (vgl. „vir­ tuelles Moment“ unten). Deshalb sprechen wir beschreibend von den Eins-Wirkun­ gen – der Kraft F i , des Moments M k – auf das Biegemoment M(x) oder, kürzer, von den Eins-Wirkungen auf das Biegemoment. Hinweis 3: Die Eins-Wirkungen sind in der Regel dimensionsbehaftet! Zum Beispiel dim MF = L ,

dim M q0 = L ,

dim M MA = 1 .

Aufgabe: Welche Dimensionen haben die Eins-Wirkungen für die Normalkraft N(x), die Querkraft Q(x) und das Torsionsmoment MT (x)? Hinweis 4: Bei einer konkreten Aufgabe wird man die im System unter den gegebe­ nen Lasten herrschenden Schnittgrößen in der Regel direkt bestimmen und nicht mit Hilfe von Eins-Wirkungen zusammensetzen! (Die obige Zerlegung dient vor allem zur gedanklichen Vorbereitung auf die nun folgenden virtuellen Kräfte.)

2.15.2 Virtuelle Kräfte Sei δF oder δM eine gedachte infinitesimal kleine äußere Kraft bzw. ein solches Mo­ ment, die an einer beliebigen Stelle des Systems („wie eine normale Last“) angreifen. Man nennt solche, nur gedanklich vorgestellten Kräfte und Momente virtuell. In­ finitesimal klein nimmt man sie an, weil sie die normalen Kräfte und Momente nicht beeinflussen sollen, weil man mit ihnen wie mit Differentialen rechnen will. Die virtuellen Kräfte und Momente sollen – für sich, ohne die normalen Lasten – alle Gleichgewichtsbedingungen erfüllen. Dann kann man auch virtuelle Schnittgrö­ ßen δN(x), δQ(x), δM(x), δMT (x) berechnen. Wieder gelten die Gleichgewichtsbedin­ gungen – für δM(x) aus Abschnitt 1.18 – und auch die virtuellen Schnittgrößen lassen sich durch die der virtuellen Kraft δF bzw. Moment δM entsprechende Eins-Wirkun­ gen ansetzen. Man erhält zu einer angenommenen äußeren Kraft δF: δN(x) = N(x)δF, δQ(x) = Q(x)δF, δM(x) = M(x)δF, δMT (x) = M T (x)δF . Arbeiten der virtuellen Kräfte Wir bringen am unbelasteten System die virtuelle Kraft δF an. Damit wirken, im Sys­ tem verteilt, die oben genannten virtuellen Schnittgrößen. Nun halten wir δF fest und belasten das System mit den vorgegebenen Kräften und Momenten, „fahren“ also den Belastungsparameter λ aus Abschnitt 2.11.1 von λ = 0 hoch auf λ = 1.

2.15 Das Prinzip der virtuellen Kräfte | 217

Äußere virtuelle Arbeit Sei f die (End-)Auslenkung des Angriffspunktes der virtuellen Kraft δF – in deren Richtung – unter den vorgegebenen Lasten für λ = 1. Dann verrichtet δF am System beim Hochfahren von λ die äußere virtuelle Arbeit δW a = f δF ,

vektoriell: δW a = f ⋅ δF .

Analog gilt mit dem äußeren virtuellen Moment δM und dem Winkel ψ an dessen Angriffspunkt δW a = ψ δM , vektoriell: δW a = ψ ⋅ δM . Innere virtuelle Arbeit Die virtuellen Schnittkräfte verrichten bei der Belastung innere virtuelle Arbeit. Ähn­ lich wie in Abschnitt 2.14.2 erhält man für die Normalkräfte ∆ δWNi = δN(x) ∆u = δN u 󸀠 ∆x = δN(N/EA) ∆x , und δWNi = ∫

N(x) δN(x) dx , EA

für die Biegemomente: i ∆ δWM = δM(x) ∆α = −δM φ󸀠 ∆x = δM (M/EI) ∆x

und

M(x) δM(x) dx . EI Analog erhält man für die Querkräfte und die Torsionsmomente i δWM =∫

δWQi = ∫

Q(x) δQ(x) dx GAS

und

i δW M =∫ T

MT (x) δMT (x) dx , GIT

wo GAS -Schubsteifigkeit, GIT -Torsionssteifigkeit. Zu integrieren ist hier stets über alle Teile des Systems (vgl. auch Hinweis 1 in Abschnitt 2.15.1). Am Ende werden alle δW i addiert: i i δW i = δWNi + δWQi + δWM + δW M . T

Die Arbeitsbilanz Das Prinzip der virtuellen Kräfte setzt δW a = δW i . Mit obigen Ausdrücken für δW a = δW i ergibt sich, zum Beispiel für δF: f δF = ∫

Q δQ MT δMT M δM NδN dx + ∫ dx + ∫ dx + ∫ dx . EA GAS EI GIT

Diesen Ausdruck kann man, entsprechend den oben angestellten Überlegungen, zah­ lenmäßig auswerten und damit die Auslenkung f gewinnen. Den Winkel ψ zu einem gewählten δM findet man analog.

218 | 2 Elastostatik

Das Arbeiten mit den Eins-Wirkungen Drückt man in den Integralen für δW i die virtuellen Schnittgrößen mit Hilfe der EinsWirkungen aus, erhält man f δF = δF ∫

MM QQ MT M T NN dx + δF ∫ dx . dx + δF ∫ dx + δF ∫ EA GAS EI GIT

Herauskürzen von δF liefert f =∫

MM QQ MT M T NN dx + ∫ dx . dx + ∫ dx + ∫ EA GAS EI GIT

Diese Gleichung wird oft formal als Arbeitsaussage für eine virtuelle Kraft δF = 1 gelesen. Zum virtuellen Moment δM und der zugehörigen Auslenkung, dem Winkel ψ, fin­ det man einen entsprechenden Ausdruck, wenn man auf der rechten Seite die zu δM gehörenden Eins-Wirkungen der zu δM gehörenden Schnittgrößen einsetzt.

2.15.3 Vorgehen bei der Berechnung von Auslenkungen Gegeben ist ein aus Balken und Stäben zusammengesetztes System mit seinen Abmes­ sungen und Steifigkeiten (EA, GAS , EI, GIT ). Das System ist belastet durch Kräfte F i , Streckenlasten q j (x) und Momente M k . Gesucht ist eine diskrete Auslenkung, zum Beispiel eine Verschiebung f in eine vor­ gegebene Richtung oder ein Winkel ψ um eine vorgegebene Achse. Lösung in 4 Schritten: 1. Aus gegebenen Lasten resultierende Schnittgrößen N(x), Q(x), M(x), M T (x) be­ rechnen und Verläufe in Lageplan als „Flächen“ – mit Eckdaten! – eintragen. 2. Am entlasteten System eine virtuelle Kraft δF bzw. ein virtuelles Moment δM ent­ sprechend Ort und vorgegebener Richtung der gesuchten Auslenkung eintragen. 3. Zu Last δF = 1 bzw. δM = 1 die Eins-Wirkungen (Schnittgrößen) N(x), Q(x), M(x), M T (x) berechnen und Verläufe in eigenem Lageplan als „Flächen“ – mit Eckda­ ten – eintragen. 4. Arbeitsintegrale, wie ∫ MM EI dx usw. für alle Systemteile auswerten und addieren. Die Summe ist die gesuchte Auslenkung. (Einfachste Kontrolle: Dimensions­ probe.) Auswerten der Arbeitsintegrale Sehr oft sind die Steifigkeiten der Systemglieder (wenigstens) abschnittsweise kon­ stant. Auch bestehen die Schnittgrößenverläufe meistens abschnittsweise aus Gera­ den, quadratischen oder kubischen Parabeln. Dann gilt, zum Beispiel für die Biege­

2.15 Das Prinzip der virtuellen Kräfte

| 219

momente l



l

MM 1 dx = ∫ MM dx . EI EI

0

0

Die bestimmten Integrale l

l

∫ M(x) M (x) dx = ∫ f m (x) g n (x) dx =: K m,n 0

0

hat man für häufig vorkommende Funktionen f m (x), g n (x) formelmäßig vertafelt. Die Formeln für die K m,n sind am Ende des Buches abgedruckt; vgl. Innenseite im hinteren Buchdeckel. (Zur Anwendung vgl. die folgenden Beispiele.)

2.15.4 Anwendungsbeispiele Beispiel 1 Gegeben: Die in Abbildung 2.15.1a gezeigte Brücke besteht aus dem Balken ABC, Län­ ge 3 l1 , Biegesteifigkeit EI, der bei B durch einen vertikalen Stab 1, Länge h (= Höhe), Dehnsteifigkeit EA, gestützt ist. Der Balken ist durch sein Eigengewicht, die Strecken­ last q0 , belastet. Gesucht ist die Absenkung f am Punkt C. E α

l2

α

CII

2

q0

δF

A B

2l1 x1

C h

B

A

A

δS2 C (c)

x2

1

D (b)

q0l12/2 +

(+) (-)

–q0l21/2 D (d) Abb. 2.15.1: Brücke

δF=1:

B −

CI

l1

D (a)

δS2

C



A

M S1

D (e)

C



–1.l1 −

− −9q0l1/4

B −

− M − S1 −3/2

220 | 2 Elastostatik

Lösung (gemäß den vier oben genannten Schritten): 1. Schnittgrößen unter Last q0 ; vgl. Abschnitt 1.18. Stabkraft S1 (x) = −9/4 ⋅ q0 l1 = N(x), Momentenverlauf M(x) in für die Auswertung geeigneter Zerlegung: für

0 ⩽ x1 ⩽ 2l1 :

M = q0 l1 x1 (1 − x1 /2l1 ) − q0 l1 x1 /4 = q0 l21 /2 ⋅ (1 − (x1 − l1 )2 /l21 ) − q0 l1 x1 /4 ,

für

0 ⩽ x2 ⩽ l1 :

M = q0 x22 /2 .

Abbildung 2.15.1d zeigt den Lageplan mit der Normalkraft- und den Momentenflä­ chen, Zerlegung gestrichelt. 2. Virtuelle Kraft δF einführen. Abbildung 2.15.1b zeigt die gemäß der gefragten Auslenkung f eingeführte Kraft δF. 3. Schnittgrößen unter der Wirkung von δF = 1: Stabkraft: S1 = −3/2 = N(x), Momentenverlauf M(x): für 0 ⩽ x1 ⩽ 2l1 : M = −x1 /2, für 0 ⩽ x2 ⩽ l1 : M = −x2 . Abbildung 2.15.1e zeigt den Lageplan mit den Flächen der Eins-Wirkungen. 4. Arbeitsintegrale (zerlegen und mit Tafel) auswerten und addieren. (Zur Übersicht sind die benutzten K m,n unter die entsprechenden Terme geschrieben.) MM S1 S1 dx + ∫ dx EA EI 1 1 1 2 (−9q = ⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ + { (−q0 l1 /2)(−l1 )(2l1 ) 0 l 1 /4)(−3/2)h ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ EA EI 3 1,1

f =∫

K

+

K 2,2

1 1 (q0 l21 /2)(−l1 )(2l1 ) + (−q0 l21 /2)(−l1 )l1 } . ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ 3 4 K 6,2

Man erhält f =

K 9,3

27 q0 l1 h 1 q0 l41 + . 8 EA 8 EI

Aufgabe 1: Berechnen Sie für die Brücke aus Beispiel 1 die Neigung am Balkenende C. Aufgabe 2: Berechnen Sie für den Stabzweischlag aus Abschnitt 2.4.2 (Abbildung 2.4.4) die Horizontal- und die Vertikalauslenkung mit Hilfe des Arbeitssatzes. Beispiel 2 Gegeben: Die Brücke aus Beispiel 1 wird, wie in Abbildung 2.15.1a gestrichelt einge­ zeichnet, mit einem am Balkenende C angelenkten Zusatzstab 2 abgespannt; Länge l2 , Dehnsteifigkeit EA, Winkel α gegen vertikal. Dadurch wird das System statisch unbe­ stimmt! (Im Balken treten nun auch Normalkräfte auf. Die Balken-Längsverformung sei jedoch vernachlässigbar; formal EAB → ∞).

2.15 Das Prinzip der virtuellen Kräfte

| 221

Gesucht: Welche Stabkraft S2 stellt sich ein? Lösung: Das statisch unbestimmte System wird nach dem Schema aus Abschnitt 2.5.1 unter­ sucht. Die Punkte 2 und 3 dort werden durch Anwenden des Arbeitssatzes etwas mo­ difiziert und vereinfacht. 1. Aufschneiden in statisch bestimmte Teilsysteme Das statisch unbestimmte System wird am Gelenk C aufgeschnitten. (Dann können Lösungsteile aus Beispiel 1 ausgenutzt werden.) Der Balken mit dem Stützstab 1 sei Teilsystem I mit Gelenkpunkt CI . Der am Lager E aufgehängte Stab 2 sei Teilsystem II mit Gelenkpunkt CII . Bei CII greift in Längsrichtung von Stab 2, unter dem Winkel α, die Stabkraft S2 an (Zug positiv), bei CI greift die entsprechende Reaktionskraft S2 an. 2./3. Belastung und Schnittgrößen der Teilsysteme Die virtuellen Kräfte δS2 greifen – entsprechend einer Aufeinander-zu-Verschiebung von CI gegenüber CII – wie S2 an CI bzw. CII an, vgl. Abbildung 2.15.1c. Teilsystem I: Zu den alten Lasten und Schnittgrößen aus Beispiel 1 – bezeichnet wie dort – kommen jene durch S2 hinzu. Vergleich von Abbildung 2.15.1b mit Abbildung 2.15.1c zeigt: δS2 wirkt auf Teilsys­ tem I ein wie δF = −δS2 cos α . Entsprechend wirkt sich S2 als Summand auf die Schnittgrößen aus: (S1 )I = S1 − S1 S2 cos α ,

MI = M − M S2 cos α ;

mit δS2 = 1: (S1 )I = −S1 cos α ,

MI = −M cos α .

Wegen des günstigen Schnittes brauchen für das Teilsystem I also keine neuen Linien berechnet zu werden. Teilsystem II: (S2 )II = S2 ;

mit

δS2 = 1 : (S 2 )II = 1 .

4. Schnittkraft S2 aus fI + fII = 0, der Bedingung für das Verschwinden der Relativver­ schiebung, mit Arbeitssatz berechnen: SI S I MI M I SII SII dx + ∫ dx }+ ∫ dx EA EI EA 1 ∫(S1 − S 1 S2 cos α)(−S 1 cos α) dx ={ EA 1 ∫(M − M S2 cos α)(−M cos α) dx} + EI I 1 + ∫ S2 S2 dx EA

fI + fII = {∫

222 | 2 Elastostatik 1 1 = − cos α { ∫ S1 S1 dx + ∫ M M dx} EA EI ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ I =f , vgl. Beispiel 1

1 1 + S2 cos2 α{ ∫ S1 S1 dx + ∫ M M dx} EA EI I 1 + ∫ S2 S2 dx EA 1 1 1 (−3/2)(−3/2)h + (−l1 )(−l1 )(2l1 ) = −f cos α + S2 cos2 α{ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ EA EI 3 K 1,1 K 2,2

+

1 1 1 (−l1 )(−l1 )l1 }+ S2 ⋅ l2 ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ EI ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ 3 EA K 1,1 K 3,3

= −f cos α + S2 {

l3 l2 9 h + cos2 α ( + 1 )} . EA 4 EA EI

Aus fI + fII = 0 folgt: S2 =

f cos α l2 EA

+ cos2 α ( 94

h EA

+

l 31 EI )

=

( 27 8 l2 EA

h EA

+

3 1 l1 8 EI ) q0 l 1

+ cos2 α ( 94

h EA

cos α

+

l 31 EI )

.

Aufgabe 3: Zur Ergebniskontrolle bietet sich oft das Einsetzen spezieller Parameter­ werte an, die auf leicht überprüfbare Ergebnisse führen. Prüfen und deuten Sie die Fälle α = 90∘ , h/l1 → ∞, l2 /l1 → ∞, EI/(l21 EA) → ∞. Aufgabe 4: Wie groß ist beim statisch unbestimmten System die Absenkung des Punk­ tes C. Aufgabe 5: Wie groß ist beim statisch unbestimmten System die Absenkung des Punk­ tes B.

Stabilität 2.16 Einführende Überlegungen zur Stabilität Systeme aus Technik und der Natur können nicht nur dadurch versagen, daß sie „bre­ chen“, „zerreißen“ oder „durchbrennen“, also infolge zu großer Last zerstört werden. Es ist auch möglich, daß eine kleine Störung, die zu einer (großen) Grundlast hinzu­ kommt, die Funktion des Systemes „plötzlich“ ändert (danach kann eine Zerstörung folgen). Probleme dieser Art nennt man Stabilitätsprobleme. Es erhebt sich die Frage: Wie muß man ein System bauen, damit der Größe nach unbekannte – doch kleine – Störungen die Funktion dieses Systems nicht (zu) nachteilig beeinflussen?

2.17 Statische Stabilität eines Feder-Stab-Systems |

223

Lehrbuchmäßig bekannt sind die in Tabelle 2.16.1 gezeigten Lagerungsfälle einer schweren Kugel, deren Gewicht von einer Unterlage aufgenommen wird. Eine kleine Störung wäre hier eine Horizontalkraft (z. B. ein Luftzug). Nach Aufhören der Störung liegt dann eine Auslenkung vor, auf die die Kugel in der in Tabelle 2.16.1 angegebe­ nen Weise reagiert. Die Einstufung der Reaktionsweisen hinsichtlich der Stabilität der Gleichgewichtslage des Systems Kugel–Unterlage ist ebenfalls in der Abbildung ge­ nannt. Tab. 2.16.1: Gleichgewichtslagen und ihre Stabilität Lagerungsfall Nr.

1

2

3

4

Reaktion auf Störung

Zurückrollen

Liegenbleiben

Wegrollen

Zurückrollen, wenn Störung klein genug

Gleichgeweichtslage heißt

Stabil

Indifferent

Instabil

Praktisch Stabil

Bild der Lagerung

Der Fall 4 kommt der Realität in vieler Hinsicht am nächsten, leider ist er nur sehr schwer rechnerisch zu erfassen. Der Fall 2 wird in der Technik nur als Grenzfall zwi­ schen 1 und 3 betrachtet (man braucht meistens „eindeutige“ Arbeitspunkte). Wichtig sind der Fall 1 der Stabilität und der Fall 3 der Instabilität (das Wort „labil“ wird nur selten benutzt). Wir untersuchen im folgenden einige Fälle statischer Stabilität und Instabilität: Wir fragen, ob ein System ausknickt. Daneben gibt es in der Mechanik die kinetische Instabilität: Systeme beginnen bei ungünstigen Lasten (Parametern) zu schwingen (quietschende Kreide, ratternder Wasserhahn, flatternde Tragflügel). Instabile Regel­ kreise können sich ähnlich verhalten.

2.17 Statische Stabilität eines Feder-Stab-Systems 2.17.1 Stabilitätsuntersuchung Ein gewichtsloser starrer Stab der Länge l wird durch eine Feder der Steifigkeit k und der Länge L ≫ l in vertikaler Stellung gehalten, vgl. Abbildung 2.17.1a. Fall 1 (Abbildung 2.17.1a): Der Stab wird durch eine große Kraft F vertikal belastet. Wie verschiebt sich der Lastangriffspunkt? Lösung: Der Lastangriffspunkt verschiebt sich nicht.

224 | 2 Elastostatik F k B

L

l starr A (a) f

k

F*

A (b) F k

B

*F

L starr

l

A (c)

Abb. 2.17.1: Feder-Stab-System

Fall 2 (Abbildung 2.17.1b): Der Stab wird durch eine kleine Kraft F ∗ horizontal belastet. Wie verschiebt sich der Lastangriffspunkt? Lösung: Der Lastangriffspunkt verschiebt sich um f =

F∗ , k

|f| ≪ l .

Fall 3 (Abbildung 2.17.1c): Auf den durch die große Vertikalkraft F vorbelasteten Stab wirkt zusätzlich eine kleine Horizontalkraft F ∗ . Wie verschiebt sich der Lastangriffspunkt? Lösung: Die Kraft F heißt groß, wenn |F| ≪ kl nicht erfüllt ist. Im Fall großer Kräfte muß man die Gleichgewichtsbedingungen für das verformte System ansetzen, vgl. Abbil­ dung 2.17.2. Die Auslenkung bezeichnen wir wahlweise durch f oder den Winkel φ mit der Zuordnung (vgl. Abbildung 2.17.2) f = l sin φ .

2.17 Statische Stabilität eines Feder-Stab-Systems |

f

225

F F*

φ

FF

A

Abb. 2.17.2: Kräfte am ausgelenkten Stab

Für die Federkraft FF gilt FF = kf = kl sin φ . Wegen L ≫ l kann man die Schrägstellung der Feder infolge der Auslenkung vernach­ lässigen, FF wirkt also horizontal. Das Momentengleichgewicht um den Punkt A liefert (FF − F ∗ )l cos φ − Ff = 0 . Einsetzen obiger Ausdrücke und Umformen liefert für f die Bestimmungsgleichung: f F∗ √ f 2 F f . ( − ) 1−( ) = l kl l kl l Wir interessieren uns für kleine Auslenkungen, |f/l| ≪ 1. Dann gilt erst recht |f/l|2 ≪ 1, und die Gleichung vereinfacht sich zu f =

F∗ l . kl − F

Zu F ∗ = 0 erhalten wir f = 0 gemäß Fall 1, zu F = 0 oder |F| ≪ kl ergibt sich f = F ∗ /k gemäß Fall 2. Abbildung 2.17.3 zeigt die Auslenkung f in Abhängigkeit von der Vertikalkraft F, 0 ≤ F < kl, mit der Horizontalkraft F ∗ als Parameter (sie ist hier die oben genannte kleine Störung). Man erkennt: Nur so lange, wie F deutlich unter dem Wert kl bleibt, f

F*

f 0; die c1 , . . . , c4 sind freie Konstanten (sie übernehmen die Rolle von Integrationskonstanten). (Hinweise zu systematischer Lösung solcher Differentialgleichungen vgl. Abschnitt 3.22.3.)

230 | 2 Elastostatik

Aufgabe 1: Zeigen Sie, daß w(x) für beliebige Konstanten c k die Differentialgleichung erfüllt. Schritt 2: Randbedingungen formulieren. Für jedes Stabende müssen wir zwei Randbedingungen anschreiben (vgl. Abschnitt 2.11.7). Für x = 0 liest man aus Abbildung 2.18.1d zwei geometrische Bedingungen ab: x(0) = 0 ,

φ(0) = w󸀠 (0) = 0 .

Bei x = l kennt man keine geometrischen Bedingungen, also muß es zwei Aussagen über Kräfte und Momente geben. Man sieht, vgl. Abbildung 2.18.1b und 2.18.1c: FH = 0 ,

ME = 0 .

Damit folgt aus der allgemeinen Form der Randterme in Abschnitt 2.18.1: EIw󸀠󸀠 (l) = 0 ,

Fw󸀠 (l) = −EIw󸀠󸀠󸀠 (l) .

Umgeformt, mit κ 2 = F/EI: w󸀠󸀠 (l) = 0 ,

w󸀠󸀠󸀠 (l) + κ 2 w󸀠 (l) = 0 .

Schritt 3: Allgemeine Lösung in Randbedingungen einsetzen. w(0) = 0 :

c1 + c4 = 0 ,

󸀠

c2 + κ c3 = 0 ,

󸀠󸀠

− κ 2 c3 sin κl − κ 2 c4 cos κl = 0 ,

w (0) = 0 : w (l) = 0 : w󸀠󸀠󸀠 (l) + κ 2 w󸀠 (l) = 0 :

κ2 c2 = 0 .

Schritt 4: Matrixschreibweise und Eigenwertproblem (vgl. Abschnitt 2.17.2). In Matrizenform lauten die vier Gleichungen 1 0 ( 0 0

0 1 0 κ2

0 κ −κ2 sin κ l 0

1 c1 0 0 0 c2 )( ) = ( ) , 0 −κ 2 cos κ l c3 0 0 c4

abgekürzt A(κ)c = 0. Zu diesem Eigenwertproblem gehört die charakteristische Glei­ chung ∆(κ) = det(A(κ)) = −κ 5 cos κ l = 0 . Sie hat die Lösungen („Wurzeln“) κ0 = 0 ,

κl = ±

π , 2

±3

π , 2

π ±5 , . . . . 2

Zu κ = κ 0 = 0 folgrn aus A(κ 0 )c = 0 die nicht-triviale Lösungen c 0 1∗ = (0, 0, 1, 0)T und c 0 2∗ = (1, 0, 0, −1)T . Einsetzen von κ 0 und c0 1/2∗ in die allgemeine Form der Biegelinie w(x) liefert beide Male w0 (x) ≡ 0; also ist w0 (x) trivial und κ 0 kein Eigen­ wert des Knickstabes.

2.18 Knicken von Druckstäben | 231

Hinweis: Es ist nicht ratsam, aus der Koeffizientenmatrix A(κ) κ-abhängige Faktoren herauszuziehen und zu streichen, weil man gelegentlich dadurch Eigenwerte verlie­ ren kann. Zu den übrigen Lösungen κ l folgt aus den ersten drei Zeilen des linearen Gleichungs­ systems stets der gleiche Eigenvektor (mit dem unbestimmten Faktor f ): c = f(1, 0, 0, −1)T . Es interessiert hier nur der kleinste positive Eigenwert κ l = π/2. Mit κ = √F/(EI) führt er auf die kritische Last oder Knicklast Fkrit =

π2 EI . 4 l2

Die zugehörige Knicklinie, die Eigenform lautet wkrit = f [1 − cos (

π x )] , 2 l

vgl. Abbildung 2.18.1d. Der Wert von f bleibt unbestimmt. Die Stabilitätsuntersuchung von Knickstäben geht auf Euler zurück. Abbildung 2.18.2 zeigt die vier von ihm behandelten Stäbe mit den kritischen Lasten Fkrit und den Knicklinien (Länge l, Biegesteifigkeit EI). Aufgabe 2: Rechnen Sie die kritischen Lasten der Stäbe aus Abbildung 2.18.2b, c, d nach. Aufgabe 3: Führen Sie die kritischen Lasten für die Stäbe nach Abbildung 2.18.2b und 2.18.2d auf die des Stabes in 2.18.2a zurück.

F F

(b)

(a) Fkrit

F

π2 4

EI l2

F

(c) π2

EI l2

2,045 . . .π2

(d) EI l2

Abb. 2.18.2: Knicklinien und kritische Lasten der Euler-Knickstäbe

4π2

EI l2

3 Kinematik und Kinetik Die Kinematik (griech. ϰίνημα: Bewegung) ist die Lehre von den möglichen Bewe­ gungen von Körpern und Körpersystemen ohne Rücksicht auf die dabei auftretenden Kräfte. Die Kinetik (griech. ϰινητιϰός : zum Bewegen gehörig) ist die Lehre von den wech­ selseitigen Zusammenhängen zwischen Bewegungen und Kräften. Im englischen Sprachraum faßt man Kinematik und Kinetik meistens als Dynamik (engl. dynamics) zusammen. Dieser Gebrauch entspricht auch deutschen Wortverbin­ dungen wie „Maschinendynamik“ oder „Systemdynamik“. Im allgemeinen hält man sich im Deutschen strenger an den Stamm (griech. δύναμις: Kraft) und vereint unter Dynamik die Statik und die Kinetik. Sieht man dann die Statik als Grenzfall der Kine­ tik (Ruhe = verschwindende Bewegung), gelangt man zu einem synonymen Gebrauch von Dynamik und Kinetik.

Kinematik eines Punktes Einen Punktkörper, kurz Punkt, benutzt man als Modell zur Untersuchung von Bah­ nen eines Körpers, wenn dessen Ausdehnung klein im Vergleich zu den Bahnabmes­ sungen ist.

3.1 Ort, Bewegung, Koordinaten 3.1.1 Ort, Bewegung Bezugssystem, Ort Gegeben sei ein Punkt P im Raum, z. B. ein Satellit über der Erde. Hat man den Aufent­ haltsort des Satelliten zu beschreiben, muß man zuerst ein Bezugssystem (z. B. die dre­ hende Erde) und einen Bezugspunkt 0 (z. B. an der Erdoberfläche oder einfach den Erd­ mittelpunkt) wählen, von wo aus man den Punkt betrachten will, vgl. Abbildung 3.1.1. Man erfaßt dann den Ort von P relativ zum Punkt 0 des Bezugssystems durch Angabe P r

0 Abb. 3.1.1: Bezugssystem, Bezugspunkt, Ort

https://doi.org/10.1515/9783110643572-003

234 | 3 Kinematik und Kinetik

des Ortsvektors

󳨀→ r = 0P .

Statt r schreibt man auch x, statt Ort sagt man auch Lage oder Stellung. Will man den Ortsvektor zahlenmäßig darstellen, muß man im Bezugssystem ein geeignetes Koor­ dinatensystem einführen, vgl. Abschnitte 3.1.2 und 3.1.3. Bewegung, Bahn Im allgemeinen wird sich der Punkt P gegenüber dem Bezugssystem bewegen – er än­ dert seine Lage im Laufe der Zeit t –, der Ortsvektor r hängt von der Zeit ab (vgl. Ab­ bildung 3.1.2): r = r(t) . Die von den Pfeilspitzen r(t) durchlaufene Kurve r(t1 ), r(t2 ), . . . , r(t) heißt Bahn (-Kurve) des Punktes P. Der Punkt bewegt sich längs der Bahn. Die Bahn kann im voraus bekannt sein (z. B. Achterbahn, die Wagen werden geführt) oder sich erst aus der Bewegung ergeben (z. B. Flugbahn eines geworfenen Steines). Bahn r (t1)

r (t2)

P r(t)

0

Abb. 3.1.2: Bewegung, Bahn

Beispiele für Ortsangaben Liegt die Bahn fest, so beschreibt man den Ort von P oft durch Angabe der längs der Bahn gemessenen Bogenlänge s, r = r(s), vgl. Abbildung 3.1.3. Ist s als Funktion der Zeit t bekannt, s = s(t), so ergibt sich r = r(s(t)) = r(t). Beispiel: Ein Auto fährt zur Zeit t0 = 14 h bei s0 = 76 km auf eine Autobahn und ist zur Zeit t = 16 h bei s = 316 km; r(s) und r(t) = r(s(t)) entnimmt man aus einer Landkarte oder von einem Globus. s s0

Bahn P r (s)

0

Abb. 3.1.3: Bahn mit Bogenlänge

Wird die Bahn erst durch die Bewegung von P gegeben, so benutzt man meistens die Zeit t als (Bahn-)Kurvenparameter, vgl. Abbildung 3.1.4. Beispiel: Route einer Polarex­ pedition auf Karte enthält Zeitmarken.

3.1 Ort, Bewegung, Koordinaten

| 235

Bahn t

t0

P r (t) Abb. 3.1.4: Bahn mit Zeitmarken

0

3.1.2 Kartesische Koordinaten Häufig legt man eine kartesische Basis e := (e x , e y , e z )T im Punkt 0 auf das Bezugs­ system, vgl. Abbildung 3.1.5, und erfaßt den Ortsvektor r = r(t) durch zeitabhängige kartesische Koordinaten r =: (x, y, z)T = (x(t), y(t), z(t))T = r(t): r = r(t) = e x x + e y y + e z z = e x x(t) + e y y(t) + e z z(t) = eT r(t) = r T (t)e ; vgl. die Matrizenschreibweise in Abschnitt 1.5.1. z Bahn y ez 0

ey

P r

ex x

Abb. 3.1.5: Darstellung in kartesischen Koordinaten

Dimensionen dim r = dim r = dim x = dim y = dim z = L. Beispiel Gegeben ist der Ortsvektor r(t) = e x (c1 + v1 t) + e y (c2 + v2 t) + e z (c3 + c4 sin Ωt) mit den Konstanten c1 bis c4 , v1 , v2 und Ω. Gesucht ist der Verlauf der Bahn. Lösung: Bahnverlauf etwa wie Abbildung 3.1.5.

236 | 3 Kinematik und Kinetik

3.1.3 Polar- und Zylinderkoordinaten In Fällen, wo der Punkt P den Bezugspunkt 0 (den Koordinatenursprung) in einer Ebe­ ne oder die z-Achse im Raum in irgendeiner Weise „umrundet“, ist es zweckmäßig, mit Polar- bzw. Zylinderkoordinaten zu arbeiten. Polarkoordinaten 󳨀→ Bezugssystem ist die Blattebene, Bezugspunkt 0 („Pol“) und Bezugsstrahl 0Q („Polar­ achse“) werden geeignet gewählt, vgl. Abbildung 3.1.6. Für den Ortsvektor r = r(t) gilt nun in der Blattebene r = ϱe ϱ . Dabei bezeichnet ϱ ≥ 0 den Radius („Polabstand“), und der in der Blattebene liegende Einsvektor e ϱ = e ϱ (φ) erfaßt Richtung und (positive) Orientierung in Abhängigkeit vom Winkel φ („Po­ larwinkel“). In Polarkoordinaten (ϱ, φ) wird eine Bahn zeitabhängig durch (ϱ, φ) = (ϱ(t), φ(t)) beschrieben. Für eine Kreisbahn vom Radius R gilt z. B. (ϱ, φ) = (R, φ(t)); r(t) = R e ϱ (φ(t)). Natürlich kann man beliebige ebene Bahnen, z. B. auch gerade Bahnen, in Polarkoordinaten anschreiben. Bahn P ρ r eρ 0

φ Q

Abb. 3.1.6: Polarkoordinaten

Zylinderkoordinaten Ergänzt man die Ebene nach Abbildung 3.1.6 um eine im Pol 0 errichtete orientierte Normale, die z-Achse mit dem Einsvektor e z (vgl. Abbildung 3.1.7), so kann man den räumlichen Ortsvektor r über r = ϱ e ϱ (φ) + ze z durch die Zylinderkoordinaten (ϱ, φ, z) ausdrücken (das Tripel (ϱ, φ, z) ist keine Zei­ lenmatrix! Vgl. Hinweis 2 in Abschnitt 3.1.4). Eine Bahn wird dann durch (ϱ, φ, z) = (ϱ(t), φ(t), z(t)) beschrieben. Aus Abbildung 3.1.7 liest man wegen e ϱ ⊥ e z ab: |r| = √ϱ 2 + z2 .

3.1 Ort, Bewegung, Koordinaten

P

Bahn

r

z ez eφ

| 237



ρ φ

0 Q

Abb. 3.1.7: Zylinderkoordinaten

Man ergänzt die beiden zueinander senkrechten Einsvektoren e ϱ , e z zu einem voll­ ständigen Dreibein, indem man einen Einsvektor e φ := e z × e ϱ hinzufügt, der senkrecht auf der von e z und e ϱ aufgespannten Ebene steht und in die Richtung der Pfeilspitze von φ weist. Die drei zueinander senkrechten Einsvektoren (e ϱ , e φ , e z ) bilden die (orthogona­ le) Basis e := (e ϱ , e φ , e z )T , mit der man ähnlich wie mit der kartesischen Basis im Abschnitt 1.5.1 arbeiten kann. Zum Beispiel wird man in Zylinderkoordinaten eine am Punkt P angreifende Kraft F in der Form F = e ϱ F ϱ + e φ F φ + e z F z = eT F = F T e schreiben, wo F := (F ϱ , F φ , F z )T für die Spaltenmatrix der Koordinaten steht. Von der kartesischen Basis ekart = (e x , e y , e z )T unterscheidet sich die Basis der Zylinderkoor­ dinaten ezyl = (e ϱ , e φ , e z )T dadurch, daß sie nicht „fest“ – wie jene – ist, sondern sich mit dem Winkel φ – mit dem Ort von P – ändert. Ein und derselbe Kraftvektor F, zum Beispiel, erhält deshalb in Zylinderkoordinaten je nach dem Winkel φ verschiedene Koordinaten F zyl ; dagegen sind seine kartesischen Koordinaten F kart fest. Hinweis: Wie aus dem letzten Absatz bereits deutlich wird, muß man die Basen e und die Koordinaten F, zum Beispiel durch Indizes, unterscheiden, wenn man mehrere parallel benutzt; oben geschah das mit ekart , F kart bzw. e zyl , F zyl .

3.1.4 Koordinatendrehung Man spricht von der Drehung eines Koordinatensystems – kurz: Koordinatendre­ hung –, wenn man die Drehung seiner Basis meint. Häufig identifiziert man auch eine bestimmte mit dem Bezugssystem verbundene Basis mit dem Bezugssystem und faßt dann auch eine Drehung des Bezugssystems als Koordinatendrehung auf. Abbildung 3.1.8 zeigt die kartesische Basis ekart = (e x , e y , e z )T und, um den Win­ kel φ dagegen gedreht, die Basis ezyl = (e ϱ , e φ , e z )T der Zylinderkoordinaten; vgl. die Abbildungen 3.1.5 und 3.1.7.

238 | 3 Kinematik und Kinetik ez

ex

φ

φ

eφ ey



Abb. 3.1.8: Basen ekart und ezyl

Aus Abbildung 3.1.8 liest man die beiden folgenden Sätze von Transformations­ gleichungen – hier für die Basis-Drehungen – ab: eϱ =

e x cos φ + e y sin φ

e φ = −e x sin φ + e y cos φ ez =

e x = e ϱ cos φ − e φ sin φ e y = e ϱ sin φ + e φ cos φ

oder

ez

ez = ez .

Man definiert die Drehmatrix cos φ D := D(φ) := (− sin φ 0

sin φ cos φ 0

0 0) . 1

Sie ist orthogonal: D(φ) ⋅ D(−φ) = D ⋅ DT = I (Einheitsmatrix). In Matrizenschreibweise lauten die Basisdrehungen ezyl = D(φ)e kart

und

ekart = D(−φ)e zyl .

In dieser abgekürzten Schreibweise sind die Indizes „kart“ und „zyl“ erforderlich (vgl. Hinweis am Ende von Abschnitt 3.1.3), in der voranstehenden Form genügen die Be­ zeichnungen der einzelnen Basisvektoren zur Unterscheidung. Für ein und denselben Vektor, zum Beispiel für einen am Punkt P angreifenden Kraftvektor F, muß gelten: F = eTkart F kart = eTzyl F zyl . Dabei sind F kart := (F x , F y , F z )T die kartesischen und F zyl := (F ϱ , F φ , F z )T die Zylin­ derkoordinaten des Vektors (der Kraft). Ersetzt man in obiger Gleichung ezyl mit Hilfe der Drehungsgleichungen, so ergibt sich eTkart F kart = eTzyl F zyl = (D ⋅ ekart )T F zyl = e Tkart D T F zyl . Der Vergleich von erstem und letztem Glied dieser Gleichungskette zeigt F kart = D T F zyl = D(−φ)F zyl . Ersetzt man oben ekart oder multipliziert man die letzte Gleichung mit D, so erhält man F zyl = D ⋅ F kart = D(φ)F kart .

3.1 Ort, Bewegung, Koordinaten |

239

Hinweis 1: Bei einer Drehung orthogonaler Basen transformieren sich die Koordinaten (eines Vektors) wie die Basen. Hinweis 2: Wendet man die letzte Transformation auf die Koordinaten rkart des Orts­ vektors an, so erhält man formal rϱ cos φ r zyl = ( r φ ) = (− sin φ 0 rz

sin φ cos φ 0

x cos φ + y sin φ x 0 0) (y ) = (−x sin φ + y cos φ ) . z z 1

Das Glied r φ muß verschwinden, vgl. Abbildung 3.1.7. Daraus folgen φ = arctan(y/x) und r ϱ = ϱ = √x2 + y2 . Für die Koordinaten des Ortsvektors r gelten also die nichtli­ nearen Transformationsformeln r ϱ = ϱ = √x2 + y2 , r φ = 0, φ = arctan(y/x), r z = z und x = ϱ cos φ ,

y = ϱ sin φ .

Beispiel: Schraubenbewegung Gegeben ist in den Zylinderkoordinaten nach Abbildung 3.1.7 die Bahn (ϱ, φ, z) = (R, Ωt, κt) mit konstanten Werten für R, Ω und κ. Es handelt sich bei dieser Bahn um eine Schraubenlinie, vgl. Abbildung 3.1.9. Gesucht ist die zeitabhängige Bahnkurve (x(t), y(t), z(t)) in kartesischen Koordinaten, wenn diese gemäß Abbildung 3.1.9 gewählt werden. z

P 0 x R

z

y

Q Ωt

0

Abb. 3.1.9: Schraubenlinie als Bahnkurve

Lösung: In Zylinderkoordinaten folgt aus (ϱ, φ, z) = (R, Ωt, κt) für die Bahnkurve R r(t) = eTzyl r zyl = (e ϱ (Ωt), e φ (Ωt), e z ) ( 0 ) = Re ϱ (Ωt) + κte z . κt

240 | 3 Kinematik und Kinetik 󳨀→ Weil 0Q in die positive x-Richtung weist, geht ezyl durch die Drehung φ = Ωt aus ekart hervor. Man erhält R R r(t) = (D(Ωt) e kart )T ( 0 ) = (e x , e y , e z ) D T (Ωt) ( 0 ) κt κt R cos Ωt = (e x , e y , e z ) ( R sin Ωt ) = e x R cos Ωt + e y R sin Ωt + e z κt , κt also (x, y, z) = (R cos Ωt, R sin Ωt, κt).

