Tatsache!: Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag 9783374056385, 3374056385

Der Thesenanschlag fand tatsächlich statt! Beweise dafür haben die Historiker Mirko Gutjahr und Benjamin Hasselhorn zusa

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Tatsache!: Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag
 9783374056385, 3374056385

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Inhalt
Zu diesem Heft
Vollkommenheit – die Botschaft John Wesleys anMartin Luther?1
Autorinnen und Autoren

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Inhalt Zu diesem Heft ............................................................................................... 3 Vorträge und Aufsätze Peter Zimmerling Martin Luther – Lehrer des kontemplativen Gebets ....................................... 5 Christoph Klaiber Vollkommenheit – die Botschaft John Wesleys an Martin Luther? ............. 16 Roland Gebauer Die Rechtfertigungslehre als Kernanliegen der Reformation. Beobachtungen und Überlegungen aus biblischer und konfessioneller Perspektive ............................................................... 34 Ralph Kunz Die frommen Protestanten. Der Beitrag der reformierten Reformation zur evangelischen Spiritualität........................................................................ 48 Holger Eschmann Das erschöpfte Selbst und die Rechtfertigung. Befreiende Impulse der Reformation ............................................................ 63 Matthias Kapp Ein guter Hirte will ich sein ........................................................................... 77 Bibelarbeit Jörg Barthel Alles umsonst? Bibelarbeit zu Jesaja 55,1–5 ............................................................................ 91 Predigt Walter Klaiber Ist eine Theologie des Kreuzes denk-bar? Predigt zu 1. Korinther 1,18–25 .................................................................. 100

Inhalt

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Rezensionen Lukas Bormann, Theologie des Neuen Testaments (Christoph Schluep-Meier) ................................................................... 106 Christian Zwingmann/Constantin Klein/Florian Jeserich (Hg.) Religiosität. Die dunkle Seite (Corinna Schmohl) ................................. 109 Wolfgang Thielmann (Hg.), Alternative für Christen? (Christof Voigt) .....................................................................................114 Autorinnen und Autoren ...................................................................... 120

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Theologie für die Praxis 42, 2016/1–2

Zu diesem Heft Bis auf eine Ausnahme nimmt diese Ausgabe von »Theologie für die Praxis« in ihren Beiträgen Impulse des letztjährigen Reformationsjubiläums auf und versucht, sie im Blick auf gegenwärtige Fragestellungen weiterzudenken. Dabei kommen sowohl individuelle Themen als auch gesellschaftliche Perspektiven zur Sprache. Im ersten Artikel skizziert Peter Zimmerling, Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig, anhand eines Büchleins, das Martin Luther für seinen Wittenberger Barbier Meister Peter Beskendorf schrieb, einen »Gebetslehrgang für Laien und andere Christen«. Dabei weist Zimmerling auf die bleibende Aktualität von Luthers Gebetspraxis hin, die in der Spannung von geschenkter Gottesbegegnung und beständiger Übung lebt. Aus methodistischer Perspektive formuliert Christoph Klaiber, Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche, Fragen an die Theologie und Anthropologie Martin Luthers. Dabei versteht er vor allem John Wesleys Lehre von der christlichen Vollkommenheit und den dahinterstehenden Optimismus der Gnade Gottes als notwendige Korrektur an der lutherischen Formel des »Gerecht und Sünder zugleich«. Der Beitrag von Roland Gebauer, Rektor und Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen, ist dem reformatorischen Anliegen der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade gewidmet. Auf dem Hintergrund exegetischer Befunde und der Darstellung unterschiedlicher konfessioneller Akzentsetzungen plädiert er dafür, die Frage nach dem gnädigen Gott – und das heißt der Gottesbeziehung des Menschen – wieder neu ins Zentrum von Theologie und Kirche zu stellen. Standen im Reformationsjahr 2017 vor allem die Theologie und das Leben Martin Luthers im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, wirft der Beitrag von Ralph Kunz, Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich, einen Blick auf die Spiritualität reformierter Prägung. In gewisser Nähe zur methodistischen Tradition betont er, dass zu reformatorischem Denken neben dem Moment der (täglichen) Buße auch der »Impuls, nach dem geistlichem Wachstum zu streben«, gehört. Der Beitrag von Holger Eschmann, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen, geht auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen ein, unter denen sich der christliche Glaube heute zu bewähren hat. Im Kontext der »Müdigkeitsgesellschaft« (Byung-Chul Han) zeigt er auf, wie das reformatorische Anliegen der Rechtfertigung allein aus

Zu diesem Heft

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Gnade und Glauben zu heilsamer Selbstbegrenzung führen und Kräfte für ein verantwortungsvolles Handeln mit Maß und Ziel freisetzen kann. Der letzte Aufsatz hat thematisch nicht direkt mit dem Reformationsgeschehen zu tun, sondern ist eine Fortführung der pastoraltheologischen Überlegungen, die mit dem Beitrag von Stefan Herb im letzten Heft begonnen wurden (Kundschafterinnen und Kundschafter des Reiches Gottes, ThFPr 41. Jg. 2015 [2018], 26–47). Matthias Kapp, Pastor der Evangelischmethodistischen Kirche und Lehrbeauftragter an der Theologischen Hochschule Reutlingen, ermutigt dazu, in Zeiten pastoraler Verunsicherung als ordinierte Hauptamtliche wieder neu ein Ja zu einem »Hirtenamt« in Verantwortung und gegenseitigem Vertrauen zu finden. Die Bibelarbeit von Jörg Barthel, Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen, und die Predigt von Walter Klaiber, Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche im Ruhestand, nehmen wieder reformatorische Themen auf. Entfaltet Jörg Barthel anhand von Jesaja 55 Aspekte einer göttlichen »Ökonomie der Gnade« und ihrer Auswirkungen auf die christliche Gemeinde, hält Walter Klaiber in seiner Predigt zu 1. Korinther 1 ein Plädoyer dafür, der paulinischen Kreuzestheologie – bei aller intellektuellen und religiösen Zumutung – einen zentralen Platz im theologischen Denken und Lehren einzuräumen. Den Abschluss des Heftes bilden drei Rezensionen zu neueren Publikationen aus den Bereichen Theologie, Psychologie und Gesellschaft bzw. Politik. Jörg Barthel Holger Eschmann Roland Gebauer Christof Voigt

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Theologie für die Praxis 42, 2016/1–2

Martin Luther – Lehrer des kontemplativen Gebets1 Peter Zimmerling

1. Ein Gebetslehrgang für Laien und andere Christen Martin Luther hat in dem kleinen Büchlein für Meister Peter »Wie man beten soll«2 in pädagogischer Stufung einen »Lehrgang des Betens« entwickelt.3 Er will einem Laien, der offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Gebet hat, eine Gebetshilfe geben und ihn dadurch zum Beten ermutigen. In der konkreten Praxis erweist sich die Kraft der neuen reformatorischen Spiritualität. Sie ist sowohl eine alltagsverträgliche Spiritualität als auch eine Spiritualität für jedermann und jedefrau, wobei das eine das andere bedingt.4 Luther und die anderen Reformatoren haben die Spiritualität von der Vereinnahmung durch religiöse Eliten – Priestern, Mönchen und Nonnen –, wie sie für das Mittelalter charakteristisch war, befreit. Neben die Demokratisierung5 der Spiritualität, die in Luthers Schrift sichtbar wird, tritt als entscheidendes inhaltliches Charakteristikum der neuen reformatorischen Spiritualität ihre Zentrierung in der Rechtfertigung des Gläubigen durch Gott allein aus Gnaden. Das belegt ein kleines historisches Detail im Zusammenhang mit der Schrift. Kurze Zeit nach ihrem Erscheinen hat Luthers Freund Peter Balbirer aus Beskendorf – offenbar angetrunken – seinen Schwiegersohn Dietrich erstochen. Als Soldat hatte sich dieser mit dem Ruf der Unverwundbarkeit gegenüber seinem Schwiegervater gebrüstet. 1 2

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Eine ausführliche Version der folgenden Überlegungen findet sich in: Martin Luther, Wie man beten soll. Für Meister Peter den Barbier, hg. von Peter Zimmerling/Ulrich Köpf, Göttingen 2011, 9–38. Martin Luther, Eine einfältige Weise zu beten, WA 38, 358–373 bzw. 375. In modernisiertem Deutsch und mit einer Einleitung versehen neu aufgelegt: Martin Luther, Wie man beten soll, vgl. Anm. 1 (die folgenden Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf diese moderne Ausgabe). Christoph Bizer, In der Schule von Dr. Martin und Meister Peter. Andächtige theologische Erzählungen, in: Peter Stolt u.a. (Hg.), Kulte, Kulturen, Gottesdienste. Öffentliche Inszenierung des Lebens, Peter Cornehl zum 60. Geburtstag, Göttingen 1996, 204. Vgl. hier und im Folgenden: Peter Zimmerling, Auf dem Weg zu einer trinitarischen Grundlegung evangelischer Spiritualität, in: Michael Welker/Miroslav Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität. Jürgen Moltmann zum 80. Geburtstag, Gütersloh 2006, 360– 376. Der Begriff ist hier nicht im modernen politischen Sinne verstanden, sondern soll darauf hindeuten, dass – entsprechend dem Pfingstbericht von der Ausgießung des Geistes Gottes »auf alles Fleisch« (Apg 2,17) – jedermann unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter und Nationalität Zugang zu Gott hat.

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Unter anderem auf Luthers Fürsprache hin wurde Meister Peter mit Verbannung und Einziehung des Besitzes relativ milde bestraft.6 Trotz der schweren Verfehlung des Balbirers hat Martin Luther die Schrift weiterhin mit der Anrede »Lieber Meister Peter« drucken lassen. Damit wird Meister Peter zum Prototyp des Beters, den Luther vor Augen hat. Es ist der Mensch, der so oder so von Gott gerechtfertigt werden muss. Die Widmung für Meister Peter ist »ein Hinweis darauf, dass diese Schrift nicht für Heilige, sondern für Sünder geschrieben ist«7. Diese Stellung des Beters vor Gott wird etwa auch in Luthers Auslegung der fünften Bitte des Vaterunsers im Büchlein für Meister Peter deutlich, wo er schreibt: »Ach, lieber Herr Gott Vater, gehe nicht mit uns ins Gericht, denn vor dir ist kein lebender Mensch gerecht. Ach, rechne uns auch nicht zur Sünde, dass wir leider so undankbar sind für alle deine unaussprechliche Wohltat, geistlich und leiblich, und dass wir täglich vielmals straucheln und sündigen, mehr als wir wissen und merken können […]. Aber sieh du nicht an, wie fromm oder böse wir sind, sondern deine grundlose Barmherzigkeit, die uns in Christus, deinem lieben Sohn, geschenkt ist« (43f.).

Die Erkenntnis des Sünderseins und gleichzeitig der grundlosen Barmherzigkeit Gottes entspricht die Beobachtung, dass Luther in seiner Schrift keine Stufungen zwischen Sündern vornimmt. »Die in der Schrift dargestellte Elementarübung des Gebets und der Meditation gilt für Luther selbst ebenso wie für den des Mordes schuldig gewordenen Freund und für jeden beliebigen Christen.«8 Ein Christ bleibt bis an sein Lebensende zugleich Sünder und Gerechter. Die Schrift »Wie man beten soll« ist als Gebetshilfe im Rahmen reformatorischer Spiritualität konzipiert. Luther geht davon aus, dass der Rechtfertigungsglaube der geistlichen Übung bedarf, wenn er zur Entfaltung kommen und nicht verkümmern soll. Insofern stellt die Schrift eine Korrektur gegenüber neueren protestantischen Überzeugungen dar, wonach die Rechtfertigungslehre allein aus Gnaden und die Notwendigkeit geistlicher Übungen einander widersprächen. Es fällt auf, dass Martin Luther in der kleinen Schrift zum Gebet einerseits heftige Kritik an der mittelalterlichen Gebetspraxis übt, andererseits an diese

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Dazu in Einzelnen Martin Nicol, Meditation bei Luther, Göttingen 21991, 151f., dort auch Belege. So Kurt Aland in: Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart hg. von Kurt Aland, Bd. 6, Göttingen 1966, 334. Nicol, Meditation bei Luther, 151.

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Tradition anknüpft und sie gleichzeitig korrigiert, uminterpretiert und weiterführt. Luther kritisiert mit kräftigen Worten eine Gebetspraxis, die rein mechanisch, ohne Herz und Verstand Gebetsworte spricht. »Auch sollst du wissen, dass ich nicht alle diese Worte im Gebet gesprochen haben will; denn da würde doch zuletzt ein Geplapper und lauter leeres Gewäsch daraus, aus dem Buch oder Buchstaben dahergelesen, wie die Rosenkränze bei den Laien und die Gebete der Pfaffen und Mönche gewesen sind« (45).

Der Reformator moniert, dass das Vaterunser »der größte Märtyrer auf Erden« sei, weil es »ohne alle Andacht in aller Welt zerplappert und zerklappert« (48) werde. Um die von Luther stattdessen intendierte Gebetshaltung zu illustrieren, bedient er sich eines Bildes aus dem Beruf des Adressaten: »Wie ein guter, fleißiger Barbier seine Gedanken, Sinne und Augen gar genau auf das Schermesser und auf die Haare richten muss und nicht vergessen darf, wo er im Strich oder Schnitt ist. Wenn er aber zugleich viel plaudern oder anderswohin denken oder gucken will, sollte er einem wohl Maul und Nase abschneiden, dazu die Kehle. So will also gar jedes Ding, wenn es gut gemacht werden soll, den Menschen ganz haben mit allen Sinnen und Gliedern […]« (47).

Weil das Gebet im Kontext evangelischer Spiritualität nicht länger als gutes Werk verstanden wird, kommt es nicht auf die Quantität, sondern die Qualität an. Beten gelingt nur dann, wenn der Beter mit Herz und Verstand bei der Sache ist. Luthers Kritik an der mittelalterlichen Gebetspraxis ist das Eine. Indem er einen Gebetslehrgang vorlegt und dabei Stücke aus der Tradition aufnimmt, verabschiedet er sich jedoch nicht gänzlich aus dem Traditionszusammenhang. Allerdings fasst er diesen in charakteristischer Weise neu. Martin Nicol hat gezeigt, dass es sich bei der Schrift für Meister Peter um eine Form der Katechismusmeditation handelt.9 Sie stellt bei Luther das Proprium evangelischer Gebetsanleitung dar. Obwohl die vorformulierten Texte der Tradition (Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis und Vaterunser) für den Gebetslehrgang unerlässlich sind, fällt doch auf, dass er großen Wert darauf legt, dass die vorformulierten Worte das eigene freie Gebet nicht verhindern. Ziel ist nämlich, dass das Herz durch das Sprechen der vorformulierten Worte warm wird, es zum freien Gebet kommt und schließlich der Heilige Geist selbst im Herzen zu predigen beginnt: »Wenn der Heilige Geist unter solchen Gedanken käme und anfinge, mit reichen, erleuchteten Gedanken in dein Herz zu predigen, so gebe ihm die 9

Nicol, Meditation bei Luther, 150–167.

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Ehre, lasse diese gefassten Gedanken fahren, sei still und höre dem zu, der’s besser kann als du, und was er predigt, das merke und schreibe es auf, so wirst du Wunder erfahren […] im Gesetze Gottes« (50f.).

Insofern stehen alle Gebetsübungen, die Martin Luther in dieser Schrift vorschlägt, gewissermaßen unter eschatologischem Vorbehalt. Gebet im Rahmen evangelischer Spiritualität ereignet sich in einem Spielraum der Freiheit. Die Vorgaben der Tradition dienen dem geübten Beter als »Feuerzeug« (61), um in dessen Herzen das Feuer des freien Gebets anzuzünden und das Hören auf Gott, das kontemplative Gebet, zu ermöglichen. Deshalb hat Luther auch kein Gebetsbuch im klassischen Sinne verfasst. Selbst Luthers »Gebetbüchlein« von 152210 ist kein Gebetbuch im traditionellen Sinne, sondern gibt Anleitung zum Gebet.

2. Konkrete Anleitungen zum Gebet Entgegen einem weitverbreiteten protestantischen Vorurteil will Beten also gelernt sein. Martin Luthers Schrift für Meister Peter enthält eine Reihe ganz konkreter Tipps zum Gebet. Ich möchte diese im Folgenden anhand der fünf einfachen Fragen untergliedern: warum, wo, wann, was und wie beten. 2.1 Warum beten? Luther gibt in der Schrift für Meister Peter drei Gründe an, warum Menschen beten sollen. Gott hat geboten, zu beten, darüber hinaus verheißen, das menschliche Gebet zu erhören und schließlich durch seinen Sohn Jesus Christus auch die Worte kundgetan, mit denen Menschen beten sollen. »Aber weil du uns allen geboten hast, zu beten, und dazu auch Erhörung verheißen und darüber selbst uns beides, Wort und Weise, gelehrt durch deinen lieben Sohn, unsern Herrn Jesus Christus, so komme ich auf dieses dein Gebot, um dir gehorsam zu sein, und verlasse mich auf deine gnädige Verheißung, und im Namen meines Herrn Jesu Christi bete ich mit allen deinen heiligen Christen auf Erden, wie er mich gelehrt hat [...]« (40).

Sich dieser drei Gründe für das Gebet zu vergewissern, ist deswegen so wichtig, weil es alles andere als selbstverständlich ist, zu beten. So ist Luther sich des Abstands bewusst, der zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen besteht: »Ach, himmlischer Vater, du lieber Gott, ich bin ein unwürdiger armer Sünder, nicht wert, dass ich meine Augen oder Hände gegen dich aufhebe oder bete« (40). Angesichts dieser Situation bedarf der Mensch 10

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WA 10, II, 375–501.

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immer wieder der Ermutigung, dass es Gottes Willen entspricht, zu beten. Dabei genügt der Hinweis auf das Gebot Gottes allein offensichtlich noch nicht, um das Abstandsgefühl zu Gott zu überwinden. Erst die Zusage der Erhörung des Gebetes und die Hilfestellung im Hinblick auf Inhalt und Form des Betens vermögen die letzten Widerstände aus dem Weg zu räumen. 2.2 Wo beten? Luther nennt zwei Orte, an denen das Gebet möglich ist: einerseits die Kammer und andererseits die Kirche. Indem Luther als erstes auf die Kammer hinweist, knüpft er an Aussagen Jesu aus der Bergpredigt an. Dieser hatte gegenüber öffentlichen Demonstrationen der Frömmigkeit seine Nachfolger und Nachfolgerinnen angewiesen, im Verborgenen zu beten (vgl. dazu Mt 6,5f.). Warum nennt Luther neben der Kammer auch die Kirche? Entscheidend ist wohl folgender Gedanke: Indem der Betende in die Kirche geht, begibt er sich in die Gemeinschaft mit anderen Christen. Die sichtbare Gemeinschaft mit anderen Beterinnen und Betern stellt eine Art Vergewisserungshilfe dar, dass Gott tatsächlich gewillt ist, das Gebet zu erhören: »denke ja, dass du nicht alleine da kniest und stehest, sondern die ganze Christenheit oder alle fromme Christen bei dir und du unter ihnen in einmütigem, einträchtigem Gebet, das Gott nicht verachten kann« (45). Auch in psychologischer Hinsicht ist Luthers Hinweis plausibel: Zu erleben, dass auch andere beten, vermag das eigene Gebet zu beflügeln. 2.3 Wann beten? Luther geht davon aus, dass das Gebet normalerweise am Beginn und am Ende des Tages erfolgt. Das regelmäßige Gebet verleiht dem unruhigen Alltag eine feste Struktur: »Darum ist’s gut, dass man frühmorgens lasse das Gebet das erste und des Abends das letzte Werk sein« (35). Der Reformator hält es aus praktischen Gründen für unerlässlich, gerade vor dem Beginn der Arbeit am Morgen für das Gebet einen bestimmten Zeitraum zu reservieren: »Und hüte sich mit Fleiß vor diesen falschen, trügerischen Gedanken, die da sagen: ›Harre ein wenig, über eine Stunde will ich beten, ich muss dies oder das zuvor erledigen.‹ Denn mit solchen Gedanken kommt man vom Gebet zu den Geschäften; die halten und umfangen einen dann so, dass aus dem Gebet an diesem Tage nichts wird« (39).

Jeder Beter und jede Beterin wird das von Luther Gemeinte schon selber erfahren haben. Mit seinem weit verbreiteten Morgen- und Abendsegen, die auch in vielen Gesangbüchern abgedruckt sind, hat Luther die evangelische

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Gebetspraxis der vergangenen Jahrhunderte tiefgreifend geprägt. Dabei knüpfte er in der Gestaltung der beiden Gebete in Aufnahme und Abgrenzung an die monastische Gebetspraxis des Tagzeitengebets an.11 Über die festen Gebetszeiten am Morgen und am Abend hinaus geht Luther davon aus, den Tagesablauf immer wieder durch kurze Gebete zu unterbrechen und auf diese Weise eine geistliche Orientierung des Alltagshandelns zu gewährleisten. »Ferner soll ein gutes Gebet nicht lang sein, auch nicht in die Länge gezogen werden, sondern oft und eifrig sein« (61). Hinter beiden Möglichkeiten des Gebets scheint Luthers eigene Gebetspraxis auf. Der Reformator war ein fleißiger Beter. Seine Umgebung berichtet glaubwürdig, dass kein Tag vergangen sei, ohne dass er mindestens drei Stunden gebetet habe, nicht nur am Morgen und am Abend, sondern noch dazu in den für das Studieren geeignetsten Stunden während des Tages.12 Dabei ist sich Luther bewusst, dass es Situationen geben kann, in denen um des Nächsten willen das eigene Gebet zurückgestellt werden muss. »Und gleichwohl können etliche Werke geschehen, die so gut oder besser als das Gebet sind, sonderlich wenn sie die Not fordert« (39). Luther schließt sich an dieser Stelle der Auffassung der Kirchenväter bzw. dem gesunden Menschenverstand an, der im Sprichwort Ausdruck gefunden hat: »Wer treulich arbeitet, der betet zwiefältig.« Wenn jemand seine Arbeit zur Ehre Gottes und zum Wohl der Menschen verrichtet, erfüllt er damit die Anweisung Jesu, ohne Unterlass zu beten. Allerdings warnt Luther davor, über dieser Einstellung das eigentliche Gebet zu vernachlässigen oder es am Ende gar für überflüssig zu halten. Im Verlauf der Geschichte der evangelischen Kirche kam es tatsächlich zu einer Herabsetzung des eigentlichen Gebetes. Die Ethisierung des Glaubens seit dem 18. Jahrhundert wirkte sich dahingehend aus, dass geistliche Übungen mehr und mehr diskreditiert wurden. Es wurde übersehen, dass mit dem eigentlichen Gebet im Lauf der Zeit auch die religiöse Ausrichtung der Arbeit verschwand. Aus dem Beruf, ausgeübt in der Verantwortung vor Gott und zum Wohl des Nächsten, wurde mehr und mehr der Job mit dem Ziel, Geld zu verdienen, höchstens noch verstanden als Mittel zur Selbstverwirklichung. Spitzenaussagen des Reformators wie die von der Arbeit als doppeltem Gebet sollten nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden!

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Gerhard Hennig, Das tägliche Gebet. Luthers Morgen- und Abendsegen. Wurzeln und Wesen des evangelischen Morgen- und Abendgebets, in: Theologische Beiträge 39, 2008, 24–40. Beleg dazu bei Gerhard Ebeling, Beten als Wahrnehmen der Wirklichkeit des Menschen. Wie Luther es lehrte und lebte, in: Lutherjahrbuch 66 (1999), 154.

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2.4 Was beten? Luther ist der Meinung, dass vorformulierte, zur Gebetsmeditation geeignete Texte der christlichen Tradition unerlässlich sind, um in das eigene, frei formulierte Gebet hineinzufinden. Diese Texte dienen als Inspirationshilfe für die eigene Gebetspraxis. Dabei nennt Luther in der Schrift für Meister Peter fünf unterschiedliche Textarten, die sich als Grundlage der Gebetsmeditation eignen: die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, die Sprüche Christi, die Aussprüche Pauli und die Psalmen. Es fällt auf, dass er die Zehn Gebote und das Glaubensbekenntnis bevorzugt, wobei die Zehn Gebote – genau wie in Luthers Kleinem Katechismus – zuerst genannt werden. Dem entspricht die Beobachtung, dass in der ersten Auflage der Schrift für Meister Peter allein eine Auslegung der Zehn Gebote als Gebetsmeditation enthalten ist. Erst in den späteren Auflagen tritt das Glaubensbekenntnis hinzu. Die Aussprüche Christi bzw. des Paulus und die Psalmen werden jeweils nur genannt. So erfahren wir leider nicht, wie Luther diese drei biblischen Textgruppen konkret als Gebetsmeditation genutzt hat. Wichtiger noch als die genannten Texte ist für die Gebetsmeditation aber das Vaterunser. Es ist für Luther »das allerbeste Gebet« (47). Er liebt es mehr als den Psalter, von dem er ausdrücklich anmerkt, dass er auch den sehr lieb habe. Als von Jesus selbst verfasst, ist das Vaterunser das christliche Mustergebet schlechthin. Gerade angesichts des Missbrauchs, den sich das Vaterunser in der mittelalterlichen Frömmigkeit gefallen lassen musste, fällt Luthers Lobpreis besonders ins Gewicht. Er ist überzeugt, dass sich dieses Gebet nicht abnutzt. Es vermag den Menschen in all seinen Lebensphasen von der Kindheit an bis ins Alter zu begleiten. »Denn ich sauge noch heutigen Tages an dem Pater noster wie ein Kind, trinke und esse davon wie ein alter Mensch, kann nicht satt werden« (47). Reformatorische Spiritualität ist von den katechetischen Hauptstücken geprägte Spiritualität. Luther konnte bei der Abfassung seiner Schrift für Meister Peter davon ausgehen, dass die Zehn Gebote, Vaterunser und Glaubensbekenntnis im protestantischen Raum als Grundlagen des Glaubens weite Verbreitung gefunden hatten.13 Für die Rolle des Katechismus im Hinblick auf den evangelischen Glauben ist die Beobachtung wichtig, dass der Reformator ihn nicht primär als Lehrbuch, sondern vor allem als Gebets- und Meditationsbuch verstanden und genutzt hat. Jahrhundertelang hat der Katechismus im Konfirmandenunterricht als Lehrbuch und Vermittlungshilfe für die Grundlagen des evangelischen Glaubens gedient. Dabei wurde mehr und mehr übersehen, dass Luther ihn gleichzeitig mit dem Ziel verfasste, die persönliche Frömmigkeit immer neu zu inspirieren. Über seiner Bedeutung für die fides quae creditur ging die Sensibilität für die fides qua creditur verloren. 13

Nicol, Meditation bei Luther, 150.

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Heute sind wir an einem Punkt angekommen, wo auch die Inhalte des Glaubens weithin verdunstet sind. Wolfgang Huber spricht seit Jahren in diesem Zusammenhang von der Selbstsäkularisierung der evangelischen Kirche bis in die Kerngemeinden hinein.14 Es ist höchste Zeit, beide Dimensionen des reformatorischen Katechismusgebets wiederzuentdecken. 2.5 Wie beten? Zunächst fällt auf, dass Luther auch auf die äußere Haltung beim Beten eingeht. Als mögliche körperliche Gesten nennt er das Niederknien oder Stehen mit gefalteten Händen und zum Himmel erhobenen Augen. Angesichts der häufig zu beobachtenden protestantischen Vernachlässigung äußerer Gesten im Hinblick auf den Glaubensvollzug lohnt es sich, bei Martin Luther in die Schule zu gehen. Äußere Gesten sind immer auch Ausdruck innerer Haltungen; umgekehrt beeinflussen sie ihrerseits innere Einstellungen. Der Reformator geht davon aus, dass die Texte zur Gebetsmeditation laut gesprochen werden: »Ich […] hebe an, die Zehn Gebote […] mündlich bei mir selbst zu sprechen, gerade so, wie die Kinder tun« (38f.). Werden vorformulierte Texte laut gesprochen, prägen sie sich nicht nur besser ein, sondern treten auch deutlicher ins Bewusstsein: »Die Beteiligung der Stimme ist vor allem an denjenigen Punkten der Übung gegeben, an denen geprägte Texte ins Bewußtsein gerückt werden sollen; sie ist aber auch etwa bei freien Gebeten möglich.«15 Dass die freien Gebete genauso still verrichtet werden können, zeigt folgende Notiz: »Wenn nun das Herz durch solch mündliches Gespräch erwärmt und zu sich selbst gekommen ist, so […] sprich oder denke so kurz du kannst [...].«16 Martin Nicol hat in seiner Auslegung der Schrift für Meister Peter einen bestimmten Aufbau der Gebetsübung entdeckt. Er geht davon aus, dass diese sich aus einem Bereitungs- und einem Hauptteil zusammensetzt. Der Bereitungsteil enthalte die Meditation des Dekalogs und des Credos. Zusätzlich bestehe die Möglichkeit, Bibelsprüche und Psalmen zu bedenken. Der Hauptteil der Gebetsübung umfasse nach einer Einleitung mit dem Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit und der Berufung auf Gottes Gebot und Verheißung des Betens die Meditation des Vaterunsers, die mit dem Amen in der Gewissheit der Erhörung abgeschlossen werde.17 Diese Einteilung gelte unbeschadet der Tatsache, dass die Schrift für Meister Peter mit der Meditation 14 15 16 17

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Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, 10 u.ö. Nicol, Meditation bei Luther, 153. Hervorhebung von P.Z. Nicol, Meditation bei Luther, bes. 156.

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des Vaterunsers einsetze. Nicol beruft sich für seine Interpretation vor allem auf die lateinische Übersetzung der Schrift Luthers. Im deutschen Text heißt es: »Wenn ich aber zeit und raum habe fur dem Pater noster, so thu ich mit den Zehen geboten auch also […].«18 Das Wörtchen »fur« wird normalerweise mit »außer« bzw. »neben« wiedergegeben. Im lateinischen Text steht jedoch »ante«. Danach müsse »fur« in zeitlichem Sinne verstanden werden. Darüber hinaus ist Nicol der Überzeugung, dass die Bereitung essenzieller Bestandteil der Gebetsübung ist, also auf keinen Fall wegfallen kann.19 Was ist von dieser Interpretation zu halten? Entscheidend für das Verständnis der Schrift Luthers scheint mir das Ziel zu sein, das er mit ihr verfolgt. Es geht ihm darum, dass der Heilige Geist selbst im Herzen des Beters zu reden beginnt: »Es kommt wohl oft vor, dass ich mich in einem Stück oder Bitte in so reiche Gedanken verliere, dass ich alle anderen sechs anstehen lasse. Und wenn auch solche reichen, guten Gedanken kommen, so soll man die anderen Gebete fahren lassen und solchen Gedanken Raum geben und mit Stille zuhören und sie beileibe nicht hindern; denn da predigt der Heilige Geist selbst, und ein Wort seiner Predigt ist besser als tausend unserer Gebete. Und ich habe auch so oft mehr gelernt in einem Gebet, als ich aus viel Lesen und Nachsinnen hätte kriegen können« (46).

Zuvor aber soll das Herz zu sich selbst kommen und warm werden zum eigenen, freien Gebet. Dabei geht der Reformator davon aus, dass zu diesem Warmwerden des Herzens ein »Feuerzeug« nötig ist: Diese Funktion des Feuerzeugs können die Zehn Gebote, die Psalmen, ein Kapitel aus der Bibel oder auch das Glaubensbekenntnis erfüllen. »Wer geübt ist, kann hier wohl an einem Tag die Zehn Gebote, an dem andern einen Psalm oder ein Kapitel aus der Schrift als solches Feuerzeug nehmen und in seinem Herzen damit Feuer anzünden« (61). Im Hinblick auf die Zehn Gebote und das Glaubensbekenntnis hat der Reformator in diesem Zusammenhang die Gebetsübung des »vierfach gedrehten Kränzleins« entwickelt, nach dem die Zehn Gebote, bzw. die einzelnen Artikel des Glaubensbekenntnisses unter vier Aspekten meditiert werden: als Lehre, Danksagung, Beichte und Gebet. In der Regel mag eine solche Vorbereitung auf die Gebetsmeditation des Vaterunsers notwendig sein. Entscheidend aber ist, dass durch die Vorbereitung das Herz überhaupt warm wird. Auch die Gebetsmeditation des Vaterunsers hat nichts anderes als diese Aufgabe zu erfüllen. Das wird an folgenden Überlegungen Luthers erkennbar: 18 19

Zitiert nach Nicol, Meditation bei Luther, 154. Nicol, Meditation bei Luther, 154.156.

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»Sondern ich will das Herz damit angeregt und unterrichtet haben, was es für Gedanken im Vaterunser fassen soll. Solch Gedanken aber kann das Herz (wenn’s recht erwärmt und zu beten begierig ist) wohl mit vielen anderen Worten, auch wohl mit weniger oder mehr Worten aussprechen« (45).

Luther will den Beter in die Freiheit des eigenen Betens hineinführen und darüber hinaus in das kontemplative Gebet. Im Hinblick auf dieses Ziel ist selbst das hochgeschätzte Vaterunser nur Mittel zum Zweck. Unter allen Umständen soll verhindert werden, dass die Gebetsanleitung unter der Hand wieder im Sinne der Rosenkränze und der anderen Gebete der mittelalterlichen Frömmigkeit in mechanischer Weise heruntergebetet wird. Erst wenn der Beter die Stimme des Geistes Gottes zu vernehmen beginnt, hat das Gebet sein Ziel erreicht. Dabei kann Luther sich dieses Reden des Geistes im Herzen nicht anders als im Vollzug der Meditation von Schriftworten vorstellen.20 Auch die »wittenbergisch-gemäßigte Ekstase«21 bewegt sich also im Rahmen der Orientierung reformatorischer Spiritualität am Bibelwort.

3. Resümee: Sieben Thesen 1. Luther geht in seiner Schrift für Meister Peter davon aus, dass Beten gelehrt und gelernt werden kann und dass dazu Anleitung und Übung notwendig sind. 2. Allerdings unterscheidet sich die Gebetsübung von anderen Übungen darin, dass es in ihr keinen Meister geben kann. Jeder Beter ist, um mit Bonhoeffer zu sprechen, immer wieder »auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen«.22 Unlust zum Gebet und Zerstreutheit beim Beten, aber auch das Bewusstsein der eigenen Unwürdigkeit sind für Luther mächtige Hinderungsgründe. Darum hält er es für nötig, zunächst wie ein Kind auswendig gelernte biblische Texte zu sprechen, um sich von ihnen zum freien Gebet inspirieren zu lassen. Sie haben wie ein Feuerzeug die Funktion, das Herz zum frei formulierten Gebet zu entzünden. Weil das freie Gebet Ziel der Gebetsmeditation vorformulierter Bibeltexte ist, hat Luther keine Gebetsbücher verfasst. 3. Ziel des freien Gebets ist, dass der Heilige Geist selbst im Herzen des Beters zu reden beginnt und es auf diese Weise zum kontemplativen Gebet, zum Umschlag vom expressiven zum rezeptiven Gebet kommt. Luther geht 20 21 22

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Auch das Glaubensbekenntnis stellt für Luther eine Form von verdichteten Schriftaussagen dar. Bizer, In der Schule von Doktor Martin und Meister Peter, 204 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW, Bd. 8, hg. von Christian Gremmels u.a., Gütersloh 1998. 435.

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damit von der Möglichkeit einer Demokratisierung der Gebetserfahrungen im Rahmen mystisch geprägter Frömmigkeit aus. 4. Der Reformator knüpft an die mittelalterliche Gebetsliteratur und -praxis an, verändert sie aber aufgrund der neuen reformatorischen Erkenntnisse. 5. Die Gebetsanleitung des Reformators ist biblisch orientiert, was sich nicht zuletzt an der Konzentration auf das Vaterunser als Mustergebet der Christenheit zeigt. Sie ist christuszentriert, was daran deutlich wird, dass die Heiligen als Fürbitter überflüssig werden. Luthers Gebetsanleitung ist rechtfertigungstheologisch motiviert: Das Gebet des Christen bleibt, solange er lebt, Gebet eines Sünders. Dennoch hat Gott verheißen, das Gebet zu hören und zu beantworten. 6. Luther betont die Freiheit, in der jeder Christ seine eigene Gebetsform finden muss. Er macht damit Ernst mit seiner Neuentdeckung des allgemeinen Priestertums. Durch Taufe und Glaube ist jeder Christ Priester vor Gott. 7. Nicht anders als für die mittelalterliche Spiritualität ist auch für Luther Gebet nur denkbar in der Gemeinschaft der übrigen Christen, als Gebet der Kirche.

Peter Zimmerling, Martin Luther – Lehrer des kontemplativen Gebets

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Vollkommenheit – die Botschaft John Wesleys an Martin Luther?1 Christoph Klaiber

1. Einleitung Betrachtet man die Lebensläufe und die geistliche und theologische Entwicklung von Martin Luther und John Wesley, so zeigen sich manche Parallelen: Eine eher verkrampfte geistliche Suche im jüngeren Erwachsenenalter findet durch eine lebensverändernde Begegnung mit der Gnade Gottes zum Ziel. Dabei spielt die Erkenntnis der Rechtfertigung allein aus Glauben eine entscheidende Rolle. Beide werden zu Kirchengründern wider Willen, beide sind tief in der Heiligen Schrift verankert. Und an einigen Punkten sind das nicht nur zufällige Parallelentwicklungen. Wesleys Entdeckung der Rechtfertigung aus Gnade und Glaube allein und die damit zusammenhängende Aldersgate-Erfahrung haben direkt mit seiner Rezeption lutherischer Theologie zu tun, teils vermittelt durch die Herrnhuter – vor allem durch Peter Böhler –, in der Versammlung in der Aldersgate-Street am 24.5.1738 dann direkt durch Luthers Vorrede zum Römerbrief.2 Wesley wusste, was er Martin Luther und der deutschen Reformation zu verdanken hatte. Aber bei allen Gemeinsamkeiten und vielen rein historisch bedingten Differenzen gibt es doch mindestens einen zentralen theologischen Unterschied, aus dem sich viele andere Entscheidungen und Entwicklungen ergeben. Wird bei Luther die Existenz des Christenmenschen unter dem Begriff »simul iustus et peccator« zusammengefasst, so ist für Wesley zeitlebens der Gedanke der »Christian Perfection« leitend. Wesley selbst hat diese Differenz deutlich gesehen und fasst das in einer seiner letzten veröffentlichten Predigten im Jahr 1790 noch einmal prägnant zusammen: »Who has wrote more ably than Martin Luther on justification by faith alone? And who was more ignorant of the doctrine of sanctification, or more confused in his conceptions of it?”3 Man muss diese scharfe und nicht durch eine breite Kenntnis der

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Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 15.11.2017 auf der Distriktsversammlung der Hauptamtlichen des Stuttgarter Distrikts der Evangelisch-methodistischen Kirche gehalten wurde. Dazu ausführlicher Christoph Klaiber, Von Gottes Geist verändert, Göttingen 2014, 43–49. Sermon 107.I.5. Übers.: »Wer hat besser als Luther über die Rechtfertigung allein aus Glauben geschrieben? Und wer war zugleich unwissender oder verwirrter als er, was die Heiligung betrifft?«

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Schriften Luthers4 untermauerte Aussage Wesleys nicht teilen, um doch hier den entscheidenden theologischen Streitpunkt zwischen Lutheranern und Wesleyanern zu sehen. Bestimmt der Zwiespalt aus Römer 7 das Leben der Christen bleibend, sind täglich neue Buße, Sündenerkenntnis und Vergebung, das »täglich in die Taufe Kriechen« die zentralen Bestandteile, oder wird die neue Existenz der Glaubenden eher aus Römer 8 beschrieben, mit Bildern von Wachstum, Liebe und Entmachtung der Sünde gefüllt, und mit den Aussagen aus 1. Johannes 3 und Matthäus 5 auf die Spur der Vollkommenheit gesetzt?

2. Wesleys Lehre von der Christlichen Vollkommenheit als Botschaft des Methodismus Von daher scheint die Antwort auf die im Thema des Vortrags gestellte Frage ganz klar: Die Lehre von der Christlichen Vollkommenheit ist Wesleys Botschaft an Luther und damit auch die Botschaft der Methodisten an die Lutheraner: Go on to perfection!5 Aber ist das überhaupt eine Botschaft? Und ist das unsere Botschaft? Versucht man, den Gedanken der Vollkommenheit ins Gespräch zu bringen, stößt man auf massives Unverständnis – auch in methodistischen Kreisen. »Nobody is perfect« ist geradezu ein säkulares Dogma der Postmoderne, und der Perfektionismus erscheint als eine der Todsünden, die geradewegs zu Werkgerechtigkeit und/oder Burnout führen. Ist diese Lehre Wesleys nicht eher eine Absonderlichkeit der Theologiegeschichte als heutiger Auftrag für das eigene geistliche Leben, die Gestaltung von Kirche und Gemeinde und das ökumenische theologische Gespräch?6 Trotz dieser Einwände behaupte ich: Die Lehre von der Christlichen Vollkommenheit ist Wesleys Botschaft an Luther und damit auch die Botschaft der Methodisten an die Lutheraner. Dafür gibt es vier Begründungen:

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Luther konnte wirklich schöne Sätze über die Heiligung schreiben, so z.B. in der Erklärung des 3. Artikels im Kleinen und Großen Katechismus, in seiner Freiheitsschrift und vor allem auch in der Wesley so gut bekannten Vorrede zum Römerbrief. Nach Hebr 6,1f. ein beliebter Predigttext Wesleys, vgl. Sermon 76 von 1784 und die über 50 Erwähnungen in seinen Journals (Works of John Wesley, Vol. 24, 537). Zum Umgang mit der Vollkommenheitslehre im deutschen Methodismus siehe C. Klaiber, a.a.O. 206f.

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2.1 Die Lehre von der Christlichen Vollkommenheit ist John Wesleys Vermächtnis »This doctrine is the grand depositum which God has lodged with the people called Methodists; and for the sake of propagating this chiefly He appeared to have raised us up”7, fasste John Wesley ein halbes Jahr vor seinem Tod die Bedeutung dieser Lehre zusammen. Für ihn selbst ist das Streben nach Vollkommenheit die Konstante, die sich durch sein Leben von 1725 bis zum Ende durchzieht.8 Interessanterweise tritt bei Wesley das Thema der erreichbaren Christlichen Vollkommenheit das erste Mal gerade dann auf, als er 1738 die Rechtfertigung allein aus Glauben entdeckt. Es geht für ihn also nicht um die letzte Steigerung eines verkrampften Vollkommenheitsstrebens. Es geht um eine Gabe des Heiligen Geistes, die zugleich als grundlegende Verwandlung und Neuschöpfung gedacht ist. Solange Wesley das Heil auf dem Weg der eigenen Heiligungsprojekte erwartete, musste die völlige Erfüllung in diesem Leben notwendigerweise zweifelhaft bleiben. Ist es aber Gottes Gnade durch den Heiligen Geist allein, der wir alle Segnungen verdanken, dann ist sicher damit zu rechnen, dass Gottes Geist das Werk der Gnade auch zu Ende führt und mein Leben völlig heilmachen kann und wird. Wesley hat diese Lehre dann zirka 20 Jahre gepredigt und verfeinert, trotz zahlreicher Widerstände und Einwände, ohne dass er sie im eigenen Leben oder dem anderer Menschen verwirklicht sah. Zumindest die Erfahrung der Vollkommenheit hat sich ihm nur sehr selten und uneindeutig gezeigt.9 Erst ab 1758 berichten Menschen in größeren Zahlen und an vielen Orten davon, durch Gottes Gnade von der Macht der Sünde vollständig befreit und in der Liebe vollkommen zu sein. Freilich zog diese innermethodistische Heiligungs-Erweckung auch manche Übertreibungen und Fehlentwicklungen nach sich, denen Wesley teilweise durch Präzisierungen und Korrekturen seiner Lehre begegnete. Doch insgesamt blieb seine Auffassung vom Wesen der Christlichen Vollkommenheit durch die Jahrzehnte hindurch relativ konstant – so wie er es auch selbst in seiner Schrift: »A Plain Account of Christian Perfection« rückblickend behauptete. Drei Hauptlinien sind bei Wesley schon seit der Zeit um 1740 zu beobachten:10 7 8 9 10

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Letter to R. C. Brackenbury, 1.9.1790. Übers.: »Diese Lehre ist das große Vermächtnis, das Gott den Methodisten anvertraut hat, und er hat uns hauptsächlich zu ihrer Ausbreitung ins Leben gerufen.« So auch seine Selbstaussage im Vorwort und Nachwort zu »A Plain Account of Christian Perfection« (WJW 13,136; 189f.). Dazu C. Klaiber a.a.O. 192–195. Die kritische Darstellung und Neuentfaltung der Vollkommenheitslehre folgt meinen ausführlicheren Darlegungen im 6. Kapitel meines Buches »Von Gottes Geist verändert«,

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2.1.1 Vollkommenheit als Sündlosigkeit Die erste und wohl schwierigste Bestimmung ist es, Vollkommenheit als Sündlosigkeit zu bezeichnen. Das ist von manchen biblischen Belegstellen her nahliegend (v.a. 1Joh 3) und zeigt sich gleich in der ersten Predigt nach Aldersgate und in der Lehrpredigt »Christian Perfection«, seiner ersten großen Darlegung aus dem Jahr 1740.11 Ausgehend von 1. Johannes 3,9 entfaltet er, in welcher Weise der vollkommene Christ keine Sünde tut – und auch, was dann nicht als Sünde im eigentlichen Sinn zu verstehen ist. Aber Wesleys Versuche, die christliche Vollkommenheit als Abwesenheit von Sünde, schlechten inneren Gedanken, Zweifeln, Versuchungen, Erfahrungen der Gottesferne und unguten Gefühlen zu bestimmen, sind ausgesprochen unbefriedigend. Es lässt sich beobachten, dass Wesley einen Teil dieser Behauptungen schon recht früh relativieren oder ganz zurücknehmen musste. Der eine Punkt, an dem er festhielt, nämlich die Sündlosigkeit, bringt ihn in massive argumentative Probleme. Zum einen muss er den Sündenbegriff auf die willentlich begangene Sünde eingrenzen, zum zweiten muss er den Begriff der Schuld, die von Gott trennt, vom Sündenbegriff teilweise ablösen. Er merkt auch selbst im Laufe der Zeit, dass er hier wohl in einer argumentativen Sackgasse gelandet ist. Die Probleme liegen ja nicht darin, dass Wesley die negativen Beschreibungen nicht richtig vorgenommen hätte und diese nun quasi systemimmanent zu revidieren wären. Der Fehler liegt gerade im System. Vollkommenheit (perfection), das Höchste und Beste, was es zu erreichen gibt, kann nicht als Abwesenheit des Negativen bestimmt werden. Sonst bestimmt nicht das Positive, sondern in seiner Negation das Negative das Wesen der Vollkommenheit. Christliche Vollkommenheit wäre dann sozusagen immer noch vom Negativ der Sünde geprägt. Wer keine Fehler machen darf und will, bezieht seine hauptsächliche Inspiration aus der Beachtung eines strengen, vorgegebenen Kodex und steht in Gefahr, letztlich nichts mehr als eine stumpfe Aufgabenerledigung zu haben. Müssten schon in diesem Zusammenhang Kompetenzen, Ideen, Engagement, Kreativität und Selbstvertrauen viel höher gewichtet werden als die Vermeidung des Negativen (hier: die Fehlerlosigkeit), um wie viel mehr gilt das dann bei dem Versuch, die höchste Form menschenmöglicher Existenz unter den Bedingungen der gegenwärtigen Welt zu beschreiben. Vollkommenheit darf nicht negativ, sondern muss positiv – ja ich denke sogar ausschließlich positiv – bestimmt werden. Nach innen gerichtete Beobachtungen, an welchem Augenblick des Lebens nun der letzte Rest der Sünde verschwunden ist, führen in die Irre.

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184ff. u. 207ff. Sermon 40 (WJW 2, 99ff.), zitiert auch in Plain Account on Christian Perfection (WJW 13,146ff.).

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Das führt nur zu der geistlichen Nabelschau des in sich selbst verkrümmten Menschen, die durch den Zuspruch der rechtfertigenden Gnade Gottes und die Gabe des Heiligen Geistes ja eigentlich schon längst überwunden war. Eine Vollkommenheit, die sich auf die letzten Reste der Sünde und ihr Verschwinden konzentriert, führt sich selbst ad absurdum, hat mehr mit dem alten Menschen als mit Gottes Geist zu tun und verdient diesen Namen letztlich nicht. Leichenreden auf den alten Adam haben mit dem neuen Lied der Kinder Gottes nun doch herzlich wenig zu tun – denn das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2Kor 5,17)! 2.1.2 Wiederherstellung des Bildes Gottes So sehr Wesley durch seine Darstellung auch dafür verantwortlich war, dass bis heute Vollkommenheit mit Sündlosigkeit verwechselt wird, so deutlich setzt er in anderen Texten andere Akzente: Er definiert salvation als Wiederherstellung des Ebenbilds Gottes im Menschen:12 Ganz in Gottes Willen ergeben, begehren die Vollkommenen nichts mehr für sich selbst. Sie beherrschen nicht nur aufkommende böse Gedanken, nein sie sind gänzlich davon befreit. Sorgen um die Zukunft und Lasten der Vergangenheit drücken sie nicht mehr, abschweifende Gedanken verwirren sie nicht mehr, Furcht und Zweifel sind verschwunden, und die Salbung des Heiligen Geistes zeigt ihnen jede Stunde, was sie tun und reden sollen. All ihr Tun und Denken ist vollständig und ausschließlich auf Gott und seinen Willen ausgerichtet. Auch Versuchungen sind nur noch oberflächlich und äußerlich und stören nicht den beständigen inneren Frieden. Ganz von der Gegenwart Jesu Christi im Heiligen Geist erfüllt ist ihr Leben voller Liebe, Freude und Licht. Wesley malt hier das positive Bild eines von Gott geprägten Lebens in so überhell leuchtenden Farben, dass er später die eine oder andere Spitze deutlich korrigieren muss. Aber das Grundkonzept bleibt erhalten. Das Ebenbild Gottes wird im Menschen wiederhergestellt. Nicht zu Unrecht wird dieser Ansatz von vielen im Zusammenhang mit der ostkirchlichen Vorstellung der Theosis, der Vergöttlichung des Menschen in der Heiligung des Lebens gesehen. Dieser Ansatz ist aber problematisch, vor allem wenn er sich an aristotelischen Gottesvorstellungen orientiert. Ganz abgesehen davon, ob dieses Gottesbild als Interpretationsrahmen der biblischen Gotteserfahrung nicht grundsätzlich problematisch ist, zeigt sich dann auch bei manchen orthodoxen Wüstenvätern ein Ideal der weltabgewandten, selbstgenügsamen und

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So v.a. in den Vorworten zu den Ausgaben von Hymns and Sacred Poems von 1740 u. 1742, zitiert in »Plain Account on Christian Perfection« (WJW 13, 150–155).

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gleichförmig von Gemütsregungen unbewegten Existenz, das mit den Vorstellungen eines Seneca wohl wesentlich mehr zu tun hat als mit dem, was wir aus dem Zeugnis der Evangelien über das Leben des Jesus von Nazareth wissen. Wesley hat die Probleme dieses Ideals durchaus gesehen und nicht nur den Isolationismus der Wüsteneremiten und ihrer zeitgenössischen Bewunderer scharf kritisiert,13 sondern auch den menschlichen Gefühlsregungen ein gewisses Recht eingeräumt – wenn auch mit zahlreichen Einschränkungen und manchen Inkonsequenzen. Trotzdem stand er immer wieder in der Gefahr (und erlag ihr manchmal auch), die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und die Teilhabe an der göttlichen Natur als wesenhafte Entsprechung und Ähnlichkeit zu verstehen und damit sich und anderen ein Ideal vorzustellen, das letztlich zu einer Verkrüppelung des Menschseins führt. Sinnvoller wäre eine Orientierung am irdischen Jesus mit all seiner Menschlichkeit. Denn eben an diesem Bild Jesu lässt sich das Ziel der Heiligung des menschlichen Lebens gewinnen: Wahrer, ganzer Mensch zu werden, im spannungsvollen Gegenüber zu Gott, in dem dann trotz allem Vertrauen, Hingabe und Zukunftshoffnung bestimmend werden. Ein Heiliger, eine Heilige in diesem Sinn ist das Gegenteil eines sich selbst in frommer Selbstdarstellung erhöhenden Möchtegern-Gottes. Die Heiligen nehmen im Gegenteil ihren Platz als Geschöpfe, als Menschen unter Menschen und als Töchter und Söhne des himmlischen Vaters gerne und dankbar an. Und es gilt: Ein Leben mit Brüchen, Narben, Wunden und Beschädigungen ist kein Widerspruch zur Christlichen Vollkommenheit. Das sind ja sozusagen die »irdischen Gefäße« unseres schwachen Menschseins, während die Vollkommenheit im Sinne Wesleys sich nicht durch Reparatur oder Verschönerung der alten Tonkrüge ergibt, sondern durch den Schatz, die Liebe Gottes, die Einwohnung des Geistes im noch beschädigten oder schon geheilten Leben. Christliche Vollkommenheit orientiert sich nicht an menschlichen Ganzheitlichkeitsträumen, sondern am Vorbild des Jesus von Nazareth. 2.1.3 Vollkommenheit als Liebe Der bekannteste, einflussreichste und vielleicht auch beste Text zum Thema der christlichen Vollkommenheit aus dieser Phase ist die kleine Schrift »The Character of a Methodist« von 1742.14 Nachdem Wesley hier zunächst darlegt, dass sich Methodistinnen und Methodisten weder in ihren Lehrmeinungen noch durch besondere Redeweisen, Gebräuche oder einseitige Betonungen bestimmter theologischer Themen von anderen Christen unterscheiden 13 14

Ähnlich schon im Vorwort zu »Hymns and Sacred Poems« (1739), Works3 XIV 328f. WJW 9, 32ff.

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wollen, beschreibt er das Wesen eines Methodisten bzw. einer Methodistin durch die Darstellung eines vollkommenen christlichen Lebens – auch wenn der Terminus perfection bewusst vermieden wird. Zentral ist hier die Bestimmung christlicher Existenz aus Römer 5,5: »Die Liebe Gottes, durch den Heiligen Geist ins Herz ausgegossen.« Daraus folgt Glück (happiness), weil Schuld und Angst durch das Zeugnis des Geistes überwunden sind, Dankbarkeit in allen Dingen und Gemeinschaft mit Gott im beständigen Gebet. Den zweiten Teil der Beschreibung dieses christlichen Lebens beginnt und überschreibt Wesley mit dem Stichwort der Nächstenliebe. Sie zeigt sich in der Vergebungsbereitschaft eines gereinigten Herzens, im Verzicht auf egoistische Ziele und Projekte, der Hingabe an Gottes Willen, dem Verzicht auf üble Nachrede und leeres Geschwätz und der Hilfe für alle Menschen, nah und fern, Freund und Feind, nach Leib und Seele. Christliche Vollkommenheit wird hier ganz aus dem Begriff der Liebe heraus entfaltet, von der Sünde wird nur zweimal beiläufig geredet und zwar als vergebene und überwundene Größe. Gleichzeitig gelingt Wesley hier eine Beschreibung, die keineswegs extravagant oder weltfremd klingt. Gerade die Betonung konkreter Tätigkeiten in unterschiedlichen Kontexten nimmt breiten Raum ein. Und wieder – wie schon bei der Predigt von 1740 – setzt er über die Beschreibung die Bemerkung aus Philipper 3,12a, um zu zeigen, dass es hier um eine von Gott zu bewirkende Wesensveränderung und nicht um eine aktuelle Zustandsbeschreibung geht. Und damit kommen wir zur der Fragestellung, die für mich der Schlüssel zum Verständnis der Christlichen Vollkommenheit geworden ist. 2.1.4 Von Christus geprägtes Leben Es gibt Menschen, bei denen habe ich eigentlich immer den Eindruck: Es ist die Liebe, die sie prägt und alle ihre Daseinsäußerungen erfüllt. Es ist die Freude, die einem aus ihrem Gesicht entgegen strahlt. Es ist dankbares Vertrauen, das gerade auf mühsamen Wegen ganz sichtbar Kraft gewinnt. Solche Menschen gibt es, und wir alle kennen dafür wohl Beispiele. Solche Menschen machen Fehler und haben Defizite. Wahrscheinlich würden sich die meisten vehement wehren, wenn man ihnen irgendeine definierte Form von Sündlosigkeit zuschreiben wollte. Und trotzdem ist es zu bemerken: Hier ist ein Leben im tiefsten Inneren heil, ganz, in Ordnung. Hier wohnt etwas, das weit über positive Charaktereigenschaften und angenehme Umgangsformen hinausgeht, etwas, das nicht aus diesem Menschen heraus erklärbar und zu verstehen ist: ungeteilte lebensprägende Liebe, Liebe zu Gott, Liebe zum Leben, Liebe zu den Menschen und der Schöpfung, nicht mehr und nicht weniger. Genau das aber ist Christliche Vollkommenheit, diese ganze, heile bzw. 22

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geheilte Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater und die überströmende Liebe, die daraus fließt. Genau das ist es, was die irdische Existenzform Jesu Christi auszeichnete und genau das ist es, was der Heilige Geist den Menschen schenkt, der Geist, der sich nicht primär in Machttaten und spektakulären Phänomenen erweist, sondern in der einladend-offenen Liebe zwischen Vater und Sohn manifestiert. Der Geist Gottes ist die Liebe Gottes, die Fülle Gottes und die Vollkommenheit. 2.2 Vollkommenheit ist biblisch verwurzelt Der Gedanke einer vollständigen, vollkommenen Lebensgemeinschaft der Menschen mit Gott ist biblisch tief und an vielen Orten verwurzelt. Es wird beschrieben, wie die Existenz des Gottesvolkes der Heiligkeit seines Gottes entsprechen soll, die Propheten erwarten eben nicht nur einen äußerlichen, buchstäblichen Gehorsam gegenüber einem Normenkatalog, sondern eine grundlegende Übereinstimmung mit Gott und seinem Wesen.15 Paulus schreibt in leuchtenden Farben von der neuen Existenz der Töchter und Söhne Gottes, die nicht mehr von Gesetz, Buchstabendienst, Schuld und Knechtschaft geprägt sind, sondern vom Geist, von der Freiheit, von der Liebe.16 Diese vollkommene Liebe wird auch von der johanneischen Tradition immer wieder zur Charakterisierung des christlichen Lebens verwendet: Sie ist frei von Furcht und Angst, wendet sich selbstverständlich und unkompliziert den Nächsten zu und lässt keinen Platz für das Gegenteil, die Sünde: Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt. Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde; denn Gottes Kinder bleiben in ihm und können nicht sündigen; denn sie sind von Gott geboren.17

Der johanneische Christus spricht von der vollkommenen Liebe, die sich selbst hingibt – nicht erst durch den Tod am Kreuz für die Freunde, sondern auch schon in der Aufgabe der eigenen Würde im »Drecksgeschäft« der Fußwaschung. Ganz besonders deutlich und radikal tritt einem diese Perspektive in der synoptischen Nachfolge-Tradition entgegen. Jesus ruft nicht nur zum radikalen, sofortigen Bruch mit allen bestehenden Bindungen in sozialer und materieller Hinsicht auf, er stellt in der Bergpredigt seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auf einen Weg, der über alle menschlichen ethischen Systeme

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Vgl. das Heiligkeitsgesetz Lev 19 und bei den Propheten z.B. Jes 29,13; Jer 4,4; 24,7; 31,33; Ez 18,31; Joel 2,13, Am 5,4ff. usw. Röm 8, aber auch Gal 5 u. 1Kor 6,11. 1Joh 3,8f.

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weit hinausgeht und sich an der vollkommenen Liebe des himmlischen Vaters orientiert: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. (Mt 5,38–48)

Paulus will zu diesem Ziel hin und ist sich manchmal nicht so ganz sicher ob wir nicht schon da sind: Ich meine nicht, dass ich schon vollkommen bin und das Ziel erreicht habe. Ich laufe aber auf das Ziel zu, um es zu ergreifen, nachdem Jesus Christus von mir Besitz ergriffen hat. Ich bilde mir nicht ein, Brüder und Schwestern, dass ich es schon geschafft habe. Aber die Entscheidung ist gefallen! Ich lasse alles hinter mir und sehe nur noch, was vor mir liegt. Ich halte geradewegs auf das Ziel zu, um den Siegespreis zu gewinnen. Dieser Preis ist das ewige Leben, zu dem Gott mich durch Jesus Christus berufen hat. So wollen wir denken – wenn wir uns zu den ›Vollkommenen‹ zählen. (Phil 3,12–16 GNB) Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung! (2Kor 5,17)

Ohne die einzelnen Aussagen ganz unterschiedlicher Zeiten und Traditionen hier im Detail analysieren zu können, wird doch klar: Allein schon durch die breite biblische Bezeugung verdient das Thema der Vollkommenheit eine intensive Betrachtung. 2.3 Vollkommenheit – warum nicht? So seltsam auf den ersten Blick der Gedanke einer innerweltlichen Vollkommenheit der Menschen erscheint, so zeigt doch die unvoreingenommene systematische Reflexion, dass theologisch wenig gegen diesen Gedanken und viel für ihn spricht. Dies möchte ich aus vier Bereichen der Dogmatik aufzeigen.18 (1) Aus der Schöpfungslehre: Wenn die Welt und die Menschen Gottes gute Schöpfung sind, dann können die schöpfungsmäßigen Gegebenheiten kein Grund sein, warum Menschen nicht in vollkommener Weise mit und vor Gott ihr Leben führen können. Weder die ursprüngliche Natur des Menschen noch die durch Schwäche und Vergänglichkeit gesetzten Grenzen haben etwas mit Sünde und der dadurch bewirkten Zerstörung des Gottesverhältnisses zu tun. Sie können und werden das Heiligungswirken des Geistes 18

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nicht verhindern. Wenn es an unserem Wesen als Menschen läge, dauerhaft und immer wieder neu vom Bösen beherrscht zu werden, dann hätte Gott den Menschen nicht gut geschaffen. (2) Aus der Christologie: Dass Jesus Christus vere homo – wahrer und wirklicher Mensch – war, ist nur dann sagbar, wenn ein Mensch, durch und wie Jesus erfüllt vom Geist, leben kann wie Jesus nach seiner menschlichen Natur. Ist menschliche Existenz in dieser vollkommenen Einheit mit dem Vater und in der Fülle des Geistes nicht einmal denkmöglich, dann wäre die Menschwerdung Gottes ein doketischer Verkleidungstrick. Wenn es zum Wesen des Menschen gehörte, nie ganz von Gottes Liebe bestimmt und geprägt zu sein, dann wäre Jesus Christus kein wahrer Mensch gewesen. (3) Aus der Soteriologie: Geht man mit Wesley (und vielen heutigen Exegeten) davon aus, dass Heil und Rettung durch Jesus Christus im biblischen Zeugnis nicht nur das juristische Überstehen des Jüngsten Gerichts meint, sondern eine reale Veränderung der Wirklichkeit der Glaubenden (und der Welt), dann ist die wesleyanische Rede davon, dass durch die Tat Christi am Kreuz und das Wirken des Heiligen Geistes Schuld und Macht der Sünde gebrochen sind, ein sehr angemessener Ausdruck dafür. Ist die Macht der Sünde aber tatsächlich besiegt, wird sie gegen die Kraft des Heiligen Geistes nicht dauerhaft Raum im Leben des Glaubenden beanspruchen können. Wenn durch Tod und Auferstehung nur unser himmlischer Kontostand bereinigt, aber nicht die Macht der Sünde über unserem Leben gebrochen wird, dann macht die Rede vom neuen Leben und vom Sieg Jesu heute noch keinen Sinn. (4) Aus der Pneumatologie: Methodistische Rede vom Heiligen Geist geht grundsätzlich davon aus, dass Gott durch seinen Geist wirklichkeitsverändernd handelt und dass es für das Wirken des Geistes, wenn ihm der Mensch nicht widersteht, keine anderen Grenzen als die schöpfungsmäßig gesetzten gibt. Wenn Gottes Heiliger Geist dauerhaft schwächer ist als die Mächte des Bösen und sie in diesem Leben nie überwinden und vertreiben kann, dann ist er ein laues Lüftchen und nicht die lebensschaffende Kraft Gottes. 2.4 Wir brauchen ein Ziel! Nach welchem Ziel sollen wir uns denn ausstrecken, wenn keine grundlegende Veränderung unseres Lebens zu erwarten ist? In der Tendenz ist es ja so, dass sich dann der Dienst, die Arbeit – eben die Werke – in den Vordergrund drängen. Einmal habe ich Glauben, Vergebung und die Gotteskindschaft geschenkt bekommen, ab dann ist das Christenleben von der Arbeit bestimmt, wenn von Gottes Seite nichts Neues mehr zu erwarten ist. Bischof

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W. K. Goodson hat auf der Glaubenskonferenz 1988 in Hollabrunn dazu gesagt: »If you aren’t striving for perfection what are you striving for? You are imperfect already!«19 – Wenn du nicht nach Vollkommenheit strebst, wonach denn dann? Unvollkommen bist du ja schon!