3.1.5 Spezielle Bewegungen Geradlinige Bewegungen Die Bewegung auf geradliniger Bahn (Abbildung 3.1.10) erfaßt man gemäß Abbil­ dung 3.1.3 durch die Bahnlänge s = s(t)

oder

x = x(t) .

Man nennt s bzw. x Weg, Auslenkung, Koordinate oder Ausschlag. s 0

Abb. 3.1.10: Bewegung längs gerader Bahn

P

Weg-Zeit-Diagramm (s-t-Diagramm) Die Abhängigkeit s = s(t) stellt man graphisch im Weg-Zeit-Diagramm dar, Abbil­ dung 3.1.11. Dabei ist t0 der Anfangszeitpunkt, ab dem man den Vorgang betrachtet, s

W egachse

3 m 2 s0 –1

1

0 –1

s(t) „Anfang “

1 t0 2

3

4

–2 –3 Abb. 3.1.11: Weg-Zeit-Diagramm

Zeitachse 5

6

7

8 s 9

t

3.2 Geschwindigkeit | 241

und s0 := s(t0 ) ist der Anfangsausschlag. Oft wird die Zeitachse so verschoben, daß t0 = 0 gilt. Für eine Bewegung im dreidimensionalen Raum müßte man drei Weg-ZeitDiagramme zeichnen, nämlich für x(t), y(t) und z(t) bei kartesischen Koodinaten und für ϱ(t), φ(t) und z(t) bei Zylinderkoordinaten. Punkt auf Kreisbahn Der Punkt P bewegt sich nach Abbildung 3.1.12 auf einem Kreis mit festem Radius R. Der Ort des Punktes P kann beschrieben werden durch: Bahnlänge s(t) gegenüber Bezugsstrahl 1 für die Bahnmessung oder durch Winkel φ(t) gegenüber Bezugsstrahl 2 für die Winkelmesssung. (Im Vergleich zu Abbildung 3.1.6 ist hier die Orientierung von φ umgekehrt.) Man nennt φ(t) Winkelauslenkung, Winkelkoordinate oder Winkelausschlag. Analog zum Weg-Zeit-Diagramm kann man ein Winkelausschlag-Zeit-Diagramm zeichnen. Mit dem Winkel φ0 zwischen Bezugsstrahl 2 und Bezugsstrahl 1 gelten nach Ab­ bildung 3.1.12 zwischen s(t) und φ(t) für alle t die folgenden Beziehungen: s s = R(φ − φ0 ) oder φ = + φ0 . R P s(t) φ(t) 1 0 φ0

R

2 Abb. 3.1.12: Bewegung auf Kreisbahn

3.2 Geschwindigkeit 3.2.1 Geschwindigkeit längs Bahn (z. B. Gerade, Kreis) Konstante Geschwindigkeit Die Bewegung s(t) sei im Weg-Zeit-Diagramm für den betrachteten Zeitabschnitt durch eine Gerade gegeben, Abbildung 3.2.1. Dann definiert man für zwei beliebige Zeitpunk­ s s2

s(t) (Gerade)

∆s s1 ∆t 0

t1

t2

t

Abb. 3.2.1: Weg-Zeit-Diagramm für konstante Geschwindigkeit

242 | 3 Kinematik und Kinetik

te t1 , t2 aus dem Zeitabschnitt die Geschwindigkeit v als Steigung der Geraden: v :=

s(t2 ) − s(t1 ) s2 − s1 s(t1 + ∆t) − s(t1 ) = = . t2 − t1 t2 − t1 ∆t

Man sieht: v = const., es ist unabhängig von t1 , t2 . Vorzeichen, Dimension, Einheit Vorzeichen: v hat dieselbe Orientierung wie s. Dimension: dim v = dim(∆s/∆t) = L/T. Einheiten: [v] = m/s, km/h usw. Geschwindigkeits-Zeit-Diagramm (v-t-Diagramm) Analog zum Weg-Zeit-Diagramm nach Abschnitt 3.1.4 trägt man im GeschwindigkeitsZeit-Diagramm die Geschwindigkeit v(t) in Abhängigkeit von der Zeit auf. Hier, bei konstanter Geschwindigkeit v, erhält man für den betrachteten Zeitabschnitt eine ho­ rizontale Gerade. v v(t)

0

t

Abb. 3.2.2: Geschwindigkeits-Zeit-Diagramm für konstante Geschwindigkeit

Veränderliche Geschwindigkeit Im allgemeinen Fall ist s(t) keine Gerade im s-t-Diagramm, s. Abbildung 3.2.3. Man wählt zwei Zeitpunkte t1 , t2 und definiert zu gegebenem s(t) die mittlere Geschwin­ digkeit: s(t2 ) − s(t1 ) s(t1 + ∆t) − s(t1 ) = . vm := t2 − t1 ∆t Bei der Definition der mittleren Geschwindigkeit nähert man s(t) im betrachteten Zeit­ intervall durch die Sekante an, vgl. Abbildung 3.2.3. Die mittlere Geschwindigkeit vm hängt von der Wahl von t1 und t2 ab, vm = vm (t1 , t2 ). Durch den Grenzübergang t2 → t1 erhält man aus der mittleren Geschwindigkeit die Momentangeschwindigkeit, s(t1 + ∆t) − s(t1 ) ds = . ∆t→0 ∆t dt

v(t1 ) := lim vm (t1 , t2 ) = lim t 2 →t 1

Dem Grenzübergang ∆t → 0 entspricht im s-t-Diagramm der Übergang von der Se­ kante zur Tangente (an die Kurve s(t) bei t = t1 , vgl. Abbildung 3.2.4). Man schreibt t

3.2 Geschwindigkeit | 243

s s(t)

s2 Sekante ∆s s1

∆t

0

t2

t1

t

Abb. 3.2.3: Weg-Zeit-Diagramm zur Definition der mittleren Geschwindigkeit

s s2 Sekante Tangente

α

s1

0

t1

t2

t

Abb. 3.2.4: Definition der Momentangeschwindigkeit

statt t1 , nennt v(t) Geschwindigkeit schlechthin und kennzeichnet die Ableitung nach der Zeit durch einen Punkt: ds ̇ . v(t) = =: ṡ =: s(t) dt Beispiel: Der Tachometer eines Kraftfahrzeuges zeigt während der Fahrt die momen­ tane (Bahn-)Geschwindigkeit an. Beispiel für zusammengehörige s-t- und v-t-Diagramme Abbildung 3.2.5a zeigt einen Weg-Verlauf s(t) und Abbildung 3.2.5.b den zugehörigen ̇ Geschwindigkeitsverlauf v(t) = s(t); v0 = v(t0 ) ist die Anfangsgeschwindigkeit. Bei s s0 0 (a)

Max

t

t0 Min

v v0 0

t

t0

(b) Min

Abb. 3.2.5: Zusammengehörige s-t- und v-t-Diagramme

244 | 3 Kinematik und Kinetik

den Maxima und Minima von s(t), den Extrema, verschwindet v. Bei den Extrema von v(t) ändert sich s(t) am stärksten (Kurvenflanken von s(t) sind am steilsten). Geschwindigkeits-Weg-Diagramm (Phasenebene) Gelegentlich ist es zweckmäßig, die Geschwindigkeit in Abhängigkeit vom Weg aufzu­ tragen, v = v(s). Diese sogenannten Phasenkurven werden im Uhrzeigersinn durch­ laufen und schneiden die Abszisse senkrecht. (Warum?) v

Phasenkurve t

0

s Abb. 3.2.6: Phasenebene

3.2.2 Winkelgeschwindigkeit Für Winkelkoordinaten φ(t), wie sie zum Beispiel beim Arbeiten mit Polar- oder Zylin­ derkoordinaten in den Abschnitten 3.1.3 und 3.1.4 oder bei der Kreisbahn nach Abbil­ dung 3.1.12 auftreten, kann man analog zu den obigen Überlegungen Winkelgeschwin­ digkeiten einführen. Man bezeichnet die (momentane) Winkelgeschwindigkeit mit ω := ω(t) :=

dφ = φ̇ . dt

Vorzeichen, Dimension, Einheit Vorzeichen: ω hat dieselbe Orientierung (Drehsinn) wie φ. Dimension: dim ω = dim(∆φ/∆t) = 1/T. Einheiten: [ω] = 1/s = 1 rad/s. Zusammenhang zwischen Bahn- und Winkelgeschwindigkeit bei Kreisbewegung Aus der Beziehung s = R(φ − φ0 ) nach Abbildung 3.1.12 folgt durch Differentiation ṡ = R φ̇ ,

also

v = ωR

oder

ω=

v . R

3.2.3 Geschwindigkeitsvektor Der Punkt P bewege sich längs der Bahn r(t), vgl. Abschnitt 3.1.1. Analog zu Ab­ schnitt 3.2.1 definieren wir die mittlere Geschwindigkeit vm := ∆r/∆t. Sie hat die

3.2 Geschwindigkeit |

Bahn P

245

∆r

r (t) r (t+∆t)

0

Abb. 3.2.7: Sekantenvektor ∆r

Richtung des Sekantenvektors ∆r := r(t + ∆t) − r(t), vgl. Abbildung 3.2.7, und ist selbst ein Vektor. Nach Grenzübergang ∆t → 0 erhalten wir den (momentanen) Geschwindigkeits­ vektor dr v(t) := =: r ̇ . dt Da die Sekante beim Grenzübergang in die Tangente übergeht, hat die Geschwindigkeit v(t) die Richtung des Tangenteneinsvektors eT , vgl. Abbildung 3.2.8. Wir schreiben v = v(t) = ve T = v(t)e T (t) . Sowohl die Bahngeschwindigkeit (Maßzahl) v als auch der Einsvektor eT hängen im allgemeinen von der Zeit ab. Bahn P r 0

eT

v

Abb. 3.2.8: Geschwindigkeitsvektor

3.2.4 Geschwindigkeitsvektor in kartesischen Koordinaten Mit der Koordinatenschreibweise nach Abschnitt 3.1.2, r(t) = e x x + e y y + e z z , ergibt sich v zu v=

dr d = (e x x + e y y + e z z) = e x ẋ + e y ẏ + e z ż = eT r ̇ . dt dt

Dabei wurde ausgenutzt, daß die Basis e fest ist: de/dt = O. Bezogen auf das kartesische Dreibein e = (e x , e y , e z )T , Abbildung 3.2.9, hat v die Form v(t) = e x v x + e y v y + e z v z =: eT v , wo v = (v x , v y , v z )T die Spaltenmatrix der Geschwindigkeiten (der Geschwindigkeits­ koordinaten) ist.

246 | 3 Kinematik und Kinetik

ez vz ez 0

ey vy

v

ey ex

Abb. 3.2.9: Darstellung des Geschwindigkeitsvektors in kartesischen Koordinaten

ex vx

Der Vergleich der beiden Formen liefert vx ẋ ̇ ̇ v = v = r = r = (v y ) = ( ẏ ) , ż vz wobei wir, wie in Abschnitt 1.5.1, die physikalischen Vektoren und die Spaltenmatrizen der Koordinaten jeweils identifiziert haben. Die Geschwindigkeiten (Geschwindigkeitskoordinaten) v x , v y , v z haben diesel­ ben Orientierungen wie die Koordinaten x, y bzw. z. Aus Abbildung 3.2.9 liest man ab |v| = √v2x + v2y + v2z = √ẋ 2 + ẏ 2 + ż2 = |v| . Dabei ist v die Bahngeschwindigkeit gemäß den Abschnitten 3.2.1 und 3.2.3. Der Ver­ gleich mit v = veT in Abschnitt 3.2.3 liefert eine Formel für den Tangenteneinsvek­ tor eT : 1 eT = (e x ẋ + e y ẏ + e z z)̇ . √ẋ 2 + ẏ 2 + ż2 Beispiel: Schraubenbewegung Man bestimme v(t), |v| und eT (t) für die im Abschnitt 3.1.4 angegebene Bewegung auf einer Schraubenlinie, r(t) = e x R cos Ωt + e y R sin Ωt + e z κt . Anwendung der oben hergeleiteten Beziehungen liefert: v(t) = −e x RΩ sin Ωt + e y RΩ cos Ωt + e z κ , eT =

1 √ R2 Ω 2

+ κ2

|v| = √ R2 Ω2 + κ 2 = const. ,

(−e x RΩ sin Ωt + e y RΩ cos Ωt + e z κ) .

3.2 Geschwindigkeit | 247

3.2.5 Geschwindigkeitsvektor in Zylinderkoordinaten Ist die Bahn r(t) mit Hilfe von Zylinderkoordinaten (ϱ, φ, z) nach Abschnitt 3.1.3 aus­ gedrückt, r(t) = ϱe ϱ (φ) + ze z , vgl. Abbildung 3.1.7, wobei ϱ = ϱ(t), φ = φ(t), z = z(t) als Funktionen der Zeit gege­ ben sind, folgt der Geschwindigkeitsvektor v nach den allgemeinen Überlegungen in Abschnitt 3.2.3 zu v=

de ϱ d dr = (ϱ e ϱ (φ) + ze z ) = ϱ̇ e ϱ (φ) + ϱ φ̇ + ż e z . dt dt dφ

Dabei entstehen die beiden ersten Glieder rechts nach Produkt- und Kettenregel der Differentialrechnung. eφ(φ) eρ(φ+∆φ) ∆eρ ∆φ eρ(φ) φ 0

Q

Abb. 3.2.10: Zur Ableitung von e ϱ

Die Ableitung de ϱ /dφ ergibt sich gemäß Abbildung 3.2.10 zu de ϱ e ϱ (φ + ∆φ) − e ϱ (φ) ∆e ϱ = lim = lim dφ ∆φ→0 ∆φ ∆φ→0 ∆φ 2 sin(∆φ/2)e φ (φ + ∆φ/2) = lim , ∆φ→0 ∆φ also zu

de ϱ = eφ = ez × eϱ . dφ

Ähnlich zeigt man de φ = −e ρ = e z × e φ . dφ Wir erhalten für den Geschwindigkeitsvektor in Zylinderkoordinaten den Ausdruck v = ϱ̇ e ϱ (φ) + ϱ φ̇ e φ (φ) + ż e z . Der Geschwindigkeitsvektor ist hier also in drei zueinander senkrechte Komponenten ̇ zerlegt, wo nur z(t)e z eine feste Richtung (parallel zur z-Achse) hat, während sich ̇ ̇ ϱ(t)e (φ(t)) und ϱ(t) φ(t)e ϱ φ (φ(t)) im allgemeinen in der Ebene z = 0 bewegen.

248 | 3 Kinematik und Kinetik Hinweis 1: Bei Kenntnis der Beziehung ezyl = D(φ)e kart für die Koordinatendrehung nach Abschnitt 3.1.4 kann man ė zyl = (ė ϱ , ė φ , ė z )T für φ = φ(t) leicht durch formales Ableiten gewinnen: ė zyl =

d d d ̇ kart = φ̇ (D(φ(t))e kart ) = D(φ)φe D(φ)(D T (φ) e zyl ) dt dφ dφ − sin φ cos φ 0

− sin φ = φ̇ (− cos φ 0

cos φ − sin φ 0

0 = φ̇ (−1 0

eϱ 0 e φ φ̇ ė ϱ 0) (e φ ) = (−e ϱ φ̇ ) = (ė φ ) . 0 0 ez ė z

1 0 0

cos φ 0 0) ( sin φ 0 0

0 0) ezyl 1

Winkelgeschwindigkeitsvektor ̇ φ mit der Winkelgeschwindigkeit ω := φ̇ nach Abschnitt 3.2.4 und Schreibt man ϱ φe mit e φ = e z × e ϱ in der Form ̇ φ = ϱωe z × e ϱ = (ωe z ) × (ϱe ϱ ) ϱ φe = (ωe z ) × (ϱe ϱ + ze z ) = (ωe z ) × r (letzteres gilt wegen e z × e z = O), so kann man ω := ωe z = ω(t)e z als Winkelgeschwindigkeitsvektor für eine Drehung um die z-Achse einführen. Dann erscheint der Geschwindigkeitsvektor v als ̇ ϱ + ze ̇ z+ω×r. v = ϱe ̇ ϱ + ze ̇ z in der von r und ω (oder e ϱ und e z ) aufgespann­ Er ist also in die Komponente ϱe ten Ebene und in die Komponente ω × r senkrecht zu dieser Ebene zerlegt. Die erste Komponente entsteht durch Ableiten der Koordinaten ϱ und z in der „festgehalten ge­ dachten“ Basis, bedeutet also eine Relativbewegung gegenüber der Basis; die zweite Komponente entsteht durch Ableiten der Basis bei festgehalten gedachten Koordina­ ten, man faßt sie als durch die bewegte Basis „geführte Bewegung“ auf (Führungsbe­ wegung). Bei bewegten Basen – oder Bezugssystemen – ist es stets zweckmäßig, den Geschwindigkeitsvektor v auf solche Weise zu verstehen und zu berechnen. Hinweis 2: Mit dem Winkelgeschwindigkeitsvektor ω gilt für die drehende Basis: ė zyl = ω × ezyl (Beweis als Übungsaufgabe!).

3.3 Beschleunigung |

249

Beispiel: Drehung um festen Punkt Ein starrer Körper K drehe sich momentan mit der Winkelgeschwindigkeit ω um den festen Punkt 0, s. Abbildung 3.2.11. Ein Punkt P von K hat dann wegen |r| = r = const. die Geschwindigkeit v=ω×r.

ω

v ψ 0

P r K

Abb. 3.2.11: Drehung um festen Punkt

Beispiel: Schraubenbewegung Für die Schraubenbewegung des Beispiels aus Abschnitt 3.1.4 erhält man in Zylinder­ koordinaten v = RΩe φ (Ωt) + κe z = (Ωe z ) × r + κe z . Selbstverständlich gilt der rechts stehende Ausdruck auch in kartesischen Koordina­ ten: v = (Ωe z ) × (Re x cos Ωt + Re y sin Ωt + κte z ) + κe z ; man vergleiche mit dem entsprechenden Ausdruck in Abschnitt 3.2.4.

3.3 Beschleunigung Die Beschleunigung ist die Zeitableitung der Geschwindigkeit im gleichen Sinne, wie die Geschwindigkeit die Zeitableitung des Ortsvektors (oder des Weges) ist. Man kann dazu v(t) formal als Ortsvektor auffassen; die dadurch entstehende „Bahnkur­ ve“ nennt man Hodograph. Für den Hodographen stellt man die Überlegungen nach Abschnitt 3.2 an.

3.3.1 Beschleunigung längs Bahn (z. B. Gerade, Kreis) Nach Vorüberlegungen parallel zu Abschnitt 3.2.1 definiert man die – momentane – (Bahn-)Beschleunigung als Ableitung der Geschwindigkeit zu a := a(t) :=

d ds d2 s dv . = v̇ = ( ) = 2 = (s)̇ = s̈ . dt dt dt dt

250 | 3 Kinematik und Kinetik

Vorzeichen, Dimension, Einheit Vorzeichen: a hat dieselbe Orientierung wie v und s. Dimension: dim a = dim(∆v/∆t) = L/T2 . Einheit: [a] = m/s2 usw. Beispiel für zusammengehörige s-t-, v-t- und a-t-Diagramme ̇ sowie a = Abbildung 3.3.1 zeigt s(t) und, daraus durch Ableitung entstanden, v = s(t) ̈ v̇ = s(t). Eine besondere Anfangsbeschleunigung a0 := a(t0 ) interessiert im allgemeinen nicht. s s0 0 (a)

Max

t

t0 Min

v v0 0

t

t0

(b) Min a 0

t

t0

Abb. 3.3.1: Zusammengehörige Verläufe s(t), v(t) und a(t)

(c)

3.3.2 Winkelbeschleunigung Im Anschluß an Abschnitt 3.2.2 definiert man die Winkelbeschleunigung α als Zeitab­ leitung der Winkelgeschwindigkeit ω(t), α := α(t) :=

dω d dφ d2 φ . = ω̇ = = (φ)̇ = φ̈ . ( )= dt dt dt dt2

Statt der genormten Bezeichnung α (veraltet ε) schreibt man häufig ω.̇ Vorzeichen, Dimension, Einheit Vorzeichen: α hat dieselbe Orientierung (Drehsinn) wie φ und ω. Dimension: dim α = dim(∆ω/∆t) = 1/T2 . Einheit: [α] = 1/s2 = 1 rad/s2 .

3.3 Beschleunigung |

251

Zusammenhang zwischen Bahnbeschleunigung und Winkelbeschleunigung bei der Kreisbewegung Aus der Beziehung v = ωR, vgl. Abschnitt 3.2.2, folgt durch Differentiation a ̇ , also a = αR oder α = . v̇ = ωR R

3.3.3 Beschleunigungsvektor Parallel zu Abschnitt 3.2.3 wird mit Abbildung 3.3.2a, b der Beschleunigungsvektor a(t) definiert als v(t + ∆t) − v(t) ∆v a := lim = lim , ∆t→0 ∆t→0 ∆t ∆t also dv d dr d2 r . a = a(t) = = v̇ = ( ) = 2 = (r)̇ = r ̈ . dt dt dt dt

P r (t)

Bahn v (t)

v (t+∆t)

v (t+∆t)

r (t+∆t)

v (t)

0 (a)

∆t

(b)

Abb. 3.3.2: Differenzvektor ∆v der Geschwindigkeit

Man kann a auch wieder als Produkt von Maßzahl (Betrag) und Einsvektor schreiben, a = |a|e a , wobei e a im allgemeinen weder parallel noch senkrecht zur Bahn liegt. Eine weitergehende Aussage folgt im Abschnitt 3.3.5 aus der Betrachtung der Kreisbe­ wegung.

3.3.4 Beschleunigungsvektor in kartesischen Koordinaten Mit den kartesischen Koordinaten nach Abschnitt 3.1.2 und 3.2.4 ergibt sich der Be­ schleunigungsvektor a in der Form dv d2 r = 2 = e x v̇ x + e y v̇ y + e z v̇ z = e x ẍ + e y ÿ + e z z̈ = eT r ̈ . dt dt Bezieht man die Beschleunigung auf das kartesische Dreibein e = (e x , e y , e z )T , vgl. Abbildung 3.1.5, so gilt a=

a(t) = e x a x + e y a y + e z a z =: eT a , wo a = (a x , a y , a z )T die Spaltenmatrix der Beschleunigungen (d. h. ihrer Koordinaten) ist.

252 | 3 Kinematik und Kinetik

Der Vergleich der beiden Formen liefert ax v̇ x ẍ a = a = v̇ = v̇ = r ̈ = r ̈ = (a y ) = ( v̇ y ) = (ÿ ) . z̈ v̇ z az Die Beschleunigungen (Beschleunigungskoordinaten) a x , a y , a z haben dieselben Ori­ entierungen wie die Geschwindigkeiten v x , v y bzw. v z und die Koordinaten x, y bzw. z. Für Betrag und Einsvektor erhält man analog zu Abschnitt 3.2.3, 3.2.4: |a| = √a2x + a2y + a2z = √v̇ 2x + v̇2y + v̇2z = √ẍ 2 + ÿ 2 + z̈2 und ea =

1 √ẍ 2

+ ÿ 2 + z̈2

(e x ẍ + e y ÿ + e z z)̈ .

Beispiel: Schraubenbewegung Man bestimme a(t), |a| und e a für die Schraubenbewegung nach Abschnitt 3.1.4 und 3.2.4, r(t) = e x R cos Ωt + e y R sin Ωt + e z κt. Anwendung der oben hergeleiteten Beziehungen liefert: a(t) = −e x RΩ2 cos Ωt − e y RΩ2 sin Ωt ,

|a| = √R2 Ω4 = RΩ2 ,

e a = −(e x cos Ωt + e y sin Ωt) .

3.3.5 Beschleunigungsvektor in Zylinderkoordinaten Sind Bahn r(t) und Geschwindigkeit v mit Hilfe von Zylinderkoordinaten (ϱ, φ, z) = (ϱ(t), φ(t), z(t)) ausgedrückt, nämlich durch r(t) = ϱe ϱ (φ) + ze z (vgl. Abschnitt 3.1.3) ̇ φ (φ) + ze ̇ z (vgl. Abschnitt 3.2.5), so erhält man nach ̇ ϱ (φ) + ϱ φe bzw. durch v(t) = ϱe Abschnitt 3.3.3 ̈ ϱ + ϱ̇ φ̇ a = v̇ = ϱe

de φ de ϱ ̈ φ + ϱ φ̇ 2 ̇ φ + ϱ φe ̈ z. + ϱ̇ φe + ze dφ dφ

Mit de ϱ /dφ = e φ , de φ /dφ = −e ϱ (vgl. Abschnitt 3.2.5) ergibt sich der Beschleuni­ gungsvektor in Zylinderkoordinaten zu ̇ ̈ z. a = (ϱ̈ − ϱω2 )e ϱ + (ϱα + 2ϱω)e φ + ze Man zerlegt ihn mit ω := ωe z auch wie folgt: ̈ ϱ + ze ̈ z ) + (ϱαe φ − ϱω2 e ϱ ) + 2ω × (ϱe ̇ ϱ + ze ̇ z) . a = (ϱe In dieser Form kann man den Beschleunigungsvektor parallel zum Geschwindigkeits­ vektor (vgl. Ende von Abschnitt 3.2.5) deuten: Die Glieder in der ersten Klammer rechts

3.3 Beschleunigung | 253

stellen die Relativbeschleunigung des Punktes P gegenüber der festgehalten gedachten Basis dar. Die zweite Klammer gibt die Beschleunigung wieder, die ein bei (ϱ, z) mit der bewegten Basis fest verbundener Punkt hätte, man nennt sie Führungsbeschleuni­ gung. Das dritte Glied rührt (vgl. Abschnitt 3.2.5) von der Relativbewegung von P auf der drehenden Basis her, es heißt Zusatz- oder Coriolisbeschleunigung. Sonderfall Kreisbahn Gegeben sei eine Kreisbewegung auf einer Bahn vom festen Radius R in der Ebene z = 0 des Zylinderkoordinatensystems nach Abbildung 3.1.7: (ϱ, φ, z) = (R, φ(t), 0) . Gesucht ist eine Zerlegung der Beschleunigung a nach Komponenten a T tangential und aN normal zur Bahn. Lösung: Für die Kreisbewegung erhält man mit (ϱ,̇ φ,̇ z)̇ = (0, ω, 0)

und

(ϱ,̈ φ,̈ z)̈ = (0, α, 0)

die Beschleunigung a = −Rω2 e ϱ + Rαe φ . Sie liegt in der Ebene des Kreises; wir dürfen mit den Polarkoordinaten nach Abbil­ dung 3.3.3a arbeiten. Man setzt in den Punkt P auf der Bahn, vgl. Abbildung 3.3.3b, den Tangenteneinsvektor eT ≡ e φ , den Normaleneinsvektor eN := −e ϱ ,

von der Bahn zum Krümmungsmittelpunkt 0 weisend.

Dann lautet die gesuchte Zerlegung, vgl. Abbildung 3.3.3c, a = aT + aN , mit der Tangential- (oder Bahn-)Beschleunigung aT = aT eT und der Normal-Beschleu­ nigung aN = aN e N . aT

eT P eφ R (a)

P eN

φ 0

Q

P

a

Bahn



aN

φ

0 (b)

Abb. 3.3.3: Beschleunigungen bei Kreisbewegung

Q

0 (c)

Q

254 | 3 Kinematik und Kinetik

Die Maßzahl der Tangentialbeschleunigung, a = aT = Rα = v̇ , kann wechselnde Vorzeichen haben oder auch verschwinden. Die Normalbeschleunigung aN = aN e N weist wegen a N = ω2 R = v2 /R ≥ 0 stets von der Bahn zum Krümmungsmittelpunkt (Zentripetalbeschleunigung, zum Zentrum strebend). Sie verschwindet nur, wenn v = 0 (der Punkt P still steht) oder R → ∞ (der Kreis in eine Gerade ausartet). Hinweis: Diese Überlegungen gelten auch für allgemeine räumliche Bahnen, wenn für v die Bahngeschwindigkeit und für R = R(t) der jeweilige Krümmungsradius der Bahn eingesetzt wird; eT und eN haben die übliche Bedeutung des Tangenten- bzw. Normaleneinsvektors der Bahnkurve. Betont werden muß, daß die drei Darstellungen nach Abschnitt 3.3.3, 3.3.4 und 3.3.5 (im Fall der allgemeinen Raumkurve) ein und dieselbe Beschleunigung a(t) liefern und sich nur in der Form unterscheiden.

3.3.6 Berechnen der Beschleunigung aus wegabhängig vorgegebener Geschwindigkeit Nach Abschnitt 3.2.1 kann die Geschwindigkeit v wegabhängig vorgegeben sein (vgl. Phasenkurve in Abbildung 3.2.6), v = v(s) oder vektoriell v = v(s). Wegen s = s(t) und mit v = ds/dt = ṡ (vgl. Abschnitt 3.2.1) berechnet man nach der Kettenregel dv 1 d(v2 ) dv dv ds a = aT = = =v (= ); dt ds dt ds 2 ds man entnimmt v(s) und dv/ds der Phasenkurve und erhält a(s). Entsprechend gilt vektoriell dv dv ds dv a= = =v . dt ds dt ds

3.4 Berechnung von Geschwindigkeit und Weg aus vorgegebener Beschleunigung Während die Geschwindigkeit nach Abschnitt 3.2 und die Beschleunigung nach Ab­ schnitt 3.3 aus vorgegebenem r(t) oder s(t) bzw. v(t) oder v(t) (auch aus v(s) oder v(s)) leicht durch Differentiation bestimmt werden können, erfordert die Umkehrung,

3.4 Berechnung von Geschwindigkeit und Weg aus vorgegebener Beschleunigung |

255

das heißt die Berechnung der Geschwindigkeit und des Weges aus vorgegebener Be­ schleunigung, je eine Integration, ist also schwieriger zu gewinnen und kann häufig nur näherungsweise – z. B. numerisch – ausgeführt werden. Bei Rechenmodellen für technische Systeme stellt man jedoch meistens einen Ausdruck für die Beschleuni­ gung – eine „Bewegungsgleichung“ – auf, aus der Geschwindigkeit und Weg ermittelt werden müssen (vgl. Abschnitt 3.5ff.); die Umkehrung ist also die wichtigere Aufgabe. Wir behandeln hier den skalaren Fall, die Bewegung längs einer Bahn (vgl. die Ab­ schnitte 3.2.1 und 3.3.1).

3.4.1 Beschleunigung a(t) gegeben, v(t) und s(t) gesucht Das Vorgehen entspricht den Überlegungen zur Integration der Differentialgleichung der Biegelinie in Abschnitt 2.11.2. Zuerst wird die Geschwindigkeit v(t) aus dem gegebenen Verlauf von a(t), vgl. Abbildung 3.4.1a, bestimmt: Nach Abschnitt 3.3.1 gilt v̇ =

dv = a(t) . dt

Wir „trennen“ die abhängige Variable v von der unabhängigen t, dv = a(t) dt , und integrieren zwischen den Punkten (t0 , v0 ) und (t, v) von Abbildung 3.4.1b: v

t

∫ dν = ∫ a(τ) dτ . v0

a

0

t0

a(t)

t0 t

(a)

v v0 (b) 0

t0

t

Abb. 3.4.1: Beschleunigungs- und zugehöriger Geschwindigkeitsverlauf

256 | 3 Kinematik und Kinetik

v v0 0 (a)

t0

t

t0

t

s

s0 0 (b)

Abb. 3.4.2: Geschwindigkeits- und zugehöriger Wegverlauf

Man erhält

t

v = v(t) = v0 + ∫ a(τ) dτ . t0

Die Anfangsgeschwindigkeit v(t0 ) = v0 muß (zusätzlich zu a(t)) vorgegeben werden. Damit ist v(t) berechenbar, also bekannt. Im zweiten Schritt wird der Weg s(t) aus v(t) berechnet. Nach Abschnitt 3.2.1 gilt ds ṡ = = v(t) . dt Wir trennen, ds = v(t) dt , und integrieren zwischen den Punkten (t0 , s0 ) und (t, s), vgl. Abbildung 3.4.2b: s

t

∫ dσ = ∫ v(τ) dτ . s0

Man erhält

t0 t

s = s(t) = s0 + ∫ v(τ) dτ . t0

Der Anfangswert des Weges, s(t0 ) = s0 , muß ebenfalls vorgegeben werden. Damit ist s(t) berechenbar, also bekannt. Hinweis: Man kann die Differentialgleichung s̈ = a(t) auch auf anderen Wegen lösen. In jedem Fall muß man die Lösung s(t) an die Anfangs­ ̇ 0 ) = v0 , s(t0 ) = s0 (mit gegebenen Werten v0 , s0 ) anpassen. Häufig bedingungen s(t setzt man als Anfangszeitpunkt t0 = 0.

3.4 Berechnung von Geschwindigkeit und Weg aus vorgegebener Beschleunigung | 257

Beispiel Gegeben: Beschleunigung a(t) = ce−βt (mit c, β konstant) und Werte v0 , s0 für die Anfangsbedingungen v(0) = v0 , s(0) = s0 . Gesucht: v(t) und s(t). Lösung: Gemäß den beiden obigen Integrationsschritten folgt: t

1.

v(t) = v0 + ∫ ce−βτ dτ = v0 − 0 t

2.

c −βτ 󵄨󵄨󵄨T c e 󵄨󵄨󵄨 = v0 + (1 − e−βt ) , β β 󵄨0

t

s(t) = s0 + ∫ v(τ) dτ = s0 + ∫ [v0 + 0

c (1 − e−βτ )] dτ β

0

c 1 󵄨󵄨T = s0 + [v0 τ + (τ + e−βτ )] 󵄨󵄨󵄨󵄨 β β 󵄨0 c c −βt = s0 + v0 t + t − 2 (1 − e ) . β β

3.4.2 Beschleunigung a(s) gegeben, v(t) und s(t) gesucht In dieser Form begegnet man der Beschleunigung in vielen Bewegungsgleichungen, etwa bei den Schwingungen (vgl. Abschnitte 3.4.3 und 3.21 f.). Wir gehen vom Geschwindigkeits-Weg-Diagramm, der Phasenkurve nach Abbil­ dung 3.2.6, aus. In Abbildung 3.4.3b gibt der Punkt P󸀠 mit den Koordinaten s, v Ort und Geschwindigkeit („Zustand“) des Punktes P wieder, vgl. Abbildung 3.4.3a.

v

υ

a 0

s

v0

P

0 Bahn

(a)

P‘

v(s)

v

s0

s*

s

(b)

Abb. 3.4.3: Bahnkurve und Phasenebene

Wegen ṡ = v(s) und v̇ = a(s) bewegt sich P󸀠 im Diagramm mit der Horizontalgeschwin­ digkeit v und der Vertikal-„Geschwindigkeit“ a (diese Bewegung kann man beobach­ ten, wenn man die Phasenkurve mit einem Oszillographen schreibt). Der Punkt P kann auf der Bahn nur zur Ruhe kommen (dann ruht auch P󸀠 ), wenn v = 0 ist (also P󸀠 auf der Abzisse liegt) und außerdem a(s∗ ) für diese Stelle s = s∗ verschwindet. Um v(s)

258 | 3 Kinematik und Kinetik

aus a(s) zu gewinnen, benutzen wir für a(s) aus Abschnitt 3.3.6 den Ausdruck a(s) =

1 d(v2 ) 1 du = , 2 ds 2 ds

mit

u(s) := v2 (s) ,

trennen, du = 2a(s) ds, und erhalten nach der (ersten) Integration s

s

u(s) = u 0 + 2 ∫ a(σ) dσ ,

v2 (s) = v20 + 2 ∫ a(σ) dσ .

also

s0

s0

Hierbei bezeichnen (s0 , v0 ) die Koordinaten (Anfangswerte) des „Anfangspunktes“ (Zeitpunkt t = t0 ) in der Phasenebene. Für die Geschwindigkeit gilt dann s

v(s) = ±√v20 + 2 ∫ a(σ) dσ . s0

Das Vorzeichen ± muß so gewählt werden, daß lims→s0 v(s) = v0 erfüllt ist. (Bei end­ lichen Beschleunigungen dürfen in den Phasenkurven keine Sprünge auftreten!) Mit dem nun bekannten v = v(s) folgt aus ds/dt = v(s) durch Trennen, dt = ds/v(s), und (zweite) Integration s

t = t0 + ∫ s0

dσ ; v(σ)

dabei steht (t0 , s0 ) für den Anfangspunkt in Abbildung 3.4.2b. Man erhält die Umkehr­ funktion t = t(s), die man auf s = s(t) umschreiben muß. Setzt man s(t) in v(s) und a(s) ein, so gewinnt man v(t) und a(t). Hinweis: Ein jedes Mal, wenn die Phasenkurve v(s) die s-Achse schneidet, schlägt das Vorzeichen obiger Wurzel um, das Integral muß neu angesetzt werden und läßt sich deshalb nur sehr umständlich auswerten. Aus diesem Grunde modifiziert man das Vorgehen (vgl. den folgenden Abschnitt) oder arbeitet mit anderen Methoden (vgl. Abschnitt 3.21 f.).

3.4.3 Kinematik harmonischer Schwingungen Herleitung aus dem Beschleunigungsgesetz Im Anschluß an den vorigen Abschnitt stellen wir uns die folgende Aufgabe: Gegeben sind die Beschleunigung s̈ = a(s) = −ω20 s (mit ω20 = const.) und Anfangswer­ te v0 , s0 für t = t0 . Solch eine Beschleunigung gilt z. B. für den in Abbildung 3.4.4 ge­ zeigten Feder-Masse-Schwinger (Auslenkung s gegenüber entspannter Feder gezählt). Gesucht sind s(t), v(t) und a(t).

3.4 Berechnung von Geschwindigkeit und Weg aus vorgegebener Beschleunigung |

259

m

k

glatt s

Abb. 3.4.4: Feder-Masse-Schwinger

Lösung: Die erste Integration liefert v2 − v20 = ω20 s20 − ω20 s2 , Mit vE := √v20 + ω20 s20 , sE :=

vE ω0

umgestellt:

folgt daraus

v2 v 2E

+

v2 + ω20 s2 = v20 + ω20 s20 . s2 s 2E

= 1.

Die Phasenkurve ist eine Ellipse, vgl. Abbildung 3.4.5a. Die Werte sE und vE sind die Extremwerte von Ausschlag bzw. Geschwindigkeit an den Scheitelpunkten der El­ lipse. Bezieht man s und v auf sE bzw. vE , so wird die Phasenkurve zum Einheitskreis, vgl. Abbildung 3.4.5b. v

v/vE vE

v0 –sE

(a)

v0/vE

P‘ s0 sE

0

–vE

s

ω0

s0/sE 1

0

Ellipse

P

ψ

s0/sE

Einheitskreis

(b)

Abb. 3.4.5: Phasenebenen

Die zweite Integration führt auf s

t = t0 + ∫ s0

s

dσ dσ . = t0 + ∫ v(σ) 2 ±√ v − ω 2 σ 2 s0

E

0

Aus der Darstellung am Einheitskreis in Abbildung 3.4.5b lesen wir eine zweckmäßige Variablentransformation (Substitution) ab, die die Integration erleichtert: s = sE sin ψ ,

v = vE cos ψ ;

ds = sE cos ψ dψ .