3. Und was meint Luther dazu? 3.1 Luther als Exeget Zunächst einmal zeigt sich Luther an vielen Stellen einfach als gründlicher Bibelleser und Exeget. Dort, wo biblische Texte von Vollkommenheit oder gar von Sündlosigkeit reden, da greift er die Themen auf und interpretiert sie im Rahmen seiner Theologie, zum Beispiel zu Matthäus 5,48: Wie geschicht aber das, das sie volkomen seyen? Antwort kurtzlich: Also konnen wir nicht volkomen sein noch werden, das wir keine sunde haben, wie sie von der volkomenheit treumen, Sondern das heisset volkomen sein hie und allenthalben jnn der schrifft, das erstlich die lere gantz rechtschaffen und volkomen sey und darnach das leben sich auch darnach richte und gehe, Als hie diese lere ist das man nicht allein die so uns gut thun sondern auch unsere feinde lieben sol. Wer nu solchs leret und nach solcher lere lebt, der leret und lebet volkomen … Er aber wil ein gantze, runde, ungestueckte liebe haben, das man dem feind so wol liebe und guts thue als dem freund. So heisse ich ein rechter volkomener mensch, der die lere fein rund hat und helt, Ob aber das leben nicht hernach so starck jm schwang gehet, wie es denn nicht gehen kan, weil fleisch und blut on unterlas hindert, das schadet der volkomenheit nichts. Allein das man darnach strebe und darinn gehe und teglich fortfare, also das der geist uber das fleisch meister sey und das selb jm zawm halte, unter sich zwinge und zuruck zihe, das es nicht rawm kriege widder diese lere zu thun, Also das ich die liebe jnn rechter mitelstrasse, gegen jderman gleich gehen lasse, das sie keinen menschen ausschlage, So habe ich die rechte Christliche volkomenheit, die nicht jnn sonderlichen emptern odder stenden stehet, sondern allen Christen gemein ist und sein sol Und sich artet und richtet nach dem exempel des himelischen vaters, der seine liebe und wolthat nicht stuecket noch teilet, sondern alle menschen auff erden zugleich der selben geniessen lest durch sonne und regen, keinen ausgeschlossen, er sey frum odder boese.20

Auffällig ist hier, dass Luther zunächst die Vollkommenheit der Lehre herausstellt, dem dann – mit gewissen Einschränkungen, aber doch deutlich – das 19 20

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Mündlich überliefert durch Michael Nausner. Wochenpredigten zu Matthäus 5–7 (1530/32), WA 32,406f.

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Handeln folgt. Dass der Mensch in seiner Tiefenschicht von der Sünde frei wird, damit rechnet Luther nicht, sondern leugnet es ausdrücklich. Schade ist aber, dass bei der Auslegung der vorhergehenden Verse durch die konsequente Anwendung der Zwei-Reiche-Lehre Jesu Worte von der Feindesliebe de facto nirgends angewendet werden können. In der Auslegung des 1. Johannesbriefs geht er deutlich weiter und versucht, genau die Aussageabsicht wiederzugeben: »Non stant simul peccare et nasci ex deo. Sunt adhuc reliquiae et feces peccati, sed res talis est, quod stante nativitate illa non sequatur peccatum«21 Weiter führt er aus: Christus ist Sieger über die Sünde, wenn du dann eine fremde Frau oder Geld siehst und begehrst sagt er: Hör doch auf damit, du bist doch aus Gott! So dient er, damit die Sünde nicht herrscht. Die Sünde flüstert und grummelt, aber Christus tötet sie mit seinen Zähnen.22 Christen sind zwar den Versuchungen, den Resten, dem Dreck der Sünde ausgesetzt, aber sie überwinden sie durch Christus. 3.2 Simul iustus et peccator Doch bleiben solche positiven Aussagen die Ausnahme. Durchgängig bestimmend bleibt das simul iustus et peccator und zwar in drei verschiedenen Formen:23 (1) totus peccator – totus iustus (ganz Sünder – ganz gerecht): Der Mensch ist nach dem Urteil des Gesetzes und in der ihm zugänglichen Wirklichkeit ganz Sünder – nach dem Zuspruch des Evangeliums und coram deo ist er aber ganz gerecht, weil er durch Christus gerechtfertigt ist. (2) partim peccator – partim iustus (teils Sünder – teils gerecht): Zwar bewirkt Gottes Gnade im Leben des Christen viel Gutes, vor allem die tätige Liebe (vgl. dazu die Vorrede zum Römerbrief), aber dies umfasst in diesem Leben nie seine ganze Existenz, alle Handlungen, Worte, Gedanken und Gefühle.24

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Vorlesung zum 1. Johannesbrief (1526/27), WA 20, 707. Übers.: »Sündigen und aus Gott geboren sein, können nicht gleichzeitig bestehen. Es gibt zwar Reste und Kot der Sünde, aber die Sache ist so, dass mit der Geburt (aus Gott) sie (die Seele) nicht mehr der Sünde folgt.« A.a.O. 706. Luther fügt auch hinzu: »Illae locutiones sunt nobis neglectae, non intelliximus.« Dazu noch immer unüberholt: Wilfried Joest, Paulus und das Luthersche Simul Iustus et Peccator in: KuD 1, 1955, 269–321. In diesen Bereich gehört die von Luther manchmal herangezogene Unterscheidung von peccatum regnans und peccatum regnatum. (Vgl. Joest a.a.O. 299f. Hier müsste dann die Frage diskutiert werden, ob Luther zurecht die Versuchlichkeit des Menschen durch die concupiscentia bereits als Sünde im eigentlichen Sinn bezeichnet.

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(3) peccator in re – iustus in spe (Sünder in der Wirklichkeit, gerecht in der Hoffnung): Jetzt ist der Mensch Sünder, in Gottes Zukunft wird er gerecht sein, gerecht gesprochen durch Christus und dann auch zur himmlischen Herrlichkeit verwandelt. Meines Wissens redet Luther hier nie – was Wesley ja gefallen würde – davon, dass diese Hoffnung bereits vor dem Tod biographisch realisierbar sein könnte. Es ist immer erst die neue Existenz im ewigen Leben, in der durchgreifende Befreiung von der Sünde zu erwarten ist. 3.3 Luthers Gründe für das simul iustus et peccator Ein Grund ist der Nominalismus Luthers. Die Denkrichtung des philosophischen Nominalismus (im Gegensatz zum platonisch oder aristotelisch gefassten Realismus) geht davon aus, dass unsere menschlichen Begriffe die göttliche Wirklichkeit nicht adäquat wiedergeben. Sie sind nomina, Begriffe, die nicht die wahre res, also das Wesen der Dinge, widerspiegeln. Aus unserer Wahrnehmung lässt sich nicht auf ein »Ding an sich« schließen. Das bedeutet für die hier verhandelte Frage: Unser Begriff und unsere Wahrnehmung eines gerechten oder ungerechten Lebens und das Gerecht-Sein coram deo betreffen unterschiedliche Ebenen der Wirklichkeit, die deutlich auseinandertreten können. Was wir für gerecht halten, mag vor Gott selbstgerecht und heuchlerisch scheinen, was uns als gescheitert erscheint, kann durch Gott gerechtfertigt und geheiligt sein.25 Ein weiterer Grund ist der Pessimismus Luthers. Das Vertrauen in die Kraft des Heiligen Geistes ist bei Luther ausgesprochen groß, wo es um die Stärkung des Glaubens und den Trost des Gewissens geht, aber es ist eher gering bei der Frage nach grundsätzlicher Veränderung heute. Luther rechnet nicht mit einer Veränderung der Grundbefindlichkeit unseres Seins in diesem Leben. Er warnt sogar oft vor Illusionen in diese Richtung. Vor allem misstraut er dem Menschen, der selbst noch beim Versuch, das Gute zu tun und nach Gottes willen zu leben, sündigt – und zwar nicht nur dadurch, dass er scheitert, sondern auch durch Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit. Also bleibt der Mensch Sünder nach dem Motto »Es ist doch unser Tun umsonst auch in dem besten Leben«, und parallel dazu ist die Kirche ein corpus permixtum26 und die Welt ein Jammertal. Das Sündersein des Menschen ist für Lu-

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Noch deutlicher zeigt sich dieser Nominalismus bei Luthers Prädestinationslehre: Der Mensch hat keine adäquaten Kategorien, um Urteilen zu können, dass Gott unrecht handele, wenn er die von ihm selbst Verworfenen verdamme. Was gut und gerecht ist, entscheidet sich hier völlig unabhängig vom menschlichen Verständnis dieser Begriffe allein am Handeln Gottes, der die Definition des Guten und Gerechten ist. So CA VIII in Anlehnung an einen antidonatistischen Ausdruck Augustins. Bezeichnend

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ther beinahe konstitutiv für das Menschsein, und so ist es nicht verwunderlich, dass unter seinen Schülern (M. Flaccius/C. Spangenberg) die These aufkam, die Erbsünde sei die Natur des Menschen, was freilich von der Hauptlinie des Luthertums und der Konkordienformel deutlich zurückgewiesen wurde.27 Luther kann zwar manchmal sehr schön über die Veränderung des Menschen durch Gottes Gnade reden, so z.B. in der Erklärung des dritten Artikels im kleinen Katechismus und der Vorrede zum Römerbrief, wo es dann aber darum ginge, die Realität dieser Veränderung ernst zu nehmen, setzt sich dann doch der Pessimismus der Sünde durch. Diese eher negative Perspektive findet auch beim Blick auf Christen und Kirche ihre Fortsetzung (die Kirche als corpus permixtum) und beim Verhältnis von Christen und Welt (Zwei-Reiche-Lehre)28. 3.4 Luthers Simul-Lehre und das Zeugnis des Neuen Testaments Schon vor 80 Jahren hat Paul Althaus festgestellt, dass der locus classicus für die lutherische Lehre des simul, Römer 7, die Beweislast nicht trägt.29 Seither ist sich die sonst so zerstrittene Zunft der neutestamentlichen Exegeten praktisch einig, dass Paulus an dieser Stelle jedenfalls nicht von der Existenz des durch Christus gerechtfertigten Menschen spricht – was auch immer dann mit dem »Ich« in diesem Kapitel gemeint sein mag.30 Die parallele Stelle in Galater 5,16–25 rechnet zwar mit der Macht des Fleisches im durch Christus befreiten Menschen, aber sie ruft zum Kampf und nicht zur Akzeptanz auf und rechnet klar mit dem Sieg des Geistes. Wilfried Joest fasst das gut zusammen: »Paulus gönnt der Gegenwart der Sünde … auf keinen Fall eine Seinsaussage. Er hat für sie unter allen Umständen nur die Kampfansage übrig.«31 Paulus sagt nicht im Sinn einer dialektischen Seinsformel: »Der Mensch ist gerecht

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ist für Luthers Pessimismus, dass er fast nur mit Unkraut rechnet, weil rechte Christen ganz seltene Vögel seien (WA 20, 579) und so macht er dann um seine Idee der dritten Ordnung des Gottesdiensts für »die ienigen, so mit Ernst Christen wollen seyn« (WA 19,75) gleich wieder einen Bogen – aus Angst vor »rotterey«. Solida Declaratio I, BSELK v. a. 852ff. Das Problem der Zwei-Reiche-Lehre ist dabei nicht, dass sie die Eigengesetzlichkeit und Weltlichkeit der Welt ernst nimmt, sondern dass sie das Reich Gottes vollständig in die Innerlichkeit abdrängt. Auch die Kirche, die christliche Familie, der eigene Umgang mit Geld und Gut folgt den Gesetzen des Reiches der Welt. Paulus und Luther über den Menschen, Göttingen 1938, dazu auch ausführlich Joest a.a.O., 270ff. Vgl. dazu Wilckens, EKK VI/2, 76; 93f. u. Wolter, EKK VI/1, 465 zur Stelle. Joest a.a.O., 293.

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und Sünder zugleich«, sondern: »Du bist in Christus von der Sünde frei – kämpfe gegen sie!« Auch andere Traditionen des Neuen Testaments sind ähnlich einzuordnen. Der Jesus der Bergpredigt lehrt seine Jünger, um die Vergebung der Sünde zu bitten. Zugleich erwartet er aber bessere Gerechtigkeit und vollkommene Liebe von seinen Nachfolgern. Und die Spannung zwischen 1. Johannes 1 (»Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.«) und 1. Johannes 3 (»Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde«) wird wahrscheinlich nur aus unserer heutigen kirchlichen Perspektive als Problem empfunden. In einer kirchlichen Situation, in der die Gemeinden hauptsächlich durch Mission und Bekehrung wachsen und leben, erklärt sich die Aussage in Kapitel 1 zwanglos als Beschreibung der Situation vor Christus, während Kapitel 3 das Leben in Christus darlegt. Christen kommen aus einer sündigen Existenz, finden bei Christus, dem wahren Licht, Vergebung und Neugeburt – und dann sündigen sie nicht mehr.32 3.5 Das »Simul« als Erfahrungstheologie Außer der mittlerweile aufgegebenen Auslegung vom Römer 7 auf die christliche Existenz gibt es keine biblische Grundlage der lutherischen SimulLehre. Ihr Stärke und Überzeugungskraft gewinnt sie nicht aus der Schrift, sondern aus der Erfahrung. Denn genau so beschreiben viele, vielleicht die meisten Christinnen und Christen ihre Existenz: in irgendeiner Weise durch Christus gerecht gesprochen (vielleicht auch teilweise gerecht gemacht), aber immer noch von der Sünde und ihren Folgen geprägt, die unüberwindlich erscheinen.33 Nun bietet zwar methodistische Lehrbildung die Möglichkeit, solche Erfahrungswerte zur Begründung einer theologischen Aussage heranzuziehen – in lutherischer Theologie ist das aber eigentlich ausgeschlossen. Dies ist ein Problem, dass die Geschwister lutherischer Provenienz selbst zu klären haben.

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Dies entspricht einem geläufigen frühchristlichen Denkschema, das auch im Hebräerbrief und dem Hirten des Hermas wiederkehrt. Vgl. dazu W. Klaiber, Der Römerbrief, Neukirchen-Vluyn 2009, 132. Joest (a.a.O., 312ff.) spricht hier vom Trostmotiv und Bekenntnischarakter der Formel, warnt aber zurecht davor, »persönliche(n) Bekenntnisse(n) … zur dogmatischen Theorie zu verfestigen.« (320). Dazu frömmigkeitsgeschichtlich auch Wilckens a.a.O., 109ff.

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4. Was sagen wir als Methodisten und Methodistinnen? Man kann methodistischerseits auf die lutherische Simul-Lehre mit ökumenischer Milde, verständnisvoller Würdigung und nur ganz dezenter Kritik eingehen. Dies war wenigstens im deutschsprachigen Bereich die übliche Reaktion, am prominentesten durch Walter Klaiber vertreten, sowohl in »Gelebte Gnade« als auch in Kommentaren zum Beitritt der Methodisten zur »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre«.34 Dies geschieht besonders dort, wo man die Vollkommenheitslehre Wesleys nicht für eine überzeugende Alternative in der Beschreibung christlicher Existenz sieht. Man kann allerdings auch wesentlich schärfer reagieren, wie beispielsweise der amerikanische Theologe Theodore Jennings: Simul iustus et peccator, as normally understood, is fancy Latin for open defiance of God. To say that justification leaves sinners still in the grasp of sin as before is like saying that resurrection leaves the dead in their graves. If God’s declaration of us as justified doesn’t result in our really being just, then God is a liar and faith is illusion. Wesley will not accept an illusory faith, a phantom grace, or a deceptive or impotent God.35

Das ist scharf und nicht unbedingt im bei uns üblichen friedlich-ökumenischen Ton gehalten. und doch wird hier auf Entscheidendes hingewiesen: Wenn die Formel simul iustus et peccator nicht nur als Erklärung für leider immer wieder noch vorkommende Sünden verstanden wird, sondern als Grundbeschreibung christlicher Existenz, dann geht Entscheidendes verloren. John Wesley ist mit guten Gründen so kühn, nicht das Sündersein, sondern die Liebe als Grundkonstante des christlichen Lebens (und damit auch methodistischer Existenz) zu definieren. In der Schrift »The Character of a Methodist«,

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Vgl. W. Klaiber in unterwegs 3/17: »Dennoch haben die methodistischen Kirchen 2006 der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zugestimmt und damit auch ein grundsätzliches Einverständnis mit der Aussage Gerechter und Sünder zugleich signalisiert. Sie haben dadurch nicht einfach die methodistische Position aufgegeben. Aber sie haben die theologische und seelsorgerliche Weisheit der lutherischen Formel anerkannt.« Denn die GE formuliert in ihrem Anhang: »Insoweit können Lutheraner und Katholiken gemeinsam den Christen als simul iustus et peccator verstehen, unbeschadet ihrer unterschiedlichen Zugänge zu diesem Themenbereich.« Vgl. zum Thema auch Gelebte Gnade, a.a.O., 299f. Good News for the Poor, Nashville 1990, 142. Übers.: »Simul iustus et pecator, wie man es normalerweise versteht, ist schickes Latein für die offene Verachtung Gottes. Die Behauptung, Rechtfertigung ließe die Sünder noch im Griff der Sünde, entspricht der Behauptung, die Auferstehung ließe die Toten noch im Grab. Wenn Gott uns gerecht spricht und das nicht dazu führt, dass wir gerecht sind, dann ist Gott ein Lügner und der Glaube ist Einbildung. Wesley wird aber keinen eingebildeten Glauben, keine Phantomgnade und keinen betrügerischen oder unfähigen Gott akzeptieren.«

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die zugleich eine Definition des Methodismus und Wesleys schönste Beschreibung der Christlichen Vollkommenheit ist, liest sich das folgendermaßen: What then is the mark? Who is a Methodist, according to your own account? I answer: A Methodist is one who has »the love of God shed abroad in his heart by the Holy Ghost given unto him;« one who »loves the Lord his God with all his heart, and with all his soul, and with all his mind, and with all his strength«. God is the joy of his heart, and the desire of his soul; which is constantly crying out, »Whom have I in heaven but thee? and there is none upon earth that I desire beside thee! My God and my all! Thou art the strength of my heart, and my portion for ever!«36

Der Mensch wird hier nicht auf sein Sündersein zurückgeworfen, sondern nach vorne und nach oben ausgerichtet, auf Gott und seine Liebe hin und auf die von dort her zu erwartende und schon geschehende Erneuerung des eigenen Lebens. Die Behauptung, aus der eigenen irdischen Existenz könne sowieso nichts werden als lauter Sünde, scheint mir keineswegs ein Triumph der Gnade, sondern im Gegenteil äußerst ungnädig zu sein. Einmal gerechtfertigt, gibt es dann im christlichen Leben außer dem Dienst (also den Werken) von Gottes Seite nicht mehr viel zu erwarten. Ich habe mir aber von Wesley zeigen lassen, dass Gott mit meinem Leben mehr vorhat, als über meiner fortbestehenden Sündhaftigkeit fünfe grade sein zu lassen. Er will und wird mich umgestalten und mehr und mehr durch seine Liebe prägen. Das ist das Ziel, auf das ich mein Leben ausrichten will.37 Was wir als Methodisten und Methodistinnen nicht nur unseren ökumenischen Partnern in den lutherischen Kirchen, sondern allen Menschen und zuerst uns selbst sagen und lehren sollten, ist die freudige, zielgerichtete Erwartung auf Gottes Geist und das, was er schenken will und wird: (1) im persönlichen geistlichen Leben, denn Gottes Liebe ist so stark, dass sie schon heute menschliches Leben prägen kann;

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WJW 9, 35. Übers.: Was ist das Kennzeichen? Woran erkennt man einen Methodisten wirklich? Ich antworte: Ein Methodist ist jemand, »in dessen Herz die Liebe Gottes ausgegossen ist durch den Heiligen Geist«, jemand, »der den Herrn, seinen Gott, liebt von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft.« Gott ist die Freude seines Herzens und die Sehnsucht seiner Seele, die ohne Unterlass ruft: »Wen habe ich im Himmel außer dir? Und nichts auf Erden ersehne ich außer dir! Mein Gott, mein Alles! Du bist die Kraft meines Herzens, mein Teil für immer!« Wo ich freilich Wesley nicht folgen möchte, ist seine Behauptung der Identifizierbarkeit des Standes der Vollkommenheit. Wohl dürfen wir staunen über die Veränderung, die Gottes Geist in mir und anderen Menschen bewirkt. Hier aber empirisch eindeutige Kriterien festzulegen, wie es Wesley immer wieder versucht (z.B. WJW 13, 171ff.) oder gar die Zahl der Vollkommenen statistisch zu erfassen, geht eindeutig zu weit.

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(2) im Leben unserer Kirche und Gemeinden, denn Gottes Geist baut unter uns geheilte und heilende Gemeinschaft, in der Christus Gestalt gewinnt; (3) in seiner Schöpfung, die von Gottes Geist durchströmt und erneuert wird, denn Gottes Reich ist nicht nur eine eschatologische Hoffnung, sondern hat durch Jesus schon begonnen und wächst mitten im Dunkel der alten Weltzeit. Methodistinnen und Methodisten bauen keine christlichen Welten und schon gar keine Gottesstaaten. Sie wissen auch um ihre eigenen Grenzen und werden nicht jede überschwängliche Formulierung Wesleys übernehmen können. Aber sie halten daran fest, dass ein geheiltes, heiliges Leben, dass Frieden auf Erden, dass Gerechtigkeit und Liebe schon auf dieser Welt, in dieser Zeit, möglich sind. Sie sehen die Macht menschlicher Bosheit, Gleichgültigkeit und Ignoranz, sie erkennen vielleicht auch die schier unüberwindbare Kraft zerstörerischer Strukturen, aus denen der Einzelne kaum je auszubrechen vermag. Sie wissen auch, dass noch nicht alle Menschen ihre Vision und Motivation teilen. Aber sie trauen Gottes Geist schon jetzt mehr zu als den Mächten dieser Welt, und sie trauen ihm zu, jeden Menschen, unabhängig von seinem jetzigen sozialen oder religiösen Standort, zu erreichen und zu verändern, nicht zuletzt sie selbst. Und deshalb leben sie schon jetzt im Licht der Zukunft Gottes und trauen sich eine ganze Menge, Gottes Geist aber alles zu.38

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Vgl. C. Klaiber, Von Gottes Geist verändert, 276.

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Die Rechtfertigungslehre als Kernanliegen der Reformation Beobachtungen und Überlegungen aus biblischer und konfessioneller Perspektive1 Roland Gebauer Wenn man nach dem Kernanliegen der Reformation fragt, wird man es wohl in der Rechtfertigungslehre und ihrer zutiefst existenziellen Bedeutung finden. Daran hat sich bis heute nichts geändert, und darüber möchte ich mit Ihnen heute Morgen ein wenig nachdenken. Zu diesem Kernanliegen ist es durch eine Frage gekommen, die Martin Luther bis zu ihrer Beantwortung in tiefe seelische Not und Verzweiflung gestürzt hat: »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?«2 Luther konnte und wollte ohne einen »gnädigen Gott« nicht mehr weiterleben. Heutzutage wird diese Frage (Luthers) zumeist als völlig veraltet und überholt beurteilt.3 Der heutige Mensch – so die gängige Meinung – fragt, wenn er überhaupt noch nach Gott fragt, vor allem danach, welchen Beitrag eine Gottesvorstellung, ein Glaube, zu einem friedlichen Miteinander in einer zutiefst unfriedlich gewordenen Welt zu leisten vermag. Diese Frage gewinnt in der Tat immer stärkere Aktualität und Brisanz. Denn wir stehen in unserem Kulturkreis unabweisbar vor der Herausforderung, wie Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit umfassend friedlich und tolerant miteinander leben können. Da es Religion grundsätzlich mit Gott bzw. den Göttern zu tun hat und die jeweilige Gottesvorstellung die religiöse und soziale Praxis prägt,4 stellt sich die Frage nach Gott und den Göttern heute in neuer Weise und Dringlichkeit. Deshalb sind wir Christen besonders herausgefordert, uns zunächst 1 2 3 4

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Vortrag, gehalten am 29. April 2017 an der Theologischen Hochschule Reutlingen im Rahmen eines Studientages zum Reformationsjubiläum. Der Vortragsstil wurde für die Druckfassung beibehalten. Zur existenziellen Problematik Luthers, die sich hinter dieser Frage verbirgt, vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe = WA), Bd. 1, 557f. Vgl. dazu W. Klaiber/M. Marquardt, Gelebte Gnade. Grundriss einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Göttingen 22006, 309ff. Vgl. H. Hempelmann, Religionen müssen tolerant sein. Können Sie tolerant sein? Dürfen sie es sein? Die Absolutheit religiöser Geltungsansprüche und das Problem der Gewalt im Namen Gottes, ThBeitr 47, 2016, 268–284: 270–278.

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einmal über unser eigenes Gottesverständnis zu verständigen. Dazu soll mein Vortrag einen kleinen Beitrag leisten. Ich möchte anhand der biblisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre der Frage nachgehen: Von welchem Gott reden wir, wenn wir Christen von dem Gott reden, an den wir glauben? Luthers Kernanliegen (die Frage nach dem »gnädigen Gott«) gewinnt vor diesem Hintergrund eine neue, ungeahnte Aktualität und Bedeutung. Denn die Antwort Luthers (und der gesamten Reformation) bedenkt die Frage nach Gott in einer Weise, die das Zentrum des christlichen, und das heißt letztlich des biblischen Gottesverständnisses betrifft: Der Gott der Bibel, und das heißt: der Christen, ist nämlich ein gnädiger Gott – präziser: ein in Jesus Christus unendlich gnädiger Gott, der den von ihm entfremdeten Mensch aus purer Gnade in seine alles erneuernde und verändernde Gemeinschaft aufnimmt und so sein Leben heil macht. Oder er ist nicht der Gott der Bibel, und dann auch nicht der Gott der Christen. So möchte im Folgenden nach drei Sachverhalten fragen: erstens nach Inhalt und Bedeutung der biblischen Rechtfertigungsbotschaft, wie sie insbesondere von Martin Luther wieder entdeckt und entfaltet wurde; zweitens nach ihren Ausprägungen in verschiedenen Kirchen und Konfessionen, insbesondere unter dem Leitaspekt der Gnade Gottes; und drittens nach der Bedeutsamkeit der betreffenden Inhalte für die gegenwärtige Rede von Gott.

1. Inhalt und Bedeutung der biblisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre Luthers Frage »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« wurde ihm beantwortet durch die Entdeckung des Evangeliums von der Rechtfertigung des gottlosen Menschen allein aus Gnade. Das heißt der Sache nach: Gott nimmt den in völligem Widerspruch gegen ihn lebenden Menschen ohne irgendwelche Vorleistungen auf Seiten des Menschen in seine alles erneuernde Gemeinschaft auf. Dass Gott so ist und dass er dies tut, ist nach der Bibel der Erweis seiner Gerechtigkeit. Der Gott der Bibel ist ein gerechter Gott. Seine Gerechtigkeit ist Ausdruck seines Wesens, Merkmal seiner Identität. Die sogenannte reformatorische Entdeckung Luthers lag in der Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit Gottes – entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis – nicht das unbestechliche Austeilen an jeden einzelnen ist, je nach dem, was er/sie verdient hat – und dann auch nicht die Durchsetzung von Gericht und Verdammnis gegenüber dem sündigen Menschen.5 Dieses (Miss-)Verständnis 5

Vgl. dazu: Vorrede zu Band I der lateinischen Schriften der Wittenberger Luther-Ausgabe 1545, in: Luther Deutsch, Bd. 2, hg. v. K. Aland, Stuttgart/Göttingen 1962, 11–21: 19f.

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von Gerechtigkeit Gottes hatte und hat sich scheinbar unausrottbar in den Köpfen vieler Christen eingenistet: In seinem gerechten Richten gibt Gott jedem, was er/sie verdient hat – und das heißt letztlich: Leben oder Tod. Nein, die Gerechtigkeit Gottes ist genau das Gegenteil: ein unverdientes Schenken Gottes, durch das der Mensch jetzt schon wahrhaft leben kann. Luther schreibt: Die Gerechtigkeit Gottes ist die Gerechtigkeit, »durch welche uns der barmherzige Gott … rechtfertigt«.6 Das heißt: Gott macht uns in seiner Gerechtigkeit, die nichts anderes ist als die Unaufhebbarkeit seiner Gnade, zu Menschen, die wahrhaft leben können – nämlich das Leben, zu dem er uns geschaffen hat: in inniger Verbundenheit mit ihm in/aus seiner göttlichen Fülle. Diese Rede von der Gerechtigkeit Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Bibel. Das hat Luther deutlich herausgearbeitet. Ich kann diese umfassende biblische Beschreibung des Wesens und Waltens Gottes in seiner Gerechtigkeit hier nur ganz kurz andeuten: Im Alten Testament ist die Gerechtigkeit Gottes ein Begriff für die Treue, mit der Gott zu seinem Bund mit Israel steht – und das heißt: zu seiner Zusage, sein erwähltes Volk zu leiten, es zu schützen, ihm gnädig zugewandt zu sein – aber auch: Unrecht und das Böse nicht zu tolerieren, sondern es zu verurteilen und zu überwinden. Gerechtigkeit Gottes ist also ein Heilsbegriff: eine Umschreibung für den Heil und Leben schaffenden Gott. Jesus hat zwar nicht von Gerechtigkeit Gottes im engeren Sinn gesprochen. Aber sein ganzes Wirken ist ein umfassender Erweis dessen, was mit Gerechtigkeit Gottes gemeint ist: helfende, heilende, rettende Zuwendung zu Menschen, die ohne diese Zuwendung »verloren« wären (Lk 15). Seine einzige Forderung war, darauf zu vertrauen, dass in ihm Gott selbst in seiner Güte und Barmherzigkeit begegnet und die Menschen mit neuem Leben beschenkt. Nach Karfreitag und Ostern wurde dies vom Apostel Paulus im Rückblick auf die gesamte Geschichte Jesu theologisch durchdacht. Paulus hatte durch seine Begegnung mit dem auferstandenen und zuvor gekreuzigten Jesus Christus erkannt: Gott hat sich in Jesus dem Menschen so umfassend und radikal gnädig zugewandt, dass er sogar die größte Not des Menschen auf sich genommen hat: den Tod (im Tod Jesu). Ja mehr noch: Gott hat unseren Tod nicht nur auf sich genommen, sondern auch überwunden: in der Auferweckung Jesu aus den Toten. In diesem Handeln hat er seine Gerechtigkeit endgültig erwiesen. Das übrige Neue Testament, insbesondere das Johannesevangelium und der Hebräerbrief, sehen das im Prinzip genauso, drücken es nur anders aus.

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Luther Deutsch (s. Anm. 5), 20; lateinisch: »… qua nos Deus misericors iustificat«, WA (s. Anm. 2), Bd. 54, 185f.

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Die biblische Rede von der Gerechtigkeit Gottes besagt in ihrer neutestamentlichen Zuspitzung also: Gott erweist seine Gerechtigkeit, das heißt: seine Gnade und Treue zu den von ihm unendlich geliebten Menschen, darin, dass er, in der Gestalt seines menschgewordenen Sohnes, die Folgen der menschlichen Gottlosigkeit an/in sich selbst erträgt. Er wird gerade so auch und vor allem sich selbst gerecht, indem er sich als der Gott erweist, der er ist: der dem Menschen unendlich gnädige Gott, der sein von ihm heillos entfremdetes Geschöpf in die heilvolle Gemeinschaft mit seinem Schöpfer und Herrn hineinholt. Gott lässt dabei nicht Gnade vor Recht ergehen, sondern er lässt seine rettende, befreiende, vergebende, erneuernde Gnade als sein Recht ergehen – weil es sein Wesen ist, gnädig zu sein – und weil er als der Schöpfer und Herr das Recht hat, seinem Wesen entsprechend mit dem Menschen umzugehen und dieses, sein Recht gegenüber dem Menschen durchzusetzen. Indem er dies tut, ist nicht nur er selbst gerecht, sondern macht er auch den Menschen gerecht. Gott ist also gerecht, indem er gerecht macht – mehr noch: indem er Ungerechte gerecht macht.7 Dieses grundlegende und alles entscheidende Geschehen der GerechtSprechung und Gerecht-Machung des Menschen nennen wir Rechtfertigung. Es ist ein reines Geschenk des unwiderruflich gnädigen Gottes. Der Mensch kann es sich nicht verdienen/erarbeiten (er soll es auch nicht). Er kann es nur im Glauben empfangen – das heißt im Vertrauen darauf, dass Gott in Jesus Christus schon alles Not-wendige getan hat, und ich mir das nur gesagt sein lassen und mein Leben darauf gründen kann – und so in Beziehung zu Gott, in inniger Gemeinschaft mit ihm lebe und auf diese Weise das Leben lebe, zu dem er mich geschaffen hat. Es geht in der biblisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre mithin um drei zentrale theologische Aspekte:8 1. das Gott-Sein Gottes: Gott ist und bleibt Gott, indem er gerecht ist und bleibt – das heißt: indem er dem Menschen unendlich gnädig ist und ihm in Christus Heil und Leben schenkt. 2. das Mensch-Sein des Menschen: Der Mensch ist und bleibt Mensch als Geschöpf Gottes – das heißt als einer, der zu einem Leben in Verbundenheit mit Gott geschaffen ist. Diese unsere Bestimmung kommt zum Ziel, wenn/indem wir unser Leben im Licht der Gnade führen, die Gott uns in Jesus Christus erwiesen hat. 3. Heil als Beziehung: Gott bezieht sich so auf uns Menschen, dass er uns in/durch Jesus Christus in die Beziehung hineinholt, in der allein wir wahrhaft 7 8

Vgl. E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 6 2011, 63. Vgl. ebd. 3.

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leben können: die Beziehung zu sich selbst, dem Schöpfer und Herrn des Lebens. Unser Heil ist das Leben in der Beziehung zu ihm – im Glauben an Jesus Christus, in dem Gott seine Beziehung zu uns neu und endgültig eingegangen ist. Deshalb sind sowohl Gnade als auch Gerechtigkeit in der Bibel Beziehungsbegriffe, wie wir gesehen haben.

2. Akzentuierungen der Rechtfertigungslehre in verschiedenen Kirchen/Konfessionen Es soll nun um die Frage gehen, wie die reformatorische Rechtfertigungslehre in verschiedenen Kirchen und Konfessionen rezipiert wurde. Im Zentrum stehen – das bringen die Natur der Thematik sowie der Charakter dieses Studientages mit sich – die lutherische, die römisch-katholische und die methodistische Rezeption der Rechtfertigungslehre. Ich möchte dabei anhand von zweien der vier sogenannten reformatorischen Exklusivpartikel vorgehen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Rede von der Gnade Gottes (bzw. dem gnädigen Gott). Die Exklusivpartikel sind Formeln der Reformatoren, mit denen die Ausschließlichkeit (Exklusivität) des Handelns Gottes bei der Rechtfertigung sichergestellt werden soll. Ausgeschlossen wird mit ihnen jegliches Mitwirken des Menschen an seiner Rechtfertigung. Das wird nicht von allen Kirchen beziehungsweise Konfessionen in gleicher Weise verstanden.9 a) Christus allein (solus Christus) Die Formulierung besagt: Gott hat uns Menschen allein in Jesus Christus seine Gerechtigkeit und Gnade umfassend erwiesen. Unsere Rechtfertigung, unser Heil kommt allein auf dieser Grundlage – und keiner anderen – zustande (vgl. Apg 4,12: »In keinem anderen ist das Heil. Es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, in dem wir gerettet werden müssen.«). Wir feiern das jedes Jahr mit drei der vier christlichen Hauptfeste. Zu Weihnachten freuen wir uns über die Menschwerdung Gottes in Jesus. In ihm begegnet und handelt Gott selbst zu unserem Heil. Am Karfreitag gedenken wir des Todes Jesu. Im Sterben seines menschgewordenen Sohnes nimmt Gott selbst die tödlichen Folgen menschlicher Gottlosigkeit auf sich – und damit von uns weg. Zu Ostern jubeln wir darüber, dass der Vater im Himmel seinen Sohn auf Erden zu neuem, ewigem Leben auferweckt und so die Herrschaft des 9

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Vgl. W. Klaiber, Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Vergangenheitsbewältigung braucht Zukunftsperspektiven, in: Methodistische Stimmen zur Römisch-katholischen – Lutherischen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, EmK-Forum 18, Stuttgart 2000, 37–48: 39ff.

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Todes überwunden hat. Einen größeren Erweis an Gnade (Wohlwollen) kann es nicht geben: Gott liebt uns Menschen so, dass er einer von uns wird und sich selbst (in Gestalt seines menschgewordenen Sohnes) an unserer Stelle in den Tod gibt, auf dass wir wahrhaft leben können. Wenn wir von Rechtfertigung und vom gnädigen Gott reden, dann reden wir in letzter Zuspitzung von diesem einzigartigen Liebeserweis Gottes in Jesus Christus, neben den kein anderes Heilsmoment in gleicher Gewichtung treten kann. An diesem Punkt sind sich alle christlichen Kirchen und Konfessionen einig. Allerdings gibt es Grund zu Anfragen an die römisch-katholische Lehre. Denn in den maßgebenden dogmatischen Texten (dem Tridentinum und dem Zweiten Vaticanum)10 fehlt das »allein« in der Rede von Gottes Gnadenerweis in Jesus Christus. Gott hat zwar in ihm entscheidend zu unserem Heil gehandelt, aber daneben ist auch von Maria als einer Ursache des Heils die Rede. Sie hat in freiem Glauben und Gehorsam zum Heil der Menschen mitgewirkt.11 Ihre »Aufgabe« ist es, »uns die Gaben des ewigen Heils zu verschaffen«, so dass von ihrer »Mitwirkung« bei der Heilsmittlerschaft Christi gesprochen werden kann.12 Konsequenterweise wird sie denn auch als Mittlerin zwischen Gott und den Menschen angerufen.13 Hier stellt sich die Frage, ob nicht neben Jesus Christus noch eine andere, menschliche Größe in den Gnadenerweis Gottes gegenüber der Welt einbezogen wird. Das muss der Gnade Gottes nicht zwangsläufig abträglich sein. Es könnte sich ja so verhalten, dass Gott in sein Gnadenhandeln den Menschen einbezieht, damit es wirklich beim Menschen ankommt. Aber auch dann stellt sich die Frage, ob denn seine Menschwerdung und Heilshandeln in Jesus Christus nicht ausreichen – ob das »Christus allein« nicht doch irgendwie ergänzt werden muss. Ein Blick auf die zweite Exklusivpartikel verhilft hier zu weiteren Erkenntnissen.

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11 12 13

Zum Konzil von Trient vgl.: Dekret über die Rechtfertigung, in: H. Denzinger (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. v. P. Hünermann, Freiburg/Br. 371991, 502–521; zum 2. Vatikanischen Konzil vgl.: Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, Art. 9.14, in: Denzinger, Kompendium (s.o.), 1172–1239: 1183f.1190f.; vgl. auch in: Das Zweite Vatikanische Konzil, LThK, 1966, 176ff.198ff.; zum Ganzen vgl. Jüngel, Evangelium (s. Anm. 7), 144f. Vgl. Dogmatische Konstitution, in: LThK (s. Anm. 10), 333. Vgl. Dogmatische Konstitution, in: Kompendium (s. Anm. 10), 1236 (Zitate ebd.). Vgl. Jüngel, Evangelium (s. Anm. 7), 145f.; Dogmatische Konstitution, in: LThK (s. Anm. 10), Art. 56, 332f.; Dogmatische Konstitution, in: Kompendium (s. Anm. 10), 1233.1235.

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b) Allein aus Gnade (sola gratia) Die Formulierung besagt: Unsere Rechtfertigung verdanken wir ausschließlich der Gnade Gottes – und das heißt: nicht uns selbst; auch nicht: der Gnade Gottes und uns selbst, sondern eben allein der göttlichen Gnade. Gnade ist, wie wir gesehen haben, ein Grundzug der Gerechtigkeit Gottes: Gott will mit seinem Geschöpf, das ihn verlassen hat, wieder zusammen sein und ihm so Heil und Leben schenken. Der Mensch kann dazu nichts beitragen, weil er in seiner Entfremdung von Gott gefangen ist. Er soll auch nichts dazu beitragen, denn es ist ja die Gnade allein, die hier nach dem Willen Gottes am Werk ist. Nur so können wir wirklich gerechtfertigt werden. Diese Gnade gilt dem Menschen als Sünder und nicht erst dem Gerechten. Sie erweist sich im Tod Jesu »für uns« als Tat seiner Liebe, die uns gerade als Sünder, d.h. in unserem fundamentalen Widerspruch zu Gott trifft (vgl. Röm 5,8: »Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.«). Die Bestimmung »allein aus Gnade« dient also letztlich dazu, den außerhalb des Menschen liegenden Wirklichkeitsgrund der Rechtfertigung allein in Christus zu verorten, und nicht in irgendeinem Handeln oder Verhalten des Menschen (vgl. Eph 2,8: »Aus Gnade seid ihr errettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.«). Wären wir in irgendeiner Weise an unserer Rechtfertigung beteiligt, dann müssten wir um die Wirklichkeit unseres Heils immer wieder bangen. Denn was wir Menschen in dieser Hinsicht zuwege bringen (auch als solche, denen Gnade Gottes zuteil geworden ist), wäre alles andere als verlässlich. Deshalb schreibt Paulus (Phil 2,12): »Bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern« (man müsste ergänzen: »… denn ihr selbst vermögt es nicht«). Wir Menschen vermögen es nicht – es sei denn, die Gnade hätte sich unser derart bemächtigt, dass sie gleichsam zu unserer neuen Natur geworden ist, die auch unsere Schwachheit und unser Versagen umfasst. In diese Richtung scheint das katholische Verständnis zu tendieren. In der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die vor 18 Jahren zwischen Katholiken und Lutheranern verabschiedet wurde,14 heißt es zwar: »Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, und nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen …« (Art. 15). Doch wenig später werden die bislang kontroversen Punkte angesprochen. Hier heißt es sinngemäß (Art. 20), dass der Mensch nach katholischer Sicht durchaus an seiner Rechtfertigung mitwirkt: durch seine Zustimmung zu Gottes rechtfertigendem Handeln. Aber diese Zustimmung wird verstanden als »Wirkung der Gnade« und nicht als »Tun des Menschen aus eigenen Kräften«. 14

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Abgedruckt u.a. in EmK-Forum (s. Anm. 9), 49–99.

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Wie ist das mit dem lutherischen Verständnis vereinbar, wonach der Mensch bei seiner Rechtfertigung völlig passiv ist und nur empfangen, aber nichts, auch nicht das Geringste, dazu beitragen kann? Die klassische katholische Position, die ja nicht einfach zugunsten neuer Formulierungen aufgegeben werden kann, hält zwar fest, dass der Mensch die Rechtfertigung nur kraft der Gnade Gottes aufnehmen kann, aber diese Aufnahme kann er wiederum nur mit Hilfe seines freien Willens vollziehen.15 Hier ist der Mensch im Rahmen der Gnadenwirkung Gottes also durchaus aktiv und willentlich an seiner Rechtfertigung beteiligt, so dass man – mit E. Jüngel – den eigentlichen Unterschied zwischen lutherischer und katholischer Rechtfertigungslehre in der Frage sehen kann, »wie sich der Mensch an seiner Rechtfertigung zu beteiligen vermag«: ganz und gar nicht (Lutheraner) oder durch seinen freien Willen im Rahmen des Gnadenwirkens Gottes (Katholiken).16 Methodisten haben sich in dieser Frage eher der katholischen Position angeschlossen: Sie/wir »rechnen mit einem ›aktiven Empfang[en]‹ der rechtfertigenden Gnade Gottes – einer freien Annahme des Evangeliums seitens des Menschen, die … durch die … zuvorkommende Gnade Gottes vorbereitet und ermöglicht wird«.17 Eine elementare Aussage des Apostels Paulus spricht offenbar für dieses Verständnis: »Bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern! Denn Gott ist es, der in euch wirkt, sowohl das Wollen als auch das Vollbringen …« (Phil 2,12f.). Nur stellt sich dann die Frage: Wenn auch das Wollen durch Gott bewirkt ist, wie kann unser Wille dann noch frei sein? Wäre hier nicht die lutherische Auffassung vom unfreien Willen im Zusammenhang der Rechtfertigung die konsequentere Antwort? Hinsichtlich der uns beschäftigenden Frage nach der Gnade Gottes im Zusammenhang der Rechtfertigung werden wir von daher festhalten müssen: Alles, was geeignet scheint, die alleinige Wirksamkeit der Gnade durch menschliche Anteile zu gefährden, muss unbedingt in den Rahmen der göttlichen Gnadenwirksamkeit hineingestellt werden. Nur so kann die gemeinsame Überzeugung, wonach Gott der allein Handelnde im Rechtfertigungsgeschehen ist, aufrechterhalten werden. Alles Beteiligt-Sein des Menschen, in welcher Weise auch immer, ist von der Gnade Gottes umfangen und getragen. Ob der Wille des Menschen dabei völlig unfrei (Lutheraner) oder bedingt frei

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Lateinisch: … per voluntariam susceptionem gratiae …, in: Denzinger, Kompendium (s. Anm. 10), 1528; vgl. Jüngel, Evangelium (s. Anm. 7), 160. Vgl. Jüngel, Evangelium (s. Anm. 7), 159ff. (Zitat: 160, kursiv im Original). G. Wainwright, Rechtfertigung: lutherisch oder katholisch? Überlegungen eines methodistischen Wechselwählers, in: EmK-Forum (s. Anm. 9), 6–36: 12.

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(Katholiken,18 Methodisten19) ist, ist dann zwar immer noch eine wichtige, aber in diesem Zusammenhang nicht mehr entscheidende Frage. Im Blick auf das Verständnis der Gnade im Kontext der Rechtfertigung gibt es nun aber eine noch weit problematischere Differenz zwischen den Konfessionen – nämlich die Frage, ob Gnade mehr und anderes umfasst als die gnädige Zuwendung Gottes zum Menschen (also die Beziehung zwischen Gott und Mensch). Die katholische Lehre unterscheidet mehrere Arten von Gnade: die zuvorkommende20 sowie die erweckende und helfende21 Gnade im Vorfeld der Rechtfertigung – sodann die gerecht machende22 Gnade, die die Rechtfertigung erst eigentlich bewirkt. Diese gerecht machende, d.h. die Rechtfertigungsgnade im engeren Sinn wird dem Menschen, im Unterschied zu den anderen Gnadenarten, eingegossen23 – und wohnt ihm danach als eingegossener Zustand24 der Gerechtigkeit inne.25 Zwar betont die katholische Seite in der Gemeinsamen Erklärung, diese Gnade sei »nie Besitz des Menschen, auf den er sich Gott gegenüber berufen könnte« (Art. 27). Das ändert aber nichts an der traditionellen katholischen Auffassung, wonach der Mensch diese Gnade dennoch »besitzt« beziehungsweise »hat«: als einen innewohnenden Zustand, eine ihm eingegossene göttliche Kraft, die ihn zu Glaube, Hoffnung und Liebe befähigt.26 Dass es sich hier um ein wirkliches Haben/Besitzen des Menschen handelt, wird daran deutlich, dass er dieses ihm zuteil gewordene Geschenk auch wieder verlieren kann.27 18 19 20 21 22 23 24 25 26

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Vgl. dazu Jüngel, Evangelium (s. Anm. 7), 161, der auf die katholische Lehre vom »nicht völlig erloschene[n] freie[n] Wille[n] des alten Adamt verweist, die die »willentliche Aufnahme der Gnade« als einen »Akt des freien Willens des Menschen« erscheinen lässt. Vgl. Wainwright, Rechtfertigung (s. Anm. 17), 18f., der auf die Bestreitung der natürlichen Willensfreiheit des Menschen (und damit lediglich einer bestimmten Art der Willensfreiheit) durch John Wesley verweist. Lateinisch: gratia praeveniens. Lateinisch: gratia excitans et adiuvans. Lateinisch: gratia iustificationis. Lateinisch: gratia infusa. Lateinisch: habitus infusus. Vgl. Klaiber/Marquardt, Gnade (s. Anm. 3), die darauf hinweisen, dass John Wesley in diesem Zusammenhang von »›eingepflanzter‹ oder ›innewohnender‹ Gerechtigkeit« (306) bzw. »innewohnende[r] Heiligkeit« (334) spricht. Wie wenig dies aber ein Besitz des Menschen sein kann, zeigt sich darin, dass es der Heilige Geist ist, der in uns diese Haltungen und Handlungen bewirkt. Wir haben sie nicht, sondern sie kommen durch den Geist Gottes von außen unverfügbar in unser Leben hinein; vgl. O. Hofius, »Extra nos in Christo«. Voraussetzung und Fundament des »pro nobis« und des »in nobis« in der Theologie des Paulus, in: R. Rausch (Hg.), Lutherische Identität. Protestantische Positionen und Perspektiven. Herbsttagung der Luther-Akademie 2013, Hannover 2016, 69–97, 86ff., der darüber hinaus betont: »Der Heilige Geist ist und bleibt das göttliche Gegenüber«, mit dem es kein »Einswerden« geben kann (ebd. 90). Vgl. Jüngel, Evangelium (s. Anm. 7), 162ff.

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Ganz anders das lutherische Verständnis: Hier gilt die Gnade lediglich als die wohlwollende, das heißt vergebende, annehmende, erneuernde Zuwendung Gottes zum Menschen. Gnade umschreibt hier ein reines Beziehungsgeschehen28 – weshalb der Mensch die Gnade auch nie verlieren kann, da sie ihm in der Treue Gottes immer wieder nur von außen zuteilwerden kann. Er kann sich diesem Wirken Gottes schlimmstenfalls verschließen. Warum ist das alles ein Problem? Weil es hier zutiefst um das Wesen Gottes als gnädiger Gott geht – und damit zutiefst um das biblische Reden von der Gnade Gottes, ohne das wir uns in Spekulation verlieren würden. Nun zeigt der Blick in das Alte und Neue Testament, dass die biblischen Begriffe für die Gnade (Gottes) sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen ein von Gott ausgehendes Beziehungsgeschehen umschreiben, in dem Gott sich dem Menschen wohlwollend, erbarmend, gütig, freundlich usw. zuwendet – gipfelnd in der Zuwendung zu uns in seinem Sohn Jesus Christus, durch den er uns Frieden, Versöhnung, Aufnahme in die Gemeinschaft mit sich selbst schenkt. Das biblische Reden von der Gnade Gottes umschreibt, auf das Ganze gesehen, das Eingehen, die Aufrechterhaltung und die in Christus vollzogene endgültige Erneuerung der liebenden Beziehung Gottes zu uns Menschen. Deshalb ist der Glaube, mit dem wir uns auf diese Beziehung einlassen und sie unsererseits leben, die immer wieder zu aktualisierende menschliche Antwort auf das göttliche Gnadenwirken.29 Angesichts dessen steht ein Verständnis von Gnade als eingegossene göttliche Kraft, die gleichsam dinglich-substanzhaft in uns wirkt, in der Gefahr, die Beziehung als die Dimension des Gnadenwirkens Gottes zu verdunkeln. Diese Gefahr sehe ich nicht nur in der katholischen, sondern auch in der methodistischen Tradition. Beide stellen den Beziehungsaspekt in ihrem Reden vom Gnadenwirken Gottes in der Rechtfertigung deutlich heraus. Darüber hinaus findet sich aber auch im Methodismus ein Verständnis von Gnade, das in eine andere Richtung zu weisen scheint. So sprechen John Wesley – und mit ihm die methodistische Tradition – neben der relational gefassten Rechtfertigungsgnade (die die Erneuerung unserer Gottesbeziehung bewirkt) von der heiligenden Gnade, die darüber hinaus eine reale Veränderung in unserer 28

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Martin Luther grenzt sich damit auf das Schärfste vom scholastisch-thomistischen Verständnis ab, wonach Gnade nicht nur die gnädige Zuwendung Gottes zum Menschen meint, sondern zugleich eine dingliche Gestalt hat, die als gratia infusa ein zuständliches Sein in der menschlichen Seele ist; vgl. H. Thielicke, Der evangelische Glaube. Grundzüge der Dogmatik, Bd. 3: Theologie des Geistes, Tübingen 1978, 29 (Anm. 29).296; Thielicke sieht in der Differenz im Gnadenverständnis den »eigentlichen Dissensus« zwischen der katholischen Tradition und der Reformation (ebd. 28). Vgl. Hofius, Extra nos (s. Anm. 25), 81ff.

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menschlichen Natur herbeiführt.30 Zweifellos versteht Wesley diese Art der Gnade nicht im katholischen Sinn als göttliche Kraft, die wir als sakramental »eingegossenen« Habitus in uns tragen. Aber vieles deutet darauf hin, dass auch bei ihm ein gewisses dingliches Verständnis der Gnade vorliegt. Denn ihr tiefster und eigentlicher Wirkungsbereich ist die Natur des Menschen, sein Wesen, seine Seele. Das, was der Mensch also im tiefsten seines Wesens an sich ist (dafür stehen die Begriffe Natur, Wesen, Seele), wird durch die Einwirkung der Gnade umgestaltet, verwandelt, erneuert31 – bis dahin, dass Wesley von »Teilhabe an der göttlichen Natur« bzw. von einer unsterblichen Seele im Menschen reden kann.32 Das ist schon allein deshalb zutiefst fragwürdig, als 30

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Vgl. Klaiber/Marquardt, Gnade (s. Anm. 3), 305, die klarstellen: Nach John Wesley »findet in der Rechtfertigung ›nur‹ eine ›relationale‹ Veränderung der Beziehung zu Gott statt, während sich in der Wiedergeburt und Heiligung eine ›reale‹ Veränderung vollzieht«; vgl. J. Wesley, Predigt 19: Das große Vorrecht der aus Gott Geborenen, in: ders., Lehrpredigten, übersetzt und herausgegeben von M. Marquardt, Methodistische Quellentexte 1, Göttingen 2016, 264–272: 264: Obwohl Rechtfertigung und Wiedergeburt »zeitlich zusammenfallen, sind sie doch ihrem Wesen nach völlig verschieden«; dazu präzisierend Klaiber/Marquardt: »Gott nimmt den Sünder an, wie er ist, und schafft ihn dann neu, wie es für die Gemeinschaft mit ihm nötig ist« (323); der »Nachdruck« Wesleys (und mit ihm des Methodismus) liegt dann »in der Gegenüberstellung von Rechtfertigung und Heiligung« als der »beiden qualitativ unterschiedlichen Dimensionen des göttlichen Handelns für uns und in uns« (326: Hervorhebung RG). Wenn die »relationale« und die »reale« Veränderung (ist die »relationale« dann nicht oder zumindest weniger »real«?) ihrem Wesen nach völlig verschieden sind und qualitativ unterschiedliche Dimensionen des göttlichen Handelns am Menschen darstellen, liegt es nahe, die letztlich entscheidende Kraftwirkung Gottes in unserem Leben nicht in seiner Beziehung zu uns zu sehen, sondern in der Veränderung unseres Wesens durch ihn – und damit dann doch wohl in einer substanzhaften (realen) Einwirkung Gottes auf uns, anstatt »nur« in einem Gewinnen von uns für die gelebte Beziehung zu ihm. Diese Vermutung wird durch unsere folgenden Überlegungen gestützt. Vgl. J. Wesley, Predigt 19 (s. Anm. 30), 264: Wiedergeburt bedeutet »eine wirkliche Umgestaltung« – genauer: Sie »verändert das Innerste unserer Seele«; vgl. dazu Wainwright, Rechtfertigung (s. Anm. 17), 20f. Die Operationsbasis für die Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit ist die Seele, in der Gott eine »große Veränderung« bewirkt: Sie wird »in Christus neu geschaffen« (vgl. J. Wesley, Predigt 45: Die neue Geburt, in: ders., Lehrpredigten [s. Anm. 30], 636–646: 641; Hervorhebung RG). Die Seele aber ist das Ebenbild des geistigen Wesens Gottes (Der Mensch »is ... a spirit like his Creator«; J. Wesley, Predigt »On the Fall of Man«, Works Bd. 2, hg. v. A. C. Outler, Nashville 1985, 400.409 [Zitat 400]; vgl. J. Wesley, Predigt 45 [s.o.], 637). Denn die Seele bzw. der unsterbliche Geist ist für Wesley der eigentliche Kern der Gottebenbildlichkeit, sozusagen ihre natürliche Substanz (Der Mensch ist Gottes »natural image ... that is, a spirit, as God is a spirit«; J. Wesley, Predigt »The End of Christ‘s Coming«, Works 2, 474); »God has entrusted us with our soul, an immortal spirit, made in the image of God« (J. Wesley, Predigt »The Good Stewart«, Works 2, 284; Hervorhebung RG). Die natürliche Ebenbildlichkeit bedeutet demnach das »Abbild seiner (sc. Gottes) Unsterblichkeit« (J. Wesley, Predigt 45 [s.o.], 637; vgl. dazu J. Weißbach, Der neue Mensch im theologischen Denken John Wesleys, Beiträge zur Geschichte des Methodismus 2, Stuttgart 1970, 4f.). Sie wird durch die Einwirkung der Geistkraft der Gnade so verändert, dass der

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die Seele nach biblischem Zeugnis nicht eine letztlich göttliche Geist-Substanz im Menschen bezeichnet, sondern den ganzen Menschen unter dem Aspekt seiner von Gott gegebenen Vitalität in ihrer ganzen Bedürftigkeit und Angewiesenheit meint (wie insbesondere aus dem hebräischen nephesch-Begriff hervorgeht). Dieses Denken ist letztlich der platonischen Philosophie geschuldet. Wenn ich es recht verstanden habe, geht es im katholischen und methodistischen Gnadenverständnis um deutlich mehr als »nur« um die Gottesbeziehung und ihre verändernd-erneuernde Kraft: Es geht darüber hinaus auch um eine dingliche Kraft in uns, deren Voraussetzung zwar die Beziehung zu Gott ist, die in ihrer dinglichen Eigenart aber etwas anderes ist und anders wirkt als es im Rahmen der personalen Dimension von Beziehung der Fall ist.33

3. Fazit: Was kann das Gesagte für heute bedeuten? An den Schluss möchte ich einige Thesen stellen, die sich m.E. aus den bisherigen Ausführungen ergeben. Das sind keine umfassenden Schlussfolgerungen, sondern lediglich eklektische Denkanstöße. 1. Die konfessionellen Unterschiede im Verständnis der Gnade Gottes sind keine theologischen Spitzfindigkeiten, sondern Ausdruck einer Fragestellung, die durch die Reformation neu und bleibend gültig ins Zentrum gerückt wurde. Diese besagt, dass die Frage nach Gott aus christlicher Sicht sachgemäß nur als Frage nach dem gnädigen Gott gestellt (und beantwortet) werden kann.

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Mensch im Tiefsten seines Wesens nicht mehr von der Macht der Sünde, sondern von der Gesinnung Christi und der Liebe zu Gott und den Menschen bestimmt wird (Liebe ist dabei als Tugend verstanden, also als eine Fähigkeit des Menschen; vgl. Th. Runyon, Die neue Schöpfung. John Wesleys Theologie heute, Göttingen 2005, 101f.); vgl. zum Ganzen auch J. Wesley, Predigt 45 (s.o.), 636, wonach Wiedergeburt das bezeichnet, »was Gott durch die Erneuerung unserer gefallenen Natur in uns tut« (Hervorhebung RG). Nach Klaiber/Marquardt, Gnade (s. Anm. 3), 316, kann es deshalb »keine Gemeinschaft mit Gott geben … ohne diese grundsätzliche Verwandlung und Erneuerung der eigenen Existenz« (Hervorhebung RG). Allerdings weisen sie selbst auf die Problematik der »scharfe[n] Scheidung zwischen Relation und Sein« bei Wesley hin (ebd. 321), ohne sie aber ihrerseits wirklich gelöst zu haben. Das wäre, um ein Bild zu gebrauchen, vielleicht damit vergleichbar, dass meine Frau mich nicht nur durch ihre Zuneigung belebt, sondern auch dadurch, dass sie mir einen Kaffee einflößt. Lediglich die erste Weise der Belebung hätte dann unmittelbar mit ihr zu tun und wäre Ausdruck bzw. Wirkung unserer Beziehung. Das zweite könnte auch losgelöst von der Beziehung geschehen. (Ich bin mir der Grenzen dieses Vergleichs durchaus bewusst.)

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2. Dabei hat die Reformation das Gnadenwirken Gottes als ein Beziehungsgeschehen, das in der Rechtfertigung des Menschen gipfelt, in den Mittelpunkt gerückt. Sie hat damit Theologie und Kirche vor die bleibende Herausforderung gestellt, das Heil des Menschen primär in der Beziehung zu Gott zu verorten und die Heilsfrage in dieser Zuspitzung zu kommunizieren. 3. Alle Verständnisse der Gnade Gottes, die dahin tendieren, sie als eine dem Menschen innewohnende göttliche Kraft aufzufassen, stehen in der Gefahr, sich von der Beziehungsdimension, wie sie in der Rechtfertigung elementar zum Ausdruck kommt, zu lösen und zu verselbständigen – sei es in Richtung eines primär sakramental vermittelten dinglichen Gnadenverständnisses – sei es in Richtung einer zusätzlichen Gnadenart, die die Wirklichkeit der Rechtfertigung letztlich nicht in der Gottesbeziehung, sondern in deren Auswirkungen im menschlichen Leben verankert. Hier sind und bleiben wir durch die Reformation vor allem im Bereich der ökumenischen Verständigung herausgefordert. 4. Indem die Reformation das Heil des Menschen in der Rechtfertigung, das heißt: in der von Gott gnädig eröffneten und durchgehaltenen Beziehung zu ihm, verortet hat, vermag sie mit dieser Zuspitzung des biblischen Evangeliums den Menschen vor dem tragischen Missverständnis zu bewahren, sich sein Lebensrecht und die Erfüllung seines Daseins selbst besorgen zu müssen. Das gilt gerade heute in unserer Leistungs- und Optimierungsmentalität mit ihren vielen zutiefst lebensfeindlichen und lebensschädigenden Auswirkungen. Hier hat das sola gratia ein befreiendes Potential. 5. Die Rede vom gnädigen Gott ist im Dialog mit den Religionen ein aussichtsreicher Anknüpfungspunkt zur Verständigung. Doch wird das christliche Zeugnis in diesem Dialog nicht umhin können, die Wirklichkeit der Gnade Gottes zutiefst in der Person und dem Werk Jesu Christi zu verankern und den Gott der Bibel in dieser Weise zu profilieren. Angesichts der in diesem Zusammenhang virulenten Frage eines friedlichen und toleranten Miteinanders ist gerade die Rechtfertigung geeignet, das bedingungslose Ja Gottes zum Menschen mit seinem erneuernden, befreienden und verbindenden Potential zu thematisieren. 6. Eine Priorisierung der Themen Ökumene, politische und gesellschaftliche Verantwortung, Sprache, Bildung, persönliche Freiheit als gegenwärtig relevante Bedeutungsfelder der Reformation, wie sie in vielen kirchlichen Verlautbarungen seit langem wahrnehmbar ist,34 steht in der Gefahr, dem Kernanliegen der Reformation nur bedingt gerecht zu werden. Die Kirche steht angesichts des Reformationsjubiläums primär vor der Herausforderung, 34

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Vgl. z.B. H. Bedford-Strohm, Über 2017 hinaus. Was vom Reformationsjubiläum bleibt, in: Die Politische Meinung, Sonderausgabe Nr. 4, 2016, 59–64 pass.

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die Gottesbeziehung des Menschen als sein Heil zu thematisieren. Hier sind nicht nur Implikationen in kirchlich und gesellschaftlich relevanten Lebensräumen zu bedenken, sondern die Sache an sich ruft nach Durchdringung und Entfaltung – um des Menschen willen, der als Ebenbild Gottes in der Beziehung zu Gott Sinn und Erfüllung seines Daseins erfährt, und um Gottes willen, der nicht anders Gott sein will denn als Immanuel – als Gott mit und für uns Menschen.

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Die frommen Protestanten Der Beitrag der reformierten Reformation zur evangelischen Spiritualität Ralph Kunz Dass sich Zwingli und Luther nicht sonderlich mochten, weiss auch der halbgebildete Protestant noch. Und dass es ums Abendmahl ging, ist möglicherweise den Gebildeteren bekannt. Worin aber unterscheiden sich die Reformierten in religiöser Hinsicht von den Glaubensgenossen im Norden? Waren sie Schwärmer? Historiker kommen unweigerlich auch auf die Politik zu sprechen: auf die Konflikte zwischen den Reformbewegten und den Interessen der Kurie, die in der Eidgenossenschaft einen anderen Hintergrund hatten. Die Angst vor den Saubannerzügen der kriegsverwilderten Jugend, die drohende Hungersnot oder die teilweise maroden Verhältnisse in den Klöstern trugen zur sozialen Bewegung bei, ohne die es keine Reformation der Kirche gegeben hätte.1 Fragen wir umgekehrt nach den sozialen, kulturellen und politischen Folgen der Reformation, stoßen wir auf die Idee des bonum commune2, das geistige Vermächtnis der Alten Kirche, auf eine lebendige Laien-Mystik, auf den humanistischen Bildungsoptimismus in den städtischen Eliten, den Schwung der Renaissance und das wachsende Selbstbewusstsein der Zünfte in den freien Reichsstädten. Die Erfindung des Buchdrucks und die Förderung der Schulen ließen kühnste Visionen aufkommen und befeuerten endzeitliche Fantasien. Dass jeder die Bibel auf Deutsch lesen kann! – bislang eine völlig utopische Vorstellung – rückte in greifbare Nähe. Man kann das Eine nicht vom Anderen trennen. Das alles und mehr kann aus reformierter Sicht und mit Blick auf die reformierte Reformation erläutert werden. Im Folgenden soll es aber weniger um die Differenz zwischen Zwingli, Luther und Calvin gehen als um evangelische Spiritualität. Dass dann doch eine konfessionelle Färbung erkennbar wird, ist nicht zu vermeiden – und möglicherweise auch kein Schade!?

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Vgl. dazu Peter Blickle, Reformation im Reich, Stuttgart 42015. Der Gemeinnutz im Gegensatz zum Eigennutz war eine wichtige Marke für das Ethos des neuen Berufs. Dazu Hans Scholl: »Nit fürchten ist der Harnisch: Pfarramt und Pfarrerbild bei Huldrych Zwingli«, in: Zwingliana XIX,1, Zürich 1992, 361–392.