Die Vorzeichen von v und s werden damit richtig erfaßt. Wir erhalten (Integrationsva­ riable χ =̂ ψ): ψ

t = t0 + ∫ ψ0

also

ψ=

sE cos χ dχ sE = t0 + (ψ − ψ0 ) , vE cos χ vE

vE (t − t0 ) + ψ0 = ω0 (t − t0 ) + ψ0 . sE

260 | 3 Kinematik und Kinetik Daraus folgt: ψ̇ = ω0 . Der Phasenpunkt P󸀠 läuft in Abbildung 3.4.5b (unabhängig von den Anfangswerten s0 , v0 ) mit der festen Winkelgeschwindigkeit ω0 um. Deshalb heißt ω0 Kreisfrequenz. Für einen Umlauf benötigt er die als Periode oder Perioden­ dauer bezeichnete Zeit 2π T= . ω0 Nach einer Periode wiederholen sich s(t) und v(t), s(t + T) = s(t) ,

v(t + T) = v(t) ,

sie sind periodische Funktionen der Zeit. Mit ψ(t) gemäß obigem Ausdruck folgt s(t) = sE sin ψ = sE sin[ω0 (t − t0 ) + ψ0 ] = sE sin ψ0 cos ω0 (t − t0 ) + sE cos ψ0 sin ω0 (t − t0 ) . Aus Abbildung 3.4.5b entnimmt man sin ψ0 = s0 /sE , cos ψ0 = v0 /vE und erhält s(t) = s0 cos ω0 (t − t0 ) +

v0 sin ω0 (t − t0 ) . ω0

Differentiation liefert v(t) = −s0 ω0 sin ω0 (t − t0 ) + v0 cos ω0 (t − t0 ) , a(t) = −s0 ω0 2 cos ω0 (t − t0 ) − v0 ω0 sin ω0 (t − t0 ) = −ω0 2 s(t) . Benennungen, Schreibweisen, Zeitverläufe Die oben gefundene Bewegung s(t) = s0 cos ω0 (t − t0 ) + = √s20 +

v20 ω20

v0 sin ω0 (t − t0 ) = sE sin[ω0 (t − t0 ) + ψ0 ] ω0

sin[ω0 (t − t0 ) + ψ0 ] = √s20 +

v20 ω20

cos[ω0 (t − t0 ) + ψ0 − π/2]

heißt Sinusschwingung oder harmonische Schwingung. Nach DIN 1311 beschreibt man die Sinusschwingung mit Hilfe der cos-Funktion: s(t) = ŝ cos φ(t) = ŝ cos(ω0 t + φ0 ) . Dabei heißen

ŝ :

Amplitude ,

φ(t) :

Phasenwinkel ,

φ0 := φ(0) :

Null-Phasenwinkel ,

Der Vergleich obiger Lösung mit der genormten Schreibweise zeigt: ŝ = √s20 +

v20 ω20

,

φ0 = ψ0 − ω0 t0 −

π . 2

3.4 Berechnung von Geschwindigkeit und Weg aus vorgegebener Beschleunigung |

261

Durch Subtraktion oder Addition von ganzen Vielfachen von 2π schiebt man φ0 in ein bestimmtes Intervall der Länge 2π, z. B. −π < φ0 ≤ π (die Lage des Intervalls ist willkürlich wählbar!). Differentiation liefert die Geschwindigkeit ̂ 0 sin(ω0 t + φ0 ) = v̂ cos(ω0 t + φ0 + π/2) v = ṡ = −sω und die Beschleunigung ̂ 0 2 cos(ω0 t + φ0 ) = â cos(ω0 t + φ0 + π) . a = s̈ = −sω Mit s(t) sind also auch v(t) und a(t) harmonische Schwingungen mit den Amplitu­ den v̂ bzw. â und den Phasenverschiebungen π/2 bzw. π gegenüber s(t), vgl. Abbil­ dung 3.4.6. T

s

s(t) s0

s

0 t0

φ0 ω0

t

(a) T v v0 v 0

t

t0 (b)

v(t)

a a 0 a0

t

t0 a(t)

(c) Abb. 3.4.6: Zeitverläufe s(t), v(t), a(t) bei harmonischer Schwingung

Neben der Kreisfrequenz ω0 (vgl. Abbildung 3.4.5b) führt man die Frequenz f ein: f :=

1 ω0 = . T 2π

Man kann f als „Anzahl der (Sinus-)Schwingungen pro Zeiteinheit“ auffassen. Da dim ω0 = dim f = 1/T, unterscheidet man die beiden Frequenzen durch die Namen

262 | 3 Kinematik und Kinetik der Einheiten und schreibt s−1 als Einheit von ω0 und 1 Hertz = 1 Hz an Stelle von s−1 als Einheit von f . Zum Beispiel beträgt die Netzfrequenz f = 50 Hz, die NetzKreisfrequenz ω0 = 314,15 . . . s−1 . Sehr oft nennt man auch ω0 der Kürze halber „Frequenz“.

Kinetik des Massenpunktes Die Kinetik verknüpft die Bewegungen von Körpern mit den wirkenden Kräften. Dabei kommt die Masse als Maß für die Stoffmenge ins Spiel. Einen massebehafteten Punkt­ körper nennt man Massenpunkt oder Punktmasse. Zum Beispiel kann man für Bahn­ untersuchungen die Erde (Erdradius r ≈ 6370 km, Bahnradius R ≈ 1,5 ⋅ 108 km) wegen r/R ≈ 0,000042 als „Punkt“ der Masse m ≈ 6 ⋅ 1024 kg ansehen.

3.5 Der freie Fall und die kinetischen Grundgleichungen 3.5.1 Der freie Fall Galilei fand zwischen Fallhöhe s (Abbildung 3.5.1) und Zeit t experimentell den Zu­ sammenhang s = kt2 , wobei k ein Proportionalitätsfaktor ist. Differenzieren dieses Ausdruckes liefert v = ṡ = 2kt und a = v̇ = s̈ = 2k = const. Die Konstante g := 2k ist die örtliche Fallbeschleunigung (ohne Luftwiderstand). Für Paris gilt der Normwert g = 9,80665 m/s2 ≈ 9,81 m/s2 ; am Äquator: g ≈ 9,78 m/s2 , am Pol: g ≈ 9,83 m/s2 .

s m

Abb. 3.5.1: Freier Fall

3.5.2 Die kinetischen Grundgesetze nach Newton Newton abstrahierte aus dem Wissen seiner Zeit die folgenden Grundgesetze der Be­ wegung: 1. Newtonsches Gesetz Wirken auf einen Massenpunkt keine Kräfte, so bleibt er im Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung („gleichförmig“ heißt mit konstanter Geschwin­ digkeit).

3.5 Der freie Fall und die kinetischen Grundgleichungen | 263

2. Newtonsches Gesetz Wirkt auf einen Punkt der Masse m die (resultierende) Kraft F, so gilt für seine Be­ schleunigung a ma = F . Dies ist eine Aussage über Größe und Richtung, vgl. Abbildung 3.5.2. Die Masse m ist hier ein (skalarer, dimensionsbehafteter) Proportionalitätsfaktor.

m

a=r

F

r Abb. 3.5.2: Kraft und Beschleunigung eines Massenpunktes.

0

Hinweis 1: Das 2. Newtonsche Gesetz – man nennt es meistens „Newtonsches Ge­ setz“ schlechtin – gilt für ein Inertialsystem. (Ein Inertialsystem ist ein Bezugssys­ tem, in dem erfahrungsgemäß das Newtonsche Gesetz gilt.) Für technische Probleme auf der Erdoberfläche genügt es meistens, das Bezugssystem mit einem Punkt der Erdoberfläche fest zu verbinden. Bei meteorologischen und erdnahen raumfahrt­ technischen Problemen wählt man häufig den Erdmittelpunkt als Bezugspunkt, bei himmelsmechanischen Problemen die Sonne. Für sehr genaue Untersuchungen oder sehr große Geschwindigkeiten in der Größenordnung der Lichtgeschwindigkeit (c ≈ 300 000 km/s) muß man mit der relativistischen Mechanik arbeiten. Bei Bewegung längs einer Geraden schreibt man das Newtonsche Gesetz meistens skalar (vgl. Abbildung 3.5.3): ma = F , a = s̈ . s glatt

m F Abb. 3.5.3: Geradlinige Bewegung

Für den freien Fall, Abschnitt 3.5.1, folgt nach dem Newtonschen Gesetz, (vgl. Abbil­ dung 3.5.4): ma = G , G Gewicht(skraft) . Die spezielle durch das Gewicht erzeugte Beschleunigung bezeichnet man mit g und erhält mg = G . Aus der Beobachtung, daß (im Vakuum) alle Körper dasselbe g erfahren, folgt G ∼ m, nämlich G = mg: Träge und schwere Masse sind gleich.

264 | 3 Kinematik und Kinetik

s m

G

Abb. 3.5.4: Freier Fall: Bewegung unter Gewicht

Hinweis 2: Newton hat das 2. Gesetz mit Hilfe der „Bewegungsgröße“ formuliert (s. Abschnitt 3.12.1). 3. Newtonsches Gesetz Das 3. Newtonsche Gesetz ist das Reaktionsgesetz, es wurde bereits in Abschnitt 1.3.3 als Axiom 6 eingeführt.

3.5.3 Maßsysteme Die Beziehung mg = G wird benutzt, um Massen miteinander zu vergleichen: m1 : m 2 = G1 : G2 . Masseneinheit: 1 Kilogramm = 1 kg = Masse des „Urkilogramms“ in Paris. Alte Kraft­ einheit: 1 Kilopond = 1 kp = Gewicht des Urkilogramms in Paris. Aus ma = F folgt die Dimensionsgleichung dim m ⋅ dim a = dim F ,

also ML/T2 = K .

Kraft- und Masssendimension – also auch die Einheiten – sind nicht unabhängig von­ einander. Früher wählte man die Krafteinheit 1 Kilopond neben dem Meter und der Sekunde als Grundeinheit und setzte [m] =

1 kp s2 1 kp [F] = = =: 1 TME ; 2 [a] 1 m/s m

1 TME (Technische Masseneinheit) ist die Masse, der die Kraft F = 1 kp die Beschleu­ nigung a = 1 m/s2 erteilt. Heute wählt man die Masseneinheit 1 Kilogramm als Grundeinheit und definiert die Krafteinheit – als „abgeleitete Einheit“ – durch [F] = [m] ⋅ [a] = 1 kg ⋅ 1 m/s2 =: 1 N ; 1 N (Newton) ist die Kraft, die der Masse 1 kg die Beschleunigung 1 m/s2 erteilt.

3.5 Der freie Fall und die kinetischen Grundgleichungen | 265

Umrechnung Die Umrechnung von einem Maßsystem ins andere erfolgt über die Gleichung für den freien Fall, mg = G, angesetzt für das Urkilogramm in Paris: Auflösen nach 1 kg liefert 1 kg =

1 1 1 kp s2 = TME ≈ TME . 9,80665 m 9,80665 9,81

Auflösen nach 1 kp liefert 1 kp = 9,80665 kg m/s2 = 9,80665 N ≈ 9,81 N .

3.5.4 Koordinatenschreibweise des Newtonschen Gesetzes Auf die Punktmasse m wirke die resultierende Kraft F. Das Newtonsche Gesetz lautet nach Abschnitt 3.5.2 F = ma . Bezieht man F und a auf dasselbe kartesische Dreibein e = (e x , e y , e z )T , vgl. Abbil­ dung 3.5.5, so gilt mit F = e x F x + e y F y + e z F z = eT F (s. Abschnitt 1.5.1) und a = e x a x + e y a y + e z a z = e x ẍ + e y ÿ + e z z̈ = eT r ̈ (s. Abschnitt 3.3.4): m r̈ = F

oder

Fx ẍ m ( ÿ ) = ( F y ) z̈ Fz

oder

m ẍ = F x = ∑ F xi , m ÿ = F y = ∑ F yi , m z̈ = F z = ∑ F zi .

Dies sind drei skalare Gleichungen. Die Summen rechts weisen darauf hin, daß die Resultierenden aller am Massenpunkt angreifenden Kräfte beachtet werden müssen; man muß den Massenpunkt stets zuerst FREISCHNEIDEN, bevor man die Newton­ schen Gleichungen ansetzt. F m

z r

y ez 0

ey ex x

Abb. 3.5.5: Kartesisches Dreibein zur Koordinatenschreibweise

266 | 3 Kinematik und Kinetik

3.5.5 Anwendungsbeispiele für das Newtonsche Gesetz Kräftefreier Punkt Gegeben: Punktmasse m bewegt sich frei (ohne Krafteinwirkung von außen) durch den Raum und hat zur Zeit t = t0 die Anfangslage r 0 und die Anfangsgeschwindig­ keit v0 , Abbildung 3.5.6. Gesucht: Geschwindigkeit v(t) und Ort r(t) für t ≥ t0 .

m

v0

(t–t0)v0

r0 r(t) Abb. 3.5.6: Bewegung eines kräftefreien Punktes

0

Lösung: a) Skalar Mit F = O folgen aus Abschnitt 3.5.4 die drei skalaren Bewegungsgleichungen m ẍ = 0 ,

m ÿ = 0 ,

m z̈ = 0 .

Sie haben die ersten Integrale (Lösungen) ̇ = v x0 , v x = x(t)

̇ = v y0 , v y = y(t)

̇ = v z0 v z = z(t)

und die zweiten Integrale x(t) = x0 + (t − t0 )v x0 ,

y(t) = y0 + (t − t0 )v y0 ,

z(t) = z0 + (t − t0 )v z0 .

b) Vektoriell Mit F = O folgt m r ̈ = O; die Lösung lautet in Vektorform ̇ = v0 v = r(t)

und

r(t) = r 0 (t) + (t − t0 )v 0 .

Der Punkt bewegt sich gleichförmig geradlinig (1. Newtonsches Gesetz ist also im 2. Gesetz enthalten). Geradlinig beschleunigte Bewegung eines Massenpunktes (Beispiel) Gegeben: Ein Klotz (Massenpunkt) der Masse m und des Gewichtes G gleitet mit der Anfangsgeschwindigkeit v0 > 0 aus der Anfangslage x0 = 0 eine rauhe schiefe Ebene hinab (Neigungswinkel α, Reibungskoeffizient μ), s. Abbildung 3.5.7. Gesucht: Bewegungsablauf.

3.5 Der freie Fall und die kinetischen Grundgleichungen | 267

µ

v

m G

α

Abb. 3.5.7: Bewegung auf schiefer Ebene

Lösung (nach dem Schema aus Abschnitt 1.10.2, das hier für die Kinetik geeignet er­ weitert wird; vgl. Innenseite des vorderen Buchdeckels): 1. Schritt: Lageplan, Koordinaten, Freiheitsgrad, Kinematik (Abbildung 3.5.8). Koordinate x parallel zu geneigter Ebene, hangabwärts positiv, Koordinate y senkrecht dazu gewählt. Man liest ab: y(t) = konstant (bekannt). y m x

α

G Abb. 3.5.8: Lageplan und Koordinanten

2. Schritt: System aufschneiden, Kräfte (Momente) eintragen (Abbildung 3.5.9). Reibungskraft R wirkt gegen Abwärtsbewegung (vgl. Abschnitt 1.20.1). v m R Gsinα α

N Gcosα

G

Abb. 3.5.9: Aufgeschnittenes System

3. Schritt: Gleichgewichtsbedingung und Newtonsches Gesetz (für die verschiedenen Richtungen, skalar) anschreiben. Vorgehen a): In Richtung y erfolgt keine Bewegung, also Gleichgewicht ansetzen: ∑ F yi = 0 :

N − G cos α = 0 .

In Richtung x erfolgt eine Bewegung, also Newtonsches Gesetz ansetzen: m ẍ = ∑ F xi = G sin α − R .

268 | 3 Kinematik und Kinetik

Vorgehen b): Newtonsches Gesetz für x- und y-Richtung ansetzen: m ẍ = ∑ F xi = G sin α − R ;

m ÿ = ∑ F yi = N − G cos α .

4. Schritt: Unbekannte und Gleichungen abzählen; evtl. Zusatzbedingungen (Rei­ bungsgesetze, Federkennlinien usw.) einführen. Vorgehen a): Unbekannt sind N, R, x:̈ 3 Unbekannte. Bekannt sind 2 Gleichungen aus Schritt 3a). Zusätzlich erforderlich: Reibungsgesetz R = μN. Vorgehen b): Schritt 3b) ergibt 4 Unbekannte, N, R, x ̈ , y,̈ und liefert 2 Gleichungen. Zusätzlich erforderlich: Reibungsgesetz und, aus der Kinematik, y(t) ≡ const., also ÿ ≡ 0. (Das Vorgehen b) erscheint hier als umständlich.) 5. Schritt: Lösen der Gleichungen, anpassen an Anfangsbedingungen. Elimination von N und R liefert die Bewegungsgleichungen m ẍ = G sin α − μG cos α = mg(sin α − μ cos α) , die Differentialgleichung 2. Ordnung ẍ = g(sin α − μ cos α) . Zweimalige unbestimmte Integration ergibt v = ẋ = C1 + gt(sin α − μ cos α) , 1 x(t) = C2 + C1 t + gt2 (sin α − μ cos α) 2 mit den Integrationskonstanten C1 und C2 . Aus den Anfangsbedingungen zur Zeit t = 0 folgt ̇ x(0) = v0 = C1 ,

also

C1 = v0 ,

x(0) = x0 = 0 = C2 , also

C2 = 0 .

Die Lösung lautet x(t) = v0 t +

1 2 gt (sin α − μ cos α) , 2

v(t) = v0 + gt(sin α − μ cos α) .

6. Schritt: Ausdeuten der Lösung. Wegen der in Schritt 2 zu berücksichtigenden Orientierung der Reibungskraft gilt die Lösung nur für v(t) > 0. Aus v(t) = v0 + gt(sin α − μ cos α) folgt 1)

v(t) > 0

für alle t ≥ 0, falls sin α − μ cos α > 0 ,

2)

v(t) > 0

für 0 ≤ t ≤ v0 /[g(μ cos α − sin α)] , falls sin α − μ cos α < 0 .

3.5 Der freie Fall und die kinetischen Grundgleichungen | 269

Im Fall 1) nimmt v(t) linear, x(t) quadratisch mit der Zeit zu (soweit die schiefe Ebene reicht); im Fall 2) nimmt v(t) linear ab, der Klotz kommt zur Zeit t∗ := v0 /[g(μ cos α − sin α)] an der Stelle x∗ := x(t∗ ) zur Ruhe.

3.5.6 Krummlinige Bewegung eines Massenpunktes im Raum unter konstanter Kraft Vektorielle Betrachtung Gegeben: Massenpunkt m und darauf wirkende konstante Kraft F 0 , Anfangswerte r(0) = r 0 und v(0) = v 0 ; Abbildung 3.5.10a. Gesucht: v(t) und r(t).

v0 t

v0 m

v0

F0

r0

r0

0 (a)

0 (b)

Bahn

m r (t)

F0

1 F t2 2m 0

Abb. 3.5.10: Bewegung bei konstanter Kraft

Lösung: Aus m r ̈ = F 0 folgen v(t) = v0 +

1 F0 t m

und

r(t) = r 0 + v0 t +

1 F 0 t2 . 2m

Abbildung 3.5.10b zeigt die Bahn als eine Parabel in der von v 0 und F 0 aufgespannten Ebene. Wurfparabel in der Ebene Gegeben: Punktmasse m, Gewicht G, wird zur Zeit t = 0 aus x = 0, z = z0 unter dem Winkel α mit der Anfangsgeschwindigkeit v0 geworfen, Abbildung 3.5.11. Gesucht: Bahn x(t), z(t) und z(x), maximale Höhe h, Wurfweite xw , Wurfdauer tw , Auftreffgeschwindigkeit vw .

270 | 3 Kinematik und Kinetik z v0 z0

α

m h

G xw

0

x

Abb. 3.5.11: Wurfparabel

Lösung (kann man auch aus vorangehender Aufgabe entwickeln): Für die Bewegung gilt horizontal:

m ẍ = 0 ,

x(0) = 0 ,

̇ x(0) = v0 cos α ;

vertikal:

m z̈ = −mg ,

z(0) = z0 ,

̇ z(0) = v0 sin α .

Integration ergibt für die Bewegung als Funktion der Zeit: x(t) = v0 t cos α ,

z(t) = z0 + v0 t sin α −

1 2 gt . 2

Elimination der Zeit t führt auf die Bahnkurve z(x) = z0 + x tan α −

1 x2 g 2 2 v0 cos2 α

(Parabel) .

̇ h ) = 0. Aus Maximale Höhe h zur Zeit t h : Bei z(t h ) = h ist z(t ̇ h ) = v0 sin α − g t h = 0 z(t folgt th =

v0 sin α g

und

h = z0 +

v20 sin2 α . 2g

Diese Lösung gilt nur für sin α ≥ 0 (warum?). Wurfweite xw zur Zeit tw : Aus z(tw ) = 0 folgt tw =

v0 sin α √ v20 sin2 α z0 +2 , + g g g2

xw =

v4 sin2 2α v20 sin 2α z0 v20 cos2 α +2 +√ 0 . 2 2g g 4g

Mit ̇ w ) = v0 cos α , x(t

̇ w ) = −√v20 sin2 α + 2z0 g z(t

gilt dann vw := √ẋ 2 (tw ) + ż2 (tw ) = √v20 + 2z0 g . Fragen: Unter welchem Winkel trifft der Punkt bei xw auf? Unter welchem Winkel α muß man werfen, um bei z0 = 0 und gegebenem v0 eine maximale Weite zu erzielen?

3.6 Das Prinzip von d’Alembert | 271

Prinzip von d’Alembert. Reine Translation und reine Rotation eines starren Körpers 3.6 Das Prinzip von d’Alembert Mit dem d’Alembertschen Prinzip gelingt es, das Aufstellen von Bewegungsgleichun­ gen auf die Gleichgewichtsbedingungen der Statik zurückzuführen.

3.6.1 Allgemeine Überlegungen Gegeben sei eine von der Umgebung freigeschnittene starre, masselose Scheibe (oder ein räumlicher Körper), auf der Punktmassen m k , k = 1, . . . , K, fest angebracht sind, vgl. Abbildung 3.6.1a. Im betrachteten Zeitpunkt t („Momentaufnahme“!) seien für die m k die Ortsvektoren r ∗k (t) und die Beschleunigungen a k (t) bekannt. An der Scheibe greifen die äußeren Kräfte F n (t) in den Punkten r n (t), n = 1, . . . , N, und die äußeren Momente M l (t), l = 1, . . . , L, an. F2

F1

m1

r*1 (t)

a1(t)

r*2 (t)

M1

M1 F*2

a2(t)

–F*2

M2 r*1

m2

m1

–F*1

m2

0 (a)

F2

F1

a2

a1 r*2

F*1

M2

0 (b)

(c)

Abb. 3.6.1: Starre, masselose Scheibe mit Punktmassen

Überlegung: Wir schneiden die Punkte m k von der Scheibe (vom Körper) ab, Abbil­ dung 3.6.1b, c. Für die Massenpunkte m k gilt jeweils das Newtonsche Gesetz: m k a k = F ∗k , wobei F ∗k die von der Scheibe (dem Körper) auf die Punktmasse übertragene (Schnitt-) Kraft ist. An der Scheibe greift dann die zu F ∗k gehörende Reaktionskraft an, nämlich −F ∗k = −m k a k = −m k r ∗̈k . Man fordert nun gemäß Axiom 10 in Abschnitt 1.3.3, daß die starre, masselose Schei­ be in jedem Augenblick im statischen Gleichgewicht sein muß. Aus Abschnitt 1.10.1

272 | 3 Kinematik und Kinetik

und 1.10.3 folgen dann die Gleichgewichtsbedingungen für die Kräfte: N

K

∑ F n (t) − ∑ F ∗k (t) = O n=1

N

oder

K

∑ F n (t) − ∑ m k a k (t) = O , n=1

k=1

k=1

für die Momente: L

N

K

l=1

n=1

k=1

∑ M l (t) + ∑ [r n (t) × F n (t)] − ∑ [r ∗k (t) × F ∗k (t)] = O oder L

N

K

l=1

n=1

k=1

∑ M l (t) + ∑ [r n (t) × F n (t)] − ∑ m k [r ∗k (t) × a k (t)] = O .

3.6.2 Ausdeutung des Ergebnisses Rezept: Man trägt auf der von der Umgebung freigeschnittenen starren Scheibe (dem Körper) neben den äußeren Kräften F n und Momenten M l die (d’Alembertschen) Träg­ heitskräfte −m k a k gegen die jeweilige als positiv angenommene Beschleunigungsrich­ tung orientiert ein, vgl. Abbildung 3.6.2, und schreibt 3 Gleichgewichtsbedingungen für die Scheibe (6 Gleichgewichtsbedingungen für den Körper) an. Beim Anschreiben der a k (t) muß beachtet werden, daß die Massenpunkte fest auf einem starren Gebilde sitzen, sich also mit ihm mitbewegen; vgl. unten, Abschnitte 3.7 und 3.8. Im Lösungs­ schema nach Abschnitt 1.10.2 muß der Schritt 2 um die Trägheitskräfte erweitert wer­ den, wenn mit dem d’Alembertschen Prinzip gearbeitet wird. (Das so ergänzte Schema findet man auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels.)

M1

F2

F1

–m1a1 a1

a2 –m2a2 M2

Abb. 3.6.2: Scheibe mit d’Alembertschen Trägheitskräften

3.7 Translationsbewegungen eines starren Körpers 3.7.1 Kinematik der Translation Ein starrer Körper bewegt sich translatorisch, wenn alle seine Punkte zur selben Zeit dieselbe Geschwindigkeit v(t) haben; dann ist auch die Beschleunigung a(t) aller Punkte gleich. Bei einer Translation bleibt jede körperfeste Gerade sich stets par­

3.7 Translationsbewegungen eines starren Körpers | 273

allel. Die Bahnen aller Körperpunkte haben dieselbe Form. Zur Beschreibung einer Translation genügt es also, die Bahn eines Körperpunktes (eine Geschwindigkeit, eine Beschleunigung) anzugeben. Beispiele für translatorisch bewegte Körper sind der die schiefe Ebene hinabgleitende Klotz in Abbildung 3.5.7 und die gemäß Abbildung 3.7.2 bewegte Koppel CD. Die Beispiele zeigen auch, daß (reine) Translationen in der Regel nur bei „geführten“ Körpern vorkommen.

3.7.2 Kinetik der Translation Gegeben sei ein translatorisch geführter starrer Körper vom Volumen V und der Dich­ ̃ te¹ ϱ(r), der momentan die Beschleunigung a(t) erfährt. Abbildung 3.7.1a zeigt den freigeschnittenen Körper mit den Kräften F n und Momenten M l in Momentaufnahme. Gesucht ist eine möglichst einfache Gleichgewichtsaussage für den Körper.

M1

M1 F1 a

–a∆m r

(a)

0

F1

–am

∆m

V

a

S

F2 M2

F2 M2

V

(b)

Abb. 3.7.1: Translatorisch bewegter Körper

Lösung: Das in Abbildung 3.7.1a gezeigte Volumenelement ∆V enthält die (Punkt-)Masse ∆m = ϱ̃ ∆V. Wir stellen uns vor, daß der Körper dicht mit solchen Massen ∆m belegt ist, und wenden das d’Alembertsche Prinzip an: Infolge der Beschleunigung a tritt die Trägheitskraft −∆F ∗ = −a ∆m auf. Da a für alle ∆m gleich ist, sind alle −∆F ∗ parallel, man kann sie zu einer Resultierenden −F ∗ = − ∫ a dm = −a ∫ dm = −am V

V

zusammenfassen. Diese Resultierende −am greift nach den Überlegungen in Ab­ schnitt 1.16.3 im Schwerpunkt S des Körpers an, vgl. Abbildung 3.7.1b. Der dort gezeigte Körper ist im Gleichgewicht, wenn die Gleichgewichtsbedingungen unter Einbezie­ hung der Trägheitskraft −am jeweils erfüllt sind. 1 In Kapitel 3 bezeichnen wir die Dichte mit ϱ̃ zur Unterscheidung vom Radius ϱ.

274 | 3 Kinematik und Kinetik

Hinweis: Beim translatorisch bewegten starren Körper lassen sich die Trägheitskräf­ te zu einer Resultierenden zusammenfassen, die so wirkt, wie wenn die Gesamtmas­ se des Körpers in seinem Schwerpunkt vereinigt wäre (vgl. Verallgemeinerung in Ab­ schnitt 3.14.2). Beispiel Gegeben sind zwei durch eine Führungsstange AB verbundene Räder (Radius r), die mit der konstanten Geschwindigkeit v auf einer Schiene rollen (Antriebskraft F), s. Ab­ bildung 3.7.2. An zwei Zapfen C und D an der Felge der Räder ist eine starre Koppel (ho­ mogene Stange, Länge l, Masse m, Gewicht G = mg) angebracht, bei D mit Langloch. Gesucht sind die Kräfte von den Zapfen C und D auf die Koppel in Abhängigkeit vom Winkel φ = vt/r. l S

φ

y

C 0

r x

A

F v

D

g

r B

Abb. 3.7.2: Radsatz mit Führungsstange und Koppel

Lösung (nach Schema, mit dem d’Alembertschen Prinzip): 1. Schritt: Koordinaten, Kinematik. Die Koppel CD unterliegt einer Translation. Also genügt es, die Bewegung eines ihrer Punkte zu erfassen. Besonders geeignet ist Punkt C. Liege der Ursprung des in Abbil­ dung 3.7.2 gezeigten x-y-Systems auf dem Ort von C für t = 0. Dann liest man aus der Abbildung ab: x = rφ + r(1 − cos φ) , y = r sin φ . Mit φ = vt/r folgen ẋ = v + v sin φ , ẏ = v cos φ , ẍ =

v2 cos φ , r

ÿ = −

v2 sin φ . r

2. Schritt: System aufschneiden, Schnittkräfte und d’Alembertsche Trägheitskräfte eintragen (negative Orientierung beachten), s. Abbildung 3.7.3.

3.8 Rotationsbewegung eines starren Körpers | 275

mÿ Cx

S Cy

mx¨ G

D

Abb. 3.7.3: Freikörperbild der Koppel

3. Schritt: Gleichgewichtsbedingungen für die Koppel ansetzen. ∑ F xi = 0 :

C x − m ẍ = 0 ;

+ ↺ (C) ∑ Mi = 0 :

−(G + m y)̈

+ ↺ (D) ∑ Mi = 0 :

−C y l + (G + m y)̈

l +Dl =0; 2 l =0. 2

4. Schritt: Unbekannte und Gleichungen zählen. Unbekannt sind C x , C y , D : 3 Unbekannte. Bekannt sind 3 Gleichungen. 5. Schritt: Gleichungen lösen. Man erhält v2 C x = m cos φ , 2r

Cy = D =

v2 G −m− sin φ . 2 2r

3.8 Rotationsbewegung eines starren Körpers Wir beschränken uns hier auf die Drehung (Rotation) um eine raum- und körperfeste Achse. Die allgemeine ebene Bewegung des starren Körpers wird ab Abschnitt 3.16 behandelt.

3.8.1 Kinematik der Rotation Der Körper K nach Abbildung 3.8.1 drehe sich um die in den Lagern A und B geführte Achse. Die kartesische Basis ekart legen wir mit ihrem Ursprung 0 so auf den Lager­ punkt A, daß e z in die Drehachse fällt. Zusätzlich zur kartesischen Basis führen wir noch Zylinderkoordinaten mit der Basis ezyl ein (vgl. die Abschnitte 3.1.3 und 3.1.4). Momentan wird ein beliebiger Körperpunkt P (ein Volumenelement ∆V) durch die (Zylinder-)Koordinaten (ϱ, φ, z) = (ϱ P , ψ(t) + χP , zP ) erfaßt, vgl. Abbildung 3.1.7 und 3.8.1. Dabei sind (ϱ P , χP , zP ) für den betrachteten Körperpunkt P fest: Er läuft in der Ebene z = zP = konstant parallel zu der von e x und e y aufgespannten Ebene auf einem Kreis vom Radius ϱ P um die z-Achse. (Der Index P ist in den Abbildungen 3.8.1, 3.8.2 und auch in den späteren Rechnungen weggelassen.)

276 | 3 Kinematik und Kinetik

B

K

a

ez eφ ey eρ

A

P

r

zez

0

∆V

ex

ρeρ χ φ ψ

Q‘

Q

Abb. 3.8.1: Beschleunigungen am Körperpunkt P

Der Winkel φP = φP (t) wird gemäß φP (t) = ψ(t) + χ P aufgespalten. Dabei erfaßt ψ(t) die Drehung des starren Körpers als Ganzes, gemessen 󳨀→ zwischen dem festen Bezugsstrahl 0Q und dem mit dem Körper umlaufenden Bezugs­ 󳨀󳨀→󸀠 strahl 0Q , vgl. Abbildung 3.8.1. Da die Basis ezyl mitdreht, ist χ = χP fest. Mit φ̇ = ψ̇ =: ω

und

φ̈ = ψ̈ =: α

liefert Abschnitt 3.2.5 für feste (zeitunabhängige) Koordinaten ϱ = ϱP , z = zP die Ge­ schwindigkeit vP = ω × r P = (ωe z ) × (ϱ P e ϱ + zP e z ) , und aus Abschnitt 3.3.5 erhält man die Beschleunigung a P = −ϱ P ω2 e ϱ + αϱ P e φ . Abbildung 3.8.1 zeigt den Beschleunigungsvektor aP für den betrachteten Punkt P; aP liegt parallel zur Ebene z = 0.

3.8.2 Kinetik der Rotation ̃ Gegeben ist der starre Körper vom Volumen V und der Dichte ϱ(r), vgl. Abbildung 3.8.1, der sich um die raum- und körperfeste Achse AB, das ist die z–Achse der im vorheri­ gen Abschnitt 3.8.1 eingeführten Basen ekart bzw. ezyl , dreht. Die Drehung wird durch

3.8 Rotationsbewegung eines starren Körpers | 277

B

K

∆V P

–a∆m

r

zez

ez eφ ey eρ 0

ex

A

ρeρ χ φ ψ

Q‘

Q

Mez Abb. 3.8.2: Trägheitskraft am Massenelement

󳨀→ den Winkel ψ(t) zwischen dem raumfesten Bezugsstrahl 0Q und dem körperfesten 󳨀󳨀→󸀠 Bezugsstrahl 0Q gemessen. Auf den Körper wirkt das Moment M als resultierendes Moment aller äußeren Kräfte und Momente um die z–Achse. Gesucht sind Aussagen über die Kinetik des Körpers, insbesondere der Zusammen­ hang zwischen dem „Antriebsmoment“ M und der Winkelbeschleunigunng α = ψ.̈ Lösung (nach Schema, mit d’Alembertschem Prinzip): Am Punkt P, dem Volumenelement ∆V, das die (Punkt-)Masse ∆m = ϱ̃ ∆V enthält, greift die Trägheitskraft −∆F ∗ = −a ∆m = ω2 ϱ ∆m e ϱ − αϱ ∆m e φ an, vgl. Abbildung 3.8.2. Dabei ist ω2 ϱ ∆m e ϱ die (d’Alembertsche) Zentrifugalkraft, die zur Zentripetalbeschleunigung −ω2 ϱe ϱ gehört, während −αϱ ∆m e φ gegen die positi­ ve Winkelorientierung wirkt. Die Abbildungen 3.8.3a, b zeigen die zerlegten Größen in Draufsicht. Für das d’Alembertsche Moment −∆M ∗ der Trägheitskraft −∆F ∗ um den Ursprung 0 des Zylinderkoordinatensystems gilt −∆M ∗ = −r × ∆F ∗ = −r × a ∆m . Integration über das Volumen ergibt −M ∗ = − ∫ r × dF ∗ = − ∫ r × a dm . V

V

278 | 3 Kinematik und Kinetik

K

ω2ρ ∆m

Q‘ ψ Q

ρ 0

αρ

(a) αρ∆m

K

ρ

ω2ρ∆m Q ψ Q

∆m

0

(b)

Abb. 3.8.3: Zerlegung von Beschleunigung und Trägheitskraft

M

Einsetzen obiger Ausdrücke liefert: −M ∗ = − ∫(ϱe ϱ + ze z ) × (−ϱω2 e ϱ + αϱe φ ) dm V

= − ∫(e z αϱ 2 − e φ ω2 ϱz − e ϱ αϱz) dm . V

Da e z , ω und α für alle Massenelemente dieselben sind, kann man sie aus dem Integral herausziehen und erhält −M ∗ = ω2 ∫ e φ ϱz dm + α ∫ e ϱ ϱz dm − αe z ∫ ϱ 2 dm . V

V

V

Das erste Integral rechts liefert eine M ∗ -Komponente senkrecht zur z-Achse (Dreh­ achse); dieses Moment muß von den Lagerkräften aufgenommen werden. Es ist das Moment, das man beim „Wuchten“ von Kfz-Rädern mißt. Das Moment verschwindet z. B., wenn die z-Achse Symmetrieachse oder auch nur „Schwerelinie“ ist, d. h., wenn bei einer gedachten Zerlegung des Körpers in Scheiben senkrecht zur z-Achse alle Scheibenschwerpunkte auf der z-Achse liegen (vgl. die „Deviationsmomente“ in Ab­ schnitt 3.18.3). Die Einflüsse des zweiten Integrales entsprechen denen des ersten (um −90° ver­ dreht), nur geht hier die Winkelbeschleunigung α ein, wo dort das ω2 steht. (Beim Wuchten werden also beide gleichzeitig so klein wie möglich gemacht.) Das dritte In­ tegral, die M ∗ -Komponente in Richtung der z-Achse, muß sich mit dem Moment M das Gleichgewicht halten (s. Abbildungen 3.8.2 und 3.8.3b): e z M − e z α ∫ ϱ 2 dm = 0 . V

3.8 Rotationsbewegung eines starren Körpers

| 279

Mit dem (Massen-)Trägheitsmoment, auch Massenmoment zweiten Grades genannt, J := ∫ ϱ 2 dm = ∫ ϱ 2 ϱ̃ dV , V

ϱ̃ − Dichte ,

V

erhält man

Jα = M , „Trägheitsmoment ⋅ Winkelbeschleunigung = Moment“ .

Diese Beziehung ist ähnlich aufgebaut wie das Newtonsche Gesetz für die Bewegung längs einer Geraden (s. Abschnitt 3.5.2). Dimension des Trägheitsmomentes dim J = ML2 .

3.8.3 Trägheitsmomente homogener zylindrischer Körper Grundformel Gegeben: Starrer, homogener zylindrischer Körper der Höhe h, Grundfläche A, Dich­ te ϱ.̃ Den Polabstand (Radius) bezeichnen wir hier mit r, vgl. Abbildung 3.8.4. Gesucht: Trägheitsmoment J für Drehung um Achse 0–0 (parallel zu Mantellinien).

A ∆A

0

r

h

0 Abb. 3.8.4: Homogener zylinderischer Körper

Lösung: Da der Körper homogen und zylindrisch ist, kann man „stabförmige Volumenelemen­ te“ parallel zur Achse 0–0 wählen: ∆V = h ∆A mit dem Oberflächenelement ∆A und dem Polabstand r. Man erhält: ̃ ∫ r2 dA = ϱhI ̃ p. J = ∫ r2 ϱ̃ dV = ϱ̃ ∫ r2 h dA = ϱh V

A

A

Darin bedeutet Ip das in Abschnitt 2.9.1 angeschriebene polare Flächenmoment zwei­ ten Grades der Grundfläche A bezogen auf den Achsendurchstoßpunkt 0.

280 | 3 Kinematik und Kinetik

Kreiszylinder Für das Trägheitsmoment eines Voll-Zylinders (Walze, Kreisscheibe) vom Radius R und der Masse m bezüglich seines Zentrums gilt (Abbildung 3.8.5a): 1 π 4 1 2 2 ̃ ̃ )R = mR2 . J = ϱh R = (ϱhπR 2 2 2

R R 0

0

r (a)

(b)

Abb. 3.8.5: Voll- und Hohlzylinder

Für den Hohlzylinder mit den Radien R, r und der Masse m (Abbildung 3.8.5b) erhält man: π 1 1 π 2 ̃ ̃ ( R4 − r4 ) = [ϱh(πR − πr2 )](R2 + r2 ) = m(R2 + r2 ) . J = ϱh 2 2 2 2 Aufgabe: Wie groß ist J für einen sehr dünnwandigen Zylinder, r → R? Man ma­ che sich das Ergebnis an Hand der allgemeinen Definitionsgleichung für J in Ab­ schnitt 3.8.2 klar. Satz von Steiner In Abbildung 3.8.6 sei A die Grundfläche eines homogenen zylindrischen Körpers und 0–0 eine körperfeste Achse parallel zu den Mantellinien. Sei das Trägheitsmoment J S bezüglich einer zur Drehachse parallelen Achse S–S durch den Schwerpunkt S bekannt. Nach Steiner gilt dann für das Trägheitsmoment J0 um die Drehachse J 0 = J S + ma2 , wobei m die Masse des Körpers und a der Abstand der Achsen bedeuten. Der Beweis erfolgt wie in Abschnitt 2.9.3. Der Satz von Steiner gilt für inhomogene Körper beliebiger Form (Beweis?). 0

S m a

S 0 S

Abb. 3.8.6: Zylindrischer Körper mit parallelen Drehachsen

3.8 Rotationsbewegung eines starren Körpers |

281

3.8.4 Prinzip von d’Alembert für Drehbewegungen Ähnlich wie in Abschnitt 3.6 kann man sich auch für die Drehbewegung eine d’Alem­ bertsche Vorgehensweise überlegen, Abbildung 3.8.7. Umstellen der Beziehung J ψ̈ = M aus Abschnitt 3.8.2 liefert formal M − J ψ̈ = 0 . Sieht man (−Jα) = (−J ψ)̈ als – gegen die angenommene Winkelorientierung wirken­ des – d’Alembertsches Moment an (der Name „Trägheitsmoment“ ist bereits für J ver­ geben) und zeichnet man einen entsprechenden Drehpfeil in die Skizze des Systems ein, s. Abbildung 3.8.7, so kann man −M + J ψ̈ = 0 als Momentengleichgewicht um die 0-Achse lesen: + ↺ ∑ M (0) = 0 : − M + J ψ̈ = 0 .

ψ J M 0 J¨ψ

Abb. 3.8.7: D’Alembertsches Moment

3.8.5 Beispiele Drehende Walze Gegeben: Walze, bei A reibungsfrei gelagert, Trägheitsmoment J, wird durch konstan­ tes Moment M aus der Ruhe beschleunigt; vgl. Abbildung 3.8.8. Gesucht: Drehung ψ(t).

ψ

A

r M

J

Abb. 3.8.8: Walze unter der Einwirkung eines Momentes

282 | 3 Kinematik und Kinetik

Lösung: Erster Lösungsweg: Anwendung der Beziehung aus Abschnitt 3.8.2.

1. Integration:

J ψ̈ = M , ψ̈ = M/J . ψ̇ = ω = ω0 + (M/J)t ,

2. Integration:

ψ = ψ0 + ω0 t + (M/J)t2 /2 .

Bewegungsgleichung:

Anfangsbedingungen zur Zeit t0 = 0 (gewählt!): ω(0) = ω0 = 0 ,

ψ(0) = ψ0 = 0 .

Angepaßte Lösung: ψ = (M/J)t2 /2. Zweiter Lösungsweg: Anwendung des d’Alembertschen Prinzipes nach Abschnitt 3.8.4. Orientierung von ψ (und damit auch von ψ)̈ wählen, vgl. Abbildung 3.8.9; d’Alem­ ̈ eintragen; nun statisches Problem: bertsches Moment (−J ψ) + ↺ ∑ M (A) = 0 :

J ψ̈ − M = 0 .

Daraus folgt die Bewegungsgleichung. In diesem einfachen Fall braucht man für die Momentenbilanz kein Schnittbild, weil alle Schnittkräfte an der Drehachse A angrei­ fen. Lösung der Differentialgleichung wie beim ersten Lösungsweg.

ψ

A

J¨ψ

r

M J

Abb. 3.8.9: Walze mit d’Alembertschem Moment

Hebevorrichtung Gegeben sind zwei Seiltrommeln (Radien r1 , r2 ; Trägheitsmomente J 1 , J 2 ), die bei A und B reibungsfrei gelagert und über ein Reibradpaar (Radien R1 , R2 ; Trägheitsmo­ mente in J 1 bzw. J2 enthalten) miteinander verbunden sind, s. Abbildung 3.8.10. (Eine horizontale Verspannung zwischen den Lagern A und B stellt sicher, daß die Reib­ räder aufeinander abrollen.) Die beiden Seile 1 und 2 tragen zwei Klötze mit den Mas­ sen m1 , m2 und den Gewichten G1 , G2 . Gesucht: Bewegungsgleichungen (Beschleunigungsgesetze) für die Trommeln und Klötze, Seilkräfte S1 und S2 , wenn Antrieb und Bremsen ausgefallen sind. (Pendeln der Klötze wird ausgeschlossen.)

3.8 Rotationsbewegung eines starren Körpers | 283

J1 B

r2

J2

R1

B

r2

R2

1

2 m2

m1 G2 G1

Abb. 3.8.10: Hebevorrichtung bei Ausfall von Antrieb und Bremse

Lösung (nach Schema): 1. Schritt: Lageplan, Koordinaten, Freiheitsgrad, geometrische und kinematische Be­ ziehungen. Die Koordinaten x1 , x2 , für die Vertikalbewegungen der Klötze und die Winkelko­ ordinaten φ1 , φ2 für die Drehbewegungen der Trommeln werden willkürlich gewählt, vgl. Abbildung 3.8.11. Wegen des Kontaktes bei C und der als stets straff vorausgesetz­ ten undehnbaren Seile bestehen drei (geometrische oder) kinematische Beziehungen zwischen den Koordinaten x1 , x2 , φ1 , φ2 ; man kann drei von ihnen durch die vierte ausdrücken: Freiheitsgrad f g = 4 − 3 = 1 (vgl. Abschnitt 1.11.4).

φ1

φ2 vC

1 A

C

B

2 v2

v1 1

2 x2 x1 Abb. 3.8.11: Koordinaten und Geschwindigkeiten

Die kinematischen Beziehungen schreibt man am besten für die Geschwindigkeiten an: Punkt 1 auf Trommel 1 sowie Klotz 1: v1 = ẋ 1 = r1 φ̇ 1 , Punkt 2 auf Trommel 2 sowie Klotz 2:

v2 = ẋ 2 = −r2 φ̇ 2 ,

Punkt C als Punkt des Rades 1:

vC = R1 φ̇ 1 ,

Punkt C als Punkt des Rades 2:

vC = −R2 φ̇ 2 , also

R1 φ̇ 1 = −R2 φ̇ 2 .

284 | 3 Kinematik und Kinetik

Die drei kinematischen Beziehungen kann man differenzieren und integrieren, vgl. Ta­ belle 3.8.1. Tab. 3.8.1: Kinematische Beziehungen Beziehung

differenziert

x1̇ = r1 φ̇ 1

C1 = C2 = C3 = 0

integriert

x1̈ = r1 φ̈ 1

x1 = r1 φ 1 + C 1

x1 = r1 φ 1

x2̇ = −r2 φ̇ 2

x2̈ = −r2 φ̈ 2

x2 = −r2 φ 2 + C 2

x2 = −r2 φ 2

R 1 φ̇ 1 = −R 2 φ̇ 2

R 1 φ̈ 1 = −R 2 φ̈ 2

R 1 φ 1 = −R 2 φ 2 + C 3

R 1 φ 1 = −R 2 φ 2

Die Wahl C1 = C2 = C3 = 0 der Integrationskonstanten bedeutet, daß die Nullpunkte von x1 , x2 , φ1 , φ2 so gesetzt wurden (oder werden können), daß x1 , x2 , φ1 , φ2 gleich­ zeitig verschwinden. Bei anderer Wahl der Nullpunkte muß man C1 , C2 , C3 entspre­ chend festlegen. 2. Schritt: Schnittbild. System aufschneiden, Schnittkräfte, d’Alembertsche Kräfte und Momente (gegen positive Beschleunigung, positive Koordinatenorientierung) eintragen; vgl. Abbil­ dung 3.8.12. Die Gewichte der Trommeln lassen wir außer acht, sie würden lediglich die Kräf­ te AV und BV erhöhen. J1φ¨ 1

CV

R1 r1

AH

AV S1

(a)

CH

R2 BH

r2

CH

J2φ¨ 2

BV

CV

S2

(b)

S1 S2 m1x¨1

m2x¨2

G1 (c)

y x

(d)

G2

Abb. 3.8.12: Freigeschnittene Systemteile

3.8 Rotationsbewegung eines starren Körpers | 285

3. Schritt: Gleichgewichtsbedingungen. ∑ Fx = 0 :

AH − CH = 0 ,

∑ Fy = 0 :

AV + CV − S1 = 0 ,

*)

+ ↺ ∑ M (A) = 0 :

−J1 φ̈ 1 + S1 r1 + CV R1 = 0 .

*)

∑ Fx = 0 :

BH + CH = 0 ,

∑ Fy = 0 :

BV − CV − S2 = 0 ,

*)

+ ↺ ∑ M (B) = 0 :

−J2 φ̈ 2 − S2 r2 + CV R2 = 0 .

*)

Klotz 1:

∑ Fy = 0 :

−G1 + m1 ẍ 1 + S1 = 0 .

*)

Klotz 2:

∑ Fy = 0 :

−G2 + m2 ẍ 2 + S2 = 0 .

*)

Trommel 1:

Trommel 2:

4. Schritt: Unbekannte und Gleichungen abzählen. Erforderlichenfalls Zusatzbedin­ gungen einführen. 12 Unbekannte: ẍ 1 , ẍ 2 , φ̈ 1 , φ̈ 2 , S1 , S2 , AH , AV , BH , BV , CH , CV , 11 Gleichungen: 3 aus Kinematik, 8 aus Gleichgewicht. Aus den drei kinematischen Gleichungen und den sechs durch *) gekennzeichne­ ten Gleichgewichtsbedingungen können die neun Größen ẍ 1 , ẍ 2 , φ̈ 1 , φ̈ 2 , S1 , S2 , AV , BV , CV , berechnet werden. Mit der Haftungsbedingung für den Kontaktpunkt C (das ist die 12-te Aussage) könnte man anschließend die erforderliche Verspann­ kraft CH sowie AH und BH berechnen. 5. Schritt: Gleichungen lösen (an Anfangsbedingungen anpassen) φ̈ 1 =

r1 G1 + r2 G2 R1 /R2 , J 1 + m1 r21 + (J 2 + m2 r22 )(R1 /R2 )2

ẍ 1 = r1 φ̈ 1 =

J 1 /r21

S1 = G1 − m1 ẍ 1 ,

G1 + G2 (r2 /r1 )(R1 /R2 ) , + m1 + (J 2 /r22 + m2 )(r2 /r1 )2 (R1 /R2 )2 S2 = G2 − m2 ẍ 2 = G2 −

r2 R1 m2 ẍ 1 . r1 R2

6. Schritt: Lösungen ausdeuten. In diesem Beispiel folgen für die Seilkräfte S1 < G1 , S2 < G2 . Die Ergebnisse gelten nicht mehr, wenn S1 oder S2 negativ werden. Frage: Kann das vorkommen?

286 | 3 Kinematik und Kinetik

Arbeit und Leistung, Energiesatz Überlegungen mit Hilfe von Arbeits- oder Leistungsbilanzen sind häufig vorteilhaft, weil die Begriffe Arbeit (Energie) und Leistung allen Teilgebieten der Physik gemein­ sam sind. Man kann damit also auch über „gemischte“ – z. B. elektro-mechanische – Systeme Aussagen machen. Wir beschränken uns hier auf die grundlegenden Defini­ tionen und Anwendungen in der Mechanik.

3.9 Arbeit und Leistung, Potential 3.9.1 Arbeit Wir übertragen die Definition der Arbeit aus Abschnitt 1.21.1 auf die in Abbildung 3.9.1 an dem Massenpunkt m angreifende Kraft F, wenn sich m längs der Bahn 1 von r 1 := r(t1 ) nach r 2 := r(t2 ) bewegt: r2

2

W12 := ∫ F ⋅ dr = ∫ F ⋅ dr . r1

1

Der Wert dieses Linienintegrals hängt im allgemeinen nicht nur von Anfangs- und Endpunkt r 1 bzw. r 2 , sondern auch vom Integrationsweg, von der Bahn, ab. (Für die Bahn 2 in Abbildung 3.9.1 könnte man also einen anderen Wert W12 erhalten als für die Bahn 1; vgl. das unten folgende Beispiel.) Nur im einfachsten Fall, daß F konstant ist und in Richtung einer geraden Bahn weist, gilt Arbeit = Kraft ⋅ Weg. Die Arbeit wird dem Massenpunkt zugeführt, wenn W12 > 0, sie wird ihm entzogen, wenn W12 < 0. Greifen an dem Massenpunkt mehrere Kräfte an, so ist die insgesamt zugeführte Arbeit gleich der Summe der Arbeiten der Einzelkräfte. Häufig ist es zweck­ mäßig, mit kartesischen Koordinaten (F x , F y , F z ) und (x, y, z) zu arbeiten. Dann gilt (x 2 ,y2 ,z2 )

W12 =



(F x dx + F y dy + F z dz) .

(x 1 ,y1 ,z1 )

Bahn 2

t2

Bahn 1 m t1

F

r r1

r2

0

Abb. 3.9.1: Arbeit einer Kraft längs einer Bahn

3.9 Arbeit und Leistung, Potential |

287

Für die Arbeit eines Momentes M, das an einem sich in einer Ebene drehenden Körper angreift (vgl. Abbildung 1.22.3), erhält man φ2

2

W12 := ∫ M dφ = ∫ M dφ . φ1

1

Beispiel zur Wegabhängigkeit der Arbeit Ein Körper vom Gewicht G soll um die Höhe h gehoben werden. Einmal geschieht dies durch eine horizontal wirkende Kraft F I längs der Bahn I von 1 über 2 nach 3, das andere Mal, Bahn II, wird er mit der Kraft F II unmittelbar von 1 nach 3 gezogen. Der Reibungskoeffizient sei stets gleich μ; 0 < μ < 1. Welche Arbeiten WI bzw. WII muß man aufbringen? h

h 3

2 FI G 1

G

FII

h

α

Abb. 3.9.2: Verschiedene Bahnen für Klotz

Lösung: Die jeweils erforderlichen Kräfte F I und F II entnehmen wir dem ersten Beispiel aus Abschnitt 1.21.2. Die dabei aufgebrachten Arbeiten lauten Weg 1-2-3 : Weg 1-3 :

1+μ 1 + 2μ − μ 2 h + Gμh = Gh , 1−μ 1−μ sin α + μ cos α 1 + 2μ WII = G 2h = 2Gh . cos α − μ sin α 2−μ

WI = G

Der Vergleich liefert WI − WII = Gh

μ(1 + μ2 ) . (1 − μ)(2 − μ)

3.9.2 Leistung Dividiert man in Abschnitt 1.22.1 die Ausdrücke für die Arbeitsinkremente infolge der Verschiebung eines Kraftangriffspunktes, ∆W = F ⋅ ∆r , und infolge der Verdrehung eines Momentenangriffspunktes, ∆W = M ⋅ ∆φ ,

288 | 3 Kinematik und Kinetik

m Bahn

v

α r

0

F

Abb. 3.9.3: Leistung einer Kraft

durch das jeweils erforderliche Zeitinkrement ∆t, so liefert der Grenzübergang ∆t → 0 rechts die Ausdrücke F ⋅ v bzw. M ⋅ ω, während links beide Male das auf das Zeitinkre­ ment bezogene Arbeitsinkrement, die Leistung (engl. power), erscheint: P = lim

∆t→0

∆W . ∆t

Die am Massenpunkt m von Abbildung 3.9.3 angreifende Kraft F führt ihm also (mo­ mentan) die Leistung P=F⋅v zu; v ist die Geschwindigkeit des Kraftangriffspunktes. Entsprechend führt ein an einem (starren) Körper angreifendes Moment M ihm die Leistung P=M⋅ω zu; ω ist die Winkelgeschwindigkeit des Körpers. Für die Vorzeichen der Leistung sowie für die Addition der Leistungen mehrerer Kräfte und Momente gelten entsprechende Aussagen wie im vorigen Abschnitt für die Arbeit. Dimension, Einheiten Dimension: dim P = dim(F ⋅ v) = dim(M ⋅ ω) = KL/T. Einheiten: [P] = 1 N m/s = 1 Watt (alt: 1 PS = 75 kpm/s). Arbeit als Zeitintegral der Leistung Setzt man die Leistung, zum Beispiel also P=F⋅v

oder

P=M⋅ω,

als Ausgangsgröße, so erhält man die Arbeit W12 als Integral der Leistung über das Zeitintervall t1 ≤ t ≤ t2 , das der (Bahn-)Bewegung entspricht: t2

W12 = ∫ P(t) dt . t1

3.9 Arbeit und Leistung, Potential

| 289

Für die Beispiele gilt dann t2

t2

W12 = ∫ F ⋅ v dt

bzw.

W12 = ∫ M ⋅ ω dt ,

t1

t1

woraus man wieder die aus Abschnitt 3.9.1 bekannten Formen herstellen kann. Solche Sicht bietet gelegentlich Verständnisvorteile, gelegentlich erscheint sie als geboten: In der Elektrotechnik ist die Leistung, sagen wir an einem Widerstand, durch das Pro­ dukt von Strom und Spannungsabfall gegeben; für die Arbeit gibt es keinen einfachen Ausdruck.

3.9.3 Potential Wir kommen auf die Arbeitsintegrale aus Abschnitt 3.9.1 zurück und fragen nach Kräften, für die die Arbeitsintegrale nur von den Bahnendpunkten und nicht von der Bahnform abhängen. Für solche Kräfte führt man den Begriff des Potentials ein, dem wir für Sonderfälle bereits im Abschnitt 2.14.2 begegneten. Beispiel: Gewichtskraft Ein Massenpunkt m bewegt sich auf einer beliebigen Bahn (Raumkurve) vom Ort r 1 zum Ort r 2 , vgl. Abbildung 3.9.4. Welche Arbeit verrichtet das Gewicht G an dem Punkt? z h1

m r1

h2

Bahn r

G r2

0

x

Abb. 3.9.4: Gewichtskraft an einem Massenpunkt

Lösung: Mit F = −e z G = const. folgt aus Abschnitt 3.9.1 r2

h2

W12 = ∫(F x dx + F y dy + F z dz) = − ∫ G dz = −G(h2 − h1 ) , r1

h1

also W12 = G(h1 − h2 ) .

290 | 3 Kinematik und Kinetik

Danach hängt die von G verrichtete Arbeit nur von h1 und h2 und nicht von der Form des Weges ab. Ist insbesondere h1 = h2 , z. B. wenn sich die Bahn schließt, so ist W12 = 0: Die während des Durchlaufens der Bahn zeitweilig dem Massenpunkt zuge­ führte Energie (Arbeit) ist wieder entzogen worden (und umgekehrt). Deshalb nennt man das Gewicht eine konservative Kraft. Schreibt man statt h2 eine variable obere Grenze z und setzt man h1 = h0 , wo h0 irgendeine bequem gewählte Bezugshöhe ist (man spricht vom Bezugsniveau), so gilt W(z) := W0z := G(h0 − z) . Man nennt W(z) Arbeitsfunktion. Die Ableitung von W(z) nach z liefert dW = −G , dz also die ursprüngliche Kraft (mit Vorzeichen!). Aus anschaulichen und formalen Gründen (s. unten und Abschnitt 3.11.2) definiert man die negative Arbeitsfunktion als Potential: z

V(z) := −W(z) = G(z − h0 ) = − ∫ F ⋅ dr . h0

Durch Differentiation erhält man dann in z-Richtung die Kraft F z = −G = −

dV , dz

die Kraft ist die negative Ableitung des Potentials nach der Koordinate z. Kräfte, wie das Gewicht, die sich durch Differentiation aus einem Potential ablei­ ten lassen, nennt man konservative Kräfte oder Kräfte mit Potential. Man kann sich das Potential V(z) als „Arbeitsvermögen“ oder gespeicherte Ener­ gie vorstellen, die man freisetzt, wenn man m vom Niveau z auf das Bezugsniveau h0 (zurück-)bringt. Potential einer allgemeinen Kraft Parallel zu obigem Beispiel setzen wir allgemein für das Potential einer Kraft F an: r

r

V(r) := V(x, y, z) = − ∫ F ⋅ dr = − ∫(F x dx + F y dy + F z dz) r0

r0 (x,y,z)

=−

∫ (x 0 ,y0 ,z0 )

(F x dx + F y dy + F z dz) .

3.9 Arbeit und Leistung, Potential

| 291

F z z0 0

Bahn

y

P

y0

x0 Abb. 3.9.5: Integrationsweg

x

Hierbei bleibt der Integrationsweg frei, vgl. Abbildung 3.9.5. Als partielle Ableitung nach x ergibt sich (bei festgehaltenen y, z) V(x + ∆x, y, z) − V(x, y, z) ∂V(x, y, z) = lim ∆x→0 ∂x ∆x 1 = − lim ∆x→0 ∆x

= − lim

∆x→0

1 ∆x

(x+∆x,y,z) (x,y,z) } { } { ∫ (F dx + F dy + F dz) − ∫ (F dx + F dy + F dz) x y z x y z } { } { (x 0 ,y0 ,z0 ) } {(x0 ,y0 ,z0 ) (x+∆x,y,z)



(F x dx + F y dy + F z dz) = −F x .

(x,y,z)

Entsprechend bildet man die Ableitungen ∂V/∂y und ∂V/∂z. Man erhält Fx = −

∂V , ∂x

Fy = −

∂V , ∂y

Fz = −

∂V . ∂z

Dies kürzt man häufig in „Operatorschreibweise“ ab: F = − grad V = − (e x

∂ ∂ ∂ + ey + ez ) V . ∂x ∂y ∂z

Damit das Potential V(x, y, z) als Funktion von (x, y, z) berechenbar ist, müssen obige Integrale vom Integrationsweg unabhängig sein. Diese Bedingung ist erfüllt, wenn ∂F x ∂F y = , ∂y ∂x

∂F y ∂F z = , ∂z ∂y

∂F z ∂F x = . ∂x ∂z

Formal folgt die Notwendigkeit dieser Beziehungen aus der Vertauschbarkeit der zwei­ ten Ableitungen von V: ∂ ∂V ∂F x ∂2 V = ( )=− ∂ x ∂ y ∂y ∂x ∂y

sowie

∂F y ∂2 V ∂ ∂V = ( )=− ∂x∂y ∂x ∂y ∂x

usw. Den Beweis, daß sie auch hinreichend sind, übergehen wir hier. Hinweis: Einfacher als mit diesem formalen Kriterium entscheidet man über die Exis­ tenz eines Potentials für eine gegebene Kraft oft mit der gleichwertigen Frage, ob die Kraft konservativ ist. Häufig gibt es darauf eine physikalisch anschauliche Antwort. (Beispiel: Warum hat eine Reibungskraft kein Potential?)

292 | 3 Kinematik und Kinetik

Arbeitsintegral für eine Kraft mit Potential Kennt man das Potential V(r) = V(x, y, z) einer Kraft F, wobei der Bezugspunkt r 0 beliebig ist, so kann man die längs einer Bahn von 1 nach 2 verrichtete Arbeit als Po­ tentialdifferenz schreiben (vgl. Abbildung 3.9.6): r2

r2

r1

W12 = ∫ F ⋅ dr = ∫ F ⋅ dr − ∫ F ⋅ dr , r1

r0

r0

also W12 = −V(r 2 ) + V(r 1 ) = V1 − V2 , mit V1 := V(r 1 ) usw.; auf Vorzeichen achten! F

Bahn 2

1 r1

r0

r2

0

Abb. 3.9.6: Arbeit einer Kraft mit Potential

Beispiel: Potential einer Federkraft Bei der Berechnung von Potentialen muß man zwischen dem Potential der zu untersu­ chenden Kraft und dem der zugehörigen Reaktionskraft klar unterscheiden, da man sonst Vorzeichenfehler begeht. In der Regel interessiert man sich für das Potential der an einem Massenpunkt oder einem Körper angreifenden (Schnitt-)Kraft, benennt es jedoch nach dem Element, das diese Kraft ausübt. (Die Begründung dazu folgt un­ ten.) Sei die Federkraft F irgendeine Funktion der Längung x gegenüber der Ausgangs­ länge l0 der entspannten Feder (vgl. Abbildung 3.9.7): F = F(x) . Aus der allgemeinen Überlegung folgt ihr Potential zu x

x

V(x) = − ∫[−F(ξ)] dξ = ∫ F(ξ) dξ . x0

x0

Ableitung nach x liefert Fx = −

∂V(x) = −F , ∂x

die Kraft F wirkt also (richtig) gegen die positive x-Orientierung auf die Masse m, vgl. Abbildung 3.9.7b.

3.9 Arbeit und Leistung, Potential |

Feder

l0 (a)

293

m x

F x

F m

(b)

Abb. 3.9.7: Kraft an Massenpunkt infolge Federlängung

Für den Fall einer linearen Feder gilt mit F = kx: x

V(x) = ∫ kξ dξ = x0

1 k(x2 − x20 ) . 2

Abbildung 3.9.8 zeigt die Deutung von V(x) als Fläche im Kraft-Auslenkungs-Dia­ gramm. F kξ V(x) 0

x0

x

ξ

Abb. 3.9.8: Deutung des Potentials als Fläche

Meistens setzt man x0 = 0 – der Bezugspunkt x0 für das Potential ist beliebig – und erhält 1 V(x) = kx2 . 2 Der Vergleich mit Abschnitt 2.14.2 zeigt, daß dieses spezielle (auf die bei x0 = 0 ent­ spannte Feder bezogene) Potential gerade gleich der Formänderungsenergie W i der Feder ist. Daher nennt man es Federpotential. Für eine Drehfeder, vgl. Abschnitt 2.13.3, kann man entsprechend herleiten: V(φ) =

1 kT φ2 ; 2

M=−

∂V = −k T φ . ∂φ

294 | 3 Kinematik und Kinetik

3.10 Die Kinetische Energie 3.10.1 Kinetische Energie des Massenpunktes Eine Punktmasse m bewegt sich unter der Einwirkung der (variablen) resultierenden Kraft F. Es gilt nach Newton m r̈ = F . m

r

v F Abb. 3.10.1: Punktmasse unter der Einwirkung einer Kraft

0

Skalare Multiplikation dieser Gleichung mit v und Integration über die Zeit von t1 bis t2 liefert t2

t2

∫ m r ̈ ⋅ v dt = ∫ F ⋅ v dt . t1

t1

Rechts steht die Arbeit W12 , die die Kraft F längs der Bahn verrichtet, auf der sich die Masse m zwischen den Zeitpunkten t1 und t2 bewegt, vgl. Abschnitte 3.9.2 und 3.9.1. Die linke Seite läßt sich mit r ̈ ⋅ v dt = v̇ ⋅ v dt = v ⋅ dv umformen; man erhält v2

t2

∫ m r ̈ ⋅ v dt = ∫ mv ⋅ dv = v1

t1

wo

v i := v(t i ) ,

Man setzt Ekin :=

󵄨󵄨v2 1 1 1 mv2 󵄨󵄨󵄨 = mv22 − mv21 , 󵄨 v 2 2 2 1 v2 = v2 = v ⋅ v . 1 2 mv . 2

Aus der Herleitung folgt, daß Ekin eine Energie (Arbeit) bedeutet. Es ist die „Ener­ gie der Bewegung“, die kinetische Energie (früher „lebendige Kraft“). Obige Gleichung lautet jetzt Ekin2 − Ekin1 = W12 . Die Ausdeutungen dieser Gleichung erfolgen im Abschnitt 3.11. Hinweis: Aus den Überlegungen in Abschnitt 3.7.2 zur Kinetik des (rein) translatorisch bewegten starren Körpers der Masse m folgt, daß auch für diesen die kinetische Ener­ gie durch 1 Ekin = mv2 2

3.11 Der Energiesatz |

295

gegeben ist (bei Translation haben alle Körperpunkte die gleiche Geschwindigkeit v, vgl. Abschnitt 3.7.1). Aufgabe: Man überprüfe Dimensionen und Einheiten.

3.10.2 Kinetische Energie bei Drehung um eine feste Achse Ein Körper dreht sich unter dem Einfluß des (variablen) resultierenden Momen­ tes M um die Achse A (senkrecht zur Zeichenebene von Abbildung 3.10.2). Nach Abschnitt 3.8.2 gilt die Bewegungsgleichung J φ̈ = M . M J A φ Abb. 3.10.2: Drehung eines starren Körpers um eine feste Achse

Dabei ist J = J A das Massenträgheitsmoment um die körperfeste Drehachse. Multipli­ kation der Bewegungsgleichung mit φ̇ und Integration über die Zeit liefert (ähnlich wie im Abschnitt 3.10.1) t2

t2

∫ J φ̈ φ̇ dt = ∫ M φ̇ dt , t1

t1

also Ekin2 − Ekin1 = W12 , wobei jetzt 1 2 1 2 J φ̇ = Jω 2 2 die kinetische Energie der Drehung (um die feste Achse A) und W12 die vom Moment M verrichtete Arbeit bedeuten. Ekin :=

3.11 Der Energiesatz Die in den Abschnitten 3.10.1 und 3.10.2 hergeleitete Beziehung Ekin2 − Ekin1 = W12 heißt Energiesatz (auch Energieerhaltungssatz). Wir deuten ihn in den folgenden Ab­ schnitten in drei Weisen aus.

296 | 3 Kinematik und Kinetik

3.11.1 Erste Form des Energiesatzes (allgemeine Form) Auflösen des Energiesatzes nach Ekin2 liefert Ekin2 = Ekin1 + W12 . Die „neue“ kinetische Energie (im Bewegungszustand 2) ist gleich der „alten“ kineti­ schen Energie (im Zustand 1) plus der von 1 nach 2 zugeführten Arbeit W 12 der äußeren Kräfte (Momente). Falls W12 < 0 ist, gilt Ekin2 < Ekin1 . Da die kinetische Energie von einem Ge­ schwindigkeitsquadrat abhängt, kann sie nie negativ werden: Ekin ≥ 0. Beispiel Gegeben: Ein Körper, Masse m, Gewicht G, rutscht eine rauhe geneigte Ebene hinab (Reibungskoeffizient μ, neigungswinkel α), vgl. Abbildung 3.11.1. Im Zustand 1 (An­ fang) hat er die Geschwindigkeit v1 . Gesucht: Geschwindigkeit v2 , nachdem er um die Strecke l gerutscht ist.

1 l

v1 G

2 v2

m µ

α Abb. 3.11.1: Bewegung eines Körpers auf schiefer Ebene

Lösung (mit Energiesatz): Kinetische Energien: Ekin1 = 12 mv21 , Ekin2 = 12 mv22 . Arbeit: Die Arbeit W12 setzt sich aus den Arbeiten aller am Körper angreifenden Kräfte zusammen. Da sich die Geometrie des Schnittbildes (Abbildung 3.11.2) während der Bewegung nicht ändert und μ nicht von der Geschwindigkeit abhängt, gilt nach Abschnitt 3.9.1: W12 = lG sin α − lR .

R Gsinα N Gcosα

Abb. 3.11.2: Kräfte auf Körper

3.11 Der Energiesatz

| 297

Die Kräfte N und G cos α stehen senkrecht auf der Bewegungsrichtung und liefern deshalb keinen Beitrag zu W12 (vgl. Skalarprodukt in Abschnitt 3.9.1). Mit N = G cos α und R = μ N folgt W12 = lG(sin α − μ cos α) . Der Energiesatz liefert 1 2 1 2 mv = mv + lG(sin α − μ cos α) . 2 2 2 1 Daraus ergibt sich v2 = √v21 + 2lg(sin α − μ cos α) . Das positive Vorzeichen folgt aus der Bedingung v2 = v1 für l = 0. Ist (sin α − μ cos α) > 0, so gilt v2 ≥ v1 . Ist (sin α − μ cos α) < 0, so gilt v2 ≤ v1 ; der Körper kommt dann zum Stillstand. Bedingung dafür ist v2 = 0; er hat dann die Strecke l∗ := v21 /[2g(μ cos α − sin α)] zurückgelegt. (Vgl. die andere Vorgehensweise beim selben Beispiel in Abschnitt 3.5.5.)

3.11.2 Zweite Form des Energiesatzes (gilt nur für konservative Systeme) Haben alle am System angreifenden Kräfte Potentiale, so kann man sie zu einem Po­ tential V zusammenfassen, und nach Abschnitt 3.9.3 gilt W12 = V1 − V2 . Mit diesem Ausdruck folgt aus dem Energiesatz Ekin2 − Ekin1 = W12 = V1 − V2 . Faßt man zum selben Zeitpunkt gehörende Glieder zusammen, so erhält man mit der Umbenennung des Potentials V in potentielle Energie, Epot := V, durch Umstellen Ekin2 + Epot2 = Ekin1 + Epot1 . Die Summe von kinetischer Energie und potentieller Energie ist konstant. Deshalb hei­ ßen solche Systeme konservativ (Energie bewahrend). Man definiert als mechanische Energie. E := Ekin + Epot . Dann lautet obige Aussage: Bei einem konservativen System bleibt die mechanische Energie konstant.

298 | 3 Kinematik und Kinetik

Beispiel Gegeben: Punktkörper, Masse m, Gewicht G, ist mit Faden (Länge L) an Feder (Stei­ figkeit k, entspannte Länge l0 ) gehängt, Abbildung 3.11.3. Gesucht: Die Feder wird um x1 (x1 > 2G/k) gezogen und dann losgelassen. Auf welche Höhe h springt der Körper?

2

k

l0

h x1 x l

(b)

m 1 (a)

Abb. 3.11.3: Punktkörper an Faden und Feder

G

Lösung (mit Energiesatz): Aus der Aufgabenstellung folgt wegen v1 = v2 = 0 auch Ekin2 = Ekin1 = 0. Mithin gilt Epot2 = Epot1 . Als Bezugsniveau wählen wir x = 0. Dann gilt (vgl. Abschnitt 3.9.3) 1 kx1 2 , 2 (falls Faden schlaff wird!) .

für den Zustand 1:

Epot1 = V1 = −G(L + x1 ) +

für den Zustand 2:

Epot2 = V2 = Gh

Man erhält Gh = −G(L + x1 ) +

1 kx1 2 , 2

also

1k 2 x1 . 2G Man bestätige, daß für x1 > 2G/k der Faden schlaff wird (die Bedingung lautet h > −L). Wie sehen Rechnung und Ergebnis aus, wenn man den Ort von m in Zu­ stand 1 als Bezugspunkt für V und die Höhenmessung wählt? h = −(L + x1 ) +

3.11.3 Dritte Form des Energiesatzes (gilt für beliebige Systeme) Wir nehmen an, daß die am System angreifenden Kräfte (und Momente) aus konserva­ tiven Kräften – mit dem Potential V – und aus restlichen Kräften bestehen; für letztere

3.11 Der Energiesatz |

299

schreiben wir nur eine an und nennen sie F r . Die restlichen Kräfte können zum Bei­ spiel dissipativ sein (d. h. Energie „zerstreuen“, etwa in Wärme umwandeln) und des­ halb kein Potential besitzen (hierher gehören alle Reibungskräfte), oder es handelt sich um Kräfte, deren Potentiale nicht bekannt sind. Dann gilt nach Abschnitt 3.9.1 und 3.9.3 r W12 = V1 − V2 + W12 . Darin erfaßt V1 − V2 die von den (bekannten) konservativen Kräften verrichtete Arbeit und 2

r W12

= ∫ F r ⋅ dr 1

steht für die Arbeit aller restlichen Kräfte. Aus dem Energiesatz folgt r Ekin2 − Ekin1 = W12 = V1 − V2 + W12

und, vgl. Abschnitt 3.11.2, r Ekin2 + Epot2 = Ekin1 + Epot1 + W12 ,

also r . E2 = E1 + W12

Die mechanische Energie im „neuen“ Zustand (Zustand 2) ist gleich der „alten“ mecha­ nischen Energie (Zustand 1) plus der von 1 nach 2 zugeführten Arbeit der im Potential V ≡ Epot nicht berücksichtigten restlichen Kräfte. Hinweis: Die Arbeitsüberlegungen in Abschnitt 2.14.2 sind in dieser Energieaussage enthalten. Da dort keine (schnellen) Bewegungen vorkommen, entfällt Ekin , obige En­ ergieaussage lautet also r Epot2 = Epot1 + W12 . Ausgangszustand 1 ist das unbelastete System mit Epot1 = 0. Am Ende von Ab­ schnitt 3.9.3 hatten wir die Formänderungsenergie W i bereits mit dem Potential r V2 = Epot2 identifiziert. Die Arbeit W12 ist gleich der Arbeit W a der äußeren Kräf­ te vom Ausgangszustand 1 bis zum Lastzustand 2. Also ist die Aussage W i = W a in Abschnitt 2.14.2 nur eine spezielle Form des allgemeinen Energiesatzes. Beispiel Gegeben: Ein mathematisches Pendel (Punktmasse m, Gewicht G, Stangenlänge l), das „überschlagen“ kann, hat im Punkt 1 eine (Bahn-)Geschwindigkeit v0 ; vgl. Abbil­ dung 3.11.4. Gesucht: Wie groß muß ein im Winkelbereich 0 ≤ φ ≤ π auf das Pendel wirkendes konstantes Moment M sein, damit die Punktmasse bei der Ankunft im obersten Punkt der Bahn (Punkt 3) wieder die Geschwindigkeit v0 hat?

300 | 3 Kinematik und Kinetik 3 M

l

φ

1 m G

2

Abb. 3.11.4: Überschlagendes Pendel

Lösung (mit Energiesatz): Es gilt, vgl. Abbildung 3.11.4, für den beliebigen Punkt 2 (Winkel φ) und für Punkt 3: r E2 = E1 + W12

bzw.

r E3 = E1 + W13 .

In E berücksichtigen wir die kinetische Energie und das Potential (Lageenergie) des Gewichtes. Die vom Moment M geleistete Arbeit berücksichtigen wir in W r . Mit Punkt 1 als Bezugslage für das Potential gilt V(φ) = Gl(1 − cos φ) . Für die kinetische Energie erhält man Ekin1 =

1 mv21 , 2

Ekin2 =

v1 := v0 ;

1 2 mv , 2

v2 = v(φ) =: v .

Mit der Arbeit des Momentes φ r W12

= ∫ M dϕ = Mφ 0

liefert der Energiesatz für den Punkt 2: 1 1 2 mv + Gl(1 − cos φ) = mv20 + Mφ . 2 2 Für Zustand 3 gilt mit φ = π, v(π) = v0 : 1 2 1 mv + G l 2 = mv20 + Mπ ; 2 0 2 man erhält das gesuchte Moment M zu M=

2 Gl . π

Setzt man M = 2Gl/π in den Energiesatz für den Punkt 2 ein, so folgt 1 2 1 2 mv + mgl(1 − cos φ) = mv20 + φ m g l , 2 2 π

3.11 Der Energiesatz |

301

also

4 φgl − 2gl(1 − cos φ) . π Dieser Ausdruck hat ein Minimum bei φ∗ = arcsin(2/π) ≈ 140,5°, nämlich v2 = v20 +

v2min = v20 − 0,421gl . Ist v20 < 0,421gl, so wird v2min negativ, das oben berechnete Moment reicht nicht aus, um das Pendel bis zum Winkel φ∗ zu bringen: Die einfache, nur auf die Punkte 1 und 3 ausgerichtete Energiebetrachtung liefert für diesen Fall ein falsches Ergebnis. Die un­ bedachte Anwendung des Energiesatzes kann also zu falschen Aussagen führen!

3.11.4 Der Energiesatz für zusammengesetzte Systeme; Beispiel Die drei Formen des Energiesatzes nach Abschnitt 3.11.1, 3.11.2 und 3.11.3 gelten auch für aus mehreren Teilen zusammengesetzte Systeme, denn man kann sie zerlegen, für die Teilsysteme die Energieaussagen einzeln formulieren und dann addieren. Dabei heben sich die Arbeitsanteile aller Zwangskräfte zwischen den Teilsystemen heraus, denn als Aktion und Reaktion unterliegen sie den gleichen Verschiebungen (es ver­ bleiben lediglich die Arbeiten der eingeprägten Kräfte). Man erhält zum Beispiel r E2 = E1 + W12

mit

E = Ekin + Epot .

Dabei sind für Ekin die Summen aus den Beiträgen der verschiedenen Körper nach Ab­ r die Arbeiten schnitt 3.10.1 und 3.10.2 einzusetzen, Epot enthält alle Potentiale und W12 aller restlichen (eingeprägten) Kräfte. Beispiel Gegeben: System nach Abbildung 3.11.5; Massen m1 , m2 ; Gewichte G1 , G2 ; Trägheits­ moment J, Radius r, Federsteifigkeit k, Drehsteifigkeit k T (beide Federn bei x = 0 ent­ spannt), neigungswinkel α, Reibungskoeffizient μ, Anfangsbedingungen x(0) = 0, ̇ x(0) = v0 > 0, die Seile S1 und S2 sind undehnbar. Gesucht: Geschwindigkeit v(x) für v > 0. kT J m1

x k

G1

S1

r µ

S2 m2 G2

Abb. 3.11.5: Zusammengesetztes System

302 | 3 Kinematik und Kinetik

Lösung (mit Energiesatz): Die Bewegungen aller Körper des Systems lassen sich durch die eine Koordinate x aus­ drücken, das System hat den Freiheitsgrad f = 1. Kinetische Energie: Ekin =

1 1 1 ẋ 2 m1 ẋ 2 + m2 ẋ 2 + J ( ) . 2 2 2 r

Potentielle Energie (bezogen auf x = 0): Epot =

1 2 1 x 2 kx + k T ( ) + G1 x sin α − G2 x . 2 2 r

̇ Arbeit der Reibungskraft (R wirkt gegen x): r W12 = −xμG1 cos α ,

solange

ẋ > 0 .

Energiesatz: J 1 kT 1 (m1 + m2 + 2 ) v2 + (k + 2 ) x2 + G1 x sin α − G2 x 2 2 r r J 1 = (m1 + m2 + 2 ) v20 − μG1 x cos α . 2 r Hieraus folgt v(x). Wegen der Anfangsbedingungen v0 > 0 muß auch das positive Vorzeichen für v(x) gewählt werden. Die Lösung gilt für 0 ≤ x ≤ x∗ , wo x∗ die erste Nullstelle von v(x) ist. Aufgabe: Im betrachteten Beispiel schneide man die Seile 1 und 2, führe die Schnitt­ kräfte S1 bzw. S2 ein und schreibe die Energieaussagen für die Körper m1 , m2 und J an. Man zeige, daß beim Addieren der Energien die Ausdrücke mit S1 und S2 herausfallen und nur der „Energiesatz“ übrigbleibt.