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1. Warum ist es so schwierig, fromm zu sein? Zu Beginn der Neuzeit war »Religion« keine Privatangelegenheit. Sie beherrschte alle Sphären des Alltags. Ihr Regiment war allgegenwärtig und beinahe allmächtig. Man konnte ihrem Anspruch nicht entfliehen – und nähme man Flügel der Morgenröte. Religion war beinahe gottgleich und darum anfällig für den Götzendienst. Es war nicht erlaubt, nicht religiös zu sein. »Frömmigkeit« war mit dem Leben verflochten und verwoben. Man war höchstens etwas mehr oder weniger fromm. In der spätmittelalterlichen Gesellschaft hieß »mehr religiös« in der Regel, zu den religiosi und »weniger religiös« zu den laici zu gehören. Dabei muss man sich vor Augen halten: Rund 10 % der Bevölkerung gehörten dem geistlichen Stand an.3 Eine Untergruppe waren die säcularii. Darunter verstand man Geistliche, die keine Ordensleute waren. Diese sog. Welt- oder Leutpriester waren oft auch als Prediger an Prädikaturen tätig, wandten sich an das Volk und wirkten als dirigenti religiosi in den Städten. Sie bereiteten gewissermaßen den geistlichen Boden für die Reformation vor.4 Denn sie riefen zur Buße, mahnten und lehrten das Evangelium, um die Frömmigkeit (pietas) der laici zu mehren. Wie jener Leutpriester namens Huldrych Zwingli, den die Chorherren am Grossmünster 1517 nach Zürich holten, um in der Kirche deutsch und deutlich zu predigen.5 Frömmigkeit ist ein Differenzbegriff. Er bezeichnet etwas Religiöses in der Religion und zielt auf eine ihr eigene Tugend und Qualität. Fromm steht für eine rechtschaffene, tüchtige, vorbildliche oder gottselige Religiosität. Sie hebt sich von einer falschen, geheuchelten oder verirrten Religion ab, wie der Glaube sich vom Aberglauben abhebt. Auf diesem Hintergrund lässt sich das Profil der reformatorischen Frömmigkeitsbewegung genauer bestimmen. Denn mit der Unterscheidung zwischen religiosi und laici hat sie gebrochen. Folglich waren alle Pfarrer säcularii. Von einem geistlichen Stand wollten die Reformatoren ja nichts mehr wissen. Zumindest in der Theorie war es so. In der Praxis bildeten die Hirten und Diener des Wortes dann doch wieder einen geistlichen Stand.6 Gemeint war es jedenfalls anders. Folgenreicher war die starke Betonung des Glaubens, der sich im Unterschied zur Frömmigkeit 3 4 5 6

Georg Schmidt, Luther und die frühe Reformation – ein nationales Ereignis?, in: Bernd Möller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, 54– 77, 70. Berndt Hamm, Religiosität im späten Mittelalter: Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, Tübingen 2011, 391–394. Ausführlicher in Ralph Kunz, Zwingli als Prediger, in: GPM 96 (2007), 119–128. Vgl. Hans Scholl, Pfarramt und Pfarrerbild, Anm. 3, 390. Zur Entwicklung vgl. Ralph Kunz, »Ohn Habit und Kragen« – vom Kerngeschäft im Pfarramt, in: Jan Bauke/Matthias Krieg (Hg.), denkMal Bd. 6, Zürich 2003, 31–49.

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nicht mehren lässt. Die theologische Kritik an der Werkgerechtigkeit hatte zur Konsequenz, dass die Dankbarkeit des Menschen die Grundlage christlicher Ethik bildet. In der Sprache des Heidelberger Katechismus tun die Menschen Gutes, weil sie dankbar sind für Gottes Wohltaten (HK 86). Die Idee einer gestuften Frömmigkeit, die zwei Stände und zwei verschiedene ethische Standards kennt, ist damit obsolet geworden. Das duale System ist Ausdruck einer falschen Religion, die Heuchelei auf der einen und Aberglauben auf der anderen Seite erzeugt. Wahre Religiosität kann nicht die Sache einer Elite sein. Natürlich gab es schon vorher Frömmigkeitsbewegungen von und für Laien. Der Ruf in die Nachfolge war auch das Anliegen des höchst populären Büchleins Imitatio Christi von Thomas von Kempen, dem Inspirator der sogenannten devotio moderna. Frömmigkeitsgeschichtlich kann durchaus von einer Kontinuität gesprochen werden. Was Zwingli zum Thema Andacht und Gebet predigte und schrieb, war stark beeinflusst von der niederrheinischen Mystik. Zur eigenständigen Frömmigkeitsbewegung wurde die Reform der Kirche aufgrund verschiedener Faktoren, die im Verbund zu Synergien wurden. Der Impuls, den hierarchischen Aufbau der Bischofskirche zu hinterfragen und der Anspruch, das gottselige, ehrbare und aufrichtige Leben zur kollektiven Norm zu erheben, wirkten zusammen, warfen aber in der institutionellen Umsetzung auch einen Schatten. Denn die Kombination eines so hohen individuellen Ethos mit einem Programm der kollektiven Durchsetzung führte notwendigerweise zu Konflikten mit denen, die frömmer als nur fromm oder nicht immer so fromm sein wollten – also mit den Täufern auf der einen und mit den gemeinen Leuten auf der anderen Seite. Es sei dem Praktischen Theologen erlaubt, die historisch höchst diffizile Ausdifferenzierung und Ausbalancierung des Glaubenssystems holzschnittartig zu vereinfachen. Darum geht es mir, zu zeigen, dass sich das Wörtchen »fromm« als ein schwieriger Freund erweist. Unsre fromme Seele ahnte es, als wir bei der letzten Gelegenheit wieder einmal die Landeshymne gesungen haben.7 Ist fromm ein Gefühl, das sich nur noch beim Morgenrot einstellt? Selbst Kirchgänger stutzen, wenn sie im Gesangbuch mit Johann Heermann (15851647) singen: »O Gott, Du frommer Gott, Du Brunnquell aller Güter.« Offensichtlich hat sich semantisch etwas verschoben. Das althochdeutsche fruma und mittelhochdeutsche frumb, das sich aus primus ableitet, meinte vorbildlich, rechtschaffen und nützlich. In der altertümlichen Wendung »es

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Zur Frömmigkeit der Landeshymne vgl. Ralph Kunz, Der Bettag als Busstag. Von der Aktualität eines Brauchs, Eva-Maria Faber, Daniel Kosch (Hg.), Dem Bettag eine Zukunft bereiten. Geschichte, Aktualität und Potential eines Feiertages, Zürich 2017, 225–240.

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frommt« klingt diese Bedeutung noch an.8 Später wurde daraus etwas Gefühltes und noch später etwas Verkrampftes. Paradoxerweise ist ausgerechnet die starke Betonung des Glaubens dafür verantwortlich. Schon Luther konnte »fromm« im Sinne von »gottselig« verwenden, also auf eine Emotion verweisen. Das Pathos schob sich über das Ethos, was der Reputation der Frommen nicht sonderlich gut bekam. Wenn man die fragt, die im Ernst nicht Christen sein wollen, klingt fromm nach »frömmlerisch«, also: selbstgerecht, heuchlerisch, missionarisch, fanatisch, sektiererisch und gefährlich. Wer noch eins draufsetzen möchte, fügt hinzu: freikirchlich, pharisäisch und fundamentalistisch. Offensichtlich hat sich auch in der Wertung etwas verschoben. Was ist passiert? Wer genauer hinschaut und wissen will, was es mit der Wirkungsgeschichte der reformatorischen Frömmigkeit auf sich hat, hält sich am besten an Historiker, die »Frömmigkeit« sozusagen mit dem Fernrohr beobachten. Den Praktischen Theologen interessiert die Gegenwart. 2. Warum taugt der Kunstbegriff »Spiritualität« doch zu etwas? Tatsache ist, dass das Frommen-Bashing heute salonfähig ist. Man kann damit punkten. Dass mit denen, die frömmer sein wollen, etwas nicht stimmen kann, gehört zur Verdachtshermeneutik der Moderne. Und dass man es nicht nötig hat, am Sonntag in die Kirche zu springen, ist ein Bekenntnis, das auch Mitglieder der Kirche ohne Schamröte aufsagen. Eine Analyse unseres säkularen Zeitalters würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Sie könnte bei Immanuel Kant starten und bei Peter Sloterdijk landen. Sie müsste Peter Berger und Charles Taylor zitieren und käme dann zum Schluss, dass die Frömmler-Kritik ein Phänomen ist, das sehr eng mit der Geschichte des europäischen Christentums zusammenhängt.9 Für genauso wichtig halte ich die Beobachtung, dass diese Kritik jede Frömmigkeitsbewegung begleitet. Die Frommen wollen keine Frömmler sein. Es gehört in gewisser Weise zum Programm der Frömmigkeit, dass die übertriebene, selbstgerechte auf den eigenen Auftritt bedachte, genauso wie die devote oder die bigotte Religiosität wenig mit Gottvertrauen zu tun hat. Diese kritische Differenz finden wir auch bei Jesus und bei den alttestamentlichen Propheten. Allerdings wird Religion nicht in Bausch und Bogen verworfen oder als Übel angesehen. Die fromme Frömmler-Kritik verlangt nach der Unterscheidung einer wahren und falschen oder gesunden und kranken 8 9

»fromm«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, www.dwds.de/wb/dwb/fromm (12.12.2017). Eine gute lesbare Zusammenfassung der Säkularisierungsdebatte findet sich bei Alexander Garth, Gottloser Westen?, Leipzig 2017, 44–80.

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Religiosität. Ums Unterscheiden kommt man nicht herum, was eine Referenz nötig macht. Woran misst man die gesunde Frömmigkeit? Wann wird aus dem frömmlerischen Wesen eine Krankheit? Eine psychologische Analyse der gesunden Religiosität würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Sie könnte bei William James starten und bei Tilman Moser landen. Sie müsste auf die Entwicklungen der Religionspsychologie verweisen und käme dann zum Schluss, dass jeder Versuch, einen neutralen Standpunkt einzunehmen, scheitern muss. Denn wir fragen, wenn wir nach Religion fragen, immer mit der Vorgabe eines gewissen Ideals, ob wir dieses nun mit Gesundheit oder Wahrheit in Verbindung bringen. An dieser Stelle gibt es einen Berührungspunkt zur Spiritualitätsforschung. Man hört es schon am Klang. Wer nach Spiritualität fragt, fragt nach dem, was »frommt« im ursprünglichen Sinne. Wer der religiösen Enge entfliehen möchte, benutzt aber besser nicht das fromme Vokabular. Wer sich nicht verdächtig machen möchte, lässt sich inspirieren, begeistern, berühren oder erschüttern. Man vermeide um Himmels willen Gott und rede lieber von Engeln. Spirituell steht für Echtheit. Und ich sage es gleich vorweg: Wir handeln uns mit der Echtheitsvermutung neue Probleme ein.10 Denn wenn Frömmigkeit damit zu kämpfen hat, dass sie zu eng verstanden wird, hat man es bei der Spiritualität mit einer zu großen Weite zu tun. Frömmigkeit ist vom Zeitgeist schon beinahe entsorgt, Spiritualität ist ein Begriffscontainer, mit dem derselbe Geist fast alles besorgen kann. Um es mit dem Berliner Philosophen ByungChul Han zu sagen: Während Frömmigkeit rau ist, bleibt Spiritualität glatt.11 Sie passt sich an. Es gibt sie in allen Varianten: religiös und areligiös, körperbetont oder ganz vergeistigt. Man liebt sie bei Greenpeace, im Silicon Valley und an der Wallstreet. Ihr Marktwert ist hoch, aber ihr Ruf bleibt schillernd. Das alles weiß ich und halte dennoch an beiden Begriffen fest. Denn ich verspreche mir etwas davon, das Raue neben das Glatte und das Dichte neben das Weite zu stellen und es zu vergleichen. Zumal Verbindungen und Kreuzungen erkennbar sind. Sie lassen sich anhand der Begriffsgeschichte von Spiritualität zeigen. Simon Peng-Keller hat sie herausgearbeitet und konnte aufzeigen, welche faszinierenden Umwege der Begriff gemacht hat.12 Es scheint fast so, dass der Niedergang der Frömmigkeit mit dem Aufstieg der Spiritua-

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Garth, ebd., 81–86. Byung-Chul Han, Die Errettung des Schönen, Frankfurt a.M. 2015. Simon Peng-Keller, Spirituelle Erfahrung als locus theologicus. Theologische Reflexion auf gelebte christliche Spiritualität, in: Eva-Maria Faber (Hrsg.), Lebenswelt und Theologie. Herausforderungen einer zeitsensiblen theologischen Lehre und Forschung, Fribourg 2012, 261–292.

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lität zusammenfällt. Zur Attraktivität der Spiritualität trägt bei, dass dem Begriff ein Bild zugrunde liegt. Spiritus ist die Übersetzung der hebräischen Ruach und des griechischen Pneuma. Man spürt den Atem und den Wind und man sieht die Flammen, die nicht verbrennen und das Wasser, das nicht versiegt. Von den biblischen Wurzeln her betrachtet, ist Spiritualität das Leben des Geistes im Menschen und Spiritualitätsforschung eine Aufgabe der Theologie. Ziel ist es, das Wirken des Geistes als Formationsprinzip und Expression zu erforschen und das meint, sowohl das geschichtlich Gewachsene wie auch das Verwachsene auf diesem Hintergrund zu verstehen und auf dieser Grundlage − prinzipiell nach dem spirituellen Wachstum zu fragen, das in der Dialektik von Rechtfertigung und Heiligung entstehen kann, − material über Praktiken nachzudenken, die den Menschen helfen können, sich auf die Reich-Gottes-Bewegung einzulassen und − formal zu prüfen, in welchen Gefäßen Einzelne und Gemeinschaften geistlich begleitet werden. Mit anderen Worten: die Praktische Theologie ist fromm. Sie hat eine Sendung und vertritt einen engagierten Ansatz der Forschung. Sie will etwas verändern. Sie ist eine Praxistheorie, die im Dreischritt «Sehen – Urteilen – Handeln» Wirkung erzielen möchte. Das ist gegen ein verengtes Wissenschaftsverständnis gesagt, das nur die Deskription als wissenschaftlich gelten lässt, aber genauso gegen ein verengt quietistisches oder privatisiertes Religionsverständnis gerichtet, das Religiöses nur unter Erfahrung abhandeln will. Praktische Theologie ist nicht religiöse Praxis. Sie reflektiert die Differenz von Leben und Lehre. Aber sie könnte ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, wenn sie einen Bruch zwischen Praktischer Theologie und theologischer Praxis zulassen würde. Sie sucht das Gespräch mit dem Erbe der Reformation, um daraus etwas für die Spiritualität der Gegenwart zu lernen.

3. Reformation als Anleitung zum Frommwerden? Wenden wir uns also noch einmal der Reformation als Frömmigkeitsbewegung zu und reden von denen, die »mit Ernst Christen« sein wollen. So hat Martin Luther die Zielgruppe der Reform 1526 in der Vorrede zur Deutschen Messe umschrieben. Er unterscheidet drei Weisen des Gottesdienstes: die lateinische Messe zur Schulung der Jugend, die Deutsche Messe zur Unterweisung des Volkes und die dritte Weise. Er schreibt dazu: Die dritte Weise, welche die rechte Art der evangelischen Ordnung haben sollte, [sie] dürfte nicht so öffentlich auf dem Platz unter allerlei Volk geschehen. Sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das

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Evangelium mit der Tat und dem Munde bekennen, müßten sich mit Namen einzeichnen und sich etwa in einem Haufen versammeln zum Gebet, lesen, zu taufen, das Sakrament empfangen und andere christliche Werke zu üben. In dieser Ordnung könnte man die, welche sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann tun nach der Regel Christi (Matth. 18,15 ff). Hier könnte man auch ein gemeinsames Almosen auferlegen, das man freiwillig gäbe und nach dem Vorbild des Paulus austeilte (2. Kor. 9,1). Hier bedürfte es nicht vieler und großer Gesänge. Hier könnte man auch Taufe und Sakrament auf eine kurze feine Weise halten und alles aufs Wort und Gebet und auf die Liebe richten. Hier müßte man einen guten kurzen Unterricht über das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote und das Vaterunser haben. In Kürze: wenn man die Menschen und Personen hätte, die mit Ernst Christen zu sein begehrten, die Ordnungen und Regeln dafür wären bald gemacht.13

Luthers »dritte Weise«, das wird aus dieser Beschreibung ersichtlich, ist ein Ziel einer Reform, das 1526 noch nicht erreicht war.14 Er selbst schrieb: »Ich habe die Leute noch nicht.«15 Er fand sie auch später nicht. Tatsächlich kämpfte Luther sein Leben lang mit dem Gefühl des Scheiterns. Das ist zum einen Stoff für Lutherbiografien, wie sie die Oxforder Historikerin Lyndal Roper vorlegte.16 Ihre akribischen Studien der Quellen zeichnen ein Bild der Person Luthers, die fasziniert und erschreckt: Sie zeigen das Psychogramm des Seelsorgers und Theologen, aber auch den Antisemiten, den Choleriker, den Lebemenschen, Apokalyptiker und Hexenverfolger, der mit seiner Kirche haderte. Aber Wittenberg ist nicht Zürich und Zürich nicht Genf. Die Reformation im Norden, im Süden und im Westen ging unterschiedliche Wege. Das hat zum einen mit den Protagonisten zu tun und zum anderen mit den politischen Verhältnissen. In der kommunalen Reformation konnte sie lokaler und kleinräumiger Fuß fassen. Die Differenzen zeigten sich in der Abendmahlstheologie, in der Ekklesiologie, der Christologie und der Soteriologie – bald wurden daraus tiefe Risse und erbitterte Fehden. Ich werde mich hüten, diese Unterschiede klein zu reden. Sie sind Stoff für theologische Seminare, akribische Studien und subtile Schulbildungen. Wenn ich das Gemeinsame hervorhebe, hat es mit dem erkenntnisleitenden 13 14 15 16

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Vorrede zur deutschen Messe (1526), in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling: Kirche, Gottesdienst, Schule, Frankfurt a. M. u.a. 1995, 77f. Sybille Rolff, »Das Evangelium mit Taten und Worten bekennen«. Die Kommunikation des Evangeliums im Anschluss an reformatorische Theologie, in: Christiane Moldenhauer/Jens Mosees, Die Zukunft der Kirchen Europas, Neukirchen-Vluyn 2016, 1–19,11. Luther, Vorrede, ebd. (Anm. 14). Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther. Die Biografie, Frankfurt a. M. 2016.

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Interesse an einer evangelisch inspirierten Frömmigkeit zu tun. Bei allen Unterschieden verbindet Luther, Zwingli und Calvin dieselbe evangelische Frömmigkeit. Es ist kein Zufall, dass Martin Luther in seiner Vision einer »dritten Weise« der christlichen Ordnung dem Ideal der reformierten Konzentration sehr nahekommt: Hier bedürfte es nicht vieler und großer Gesänge, hier könnt//e man auch Taufe und Sakrament auf eine kurze feine Weise halten und alles aufs Wort und Gebet und auf die Liebe richten. Hier müßte man einen guten kurzen Unterricht über das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote und das Vaterunser haben.17

Was Luther in Wittenberg nicht gelingen wollte, versuchte man in Zürich und Genf inklusive Kirchenzucht umzusetzen. Und es ist sicher auch kein Zufall, dass sich rund hundertfünfzig Jahre später Philipp Jacob Spener in seinen Schriften auf die Vorrede Luthers berief. In der »Pia Desideria« beklagt er den Mangel an wahrem, lebendigem Glauben, vor allem im geistlichen Stand.18 Der Vater des Pietismus knüpft beim Reformator an, zielt aber mit seinem Programm der Erneuerung auf das Priestertum aller Gläubigen, auf den Haufen, der sich versammelt, auf das, was er später ecclesiola in ecclesia (1675) und collegium pietatis (1677) nannte. Auch bei Spener lassen sich »reformierte« Anliegen erkennen: der Nachdruck auf der Heiligung, das große Gewicht der Versammlung der Bekennenden und die Mahnung zur tätigen Liebe. Und der Pietismus kämpft auch mit denselben Schatten: der Tendenz zum Kongregationalismus, der Gesetzlichkeit und der Weltfremdheit. Ein Vergleich mit dem Puritanismus, dem Methodismus und dem Evangelikalismus drängt sich auf. Das ist Stoff für die Kirchengeschichte. Der Praktische Theologe begnügt sich mit der Feststellung, dass sich in der evangelischen Frömmigkeit zwei starke Bewegungsimpulse finden lassen: der Impuls, wieder beim Anfang anzufangen und der Impuls, nach dem geistlichen Wachstum zu streben. Beide Impulse brauchen und beobachten einander. Vielleicht ist es gar simpel, aber hilfreich um die Dynamik zu verstehen, wenn wir den einen Pol mit der Freiheit des Christenmenschen und den anderen mit dem Gehorsam verbinden.19 17 18

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Luther, Vorrede, ebd. (Anm. 14). Die »Pia desideria« (mit dem Untertitel: Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche) ist der Titel einer 1675 erschienenen Schrift von Philipp Jacob Spener: Pia Desideria. Herausgegeben von Kurt Aland (= Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, Nr. 170). Berlin 31964. Vgl. dazu Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, 302–316. Um wieder an ein berühmtes Lutherwort zu erinnern: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer

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Diese Dynamik beruht auf einer Dialektik, die unruhig macht und in Bewegung setzt. Denn der wahre Fromme weiß, dass sich der Anfang bei der Gnade einem Ruf verdankt, der auf den Weg der Nachfolge schickt, der Heiligung heißt und zu einer praxis pietatis führt, die von Paulus auch »Wandel im Geist« genannt wird. Es ist ein Weg des Einzelnen und ein Weg der Kirche, ein Weg zwischen den Zeiten unter dem Zeichen des Vorletzten – und immer auch ein Unterwegssein Gottes mit uns. Ein Ende ist erst dann in Sicht, wenn aus dem Glauben ein Schauen und Gott alles in allem sein wird. Also ist vorläufig kein Ende in Sicht. Darum bleibt die Reformation eine Frömmigkeitsbewegung. Genau das meint die arg strapazierte Formel ecclesia semper reformanda in der Essenz. In einer spannenden Spurensuche ihrer Wirkungsgeschichte kommt Emidio Campi zum Schluss, die Formel wolle letztlich sagen, »dass die Christenheit immer wieder von neuem hat beginnen können, dort, wo es ihr gelungen ist, Wege frei zu halten zur Begegnung mit der Kraft und der Herrlichkeit des Wortes vom Kreuz, das Verwandlung ermöglicht, zur Umkehr einlädt und zur Mitgestaltung einer humaneren Gesellschaft einlädt.«20 Das ist fromm gesagt und bringt schön auf den Punkt, woher die Kraft der Erneuerung kommt. Von einem göttlichen Gegenüber, das in einer anfänglichen Begegnung in, mit und durch das Wort erfahren wird. Deshalb propagierten die Reformatoren eine durch das Wort Gottes und nicht durch ihre Frömmigkeit erneuerte Kirche – was selbstredend dem Geist dieser Frömmigkeit zugeschrieben werden kann. Das mag spitzfindig erscheinen, ist es aber nicht. Denn man kommt nur dann zur Kraft der Reformation, wenn man diese radikalste aller möglichen Selbstunterscheidungen, die in ihrer Frömmigkeit angelegt ist, nicht überspielt. Die Bewegung der Frömmigkeit ist eine Bewegung zu Gott, also Buße, angestoßen durch Gott, also Heiligung. Sie wird theonom realisiert: Die wahre Frömmigkeit verlässt sich nicht auf reine Tugend, religiöse Erregung oder durchdachte Lehre. Aber sie wird reziprok aktualisiert: Der Mensch sucht Gott, hält an seiner Gerechtigkeit fest und verlässt sich auf seine Treue. Als frommer Mensch weiß er zwischen dem Heiligen Geist und der eigenen Begeisterung zu unterscheiden und erfährt diese Differenz als Krisis und Verheißung seiner christlichen Existenz.21

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Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Aus: Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). Gütersloh 2006. Vgl. dazu: Reinhold Rieger, Von der Freiheit eines Christenmenschen, De libertate christiana, Tübingen 2007, 5–12. Emidio Campi, »Ecclesia semper reformanda«. Metamorphosen einer altehrwürdigen Formel, in: Zwingliana 37 (2010), 1–20, 19. »Der Heilige Geist wird zur Krisis der Theologie, wenn sie sich nicht auf die Vollendung der Schöpfung hin entfaltet.«, vgl. Rudolf Bohren, Dass Gott schön werde. Praktische Theologie als theologische Ästhetik, München 1975, 18.

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Man kann diese Differenz bis ins Extrem der gedanklichen Paradoxie treiben und hätte dann die Pointe der Spiritualität schon wieder verpasst. Nicht um spitzfindige Aporien oder paradoxale Lebenskonzepte geht es hier; auch nicht um die Illusion einer totalen Übereinstimmung von Lehre und Leben, sondern um die widerständige Praxis einer Lebensform, die dem Sog der Selbstbehauptung zu entgehen sucht. Es ist die Funktion rechtverstandener Rechtfertigung, den religiösen Eigensinn der christlichen Lebenspraxis zu erhalten. Denn wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Geben wir noch einmal Martin Luther das Wort: Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.22

4. Was kann die Spiritualitätsforschung Erhellendes zum Verständnis der Reformation beisteuern? Was hat das mit Spiritualitätsforschung zu tun? Der Begriff ist erklärungsbedürftig und begründungspflichtig, gerade weil er so cool daherkommt, glatt und nicht rau ist. Was ist darunter zu verstehen? Und was unterscheidet Spiritualität von Glauben, Religiosität oder Frömmigkeit? Die Frage liefert Stoff für interdisziplinäre Seminare. Als einfach gestrickter Praktischer Theologe erlaube ich mir, mit einer pragmatischen Unterscheidung weiterzuarbeiten. Spiritualität kann weit gefasst werden. In den Gesundheitswissenschaften und in der Psychologie kursieren Definitionen einer frei flottierenden, fluiden und flüchtigen Orientierung, die nach Sinn, Verbundenheit und Transzendenz fragt. In der Religionswissenschaft wird Spiritualität auch im Sinne einer Alternative zur Religiosität verwendet. Den theologischen Diskurs bringt eine solche Begriffsextension aus naheliegenden Gründen in Verlegenheit. Wer danach fragt, wie Christen in der Gegenwartskultur ihren Glauben leben, oder wie sie Praktiken einüben, die ihnen helfen, ihr Leben zu führen, oder welche Antworten sie auf die großen Fragen der Zeit haben, oder was sie tun, um glaubwürdig das Evangelium zu kommunizieren – wer nach all diesen Dingen fragt, interessiert sich für eine Intensivierung, Vitalisierung und Erneuerung seiner Religion und nicht für ihre Auflösung. Dieses Ansinnen könnte der Theologie den Vorwurf der 22

Martin Luther, Grund und Ursach aller Artikel (1521), WA 7, 309–457, 336.

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Enge einbrocken. Die fromme Spiritualität ist aber nicht eng, nur weil sie nicht zu weit sein will. Engführung ist nicht ihr Ziel und Engstirnigkeit ist ihr ein Gräuel. Evangelische Spiritualität will Tiefe! Man ahnt in der Bewegung zu den Tiefen Gottes das Geheimnis, das man nur umkreisen kann (1Kor 2,10) und stößt in der Bewegung nach oben an die Grenzen der Erkenntnis, die weiß, dass man darüber hinaus nicht denken kann. Aber was beweist das?23 Womit prüfen wir die Gesundheit, Wahrheit oder Echtheit des religiösen Erlebens? Raummetaphern sind trügerisch. Von Höhen und Tiefen zu reden, könnte auch ein Trick sein. Das Tiefe kann abgründig und das Hohe übermütig werden. Auch ein raffiniertes Sprachspiel, das sich auf der Klaviatur der Gefühle auskennt, erzeugt nur relative Evidenz. Man muss genauer hinschauen und sich einlassen auf die Logik des Glaubens, die auf ein Verhältnis zielt. Ohne Bezug auf die Gottesbeziehung ist Frömmigkeit nicht zu denken. Wenn wir verstehen wollen, was die Reformation bewegt hat und in Bewegung bringen wollte, rasseln wir mit Formeln wie »radikaler Diesseitsorientierung« voll ins Abseits. Dafür stehen die Höhe und die Tiefe. Wenn ich die Vertikale im Raum die »mystische Achse« nenne, nehme ich das Risiko eines gefährlichen Begriffs in Kauf. Ich will es am Beispiel von Zwinglis Abendmahlstheologie illustrieren.24 Diese lässt sich nicht verstehen ohne eine Formel, die er von Augustin übernimmt. Das Nachtmahl sei eine Danksagung, eine geistliche Speise, bei der Gott genossen werde. Das ist Mystik mit einem klaren biblischen Bezugspunkt. Gott zu lieben ist das erste Gebot. Der Begriff des Genusses macht auf die entscheidende Front aufmerksam. Gott soll weder benutzt oder verwendet noch soll Religion anstelle Gottes verehrt werden. Allein Gott in der Höhe sei Ehre ist eine spirituelle und keine moralische Regel. Der zur Anbetung freie Mensch ist von den Zwängen des Götzendienstes befreit. Ohne Genuss-Metaphorik lässt sich die reformatorische Frömmigkeitsbewegung gar nicht verstehen. Ohne Freude an Gott wäre sie keine Bewegung. Ohne Glauben wäre sie nur noch Religion. Ohne Spiritualität würde sie zu jenem Zerrbild, das religiös unmusikalische Kritiker aus ihr gemacht haben. Ohne die Freiheit des Christenmenschen wird aus dem Frommen der verklemmte puritanische Frömmler, der sich nicht getraut, das Leben zu genießen.

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In Anspielung auf den ontologischen Gottesbeweis nach Anselm. Vgl. dazu Burkhard Mojsisch, Anselm von Canterbury. Gottesbeweise, in: Theo Kobusch (Hrsg.), Philosophen des Mittelalters. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 42–53. Ausführlicher in: Ralph Kunz, Abendmahlsgottesdienst, in: David Plüss/Katrin Kusmierz/Matthias Zeindler/Ralph Kunz (Hg.), Gottesdienst in der reformierten Kirche. Einführung und Perspektiven, Zürich 2017, 224–242.

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Ein Gespräch über die reformatorische Frömmigkeitsbewegung, das von seiner mystischen Seite nichts wissen will, endet in der Regel mit diesem Klischee. Sie kann nicht durch eine soziologische oder psychologische Aufklärung religiöser Verformung ersetzt werden. Sie darf sich nicht von ihrer Spiritualitätsforschung abhalten lassen, die die Frömmigkeit auch mit einer Vertrauenshermeneutik befragt. Weil sie den Segen, der daraus erwächst, sieht und weil sie das Zeugnis der Menschen, die ihren Glauben treu gelebt haben, hört. Weil sie will, dass Gott schön wird.

5. Warum sollt ich meinem Gott nicht singen? Damit ist neben der Gesundheit, der Wahrheit und der Echtheit zum Schluss auch die Schönheit der Religion ein Thema. Gott genießen und die Welt verändern, Beten und das Gerechte tun – darauf läuft es hinaus – geht nicht ohne Schönheit. Sie hält den Glauben in Bewegung. Natürlich verändert sich die Stimmung in der Weggemeinschaft der Gläubigen. Diese ist nicht immer schön. Sie ist manchmal düsterer und manchmal heller, manchmal kämpferischer und manchmal kontemplativer. Die Stimmungen ändern sich, je nachdem, was dran ist. So geht das zu in Bewegungen. Aber das Ganze hat einen Glanz, den man sehen kann und eine Kraft, die man spüren kann, wenn man sich darauf einlässt. Darum geht mir diese ewig dumme Phrase von den lustfeindlichen Zwinglianern auf die Nerven. Es ist das Stroh, das halbgebildete Möchtegernexperten dreschen, weil sie keine Ahnung von der hundertfältigen Frucht des Geistes haben. Halten wir ihnen entgegen und bezeugen die Freude, die aus der Leidenschaft kommt, die Lust am Glauben, die den Gehorsam nicht verweigert und die Begeisterung, die den Schmerz nicht ausspart. Das ist heute dran! Die Spiritualität der evangelischen Frömmigkeit hat Tiefgang und bietet sogar einmal einen Höhenflug. Ich würde deshalb, anders als Martin Luther im Nachwort zu seiner Vorrede, denen, die mit Ernst Christen sein wollen, diejenigen zugesellen, die es mit Freude sein wollen. Weil sie etwas zu sagen und zu singen haben.25 Darum komme ich zum Schluss noch einmal auf den Anfang zurück. Der Redenschreiber von Alain Berset26 hat seine Hausaufgaben gemacht. Er hat Max Weber gelesen und verstanden, dass die Hinwendung zur Welt und das 25

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Die Betonung eines evangelischen Propriums will nicht übersehen, dass die Musik auch ein Medium der ökumenischen Einheit darstellt. Vgl. dazu Florian Ihsen, Eine Kirche in der Liturgie. Zur ekklesiologischen Relevanz ökumenischer Gottesdienstgemeinschaft, Göttingen 2010, 60–170. Sozialdemorat und Mitglied des schweizerischen Bundesrates, HE.