3.11.5 Das Aufstellen von Bewegungsgleichungen für Systeme mit einem Freiheitsgrad über den Energiesatz Wenn man den Energiesatz für zeitabhängiges x = x(t) = x2 (t) anschreibt (Zustand 2 in den Beispielen in Abschnitt 3.11.3 und 3.11.4), so gilt bei Systemen mit einem Frei­ heitsgrad x

E2 ≡ E(x, x)̇ = E1 + ∫ F x dξ . x1

Hier sind alle Ausschläge durch die Koordinate x(t) – dies kann auch ein Winkel ̇ ausgedrückt. Der Ausdruck F x enthalte sein – und alle Geschwindigkeiten über x(t) alle Kraft- und Momentenanteile, die nicht im Potential enthalten sind, und sei so geschrieben, daß F x ẋ die dem System zugeführte Leistung dieser Kräfte darstellt.

3.11 Der Energiesatz

| 303

̇ Da x = x(t) und ẋ = x(t), können wir den Energiesatz nach t differenzieren und erhalten aus dE/dt ∂E ∂E ẋ + ẍ = F x ẋ . ∂x ∂ ẋ Weil E quadratisch von der Geschwindigkeit ẋ abhängt, tritt in ∂E/∂ ẋ ein linearer Fak­ tor ẋ auf; man kann ẋ aus der ganzen Gleichung herauskürzen und erhält die Bewe­ gungsdifferentialgleichung. Beispiel Als Beispiel betrachten wir das System nach Abschnitt 3.11.4 und fragen nach der Be­ wegungsgleichung für den Fall, daß am Körper m2 eine zusätzliche Kraft F – nach unten gerichtet – angreift. Der Energiesatz lautet, vgl. Abschnitt 3.11.4: 1 kT J 1 (m1 + m2 + 2 ) v2 + (k + 2 ) x2 + G1 x sin α − G2 x 2 2 r r x

= E1 + ∫(−μG1 cos α + F) dξ . x1

Die Ableitung nach t liefert (m1 + m2 +

J kT ̇ 1 cos α + F ẋ . ) v v̇ + (k + 2 ) x ẋ + G1 ẋ sin α − G2 ẋ = −μ xG 2 r r

Daraus folgt mit v = x:̇ ẍ +

k + k T /r2 G2 + F − G1 (sin α + μ cos α) x= . m1 + m2 + J/r2 m1 + m2 + J/r2

Wegen der Coulombschen Reibung gilt diese Gleichung nur für ẋ > 0. Hinweis: Energieüberlegungen liefern eine (skalare) Aussage. Deshalb kann man da­ mit nur Systeme mit einem Freiheitsgrad vollständig erfassen (vgl. obiges Beispiel). Bei Systemen mit mehreren Freiheitsgraden bietet die Energiebilanz im allgemeinen nur eine Kontrollmöglichkeit für auf anderem Wege gefundene Aussagen, es sei denn, man diskutiert Energievariationen bei Variationen von Bewegungen (vgl. Abschnitt 1.22 und den zweiten Satz von Castigliano in Abschnitt 2.14.3) oder bei Variationen von Kräften (vgl. den ersten Satz von Castigliano in Abschnitt 2.14.3). Auf solchem Wege gelangt man in der Kinetik zu den Lagrangeschen Gleichungen 2. Art und kann dann auch Systeme mit mehreren Freiheitsgraden vollständig erfassen (vgl. ein Lehrbuch der „Analytischen Mechanik“).

304 | 3 Kinematik und Kinetik

Impulssatz und Drallsatz für den Massenpunkt 3.12 Der Impulssatz 3.12.1 Herleitung Eine Punktmasse m bewegt sich unter der Einwirkung der (variablen) resultierenden Kraft F, s. Abbildung 3.12.1. Nach Newton gilt m r̈ = F

t2

m

t1

m v̇ = F .

oder

v r 0

F Abb. 3.12.1: Punktmasse unter der Einwirkung einer Kraft

In Abschnitt 3.10.1 haben wir diese Gleichung mit der Geschwindigkeit v multipliziert und über die Zeit integriert: Wir erhielten den Energiesatz. Jetzt integrieren wir die zweite Form der Newtonschen Gleichung unmittelbar über die Zeit t zwischen den Grenzen t1 und t2 , t2

t2

∫ m v̇ dt = ∫ F dt , t1

t1

und erhalten den Impulssatz: t2

mv 2 − mv1 = ∫ F dt . t1

Um den physikalischen Gehalt dieser „Formel“ zu erfassen, brauchen wir zwei neue Begriffe. Der erste wird durch die Größe t2

I = I(t1 , t2 ) := ∫ F dt t1

definiert. Diese Größe heißt Kraftstoß (engl. impulse); man schreibt auch F̂ statt I. Die zweite Größe, p = p(t) := mv , heißt Bewegungsgröße (engl. momentum) und (leider oft, auch im Normblatt DIN 1304) Impuls.

3.12 Der Impulssatz |

305

Dimension dim p = dim I = ML/T. Mit p 1 := p(t1 ), p 2 := p(t2 ) lautet nun der Impulssatz p2 = p 1 + I . Die „neue“ Bewegungsgröße ist gleich der „alten“ Bewegungsgröße plus dem Kraft­ stoß. Der Impulssatz ist ein vektorielles Gesetz und daher drei skalaren Aussagen gleich­ wertig. Bei kartesischer Basis (e x , e y , e z ) gilt mit p = e x p x + e y p y + e z p z = e T p, I = e x I x + e y I y + e z I z = e T I: p2 = p1 + I

p x2 p x1 Ix (p y2 ) = ( p y1 ) + (I y ) . p z2 p z1 Iz

oder

Hinweis: Schreibt man p2 und I für eine variable obere Grenze t2 = t an und diffe­ renziert nach dieser, so folgt das Newtonsche Gesetz in der von Newton ursprünglich angegebenen Form: dp =F. dt Die Kraft ist gleich der Zeitableitung der Bewegungsgröße (gleich ihrer Änderungsge­ schwindigkeit).

3.12.2 Veranschaulichung des Impulssatzes im eindimensionalen Fall In Abbildung 3.12.2 liegt die Punktmasse m auf einer glatten Unterlage, in x-Richtung wirkt die (resultierende) Kraft F. (Den Index x lassen wir weg, weil nur eine Richtung zu betrachten ist.) x m F

glatt Abb. 3.12.2: Punktmasse auf glatter Unterlage

Die Impulsaussage in x-Richtung lautet p2 = p1 + I

oder

mv2 = mv1 + I .

Der Kraftstoß I über das Zeitintervall t1 ≤ t ≤ t2 wird in Abbildung 3.12.3 durch die Fläche zwischen der t-Achse, der Kurve F(t) und den Intervallgrenzen – mit Beachtung der Vorzeichen – wiedergegeben.

306 | 3 Kinematik und Kinetik

F

I + t1

+ –

0



t

t2

Abb. 3.12.3: Kraftverlauf über der Zeit

Beispiel: Tennisball Ein Tennisball, Masse m, Gewicht G, wird gemäß Abbildung 3.12.4 periodisch hochge­ schlagen [x(t) ist eine periodische Funktion, x(t + T) = x(t), T Periode]. Der Schläger treffe stets bei x = 0 mit derselben Geschwindigkeit auf den Ball. m

G

x

Abb. 3.12.4: Tennisball und Schläger

Schläger

Dann wirken auf den Ball das Gewicht G (gegen x) und die Schlägerkraft S(t) nach Abbildung 3.12.5. Wir wählen die Zeitpunkte t1 und t2 = t1 + T wie in der Abbildung gezeigt. Dann gilt v2 = v1 , und aus dem Impulssatz I = mv2 − mv1 = 0 folgt

t 1 +T

I = ∫ (−G + S) dt = −GT + Ŝ = 0 , t1

also

Ŝ = GT .

Kennt man die Stoßdauer ∆t, so kann man bei einem S-Verlauf, wie in Abbildung 3.12.5 gezeigt, den Maximalwert Smax aus Ŝ ≈ ∆t Smax zu Smax ≈ G (T/∆t) abschätzen. G

∆t

m

Smax S

0 –G

2T

S

t2

t1 T

S(t)

3T

4T

5T

t

Abb. 3.12.5: Zeitlicher Verlauf der Kräfte auf den Tennisball

3.12 Der Impulssatz | 307

3.12.3 Plastischer Stoß Gegeben: Zwei Punktmassen m1 , m2 rutschen auf einer glatten, horizontalen Ebene mit den Geschwindigkeiten v1 bzw. v2 , (v1 > v2 ), vgl. Abbildung 3.12.6. Sie treffen auf­ einander, werden plastisch verformt, verhaken sich, bleiben aneinander haften und bewegen sich mit der gemeinsamen Geschwindigkeit v weiter. Man nennt einen sol­ chen Vorgang plastischen Stoß. Gesucht: Geschwindigkeit v.

v1

v2 m1

(a)

glatt

m2

v m1

m2 Abb. 3.12.6: Plastischer Stoß

(b)

Lösung (mit Impulssatz): Der Impulssatz wird für die beiden Massen m1 , m2 getrennt angeschrieben; die Zeit­ punkte tv und tn werden vor den Beginn des Stoßes bzw. hinter (nach) dessen Ende ge­ legt. Während der Stoßdauer gilt das in Abbildung 3.12.7a dargestellte Schnittbild (Ver­ tikalkräfte nicht gezeichnet). Der zugehörige Kraftverlauf F(t) ist in Abbildung 3.12.7b nur qualitativ wiedergegeben, da der genaue Verlauf für die betrachtete Aufgabe nicht bekannt zu sein braucht. Der Impulssatz liefert (auf Vorzeichen achten!) für die Masse m1 :

m1 v − m1 v1 = −I ,

für die Masse m2 :

m2 v − m2 v2 = I .

Daraus folgt v=

m1 v1 + m2 v2 . m1 + m2

Aufgabe: Welche mechanische Energie geht bei dem Stoß verloren? v F

(a)

F

m1

m1 F

(b) 0

Abb. 3.12.7: Schnittbild und Kraftverlauf

tv

tn

t

308 | 3 Kinematik und Kinetik

3.12.4 Elastischer Stoß Wir betrachten dasselbe Beispiel wie in Abschnitt 3.12.3, nehmen jetzt aber an, daß nach dem Stoß die Körper sich wieder voneinander lösen und die mechanische Ener­ gie die gleiche ist wie vor dem Stoß. Das setzt elastische Verformungen voraus, des­ halb spricht man vom elastischen Stoß. Die Geschwindigkeiten vor dem Stoß bezeich­ nen wir mit v1v bzw. v2v . Gesucht sind für die Massen m1 und m2 die Geschwindigkeiten v1n bzw. v2n nach dem Stoß. Lösung (mit Impuls- und Energiesatz): Der Impulssatz liefert (vgl. Lösung in Abschnitt 3.12.3): m1 v1n − m1 v1v = −I , m2 v2n − m2 v2v = I . Addition der beiden Gleichungen ergibt m1 (v1n − v1v ) + m2 (v2n − v2v ) = 0 . Da der Stoß elastisch ist, bleibt die mechanische Energie erhalten; da die potentielle Energie vor und nach dem Stoß die gleiche ist, bleibt sogar die kinetische Energie erhalten: Ekin, nach Stoß = Ekin, vor Stoß , 1 1 1 1 m1 v21n + m2 v22n = m1 v21v + m2 v22v . 2 2 2 2 Aus den beiden Gleichungen kann man v1n , v2n berechnen, denn man hat zwei Glei­ chungen für zwei Unbekannte. Um die Verhältnisse anschaulich erfassen zu können, gehen wir dabei indirekt vor und führen als Hilfsgrößen Relativgeschwindigkeiten ein: Umstellen der Impulsund der Energieaussage liefert m1 (v1n − v1v ) = −m2 (v2n − v2v ) , 1 1 m1 (v21n − v21v ) = − m2 (v22n − v22v ) . 2 2 Division der zweiten Gleichung durch die erste führt auf v1n + v1v = v2n + v2v

oder

v2n − v1n = −(v2v − v1v ) .

Links steht die Relativgeschwindigkeit von m2 gegenüber m1 nach dem Stoß, vrel,n := v2n − v1n , rechts steht die negativ genommene Relativgeschwindigkeit vor dem Stoß, vrel,v := v2v − v1v .

3.13 Der Drallsatz (Drehimpuls-Satz) | 309

Demnach gilt vrel,n = −vrel,v . Beim elastischen Stoß wechselt die Relativgeschwindigkeit ihr Vorzeichen. Zusammen mit dem Impulssatz liefert diese Beziehung v1n =

2m2 v2v + (m1 − m2 )v1v , m1 + m2

v2n =

2m1 v1v + (m2 − m1 )v2v . m1 + m2

Aufgaben: Deuten Sie diese Gleichungen aus, zum Beispiel für m1 = m2 , für m2 /m1 → ∞, für v2v = 0 usw. Welcher Impuls I wird in jedem Fall übertragen? Wie sieht das Verhältnis zwischen den Relativgeschwindigkeiten beim plastischen Stoß aus?

3.12.5 Hinweis auf reale Stöße; Stoßzahl „Reale Stöße“ liegen zwischen den plastischen und elastischen. Man benutzt zu ihrer Untersuchung den Impulssatz und schreibt als zweite Bedingung für die Relativge­ schwindigkeiten den Ausdruck vrel,n ≡ v2n − v1n = −evrel,v ≡ −e (v2v − v1v ) an. Darin ist e die sogenannte Stoßzahl; es gilt 0 ≤ e ≤ 1, wobei e = 0 den plastischen und e = 1 den elastischen Stoß kennzeichnet. Die mit der Stoßzahl berechneten Ge­ schwindigkeiten kann man in manchen Fällen nur als grobe Näherung werten, denn es gibt Stöße in konservativen Systemen, denen eine Stoßzahl e = 0 entspricht. Ge­ wisse Phänomene, wie „Prallschläge“, lassen sich mit Stoßzahlen gar nicht erfassen. Man darf in allen diesen Fällen nicht mehr „starre Körper“ als Modelle annehmen.

3.13 Der Drallsatz (Drehimpuls-Satz) 3.13.1 Herleitung Eine Punktmasse m bewegt sich unter der Einwirkung der resultierenden Kraft F, s. Abbildung 3.13.1. Jetzt multiplizieren wir das Newtonsche Gesetz m v̇ = F von links vektoriell mit r und bilden das Zeitintegral zwischen den Grenzen t1 und t2 : t2

t2

∫ m(r × v)̇ dt = ∫(r × F) dt . t1

t1

310 | 3 Kinematik und Kinetik t2

m

t1

v r

F Abb. 3.13.1: Punktmasse unter der Einwirkung einer Kraft

0

Das Produkt r × F rechts ist das Moment M um den Bezugspunkt 0, vgl. Abschnitt 1.9.1. Also ist (analog zum Begriff des Kraftstoßes in Abschnitt 3.12.1) t2

t2

H = H(t1 , t2 ) := ∫(r × F) dt = ∫ M dt t1

t1

der Drehstoß (engl. angular impulse). Man schreibt auch M̂ statt H; in Analogie zu Kraftstoß sagen wir auch Momentenstoß. ̇ Links folgt mit (r × v)⋅ = (r ̇ × v) + (r × v)̇ = (r × v): t2

∫ m(r × v)⋅ dt = m(r 2 × v2 ) − m(r 1 × v1 ) . t1

Als neue physikalische Größe definiert man den Drall (auch Drehimpuls genannt, vgl. DIN 1304) L = L(t) := m(r × v) = r × (mv) = r × p , wobei p die Bewegungsgröße aus Abschnitt 3.12.1 ist. Die zuletzt genannte Form in­ terpretiert man anschaulich als „Moment der Bewegungsgröße p“ (engl. moment of momentum). Das oben angeschriebene Zeitintegral liefert nun L2 = L 1 + H . Das ist der Drallsatz: Der „neue“ Drall ist gleich dem „alten“ plus dem Momentenstoß. Der Drallsatz ist ein vektorielles Gesetz und daher drei skalaren Aussagen gleich­ wertig. Bei kartesischer Basis (e x , e y , e z ) gilt mit L = e x L x + e y L y + e z L z = eT L, H = e x H x + e y H y + e z H z = eT H: L2 = L1 + H

oder

L x1 Hx L x2 (L y2 ) = (L y1 ) + (H y ) . L z2 L z1 Hz

Hinweis: Schreibt man L 2 und H für eine variable obere Grenze t2 = t an und diffe­ renziert, so folgt der Momentensatz dL =M. dt Die Zeitableitung des Dralls ist gleich dem Moment.

3.13 Der Drallsatz (Drehimpuls-Satz) | 311

3.13.2 Beispiel Gegeben: Eine Punktmasse m läuft – gehalten von einem Faden – auf einem Kreis vom Radius r1 mit der Geschwindigkeit v1 auf einer horizontalen glatten Unterlage mit dem Normalenvektor e um, vgl. Abbildung 3.13.2. Gesucht: Geschwindigkeit v2 , wenn der Faden verkürzt wird, so daß m auf einem Kreis vom Radius r2 umläuft.

glatt

e

m

F

(a) v2 r2 0

v1 r1 Abb. 3.13.2: Umlaufende Punktmasse

(b)

Lösung (mit Drallsatz): Sei 0 der feste Bezugspunkt und seien r 1 , r 2 die jeweiligen Vektoren von 0 zur umlau­ fenden Punktmasse m, s. Abbildung 3.13.2b. Dann beträgt der Drall für Kreis 1:

L 1 = r 1 × (mv 1 ) = e mr1 v1 ,

für Kreis 2:

L 2 = r 2 × (mv 2 ) = e mr2 v2 .

Aus dem Drallsatz folgt L2 = L1 + H . Die an der Masse angreifende Fadenkraft F erzeugt kein Moment um 0: M = O. Damit folgt L2 = L 1 , also r1 r1 2 v2 = v1 oder ω2 = ( ) ω1 , r2 r2 wo rechts die Winkelgeschwindigkeiten ω1 = v1 /r1 , ω2 = v2 /r2 stehen.

3.13.3 Der Flächensatz (2. Keplersches Gesetz) In Abbildung 3.13.3 bewege sich der Massenpunkt m unter der Wirkung einer stets auf den Punkt 0 gerichteten (nicht gezeichneten) „Zentralkraft“ Z. Dann ist der Drall L = r × (mv) von m um 0 konstant, denn Z bewirkt kein Moment. Wir deuten dies geo­ metrisch:

312 | 3 Kinematik und Kinetik ∆A

v∆t

0 r

m Bahn

Abb. 3.13.3: Vom Fahrstrahl überstrichenes Flächenelement

Während des (kleinen) Zeitintervalls ∆t durchläuft der Massenpunkt die Strecke v ∆t, Abbildung 3.13.3. In dieser Zeit überstreicht der Fahrstrahl von 0 nach m – der Vektor r – die Dreiecksfläche ∆A = (1/2)|r × v| ∆t; der Vektor ∆A =

1 r × v ∆t 2

erfaßt die Fläche ∆A und ihre Normale. Man erhält nach Division durch ∆t, Grenz­ übergang ∆t → 0 und Umformung die Flächengeschwindigkeit Ȧ zu 1 L dA 1 = r×v= r × (mv) = . Ȧ = dt 2 2m 2m Unterliegt ein Massenpunkt allein einer Zentralkraft, so ist seine Flächengeschwin­ digkeit konstant (2. Keplersches Gesetz).

Kinetik des Punkthaufens Unter einem Punkthaufen versteht man eine endliche oder auch unendliche Anzahl von Punktmassen m i .

3.14 Annahmen, Schwerpunktsatz, Impulssatz 3.14.1 Annahmen Die Bewegung der Punktmassen m i gegenüber dem festen Bezugspunkt 0 werde durch die Ortsvektoren r i (t) beschrieben, Abbildung 3.14.1. Zwischen den Punktmassen wir­ ken innere Kräfte F ij , von „außen“ wirken äußere Kräfte F i : F ij Kraft auf m i von m j herrührend, F i Resultierende aller an m i angreifenden äußeren Kräfte. Für die F ij sollen gelten: a) F ij = −F ji (Reaktionsgesetz; für i = j folgt daraus F ii = O). b) die F ij sind parallel zu den Verbindungsgeraden der Massen m i und m j , also gilt F ij × (r i − r j ) = 0. Experimentell hat man noch keine Kräfte gefunden, die diese Bedingungen verletzen.

3.14 Annahmen, Schwerpunktsatz, Impulssatz |

313

Für jede der Massen m i gilt das Newtonsche Gesetz in der Form m i a i = F i + ∑ F ij . j

Es muß stets über alle Indizes der dem Punkthaufen zugerechneten Massen summiert werden (hier also über alle j)! F1 m1 r1

F12 F13 S rS r2

0

r3

F21

F31

m2 F23 F32

F2 F3

m3

Abb. 3.14.1: Punkthaufen

3.14.2 Schwerpunktsatz Summation der Bewegungsgleichungen liefert ∑ m i r ̈i = ∑ F i + ∑ ∑ F ij . i

i

i

j

Nach Abschnitt 1.16.3 hat der Schwerpunkt (Massenmittelpunkt!) S des Punkthaufens die Koordinate 1 rS = ∑ r i m i , wo m := ∑ m i . m i i Die Beziehung gilt auch für zeitabhängige r i (t), also einen bewegten Schwerpunkt, r S = r S (t). Differenziert man die letzte Gleichung zweimal nach t, so folgen m r ̇S = ∑ m i r ̇ i ,

m r S̈ = ∑ m i r ̈i .

i

i

Dies kann man in die Summe der Bewegungsgleichungen links einsetzen. Rechts he­ ben sich wegen der Annahme a) aus Abschnitt 3.14.1 die in der Doppelsumme stehen­ den Kräfte auf. Man erhält m r S̈ = F , wo

F := ∑ F i , i

m := ∑ m i . i

Dies ist der Schwerpunktsatz: Der Schwerpunkt eines Punkthaufens bewegt sich so, wie wenn die gesamte Masse in ihm vereinigt wäre und die Resultierende aller (äuße­ ren) Kräfte an ihm angriffe.

314 | 3 Kinematik und Kinetik

Beispiel: Raumschiff Das in Abbildung 3.14.2a gezeigte antriebslose Raumschiff, das sich längs einer gera­ den Bahn ohne Einwirkung äußerer Kräfte bewegt, stößt einen Körper ab (vgl. Abbil­ dung 3.14.2b). Da das Abstoßen durch innere Kräfte verursacht wird, bewegt sich der Gesamtschwerpunkt S auf der ursprünglichen Bahn weiter.

S

S

Bahn des Schwerpunktes

(b)

(a)

Abb. 3.14.2: Raumschiff stößt Körper ab

Beispiel: Schlitten Zustand 1: Ein Kind sitzt vorn auf seinem Schlitten, der Schwerpunkt des Gesamtsys­ tems liegt bei S1 in Ruhe; Abbildung 3.14.3a. Zustand 2: Das Kind hat sich auf das hintere Schlittenende gesetzt (ohne den Boden zu berühren), der Schwerpunkt des Gesamtsystems liegt bei S2 in Ruhe, Ab­ bildung 3.14.3b. Da keine horizontalen äußeren Kräfte wirkten, hat sich der System­ schwerpunkt nicht horizontal bewegt.

1 glatt

S1 (a) 2 S2 (b)

Abb. 3.14.3: Schlitten auf glattem Boden

3.14.3 Impulssatz Aus dem Schwerpunktsatz folgt parallel zu Abschnitt 3.12.1 für den Punkthaufen der Impulssatz: pges2 = pges1 + I .

3.14 Annahmen, Schwerpunktsatz, Impulssatz | 315

Dabei steht pges für die Gesamtbewegungsgröße, pges := ∑ m i v i = ∑ p i = mvS i

(p i := m i v i

Bewegungsgröße von m i ) ,

i

und I für den Gesamt-Kraftstoß t2

t2

I = ∫ F dt = ∫ ∑ F i dt = ∑ I i . t1

t1

i

i

Da Schwerpunktsatz wie Impulssatz Vektorform haben, kann man sie „gerichtet“ le­ sen! Den Schwerpunktsatz m r S̈ = F kann man analog zum Newtonschen Gesetz in Abschnitt 3.12.1 auch mit der Bewegungsgröße anschreiben: ṗ ges = F . Erhaltung der Bewegungsgröße Für F = O gilt pges = const.: Wirken keine äußeren Kräfte auf das System, so bleibt die Bewegungsgröße erhalten. Ist im Sonderfall der Schwerpunkt zu Anfang in Ruhe, so bleibt er in Ruhe (vgl. das Schlitten-Beispiel oben). Beispiel „Plastischer Stoß“ neu gesehen Aufgabe: vgl. Abschnitt 3.12.3. Lösung (über Erhaltung der Bewegungsgröße): Die beiden Massen m1 , m2 werden in Abbildung 3.14.4 als Teile eines Punkthaufens gesehen. Die Kraft während des Stoßes ist eine innere Kraft, deshalb bleibt die Ge­ samtbewegungsgröße erhalten. Für die horizontale Richtung gilt pges2 = pges1 ,

also

Man erhält wieder v=

v1

m1 v + m2 v = m1 v1 + m2 v2 .

m1 v1 + m2 v2 . m1 + m2

v2 m1

m2

glatt

(a) v m1 (b)

m2

Abb. 3.14.4: Punkthaufen m 1 , m 2 bei plastischem Stoß

316 | 3 Kinematik und Kinetik

v

qm M

r x

(a)

1

qm∆t (b)

SL

SR 2

(c)

SL „Links“

v SR „Rechts“

Abb. 3.14.5: Förderband

Beispiel: Förderband Gegeben: Förderband, konstante Laufgeschwindigkeit v, Rollenradius r; aus Trich­ ter fällt körniges Fördergut auf Band, Massenstrom q m , dim q m = M/T; vgl. Abbil­ dung 3.14.5a. Gesucht: Erforderliches Antriebsmoment M und Antriebsleistung P. Lösung: Wir betrachten die Masse q m ∆t, die zwischen den Zeitpunkten t (Zustand 1) und t + ∆t (Zustand 2) auf das Band fällt, vgl. Abbildungen 3.14.5b bzw. c. Sie bildet gemeinsam mit dem beteiligten Stück des Förderbandes den zu untersuchenden „Punkthaufen“. Es kommt hier auf die Impulsbilanz in x-Richtung an: Sei p xBandteil die Bewegungsgröße des Förderbandstückes, das die Masse q m ∆t aufnimmt. Dann gilt Zustand 1: p xges1 = p xBandteil . Das Fördergut q m ∆t hat noch keine Horizontalgeschwindigkeit. Zustand 2:

p xges2 = p xBandteil + q m v ∆t .

Die Bewegungsgröße p xBandteil ist beide Male dieselbe. Auf den Punkthaufen wirken die äußeren Kräfte SL und SR . Der Impulssatz lautet t+∆t

p xges2 = p xges1 + ∫ (SR − SL ) dτ . t

Einsetzen der Ausdrücke für p xges1 und p xges2 liefert nach Division durch ∆t und Grenzübergang ∆t → 0: (SR − SL ) = q m v . Daraus folgen das Antriebsmoment M und die Antriebsleistung P zu M = r(SR − SL ) = rq m v

bzw.

P = v(SR − SL ) = q m v2 .

3.15 Der Drallsatz (Drehimpuls-Satz) für den Punkthaufen

| 317

3.15 Der Drallsatz (Drehimpuls-Satz) für den Punkthaufen Es gelten die im Abschnitt 3.14.1 eingeführten Annahmen.

3.15.1 Drallsatz bezogen auf einen festen Punkt Für die Masse m i gilt das Newtonsche Gesetz (vgl. Abbildung 3.15.1): m i r ̈i = F i + ∑ F ij . j

Vektorielle Multiplikation mit r i von links und Summation über i liefert ∑ r i × (m i v̇ i ) = ∑ r i × F i + ∑ r i × ∑ F ij . i

i

i

j

F1 m1 r1

F12 F13 S rS r2

0

r3

F21

F31

m2 F23 F32 m3

F2 F3 Abb. 3.15.1: Punkthaufen

Entsprechend Abschnitt 3.13.1 definiert man jetzt den Gesamtdrall (oft Gesamtdrehim­ puls) um den festen Punkt 0: L ges = L ges (t) := ∑ r i × (m i v i ) = ∑ r i × p i = ∑ L i . i

i

i

Dabei bedeuten p i := m i v i und L i := r i × p i die Bewegungsgröße bzw. den Drall der Einzel-Punktmasse m i um den Punkt 0. . Wegen (r i × v i ) = (r i × v̇ i ) kann man mit Hilfe von Lges für die linke Seite obiger Summenformel schreiben: ∑ r i × (m i v̇ i ) = i

dL ges . dt

Auf der rechten Seite verschwindet wegen der Annahmen a) und b) in Abschnitt 3.14.1 die Doppelsumme: ∑ r i × ∑ F ij = O . i

j

318 | 3 Kinematik und Kinetik

Mithin verbleibt rechts M := ∑ r i × F i = ∑ M i , i

i

das ist das resultierende Moment aller äußeren Kräfte um den Punkt 0. Damit erhalten wir den Momentensatz: dL ges =M, dt

abgekürzt

L̇ ges = M .

Die Zeitableitung des Gesamtdralls ist gleich dem Moment der äußeren Kräfte. Inte­ griert man den Momentensatz über t zwischen t1 und t2 , erhält man den Drallsatz: L ges2 = L ges1 + H , wo

t2

H := ∫ M dt t1

der Drehstoß (Momentenstoß) ist.

3.15.2 Drallsatz bezogen auf den Schwerpunkt Zur Untersuchung von komplexen Systemen möchte man den Momentensatz (und den Drallsatz) auf einen bewegten Punkt beziehen. Dadurch nimmt die Aussage im allgemeinen eine weniger einfache Form an. Übersichtlich werden die Gleichungen wieder, wenn man mit dem Schwerpunkt als bewegtem Bezugspunkt arbeitet. Die Schwerpunktbewegung r S (t) ist nach Abschnitt 3.14.2 bekannt oder berechenbar. Wir drücken r i (t) durch r i (t) = r S (t) + s i (t) aus, wo s i den Ortsvektor der Masse m i gegenüber dem Schwerpunkt S bedeutet, vgl. Abbildung 3.15.2. F1 m1 r1

0 (a)

F12 F13 S rS r2 r3

mi F21

F31

m2 F23 F32 m3

si F2

S

ri rS

F3 (b)

0

Abb. 3.15.2: Punkthaufen und Schwerpunkt als Bezugspunkt

3.15 Der Drallsatz (Drehimpuls-Satz) für den Punkthaufen | 319

Nun werden der Drall L ges und das Moment M aus dem vorigen Abschnitt auf den neuen Bezugspunkt S umgeschrieben. Am einfachsten gelingt dies für das Moment: M = ∑ r i × F i = ∑(r S + s i ) × F i = r S × ∑ F i + ∑ s i × F i = r S × F + M (S) , i

i

i

i

wo F die aus Abschnitt 3.14.2 bekannte Resultierende aller äußeren Kräfte ist und M (S) := ∑ s i × F i i

das resultierende Moment aller äußeren Kräfte F i um den (bewegten) Schwerpunkt S bedeutet. Für den Drall erhalten wir L ges = ∑ r i × (m i v i ) = ∑(r S + s i ) × m i (r ̇S + ṡ i ) i

i

= r S × r ̇S ∑ m i − r Ṡ × ∑ m i s i + r S × ∑ m i ṡ i + ∑ s i × (m i ṡi ) i

= r S × pges

i



i

O

+

O

i

+

(S)

Lges .

Das erste Glied rechts folgt aus Abschnitt 3.14.2 bzw. 3.14.3, das zweite und dritte ver­ schwinden, weil die Summen als statisches Moment bzw. dessen Zeitableitung um den Schwerpunkt verschwinden (vgl. Abschnitt 1.16.3). Das vierte Glied, (S)

L ges := ∑ s i × (m i ṡ i ) , i

ist der Gesamtdrall um den (bewegten) Schwerpunkt S. (Zu seiner Berechnung stelle man sich vor, daß man sich auf dem Schwerpunkt befindet und von dort die Ortsvek­ toren s i (t) und die Geschwindigkeiten ṡ i (t) beobachtet oder mißt.) Wir setzen die Ergebnisse in den Momentensatz L̇ ges = M aus dem vorigen Ab­ schnitt ein, (S) r ̇S × p ges + r S × ṗ ges + L̇ ges = r S × F + M (S) , und erhalten wegen r ̇S × pges = O und ṗ ges = F (vgl. Abschnitt 3.14.3) den Momenten­ satz um den Schwerpunkt: (S) L̇ ges = M (S) . Die Zeitableitung des Gesamtdralls um den Schwerpunkt ist gleich dem Moment der äußeren Kräfte um den Schwerpunkt. Integration des Momentensatzes über die Zeit liefert den entsprechenden Drall­ satz: (S) (S) Lges2 = L ges1 + H (S) mit

t2

H (S) := ∫ M (S) dt . t1

320 | 3 Kinematik und Kinetik

Hinweis 1: Momentensatz und Drallsatz haben für einen festen Bezugspunkt 0 und für den Schwerpunkt S als Bezugspunkt die gleiche Form! (Der Verwechslungsgefahr (0) halber weisen wir in Zukunft auf den Bezugspunkt stets hin und schreiben z. B. L ges und M (0) statt Lges und M.) Hinweis 2: Die oben gefundene Aussage (0)

(S)

L ges = r S × pges + L ges (0)

ist häufig nützlich, um L ges zu berechnen.

3.16 Kinematik des parallel zu einer Ebene bewegten starren Körpers 3.16.1 Referenzkoordinaten, Lagekoordinaten Wir wollen die Bewegungen des im allgemeinen unregelmäßig geformten starren Kör­ pers K parallel zur x-y-Ebene des in Abbildung 3.16.1a gezeigten (festen) kartesischen Koordinatensystems (0, x, y, z) mit der Basis e = (e x , e y , e z )T untersuchen. Die Ebene z = 0 nennen wir Ebene der Bewegung, kurz „Bewegungsebene“; alle zur Bewegungs­ ebene parallelen Ebenen sind gleichberechtigt.

K

K

z

P sP0

sz S

y

eKz z y

ez 0 (a)

ez

ey ex

0 x

P

K

P

(b)

r0S

sy eKy S eKx

ey ex

sz s y rP

zP

sx

zS ez 0

x

yS

yP

sP

eKz eKy eKx s φ x rS S

ey e x xS x

P

(c)

Abb. 3.16.1: Koordinatensysteme für ebene Bewegung

Referenzkoordinaten Wir zeichnen einen Punkt S des Körpers aus und wählen dafür den Schwerpunkt, weil er später wichtig sein wird. (Hier könnten wir an seiner Stelle auch irgendeinen an­ deren körperfesten Punkt wählen.) Sei P ein beliebiger herausgegriffener körperfes­ ter Punkt. Um ihn koordinatenmäßig zu erfassen, bringen wir den Körper durch ei­

3.16 Kinematik des parallel zu einer Ebene bewegten starren Körpers | 321

ne Bewegung parallel zur x-y-Ebene in die Referenzlage (oder Referenzkonfiguration; vgl. auch Abschnitt 2.2.3) nach Abbildung 3.16.1b, die wir uns festgehalten vorstellen (keine Bewegung!). In der Referenzlage werde die Basis eK := (e Kx , eKy , eKz )T parallel zur Basis e ge­ wählt, mit ihrem Ursprung auf S gelegt und mit dem Körper K fest verbunden (darauf weist der Index K hin). Wir erfassen den Punkt P über den Vektor s0P der Referenzlage, vgl. Abbildung 3.16.1b. Bezogen auf die körperfeste Basis eK hat er die Koordinaten (s x , s y , s z ): s 0P = eKx s x + eKy s y + eKz s z . Faßt man die Koordinaten zur Spaltenmatrix sKP := (s x , s y , s z )T zusammen, so gilt s0P = eTK s KP . Wenn keine Verwechselungen zu befürchten sind, lassen wir die Indizes K und P auch weg. Lagekoordinaten Abbildung 3.16.1c zeigt den Körper in allgemeiner Lage (Momentaufnahme der Bewe­ gung). Bezogen auf die kartesische Basis e haben S und P die Koordinaten r S = r S (t) = e x xS (t) + e y yS (t) + e z zS = e T r S bzw. r P = r P (t) = e x xP (t) + e y yP (t) + e z zP . = eT r P . (Die Koordinaten zS und zP sind konstant: ebene Bewegung!). Aus Abbildung 3.16.1c liest man r P (t) = r S (t) + s P (t) 󳨀 → ab, wo s P (t) := SP nun veränderlich ist. Da sich alle Körperpunkte in Ebenen normal zu e z bewegen, kann sich sP (t) von s0P nur durch eine – den verschiedenen Ortsvekto­ ren s0P gemeinsame – Drehung φ = φ(t) um e z unterscheiden, vgl. Abbildung 3.16.1c. Da sich die körperfeste Basis eK mitdreht, können wir für sie gemäß den Überlegungen in Abschnitt 3.1.4 die Drehung als Matrizengleichung schreiben: eKx cos φ eK = (e Ky ) = (− sin φ 0 e Kz

sin φ cos φ 0

ex 0 0) (e y ) = D(φ)e . 1 ez

Für den gedrehten Vektor sP (t) gilt also s P = eTK s KP = eT D T (φ) s KP = e x (s x cos φ − s y sin φ) + e y (s x sin φ + s y cos φ) + e z s z , mit den Referenzkoordinaten s KP = (s x , s y , s z ) nach Abbildung 3.16.1b.

322 | 3 Kinematik und Kinetik Aus r P = r S + s P folgt xP xS s x cos φ − s y sin φ ( yP ) = (yS ) + (s x sin φ + s y cos φ) . sz zP zS Auf der rechten Seite stehen drei zeitabhängige Funktionen xS = xS (t) ,

yS = yS (t) ,

φ = φ(t) .

Sie erfassen die drei Bewegungsmöglichkeiten des starren Körpers parallel zu einer Ebene, nämlich die zwei Verschiebungen (oder Translationen) xS (t), yS (t) und die Dre­ hung (oder Rotation) φ(t). In der Ebene hat der starre Körper den Freiheitsgrad f = 3.

3.16.2 Geschwindigkeit Ableitung des Ortsvektors r P (t) oder der Lagekoordinaten (xP (t), yP (t), zP ) nach der Zeit liefert die Geschwindigkeit v P des Punktes P: vP = r Ṗ = r Ṡ + ṡP =: v S + vP/S oder

̇ x sin φ + s y cos φ) ẋ ẋ S vx −φ(s ̇ x cos φ − s y sin φ)) (v y ) = (ẏ ) = ( ẏ S ) + (+φ(s ż P 0 vz P 0

Aus Abschnitt 3.2.5 folgt mit dem Winkelgeschwindigkeitsvektor ω := e z φ̇ = e z ω = eKz ω für die Relativgeschwindigkeit ṡP =: vP/S von P bezüglich S: vP/S = ṡP = ω × sP = ω × (e ϱ ϱ P ) . Dabei ist es am günstigsten, mit der körperfesten Basis eK zu rechnen, da darin die Koordinaten s KP = (s x , s y , s z )T des Punktes P fest sind. Geschwindigkeitsplan Den Zusammenhang vP = vS + v P/S = vS + ω × sP stellt man für einen Punkt P in der Ebene s z = 0 in einem Lage- und einem Geschwin­ digkeitsplan (Abbildung 3.16.2a bzw. b) graphisch dar:

3.16 Kinematik des parallel zu einer Ebene bewegten starren Körpers

vP/S

| 323

vP K P sP

S

vP

vP/S

vS

ω (a)

(b)

vS

Abb. 3.16.2: Lageplan und Geschwindigkeitsplan

Momentanpol Wählt man in der Ebene s z = 0 einen Punkt C mit einem Vektor s C , der senkrecht auf vS steht, so daß für die Geschwindigkeit von C vC = vS + ω × s C = O gilt, so kann man C als „momentanes Drehzentrum“ ansehen, um das sich im betrach­ teten Moment der Körper dreht; man nennt C Momentanpol. Es gilt nämlich (vgl. obi­ gen Geschwindigkeitsplan und Abbildung 3.16.3): vP = vS + ω × sP = vS + ω × (s C + sCP ) = vS + ω × sC + ω × s CP = ω × s CP .

y

vP

C sCP

sC

sP

ω S 0

K P vS x

Abb. 3.16.3: Momentanpol

3.16.3 Beschleunigung Zweimalige Ableitung des Ortsvektors r P (t) bzw. der Lagekoordinaten oder einmalige Ableitung des Geschwindigkeitsvektors bzw. der Geschwindigkeitskoordinaten liefert die Beschleunigung aP (t) des Punktes P (vgl. Abschnitt 3.16.2): . . aP = aP (t) = r ̈P = v̇ P = (r Ṡ + ṡP ) = r S̈ + s̈P = r S̈ + (ω × sP ) = r ̈S + ω̇ × sP + ω × ṡP = r S̈ + ω̇ × s P + ω × (ω × sP ) bzw. ̈ x sin φ + s y cos φ) − φ̇ 2 (s x cos φ − s y sin φ) ẍ v̇ x ẍ S − φ(s ax ̈ x cos φ − s y sin φ) − φ̇ 2 (s x sin φ + s y cos φ)) . ( a y ) = ( ÿ ) = (v̇ y ) = ( ÿ S + φ(s z̈ P 0 v̇ z P az P

324 | 3 Kinematik und Kinetik

3.17 Kinetik des parallel zu einer Ebene bewegten starren Körpers Wir fassen den starren Körper als Punkthaufen nach Abschnitt 3.14 und 3.15 auf, in­ dem wir ihn uns in Massenelemente ∆m zerlegt denken. In den folgenden kinemati­ schen Beziehungen ist mit S jetzt stets der Schwerpunkt (gleich Massenmittelpunkt) gemeint.

3.17.1 Schwerpunktbewegung (Translation) Für den starren Körper mit der Gesamtmasse m := ∫V dm nach Abbildung 3.17.1 ergibt sich aus dem Schwerpunktsatz (Abschnitt 3.14.2): m r S̈ = F

mit

F := ∑ F i .

Der Schwerpunkt S des starren Körpers der Masse m bewegt sich so, wie wenn die Resultierende aller äußeren Kräfte an ihm angriffe und die gesamte Masse in ihm ver­ einigt wäre. In kartesischen Koordinaten lautet der Schwerpunktsatz: ẍ S Fx m ( ÿ S ) = (F y ) 0 Fz

mit

Fx ∑ F xi ( F y ) = (∑ F yi ) . Fz ∑ F zi

Obwohl F z wegen der ebenen Bewegung verschwindet, können einzelne (Führungs-) Kräfte F zi ≠ 0 vorhanden sein. y

F3 F1 m S

yS rS 0

M1 M2

xS

F2 x

Abb. 3.17.1: Schwerpunktbewegung eines starren Körpers

3.17.2 Drehung um den Schwerpunkt (Rotation) Drall bezogen auf den Schwerpunkt Wir zerlegen den mit der Winkelgeschwindigkeit ω = ωe z rotierenden starren Körper nach Abbildung 3.17.2 in Massenelemente ∆m mit der Lage s gegenüber S (vgl. Abbil­ dung 3.15.2b mit Abbildung 3.17.2). Die Massenelemente bilden einen Punkthaufen, der den Annahmen nach Abschnitt 3.14.1 genügen soll.

3.17 Kinetik des parallel zu einer Ebene bewegten starren Körpers

s

ω

| 325

∆m

S Abb. 3.17.2: Starrer Körper mit Massenelement

Für den auf den Schwerpunkt S bezogenen Drall L (S) erhalten wir nach Ab­ schnitt 3.15.2 den Ausdruck L (S) = ∫ s × ṡ dm . V

Mit ṡ = ω × s (vgl. Abschnitt 3.16.2) und s = eKx s x + e Ky s y + eKz s z (vgl. Abschnitt 3.1.3 und 3.16.1) gilt wegen ω = eKz ω = e z ω s × ṡ = (e Kx s x + eKy s y + eKz s z ) × [ωe Kz × (e Kx s x + eKy s y + eKz s z )] = −ωs x s z e Kx − ωs y s z e Ky + ω(s2x + s2y )eKz . Damit zerfällt der Drall L (S) = ∫ s × ṡ dm = ω ∫[−s x s z eKx − s y s z eKy + (s2x + s2y )e Kz ] dm V

=

V

e z ω ∫(s2x

+

s2y )dm

− ω ∫(s x s z e Kx + s y s z eKy ) dm

V

V

in die Summe

(S)

(S)

L (S) = L N + L T der beiden Anteile

(S)

L N := e z ω ∫(s2x + s2y ) dm V

normal zur Bewegungsebene und (S)

L T := −ωe Kx ∫ s x s z dm − ωeKy ∫ s y s z dm V

V

tangential (parallel) zur Bewegungsebene. Momentensatz Der Momentensatz (Abschnitt 3.15.2) lautet jetzt (S) (S) (S) M (S) = L̇ = L̇ N + L̇ T . (S)

(S)

Da auch die Ableitungen von LN und LT normal bzw. tangential zur Bewegungsebe­ ne gerichtet sind, kann man das Moment entsprechend zerlegen: (S)

(S)

M (S) = M N + M T

326 | 3 Kinematik und Kinetik

mit

(S) (S) M N = L̇ N

und

(S) (S) M T = L̇ T

normal zur Bewegungsebene,

tangential (parallel) zur Bewegungsebene.

Den Normalanteil behandeln wir sofort, den Tangentialanteil in Abschnitt 3.18.3. Drehung in der Ebene Für uns ist vor allem die Drehung um die Achse normal zur Bewegungsebene durch den Schwerpunkt S wichtig; sie wird bestimmt durch die Drall- und Momentenkom­ (S) (S) ponenten L N bzw. M N . Der Kürze halber sprechen wir von „der Drehung“ (in der Ebene). Wegen r2 = s2x + s2y (vgl. Abbildung 3.8.4 mit Abbildung 3.16.1c) ist ∫(s2x + s2y ) dm = ∫ r2 dm = J S V

V

das (Massen-)Trägheitsmoment des Körpers bezogen auf die Drehachse durch den Schwerpunkt; vgl. Abschnitt 3.8.3. Dann gilt (S)

L N = e z ω ∫ r2 dm = e z ωJ S V

und

(S) (S) ̇ S. M N = L̇ N = e z ωJ (S)

Wir setzen M N = e z M (S) (letzteres ohne Index N) für die Summe der Momente der auf den Körper wirkenden äußeren Kräfte und Momente um die Achse normal zur Be­ wegungsebene durch den Schwerpunkt. Mit den eingeführten Größen kann man den Momentensatz für die Drehung skalar schreiben (vgl. Abbildung 3.17.3): JS ω̇ = M (S) . y

F1

φ

S

yS M2

M1 0

xS

m,JS

F2 x

Abb. 3.17.3: Drehung eines starren Körpers

3.18 Bewegung in der Ebene: Zusammenfassung und Beispiele | 327

Darin ist

+ ↺ (S) M (S) = ∑ M i

das resultierende Moment um den Schwerpunkt. Hinweis: Die Bewegungsgleichung für die Drehung in der Ebene um den Schwer­ punkt hat die gleiche Form wie die Bewegungsgleichung für die Drehung um eine feste Achse, vgl. Abschnitt 3.8.2.

3.18 Bewegung in der Ebene: Zusammenfassung und Beispiele 3.18.1 Zusammenfassung Wir fassen die Überlegungen aus den Abschnitten 3.17.1 und 3.17.2 zusammen: Die Be­ wegung eines starren Körpers parallel zu einer Ebene wird durch die beiden Schwer­ punktkoordinaten (die Translationen) xS (t), yS (t) und den Winkel (die Rotation) φ(t) beschrieben, vgl. Abbildung 3.18.1. Wir haben drei Koordinaten, der starre Körper in der Ebene hat den Freiheitsgrad f = 3. (In den Abbildungen 3.18.1 und 3.18.2 sind die äußeren Kräfte und äußeren Momente nicht eingezeichnet!) y

yS

0

m,JS

S

xS

φ

x

Abb. 3.18.1: Bewegung eines starren Körpers in der Ebene

Für die Translationen gilt der Schwerpunktsatz: m ẍ S = F x

mit

F x = ∑ F xi ,

m ÿ S = F y

mit

F y = ∑ F yi ,

wo m die Masse des Körpers und F x sowie F y die resultierenden äußeren Kräfte in xbzw. y-Richtung bedeuten. Für die Rotation gilt der Momentensatz: JS φ̈ = M (S)

mit

+ ↺ (S) M (S) = ∑ M i ,

wo J S das Trägheitsmoment um den Schwerpunkt S und M (S) das resultierende Mo­ ment aller äußeren Kräfte und Momente um S bedeutet.

328 | 3 Kinematik und Kinetik

Schreibweise mit d’Alembertschen Kräften und Momenten Parallel zu den Überlegungen in Abschnitt 3.6 kann man die d’Alembertschen Kräfte −m ẍ S und −m ÿ S sowie das Moment −J S φ,̈ gegen die angenommenen Koordinatenorien­ tierungen positiv, eintragen (vgl. Abbildung 3.18.2) und dann mit den Gleichgewichts­ bedingungen für den starren Körper in der Ebene arbeiten, vgl. Abschnitt 1.10.1. Hinweis: Die d’Alembertschen Kräfte −m ẍ S und −m ÿ S greifen am Schwerpunkt an.

y JSφ φ

mxS

yS

S

0

myS

m,J

xS

x

Abb. 3.18.2: Körper mit d’Alembertschen Kräften und Momenten

3.18.2 Beispiele Starre Scheibe auf schiefer Ebene Gegeben: Eine starre Walze, Radius r, Masse m, Gewicht G, Trägheitsmoment J S , wird ̇ nach Abbildung 3.18.3 mit den Anfangsbedingungen x(0) = 0, x(0) = v0 , φ(0) = 0, ̇ φ(0) = ω(0) = ω0 auf eine rauhe schiefe Ebene gesetzt; Reibungskoeffizient μ, nei­ gungswinkel α > 0. Gesucht: Bewegung der Walze.

φ

x

µ

S m,JS

B G

α Abb. 3.18.3: Aufsetzen einer Walze auf rauhe schiefe Ebene

Lösung (nach Schema): 1. Schritt: Geometrie/Kinematik. Die Bewegung der Walze wird durch die beiden Koordinaten xS =: x(t) und φ(t) be­ schrieben.

3.18 Bewegung in der Ebene: Zusammenfassung und Beispiele |

329

ω

x

v x

S B‘ (a)

(b)

r

vB‘‘

B‘‘

Abb. 3.18.4: Relativbewegung am Punkt B

Um die Richtung der Relativbewegung (des „Rutschens“) am Berührpunkt B fest­ zulegen, müssen wir die Geschwindigkeiten des Punktes B󸀠 (als Punkt der Ebene) und des Punktes B󸀠󸀠 (als Punkt der Walze) untersuchen. In Abbildung 3.18.4a ist der Punkt B󸀠 als materieller Punkt der schiefen Ebene in Ruhe: υB󸀠 = 0 . Nach dem Geschwindigkeitsplan in Abbildung 3.16.2 folgt für den Punkt B󸀠󸀠 als mate­ riellen Punkt der Rolle (vgl. Abbildung 3.18.4b): vB󸀠󸀠 = v − ωr = ẋ − ωr . Für die Relativgeschwindigkeit von B󸀠󸀠 gegenüber B󸀠 gilt: vrel = vB󸀠󸀠 /B󸀠 = vB󸀠󸀠 − vB󸀠 = vB󸀠󸀠 = ẋ − ωr . Die Reibungskraft R hemmt stets die Relativbewegung! 2. Schritt: Schnittdiagramm. Abbildung 3.18.5 zeigt die freigeschnittene Walze mit der d’Alembertschen Kraft −m ẍ und dem d’Alembertschen Moment −JS φ.̈ Die Reibungskraft R ist für vrel > 0 eingetra­ gen. JSφ r S

mx

R y

x

G

α N

Abb. 3.18.5: Freigeschnittene Walze

3. Schritt: Gleichgewichtsbedingungen. ∑ F xi = 0 :

−m ẍ − G sin α − R = 0 ,

∑ F yi = 0 :

N − G cos α = 0 ,

↺ (S) ∑ Mi = 0 :

JS φ̈ − Rr = 0 .

+

330 | 3 Kinematik und Kinetik

4. Schritt: Unbekannte, Gleichungen zählen; Zusatzbedingungen formulieren. Vier Unbekannte: x, φ, N, R. Drei Gleichungen (Gleichgewichtsbedingungen). Zusatzbedingung: Reibungsbedingung R = μN (für υrel > 0). 5. Schritt: Gleichungen lösen. Bewegungsgleichungen: m ẍ = −G(sin α + μ cos α) , JS φ̈ = μGr cos α . Lösung: x(t) = v0 t −

1 g(sin α + μ cos α)t2 , 2

φ(t) = ω0 t +

1 Gr 2 μ t cos α . 2 JS

6. Schritt: Diskussion der Lösung. Wir betrachten die Geschwindigkeiten ̇ = v0 − g(sin α + μ cos α)t , x(t) ̇ = ω0 + μ φ(t)

Gr t cos α = ω(t) . JS

Für vrel ergibt sich vrel = ẋ − rω = v0 − ω0 r − [g(sin α + μ cos α) + μ(Gr2 /J S ) cos α]t . Damit vrel > 0 für t ≥ 0 möglich ist, muß v0 − ω0 r > 0 gelten. Wenn dies der Fall ist, gilt vrel > 0 für 0 ≤ t ≤ t∗ , wo t∗ die Nullstelle von vrel ist: t∗ =

v0 − ω0 r . g(sin α + μ cos α) + μ(Gr2 /J S ) cos α

Aufgabe: Wie sieht die sich anschließende Bewegung aus? Man untersuche die Be­ wegungen für andere Vorzeichen der Anfangsbedingungen. Beispiel zum Drallsatz Gegeben: Ein starres Rad, Masse m, Gewicht G, Trägheitsmoment J S = J B , wird von zwei bei A aufgehängten masselosen Laschen der Länge l gehalten und läuft mit der Winkelgeschwindigkeit ω0 um den Punkt B = S um; vgl. Abbildung 3.18.6a. Gesucht: Winkelgeschwindigkeit ω um den Aufhängepunkt A, nachdem bei C ein Stift durch Laschen und Radkranz schlagartig gesteckt wurde; vgl. Abbildung 3.18.6b.

3.18 Bewegung in der Ebene: Zusammenfassung und Beispiele |

A C‘ l

331

A C

C‘‘

B

B vS

ω0 (a)

m,JS

m,JS

G

(b)

ω

Abb. 3.18.6: Aufgehängtes Rad

Lösung (mit Drallsatz nach Abschnitt 3.15.1): Wir betrachten den Drall um den Punkt A (fester Punkt). Für den starren Körper als Punkthaufen gilt nach Abschnitt 3.15.1 (A)

(A)

L2 = L1 + H , wo Drall und Momente im Uhrzeigersinn positiv gezählt werden. Als äußeres Mo­ ment M kommt nur das Gewichtsmoment in Frage. Wenn die Winkelauslenkung ψ der Laschen während der Dauer des Stoßes klein ist, kann man das Moment |ψ l G| (A) (A) vernachlässigen, es folgt L2 = L1 . Gemäß Abschnitt 3.17.2 und Hinweis 2 in Abschnitt 3.15.2 gelten (A)

L1 = J B ω0 ,

(A)

L2 = J B ω + l (ω l m) .

Damit ergibt sich ω=

JB ω0 . (J B + m l2 )

3.18.3 Die Dralländerung tangential zur Ebene; Deviationsmomente Für das Moment tangential (parallel) zur Bewegungsebene fanden wir in Abschnitt 3.17.2 (S) (S) M T = L̇ T . Dabei galt für den Drall (S)

LT = −ωeKx ∫ s x s z dm − ωe Ky ∫ s y s z dm . V

V

Er ist auf die mit dem Körper verbundene – also bewegte – Basis eK = eK (φ(t)) bezo­ gen: (S) (S) (S) (S) LT = eKx LTKx + eKy LTKy =: eTK L TK .

332 | 3 Kinematik und Kinetik

Die in der Spaltenmatrix

(S)

(S)

(S)

L TK := (LTKx , LTKy , 0)T zusammengefaßten Koordinaten kürzt man wie folgt ab: (S)

LTKx = −ω ∫ s x s z dm =: −ωJ xz , V (S) LTKy

= −ω ∫ s y s z dm =: −ωJ yz . V

Die Integralausdrücke J xz := ∫ s x s z dm ,

J yz := ∫ s y s z dm

V

V

heißen Deviationsmomente. Sie sind Massenmomente zweiten Grades, gehören zu den Massenträgheitsmo­ menten (vgl. Abschnitt 3.8.3) und müssen – wie diese – für einen Körper in Abhängig­ keit von seiner Masseverteilung berechnet werden (vgl. auch das Flächen-Deviations­ moment in Abschnitt 2.9.1). Mit den Deviationsmomenten lautet der Drall (S)

LT = −(J xz , J yz , 0)ωe K . (S)

Damit ergibt sich das Moment M T zu (S) . (S) M T = L̇ T = −(J xz , J yz , 0)(ωe K )

̇ xz , J yz , 0)eK + ω2 (J xz , J yz , 0)e K × eKz = −ω(J ̇ Kx J xz + eKy J yz ) + ω2 (e Kx J yz − eKy J xz ) . = −ω(e Dabei haben wir ė K = ω × eK = (ωe Kz ) × eK ausgenutzt (vgl. Hinweis 2 in Ab­ schnitt 3.2.5). Man sieht: Das Moment läuft mit e Kx und eKy , also mit dem Körper um. Es muß von außen aufgebracht werden, damit er sich gemäß Abschnitt 3.18.1 drehen kann, ohne zu „kippen“. Die Deviationsmomente – und damit M T – verschwinden, zum Beispiel, falls a) s z = 0 eine Symmetrieebene des Körpers ist, b) die s z -Achse eine „Schwerelinie“ ist (vgl. Abschnitte 1.16.2 und 3.8.2). Beispiel Gegeben: Rad nach Abbildung 3.18.7, Radius r und Breite 2a, in seinem Grundauf­ bau rotationssymmetrisch mit Masse belegt, trägt bei (s x , s y , s z ) = (r, 0, −a) und (s x , s y , s z ) = (−r, 0, a) je eine punktförmige Unwuchtmasse m. Es läuft mit ω(t) um. Gesucht: Das von der Radlagerung aufzubringende Moment.

3.19 Der Energiesatz bei ebenen Bewegungen | 333

2a

eKy eKz

m eKx S

m

r

φ Abb. 3.18.7: Rad mit Unwuchten

Lösung: Für die Deviationsmomente erhält man J xz = ∫ s x s z dm = −2mra , V

J yz = ∫ s y s z dm = 0 ; V

die rotationssymmetrische Massebelegung liefert keinen Beitrag. Damit gilt M T = 2 ω̇ m r a e Kx + 2ω2 m r a e Ky . Aufgabe: Deuten Sie den ersten Ausdruck rechts als Wirkung von Tangential-Träg­ heitskräften und den zweiten als Wirkung von Fliehkräften (vgl. auch Abschnitt 3.8.2; das Rad hat eine feste Achse!)

3.19 Der Energiesatz bei ebenen Bewegungen Da die inneren Kräfte in einem starren Körper keine Arbeit leisten, gilt der Energiesatz in der in Abschnitt 3.11 angegebenen Form auch für Systeme, die starre Körper enthal­ ten. Wir brauchen lediglich die Ausdrücke für die potentielle Energie (das Potential) und für die kinetische Energie aufzustellen. Wir beschränken unsere Überlegungen auf ebene Bewegungen.

3.19.1 Potentielle Energie des Gewichts Denken wir uns den Körper in Massenelemente ∆m zerlegt, und wirkt das Gewicht ge­ gen e y in Abbildung 3.16.1, so erhalten wir die potentielle Energie aller Gewichtskräfte ∆G = g ∆m gemäß Abschnitt 3.9.3 zu Epot = g ∫ [yS + (s x sin φ + s y cos φ)] dm = mgyS + g sin φ ∫ s x dm + g cos φ ∫ s y dm . V

V

V

334 | 3 Kinematik und Kinetik Da S Schwerpunkt ist, folgen ∫V s x dm = 0, ∫V s y dm = 0, vgl. Abschnitt 1.16.3; es gilt Epot = GyS . Auch die potentielle Energie verhält sich so, wie wenn die Masse im Schwerpunkt ver­ einigt wäre (Massenmittelpunkt und Schwerpunkt sind hier wieder identisch; s. auch Abschnitt 1.16.3).

3.19.2 Kinetische Energie des starren Körpers in der Ebene Nach einer Zerlegung in Massenelemente ∆m gilt Ekin =

1 ∫ v2 dm . 2 V

Setzt man gemäß Abschnitt 3.16.2 v2 = (v)2 = (r Ṡ + s)̇ 2 = r 2Ṡ + 2r ̇S ⋅ ṡ + ṡ2 = ẋ 2S + ẏ 2S + 2r ̇S ⋅ (ω × s) + (ω × s)2 = ẋ 2S + ẏ 2S + ω2 (s2x + s2y ) + 2r ̇S ⋅ ω × s , so erhält man Ekin =

1 2 1 (ẋ + ẏ 2S ) ∫ dm + ω2 ∫(s2x + s2y ) dm + r Ṡ ⋅ ω × ∫ s dm . 2 S 2 V V V ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ 1 1 2 2 + + 0 mv JS ω 2 S 2

Die kinetische Energie setzt sich aus einem translatorischen Anteil, Ekin,t =

1 2 1 mv = m(ẋ 2S + ẏ 2S ) , 2 S 2

und einem rotatorischen Anteil, Ekin,r =

1 JS ω2 , 2

zusammen: Ekin = Ekin,t + Ekin,r .

3.19.3 Beispiel für den Energiesatz Gegeben: Walze, Gewicht G, Masse m, Trägheitsmoment J S , rollt aus der Ruhe (Lage 1) eine schiefe Ebene, neigungswinkel α, um die Höhe h hinab; vgl. Abbildung 3.19.1. Gesucht: Schwerpunktgeschwindigkeit υS und Winkelgeschwindigkeit ω in der unte­ ren Lage 2.

3.20 Vermischte Aufgaben und Probleme | 335

1

m,JS r h

2 G α

Abb. 3.19.1: Rollende Walze

Lösung (mit Energiesatz): Das System ist konservativ: E2 = E1 . Zustand 1:

Ekin = 0 ,

Epot = Gh ;

m 2 v , 2 S

Zustand 2:

Ekin,t =

Rollbedingung:

vS = ωr ;

Ekin,r =

also

E2 =

also

E1 = Gh .

JS 2 ω , 2

Epot = 0 .

JS 1 1 (m + 2 ) v2S = (mr2 + J S )ω2 . 2 2 r

Es folgen vS = √

2Gh , m + J S /r2

ω=√

2Gh . mr2 + J S

Für einen Vollzylinder gilt mit J S = mr2 /2 (vgl. Abschnitt 3.8.3): 4 vS = √ gh . 3 Für einen dünnwandigen Hohlzylinder gilt mit JS = mr2 (vgl. Abschnitt 3.8.3, r → R): vS = √gh . Der Vollzylinder läuft schneller als der Hohlzylinder von gleicher Masse und gleichem Radius.

3.20 Vermischte Aufgaben und Probleme 3.20.1 Innere Kräfte infolge Bewegung Gegeben ist der in Abbildung 3.20.1 skizzierte Balken AB mit konstantem Querschnitt. Er sei bei A durch einen Faden und bei B durch ein Gelenk horizontal gehalten; Län­ ge l, Massebelegung μ, Erdbeschleunigung g; h ≪ l. Gesucht wird die Querkraft-, die Normalkraft- und die Momentenlinie unmittelbar nach Durchtrennen des Fadens.

336 | 3 Kinematik und Kinetik

g l h x Abb. 3.20.1: Horizontal aufgehängter Balken

G=µ.l.g

Lösung: a) Zunächst muß die Winkelbeschleunigung φ̈ bestimmt werden: Nach dem Durchtrennen des Fadens dreht sich der Balken als starrer Körper um das Lager B, vgl. Abbildung 3.20.2. Für J B gilt J B = ml2 /3. Aus der Bedingung für Momentengleichgewicht um den Punkt B folgt + ↺ ∑ M (B) = 0 :

1 Gl cos φ − J B φ̈ = 0 . 2

̇ Unmittelbar nach dem Fadenschnitt gilt φ(0) = 0, φ(0) = 0. Man erhält dann φ̈ =

3g . 2l

JBφ B

φ

Abb. 3.20.2: Balken mit d’Alembertschem Moment

G

b) Im zweiten Schritt werden die Schnittgrößen ermittelt: Abbildung 3.20.3 zeigt das System nach dem Schnitt an der Stelle x, wobei nur am linken Teil alle d’Alem­ bertschen und sonstigen Kräfte und Momente eingetragen sind.

µgx

x

µxφ(l–x/2) x M JSxφ

N

Sx

Q

z M N

Q (a)

(l–x/2)φ = Beschleunigung von Sx

Abb. 3.20.3: Schnittbild

(b)

3.20 Vermischte Aufgaben und Probleme |

337

Dabei bezeichnet S x den Schwerpunkt des abgeschnittenen Teiles und J Sx = (μx)x2 /12 ist Trägheitsmoment dieses Teiles um S x . Die Gleichgewichtsbedingungen liefern ∑ Fx = 0 :

N = 0 (für alle x) , x ∑ F z = 0 : − μx φ̈ (l − ) + μxg + Q = 0 , 2 x 1 also Q(x) = μgx (2 − 3 ) ; 4 l + ↺ 1 x x2 =0, ∑ M (x) = 0 : M − JSx φ̈ + μgx2 − μ φ̈ (l − ) 2 2 2 x 1 also M(x) = μgx2 (1 − ) . 4 l Der Querkraft- und der Momentenverlauf sind in Abbildung 3.20.4 dargestellt.

Q 0

2l 3

l

x

l

x

(a) M Maximum

0 (b)

Abb. 3.20.4: Querkraft- und Momentenverlauf

3.20.2 Drall- und Kreiseleffekte Schleuderstange Gegeben: Eine dünne homogene Stange AB (Länge l, Gewicht G, Masse m) ist bei A gelenkig (Scharnier!) mit einer um die vertikale Achse rotierenden Stange (Winkelge­ schwindigkeit Ω) verbunden; vgl. Abbildung 3.20.5. Gesucht: Winkel α für gleichförmige Bewegung (Ω konstant). Lösung (Drall bezüglich festem Punkt): Die Winkelgeschwindigkeit Ω (den Vektor!) zerlegen wir in die beiden Komponenten Ω cos α und Ω sin α, Abbildung 3.20.6. Die Komponente Ω cos α erzeugt (bei unendlich dünner Stange) keine Bewegung. Die Komponente Ω sin α ergibt eine Drehung um den

338 | 3 Kinematik und Kinetik

A

l α

S m

B

G Ω Abb. 3.20.5: Schleuderstange

Ω Ω sin α α

β

Ω cos α A α

S B G

Abb. 3.20.6: Winkelgeschwindigkeit und Drall der Schleuderstange

festen Punkt A mit dem Drall L(A) = ΩJ A sin α

(momentane Richtung s. Abbildung 3.20.6) ,

wo JA = ml2 /3. Nach dem Momentensatz gilt (A) L̇ = M (A) .

Da der Pfeil L(A) mit der Winkelgeschwindigkeit Ω auf dem Kegel mit dem Öffnungs­ winkel 2β = 2(90° − α) umläuft (vgl. Abbildung 3.20.6), erhält man (A) |L̇ | = ΩL(A) sin β = ΩL(A) cos α . (A) Der Vektor L̇ weist senkrecht in die Blattebene. Also folgt aus dem Momentensatz

1 2 2 1 ml Ω sin α cos α = Gl sin α . 3 2 Daraus erhält man Lösung 1:

sin α = 0 ,

Lösung 2:

cos α =

instabil, falls Ω2 >

3 g , 2 lΩ2

falls Ω2 >

3g ; 2l

3g . 2l

3.20 Vermischte Aufgaben und Probleme | 339

3.20.3 Kreisel Als technischen Kreisel bezeichnet man einen Rotationskörper, der um seine Sym­ metrieachse, die Figurenachse, mit der Winkelgeschwindigkeit ω rotiert, vgl. Abbil­ dung 3.20.7. Für den Drall gilt L (S) = ωJ , wobei J das Trägheitsmoment um die Figurenachse bedeutet. J

ω L(S)

Abb. 3.20.7: Kreisel

(S) Ein momentenfrei aufgehängter Kreisel behält wegen L̇ = O, also L (S) = C (kon­ stant), seine Lage im Raum bei, die Figurenachse bewegt sich nicht. Diese Eigenschaft nutzt man bei Navigationsinstrumenten aus. „Kippt“ oder „schwenkt“ die Figurenachse des Kreisels, so enthält L (S) neben ωJ noch weitere Drallanteile. Ein Kreisel heißt schnell, wenn diese Anteile und ihre Zeit­ ̇ sind. ableitungen klein gegenüber ωJ bzw. ωJ Wirkt auf einen schnellen Kreisel ein Moment M (S) , so liefert der Drallsatz, ange­ schrieben für ein Zeitinkrement ∆t = t2 − t1 ,

∆L (S) = M (S) ∆t . Ist dieses Moment, wegen der besonderen Lagerung oder Aufhängung des Kreisels, normal zu L (S) gerichtet, d. h. L (S) ⋅ M (S) = 0, so dreht sich die Figurenachse gemäß Abbildung 3.20.8 während ∆t um den Winkel ∆ψ. Es gilt ∆ψ × L (S) = M (S) ∆t , und man erhält die Präzessionsgeschwindigkeit ∆ψ L (S) × M (S) . = ∆t→0 ∆t J 2 ω2

ωPr := lim

ωPr M(S) S ∆ψ L(S)

∆L(S)

Abb. 3.20.8: Dralländerung im Fall L(S) ⋅ M (S) = 0

340 | 3 Kinematik und Kinetik Die Präzession ωPr ist um so langsamer, je höher die „Eigendrehung“ |ω| ist. Ein Beispiel hierzu ist in Abbildung 3.20.9 dargestellt. Die Figurenachse des dort gezeigten „schweren“ schnellen Kreisels läuft unter dem Einfluß des Gewichtsmomen­ tes |M (S) | = Ga mit der Präzessionsgeschwindigkeit ωPr =

Ga Jω

in einer horizontalen Ebene um, falls |ωPr | ≪ |ω| und das System geeignet in Gang gesetzt wurde. ωPr J L(S) ω a Abb. 3.20.9: „Schwerer“ Kreisel

G

Schwingungen Wir betrachten hier lineare Schwingungen.

3.21 Freie Schwingungen 3.21.1 Feder-Masse-Schwinger ohne Gewicht Gegeben: Eine Punktmasse m hängt an einer linearen Feder der Steifigkeit k, vgl. Ab­ bildung 3.21.1; Länge der entspannten Feder l0 (Feder soll auch Druck aufnehmen kön­ nen, ohne auszuknicken); das Gewicht wird vernachlässigt.

l0 (a)

k

m x (b)

m

Abb. 3.21.1: Feder-Masse-Schwinger

3.21 Freie Schwingungen

| 341

k

l0 x F F

mx

Abb. 3.21.2: Kräfte an Feder und Punktmasse

Gesucht: Bewegung x(t) zu den vorgegebenen Anfangsbedingungen x(0) = x0 , ̇ x(0) = v0 . Lösung (nach Schema mit d’Alembert): Mit der Bedingung für Gleichgewicht an der Punktmasse m (vgl. Abbildung 3.21.2), m ẍ + F = 0 , und dem Federgesetz F = kx ergibt sich die Bewegungsgleichung m ẍ + kx = 0 . Dies ist eine lineare, homogene Differentialgleichung zweiter Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Division durch m führt mit ω20 := k/m auf ẍ + ω20 x = 0 , und nach Abschnitt 3.4.3 erhalten wir die gesuchte Lösung zu v0 sin ω0 t . x(t) = x̂ cos(ω0 t + φ0 ) = x0 cos ω0 t + ω0 Der Feder-Masse-Schwinger schwingt unabhängig von der Amplitude mit der Eigen­ frequenz ω0 := √k/m; Schwingungsdauer (Periode) T = 2π/ω0 . Aufgabe: Man kontrolliere die Dimensionen und drücke x̂ und φ0 durch x0 und v0 aus; auf Vorzeichen achten!

3.21.2 Feder-Masse-Schwinger mit Gewicht Gegeben: Feder-Masse-Schwinger nach Abschnitt 3.21.1; die Masse m hat jetzt das Ge­ wicht G, s. Abbildung 3.21.3. ̇ Gesucht: Bewegung x(t) zu den Anfangsbedingungen x(0) = x0 , x(0) = v0 .

342 | 3 Kinematik und Kinetik

g l0

k

x F

(a) F

(b)

G

Abb. 3.21.3: Kräfte an Feder und Masse mit Gewicht

Lösung (Newton): Mit dem Newtonschen Gesetz für die Punktmasse m (s. Abbildung 3.21.3b), m ẍ = G − F , und dem Federgesetz F = kx ergibt sich die Bewegungsgleichung m ẍ + kx = G . Dies ist eine lineare, inhomogene Differentialgleichung zweiter Ordnung mit konstan­ ten Koeffizienten. Ihre Lösung erhält man durch Überlagern (Superponieren) mit dem Ansatz x(t) = x1 (t) + x2 (t) . Darin sei x1 (t) die allgemeine Lösung der homogenen Differentialgleichung nach Ab­ schnitt 3.21.1, geschrieben in der Form x1 (t) = A cos ω0 t + B sin ω0 t , wobei A, B freie (Integrations-)Konstanten sind. Einsetzen von x = x1 + x2 in die Be­ wegungsgleichung liefert m ẍ 2 + kx2 = G , d. h., x1 (t) hebt sich heraus (unabhängig von A, B). Für die zweite Funktion, die Par­ tikularlösung x2 (t), macht man einen Ansatz vom Typ der rechten Seite (der Differen­ tialgleichung): x2 (t) = C = const . Die Differentialgleichung liefert für diesen Ansatz die Aussage Ck = G ,

also

C=

G . k

3.21 Freie Schwingungen | 343

Wir erhalten als Partikularlösung x2 =

G =: xstat . k

Dies ist die statische Absenkung der Masse infolge des Gewichtes G. Die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung lautet nun: x(t) = xstat + A cos ω0 t + B sin ω0 t . Das Ergebnis besagt: Die allgemeine Lösung der linearen inhomogenen Differential­ gleichung setzt sich zusammen aus einem Partikularintegral (Lösung) der vollstän­ digen inhomogenen Gleichung – das die Wirkung der äußeren Kraft wiedergibt – und der allgemeinen Lösung der zugehörigen homogenen Gleichung – die die frei­ en Schwingungen des unbeeinflußten Systems wiedergibt. Dieser Teil enthält auch die zum Anpassen an Anfangsbedingungen erforderlichen freien Konstanten, deren Anzahl gleich der Ordnung der Differentialgleichung ist. Einsetzen der allgemeinen Lösung in die Anfangsbedingungen liefert x(0) = xstat + A = x0 ,

also

A = x0 − xstat = x0 −

̇ x(0) = ω0 B = v0 ,

also

B=

G , k

v0 ; ω0

man erhält die angepaßte (spezielle) Lösung x(t) =

G v0 G sin ω0 t . + (x0 − ) cos ω0 t + k k ω0

Abbildung 3.21.4 zeigt das Ergebnis: Die Punktmasse schwingt mit der Periode T = 2π/ω0 frei um die statische Gleichgewichtslage.

l0 (a)

0 xstat (b)

t

xstat T

x (c)

x0 x-G/k x (d)

T= 2π/ω0 ; f = 1/T

Abb. 3.21.4: Schwingung um statische Gleichgewichtslage

344 | 3 Kinematik und Kinetik

3.21.3 Mathematisches Pendel Gegeben: Mathematisches Pendel mit Punktmasse m, Gewicht G und masseloser Stange der Länge l; vgl. Abbildung 3.21.5. Gesucht: Bewegungsgleichung und Eigenfrequenz für kleine Winkel φ, |φ| ≪ 1.

A l φ

Abb. 3.21.5: Mathematisches Pendel

G

Lösung (d’Alembert): Da die Punktmasse m auf einem Kreis vom Radius l um den Punkt A läuft, gilt nach Abschnitt 3.3.5 für die Tangentialbeschleunigung

aT = l φ̈ ,

Normalbeschleunigung

aN = φ̇ 2 l .

Die zugehörigen d’Alembertschen Kräfte sind in Abbildung 3.21.6 eingetragen.

A l φ m mφl

G

mφ2l

Abb. 3.21.6: Kräfte an Punktmasse

Das Momentengleichgewicht um den Punkt A liefert für die Pendelstange + ↺ ̈ − Gl sin φ = 0 . ∑ M (A) = 0 : − (m φl)l Man erhält die Bewegungsgleichung φ̈ +

g sin φ = 0 . l

Dies ist eine nichtlineare Differentialgleichung zweiter Ordnung (ihre Lösung führt auf „Elliptische Integrale“).

3.21 Freie Schwingungen

| 345

Für |φ| ≪ 1 dürfen wir „linearisieren“, das heißt, wir setzen näherungsweise sin φ ≈ φ. Dann erhält man die lineare Differentialgleichung φ̈ +

g φ=0, l

die wir – mit anderen Bezeichnungen – aus Abschnitt 3.21.1 kennen. Das mathema­ tische Pendel schwingt bei kleinen Auslenkungen |φ| ≪ 1 also unabhängig von der Amplitude und unabhängig von der Masse m mit der Frequenz ω0 = √g/l.

3.21.4 Drehschwinger Gegeben: Eine Scheibe vom Trägheitsmoment J um die Achse A − A (vgl. Abbil­ dung 3.21.7) hängt an einem Drehstab der Drehsteifigkeit k T (vgl. Abschnitt 2.13.3). Gesucht: Bewegungsgleichung und Eigenfrequenz für Drehschwingungen φ(t) um A–A.

A kT

φ

J

A

Abb. 3.21.7: Scheibe an Drehstab

Lösung (d’Alembert): Mit dem Momentengleichgewicht für die Scheibe nach Abbildung 3.21.8b, J φ̈ + M = 0 , und dem Drehfedergesetz M = kT φ ergibt sich die Bewegungsgleichung J φ̈ + k T φ = 0 . Auch dies ist eine Schwingungsgleichung von dem im Abschnitt 3.21.1 behandelten Typ. Wir erhalten die Eigenfrequenz ω0 = √k T /J.

346 | 3 Kinematik und Kinetik

(a)

M M

(b)



Abb. 3.21.8: Momente an Scheibe und Drehstab

3.22 Freie gedämpfte Schwingungen 3.22.1 Dämpferelement Für das Federelement nach Abbildung 3.22.1 haben wir in Abschnitt 2.6.1 das Federge­ setz F = kx, „Federkraft = Federsteifigkeit ⋅ Federlängung“, aufgestellt. Die Beziehung gilt – oft nur näherungsweise bei „kleinen“ Verformungen – für irgendwelche elasti­ schen Bauelemente, die skizzierte Schraubenfeder ist dann nur als Symbol für das Verhalten des Elements, nicht als Bild für seine Form zu verstehen. k

F x

Abb. 3.22.1: Federelement

Neben elastischen Elementen (Federn), die Energie speichern (sie sind konservativ), trifft man häufig auf Elemente, die mechanische Energie direkt oder indirekt in Wär­ meenergie umwandeln (Dämpfer). Die Wärmeenergie kann man sich als „zerstreute“ Energie vorstellen, deshalb spricht man von dissipativen Elementen und von Energie­ dissipation. Der einfachste Dämpfer ist ein flüssigkeitsgefüllter Zylinder, in dem ein nicht dichtender Kolben hin- und herbewegt wird, Abbildung 3.22.2a. Bei kleinen Ge­ schwindigkeiten ẋ gilt in erster Näherung für die Dämpferkraft F die Beziehung (Vor­ zeichen vgl. Abbildung 3.22.2b) F = b ẋ . Der Dämpfungskoeffizient b (dim b = dim F/ dim ẋ = KT/L) hängt vom Aufbau des Dämpfers ab und muß im allgemeinen am jeweiligen Element gemessen werden. Die Beziehung wird auf andere Dämpfertypen übertragen. Da sie – wie das Federgesetz – linear ist und deshalb nicht zu nichtlinearen Bewegungsgleichungen führt, die sich nicht allgemein lösen lassen, werden Dämpferwirkungen häufig noch mit b x ̇ beschrie­

3.22 Freie gedämpfte Schwingungen |

x

347

F

x (a) F x (b)

Abb. 3.22.2: Dämpferelement. (a) schematisch, (b) Symbol

Symbol

ben, auch wenn F längst nichtlinear von ẋ (und evtl. auch von x) abhängt. Im folgen­ den wird b als gegeben angesehen. Analog zu F = b ẋ setzt man bei Drehungen für ein dämpfendes Element an: M = b T φ̇

3.22.2 Bewegungsgleichung des linear gedämpften Schwingers Gegeben: Eine Feder der Steifigkeit k und ein Dämpfer mit dem Dämpfungskoeffizien­ ten b sind nach Abbildung 3.22.3 parallel geschaltet (vgl. Abschnitt 2.6.2) und tragen die Punktmasse m (Gewicht vernachlässigt). Gesucht: Bewegungsgleichung für die Masse m; Ausschlag x(t) gegen entspannte Fe­ der gemessen.

k

b

m

Abb. 3.22.3: Gedämpfter Schwinger (Feder-Dämpfer-Parallelschaltung)

Lösung (nach Schema): 1. Schritt: Koordinate. Die Koordinate wird gemäß Abbildung 3.22.4a gewählt. 2. Schritt: Schnittbild (d’Alembert). Abbildung 3.22.4b zeigt die wirkenden Kräfte. 3. Schritt: Gleichgewicht. Für die Traverse und die Masse gilt m ẍ + FD + FF = 0 .