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Zeugnis mit Tat und Mund eines jeden Christen in seinem Beruf und Stand ein zentrales Motiv der Reformation war. Aber ohne Musik würde aus dieser radikalen Diesseitsorientierung etwas ganz und gar Ernstes. Was fehlt, ist die Aussicht auf ein glorioses Ende, eine Aussicht, die keine ist und darum einen Blick schenkt für das, was sich jetzt schon fragmentarisch erkennen, schmecken und sehen lässt. Was wir jetzt schmecken, ist ein Vorgeschmack auf den Genuss Gottes, das höchste Glück, über das hinaus man kein Glück genießen kann. Die zeitgenössische Spiritualität zieht es vor, von kosmischer Tiefe oder dem Wunder des Universums zu sprechen. Es macht keinen Sinn, darüber zu streiten, wann es besser ist, rau oder glatt zu reden. Wichtiger ist die Emotion, die immer noch funkt, glüht und glänzt durch alle Jahrhunderte hindurch und die Frage, wo und wie sich dieses Funken, Glühen und Glänzen finden lässt. Die Schönheit gibt einen Fingerzeig. John Eliot Gardiner hat über Johannes Sebastian Bach ein siebenhundertseitiges Opus mit dem Untertitel »Musik für die Himmelsburg« geschrieben. Es ist eine dichte Beschreibung von Person und Werk, bei der man viel über die Schönheit lernen kann und es ist zugleich das Bekenntnis zu einer Spiritualität, in der Pathos, Ethos und Logos zu einer musikalischen Gestalt zusammenfinden: Seine [scil. Bachs, RK] Musik offenbart seinen tiefen Abscheu vor Heuchelei und seine Unduldsamkeit gegenüber jeglicher Verfälschung von Tatsachen, aber auch sein tiefes Mitgefühl für alle, die in irgendeiner Form leiden müssen, betrübt sind oder von Gewissensbissen oder Glaubenszweifeln geplagt werden. All das veranschaulicht seine Musik, und daraus bezieht sie ein Gutteil ihrer Authentizität und ihrer ungeheuren emotionalen Wucht. Vor allem aber macht sie hörbar, mit welcher Freude und mit welchem Vergnügen er die Wunder des Universums und die Geheimnisse des Lebens feierte – und in seiner eigenen schöpferischen Gewandtheit schwelgte. Man muss sich nur eine einzige Weihnachtskantate anhören, um Musik von einer jauchzenden, festlichen Begeisterung zu erleben, an die kein anderer Komponist herankommt […] Viele von uns können angesichts dessen nur staunen, in sich gehen und vor Gedankengängen kapitulieren, deren Spiritualität so tiefgründig und unwandelbar ist wie die kaum einer anderen Musik.27

So redet einer, der sein Leben der Musik gewidmet hat, über einen, der seine Musik Gott geweiht hat – im Wissen, dass Bach von der Aussicht beseelt war, »nach dem Tod ein besseres Leben in der Gemeinschaft von Engeln und engelsgleichen Musikern zu verbringen.«28 Wir wollen Herrn Gardiner deshalb

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Gardiner, Bach, 30f. Gardiner, Bach, 30f.

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verzeihen, dass sein soli deo gloria manchmal zu einem Solo für den frommen Bach wird. Die Lektüre will nicht zu einer Bachverehrung führen, sondern von Bach lernen, dass sich das erste Gebot im Lob verwirklicht. Das anfängliche Motto der biblischen Spiritualität ist auch ihre letzte Aussicht. Alles, was atmet, lobe den Herrn. Gottes Ehre lässt den Menschen nicht verstummen, sondern weckt die Lust, einzustimmen in eine kosmische Symphonie. Der Mensch ist geschaffen, um zu jubilieren. Das ist eine Botschaft, von der man singen und sagen muss. Der Westminster Shorter Catechism formuliert wunderbar prägnant den reformierten Nachdruck auf diese Bestimmung der menschlichen Existenz. Das Bekenntnis antwortet auf die erste Frage, was denn diese Bestimmung sei, mit dem ebenso schön wie knapp formulierten Grundsatz: »Man’s chief end is to glorify God, and to enjoy him forever.«29 Die Reformierten haben eine Ahnung davon, dass das Singen Kopf und Herz verbindet und wie sich der himmlische im irdischen Gottesdienst anfühlt. Jean Calvin, der Gesang und Musik in den höchsten Tönen lobt, wusste es.30 Eine Frömmigkeit, die den Jubel nicht vergisst, liegt sicher nicht falsch. Und es muss nicht immer Bach sein. In der Kirche darf auch gejazzt oder gejodelt werden. Man muss nur genau hinhören. Wenn man Glück hat, vergisst man die Zeit und meint, dass schon alles glüht, glänzt und hofft. Aber es ist nicht soweit. »Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.« Darum muss die Reformation weitergehen. Ich schließe mit einem Rat von Bruno Latour, dem bekannten französischen Soziologen, der ein Buch über das Jubilieren mit Tiefgang geschrieben hat: Vielleicht gibt es wirklich spirituelle Menschen, aber der sicherste Test, sie von den falschen zu unterscheiden, besteht darin, ob sie ihre Gesprächspartner ›nach oben‹ führen, […] oder sie im Gegenteil nach und nach herabführen zu Sprechakten, die den Sprecher transformieren, ohne seinen Wissensdurst im geringsten zu schmälern. Wenn sie den Anspruch erheben, […] Ihnen Geheimnisse zu enthüllen, Sie in Mysterien einzuweihen, Sie zu hehren Sphären zu erheben, meiden Sie sie; aber halten Sie sich an die, die

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Der Westminster Shorter Catechism ist zu finden unter: www.reformed.org/documents/ WSC.html (12.12.2017). Vgl. dazu Ralph Kunz/Felix Moser, Liturgie und Liturgik in der Reformierten Schweiz, in: PTh 98 (2009) 157–172.

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Sie den Rhythmus jener Worte wiederfinden lassen, die zwar keinen Zugang eröffnen, die nirgendwohin versetzen, vor allem nicht weiter und höher, die Sie aber transformieren, Sie selbst, jetzt, da Sie angesprochen sind.31

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Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011, 53.

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Das erschöpfte Selbst und die Rechtfertigung Befreiende Impulse der Reformation1 Holger Eschmann Die Praktische Theologie hat man einmal humorvoll als Freibeuterei bezeichnet.2 Das heißt, dass sie sich immer wieder das Recht herausnimmt, in ganz verschiedenen Bereichen der Weltwirklichkeit nach Schätzen zu suchen, die sich zu plündern lohnen. Der Praktischen Theologie geht es dabei um Gott und die Welt, also darum, dass Theologie und Lebenswirklichkeit zusammengedacht werden. So werde ich es auch in diesem Beitrag halten. Im ersten Teil formuliere ich einige soziologische und psychologische Beobachtungen, um dann im zweiten Teil auf damit zusammenhängende theologische Fragestellungen zu sprechen zu kommen.

1. Gesellschaft und Erschöpfung 1.1 Die Beschleunigung des Lebenstempos Die gegenwärtige Beschleunigung des Lebenstempos fördert die Zunahme von Erschöpfungszuständen und Depressionen. Das zeigen sowohl empirische Untersuchungen als auch unser subjektives Lebensgefühl. Alles scheint immer schneller vertaktet zu sein. Die Redebeiträge im Rundfunk sind kürzer geworden wie auch die Predigten auf der Kanzel und die Einstellungen der Kameras bei Filmen und Werbespots. Wurde in meiner Kindheit in der Kinowerbung ein Produkt geradezu gemütlich lange mit all seinen Vorzügen beschrieben, wechselt heute bei der Eis- oder Autowerbung die Kameraeinstellung blitzschnell von einer Szene zur nächsten.

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Überarbeiteter Vortrag, gehalten am 17.05.2017 im Rahmen des studium generale der Reutlinger Hochschulen. Vgl. A. Grözinger, Der Praktische Theologe als Freibeuter, in: D. Plüss/J. Stückelberger/A. Kessler (Hg.), Imagination in der Praktischen Theologie, Zürich 2011, 17–20.

Holger Eschmann, Das erschöpfte Selbst und die Rechtfertigung

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Hartmut Rosa, ein Soziologe der Universität Jena, beschreibt in seinem Buch »Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne«3, wie unsere westlichen Gesellschaften zu Beschleunigungsgesellschaften geworden sind. In Beschleunigungsgesellschaften sind zwei Beschleunigungsformen miteinander verknüpft. Da ist zunächst die technische Beschleunigung – zum Beispiel beim Reisen, aber auch im Haushalt beim Kochen und Waschen oder beim Internetsurfen mit der immer schnelleren Flatrate. Diese technische Beschleunigung ist nicht an sich schlecht. Im Gegenteil, sie erweitert unsere Möglichkeitsspielräume. Zur technischen Beschleunigung tritt nun aber die Beschleunigung des sozialen Wandels. Lebensstile, Familienstrukturen, Arbeitsstrukturen und soziale Bindungen verändern sich auch immer schneller. Dies führt zu einer Beschleunigung des gesamten Lebenstempos und zu einer höheren Erlebnisdichte. Es entsteht ein Akzelerationszirkel, ein Teufelskreis der Beschleunigung. Dadurch kommt es zur Verknappung der Zeitressourcen. Das heißt: Immer mehr wird in immer kürzeren Zeiträumen erledigt – ob das die kürzere Schulund Hochschulbildung ist (G8 und Bologna), die kürzere Verweildauer im Krankenhaus oder der vollgepackte Kurzurlaub am Wochenende. Die Steigerung z. B. des Reisetempos mit ICE oder Flugzeug führen in der Regel nicht dazu, dass wir uns am Ziel mehr Zeit und Muße gönnen und es gemütlicher angehen lassen. Das könnten wir ja theoretisch tun – praktisch kalkulieren wir dann aber knapper und packen mehr Termine und Events in die gewonnene Zeit hinein. Durch die Verknüpfung der verschiedenen Beschleunigungsformen entsteht in unserer Gesellschaft eine Art ZeitHungersnot. Keiner hat mehr Zeit, obwohl wir ja nicht weniger Stunden am Tag zur Verfügung haben als früher. Verändert hat sich durch die Beschleunigung auch unser Umgang mit Prioritäten. Dies beschreibt u. a. der Soziologe Niklas Luhmann in seinem Buch »Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten«.4 Luhmann weist nach, dass die Menschen ihre Tätigkeiten früher stärker als heute nach ihren Wertigkeiten geordnet haben. Das Wichtigste oder Wertvollste wird zuerst getan, dann kommt das Zweitwichtigste usw.5 In der gegenwärtigen Gesellschaft wird dieses Prinzip mehr und mehr durch die »Macht des Termins« ersetzt. Man muss sich in unserer komplexen und global organisierten Welt Termine gemeinsam setzen, damit das Miteinander funktioniert. Aber dadurch bestimmt immer mehr »The power of the deadline« 3 4 5

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H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt 2005. In: N. Luhmann, Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen 41994, 143. H. Rosa, Beschleunigung, 221.

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die Reihenfolge des zu Erledigenden. Diese Macht des Termins »bringt es mit sich, dass unter den Bedingungen knapper Zeitressourcen Ziele, die nicht an Fristen oder Termine gebunden sind, nach und nach aus dem Blick geraten, weil die Last des zu Erledigenden sie gleichsam erdrückt – sie hinterlassen lediglich ein unbestimmtes Gefühl, dass man zu nichts mehr kommt.«6 Das Spielen mit den Kindern, die Zeit zur Selbstbesinnung, das Üben mit dem Musikinstrument, der regelmäßige Sport – bei all dem würden wir wohl sagen, dass es sehr wichtig ist für ein erfülltes und auch nachhaltiges Leben, aber es wird verdrängt durch die Macht des Termins, durch das Diktat des zuvor noch zu Erledigenden. Hartmut Rosa sieht in diesen Phänomenen eine Verquickung von Beschleunigung und Wachstum, von Tempo und Ökonomie. Das hat Auswirkungen auf die Psyche und Gesundheit des Menschen in zeitknappen Gesellschaften. Eigentlich sollten wir unser Leben längerfristig planen können, um das Gefühl von Orientierung und Sicherheit zu bekommen, was für die psychische und körperliche Gesundheit wichtig wäre. Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat bei seiner Erforschung des sense of coherence (Kohärenzgefühls) herausgefunden, wie wichtig für die menschliche Gesundheit das Gefühl ist, sein Leben einigermaßen überschauen zu können und nicht von Terminen und Projekten gejagt zu werden. Angesichts des schnellen Wandels unseres sozialen Gefüges können wir aber kaum mehr planen, sondern müssen flexibel auf Veränderungen reagieren. Sozialwissenschaftler wie Richard Sennett in seinem Buch »Der flexible Mensch«7 vertreten die These, dass die Prozesse der modernen Gesellschaft zu schnell geworden sind für die Menschen, die in ihr leben. Und das betrifft nicht nur das einzelne Individuum, sondern auch Organisationen. Wer nicht schnell und flexibel auf die Veränderungen am Markt reagiert, ist bald insolvent. An der Börse gibt es bereits Computer, die Steuerungsprozesse beim Ankauf und Verkauf von Aktien übernehmen, weil Menschen nicht mehr schnell genug auf die Kursschwankungen reagieren können. Möglichst viel hier und jetzt in dieses Leben zu packen, ist nach Hartmut Rosa die moderne Antwort auf unsere beschränkte Lebenszeit. Er schreibt: Wer doppelt so schnell lebt, kann doppelt so viele Weltmöglichkeiten realisieren und damit gleichsam zwei Leben in einem führen … Beschleunigung wird zu einem säkularen Ewigkeitsersatz, zu einem funktionalen Äquivalent religiöser Vorstellungen vom ewigen Leben und damit zur modernen Antwort auf den Tod.8

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H. Rosa, Beschleunigung, 221f. R. Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. H. Rosa, Beschleunigung, 474.

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Weil die religiöse Ewigkeit in unserer Gesellschaft mehr und mehr aus dem Blick geraten ist, müssen wir in unsere begrenzte Lebenszeit immer mehr und immer Neues hineinpacken. Innovation wird zum Zauberwort. Nach Rosa ist es ein Kennzeichen der Moderne, dass sich unsere Gesellschaft nur noch in dieser Beschleunigungsdynamik zu stabilisieren vermag. Stillstand wäre Rückschritt, deshalb ist die Gesellschaft auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen, um ihre Struktur zu erhalten. Und wir müssen »immer schneller laufen …, um unseren Platz in der Welt zu halten«9. Denkt man mit Hartmut Rosa diesen Prozess weiter, endet er in einer totalen Mobilmachung, die nicht nur zum persönlichen Kollaps führt, sondern auch zum Kollaps der Wirtschaftssysteme, der Demokratien und der Ökologie unseres Planeten.10 Dass diese Entwicklung allerdings kein Verhängnis sein muss, darauf komme ich später noch zu sprechen. 1.2 Das erschöpfte Selbst Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat ein Buch geschrieben mit dem Titel »Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart«11. In diesem Buch führt Ehrenberg die Zunahme besonders der depressiven und erschöpfungsbedingten Krankheitsbilder darauf zurück, dass vom Menschen heute in einem Übermaß verlangt wird, mündig, selbstbestimmt und verantwortlich zu leben. Was ursprünglich das Zeitalter der Moderne positiv auszeichnete, dass nämlich der Mensch aus unguten Abhängigkeiten von Herrschenden, Klassenunterschieden, Religionssystemen usw. zur selbst bestimmten Mündigkeit geführt wurde, kann heute in einem Übermaß zum Fluch werden. Wir werden ständig an unserer Tatkraft und Handlungskompetenz gemessen, also daran, wie wir auf die wechselnden Herausforderungen der Arbeitswelt und der neuen Medien reagieren. Das ist die Kehrseite der neoliberalen Weltsicht, alles selbst bestimmen zu wollen und zu müssen und sich dabei möglichst gut zu verkaufen. Diesen Autonomieansprüchen erliegen nach Ehrenberg viele Menschen, indem sie ausbrennen, suchtmittelabhängig oder depressiv werden. »Handeln ist heute individuelles Handeln«, schreibt er, »es hat keinen anderen Ursprung als den Akteur, der die Handlung ausführt, die er auch allein zu verantworten hat. Die persönliche Initiative steigt an die Spitze der Kriterien, die den Wert

9 10 11

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H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 4. Aufl., Berlin 2016, 692. H. Rosa, Beschleunigung, 489. A. Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt 2008.

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der Person messen.«12 Das ist nicht mehr nur in den Chefetagen so, sondern in fast allen Arbeitsbereichen. Noch einmal Ehrenberg: »Die neuen Modelle zur Regulation und zur Beherrschung der Arbeitskraft beruhen weniger auf … Gehorsam als auf Initiative: Verantwortung, die Fähigkeit, Projekte zu entwickeln, Motivation, Flexibilität – das ist die neue Liturgie des Managements.«13 Dies hat fatale Folgen, denn wenn alles auf die Eigeninitiative, Motivation und Flexibilität des Menschen ankommt, empfindet sich nicht mehr der Mensch als schlecht, der schlecht gehandelt hat, sondern der, der nicht mehr in der Lage ist, zu handeln. Damit verändert sich die Ethik: Hauptsache, man tut etwas. Wie sinnvoll es ist oder ob es anderen schaden kann, wird häufig nicht mehr oder nur unzulänglich bedacht. Dass alles auf das Handeln des Einzelnen zurückgeführt wird, hat im Falle eines persönlichen Zusammenbruchs fatale Konsequenzen. Denn auch da ist man selbstverständlich geneigt zu sagen: Nur du selbst kannst deine Situation verändern – und man merkt gar nicht, dass man damit unterschwellig auch sagt: Nur du selbst bist schuld, dass du in diese Situation gekommen bist. Und man mutet ausgerechnet dem erschöpften Menschen zu, dass von ihm der Impuls und die Initiative zur Veränderung seines Schicksals kommt. Alain Ehrenberg sieht auf diesem Hintergrund die Depression als eine typische Krankheit unserer Zeit an. Ihre Zunahme ist eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. »Der Depressive hat Mühe, Projekte zu formulieren, ihm fehlen die Energie und die Motivation dazu … [Damit aber] ist der Depressive das genaue Negativ zu den Normen unserer Sozialisation.«14 Die Zeitkrankheit Depression kann uns – nach Ehrenberg – wenigstens daran erinnern, dass wir bescheidener werden sollten und bei all unseren Möglichkeiten, die wir heute haben, die Grenzen des Menschseins nicht hinter uns lassen können. Depression als eine Art gesellschaftliche Notbremse? Das wäre ein sehr hoher Preis … 1.3 Die freiwillige Selbstausbeutung und die Müdigkeitsgesellschaft In seiner Gegenwartsanalyse mit dem Titel »Müdigkeitsgesellschaft«15 baut der in Berlin lehrende Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han auf die bisher vorgetragenen soziologischen Einsichten auf und radikalisiert sie. Er geht von einem Paradigmenwechsel aus, der in den letzten Jahrzehnten stattgefunden habe. Vereinfacht gesagt, handelt es sich bei diesem Prozess darum, dass sich in der späten Moderne Freund und Feind nicht mehr 12 13 14 15

A. Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, 244. A. Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, 245. A. Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, 306. B.-C. Han, Müdigkeitsgesellschaft, 6. Aufl., Berlin 2011.

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so leicht unterscheiden lassen. Han macht dies am Beispiel des menschlichen Körpers und seiner Immunabwehr deutlich: Verletzungen von außen oder eindringende Keime erkennt der menschliche Körper als fremd und wehrt sich entsprechend. Gegen die Wohlstanderkrankungen unserer Zeit, wie zum Beispiel das zunehmende Übergewicht schon bei Kindern, wehrt sich der Körper nicht. Er bemerkt die Bedrohung gar nicht, weil die Gefahr nicht als Feind von außen, sondern von innen kommt. Auf die Gesellschaft übertragen, bedeutet dies: Früher konnte sich der Mensch gegen die Gewalt von außen noch einigermaßen wehren, weil er sie wahrgenommen und als feindlich erkannt hat. Gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt wurden Betriebsräte und Gewerkschaften gegründet. Dagegen ist der Mensch der heute vorherrschenden Gewalt der »Überproduktion, Überleistung und Überkommunikation«, wie Han es nennt, weitgehend hilflos ausgeliefert. Er erkennt sie gar nicht als Gefahr. Für die Beschreibung der neuronalen Erkrankungen wie Depression, ADHS oder BS [Burnoutsyndrom, HE] ist … das Schema von Innen und Außen oder von Eigenem und Anderem (nicht geeignet) … Die Gewalt geht nicht von einer systemfremden Negativität aus. Sie ist vielmehr eine systemische, d. h. dem System immanente Gewalt.16

Darum wird zum Beispiel ein Burnout erst so spät – und manchmal nur von anderen – erkannt. Bedenklich ist nach Han, dass durch diese Phänomene die freiwillige Selbstausbeutung der Menschen ständig wächst. Der Exzess der Arbeit und Leistung verschärft sich zu einer Selbstausbeutung. Diese ist effizienter als die Fremdausbeutung, denn sie geht mit dem Gefühl der Freiheit einher. Der Ausbeutende ist gleichzeitig der Ausgebeutete. Täter und Opfer sind nicht mehr unterscheidbar … (D)er Herr selbst (ist) ein Arbeitsknecht geworden. In dieser Zwangsgesellschaft führt jeder sein Arbeitslager mit sich. Die Besonderheit dieses Arbeitslagers ist, dass man Gefangener und Aufseher, Opfer und Täter zugleich ist. So beutet man sich selbst aus.17

Dieser Prozess der Leistungssteigerung führt nach Byung-Chul Han zum Infarkt der Seele. Das von Han beschriebene Phänomen der Selbstausbeutung drückt sich z.B. in längeren Arbeitszeiten, in ständiger Erreichbarkeit und permanenter Handypräsenz aus. E-Mails werden noch um Mitternacht abgerufen – es könnte ja etwas Wichtiges dabei sein. Und im Urlaub werden in der Firma oder Hochschule Mobiltelefonnummern hinterlassen, um im Notfall immer erreichbar zu sein. Und wo man an natürliche Grenzen stößt, greift

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B.-C. Han, Müdigkeitsgesellschaft, 17f. B.-C. Han, Müdigkeitsgesellschaft, 24f. und 37f.

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man zum Doping oder – vornehmer ausgedrückt – zum Neuro-Enhancement. Schon Schüler und Studierende greifen zu Mitteln, die alles aus ihrem Gehirn herausholen sollen. Brechen wir an dieser Stelle mit der etwas bedrohlichen Situationsanalyse ab und fragen danach, was hier denn helfen könnte. Dabei soll mit einem Exkurs zur sogenannten Ratgeberliteratur begonnen werden.

2. Guter Rat ist teuer – Die Problematik der Ratgeberliteratur Keiner der beschriebenen soziologischen Entwürfe bietet praktikable Lösungsangebote. Es scheint weithin Ratlosigkeit vorzuherrschen, die sich andere zunutze machen und teilweise viel Geld damit verdienen. Auf dem Hintergrund des gesellschaftlichen Drucks ist in den letzten Jahrzehnten ein sprunghafter Anstieg der Ratgeberliteratur und Coachingangebote zu verzeichnen. Auf fast allen Ebenen des täglichen Lebens und Zusammenlebens suchen Menschen heute nach kompetenter Anleitung. Und es wird ihnen von verschiedenen Seiten professionelles Coaching angeboten. Nun ist gegen gute Ratgeber nichts einzuwenden. Ich bin zum Beispiel froh, dass es Kochbücher gibt, die mir helfen, die richtigen Mengenangaben für die Zubereitung von Speisen zu finden. Und auch auf die Reparaturanleitung meines Motorrads möchte ich nicht verzichten, weil ich sonst Sorge hätte, die Maschine nicht mehr zum Laufen zu bringen. Aber die moderne Ratgeberliteratur hat auch ihre Tücken. Und diese machen sich dann besonders gravierend bemerkbar, wenn es sich um Ratgeber für das gelingende Leben als Ganzes handelt und nicht nur für überschaubare Teilbereiche wie das Kochen oder Reparieren von Motorrädern. Wie kann ich aber gute, sinnvolle Lebenshilfe von problematischer unterscheiden? Ich möchte im Folgenden drei Kriterien anbieten und stütze mich dabei vor allem auf Untersuchungen der beiden Bochumer evangelischen Theolog*innen Isolde Karle und Günter Thomas.18 (1) Im Blick auf das gelingende Leben setzen Lebensratgeber oft gerade auf die Prinzipien, die sich in unserer gesellschaftlichen Analyse im ersten Teil als problematisch herausgestellt haben. So gehen viele psychologische und spirituelle Ratgeber von einer »sehr weitreichenden Gestaltbarkeit und Steuer-

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Vgl. I. Karle, Auf der Suche nach Rat. Paradoxien, Herausforderungen und Perspektiven und G. Thomas, Lässt sich das Leben mit klugen Regeln bewältigen? Erwägungen zu einer evangelischen Theologie des Gesetzes in: I. Karle (Hg.), Lebensberatung – Weisheit – Lebenskunst, Leipzig 2011.

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barkeit des Lebens aus … Den Individuen wird suggeriert, sie könnten letztlich alles, was sie wollten, wenn sie es nur ernsthaft wollten«19. Aber das ist ja genau die Falle, in der nach Alain Ehrenberg das erschöpfte Selbst gefangen ist und sich nicht befreien kann. Isolde Karle schreibt dazu: Die Ratgeberliteratur nimmt eine Volitionswelt an …, also eine Welt, in der alles über Willenskraft und über Selbststeuerung läuft und Absichten gezielt in Ergebnisse umgesetzt werden können … Dass sich viele Einflussfaktoren dem Individuum entziehen, ja, dass das eigentliche Leiden vieler Individuen gerade darin besteht, sich nicht nach Wunsch und auf Kommando hin verändern zu können, wird in der Regel ausgeblendet.20

Und so verschärft ein großer Teil der Lebensratgeber genau das Problem, das sie lösen sollen. Individuen sorgen für ihre Selbstoptimierung mit Hilfe von Beratungsliteratur und passen sich gerade so an die ökonomisierte Gesellschaft an, die wie die Ratgeberliteratur auf Wachstum, Steigerung und kreative Entfaltung setzt. Jeder soll zu seinem eigenen Unternehmer werden und lernen, sein Leben, sein Glück, selbst seine Konflikte zu managen und die Kontrolle über sich selbst und seine soziale Umwelt zu steigern.21

Das erste Kriterium für gute Ratgeberliteratur heißt darum: Guter Rat ist dann gut, wenn er das Problem nicht noch verstärkt. (2) Führen die Ratgeberliteratur oder die Coachingkurse dazu, dass ich mein Leben wirklich lebe oder dass ich in eine Dauerbeobachtung meines Lebens gerate? Es scheint Zeitgenoss*innen zu geben, die aufgrund von Ernährungsratgebern oder Gesundheitscoachs gar nicht mehr in der Lage sind, ihr Leben fröhlich und genussvoll zu leben. Immer muss genau beurteilt und abgewogen werden, was man zu sich nimmt, welches Bewegungspensum man einhalten muss oder welche negativen Gedanken man ja nicht denken darf, um nicht krank zu werden.22 An die Stelle des Vertrauens in das Leben tritt die Selbstbeobachtung. Diese Selbstbeobachtung aber, so der Theologe Günter Thomas, »droht das Leben zu blockieren oder gar zu ersetzen. Am Ende dreht sich alles nur noch um die Erfüllung des Gesetzes. Dann dient nicht mehr das Gesetz dem Leben, sondern die Menschen dienen dem Gesetz.«23 Und das ist anstrengend. Daher lautet das zweite Kriterium für gute

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I. Karle, Auf der Suche nach Rat, 170. I. Karle, Auf der Suche nach Rat, 171. I. Karle, Auf der Suche nach Rat, 172. Ich meine hier natürlich nicht die krankheitsbedingten Diätvorschriften wie z. B. beim Diabetes o. ä. G. Thomas, Lässt sich das Leben mit klugen Regeln bewältigen? 164.

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Ratgeber: Guter Rat ist dann gut, wenn er der Unmittelbarkeit des Lebensvollzuges zugutekommt. (3) Ein drittes Kriterium, um gute Ratgeber von problematischen zu unterscheiden, ist die Frage, wer den Schwarzen Peter zugeschoben bekommt, wenn das Leben nicht so gelingt, wie im Ratgeber oder Coachingkurs versprochen. Meist geht es in der Ratgeberliteratur dann nach dem Motto »Im Zweifelsfall gegen den Angeklagten.« Günter Thomas schreibt: Im Zweifelsfall wird das Scheitern der Beratung dem Anwender zugerechnet. Wer scheitert, scheitert nicht wegen der Ratschläge, sondern wegen mangelnder Konsequenz, Einsicht oder Bereitschaft. Darum ist jedes Scheitern ein weiteres Indiz für die Wahrheit und Notwendigkeit weiterer Beratung.24

So hält man sich als Berater*in im Geschäft und die Beratenen in Unsicherheit. Die Logik problematischer Beratung läuft darauf hinaus, dass sie den Menschen nicht in die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens entlässt. Denn dann würde sie sich ja selbst aufheben und überflüssig machen. Das darf nicht passieren, denn das neue Buch und der aktuelle Newsletter wollen ja verkauft werden. Das dritte Kriterium lautet deshalb: Guter Rat ist dann gut, wenn er Hilfe zur Selbsthilfe bietet bzw. aus Abhängigkeiten in Freiheit führt. Um hier nicht missverstanden zu werden, möchte ich noch einmal unterstreichen: Natürlich gibt es sinnvolle und gute Beratung – auch gute Lebensberatung. Davon habe ich selbst schon profitiert. Aber sie muss den genannten Kriterien standhalten, um Leben zu fördern und nicht die Erschöpfungsspirale zusätzlich zu verschärfen.

3. Befreiende Impulse der Reformation. Ein Plädoyer für Gelassenheit und Nachhaltigkeit Ich teile die Ansicht der eingangs zitierten Soziologen, dass sich das Rad der gesellschaftlichen Entwicklung nicht zurückdrehen lässt. Dennoch denke ich, dass der Mensch den genannten gesellschaftlichen Faktoren auch nicht einfach hilflos ausgeliefert ist. Der Mensch ist das Lebewesen, das sich zu sich selbst verhalten kann und das daher nie nur den Umständen ausgeliefert ist. Was aber kann nachhaltig helfen in Zeiten von Erschöpfung und Müdigkeit? Die Theologie hat vor etwa 25 Jahren begonnen, auf die beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen der Spätmoderne zu reagieren. Der Praktische Theologe Rolf Schieder von der Berliner Humboldt-Universität veröffentlichte 1994 einen vorausschauenden und später viel zitierten Aufsatz mit 24

Ebd.

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dem Titel »Seelsorge in der Postmoderne«.25 Manche soziologische Einsicht vorwegnehmend, stürzt nach Schieders Analyse in der Spätmoderne das Neue so rasch und massiv auf den Menschen ein, dass es kaum mehr in das Leben integrierbar ist. Beschleunigung und Möglichkeitsüberschuss steigern die Komplexität der Gesellschaft und der Beziehungen zueinander. Diese äußere Pluralisierung – so die These des Postmodernetheoretikers Wolfgang Welsch – erzwingt eine innere Pluralisierung.26 Das Individuum vermag kaum mehr eine konstante und konsistente Identität aufzubauen. Auf dem Hintergrund der Multioptionsgesellschaft kommt es zur Ausbildung der vielzitierten Patchwork-Identität – und das unter sorgfältiger Beobachtung und Bewertung unserer Mitmenschen. Der Philosoph Karl R. Popper hat es treffend formuliert: »Wir sind dazu erzogen, bei allen unseren Handlungen die Galerie [der Mitmenschen, HE] im Auge zu behalten«27. Wir müssen uns permanent rechtfertigen für das, was wir tun. Aus diesen Einsichten zieht Rolf Schieder die Konsequenz, dass es heute angesichts des enormen Möglichkeitsüberschusses die entscheidende Herausforderung für Theologie und Kirche sei, dem Menschen zu einer heilsamen Selbstbegrenzung – und damit zu Gelassenheit und Nachhaltigkeit – zu verhelfen. Im Rückgriff auf biblische Impulse und auf Überlegungen des Philosophen Sören Kierkegaard erinnert Schieder daran, dass der christliche Glaube die heilsame Grenze setzt, als Mensch nicht selbst Gott spielen zu müssen. Im Blick auf das göttliche Gegenüber schenkt der Glaube den Mut, die eigene Endlichkeit und Begrenztheit wahrzunehmen und anzunehmen. Im Vertrauen darauf, dass bei Gott alle Dinge möglich sind, muss der Mensch nicht verzweifelt der Macher aller Dinge und seiner selbst sein. Aus dieser Freiheit heraus eröffnen sich dann jene realistischen Möglichkeiten, die verwirklicht werden können im Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Ähnliches formulierte zur gleichen Zeit der Baseler Praktische Theologe Albrecht Grözinger in seinem Essay »Differenz-Erfahrung«.28 Nach Grözinger erfahren sich die Menschen in der Begegnung mit Gott als Fragmente, als unfertige Geschöpfe in einer unfertigen Welt. Dies ist aber durchaus nicht negativ zu sehen. Denn wo die Theologie an den fragmentarischen Charakter menschlichen Lebens erinnert, entlastet sie auf eine wirksame Art und Weise von dem Druck des Perfektionismus und der Leistungssteigerung, der von 25 26 27 28

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R. Schieder, Seelsorge in der Postmoderne, in: WzM 46 (1994), 26–43. Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 5. Aufl., Berlin 1997. K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 4. Aufl., München 1975, 341. A. Grözinger: Differenz-Erfahrung. Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft. Ein Essay, Waltrop 1994.