348 | 3 Kinematik und Kinetik

k

b

x m (a)

b

k

FD

FF

FD

FF m

(b)

Abb. 3.22.4: Gedämpfter Schwinger. (a) Schema, (b) Schnittbild

mx

4. Schritt: Zusatzbedingungen (Kennlinien). Feder: FF = kx; Dämpfer: FD = b x.̇ 5. Schritt: Bewegungsgleichung. Aus Punkt 3 und 4 folgt m ẍ + b ẋ + kx = 0 . 6. Schritt: Umschreiben der Differentialgleichung. In der Schwingungslehre gibt man den Koeffizienten der Differentialgleichung ei­ ne unmittelbar interpretierbare Form: Division durch m liefert ẍ +

b ẋ + ω0 2 x = 0 , m

wo ω0 = √k/m die Eigenfrequenz des ungedämpften Schwingers bedeutet. Für b/m setzt man b b . 2Dω0 := , also D := m √ 2 km Die dimensionslose Größe D (Kontrolle!) heißt Dämpfungsgrad oder Dämpfungsmaß; für schwach gedämpfte Systeme gilt D ≈ 0,01 – 0,001. Die umgeschriebene Differentialgleichung lautet ẍ + 2Dω0 ẋ + ω20 x = 0 .

3.22.3 Lösen der Bewegungsgleichung mit dem e λt -Ansatz Gegeben sei die Differentialgleichung ẍ + 2Dω0 ẋ + ω20 x = 0 . ̇ = v0 . Gesucht ist die Lösung x(t) zu den Anfangsbedingungen x(0) = x0 , x(0)

3.22 Freie gedämpfte Schwingungen

| 349

Lösung: Lineare homogene Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten löst man am einfachsten mit einem e λt -Ansatz. Hier setzt man an x(t) = Ce λt , wo C und λ zunächst unbekannte („freie“) Konstanten sind. Einsetzen des Ansatzes in die Differentialgleichung liefert Cλ2 e λt + 2Dω0 Cλe λt + ω20 Ce λt = 0 ,

also (λ2 + 2Dω0 λ + ω20 )Ce λt = 0 .

Da e λt ≠ 0 für beliebige endliche λ und t, darf man durch e λt teilen. Man erhält das Eigenwertproblem (λ2 + 2Dω0 λ + ω20 )C = 0 . Die „triviale Lösung“ C = 0 beschreibt die Ruhelage des Systems, x(t) ≡ 0, und inter­ essiert deshalb nicht. Nichttriviale Lösungen mit C ≠ 0 erhält man, falls die charakteristische Gleichung λ2 + 2Dω0 λ + ω20 = 0 erfüllt ist. Ihre Lösungen sind die beiden Eigenwerte λ1/2 = −Dω0 ± √D2 ω20 − ω20 = −Dω0 ± ω0 √D2 − 1 . Für 0 ≤ D < 1 setzt man λ1/2 = −Dω0 ± jω0 √1 − D2 =: −δ ± jω mit

j := √−1

imaginäre Einheit ,

δ := Dω0

Abklingkoeffizient ,

ω := ω0 √1 − D2

Kreisfrequenz der gedämpften Schwingung .

Mit λ1/2 erhält man die „allgemeine Lösung“ der Differentialgleichung in der Form x(t) = C1 e(−δ+jω)t + C2 e(−δ−jω)t . Darin sind C1 , C2 zwei komplexe Integrationskonstanten.

350 | 3 Kinematik und Kinetik

Reelle Schreibweise Man schreibt die gefundene Lösung wie folgt um: x(t) = e−δt [C1 e jωt + C2 e−jωt ] = e−δt [(C1 + C2 )

e jωt + e−jωt e jωt − e−jωt + j(C1 − C2 ) ] 2 2j

= e−δt [A cos ωt + B sin ωt] . Dies gilt wegen cos ωt =

e jωt + e−jωt , 2

sin ωt =

e jωt − e−jωt 2j

und mit A := C1 + C2 ,

B := j(C1 − C2 ) .

Anpassen an Anfangsbedingungen ̇ = e−δt [(ωB − δ A) cos ωt − (ωA + δ B) sin ωt] folgen durch Einsetzen Mit x(t) und x(t) in die Anfangsbedingungen: x(0) = A = x0 ,

also

A = x0 ,

̇ x(0) = ωB − δ A = v0 ,

also

B = (v0 + δ x0 )/ω .

Damit gilt x(t) = e−δt [x0 cos ωt +

v0 + δ x0 sin ωt] . ω

Häufig ist es zweckmäßig, x(t) in der Form ̂ −δt cos(ωt + φ0 ) x(t) = xe zu schreiben, vgl. Abschnitt 3.4.3. Der Vergleich von ̂ −δt cos(ωt + φ0 ) = e−δt [(x̂ cos φ0 ) cos ωt − (x̂ sin φ0 ) sin ωt] x(t) = xe mit der Lösung liefert x0 = x̂ cos φ0 ,

v0 + δ x0 = −x̂ sin φ0 . ω

Daraus folgen x̂ = √x20 + (

v0 + δ x0 2 ) , ω

tan φ0 = −

v0 + δ x0 . ωx0

Der Quadrant von φ0 muß hierbei mit Rücksicht auf die Vorzeichen in den vorherigen beiden Gleichungen gewählt werden.

3.22 Freie gedämpfte Schwingungen

| 351

Form der Lösungen, logarithmisches Dekrement In Abbildung 3.22.5 ist die Schwingung x = x̂ exp(−δ t) cos(ωt + φ0 ) dargestellt. Man entnimmt der Abbildung die folgenden kennzeichnenden Merkmale: a) Die freie gedämpfte Schwingung ist nicht periodisch und klingt mit der Zeit expo­ nentiell gegen Null ab. b) Die Zeitdauer 2π 2π T := = ω √ ω0 1 − D2 ist der Abstand zweier aufeinanderfolgender gleichsinniger Nulldurchgänge sowie der Abstand der Extrema E+ oder E− (positiv bzw. negativ) und der Berührpunkte B+ oder B− von x(t) mit den Einhüllenden. c) Die Abstände ∆t zwischen zusammengehörenden Punkten E± und B± sind kon­ stant, δ 1 ∆t = arctan . ω ω Seien a n und a n+1 zwei aufeinanderfolgende Maximalausschläge nach derselben Sei­ te (vgl. a1 , a2 in Abbildung 3.22.5.) Da zwischen a n und a n+1 der Zeitabstand T liegt, gilt a n+1 an a n+1 = a n e−δ T und δ T = − ln = ln . an a n+1 Man nennt Λ := ln(a n /a n+1 ) das logarithmische Dekrement. Mit T = 2π/(ω0 √1 − D2 ) und δ = Dω0 kann D bestimmt werden, wenn man Λ über eine Messung von a n /a n+1 kennt: 1 D2 = . 1 + (2π/Λ)2 x ∆t T

x B+1

E+1

x(t) = xe–δt cos(ωt + φ0)

x0

∆t a1

B+2

xe–δt

Einhüllende

E2 a2

0

T E–1

t –xe–δt

B–1 ∆t –x Abb. 3.22.5: Exponentiell abklingende Schwingung

352 | 3 Kinematik und Kinetik

3.22.4 Aperiodische Bewegungen Für D > 1 erhält man nach Abschnitt 3.22.3 zwei negative, reelle Eigenwerte: λ1/2 = −Dω0 ± ω0 √D2 − 1 . Die Lösung der Differentialgleichung lautet mit den Integrationskonstanten C1 und C2 : x(t) = C1 e−(D−

√ D2 −1)ω0 t

+ C2 e−(D+

√ D2 −1)ω0 t

.

Für D = 1 erhält man den aperiodischen Grenzfall mit der negativ reellen Doppelwur­ zel λ1/2 = −Dω0 und der Lösung x(t) = C1 e−Dω0 t + C2 te−Dω0 t . In beiden Fällen schwingen die Lösungen nicht mehr um die Zeitachse – das meint man mit aperiodisch –, sondern „kriechen“ gegen Null; dies kann erwünscht sein. Abbildung 3.22.6 zeigt einige typische Lösungsformen, die sich je nach Differential­ gleichungsparametern und Anfangsbedingungen einstellen können. x x0

0

t

Abb. 3.22.6: Kriechbewegungen

3.23 Erzwungene gedämpfte Schwingungen 3.23.1 Bewegungsgleichung eines fußpunkterregten Schwingers Gegeben: Ein gedämpfter Feder-Masse-Schwinger (Masse m, Gewicht G, Federsteifig­ keit k, Dämpfungskoeffizient b) wird am Aufhängepunkt A („Fußpunkt“) nach einer vorgegebenen Zeitfunktion u = u(t) bewegt, z. B. gemäß u(t) = U0 cos Ωt , wo U0 die Erregeramplitude und Ω die Erreger-Kreisfrequenz ist; vgl. Abbildung 3.23.1. Gesucht: Bewegungsgleichung bezüglich der Koordinate x (Auslenkung gegen ent­ spannte Feder).

3.23 Erzwungene gedämpfte Schwingungen | 353

u(t)

A y

l0

k

b

x m G

Abb. 3.23.1: Fußpunkterregter Schwinger

Lösung (nach Schema): 1. Schritt: Geometrie, Kinematik (Abbildung 3.23.1). y = u(t) + l0 + x ,

ÿ = ü + ẍ .

2. Schritt: System aufschneiden (d’Alembert), s. Abbildung 3.23.2. FD

FF

my G

Abb. 3.23.2: Kräfte an Masse und Traverse

3. Schritt: Gleichgewicht an Traverse. m ÿ + FD + FF = G . 4. Schritt: Kennlinien. FD = b ẋ ,

FF = kx .

5. Schritt: Bewegungsgleichung. m ẍ + b ẋ + kx = G − m ü . 6. Schritt: Umformungen. Mit u(t) = U0 cos Ωt folgen ü = −U0 Ω2 cos Ωt

und

m ẍ + b ẋ + kx = G + mU0 Ω2 cos Ωt .

Wir setzen P0 := mU0 Ω2 (Kraft!) und erhalten m ẍ + b ẋ + kx = G + P0 cos Ωt .

354 | 3 Kinematik und Kinetik

A

k

b x m G P(t)

Abb. 3.23.3: Schwinger mit Kraftanregung an der Masse

Diese lineare, inhomogene Differentialgleichung zweiter Ordnung kann als Bewe­ gungsgleichung eines Schwingers mit festem Aufhängepunkt angesehen werden, an dem die Kraft P(t) = P0 cos Ωt eine Schwingung erzwingt (P0 wird im folgenden als frequenzunabhängig, als konstant, angesehen), vgl. Abbildung 3.23.3.

3.23.2 Superposition (Überlagerung) von Lösungen Zur Lösung von m ẍ + b ẋ + kx = G + P0 cos Ωt setzen wir x(t) aus drei Anteilen zusammen (vgl. Abschnitt 3.21.2): x(t) = x1 (t) + x2 (t) + x3 (t) . Der Anteil x1 (t) sei die allgemeine Lösung der homogenen Differentialgleichung m ẍ 1 + b ẋ 1 + kx1 = 0 , wir haben ihn in Abschnitt 3.22.3 zu x1 (t) = e−δt [A cos ωt + B sin ωt] bestimmt, wo δ = Dω0 = b/(2m), ω = ω0 √1 − D2 , ω0 = √k/m. Der Anteil x2 (t) sei (irgend-)eine spezielle Lösung der inhomogenen Differential­ gleichung m ẍ 2 + b ẋ 2 + kx2 = G . Der Ansatz vom Typ der rechten Seite (vgl. Abschnitt 3.21.2) führt auf x2 = xstat =

G . k

Der dritte Anteil x3 (t) sei (irgend-)eine spezielle Lösung der inhomogenen Differen­ tialgleichung m ẍ 3 + b ẋ 3 + kx3 = P0 cos Ωt .

3.23 Erzwungene gedämpfte Schwingungen

| 355

Auch hier führt ein Ansatz vom Typ der rechten Seite zum Erfolg: x3 = C1 cos Ωt + C2 sin Ωt

oder

x3 = x̂ 3 cos(Ωt − β) ,

wo die Konstanten C1 , C2 bzw. x̂ 3 , β aus der Differentialgleichung bestimmt werden müssen. Man erhält (Übungsaufgabe!) C1 =

(k − mΩ2 )P0 , ∆

C2 =

bΩP0 ∆

mit

∆ := (k − mΩ2 )2 + b 2 Ω2 .

Die so gefundene erzwungene Schwingung x3 (t) läßt sich jedoch übersichtlicher über eine „komplexe Rechnung“ ermitteln und interpretieren, wie wir es im nächsten Ab­ schnitt darlegen. Addiert man die drei Differentialgleichungen und die Teillösungen gemäß den An­ sätzen, so folgt aus .. . m(x1 + x2 + x3 ) + b(x1 + x2 + x3 ) + k(x1 + x2 + x3 ) = G + P0 cos Ωt das Erfülltsein von m ẍ + b ẋ + kx = G + P0 cos Ωt . Hierbei enthält die allgemeine Lösung x(t) über x1 (t) die beiden freien Integrations­ konstanten A und B, die das Anpassen an zwei vorgegebene Anfangsbedingungen, ̇ z. B. x(0) = x0 , x(0) = v0 , gestatten; vgl. Abschnitt 3.21.2 und 3.23.4.

3.23.3 Komplexe Behandlung der erzwungenen Schwingungen Gegeben sei die Bewegungsgleichung m ẍ + b ẋ + kx = P0 cos Ωt (wir schreiben hier x statt x3 in Abschnitt 3.23.2). Als zusätzliche Gleichung schreiben wir an: m ÿ + b ẏ + ky = P0 sin Ωt . Multipliziert man die zweite Gleichung mit der imaginären Einheit j := √−1 und ad­ diert sie zur ersten, so folgt .. . m(x + jy) + b(x + jy) + k(x + jy) = P0 (cos Ωt + j sin Ωt) , also die „komplexe“ Differentialgleichung m z̈ + b ż + kz = P0 e jΩt . Hier ist z := x + jy ein (komplexer) Vektor – auch Zeiger genannt – in der komplexen Zahlenebene nach Abbildung 3.23.4a; x und y sind die Projektionen von z auf die reelle bzw. die imaginäre Achse: x = Re z , y = Im z .

356 | 3 Kinematik und Kinetik imaginäre Achse Im y

z

0

P0sinΩt

reelle Achse

x

(a)

Ωt

P0ejΩt

P0cosΩt

Re

(b)

Abb. 3.23.4: Darstellungen in der komplexen Ebene

Die Darstellung des Ausdrucks auf der rechten Seite der Differentialgleichung, P0 e jΩt = P0 (cos Ωt + j sin Ωt) , folgt aus der Eulerschen Formel. Der Vektor P0 e jΩt stellt in der komplexen Ebene einen mit der Winkelgeschwindigkeit Ω gegen den Uhrzeigersinn umlaufenden Pfeil („Dreh­ zeiger“) der Länge P0 dar (vgl. Abbildung 3.23.4b). Formal geht die komplexe Differentialgleichung aus der ursprünglichen Bewe­ gungsgleichung hervor, indem man x durch z und cos Ωt durch e jΩt ersetzt. Kommt in der ursprünglichen Differentialgleichung rechts ein Glied P1 sin Ωt vor, so steht in der komplexen dort −jP1 e jΩt . (Dies sieht man unmittelbar, wenn man die komplexe Differentialgleichung der Projektion Re . . . unterwirft). Lösen der komplexen Differentialgleichung Gesucht ist ein Partikularintegral der komplexen Differentialgleichung m z̈ + b ż + kz = P0 e jΩt . Der Ansatz vom Typ der rechten Seite – das ist ein linksdrehender Zeiger – lautet nun z = Ce jΩt , wo C eine komplexe Konstante ist (vgl. Abbildung 3.23.5). Im z Ωt C 0

x

Re

Abb. 3.23.5: Drehzeiger

3.23 Erzwungene gedämpfte Schwingungen |

357

Mit diesem Ansatz folgt aus der Differentialgleichung (−mΩ2 + jbΩ + k)Ce jΩt = P0 e jΩt , also C=

P0 k − mΩ2 + jbΩ

und

z(t) =

P0 e jΩt . k − mΩ2 + jbΩ

Der Zeiger z(t) unterscheidet sich von P0 e jΩt nur durch einen komplexen Faktor, der hier als Nenner steht. Interpretation der komplexen Lösung Mit reellem Nenner lautet die obige Lösung z=

(k − mΩ2 ) − jbΩ P0 e jΩt . (k − mΩ2 )2 + b 2 Ω2

Erweitern mit k 2 /k 2 erlaubt es, die Lösung mit Hilfe der Eigenfrequenz ω0 = √k/m der ungedämpften freien Schwingung sowie des Dämpfungsgrades 2D = bω0 /k aus­ zudrücken. Man erhält z=

P0 jΩt (1 − mΩ 2 /k) − j(bω0 /k)Ω/ω0 e 2 2 2 2 2 2 (1 − mΩ /k) + (b ω0 /k )(Ω/ω0 ) k

und z(t) =

(1 − η2 ) − j2Dη P0 jΩt e , (1 − η2 )2 + 4D2 η2 k

wo η := Ω/ω0 die auf die Eigenfrequenz ω0 (des ungedämpften Schwingers) normierte dimensionsfreie Erreger-Kreisfrequenz bezeichnet. Je nach Größe von η unterscheidet man: η≪1,

gleichwertig ω0 ≫ Ω ,

„hohe Abstimmung“ ;

η=1,

gleichwertig ω0 = Ω ,

„Resonanz“ (s. unten) ;

η≫1,

gleichwertig ω0 ≪ Ω ,

„tiefe Abstimmung“ .

Die letzte Gleichung für z(t) kann man auf zwei Weisen lesen: In der Regelungstechnik, wo man die verschiedensten technischen Systeme nach einheitlichen Gesichtspunkten behandelt, sieht man den Schwinger als ein Über­ tragungssystem mit Eingang und Ausgang (vgl. Abbildung 3.23.6), dessen technische Details nicht unbedingt interessieren (man spricht deshalb vom „Block“ oder vom „schwarzen Kasten“). Dort schreibt man z(t) = H(jη)P0 e jΩt

358 | 3 Kinematik und Kinetik

H(η) oder H(Ω)

Eingang P0ejΩt

Ausgang z(t)

Abb. 3.23.6: Übertragungssystem

und sagt: Der Ausgang z(t) ist das Produkt des Eingangs P0 e jΩt mit der (komplexen) Übertragungsfunktion H = H(jη); man spricht auch vom Frequenzgang. Für das be­ trachtete Übertragungssystem gilt also H=

1 1 1 (1 − η2 ) − j2Dη . = 2 k 1 − η + j2Dη k (1 − η2 )2 + 4D2 η2

Für viele regelungstechnische Untersuchungen genügt die Kenntnis der Übertra­ gungsfunktion H(jη) oder auch H(jΩ), falls man an die erste Gleichung für z(t) an­ schließt und auf die normierte Erregerfrequenz η verzichtet. Abbildung 3.23.7 zeigt eine Skizze der Ortskurve von H(jη). Man schreibt zweck­ mäßig H(jη) = re −jβ und liest aus Abbildung 3.23.7 ab: r(η) = tan β =

1 1 , k √(1 − η2 )2 + 4D2 η2 2Dη , 1 − η2

0≤β 2. Allgemeine Aussagen Hinweis 1: Die charakteristische Gleichung des Schwingers vom Freiheitsgrad 2 (all­ gemein f ) hat die Ordnung 2 × 2 = 4 (bzw. 2f ) und liefert in der Regel 2 (bzw. f ) im allgemeinen verschiedene Eigenfrequenzen ω1 , ω2 (ω k , k = 1, . . . , f). Hinweis 2: Hinreichend für die Existenz von 2 (bzw. f ) Eigenfrequenzen ω k > 0 (Mehr­ fachwurzeln entsprechend ihrer Vielfachheit gezählt) mit einem System von 2 (bzw. f ) linear unabhängigen Eigenvektoren x̂ k ist die Bedingung, daß beide Matrizen M und K positiv definit sind. Das heißt, sie müssen zu beliebigen (auch komplexwertigen!) Spaltenmatrizen x ≠ 0 die Bedingungen x T M x > 0 und

xT K x > 0

3.24 Freie ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei |

367

erfüllen. (Dabei bedeutet die Überstreichung die komplexe Konjugation.) Sind näm­ lich beide Bedingungen erfüllt, und ist (λ k , x̂ k ) eine zunächst beliebig komplex ange­ nommene Lösung der Eigenwertaufgabe (Mλ2k + K)x̂ k = 0 , so folgt nach Multiplikation mit x̂ k von links durch Umstellen T T ̂ x̂ M x)̂ < 0 , reell . λ2k = −(x̂ K x)/(

Die Eigenwerte λ k sind demnach rein imaginär, wir haben sie – mit f = 2 – gemäß λ k = jω k , λ k+f = λ k = −jω k numeriert, k = 1, . . . , f . Für reelles λ2k lassen sich andererseits aus (Mλ2k + K)x̂ k = 0 reelle Eigenvektoren x̂ k = x̂ k+f berechnen. Hinweis 3: Man kann obige Definitheitsbedingungen über kinetische bzw. potentielle Energierelationen physikalisch deuten: Ekin :=

1 T ẋ M ẋ , 2

Epot :=

1 T x Kx; 2

vgl. die Abschnitte 3.10, 3.19.2 bzw. 2.14.3. Danach ist M positiv definit, falls zu jeder denkbaren Geschwindigkeit ẋ ≠ 0 ein Ekin > 0 gehört, und K ist positiv definit, falls zu jeder denkbaren Systemverformung x ≠ 0 eine Energie Epot > 0 aufgewandt werden muß.

3.24.3 Ausdeuten der Lösung; Eigenschwingungen; Umformen der Lösung; Anpassen an Anfangsbedingungen Die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung eines Zweimassenschwingers, M ẍ + K x = 0 , haben wir im vorigen Abschnitt in der Form x(t) = (C1 e jω1 t + C3 e−jω1 t )x̂ 1 + (C2 e jω2 t + C4 e−jω2 t )x̂ 2 angegeben. Mit A1 := C1 + C3 , B1 := j(C1 − C3 ), A2 := C2 + C4 , B2 := j(C2 − C4 ) lautet sie reell (vgl. Abschnitt 3.22.3): x(t) = (A1 cos ω1 t + B1 sin ω1 t)x̂ 1 + (A2 cos ω2 t + B2 sin ω2 t)x̂ 2 . Daraus folgt durch Ableiten: ̇ = ω1 (−A1 sin ω1 t + B1 cos ω1 t)x̂ 1 + ω2 (−A2 sin ω2 t + B2 cos ω2 t)x̂ 2 . x(t)

368 | 3 Kinematik und Kinetik

Mit den zu Beginn von Abschnitt 3.24.2 gesetzten Anfangsbedingungen erhalten wir x(0) = A1 x̂ 1 + A2 x̂ 2 = x 0 , ̇ = ω1 B1 x̂ 1 + ω2 B2 x̂ 2 = v 0 . x(0) Dies sind je zwei gekoppelte Gleichungen für A1 , A2 und B1 , B2 : (

x̂ 11 x̂ 21

x̂ 12 A1 x10 )( ) = ( ) , x̂ 22 A2 x20

(

x̂ 11 x̂ 21

x̂ 12 ω1 B1 v10 )( )=( ) . x̂ 22 ω2 B2 v20

Dabei sind die Eigenfrequenzen ω i und die Elemente x̂ ki der Eigenvektoren x̂ i aus dem vorigen Abschnitt bekannt, und die Anfangswerte x k0 , v k0 sind gegeben. Aufgabe: Berechnen Sie mit den im vorigen Abschnitt angegeben Werten zu ange­ nommenen Anfangswerten die Koeffizienten A i , B i . Eigenschwingungen Wir schreiben die allgemeine Lösung, x(t) = (A1 cos ω1 t + B1 sin ω1 t)x̂ 1 + (A2 cos ω2 t + B2 sin ω2 t)x̂ 2 , mit

a1 cos(ω1 t + φ10 ) := A1 cos ω1 t + B1 sin ω1 t , a2 cos(ω2 t + φ20 ) := A2 cos ω2 t + B2 sin ω2 t

als phasenverschobene Sinus-Schwingungen (vgl. Abschnitte 3.4.3 und 3.22.3): x(t) = a1 x̂ 1 cos(ω1 t + φ10 ) + a2 x̂ 2 cos(ω2 t + φ20 ) =(

a2 x̂ 12 a1 x̂ 11 ) cos(ω1 t + φ10 ) + ( ) cos(ω2 t + φ20 ) . a1 x̂ 21 a2 x̂ 22

̇ Wählt man die Anfangsbedingungen x(0) und x(0) so, daß sich a1 ≠ 0 mit a2 = 0 oder a1 = 0 mit a2 ≠ 0 ergeben, so schwingt das System rein sinusförmig gemäß x(t) = x1 (t) = a1 x̂ 1 cos(ω1 t + φ10 ) bzw. x(t) = x2 (t) = a2 x̂ 2 cos(ω2 t + φ20 ) . Dies sind die sogenannten Eigenschwingungen: In der k-ten Eigenschwingung, k = 1, 2 bzw. (k = 1, . . . , f), schwingt das (un­ gedämpfte) System rein sinusförmig mit der Kreisfrequenz ω k und mit einer festen Eigenform, die durch den Eigenvektor x̂ k vorgegeben ist: x k (t) = a k (

x̂ 1k ) cos(ω k t + φ k0 ) . x̂ 2k

3.24 Freie ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei | 369

xi mm 4

x2 x1

2

0

5

10

15

20

25 ω0t

20

25 ω0t

–2 (a) –4 xi 4 mm

x1

2

0

5

10

x2

15

–2 (b) –4 Abb. 3.24.2: Eigenschwingungen. (a) zu ω 1 = 0,4820 . . . ω 0 , (b) zu ω 2 = 2,0744 . . . ω 0

Abbildung 3.24.2 zeigt die Eigenschwingungen x1 (t) und x 2 (t) für a1 = 1,3 mm, φ10 = π/6 bzw. a2 = 1,8 mm, φ20 = π/4. Für die Gesamtbewegung gilt x(t) = x1 (t) + x 2 (t). Trägt man die Bewegungen in einem rechtwinkligen x1 -x2 -Koordinatensystem – mit der Zeit t als Parameter – auf, so erhält man (vgl. Abbildung 3.24.3) die beiden Pfeilpaare ±a1 x̂ 1 und ±a2 x̂ 2 , auf denen (x1 (t), x2 (t)) in den Eigenschwingungen je­ weils „entlanglaufen“: In der ersten Eigenschwingung schwingt das System „in Richtung von x̂ 1 “, da­ bei bewegen sich die Massen m1 und m2 gleichläufig – „in Phase“ (vgl. die Extremla­

–a 2 x 2

x2 4 mm

a 1x 1

2

–2

0 –2

–a 1 x 1 –4

2 mm 4 x1 a 2x 2 Abb. 3.24.3: Eigenschwingungen x 1 (t), x 2 (t) im x1 -x2 -Diagramm

370 | 3 Kinematik und Kinetik xi/a1

xi/a2

m2 m1

m1 P

0

0 m2

(a)

(b)

Abb. 3.24.4: Extremlagen a1 x̂1 und a2 x̂2 (durchgezogen) bzw. −a1 x̂1 und −a2 x̂2 (gestrichelt) der Eigenschwingungen, (a) 1. Eigenschwingung, (b) 2. Eigenschwingung

gen in Abbildung 3.24.4a). In der zweiten Eigenschwingung schwingt das System „in Richtung von x̂ 2 “, m1 und m2 bewegen sich gegenläufig – „in Gegenphase“ (vgl. die Extremlagen in Abbildung 3.24.4b); der Punkt P der Blattfeder bleibt in Ruhe, man spricht von einem „Knotenpunkt“ (auch „Schwingungsknoten“). Aufgabe: Berechnen Sie mit Hilfe der Eigenschwingungsform x̂ 2 (vgl. Abschnitt 3.24.2) und aus den Gleichungen der Balkenbiegung (Abschnitt 2.11) zu den gewählten Para­ metern den Ort des Knotenpunktes P in Abbildung 3.24.4b. Allgemeine Lösung als Überlagerung von Eigenschwingungen Abbildung 3.24.5 zeigt die oben bereits angeschriebene allgemeine Lösung x(t) als Überlagerung – als Summe – der beiden Eigenschwingungen x k (t) aus Abbildung 3.24.2. Auf den ersten Blick springt die Unregelmäßigkeit ins Auge, auf den zweiten vermag man (hier noch) die zweite Eigenschwingung zu erkennen (vgl. mit Abbildung 3.24.2b). xi mm 5 x2 x1 0

5

10

15

20

25 ω0t

–5

Abb. 3.24.5: Allgemeine Lösung als Funktion der Zeit. (Zeit in Form ω 0 t dimensionslos geschrieben)

3.25 Erzwungene ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei | 371

x mm 26

x2 6

E

mm 4 –a 2 x 2

2

2

A –2

0

2

+ mm 4

x1

–2

–2

–6

2 –2

–a 1 x 1

–4

(a)

a 1x 1

4

(b)

mm 4 x 1

a 2x 2

–4

–6

Abb. 3.24.6: Lissajous-Figuren. (a) allgemeine Lösung, (b) einhüllendes Parallelogramm

Trägt man die allgemeine Lösung in der x1 -x2 -Ebene auf, so erhält man die soge­ nannte Lissajous-Figur nach Abbildung 3.24.6a für 0 ≤ ω0 t ≤ 25. (Darin bezeichnet A den Anfangspunkt, ω0 t = 0, und E den Endpunkt, ω0 t = 25.) Die allgemeine Lö­ sung wird durch das von ±a1 x̂ 1 und ±a2 x̂ 2 aufgespannte Parallelogramm nach Abbil­ dung 3.24.6b eingehüllt. Aufgabe: Verfolgen Sie die Bewegungen x i (t) in den Abbildungen 3.24.5 und 3.24.6a parallel zueinander. Wie kann man aus Abbildung 3.24.6a das Frequenzverhältnis ω1 /ω2 näherungsweise gewinnen?

3.25 Erzwungene ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei Wie in der einleitenden Bemerkung zu Abschnitt 3.24 gesagt, lassen sich Schwinger mit dem Freiheitsgrad f ≥ 2 nur numerisch behandeln. Bei den erzwungenen ge­ dämpften Schwingungen werden die zugehörigen allgemeinen Überlegungen – auch in komplexer Schreibweise – rasch recht verwickelt. Deshalb beschränken wir uns hier auf die leichter durchschaubaren ungedämpften erzwungenen Schwingungen.

3.25.1 Bewegungsgleichungen Gegeben sei der Zweimassenschwinger aus Abschnitt 3.24.1 (dort Abbildung 3.24.1a), auf den nun – vergleichbar mit dem Einmassenschwinger in Abbildung 3.23.3 – die

372 | 3 Kinematik und Kinetik

l1

l2

EI

m1

m2

G1

G2

P1(t)

P2(t)

Abb. 3.25.1: Zweimassenschwinger mit Kraftanregungen

zwei Kraftanregungen P1 (t) = P10 cos Ωt und P2 (t) = P20 cos Ωt mit gegebenen Am­ plituden P10 , P20 und (gleicher) Erreger-Kreisfrequenz Ω wirken mögen (vgl. Abbil­ dung 3.25.1). Gesucht sind die Bewegungsgleichungen für kleine Auslenkungen x1 (t), x2 (t), vgl. Abschnitt 3.24.1. Lösung im Anschluß an die Überlegungen in Abschnitt 3.24.1: Der Vergleich der Abbildungen 3.24.1a und 3.25.1 zeigt, daß an die Stellen der früheren Gewichtskräfte G1 und G2 jetzt die Summen G1 + P1 (t) bzw. G2 + P2 (t) treten. Dann lauten die Bewegungsgleichungen (vgl. Schritte 5 und 6 in Lösung zu Ab­ schnitt 3.24.1) skalar :

m1 ẍ 1 + k 11 x1 + k 12 x2 = G1 + P1 (t) , m2 ẍ 2 + k 21 x1 + k 22 x2 = G2 + P2 (t) ,

in Matrixschreibweise : (

m1 0

ẍ 1 0 k 11 )( ) + ( ̈ m2 x2 k 21

k 12 x1 G1 P1 (t) ) , )( ) = ( ) + ( P2 (t) k 22 x2 G2

abgekürzt: M ẍ + K x = G + P(t) . Dies ist ein lineares, inhomogenes Differentialgleichungssystem zweiter Ordnung. Hinweis 1: Wirken auf den Schwinger mehrere Kräfte P l (t), zum Beispiel unterschied­ licher Frequenz oder Phasenlage, so steht in obiger (Matrix-)Bewegungsdifferential­ gleichung rechts die entsprechende Summe. Hinweis 2: Bei einem Schwinger vom Freiheitsgrad f > 2 bestehen die Spaltenmatri­ zen x(t), G und P(t) aus f Elementen, und M, K sind f × f -Matrizen. In der MatrixSchreibweise ändert sich sonst nichts.

3.25 Erzwungene ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei |

373

3.25.2 Superposition (Überlagerung) von Lösungen Zur Lösung von M ẍ + K x = G + P(t) setzen wir x(t) – parallel zu Abschnitt 3.23.2 – aus drei Anteilen² zusammen: x(t) = x1 (t) + x2 (t) + x 3 (t) . Der Anteil x1 (t) sei die allgemeine Lösung der homogenen Differentialgleichung M ẍ 1 + K x1 = 0 . Wir haben sie in den Abschnitten 3.24.2 und 3.24.3 behandelt. Der Anteil x2 sei die statische Auslenkung x2 = xstat = K −1 G , also (irgend-)eine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung M ẍ 2 + K x2 = G , vgl. Hinweis 4 in Abschnitt 3.24.1. Der Anteil x3 (t) sei (irgend-)eine spezielle Lösung (Partikularintegral) der inho­ mogenen Differentialgleichung M ẍ + K x = P(t) = P 0 cos Ωt , mit P0 = (P10 , P20 )T . Die Summe der drei Anteile ist die allgemeine Lösung der Ausgangsdifferential­ gleichung (entsprechend den abschließenden Sätzen von Abschnitt 3.23.2). Hinweis: Stehen auf der rechten Seite der inhomogenen Differentialgleichung mehre­ re Kraftanregungen P l (t), so muß man in die allgemeine Lösung die entsprechenden Partikularintegrale x l (t) aufnehmen.

3.25.3 Berechnen der erzwungenen Schwingungen Gegeben sei die Bewegungsgleichung M ẍ + K x = P0 cos Ωt (wir schreiben hier x statt x3 im vorigen Abschnitt). 2 Die hier mit x 1 (t) und x 2 (t) bezeichneten Anteile sind nicht mit den Eigenlösungen in den Abschnit­ ten 3.24.2 und 3.24.3 zu verwechseln.

374 | 3 Kinematik und Kinetik

Gesucht ist das der rechten Seite – den anregenden schwingenden Kräften – ent­ sprechende Partikularintegral x(t), die erzwungene Schwingung. Lösung: Im allgemeineren Fall, wenn der Schwinger auch Dämpfungsterme enthält, rechnet (und „denkt“) man am besten komplex (vgl. Abschnitt 3.23.3). Ein Blick auf obige Dif­ ferentialgleichung zeigt jedoch, daß man hier mit dem Ansatz vom Typ der rechten Seite in der besonders einfachen Form x(t) = x̂ 0 cos Ωt = (

x̂ 10 ) cos Ωt x̂ 20

auskommt, wo x̂ 0 = (x̂ 10 , x̂ 20 )T konstant ist. Mit x = x̂ 0 cos Ωt ,

ẋ = −x̂ 0 Ω sin Ωt ,

ẍ = −x̂ 0 Ω2 cos Ωt

erhält man aus der Differentialgleichung (−MΩ2 + K)x̂ 0 cos Ωt = P0 cos Ωt . Daraus folgt wegen cos Ωt ≢ 0: (K − MΩ2 )x̂ 0 = P0 . Multipliziert man von links mit der Kehrmatrix (K − MΩ2 )−1 , so ergibt sich x̂ 0 = H P0 mit der Übertragungsmatrix H = H(jΩ) := (K − MΩ2 )−1 (vgl. die Übertragungsfunktion H(jΩ) in Abschnitt 3.23.3). Die gesuchte erzwungene Schwingung lautet formal x(t) = H(jΩ) P 0 cos Ωt . Ausdeuten der erzwungenen Schwingung Der Ausdruck für die erzwungene Schwingung, x(t) = H(jΩ) P 0 cos Ωt = x̂ 0 cos Ωt , läßt sich im allgemeinen Fall nur numerisch auswerten. Da der Zeitverlauf x̂ 0 cos Ωt einfach sinusförmig – also unmittelbar vorstellbar – ist, fragt man nur noch nach den Amplituden x̂ 0 = (x̂ 10 , x̂ 20 )T in Abhängigkeit von den Systemparametern, insbeson­ dere in Abhängigkeit von der Erreger-(kreis-)frequenz Ω. Für den Schwinger vom Frei­ heitsgrad f = 2 läßt sich die Gleichung (K − MΩ2 )x̂ 0 = P 0 ,

3.25 Erzwungene ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei |

also (

k 11 − m1 Ω2 k 21

375

x̂ 10 P10 k 12 )( ) = ( ) , 2 ̂ x20 k 22 − m2 Ω P20

noch formelmäßig anschreiben. Man erhält x̂ 0 = (

x̂ 10 H11 (jΩ) )=( H21 (jΩ) x̂ 20

H12 (jΩ) P10 ) = H P0 )( H22 (jΩ) P20

mit H = H(jΩ) = (M(jΩ)2 + K)−1 = (K − MΩ2 )−1 =

1 k 22 − m2 Ω2 ( ∆(jΩ) −k 21

−k 12 ) , k 11 − m1 Ω2

wo ∆(jΩ) = det(M(jΩ)2 + K) = (k 11 − m1 Ω2 )(k 22 − m2 Ω2 ) − k 12 k 21 (vgl. ∆(λ) in Abschnitt 3.24.2). Die H mn (jΩ) sind die Übertragungsfunktionen von P n0 nach x̂ m0 ; erster Index m: Wirkung, zweiter Index n: Ursache (vgl. Abschnitte 1.16.3 und 2.14.3). Man kann die H mn (jΩ) parallel zu den Abschnitten 2.6.1 und 2.14.3 als „dynamische Verschiebungs­ einflußzahlen“ (oder Nachgiebigkeiten) auffassen; s. Aufgabe 1, unten. Die folgenden Eigenschaften der Übertragungsmatrix (bzw. der Übertragungs­ funktionen) liest man unmittelbar aus den allgemeinen Beziehungen ab: Sind so­ wohl die Massen-(oder Trägheits-)matrix als auch die Steifigkeitsmatrix symmetrisch, M = MT und K = K T , so ist auch die Übertragungsmatrix symmetrisch: H = HT

bzw.

H mn (jΩ) = H nm (jΩ) .

Man vergleiche diese Aussage mit dem Maxwellschen Reziprozitätssatz in Abschnitt 2.14.3. Die Nennerdeterminante ∆(jΩ) in obiger Gleichung für H(jΩ) hat dieselben Null­ stellen ±jω k wie die charakteristische Gleichung ∆(λ) = 0 in Abschnitt 3.24.2. Die nen­ nerdeterminante ∆(jΩ) verschwindet also, wenn die Erregerfrequenz Ω mit einer der Eigenfrequenzen ω k übereinstimmt. Die Frequenzen Ω = ω1

und

Ω = ω2

sind die Resonanzfrequenzen (oder Resonanzstellen) des Schwingers vom Freiheits­ grad f = 2. (Man vergleiche mit η = 1, also Ω = ω0 , in Abschnitt 3.23.3.) In der Nähe der Resonanzstellen, bei Ω ≈ ω k , werden die Übertragungsfunktio­ nen H mn (jΩ) und damit die Amplituden x̂ n0 (dem Betrage nach) sehr groß, vgl. die Abbildungen 3.25.2/3.25.3. Hinweis 1: Bei einem Schwinger vom Freiheitsgrad f hat man die Resonanzstellen Ω = ω k , k = l, . . . , f .