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den Prozessen der Spätmoderne ausgeht. Die Erinnerung an die biblische Gottes-Erzählung kann zeigen, dass der Mensch sich immer schon als Gegenüber und Ebenbild Gottes wertgeschätzt weiß – vor allen Versuchen biographischer Konstruktion. Um es in einem Bild zu sagen: Ich kann und darf wie ein Maler Farbtupfer setzen auf dem Gemälde, das mein Leben ist. Aber ich darf auch – wie der späte Maler Paul Cézanne – weiße Flecken auf diesem Gemälde lassen, weil ich weiß, dass Gott dieses Gemälde vollenden wird. Das befreit mich von Totalitätsansprüchen in der Gegenwart. Beide Theologen, Schieder und Grözinger, argumentieren auf dem Boden der für die Reformation vor 500 Jahren so zentralen Rechtfertigungslehre. Diese besagt, dass der – wie Luther es formulierte – in sich verkrümmte und in seinen religiösen Leistungsansprüchen gefangene Mensch im Glauben an Gott zu neuem Leben befreit wird. Im Bewusstsein des großen, freundlichen »Ja« Gottes zum Menschen und zur Welt, muss der Mensch sein Heil und Ziel nicht mehr im permanenten Ausschöpfen all seiner eigenen Möglichkeiten und Ressourcen suchen. Der Unterschied von Rolf Schieders und Albrecht Grözingers Überlegungen zum Großteil der Ratgeber- und Coachingliteratur liegt darin, dass hier eben nicht im Modus des Gesetzes und der gesteigerten Aktivität, sondern im Modus des Evangeliums und der heilsamen Passivität gesprochen wird. Dabei darf das Wort Passivität nicht missverstanden werden, so als ob der gerechtfertigte Mensch untätig oder gar hilflos wäre. Ein Leben aus der Rechtfertigung will eingeübt und gestaltet werden, um nachhaltig zu sein. Solch ein nachhaltiger Lebensstil kann bei ganz einfachen Dingen beginnen, wie z. B. bei der heilsamen wöchentlichen Unterbrechung durch den Besuch eines Gottesdienstes. Nicht nur, dass man sich durch einen regelmäßigen Gottesdienstbesuch etwas Gutes tut und – wie empirische Untersuchungen zeigen – sein Leben um einige Jahre verlängert. Das von Vielen heute kaum mehr wahrgenommene religiöse Sonntagsritual setzt auch ein gesellschaftspolitisches Zeichen. In einem Interview sagte unlängst der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann: Jeder Gottesdienst ist eine radikale Unterbrechung, weil er unsere gesellschaftlichen Plausibilitäten und unsere persönliche Ichbezogenheit infrage stellt. Und er wird gerade dadurch zu einem wertvollen Zeichen, zu einem Geschenk auch für diejenigen, die gar nicht mitfeiern oder daran glauben.29 Ich erspare mir aus Platzgründen weitere Beispiele nachhaltiger Spiritualität.30 29 30

Christ in der Gegenwart 2017, Nr. 7, 79. Vgl. dazu A. Beringer, Evangelische Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit. Unterwegs zu einer zeitgemäßen reformatorisch-transformativen Glaubenspraxis, in: P. Zimmerling (Hg.): Handbuch Evangelische Spiritualität, Bd. 2: Theologie, Göttingen 2018, 65–88. An

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So paradox es klingt: Aus theologischer Perspektive geschieht die Einübung in einen nachhaltigen Lebensstil dort, wo ich aus dem Vertrauen darauf lebe, dass die neue Welt und der neue Mensch im Wesentlichen nicht aus den eigenen Optimierungskräften, sondern von Gott, dem Schöpfer und Vollender der Welt, zu erwarten sind. Der Mensch muss nicht wie Atlas aus der griechischen Mythologie die Welt auf seinen Schultern tragen und sich daran überheben. Vielmehr kann man von dem Reformator Martin Luther lernen, der in seiner zweiten Invocavitpredigt im Jahr 1522 sagte: »Ich habe allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst hab ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Philipp Melanchthon und mit Amsdorf getrunken habe, alles bewirkt und ausgerichtet«.31 Es war die reformatorische Entdeckung der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, die Luther solche Gelassenheit schenkte. Und aus dieser Gelassenheit heraus können Kräfte für eine Weltgestaltung mit Maß und Ziel erwachsen. Ich schließe mit Gedanken des eingangs erwähnten Soziologen und Politikwissenschaftlers Hartmut Rosa und verbinde dadurch meine theologischen Überlegungen – gut praktisch theologisch – wieder mit einem soziologischen Konzept. Rosa hat im letzten Jahr in Fortführung und Ergänzung seines Werks »Beschleunigung« einen soziologischen Entwurf mit dem Titel »Resonanz« skizziert. Das Buch wurde schnell zum Bestseller, was zumindest darauf hinweist, dass es einen Nerv unserer Zeit getroffen hat. Resonanz ist nach Rosa eine Art Gegenbegriff zur Dynamik der Beschleunigung und der von ihr erzeugten Entfremdung in der Moderne. Resonanz ist kein Reformprogramm zur Verbesserung der Welt, sondern eine neue – oder besser gesagt: eine wieder neu entdeckte – Art und Weise, in der Welt zu sein, eine alternative Form der Weltbeziehung. Resonanz ist keine Optimierung des gegenwärtig üblichen Umgangs mit der Welt im Sinne eines »schneller«, »höher« und »weiter«. Dieses herkömmliche Muster der Moderne führt nach Rosa nur zu einer noch stärkeren Entfremdung zwischen Subjekt und Welt. Resonanz ist vielmehr »eine Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren … Resonanz ist das (momenthafte) Aufscheinen, das Aufleuchten einer Verbindung zu einer Quelle starker Wertungen in einer überwiegend schweigenden und oft auch

31

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dieser Stelle sei der Hinweis auf den berufsbegleitenden Masterstudiengang der Theologischen Hochschule Reutlingen mit dem Titel »Christliche Spiritualität im interkulturellen und interreligiösen Kontext« erlaubt, in dem die Frage nach einer zeitgemäßen, nachhaltigen Spiritualität im Mittelpunkt steht. Zitiert nach der Insel Ausgabe, hg. V. K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. 1, Frankfurt/M. 1982, 280.

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repulsiven Welt.«32. Solche Resonanz bringt die Welt wieder zum Klingen und zum Sprechen. Sie kann sich in den unterschiedlichsten Weltbezügen einstellen, in Familie, Freundschaft und Politik, in Schule, Arbeit und Sport, in Kunst, Natur, Geschichte und Religion. Dagegen signalisieren die Zeitkrankheiten Depression und Burnout einen Zustand, in dem alle Resonanzen stumm und taub geworden sind. So pessimistisch Hartmut Rosa in seinem Entwurf »Beschleunigung« im Blick auf die Zukunft vor stark zehn Jahren noch zu sein schien, so hoffnungsvoll gibt er sich in seinem Buch »Resonanz« und macht Mut zur Weltveränderung: Wir können an der Qualität unserer Weltbeziehung noch heute zu arbeiten beginnen; individuell am Subjektpol dieser Beziehung, gemeinsam und politisch am Weltpol. Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten.33

In welche Richtung die Veränderung der Weltverhältnisse gehen kann, deutet er am Ende des Buchs mit Begriffen wie Postwachstumsgesellschaft, voraussetzungsloses Grundeinkommen, Demokratisierung der Wirtschaft und kollektives Gestalten des Gemeinwesens an. Natürlich weiß Rosa auch, dass angesichts der herrschenden Weltverhältnisse »solchen Initiativen und Aktionen unter den gegenwärtigen Bedingungen etwas Hilfloses und Vergebliches, wenn nicht gar Naives an(haftet) … Bestenfalls bilden sie nur kleine Oasen, kleine Inseln im weiten Meer des Steigerungsgeschehens. Aber Resonanz hat dort, wo sie entsteht, ein überschießendes Potential: Solche Initiativen sind nicht vergeblich, denn sie halten zumindest die Ahnung und den Wunsch nach einer anderen Form der Weltbeziehung am Leben.«34 Da ich kein Experte für die weltliche Ökonomie bin, breche ich an dieser Stelle ab. Die göttliche Ökonomie – wie Theologen die gute Geschichte Gottes mit seiner Welt nennen – habe ich dagegen verhältnismäßig gründlich studiert. Und deshalb sind mir bei der Lektüre von Hartmut Rosas Entwurf zur Resonanz interessante Parallelen zur reformatorischen Rede von der Rechtfertigung aufgefallen. Hier wie dort geht es darum, dass aus einer stummen Weltbeziehung, in der der Mensch im Modus der Leistungssteigerung und des Ressourcenverbrauchs gefangen ist, wieder eine klingende und sprechende wird. Martin Luther beschreibt an mehreren Stellen seines Werks, wie die göttliche Rechtfertigung dem Menschen wieder neu die Ohren, Augen

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H. Rosa, Resonanz, 298.317. H. Rosa, Resonanz, 762. H. Rosa, Resonanz, 736.

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und das Herz öffnet zur Wahrnehmung der Welt als Schöpfung, die uns anredet, die klingt und singt und ins Staunen führt.35 Und die Begriffe, mit denen Rosa die resonante Weltbeziehung soziologisch und philosophisch beschreibt, sind nahezu identisch mit denen, die die christliche Theologie mit der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben verbindet. Diese Begriffe heißen Annahme, Wertschätzung, Berührung durch das unverfügbar Andere, Vergebung, Bedingungslosigkeit und der Wechsel vom Modus des Kämpfens hin zum Modus der Lebensgewissheit.

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Vgl. O. Bayer, Aus Glauben leben. Über Rechtfertigung und Heiligung, Stuttgart 1984, bes. 30f.; ders. Schöpfung als Anrede, Tübingen 1986.

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Ein guter Hirte will ich sein1 Matthias Kapp

1. Hirte oder nicht Hirte, das ist hier die Frage 1.1 Die Lachnummer Beginnen wir mit einer Provokation. In Friedrich Nietzsches »Nachgelassenen Fragmenten« von 1886 findet sich ein Stück mit dem Titel »Kein Hirt und Eine Heerde!«. Der Untertitel lautet »Gegen die Heerden-Moral. Eine Kriegserklärung«. Nietzsche setzt sich darin mit den aus seiner Sicht ganz und gar unguten Dynamiken des »Heerdenthieres Mensch« auseinander: Zum Lachen! – Seht hin! Seht hin! Er läuft von den Menschen weg: diese aber folgen ihm, weil er vor ihnen herläuft, – so sehr sind sie Heerde!2 Es ist hier von einem Hirten die Rede, der gar nicht Hirte sein will, aber von der Herde zu einem gemacht wird, indem sie hinter ihm herläuft. Herde will geführt werden. Doch erkennt Nietzsche in dieser Vereinnahmung des Hirten auch ein Machtspiel. Nietzsche geht davon aus, dass es unter den Menschen zum einen die Stärkeren, Mächtigeren, Weiseren, Fruchtbareren gibt. Die Masse aber kompensiert ihre Unterlegenheit dadurch, dass sie sich zusammenschließt. Dem »aristokratischen Pathos« der Distanz der Oberen setzt die Herde ein Ethos der Egalität und Nächstenliebe entgegen. Der Instinkt der Heerde schätzt die Mitte und das Mittlere als das Höchste und Werthvollste ab: die Stelle, auf der die Mehrzahl sich befindet; … die Heerde empfindet die Ausnahme, sowohl das Unter-ihr als das Über-ihr als etwas, das zu ihr sich gegnerisch und schädlich verhält. Ihr Kunstgriff in Hinsicht auf die Ausnahmen nach Oben, die Stärkeren, Mächtigeren, Weiseren, Fruchtbareren ist, sie zur Rolle der Hüter, Hirten, Wächter zu überreden – zu ihren ersten Dienern: damit hat sie eine Gefahr in einen Nutzen umgewandelt.3

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Dieser Vortrag, gehalten am 14.3.2018 auf der Distriktsversammlung der Hauptamtlichen des Stuttgarter Distrikts der Evangelisch-methodistischen Kirche, wurde für den Abdruck nur geringfügig bearbeitet. Ursprünglich lautete der vorgegebene Titel: »Vom Sie zum Du – der Wandel im Amtsverständnis der EmK«. Friedrich Nietzsche, nachgelassene Fragmente, 1886, 5, zitiert nach Ulrich Bröckling: Gute Hirten führen sanft, Berlin 2017, S.27. Ders. 1887,10 (Bröckling S. 29).

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Uns, die wir schon dem Namen nach dem Stand der Hirten angehören, muss das ärgern. Vielleicht, weil wir uns ja selbst im »aristokratischen Pathos der Distanz« üben, oder ihm zumindest nachtrauern? Vielleicht schmücken wir uns deshalb mit Collarhemd, oder achten streng auf Augenhöhe mit katholischen oder evangelischen »Hochwürden«? Vielleicht, und da finde ich mich selbst nun wieder, schmeichelt es uns aber auch, dass die Herde uns so folgsam ist, immer schon, und treu, und tut, was wir sagen. Dass sie uns auch lobt für die schöne Predigt. »Und sogar die liebe Frau ist heute mit zum Besuch gekommen«. Und wie fleißig er doch sei und immer zu erreichen. Wie sehr man doch froh sei am guten Pastor! Aber nun hält Nietzsche uns eben einen Spiegel vor und lacht über uns. Er lacht über den Hirten ohne Autorität, der selbst im Davonlaufen noch instrumentalisiert wird, anstatt selbst die Leitfigur zu sein und den Weg zu weisen; und den Auftrag, die Berufung, zu erfüllen, die ihm doch gegeben ist. 1.2 Abschied vom Hirte-Sein? Eine Lachnummer will man freilich nicht sein. Ist dies der Grund, warum wir als Pfarrer- und Pastorinnenschaft anscheinend ständig auf der Suche nach einem neuen Berufsbild sind? Die Themenstellung, die mir gegeben wurde, benennt es ja ohne Fragezeichen, dass da ein Wandel im Amtsverständnis zu konstatieren sei. Holger Eschmann als methodistische Fachkraft spricht in seiner aktuellen Vorlesung zur Pastoraltheologie vorsichtiger nur von einer Verunsicherung.4 Die neuere Fachliteratur behandelt die Frage nach einem Wandel im Berufsbild intensiv, fordert ihn auch ein, kann freilich aus meiner Sicht noch nicht benennen, in welche Richtung der Wandel eigentlich gehen wird. Gerne gebe ich ein paar Expertenmeinungen weiter: Michael Klessmann, zuletzt Professor für Praktische Theologie und Pastoralpsychologie in Wuppertal, resümiert in seiner neuesten Veröffentlichung zur Pastoraltheologie5: Die Persönlichkeit des Pfarrers spiele eine zunehmend wichtige Rolle. Klessmann beschreibt die Rolle, die ein Pfarrer mit seinem ganzen Personsein einnehmen können müsste, als die des »verwundeten Heilers«. Peter Böhlemann, Dozent und Leiter des Instituts für Aus- Fort- und Weiterbildung in Villigst, hat zum Thema zwei Bücher veröffentlicht: Wie die Kirche wachsen kann und was sie davon abhält6 und gemeinsam mit Michael

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Aus dem Vorlesungsmanuskript des Sommersemester 2016. Michael Klessmann, Das Pfarramt. Einführung in Grundfragen der Pastoraltheologie, Göttingen 2012. Göttingen 2009.

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Herbst Geistlich leiten. Ein Handbuch7. Er beklagt die von Klessmann beschriebene Tendenz der Fokussierung auf die Person des Amtsträgers und schreibt: »Nirgendwo ist Kirche so pfarrerzentriert und nirgends so leblos«. Für ihn bedeutet das: »Es gibt kein tragfähiges protestantisches Amtsverständnis ohne ein tragfähiges Gemeindeverständnis«8. Mit diesem Wunsch, die Gemeinde stärker in die Verantwortung zu nehmen, also zum Wohl der Kirche das Allgemeine Priestertum zu stärken, steht er nicht alleine. Und zwar, so Böhlemann, sollte man dabei nicht nur die sogenannte »Kerngemeinde« im Blick haben. Statt von Kerngemeinde spricht er von »Fruchtfleischgemeinde« – was für ein schönes Bild vor unseren Augen! Weil wir gerade in Villigst sind, wo ja auch wir EmK-Pastoren uns inzwischen zu unseren Fort- und Weiterbildungen anmelden dürfen, weise ich auf folgende Ausschreibung hin, im aktuellen Curriculum die Nummer 2.1.6: Professionell und gelassen den Pfarrberuf gestalten: Der Pfarrberuf als Profession thematisiert Grundfragen des Menschseins und zielt in Verkündigung, Seelsorge und Bildung auf deren Darstellung und Bewältigung. Diese Aufgabe kann nur aus einer Haltung der Authentizität bewältigt werden. Ist im Namen der Glaubwürdigkeit aber die Verschmelzung von Person und Amt unausweichlich? Was heißt dann Professionalität? Kann es gelingen, eine reflektierte Distanz zu wahren, ohne sich persönlich zu distanzieren? Jede und jeder lebt eine eigene Version zur Grenzenlosigkeit, die im Pfarrberuf unausweichlich ist. Wir wollen -theologisch reflektiert und kollegial unterstützend – ein Arbeitsethos erkunden, das Grenzen erlaubt. Das Ziel heißt Berufszufriedenheit, der Gewinn ist Gesundheit.

Ich glaube, dass in diesem Ausschreibungstext die Problematik, die wir Hauptamtlichen empfinden, ziemlich gut erfasst ist. Und wenn man dann noch liest, dass die »entspannende Ruhe eines schönen Ortes in niederrheinischer Grenzlage« dem Kurs seinen Rahmen gibt, will man sich doch fast gleich anmelden. Und doch meine ich zu hören, wie Friedrich Nietzsche bei so viel wohlformulierter Achtsamkeit soeben in einen erneuten Lachanfall ausbricht. Aber gehen wir weiter in unserem kurzen Literatur-Umblick: Für die Freien Evangelischen Gemeinden hat Andreas Heiser die Veränderung des Pastorenbildes untersucht.9 Dieses sei »in der Beschreibung der 7 8 9

Göttingen 2011. Peter Böhlemann: Wie die Kirche wachsen kann und was sie davon abhält, Göttingen 2009, 35. Andreas Heiser, Ein Pastor, was ist das?, in: Markus Iff, Andreas Heiser (Hg.): Berufen, beauftragt, gebildet – Pastorales Selbstverständnis im Gespräch. Interdisziplinäre und ökumenische Perspektiven, Göttingen 2012, 103f. Vgl. jetzt auch: Christian Bouillon, Andreas Heiser, Markus Iff (Hrsg.): Person, Identität und theologische Bildung, Stuttgart 2017.

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Funktion zunehmend an der Situation und den Erwartungen der Gemeinde« ausgerichtet. Wer zahlt, schafft an, könnte man da wohl sagen. Die Leistung der im Angestelltenverhältnis geführten Pastoren werde zunehmend formalisiert und kritisch beurteilt, es werde eine höhere Selbststeuerung erwartet, zugleich würden aber auch neue Freiheiten in der Amtsführung zugestanden. Isolde Karle von der Ruhr-Universität Bochum beschreibt in ihrem Buch Pfarrberuf als Profession10, dass die Tendenz im Pfarrberuf zunehmend in Richtung Funktionalisierung geht. Es fände geradezu eine Funktionsexplosion statt. Eben weil der Pfarrberuf so vielseitig sei brauche es diese Spezialisierung und Professionalisierung der Teilbereiche. Die Worte »pluriform« und »Überkomplexität« tauchen auf. Der Pfarrberuf sei »höchst voraussetzungsreich«, und dazuhin mit einem »Ungewissheitshorizont belastet«, der u. a. darin begründet ist, dass »psychische Systeme durch Kommunikation sich zwar stimulieren und anregen, aber nicht steuern lassen«. Die Studierenden im Masterstudiengang an unserer Theologischen Hochschule in Reutlingen lernen all diese Ansätze kennen. Ob das wirklich hilfreich für sie ist, weiß ich nicht zu sagen. Die Verunsicherung, von der bei Holger Eschmann die Rede war, ist freilich bei den meisten unserer Predigtamtskandidatinnen und -Kandidaten mehr oder weniger deutlich zu spüren. Nach diesem Blick in die Hochschullandschaft stehen wir immer noch bei der Frage, ob wir einen Wandel im Amtsverständnis brauchen, bzw. ob es diesen vielleicht schon gibt. Wenn ja, wo ließe sich ein solcher Wandel nachweisen? Im Wandel vom »Sie« zum »Du«, wie es im heutigen Vortragstitel heißt, doch wohl eher nicht. Was sich jedenfalls nicht gewandelt hat, sind unsere Ordinationsfragen und damit der Rahmen, der uns vorgegeben ist. Was sich nicht wesentlich gewandelt hat, ist das System der Prüfung und Empfehlung und Beurteilung, durch das wir unsere Kandidaten und Kandidatinnen schicken. Dies ist ja der Filter, mit Hilfe dessen wir unsere Personalpolitik betreiben. Was allerdings seit meiner eigenen Empfehlung und Ordination wesentlich präziser und strenger geworden ist, das ist die VLO, und zwar an den Stellen, wo sie vom Amtsverständnis handelt.11 »Erkennbare Zeichen des Glaubens, Lebens und Handelns« werden da gefordert, »angesichts des Einflusses, den Ordinierte in und außerhalb der Kirche haben« (Art 304). Art 320 zitiert dann die Prüffragen Wesleys, und die Kandidaten müssen Antwort geben, ob sie einen sündenvergebenden Gott kennen, ob die Liebe Gottes in ihnen wohnt, ob sie heilig sind in ihrem Lebenswandel, ob sie Gaben haben und Frucht. »Ist je-

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3. Aufl., Stuttgart 2011. Verfassung, Lehre und Ordnung der EmK, Ausgabe 2012.

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mand durch ihren Dienst wahrhaft von der Sünde überzeugt und zu Gott bekehrt worden, und wurden Gläubige durch sie gestärkt?« Die Ordnung, auf die ich ordiniert wurde, war da viel unschärfer im wahrsten Sinn des Wortes. Allerdings wüsste ich nicht, wo und wann diese neue Schärfe, vielleicht könnte man auch sagen: diese Würze!, in unserem Konferenzalltag eine Rolle spielt. Schließlich der ausführliche Artikel 340. Als Stefan Herb bei seinem Vortrag hier auf der DV vor 3 Jahren diesen Artikel im Wortlaut zitierte, hat er zwar geurteilt, man könne daraus problemlos »die Aktenordnung eines Bezirks ableiten«, so sehr sei er auf Bestandssicherung ausgerichtet. Wohl wahr. Und doch finden wir auch hier Würziges! Fast scheint es aber so, als würde diesem Artikel gegen Ende die Kraft ausgehen, nur noch stichwortartig wird der vierte und letzte Punkt ausgeführt. Aber genau da wird meines Erachtens ein Amtsverständnis formuliert, das an Anspruch kaum zu überbieten ist. Überschrift: Dienst. Unterpunkt a): »Jesu Lehre im eigenen Dienstauftrag und Leitungsdienst verkörpern«. Jesu Lehre verkörpern – darauf wird zurück zu kommen sein. 1.3 Das Leitbild des Kundschafters Es ist ja wohl kein Zufall, sondern vom Distriktsvorbereitungsausschuss sicherlich am Puls der Pastorenschaft gemessen, dass innerhalb von drei Jahren erneut ein Vortrag zum Amtsverständnis angefragt wurde. Was Stefan Herb euch damals geboten hat, war nicht nur die Summe seiner 14-jährigen Beschäftigung mit der Theorie des Geistlichen Amtes, sondern eben auch das Ergebnis seines sehr persönlichen Fragens nach dem, was wir denn da tun als Pastoren, und was es sein könnte und sein müsste. Ich selbst finde diesen Vortrag etwas vom Besten, was ich je zum Thema gelesen habe und kann nur empfehlen, dass ihr ihn euch noch einmal vergegenwärtigt.12 Stefan hat uns dazu geraten, unsere frühe Kirchengeschichte ernst zu nehmen, uns neu ein Vorbild zu nehmen an dem curcuit rider, der zu Pferd auf seinem Bezirk unterwegs war. Denn dies bedeute: weg zu kommen von dem stark auf Bestandswahrung ausgerichteten Hirte-und-Herde-Leitbild. Nicht die »Kirche der Geretteten« sei dann im Blick, sondern Pastoren würden zum »Vortrupp des Lebens« (nach Helmut Gollwitzer). Stefan Herbs Leitbild war das des »Kundschafters«. Kundschafter des Reiches Gottes sollen wir sein und »leiten durch anleiten«. Als Kundschafter lernen wir zu sehen, wo Leben 12

Stefan Herb: Kundschafterinnen und Kundschafter des Reiches Gottes. Amtsverständnis und Geistliche Gemeindeleitung in der Evangelisch-methodistischen Kirche, in: Theologie für die Praxis 41 (2015), 26–48.

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wächst, lernen neu zu hören, tauchen ein in die Schrift und erbringen aus diesem Land wunderbare Lesefrüchte. Wenn ich dieses Leitbild des Kundschafters auf dem Hintergrund unseres jetzigen Themas der Distriktversammlung richtig deute, dann ist es völlig egal, ob man zum Kundschafter Sie oder Du sagt. Seine Autorität hat der Kundschafter nicht aus einer mehr oder weniger großen Volks-Nähe. Der Kundschafter ist einer, der von sich wegweist. Der den Blick lenkt auf das Reich Gottes. Der die Sehnsucht weckt. Er öffnet die Augen und Herzen für das, was kommt: »Die Zukunft ist kein Überraschungsei«, schreibt Stefan Herb, sondern kann und will heute schon erkundet werden, und dann können wir für dieses Reich in der Welt jetzt schon deutlich sichtbar Zeichen setzen. Mir gefällt dieses Bild, und es ist mir auch selber wichtig geworden. Ich habe damit aber auch ein Problem, und das hängt mit der biblischen Kundschaftergeschichte zusammen. Denn: Wie geht diese Geschichte aus? Numeri 13 berichtet, dass die Kundschafter ohne Zweifel einen guten Job machen. Mutig ziehen sie los. Staunend machen sie Entdeckungen. Schwer tragend, schleppen sie Früchte an, als Beweis und Anreiz. Begeistert predigen sie von dem Ort, da Milch und Honig fließen. Aber – authentisch wie sie nun einmal sind – belassen sie es nicht bei Lobpreis, Glanz und Gloria. Der Wahrheit halber reden sie auch über die Mächte, die dort wohnen. Und als sie merken, dass diese Art Predigt ankommt, legen manche von ihnen nach. Und plötzlich stehen da unterschiedliche Botschaften und Lesarten und Auslegungen im Raum. Und es gibt einen Mainstream. Und es zeigt sich, was Isolde Karle in ihrem Buch über die Professionalisierung des Pfarramtes so klug festgestellt hat, nämlich dass »psychische Systeme durch Kommunikation sich zwar stimulieren und anregen, aber nicht steuern lassen«. Ja, genau das geschieht, und die Kundschafter stehen dem in der Vielfalt ihrer eigenen Wahrnehmungen machtlos gegenüber. Die Worte des frommen Kaleb und Josua werden laut und lauter, gar beschwörend, aber wirksam bleibt nicht das fromme Wort, sondern das Gerücht. Die Herde folgt dem Herdentrieb. Sie lässt sich nicht mehr leiten, sie gerät in Panik.13 Und zwar auch deshalb, so meine These, weil genau dann, wenn man ihn gebraucht hätte, kein guter Hirte zur Stelle ist. Kein Hirte, der die Autorität hat und einen gemeinsamen Weg weist. Wo ist denn zum Beispiel Mose in der Kundschaftergeschichte? Er ist abgetaucht, hat nichts zu sagen, zumindest nicht seinem Volk, das er doch bis dahin geführt hat. Also, so meine These: Kirche braucht gute Hirten. Die EmK braucht gute Hirten. Wir als Dienstgemeinschaft des Stuttgarter Distrikts sollten uns neu auseinandersetzen mit der Frage, wie wir gute 13

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Vgl. dazu die Ausführungen zum Hirtengott Pan bei U. Bröckling in: ders. (Anm.1), 35ff.

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Hirten sein können. Das ist mein Thema, das ich euch heute zur Diskussion stellen möchte. 1.4 Der gute Hirte – ein neuer Versuch. Dass ich dem Hirtenleitbild anhänge, hat drei Gründe. Der wichtigste ist meine Biographie. Das Hirtesein liegt mir. Es passt zu meinem Typ. Das Hirtenbild hat mir in den drei Jahrzehnten meines Berufslebens geholfen, meinen Platz zu finden, und ich meine, es hat sich auch bewährt. So richtig herauskristallisiert hat sich das für mich, als wir auf dem Mössinger Bezirk intensiv am Gemeindeleitbild gearbeitet haben. »Am Anfang steht die Gewissheit, dass Gott uns liebt und wir ihn auch lieben« – dahinter steckt viel gemeinsame Bibelarbeit an Joh 21, das ist die Frage des Auferstandenen an Petrus, ob er ihn liebe, und seine Berufung, in die Fußspuren des Guten Hirten zu treten: »Weide meine Schafe«. Beim Wechsel von Mössingen nach Marbach habe ich mir in der Übergangszeit die Frage meines Amtsverständnisses noch einmal sehr bewusst gestellt und dann in der Antrittspredigt formuliert, mit welchem Konzept ich in Marbach Pastor sein möchte. »Leiten durch Lieben«, ist seitdem mein Motto. Und es ist mir klar, dass das wirklich ein Experiment ist, sowohl in der Sache, als auch in der Art, wie offen ich das kommuniziere. Man kann ja mit großen Tönen auch ganz schön auf die Nase fallen. Aber das ist gerade mein zweiter Grund, warum ich mich als Hirte oute. Ich will an der Stelle, wo es um meine Berufung geht, einfach auch Courage zeigen. Mich nervt dieses Gerede von der Verunsicherung der Pfarrerschaft, und dass wir ein neues Amtsverständnis brauchen. Warum und wem geben wir dabei nach? Der Redakteur der Zeitschrift »Aufatmen«, Ulrich Eggers, beschrieb neulich in einer Kolumne, wie sich das anfühlt, wenn man ins Zweifeln kommt und sich verunsichern lässt. Er verwendet das Bild vom dünnen Eis, auf dem man sich ängstlich und übervorsichtig bewegt, ganz auf sich selbst konzentriert, anstatt die Schönheit und die Möglichkeiten der Situation zu genießen. Und sagt dann: »Kirche sähe wohl anders aus, wenn die Mehrheit in ihr sich Gottes gewisser wäre«. Der dritte Grund, warum ich überzeugter Hirte bin, ist ein Buch, auf das Stefan Herb mich hingewiesen hat. Es ist nicht von einem Theologen, sondern von einem Soziologen: Ulrich Bröckling, Gute Hirten führen sanft14. Eine Aufsatzsammlung über, wie Bröckling es in Aufnahme des Franzosen Michel Foucault nennt: Menschenregierungskünste. Bröckling geht dem

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Berlin 2017.

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nach, wie tief verankert das archaische, und wie er sagt »unhintergehbar hierarchische« Bild von Hirte und Herde gerade auch in unserer modernen Gesellschaft ist. Für alle Pastoren, seien es nun geistlich oder weltlich Leitende, bedeutet das: nicht ob sie Hirten sein sollen, ist die Frage, sondern wie sie es sein sollen. Bröckling schreibt: »Das Verhältnis von Hirt und Herde ist eines der Sorge. Gute Hirten führen sanft … Vielleicht liegt darin das Geheimnis der pastoralen Macht: die Autorität der Führenden wächst mit der Sicherheit, die sie den Geführten garantieren«15. Dem möchte ich im zweiten Teil meines Vortrags nachgehen und fragen, wie es um dieses Geheimnis der pastoralen Macht bestellt ist, wie also die Autorität eines sanft führenden Hirten aussehen könnte.