376 | 3 Kinematik und Kinetik Hinweis 2: In der Regel nimmt man die Erregerfrequenz Ω ≥ 0 an. Damit entfallen die Resonanzstellen Ω = −ω k , k = l, . . . , f . Hinweis 3: Auf den Resonanzstellen Ω = ω k gibt es (beim ungedämpften System) keine Lösung der Form x = x̂ 0 cos ω k t. Man muß dann die Lösung ähnlich wie in der Aufgabe am Ende von Abschnitt 3.23.3 ansetzen. Hinweis 4: Sei Ω = Ω̃ eine Nullstelle von H m̃ ñ (jΩ). Dann hat P n0̃ bei Ω = Ω̃ keinen Einfluß auf x̂ m0 ̃ ; vgl. den unten im Anschluß an Abbildung 3.25.2 und in Hinweis 5 diskutierten Begriff der Tilgung. Zahlenbeispiel Um einen Einblick in die Zusammenhänge zu gewinnen, müssen wir in obigen Bezie­ hungen Zahlenwerte (Parameter) einsetzen. Wir gehen dabei von Abschnitt 3.24.2 aus, wo wir in den k ik aus Abschnitt 3.24.1 die Werte l1 = l2 = l, m1 = 4m, m2 = m setzten und die Bezugsfrequenz ω0 = √3EI/(√7ml3 ) erhielten. Wir wählen nun für die Spaltenmatrix der Erregerkräfte (im Hinblick auf günstig darstellbare Ergebnisse) die Werte P0 = P0 (0,15; −0,1)T , wo P0 eine beliebige Kraft (≠ 0) bedeutet. Mit η := Ω/ω0 erhalten wir aus obigen Gleichungen nach einigen Zwischenrechnungen für die Am­ plituden x̂ m0 die Ausdrücke x̂ 10 =

0,15 (4 − η 2 √7) − 10 ⋅ 0,1 x̂ 0 , η4 − η2 12/√7 + 1

x̂ 20 =

10 ⋅ 0,15 − 4 (8 − η 2 √7) ⋅ 0,1 x̂ 0 , η4 − η2 12/√7 + 1

wo x̂ 0 := P0 l3 /(12EI) zu gegebenen Zahlenwerten P0 , l, EI berechnet werden muß. Abbildung 3.25.2 zeigt die auf x̂ 0 bezogenen Amplituden x̂ i0 als Funktionen von η = Ω/ω0 . Für η = 0 liest man (zu den gewählten Parametern) aus der Abbildung (und aus obigen Gleichungen) x̂ 10 = −0,4x̂ 0 , x̂ 20 = −1,7x̂ 0 ab. Dies sind statische Auslenkun­ gen gegen die Richtung von P10 = 0,15P0 und in Richtung von P20 = −0,1P0 . Für kleine η > 0 behalten die x̂ i0 ihre Vorzeichen, sie schwingen also in Gegen­ phase zu P10 und in Phase zu P20 , ihre Beträge nehmen zu. Nähert sich η dem Wert ω1 /ω0 , der auf ω0 bezogenen ersten Eigenfrequenz, so streben die Beträge |x̂ m0 | beider Ausschläge x̂ m0 gegen unendlich; man ist an der ers­ ten Resonanzstelle; vgl. die allgemeinere Ausdeutung oben.

3.25 Erzwungene ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei |

377

xm0/x0 3 2

2

2 1 1 0

–1

ω1/ω0 1

2 ω1/ω0

η*

3

η

1

1

2 2

–2

–3 Abb. 3.25.2: Normierte Amplituden x̂m0 /x̂0 in Abhängigkeit von der normierten Erregerfrequenz η = Ω/ω0 .

Unmittelbar oberhalb ω1 /ω0 „kehren beide Ausschläge aus dem Unendlichen zu­ rück“, doch haben die Phasen umgeschlagen. Bei weiterer Erhöhung von η nimmt x̂ 10 / x̂ 0 ein Minimum an, während x̂ 20 /x̂ 0 bei η∗ eine Nullstelle hat. Bei der Erregerfrequenz η = η∗ steht die Masse m2 still (!), ober­ halb η > η∗ hat sie dann ihre Phase gegen m1 gewechselt, beide Massen schwingen in Gegenphase. Steigt η weiter und nähert sich ω2 /ω0 , der auf ω0 bezogenen zweiten Eigenfrequenz, so streben die Beträge |x̂ m0 | beider Ausschläge x̂ m0 wieder gegen un­ endlich; man ist an der zweiten Resonanzstelle. Oberhalb der zweiten Resonanzstelle nehmen die Beträge der Ausschläge ab, weil die (d’Alembertschen) Trägheitskräfte dominieren. Hinweis 5: Der Punkt η = η∗ in Abbildung 3.25.2, an dem die Masse m2 nicht schwingt, heißt Tilgerpunkt. Die Masse m1 „tilgt“ bei dieser Frequenz gerade die auf die Mas­ se m2 wirkenden schwingenden Kräfte. Hat man m1 speziell zu diesem Zweck auf dem Schwinger (dem Balken) angebracht, so spricht man von einer Tilgermasse oder einem Tilger (Tilgung hat nichts mit Dämpfung zu tun!). Wie man sieht, hängt die Tilgerfrequenz bei konstanten Systemparametern noch vom Verhältnis P10 /P20 der Erregeramplituden ab. Man kann Tilgung bei Mehrmassenschwingern also nur nutzen, wenn sowohl P10 /P20 als auch die Erregerfrequenz Ω gleichbleibend fest sind.

378 | 3 Kinematik und Kinetik

Bei Darstellung der ungedämpften erzwungenen Schwingungen in der Form x m (t) = x̂ m0 cos Ωt , können die Amplituden auch negative Werte annehmen (vgl. Abbildung 3.25.2), wobei der Vorzeichenwechsel einem Phasensprung von 180° entspricht. Daher lassen sie sich nicht unmittelbar mit den erzwungenen Schwingungen in der Form x(t) =

P0 V cos(Ωt − β) =: x0 cos(Ωt − β) K

aus (zum Beispiel) Abschnitt 3.23.4 vergleichen, weil da die Amplituden x0 positiv sind und β jeweils die Phasenlage wiedergibt. xm0 x0

4 3 2

2 2

1 1 (a) 0

2

1

1

ω1/ω0

1

η*

2 ω2/ω0

3

η

ω1/ω0

1

η*

2 ω2/ω0

3

η

ω1/ω0

1

η*

2 ω2/ω0

3

η

β10 π/2

(b) 0 β10 π/2

(c) 0

Abb. 3.25.3: Amplituden und Null-Phasenwinkel. (a) Normierte Amplitudenbeträge | x̂ m0 |/x̂0 , (b), (c) Null-Phasenwinkel β 10 , β 20

3.25 Erzwungene ungedämpfte Schwingungen mit dem Freiheitsgrad zwei | 379

Um diesen Mangel zu beheben, schreiben wir auch die erstgenannten Lösungen mit Null-Phasenwinkeln β m0 und erhalten x m (t) = |x̂ m0 | cos(Ωt − β m0 ) . Abbildung 3.25.3 zeigt die (normierten Amplitudenbeträge) |x̂ m0 |/ x̂ 0 und die zuge­ hörigen Null-Phasenwinkel β m0 in Abhängigkeit von der normierten Erregerfrequenz η = Ω/ω0 . Vermischte Aufgaben Aufgabe 1: Zeichnen Sie Diagramme für die Verläufe der oben angegebenen Übertra­ gungsfunktionen H mn (jη) in Abhängigkeit von η. Aufgabe 2: Zeigen Sie allgemein, daß die H mn (jη) für η → 0 in die Verschiebungsein­ flußzahlen h mn übergehen (vgl. Abschnitt 3.24.1). Aufgabe 3: Gibt es für obiges Zahlenbeispiel auch einen Tilgerpunkt η∗∗ , wo nur die Masse m2 schwingt und m1 stillsteht? (Warum nicht? Untersuchen Sie alternativ den Fall P 0 = P0 (0, 15; 0, 1)T ). Aufgabe 4: Gegeben sei ein Kragbalken (Biegesteifigkeit EI, Länge 3 l) mit einer auf­ gesetzten Endmasse m1 , auf die eine Erregerkraft P1 = P0 cos Ω∗ t mit vorgegebener fester Frequenz Ω∗ wirkt. Durch Anbringen einer Zusatzmasse m2 im Abstand 2 l von der Einspannung soll die Masse m1 „beruhigt“ werden. Gesucht ist die Größe von m2 . Aufgabe 5: Skizzieren Sie parallel zu Abbildung 3.24.4 für die erzwungenen Schwin­ gungen des Zahlenbeispiels die Schwingungsformen (x̂ 10 , x̂ 20 )T für η = 1 und η = 2. Gibt es Schwingungsknoten? Aufgabe 6: Der Aufhängepunkt A eines Doppelpendels (Längen l1 , l2 , Punktmas­ sen m1 , m2 ) werde gemäß u = û cos Ωt horizontal bewegt (s. Abbildung 3.25.4). Gesucht sind für den Fall kleiner Auslenkungen |φ1 |, |φ2 | ≪ 1 die Bewegungsglei­ chungen für φ1 (t) und φ2 (t).

u

A

g l1 φ1

m1 l2 φ2

m2

Abb. 3.25.4: Doppelpendel

380 | 3 Kinematik und Kinetik

Aufgabe 7: Berechnen Sie für das Doppelpendel nach Aufgabe 6 zu festgehaltenem Aufhängepunkt A, d. h. u ≡ 0, für die Parameter l1 = l2 = l und m1 = m2 = m die Eigenfrequenzen und Eigenschwingungsformen (mit Skizzen; vgl. Abschnitt 3.24). Aufgabe 8: Berechnen Sie für das Doppelpendel nach Aufgabe 6 für die Parameter l1 = l2 = l und m1 = m2 = m die erzwungenen Schwingungen und tragen Sie de­ ren Amplituden über der Frequenz auf. (Als Bezugsfrequenz können Sie zum Beispiel ω0 = √g/l wählen.)

Personenverzeichnis Namen und Lebensdaten der Wissenschaftler, die im Buch direkt oder indirekt ge­ nannt werden. Bernoulli, Jacob I Castigliano, Carlo Alberto Coriolis, Gustave Gaspard Coulomb, Charles Augustin D’Alembert, Jean le Rond Descartes, René Euler, Leonhard Galilei, Galileo Hooke, Robert Kepler, Johannes Lagrange, Joseph Louis Comte de Mohr, Christian Otto Newton, Isaac Pascal, Blaise Poisson, Simeon-Denis Ritter, August

https://doi.org/10.1515/9783110643572-004

1655–1705 1847–1884 1792–1843 1736–1806 1717–1783 1596–1650 1707–1783 1564–1642 1635–1703 1571–1630 1736–1813 1835–1918 1643–1727 1623–1662 1781–1840 1826–1908

Stichwortverzeichnis Abklingkoeffizient (Schwingung) 349 Abstimmung (Schwingung) 357 Abzählbedingung für statische Bestimmtheit 72 allgemeine Lösung 342, 349 – der linearen inhomogenen Dgl 343 – einer Differentialgleichung 229 – Zweimassenschwinger 367 Amplitude 260, 378 Aneinanderstückeln von Biegelinien 188 Anfangs – -ausschlag 241 – -bedingungen 256, 268 – -beschleunigung 250 – -geschwindigkeit 243, 256 – -punkt 258 – -wert 256 – -zeitpunkt 240 Angriffspunkt – einer Kraft 5 – gemeinsamer, zweier Kräfte 13 angular impulse 310 anisotrop 104, 141 Anpassen an Anfangsbedingungen 350 Anpassen an Randbedingungen 97 Ansatz vom Typ der rechten Seite 342, 354–356, 374 aperiodischer Grenzfall 352 Äquivalenz (von Kräftepaaren) 32 Äquivalenzklasse (Moment) 33 Arbeit 112, 286 – äußerer Kräfte und Momente 206 – einer Kraft 112 – längs Bahn 286 – eines Kräftepaares 113 – innerer Kräfte und Momente 208 – virtuelle 4, 217 – virtueller Kräfte 216 – Wegabhängigkeit 287 Arbeitsaussagen der Elastostatik 206 Arbeitsintegral 218 Arbeitssatz der Elastostatik 118, 214 Arbeitssatz der Statik 118, 219 Auflagerkraft (Lagerkraft) 46, 48, 89 Auflagerreaktion 48 Auflagersymbole 47 Ausdeuten erzwungener Schwingungen 374 https://doi.org/10.1515/9783110643572-005

Ausgang (System) 357 Auslenkung 240 Ausschlag 240 Axiome der Statik 11 Bahn 234 – -beschleunigung 251, 253 – -geschwindigkeit 241, 244 – -kurve 234, 239, 257, 270 – -länge 240, 241 Balken – Biegelinie 181 – -biegung 160 – bei symmetrischem Querschnitt 162 – Gleichungen 160 – mit Aneinanderstückeln 189, 190 – -rand 96, 97 – Schnittgrößen 92 – statisch unbestimmt gelagerter 194 Basis – -drehung 238 – kartesische 21 – orthogonale 237 – Polarkoordinaten 52, 236, 237, 241, 275, 277 – Unterscheidung durch Indizes 237 – Zylinderkoordinaten 236, 237 Bauelement, elastisches 150 Befreiungsprinzip von Lagrange 16 Belastungsparameter 207, 216 Bernoulli-Hypothese 163, 180 Berührkraft 4 Beschleunigung 249, 276, 323 – Bahn- (=Tangential-) 249 – Berechnen aus wegabhängiger Geschwindigkeit 254 – Normal-(Zentripetal-) 254, 344 – Winkel- 250, 277, 278, 336 Beschleunigungsvektor 251 – in kartesischen Koordinaten 251 – in Zylinderkoordinaten 252 Betrag eines Vektors 8 beweglich – im Großen 60 – im Kleinen 60 Bewegung 234 – aperiodische 352

384 | Stichwortverzeichnis

– geführte 248, 273 – geradlinige 240 – spezielle 240 – translatorisch 272 Bewegungsebene 320 Bewegungsgleichungen 257, 268, 341 – Schwinger v. Freiheitsgrad eins 302, 361 – Schwinger vom Freiheitsgrad zwei 362 – Zweimassenschwinger 371 Bewegungsgröße 304 Bezugsfrequenz 365 Bezugshöhe 290 Bezugslage 54 Bezugsniveau 290 Bezugspunkt 34, 45, 233, 310 – bewegter 318 – für Moment 35, 44 – für Potential 292 – zweckmäßige Wahl 45 Bezugssystem 169, 233 Biegelinie 165, 182 – Aneinanderstückeln von 188 – Balken 181 – des axial gedrückten Stabes 229 – Differentialgleichung 182, 191 – Integration (Lösung) 184 – lineare 183 – nichtlineare 183 – Druckstab 227 Biegemoment 89 Biegespannung 163, 176 Biegesteifigkeit 181 Biegewinkel 182 Biegung 160 – gerade 160 – Kragbalken mit Endmoment 184 – reine 176 – schiefe 160, 192 – bei exzentrischer Zugkraft 181 Biegung, Kragbalken mit Endkraft 185 Bindung 4, 16, 46, 52, 56 – starre Einspannung 56 – undehnbare Stange 56 – Wertigkeit 56 Castigliano – erster Satz von 212, 213 – zweiter Satz von 212, 214 charakteristische Gleichung 227, 230, 349, 365

constitutive equations 138 Coriolisbeschleunigung (Zusatzbeschleunigung) 253 Coulombsche Haftungsbedingung 103, 104 Coulombsches Reibungsgesetz 107 couple 30 d’Alembertsche(s) – Kraft 272, 328 – Moment 277, 281, 282, 328 – Prinzip 271 Dämpfer 346 Dämpferelement 346 Dämpfungsgrad 348, 357 Dämpfungskoeffizient 346 Dämpfungsmaß 348 Dehnsteifigkeit 145 Dehnung 132, 135, 138 – bei Balkenbiegung 162 – thermische 156 Dekrement, logarithmisches 351 Deviationsmoment 165, 331 Deviationsmomente 332 Dichte 78–80 Differentialgleichung – der Biegelinie 182, 191 – komplexe 355 – lineare homogene 349 – lineare inhomogene 354, 364, 372, 373 – nichtlineare 344 Differentialgleichungssystem – inhomogen 372 – linear 372 Differentialgleichungssystem, zweiter Ordnung 372 Dimension (siehe auch jeweilige Größe) 6, 33 Dimensionieren 119 Dimensionsprobe zur Fehlerkontrolle 49 diskretisieren 79 Dissipation 299, 346 Doppelpendel 379 Drall 310, 324 – -änderung tangential zur Ebene 331 – -effekte 337 – -satz 309, 310, 318, 319 – Beispiel 330 – bezogen auf festen Punkt 317 – bezogen auf Schwerpunkt 318 – für Massenpunkt 304

Stichwortverzeichnis

Dreh – -feder (Torsion) 203 – -federsteifigkeit 203 – -matrix 238 – -schwinger 345 – -stoß 310 – -winkel (Torsion) 202 – -winkel (Torsionsstab) 200 – -zeiger 356 Drehimpuls 310 – -Satz 309 Drehpfeil 30 Drehung – des Bezugssystems (Flächenmomente) 170 – in der Ebene 326 – um den Schwerpunkt, Rotation 324 – um festen Punkt 249 Dreieckslast 99 Dreigelenkbogen 74 Drillsteifigkeit. 201 Drillung 200, 201 Druckkraft 4 Druckspannung 120 dünn 47 Durchbiegung 182 Dyname 42 dynamics 233 Dynamik siehe Kinetik dynamische Nachgiebigkeit 375 dynamische Verschiebungseinflußzahl 375 Eckwerte 92 Eigenform 231, 368 Eigenfrequenz 341 Eigenlösung 226 Eigenschwingungen – Anpassen an Anfangsbedingungen 367 – Zweimassenschwinger 368 Eigenvektor 365, 366 Eigenwert 226, 349, 365 Eigenwertproblem 226, 230, 349, 365 einfaches Stabwerk 71 Einflußzahl 210 – Kraft- 211, 363 – Verschiebungs- 211, 363 Eingang (System) 357 Einheit (siehe auch jeweilige Größe) 6, 33 Einheitskreis als Phasenkurve 259 Einleitungsstellen von Lasten 68, 94

|

Einschwingvorgang 360 Einspannmomente 89 Einspannung, starre 56 Einsvektor 8 Eins-Wirkungen 216 – Arbeiten der 218 e λt -Ansatz 348, 364 elastischer Stoß 308 Elastizitätsgrenze 139 Elastizitätsmodul 140, 143 Elastostatik 119 – Arbeitsaussage 206 – Arbeitssatz 118, 214 Element – Balken- 161 – Flächen- 80 – Gewichts- 78 – infinitesimal kurz 97 – Massen- 78 – Volumen- 78 Energie – -dissipation 346 – -erhaltungssatz siehe Energiesatz – mechanische 297 – potentielle 297 – -überlegungen (in Elastostatik) 206 Energiesatz 286, 295, 296, 334 – Bewegungsgleichungen aus 302 – ebener Bewegung 333 – konservative Systeme 297 – zusammengesetzte Systeme 301 Ersatzfeder 152, 153 Ersatz-Steifigkeit 151 Erstarrungsprinzip 17, 66 erzwungene Schwingungen siehe Schwingungen, erzwungene Euler-Knickstab 231 Eulersche Winkel 55 Fachwerk 69 – -brücke 74 – einfaches 72 Fallbeschleunigung 78, 262 Faser, neutrale 162, 178 Feder 150 – -konstante 151 – -kraft 46 – Potential einer 292

385

386 | Stichwortverzeichnis

– -Masse-Schwinger 259, 340 – mit Gewicht 341 – -nachgiebigkeit 153 – -parallelschaltung 151 – -potential 293 – -schaltungen 151 – -steifigkeit 152 – -verbände 150, 151 Feldgleichung 96 Fernkraft 3 fesseln 56 festes Gelenklager 56 Festlager 47 Figurenachse 339 Flächen-Deviationsmoment 166 – Parallelverschiebung der Achsen 170 Flächenelement 80, 90, 127 Flächengeschwindigkeit 312 Flächenintegral 80 Flächenmoment(e) 84 – Drehen des Bezugssystems 170 – ersten Grades 84 – Haupt- 172 – Hauptachsen 171 – polares 166, 201 – Satz von Steiner 170 – zusammengesetzte Querschnitte 172 – zweiten Grades 165–167 – Kreisquerschnitt 168 – Rechteckquerschnitt 167 Flächensatz (2. Keplersches Gesetz) 311 Flächenträgheitsmoment 166 Förderband 316 Formänderungsenergie 209 free body diagram 2 freie Schwingungen 340, siehe Schwingungen, freie freier Fall 262 freier Körper 11 freier Vektor 34 Freiheitsgrad 46, 52, 302, 327 – funktionaler 54 Freikörper-Bild 2, 43, 46 freischneiden 2, 16, 45 Frequenz 261 Frequenzgang 358 Frequenzgleichung 365 Führungsbeschleunigung 253

Führungsbewegung 248 fußpunkterregter Schwinger 352 geführte Bewegung 248 Gegenphase 370 Gelenklager – festes 47, 56 – verschiebliches 47, 56 gerade Biegung 160 Gerberträger 67 Gesamtbewegungsgröße 315 Gesamtdrall 319 Geschwindigkeit 241, 243, 276, 322 – Anfangs- 243 – Berechnung aus Beschleunigung 254 – längs Bahn 241 – mittlere 242, 244 Geschwindigkeits – -plan 322, 323 – -vektor 244, 248 – in Zylinderkoordinaten 247 – kartesisch 245 – -Weg-Diagramm 244 – -Zeit-Diagramm 242 Gewicht 77 – spezifisches 78 Gewichtselement 78 Gewichtskraft 77 – Potential einer 289 gewichtslos 20 glatte Körper 17 Gleichgewicht 11 – am Punkt 25 – eines bewegten Körpers 18 – gechlossenes Krafteck (Kräftepolygon) 19 – mehrteiliger Körper in der Ebene 66 – Momenten- 36 – statisches 4, 11 – zwei Kräfte am starren Körper 13 Gleichgewichtsbedingungen 19, 272 – am ebenen Kräftesystem 43 – am starren Körper 43 – am verformten System (Stabilität) 224 – Arbeiten mit den 46 – im Raum 49 – Koordinatenschreibweise 44, 50 – skalare 25 – Vektorschreibweise 49

Stichwortverzeichnis

Gleichgewichtsbeziehung für Spannungen (Balken) 163 Gleichgewichtsgruppe 14, 28 Gleitmodul 142, 143 Gleitreibung 102 Gleitung 134 Gleitwinkel 138 Größe, skalare 6 Grundeinheit 264 Grundgesetze nach Newton 262 Haftkraft 103 Haftreibung 102 Haftung 102 – bei statisch unbestimmten Systemen 106, 155 Haftungs – -bedingung, Coulombsche 103 – -kegel 105 – -winkel 105 – -zahl 104, 105 Haltbarkeit 70, 119 Haltekraft (bei Haften) 103 harmonische Schwingungen siehe Schwingungen, harmonische Haupt – -achsen 174 – -achsen (Flächenmomente) 171 – -achsen-Richtungen 172 – -achsen-System 172 – -dehnungen 134 – -Flächenmomente 172, 174 – -spannungen 122, 134 – bestimmen 125 – -spannungsrichtungen 122 Hebevorrichtung 282 Hertz 262 Hintereinanderschaltung von Federn 152 Hodograph 249 Hookesche Gesetz – einachsiger Spannungszustand 140 – für Schubverformungen 142 – im Raum 143 – in Ebene 143 – zweiachsiger Spannungszustand 141 imaginäre Einheit 349 Impuls 304 impulse 304

| 387

Impulssatz 304, 314 – für den Massenpunkt 304 – Veranschaulichung 305 Inertialsystem 263 Instabilität 223 – kinetische 223 – statische 223 invariant 167 isotrop 141

kartesische Koordinaten 52, 54 kartesisches Koordinatensystem 21 Kennlinie 46 Kinematik 233 – Bewegung in Ebene 320 – eines Punktes 233 – harmonischer Schwingungen 258 – Rotation 275 – Translation 272 kinematische Beziehungen 116, 283 Kinetik 233 – Bewegung in Ebene 324 – Massenpunkt 262 – Punkthaufen 312 – Rotation 276 – Translation 273 kinetische Energie 294 – bei Drehung um feste Achse 295 – des Massenpunktes 294 – des starren Körpers in der Ebene 334 kinetische Reibung 102 Kipplast 226 Knick – -kraft 226 – -last 231 – -linie 231 – -stab 229 Knicken 227 Knoten 20, 69, 70 Koeffizienten – -determinante 61, 227 – -matrix 61 komplexe – Behandlung von Schwingungen 355 – Differentialgleichung 355 Komponenten einer Kraft 14, 21 konservativ 346

388 | Stichwortverzeichnis

konservative(s) – Kraft 290, 291 – System 297 Kontaktkraft 4 Kontinuum 78 – zweidimensionales 54 Koordinaten 46, 240 – -drehung 237 – im Raum 54 – kartesische 52, 54, 235 – Kraft- 21 – Kugel- 54 – Polar- 52, 236 – schiefliegende 26 – -system 21 – -system, kartesisches 21 – und Bindungen 52 – -vertauschung, zyklische 82 – Zylinder- 54, 236 Koppelglieder 364 Körper 11 – bewegter 18 – fester 12 – freier 11, 12 – freischneiden 45 – glatter 17, 25 – nicht starrer 17 – Rotation 275 – starrer 1, 5, 11 – steifer 12 – System 18 Kraft 1 – Angriffspunkt 5 – auf glatte Körper 17 – -Auslenkungs-Diagramm 293 – äußere 4 – Benennungen 3 – Berühr- 4 – d’Alembertsche 272 – dissipative 299 – -Einflußzahl 211, 363 – eingeprägte 4, 12, 115 – Einteilung 3 – -element 90, 128 – Fern- 3 – Gewichts- 77 – innere 4, 335 – bei Balken 89 – Komponenten 14, 21

– konservative siehe konservative Kraft – Kontakt- 4 – Koordinaten einer 21 – kritische 226 – lebendige 294 – Linienflucht 5 – Maßzahl einer 21 – mit Potential 290 – Nah- 4 – Normal- 17 – Orientierung 3 – Reaktions- 4, 16 – resultierende 14, 44 – -schraube 42 – -stoß 304 – Vektorcharakter 3 – verteilte 90 – virtuelle 216 – Wirkungslinie 5 – -zerlegung 23 – Zwangs- 4 Kräfte – antiparallele 29 – -dreieck (Krafteck) 13 – -Gleichgewicht – an einem Punkt 18, 21 – vektoriell-numerisch 21 – vektoriell-zeichnerisch 18 – -gleichgewicht 44 – im Raum 50 – Koordinatenschreibweise 44 – -gruppe (Kräftesystem) 26, 28 – -paar 3, 30, 33 – Äquivalenz von 31, 32 – Arbeit 113 – -parallelogramm 13 – -plan 13, 19 – -polygon 19 – -system 26, 40, 41 Kragbalken 99 – längsverschieblich 213 Kragträger 62 Kreis, Mohrscher 123 Kreisbahn 241, 244, 253 Kreisel 339 – -effekte 337 – schneller 339 – schwerer 340 – technischer 339

Stichwortverzeichnis

Kreisfrequenz 260, 349 Kreisquerschnitt (Flächenmoment, zweiten Grades) 168 Kreiszylinder 280 Kreuzprodukt 34, 40 kriechen 352 Kriechvorgänge 101 Krummlinige Bewegung eines Massenpunktes 269 Krümmungsradius 165 Kugelkoordinaten 54 labil 223 Lage 52, 234 – -energie 300 – -koordinaten 321 – -plan 1, 2, 26, 46, 71, 116, 322, 323 Lager – -kraft, Beispiele 62 – -reaktionen 97 – -symbole 47 Lagerung – statisch bestimmte 58 – statisch unbestimmte 196, 197 Lagrangesche Gleichungen 2. Art 303 Längenausdehnungskoeffizient, thermischer 156 Last – -angriffspunkt 68 – -element 96 – kontinuierlich verteilte 94 – kritische 231 – -paket 96 Lastfall 76 lebendige Kraft 294 Leistung 286–288 linear gedämpfter Schwinger 347 lineares Differentialgleichungssystem 372 linearisieren 345 Linienflucht (Kraft) 5 Linienintegral 112, 286 Lissajous 371 logarithmisches Dekrement 351 Loslager siehe Gelenklager, verschiebliches Lösungsschema – für Aufgaben aus Kinetik 267, 272 – für Statikaufgaben 46 – für unbestimmte Systeme 149

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Masse (= Maß für Stoffmenge) 78, 262 masselos 18 Massen – -einheit 264 – technische 264 – -element 78 – -matrix 363, 364 – -mittelpunkt 77, 81–83 – -moment zweiten Grades 279, 332 – -punkt 262 Maßsysteme 264 Maßzahl 9 mathematisches Pendel 344 Matrizen-Schreibweise 22 Maxwellscher Reziprozitätssatz 212, 375 Mittellinie 86 Mohrscher Kreis 122, 123, 125, 170 Mohrscher Verzerrungskreis 137 Moment 30, 32, 100 – als Hebelarm mal Kraft 35 – d’Alembertsches 277 – der äußeren Kräfte 319 – einer Einzelkraft 34, 35 – inneres, bei Balken 89 – Maßzahl 33 – Reaktionsprinzip für 37 – resultierendes 36, 44 – Richtungs(dreh)pfeil 33 – Schnittkraft beim Balken 90 – statisches 81, 83 – um Schwerpunkt 83 – statisches (ersten Grades) 82 – um einen Punkt 34, 40 – Vektordarstellung 33 – Vektorform 40 – Verschiebbarkeit 34 moment of momentum 310 Momentangeschwindigkeit 242 Momentanpol 323 Momenten – -element 82 – -Fläche 91 – -gleichgewicht 36, 44 – im Raum 50 – Koordinatenschreibweise 44 – -Kurve 91 – -linie 93 – -satz 318, 325, 327 – Anwendungsbeispiele 38

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390 | Stichwortverzeichnis

– für ebenes Kräftesystem 37 – für Kinetik 310 – um Schwerpunkt 319 – -stoß 310 – -vektor 34, 40 momentum 304 Nachbargleichgewichtslage 226 Nachgiebigkeit 151, 211 – dynamische 375 Nahkraft 4 neutrale Faser 162, 164, 178 Newton, Krafteinheit 264 Newtonsche Gesetz – drittes (Reaktionsprinzip) 16, 264 – erstes 262 – Koordinatenschreibweise 265 – zweites 263 nicht einfaches Stabwerk 72 nichtlineare Differentialgleichung 344 nicht-triviale Lösung 230, 365 Normal-Beschleunigung 253 Normaleneinsvektor 127 Normalkraft 17, 89, 103, 122 – -Fläche 91 – -Kurve 91 – -linie 93 – Schnittkraft beim Balken 90 Normalspannung 119, 131 Nullbein (Nullstab) 51 Null-Phasenwinkel 260, 378 Nullstab 71, 73 Nullvektor 13 Operatorschreibweise 291 Orientierung eines Vektors 3, 6 Ort 233 Ortskurve 358 Ortsvektor 234 Parallelogrammregel 7 Parallelschaltung von Federn 151 Partikularintegral 374 Partikularlösung 342, 343 Pendel, mathematisches 344 Periode 260 Periodendauer 260 Phase 369

Phasen – -ebene 244, 257 – -kurve 244, 257 – Einheitskreis 259 – Ellipse 259 – -verschiebungen 261 – -verschiebungswinkel 260, 360 Planskizze (-dreieck, -figur) 21 plastischer Stoß 307, 315 Poissonzahl 133 Pol 236 Polarachse 236 polares Flächenmoment 166, 201 Polarkoordinaten 52, 236 Polarwinkel 236 positiv definit 366, 367 Potential 209, 289, 290 – -differenz 292 – einer Gewichtskraft 289 potentielle Energie 333 power 288 Präzession 340 Präzessionsgeschwindigkeit 339 Prinzip der virtuellen Arbeit 118 Prinzip der virtuellen Kräfte 118, 206, 214, 217–219 Prinzip der virtuellen Verrückungen 56, 111, 116, 118 Prinzip von d’Alembert 271 – für Drehbewegungen 281 Projektion 21 Projektionssatz 24 Proportionalitätsgrenze 139 Punkt auf Kreisbahn 241 Punktkörper 25, 233 Punktmasse 262 quasi-statisch 206 Querkontraktion 132, 133 Querkontraktionszahl 133, 143 Querkraft 89, 99 – -Fläche 91 – -Kurve 91 – -linie 93 – Schnittkraft beim Balken 90 Randbedingung 96, 97 – bei Balkenbiegung 184, 186 Reaktionskraft 4, 16, 116

Stichwortverzeichnis

Reaktionsprinzip 3, 91 – für Momente 37 realer Stoß 309 Rechtsschraubung 33 Referenz – -konfiguration 134, 321 – -koordinaten 320, 321 – -lage 54, 321 Reibung 102, 107 – Gleit- 102 – Haft- 102 – kinetische 102 – statische 102 Reibungs – -gesetz, Coulombsches 107 – -kennlinien 107 – -kraft 46, 108 – -winkel 109 – -zahl 107 reiner Schubspannungszustand 126 Relativ – -beschleunigung 253 – -bewegung 248 – Hemmung durch Reibung 108 – -geschwindigkeit 308, 322 résistance 139 Resonanz 357 – -bereich 360 – -frequenzen 375 – -stellen 375, 376 Resultierende 14 – eines ebenen Kräftesystems 26, 30 – mehrerer Kräfte 18, 24 – paralleler Kräfte 28 – zweier Kräfte 14 resultierende – Kraft 44 – Moment 36, 44 Reziprozitätssatz, Maxwellscher 212, 375 Richtung eines Vektors 6 Richtungs(dreh)pfeil für Moment 33 Richtungskosinus des Normalenvektors 128 Richtungswinkel 128 Ritterscher Schnitt 73 Rotation 322, 327 – Drehung um den Schwerpunkt 324 – eines starren Körpers 275

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Scheibe, verzerrte 54 Scherspannung 121 Scherwinkel 138 Schiebung 134 schiefe Biegung 160, 192 – bei exzentrischer Zugkraft 181 Schnitt – am Gelenk 68 – -bild 1, 2 – -größen 89 – bei Streckenlasten 95 – Bestimmen der (Balken) 92 – Kragbalken mit Dreieckslast 100 – Zusammensetzen 215 – -kraft 46, 89 – -moment 46 – -richtung 121, 127 – Ritterscher 73 – -ufer 3, 89, 90, 127 Schnittprinzip – Aufschneiden von Balken 89 – Eulersches 1 – Lagrange (Befreiungsprinzip) 16 Schraube mit Dehnhülse 158 Schraubenbewegung 239, 246, 252 Schraubenfeder 150 Schraubenregel 40 Schubmittelpunkt 165 Schubmodul 142 Schubspannung 121, 131 Schubspannungszustand – reiner 126 Schubverformung 134, 136, 138 Schubwinkel 134, 136 schwere Masse 263 Schwerebeschleunigung siehe Fallbeschleunigung Schwerefeld 77 Schwerelinie 85, 278 Schwerpunkt 77, 81, 82, 318, 326 – bei ungleichförmigem Gravitationsfeld 84 – -bestimmung 85, 86, 88 – -bewegung (Translation) 324 – -lage bei sym. Massenverteilung 85 – -lage, Dreieck 88 – -satz 324, 327 Schwerpunktsatz 313 Schwinger – fußpunkterregter 352

392 | Stichwortverzeichnis

– mit Kraftanregung 354 – v. Freiheitsgrad zwei 362 Schwingungen – erzwungene 352, 361, 373 – ausdeuten 374 – Freiheitsgrad zwei 371 – komplexe Behandlung 355 – exponentiell abklingende 351 – freie 340, 361 – Freiheitsgrad zwei 361 – gedämpfte 346 – harmonische 260 – linear gedämpfte 347 Schwingungsknoten 370 Selbsthemmung 110 Sinusschwingung 260 skalare Größe 6 Skalarprodukt 22 Spaltenmatrix (= Spaltenvektor) 22 Spannung 89, 119, 138 – Abhängigkeit von Schnittrichtung 121 – am Element 124, 127 – bei schiefer Biegung 178 – Biege- 163, 176 – Druck- 120 – Haupt- 134 – Normal- 119, 131 – Scher- 121 – Schub- 121 – Tangential- 121, 131 – Transformation 123 – Zug- 119, 120 Spannungs – -darstellung von Schnittgrößen 94 – -Dehnungs-Diagramm 138 – -Dehnungs-Linien 140 – -Null-Linie 178, 180 – -resultante 89 – -Tensor 130 – -vektor 128 – -zustand – ausgezeichneter 126 – dreiachsiger 126 – ebener 123 – einachsiger 123, 126 – hydrostatischer 126 – örtlich veränderlicher 124 – räumlicher 126 – zweiachsiger 123

spezifisches Gewicht 78, 79 Stab 70 – axial gedrückter 227 – -kraft 70, 72 – Verformung 144 – -zweischlag 146 Stabilität 222, 223 Stabwerk 69, 70, 147 – nicht einfaches 72, 73 – statisch unbestimmtes 148 – Verformung 70, 144, 145 starre Einspannung 56 starre Scheibe 328 starrer Körper siehe Körper, starrer Statik 1, 11 – Arbeitssatz 118 – Ausdrucksweise 11 – Axiome 11 statisch bestimmt – Bedingung 67 – Fachwerk 71 – Lagerung starrer Körper 58 statisch unbestimmt 149 – gelagerter Balken 194 – Integration der Biegedgl. 194 – Lösung durch Superposition 196 – mit elastischem Lager 197 – Lösung mit Arbeitssatz 220 – Stabwerk 148 – System 45, 59 – Torsion 204 – Wärme-Dehnstab 158 statische – Absenkung 343 – Auslenkung 361, 376 – Bestimmtheit 71, 72 – Reibung 102 statisches Gleichgewicht 4 statisches Moment 81, 82 – um Schwerpunkt 83 statisches Moment (ersten Grades) 82 Steifigkeit 151, 211 Steifigkeitsmatrix 363, 364 Steiner, Satz von – für Flächenmomente 170 – für Massenmomente 280 Stellung 52, 234

Stichwortverzeichnis

Stoff – -Gesetz 119, 138 – -menge 78, 262 Stoß – elastischer 308 – plastischer 307, 315 – realer 309 – -zahl 309 Streckenlast 94, 99 – Schnittgrößen bei 95 Streckgrenze 139 Superposition 74, 189, 190, 354, 373 Symbolik Balken-Schnittgrößen 91 Symmetrie 364 System 1 – Abgrenzung 4 – von Körpern 18 Tangenteneinsvektor 245, 246 Tangential – -beschleunigung 253 – -kraft 122 – -spannung 121, 131 Tensor 130 Tilger 377 – -punkt 377, 379 Torsion von Stäben 199 Torsions – -stab 199 – -steifigkeit 201, 203 träge Masse 263 Trägheits – -kraft 272, 274 – -matrix 363 – -moment 279 Transformation – der Spannungen bei Änderung der Schnittrichtung 123 – für Basisdrehung 238 – nichtlineare 239 Translation 274, 322 translatorisch 272 Trennen der Veränderlichen 255 triviale Lösung 230 triviale Lösung (Schwingungen) 226 Überlagern siehe Superposition Überlagern von Normalkraft- und Biegespannungen 177

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Übertragungsfunktion 358, 375 Übertragungsmatrix 374 Übertragungssystem 357 undehnbare Stange, als Bindung 56 Urkilogramm 264 Vektor 6 – Betrag 8 – Eins- 8, 9 – freier 34 – Maßzahl 9 – Null- 13 – Orientierung 3 – Spalten- 22 – Zeilen- 22 Vektorform des Moments 40 Vektorrechnung – allgemeine 6 – Grundoperationen 6 – Kreuzprodukt 34, 40 – Skalarprodukt 22 Verbindung siehe Bindung Verdrehung (Torsion) 204 Verformung – des Balkenelementes 161 – eines Einzelstabes 144 – eines Stabwerkes 144, 145 Vergrößerungsfunktion 359, 360 Verrückung, virtuelle 111, 114 verschiebliches Gelenklager 56 Verschiebung (Auslenkung) 134 Verschiebungs – -ableitung 136 – -Einflußzahl 211, 363 – dynamische 375 – -plan für Stabwerksknoten 147 Verzerrung 119, 132, 138 – bei gedrehter Richtung 137 – kleine – im Raum 138 – in der Ebene 134 Verzerrungskreis, Mohrscher 137 virtuelle – Arbeit 4, 111, 115, 217, siehe Prinzip der virtuellen Arbeit – Kraft 118, 216 – Verrückung 56, 111, 114, 116 Volumenelement 78

394 | Stichwortverzeichnis

Volumenintegral 79 Vorzeichenkonvention 91 wacklig 61, 64 Wärmedehnung 156 Wärmespannung 157 Weg 240 – Berechnung aus Beschleunigung 254 – -Zeit-Diagramm 240 Werkstoffpaarung 104, 108 Wertigkeit, einer Bindung 56 Widerstandsmoment – Balkenbiegung 176 – Torsion 202 Winkel – -auslenkung 241 – -ausschlag 241 – -beschleunigung 250, 251 – Eulersche 55 – -geschwindigkeit(s) 244 – -vektor 248, 322 – -koordinate 241 Wirkungslinie 5, 26, 31, 34 work 112 Wurfparabel 269 Zahlenwert 6 Zeiger 355 Zeilenmatrix (= Zeilenvektor) 22 Zentrifugalkraft 277 Zentripetalbeschleunigung 254 Zugfestigkeit 140 Zugspannung 119, 120 Zugversuch 138 Zusatzbeschleunigung siehe Coriolisbeschleunigung zwängen 56 Zwangskraft 4 Zweimassenschwinger 362, 371 zyklische Koordinatenvertauschung 82 Zylinderkoordinaten 54, 236