2. Wo versickert unsere Autorität – und wo finden wir sie wieder? 2.1 Autoritätsverlust durch zu viel Nähe? Vom Sie zum Du Ich persönlich kann mit der IKEA-Mentalität nicht viel anfangen. Dass mich im Radio ein Typ mit Du anspricht und kumpelhaft meint, damit könne er mir seinen Hägar oder was weiß ich verkaufen, stört mich. Aber in der Gemeinde sind wir ja nicht IKEA, sondern Familie. Ihr merkt, wie eng da mein Pastorenbild mit dem Gemeindebild zusammenhängt. Für mich gilt: Wer da ist, gehört zur Gemeinde und wird behandelt wie ein Familienmitglied. Wenn es ein Gast ist oder jemand, den ich noch nicht so gut kenne, dann zwar nicht »per Du«. Aber eben so, als wäre das nur eine Frage der Zeit, bis wir beide uns als zu einer Familie gehörend empfinden. In der Gemeinde-Familie stehen wir uns nahe, gehen geschwisterlich und fürsorglich miteinander um, wissen voneinander, beten füreinander, tragen einander, sind gemeinsam auf dem Weg. Das setze ich einfach voraus! (Ich glaube, es war Karl Barth, der mich auf diese Spur brachte: dass manche Glaubensdinge dadurch in Kraft treten, dass wir sie voraus setzen dürfen). Ich erinnere mich, wie wir als Pastoren einmal am Stammtisch beim »Paulaner« über das »Sie oder Du« diskutiert haben. Einer sagte: Ich bleibe beim Sie, weil: Es sagt sich leichter »Sie Arschloch«, als »Du Arschloch«. Es ist mir klar, dass hinter diesem Satz eine Erfahrung steckt. Wohl die Erfahrung, dass Leute in der Gemeinde versucht haben, ihn nicht nur zu verletzen, sondern auch zu demütigen, also auch seine Autorität grundsätzlich in Frage zu stellen. Wie diesem Kollegen wird es vielleicht manchem unter uns ergangen 15

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sein. Dann will man sich schützen, sei es durch Kraftausdrücke oder sonst eine Seelenhygiene, oder durch Abstand. Ich habe aber für mich gemerkt, dass ich gerade das nicht will. Ich will nicht über Menschen in der Gemeinde denken, dass sie Arschlöcher sind. Und ich tue es auch nicht. Es mag sein, dass ich da bislang einfach Glück hatte und die unsäglich Unerträglichen um mich einen Bogen machten oder rechtzeitig die Gemeinde gewechselt haben. Und doch ist es vielleicht auch eine Frage der Einstellung. Die Gemeinde, und nicht nur die Kerngemeinde, betrachte ich als Brüder und Schwestern. Wie gesagt: Ich setze das einfach voraus und merke, dass dadurch ganz oft ein vertrauensvoller Umgang möglich ist. Freilich erinnere ich mich auch an eine Situation als Jugendlicher in der Tübinger Gemeinde. Dort muss es einen Riesenkrach gegeben haben, und eine Gruppe aus der Gemeinde hat gegen den Pastor mobilisiert. Da stand nun einer der Gemeindeältesten auf und mahnte mit einem Bibelwort: »Tastet meine Gesalbten nicht an«. Dieses Wort steht in 1Chr 16,22. Ich glaube aber nicht, dass der Bruder sich dies selbst aus der Bibel herausgesucht hat. Sondern dieses Wort war im Umlauf für solche Situationen, ein Schutzwort, um die Autorität des Pastors zu wahren. Damals hat das geholfen, aber warum eigentlich? Ich vermute, weil es den Kern einer Wahrheit getroffen hat, und die Ausschussmitglieder an etwas erinnerte, was sie in ihrem Eifer nicht mehr gesehen haben: Pastoren sind zwar keine Gesalbten, aber sie sind von Gott Beauftragte. Sie sind zwar keine Gesalbten, aber Ordinierte. Sie sind zu einem besonderen Amt Berufene. Sie sind die von der Kirche der Gemeinde zugewiesenen Hirten. Wenn ich also in der Gemeinde versuche, den Menschen als Bruder sehr nahe zu sein, Beziehung knüpfe, Vertrauen schenke, dann bleibe ich doch immer der Hirte und will das auch sein. Mich stört es zum Beispiel, wenn im öffentlichen Gemeindegebet für »den Matthias« gebetet wird, da steuere ich auch gegen. Auch berufe ich mich bei Gelegenheit bewusst auf meine Rechte, die ich durch die Ordination übertragen bekommen habe. Denn ich bin der Pastor in der Herde. 2.2 Autoritätsverlust durch Verunsicherung? Die Sache mit der Kompetenz »Better save than sorry«, lautet ein Motto in vielen Zweigen unserer Gesellschaft. Man beugt vor. Man versichert sich, man führt im Hindukusch Krieg. Man tut alles aus Vorsorge und geht kein Risiko ein. Hans Jonas nannte das die Heuristik der Furcht, und sie scheint sich durchzusetzen. »Better save than sorry« – Angela Merkel regiert so. Und hat es doch nicht vermeiden können, dass sie für nicht wenige von denen, die sie zu regieren hat, ein Hassobjekt geworden ist. Grade sie, die versprochen hat, für alle da zu sein, die BundesMatthias Kapp, Ein guter Hirte will ich sein

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Mutti, gilt als Verräterin am Volk. Wie ist das passiert? Zu viel Abstand, sagen viele. Ein lahmer Pressesprecher mit lauen Informationen macht das Vakuum nur größer. Vor kurzem waren in den Stuttgarter Nachrichten zwei Seiten Bericht über den Mangel an Bürgermeistern im Land. Das kam mir doch sehr bekannt vor, was da zu lesen war: Es gibt immer weniger, die sich das antun. Endlos Abendtermine, keine gute Bezahlung, immer und überall sich ansprechen lassen müssen. »Man muss die Menschen mögen«, lautete die Überschrift über dem Bericht, und dann war da noch von der »Ärmelzupfdemokratie« die Rede. Soziologen bezeichnen damit den Wunsch der Bürger danach, dass der Amtsträger für ihre Anliegen ein offenes Ohr hat. »Nur so kann es aber funktionieren«, war das Fazit eines erfahrenen Bürgermeisters. Wenn du dich solcher Bürgernähe verweigerst, wirst du unerbittlich abgestraft. Im Prinzip werden wir Pastoren dem wohl zustimmen. Gemeindeglieder mögen keine Kanzelredner von oben herab. Sie wollen nicht angepredigt werden ohne angehört zu werden. Ganz empfindlich reagieren sie freilich auch, wenn die einen in der Gemeinde mehr Zuwendung erhalten als andere. Das alles macht Druck und macht unsicher. Die Überkomplexität in unserem Beruf lässt sich ja nicht wegdiskutieren, auch nicht die Frustration und Überforderung, in die das immer wieder führt. Was ist der Gegenpol gegenüber den vielen Ansprüchen, denen wir ausgesetzt sind? Ich würde sagen: Autorität durch Kompetenz. Ich kann zwar nicht überall sein, aber wo ich bin, will ich ganz da sein. Ich kann zwar nicht überall gut sein, aber was ich mache, will ich kompetent tun. Dazu brauche ich auch Zeit und Kraft und Freude. Was meine Kollegin besser kann, erbitte ich von ihr. Was jemand in der Gemeinde besser kann, von dem lasse ich die Finger. Was niemand kann, das lassen wir am besten ganz. »Streichen ist eine Wohltat«, wie Gerhard Engelsberger uns ins Stammbuch schreibt. Wir alle wissen, wie ungut es ist, sich in die Arbeit hinein zu stürzen – und tun es doch immer wieder. Lasst uns klüger und mutiger werden im Loslassen. Lasst uns kompetenter das nutzen, was die Sozialingenieure uns beibringen können. Wir bleiben Lernende, das fördert unsere Kompetenz und unsere Autorität. Sich verändern können, sich weiterentwickeln und Schwächen gemeinsam ausgleichen, das kommt bei den Leuten an. 2.3 Autoritätsverlust durch mangelnde Vollmacht? Ein wunder Punkt Vorletzten Sonntag habe ich den Zenit meiner bisherigen Pastorenlaufbahn erlangt. Ich stand zum ersten Mal auf einer badischen Kanzel. Es war der Verbandsposaunentag in Karlsruhe in der Erlöserkirche. Hinterher Gespräche. 86

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Fremde Menschen kommen auf mich zu. Das sei mal eine richtig gute Predigt gewesen. »Nicht so Larifari, wie man sonst so hört«. Warum sagen die Leute das? Warum so abwertende Urteile im Blick auf das Predigen von Kolleginnen und Kollegen? Und ist das vielleicht wahr, jetzt nicht nur im Urteil dieser Leute, sondern vielleicht auch vor einer höheren Instanz? Ich kann das nicht beurteilen und spüre doch, wie zunehmend weh mir dieses Aburteilen tut. Es tut mir weh im Blick auf die Kolleginnen und Kollegen, weil ich weiß wie viel Mühe und Überwindung eine Predigt kostet. Und natürlich weiß ich, dass auch meine Predigten in manchen Ohren Larifari sind und nicht gut ankommen. Es tut mir aber auch weh für uns als Kirche. Was wird aus unseren Gemeinden, wenn die Predigt am Sonntagmorgen keine Erwartungen mehr weckt, wenn sie dann auch nicht mehr als wesentlich und not-wendig angesehen wird, oder es eben auch nicht mehr ist? Ich denke, dass wir uns der Frage nach der Vollmacht unserer Predigt kritisch stellen müssen. Zwei Kriterien, die ich von Eberhard Jüngel übernommen habe, und mit denen er das Wesen und Auftreten Jesu Christi umschreibt, möchte ich uns dazu an die Hand geben. Denn darum muss und kann es uns ja alleine gehen, wenn wir nach Vollmacht in der Predigt streben, dass wir aus der Kraft und dem Geist Jesu Christi heraus predigen. Oder, um noch einmal die VLO aufzugreifen, dass wir gerade auch im Predigt-Dienst die Lehre Jesu verkörpern. Die beiden Stichworte von Eberhard Jüngel heißen: »Anstrengung des Herzens« und »Autorität der Bitte«. Ich kann das hier nicht breit ausführen, aber ich denke ihr ahnt, was ich damit sagen will: Anstrengung des Herzens meint für mich, dass ich mich selbst hinein gebe in die Predigt. Dass ich das, was ich sage, mir selbst zu Herzen habe gehen lassen. Oder platter ausgedrückt: dass ich auch meine, was ich sage. Und die »Autorität der Bitte«, das meint für mich: dass meine Predigt ein unbedingtes Werben und Einladen ist. Für mich bedeutet das: nicht drücken, aber ziehen. Nicht eng werden, sondern die weiten Arme Gottes abbilden. Viel weniger kritisieren, viel mehr loben und danken. Dann aber auch: bittend rufen, wie Jesus und Paulus. Einfach und klar reden, dass man es versteht. Nicht über Köpfe hinweg, sondern die meinend und ansprechend, die mir in diesem Moment anvertraut sind. Geist-reiche Predigten! Darum lasst uns doch neu ringen. Dazu gehört auch Kompetenz, mehr noch aber das andere: Kontemplation. Beides will sich ergänzen, indem Gottes Geist durch uns hindurch wirkt. Henri Nouwen rückt das noch enger zusammen, indem er sagt: Kompetenz braucht Kontemplation.

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2.4 Autoritätsverlust durch fehlende Qualität? Pastorinnen und Pastoren als Vorbilder In den letzten Wochen habe ich kaum eine Gelegenheit ausgelassen, Gemeindeglieder und Freunde zu fragen: was macht die Autorität eines Pastors, einer Pastorin aus. Ganz oft begegnete dann das Wort »authentisch«, was freilich eine Tautologie ist. Das Wort authentisch stammt ja aus dem Wort Autorität, wir bringen das gedanklich aber nicht mehr automatisch zusammen. Was wir von Klessmann gehört haben, dass der Pfarrer »verwundeter Heiler« sein soll und sein darf, mag zu diesem Wunsch nach Authentizität gut passen. Fernsehpfarrer zumindest sind nie perfekt, sie haben ihre Schwächen und Verwundungen, und gerade indem sie dazu stehen, so die Dramaturgie, kommen sie den Menschen nahe und erlangen ihr Vertrauen (freilich soll es in unseren Gemeinden schon anders gekommen sein: dass einer, der seine Schwachheit gezeigt hat, dann zum leichten Opfer wurde). Trotzdem möchte ich es wagen, an dieser Stelle noch einmal deutlich in die andere Richtung zu weisen. Ein Freund sagte mir: Autorität kommt durch Qualität. Ein Wirtschaftslexikon definiert Qualität als: Übereinstimmung von Leistungen mit Ansprüchen. Bewusst habe ich vorhin jene Stellen aus der VLO zitiert, die die besonderen Ansprüche an uns Ordinierte festhalten. Wir sind Vorbilder. Wir können uns nicht verstecken. Wir müssen uns auch daran messen lassen, ob wir Gaben und ob wir Frucht haben. Ich glaube, dass die Menschen, die uns anvertraut sind, genau dafür ein Gespür haben, nämlich ob die Qualität stimmt. Ob da Übereinstimmung ist, nicht nur mit den Ansprüchen, die einer an sich selbst stellt, sondern eben auch mit den Ansprüchen, die »man« an einen Pastor und eine Pastorin haben darf. Was aber sind die legitimen Ansprüche an einen Guten Hirten? Jesus benennt bei der Berufung des Petrus nur ein einziges Kriterium: Hast du mich lieb? Für mich bedeutet das, dass ich nur dann ein Guter Hirte sein kann, wenn ich eine gute Beziehungsarbeit zu Christus pflege. Denn was ist Liebe anderes als dass man sich gerne und jeden Tag neu aufeinander einlässt, sich lobt und loben lässt, sich korrigiert, einander hilft und die Nähe zueinander sucht? Gemeinden können meiner Erfahrung nach gut mit einem Pastor leben, der Fehler macht und manchen Ansprüchen nicht genügt. Sogar, was z. B. im Diensthandbuch immer noch eine große Rolle spielt, wenn die Ehe eines Pastors /einer Pastorin zerbricht, können Gemeinden in der Regel damit umgehen. Aber diese Qualität, dieses Kennzeichen, dass ein Pastor, eine Pastorin aus der Liebe zu Christus heraus lebt, möchten Gemeindeglieder nicht missen. Das ist es, was sie erwarten und suchen und wo sie auch wollen, dass sich der/die Geistliche zeigt, nämlich als – wie es Andreas Heiser nennt – geisterfüllte Persönlichkeit.

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Autorität kommt also durch die Qualität der »Verkörperung Christi«, als Gestaltwerdung des Geistes Christi. Ich bin nicht immer fromm und verliebt in Jesus. Aber ich fange immer wieder damit an, frei nach unserem Mössinger Gemeindeleitbild: Am Anfang steht die Gewissheit, dass Gott mich liebt und ich ihn auch liebe. Peter Böhlemann weist darauf hin, dass Kirche, um wachsen zu können, darauf wartet, dass diese Qualität um sich greift. Dass sich da im Miteinander der Brüder und Schwestern eine Kultur des Evangeliums entwickelt: angstfrei, visionär, lustvoll und mit einem positiven Menschenbild, gastfreundlich und festlich, partizipatorisch, eschatologisch, kinderfreundlich. Jesus predigt ja nicht nur und heilt, sondern er lebt mit den Menschen und schafft in diesem Miteinander eine Atmosphäre des Vertrauens. Was gibt es da zu Jammern? Wir haben einen menschenfreundlichen Auftrag.

3. Zusammenfassung: Ein Ja finden 3.1 Ein Ja finden zum Pastorenamt Wir sind Hirten. Es braucht uns. Wir laufen nicht davon. Jesus beruft uns, seine Schafe zu weiden 3.2 Ein Ja finden zur Ordination Wir sind nicht Pastoren, weil wir ordiniert sind, sondern wir sind ordiniert, weil Gott uns in dieses Amt berufen hat. Wir sind zwar keine Gesalbten, aber Ordinierte, zum Dienst Gesegnete, von der Kirche gewählte und eingesetzte Menschen. Wir haben Rechte und Pflichten. Wir sind Vorbilder. 3.3 Ein Ja finden zur Autorität eines Hirten Als Pastoren haben wir Leitungsfunktion. Leiten durch Lieben, geht das? Es braucht jedenfalls die »Anstrengung des Herzens«. Es braucht Kompetenz, und Kompetenz braucht Kontemplation. Qualität durch die Verkörperung Christi. Leben und Wirken als geisterfüllte Persönlichkeit. 3.4 Ein Ja finden zum Du Als Ordinierter, als Amtsperson, als Leiterin oder Leiter suche ich das Du auf Augenhöhe. Lasse mich am Ärmel zupfen. Höre gut zu und versuche zu verstehen. Gebe mich hinein in die Gemeinde als ein Familienmitglied. Öffne zugleich die Enge eines Familienverbandes für alle, die kommen, für alle, die Matthias Kapp, Ein guter Hirte will ich sein

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neu da sind, beziehe ein, gebe zu verstehen: Du gehörst dazu. Es gibt für mich keine Kerngemeinde. 3.5 Ein Ja finden zum Vertrauen In Tanzania ruft ein Dorfältester die Dorfgemeinschaft zum Gebet. Es herrscht seit Monaten Dürre. Erwartungsvoll steht die Menge beieinander, aber der Dorfälteste schaut nur auf diesen einen kleinen Jungen. Er ist der einzige, der einen Regenschirm mitgebracht hat. Auch als kleiner Junge kann man ein Guter Hirte sein.

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Alles umsonst? Bibelarbeit zu Jesaja 55,1–5 Jörg Barthel Ein junger Mann geht durch die Fußgängerzone einer deutschen Großstadt und bietet selber gepflückte, herrliche Blumensträuße »umsonst« an, einfach so, weil Schenken schön ist; man braucht nur zu nehmen. Aber keiner nimmt das Geschenk an, offenbar, weil etwas »dahinter« vermutet wird, weil man es einfach nicht glauben kann, weil man eine nachgereichte (dicke) Rechung erwartet.1

»Man bekommt im Leben nichts geschenkt«, und: »Ich lasse mir von niemandem etwas schenken«. Das sind Leitmotive einer Gesellschaft, der das Kaufen und Verkaufen, das Rechnen und Verrechnen längst zur zweiten Natur geworden sind. Sie hat das Geld zur Leitwährung erhoben weit über den Bereich des Wirtschaftens hinaus. Alles scheint käuflich zu sein: Gesundheit, Sexualität, Bildung, Glück. Aber die Kehrseite ist: Wo alles käuflich geworden ist, da ist nichts umsonst. Was ich kaufen kann, das muss ich dann auch kaufen. So geraten immer neue Güter und Lebensbereiche in den Strudel des ökonomischen Imperativs. Dieser Siegeszug hat seinen Preis: Immer mehr Menschen fallen aus dem System, weil ihnen im Wettbewerb um knappe Güter die Mittel fehlen. Selbst Wasser ist in vielen Ländern der Erde mittlerweile ein knappes und kaum bezahlbares Gut, von dem viele buchstäblich nur tropfenweise zehren. Aber auch bei denjenigen, die mitspielen, wächst der Verdruss: Könnte es sein, dass gerade das, wofür ich Tag für Tag mit meiner Arbeit, meinem Geld und meiner Kraft bezahle, am Ende »umsonst« ist? Nicht zufällig ist die Erschöpfungsdepression in den letzten Jahren zu einem Leitsymptom der diagnostischen Selbstbeschreibung unserer Gesellschaft avanciert. Nun müssen wir in aller Nüchternheit feststellen: Wir leben in einer Welt der knappen Güter, in der wir rechnen und haushalten müssen, wie wir auch als Kirche schmerzlich spüren. Es wäre heuchlerisch und gefährlich, dies zu leugnen und diejenigen zu diskreditieren, die sich um Lösungen bemühen. Wir entkommen der Welt des Kaufens und Verkaufens nicht. Und doch ist

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Zitiert nach Werner Grimm (in Zusammenarbeit mit Kurt Dittert): Deuterojesaja. Deutung – Wirkung – Gegenwart (Calwer Bibelkommentare), Stuttgart 1990, 467.

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eine doppelte Frage zu stellen, die ein bleibender Stachel im Fleisch des ökonomischen Imperativs ist. Die eine Frage ist die nach der gerechten Verteilung knapper Mittel. Sie lebt vom Traum einer Gesellschaft, in der alle genug haben und niemand zu viel, in der alle satt werden, aber niemand übersättigt ist. Die andere Frage gilt den Grenzen des Ökonomischen überhaupt. Es ist die Frage nach den Gütern, die nicht nach den Regeln der Knappheit verteilt werden, sondern nach denen der Fülle. Geht es im ersten Fall um einen anderen Umgang mit knappen Gütern, so im zweiten um eine Lebensfülle, die die Grenzen des Ökonomischen überschreitet, wenn man so will: um die »Ökonomie der Gnade«. Beide Fragen sind mitzuhören, wenn wir den zweieinhalbtausend Jahre alten Text aus dem Buch des Propheten Jesaja betrachten, um den es in dieser Bibelarbeit gehen soll. Er spricht die Sprache des Marktes und der Ökonomie, aber er macht das Angebot einer Fülle, die alle Regeln der Ökonomie sprengt: 1

Auf, all ihr Durstigen, kommt zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt, kauft und esst! Kommt, kauft ohne Geld und kostenlos Wein und Milch! 2 Warum wiegt ihr Geld ab für das, was kein Brot ist, und euer mühsam Verdientes für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich und esst Gutes, und es labe sich am Fett eure Seele! 3 Neigt euer Ohr und kommt zu mir, hört und es lebe auf eure Seele! Und ich will einen ewigen Bund mit euch schließen, im Sinne der verlässlichen Gnadenerweise für David. 4 Siehe: Zum Zeugen für Völker habe ich ihn gemacht, zum Fürsten und Gebieter von Völkern. 5 Siehe: Volk, das du nicht kennst, wirst du rufen, und Volk, das dich nicht kennt – zu dir werden sie laufen, um JHWHs, deines Gottes willen, des Heiligen Israels, weil er dich herrlich gemacht hat.

Die Kapitel 54–55 des Jesajabuches gehören in die Zeit des Neuanfangs der jüdischen Gemeinde nach dem babylonischen Exil: Jerusalem ist besiedelt, der Tempel gebaut, das Leben geht seinen Gang. Aber die großartigen Verheißungen des »Zweiten Jesaja« von Wachstum und Neuanfang, die wir in Jesaja 40ff. lesen, sind einer dürftigen Realität gewichen. Die Träume von einer großartigen Zukunft Jerusalems sind geschmolzen wie Schnee in der Sonne. Statt Begeisterung herrscht Resignation, statt Kraft Erschöpfung und Müdigkeit. Allen Wachstumshoffnungen zum Trotz leidet Jerusalem unter massivem Bevölkerungsmangel.

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Welches Wort ist zu sagen in einer solchen Situation? Die Gruppe von Prophetenschülern, die hier spricht, erinnert an die Kraft des göttlichen Wortes, das wie Regen und Schnee nicht leer zurückkommt, sondern ausrichtet, wozu es gesandt ist (Jes 55,10f., vgl. 40,6–8). Gegen die traumlose Resignation erneuert sie das Bild einer heilvollen Zukunft: Zion, die Unfruchtbare, soll zur Mutter vieler Kinder werden. Die verlassene Ehefrau kann sich auf die Treue ihres Mannes verlassen: Ihr Gott steht zu seiner Verheißung, zu seinem Friedensbund. Die elende, ungetröstete, vom Sturm der Geschichte gebeutelte Stadt (Jes 54,11) soll in neuem Glanz erstrahlen und zahlreiche Kinder bekommen. Ihr Gott wird ihr die Treue halten wie einst Noah, Abraham, Sara und David. Der Aufbruch in eine neue Zukunft braucht Bilder, von denen er zehren kann, und er braucht Traditionen, an denen er sich stärken kann. Vor dem Hintergrund dieser Zukunftsvision ist die Einladung von Jes 55,1ff. zu hören. Sie richtet sich an diejenigen, denen all das zu schön scheint, um wahr zu sein, an die Zögernden und Zweifelnden, die Unentschiedenen, die Zerstreuten im buchstäblichen und im spirituellen Sinne. Die Einladung gilt denjenigen, die lieber im Exil bleiben, als den Weg in die Heimat anzutreten und am Neuaufbau mitzuwirken. Sie gilt aber auch denjenigen, deren Interessen sich längst anderen Dingen zugewandt haben als dem Erbe der Mütter und Väter. Ihnen und allen Unentschiedenen gilt die Einladung. Der Ton, den sie anschlägt, ist der einer dringlichen Bitte, die den Zögernden Beine machen und die Lethargischen aufwecken will, aber auch der Ton eines lockenden Versprechens, das ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen möchte. Mit der Einladung und dem Versprechen verbindet sich die Beschreibung eines Auftrages, einer Mission, in der die Eingeladenen selbst zu Einladenden werden.

1. Die freie Einladung Der Text setzt ein mit einer ganzen Kaskade von Imperativen: »Kommt, kauft, esst, hört!« Wie ein Händler auf einem orientalischen Markt, so preist der Prophet seine Waren an. Aber anders als der Marktschreier verlangt er keinen Preis dafür. Alle Durstigen und Bedürftigen sind eingeladen, kostenlos Wasser und Brot, Wein und Milch zu »kaufen«. Kommt und esst euch satt, statt Geld und Mühe für etwas zu verplempern, das doch nicht sättigt. Dann werdet ihr Leben in Fülle haben. Eure »Seele« wird sich laben und aufleben, d.h. eure elementare Bedürftigkeit und euer Lebenshunger werden gestillt! Dreierlei ist daran bemerkenswert:

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(1) Was ist das eigentlich für eine »Ware«, die hier angepriesen wird? Der Text gebraucht die Sprache des Marktes und setzt dessen Regeln zugleich außer Kraft: Der Verkäufer bietet etwas an, das nicht käuflich ist. Er verspricht einen Gewinn ohne Mühen. Man ahnt, dass es um mehr geht als materielle Güter. Auch der intensive Aufruf zum aufmerksamen Hören weist in diese Richtung. Schon die rabbinische Auslegung hat das Wasser darum als Bild für die Tora verstanden. Die Erschöpften und Verzweifelten werden eingeladen, sich aus der Tora belehren zu lassen, damit sie werden »wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen« (Ps 1,3). Die christliche Auslegung hat meist an das Wort Gottes gedacht, von dem im weiteren Verlauf des Kapitels die Rede ist (Jes 55,10f.). In der Tat: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund JHWHs hervorgeht« (Dtn 8,3). Die Weisung, das Wort Gottes ist niemals knapp, sie ist da in ganzer Fülle für alle, die kommen und Geschmack an ihr finden. Und doch ist damit noch nicht alles gesagt. Im Gegensatz zu vielen Auslegern weigere ich mich zu glauben, dass es hier um rein geistliche Güter geht. Nein, die Einladung gilt nicht nur den geistlich Armen und Lebenshungrigen. Sie gilt auch den Armen und Durstigen im buchstäblichen Sinne des Wortes. Wer die Überfülle der Gnade genießt, kann sich nicht damit abfinden, dass Menschen in gnadenlosen Verhältnissen leben. Man kann nicht glaubwürdig vom »Wasser des Lebens« sprechen, solange Millionen von Menschen verdursten oder ihr Wasser aus fauligen Tümpeln schöpfen. Man kann nicht vom Brot des Lebens essen und die Hungrigen draußen lassen. Die frohe Botschaft gilt nicht nur dem Armen im Geiste, sondern auch denen, die materiell arm sind. Das »unökonomische« Angebot der Fülle verlangt auch einen anderen Umgang mit den Regeln der Ökonomie: Wasser und Brot für alle, Saatgut ohne teure Patente multinationaler Konzerne, Milch für die eigene Ernährung statt für den gefräßigen Markt der Industriegesellschaften. Eine solche Änderung der Regeln ist keineswegs kostenlos. Sie verlangt u.a. die Bereitschaft westlicher Konsumenten, höhere Preise zu zahlen für Produkte, die fair(er) gehandelt werden. (2) In die Einladung mischt sich eine Kritik an den Prioritäten der Adressaten: Warum gebt ihr Geld aus für Dinge, die kein Brot sind? Warum plagt ihr euch ab für etwas, das nicht satt macht? Obwohl es doch das eigentlich Wertvolle und Sättigende kostenlos gibt? Schwer zu sagen, woran hier konkret gedacht ist: vielleicht an diejenigen, denen im Kampf ums eigene Überleben der Blick für das Wohl der Gemeinschaft verloren gegangen ist (vgl. Haggai). Klar ist jedenfalls: Die Adressaten werden auf ihre Prioritäten angesprochen. Es gibt – auch in ihrer Welt – sehr wohl Dinge, für die man arbeiten und zahlen muss. Es wäre töricht, das zu bestreiten. Aber die Fixie-

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rung auf das Zahlbare und Käufliche birgt eine große Gefahr: Sie macht vergessen, dass das Wichtigste kostenlos ist. Es ist so teuer, dass man es nicht bezahlen, sondern sich nur schenken lassen kann. Ja, wir müssen Prioritäten setzen im Bereich des Ökonomischen: You can't have the cake and eat it. Ein Kuchen lässt sich nicht zweimal verteilen und Geld nicht zweimal ausgeben. Wir müssen fragen, wofür wir unser Geld verwenden wollen und wofür nicht, als Einzelne und als Kirche. Aber es gibt noch eine Prioritätendiskussion zweiter Ordnung: In ihr geht um die Priorität zwischen dem Ökonomischen und dem, was nicht mit Geld zu bezahlen ist, dem, was so unendlich teuer ist, dass wir es nur umsonst bekommen und weitergeben können: Kaufen kann man sich: Essen, aber keinen Appetit; Arznei, aber keine Gesundheit; weiche Kissen, aber keinen Schlaf; Gelehrsamkeit, aber keinen Witz; Glanz, aber keine Behaglichkeit; Zerstreuung, aber keine Freude; Bekannte, aber keine Freundschaft; Diener, aber keine Treue; vergnügte Tage, aber keinen Frieden. Die Hülle all dieser Dinge kann man mit Geld erlangen, den Kern aber nicht.2

Ich füge hinzu: Vieles in der Kirche können wir mit Geld bewirken, aber keinen Glauben, keine Liebe, keine Begeisterung, keine Hoffnung. Unser Problem ist nicht, dass wir das nicht wüssten, sondern eher, dass wir es nicht glauben. Wir sagen es und halten es insgeheim für weltfernen Idealismus. Was aber, wenn es wirklich so wäre, dass das Eigentliche nicht käuflich ist, aber eben darum kostenlos? Müssten wir dann nicht unsere Prioritäten grundlegend überdenken? Würden wir dann über die Mission der Kirche nicht mit der gleichen Leidenschaft diskutieren wie über unsere Gehälter? Würden der Hunger nach Brot und der Hunger nach dem Wort Gottes uns dann nicht die gleichen Sorgen bereiten wie die Zukunft der Kirche? Würden Lehrende einer Hochschule dann nicht dem gleichen Elan an einer zukunftsfähigen Theologie arbeiten wie an staatlichen und sonstigen Anerkennungen? (3) Wasser und Brot sind nötig, um den schlimmsten Mangel zu beheben. Aber der Prophet scheut sich nicht, daneben auch Wein und Milch zu versprechen. Neben die Bilder des Mangels treten Bilder der Fülle. Und allen, die aufmerksam hinhören, wird verheißen: Eure Seele wird sich laben am Fett und aufleben wie ein Baum nach langem Winter. Man ist versucht zu fragen: Geht's nicht ein bisschen nüchterner, protestantischer? Der Verdacht eines billigen Glücksversprechens liegt nahe: Bringt der Glaube wirklich Erfüllung

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Arne Garborg, norwegischer Schriftsteller (1851–1924), zitiert nach Roland Gradwohl: Bibelauslegung aus jüdischen Quellen, Bd. 2: Die alttestamentlichen Predigttexte des 5. und 6. Jahrgangs, 2. Aufl., Stuttgart 1997, 245.

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und Labsal der Seele, wie uns die narzisstische Religiosität unserer Zeit glauben machen will? Die Fragen sind berechtigt. Aber vergessen wir nicht, zu wem hier geredet wird: Die Menschen, an die der Prophet sich wendet, leiden nicht an einem Zuviel an Sehnsucht, sondern an einem Zuviel an Realismus. Die Sehnsucht aber braucht Bilder, die uns Flügel verleihen, anstatt uns im Käfig der sogenannten Realität einzusperren. Die Sehnsucht träumt von fetten Speisen und alten Weinen, von einer Welt, in der der Tod verschlungen ist und alle Tränen von den Gesichtern des Leidenden abgewischt (vgl. Jes 25,6–8). Und ich frage uns: Leidet unsere Verkündigung wirklich an zu viel Überschwang, an zu viel »Wein« und »Milch«? Erstickt sie nicht vielmehr an ihrer praktischen Nüchternheit und dogmatischen Ausgewogenheit? An ihrer Wunschlosigkeit und ihrem stillen Einverständnis mit der Unwandelbarkeit der Verhältnisse? Müssen wir die Seelenerquickung wirklich anderen religiösen und therapeutischen Anbietern überlassen? Oder trauen wir uns zu sagen: Komm und iss, und du wirst sehen, wie deine Seele sich erholt? »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken« sagt Jesus, und weiter: »Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen« (Mt 11,28f.). Es ist wohl wahr: Wer Erquickung und Seelenruhe verspricht, ohne vom Joch der Nachfolge zu reden, entwertet das kostbare Geschenk des Evangeliums. Aber wer in die Nachfolge einlädt, soll und darf auch von der Erquickung der Seele sprechen. Oder was wäre das für eine frohe Botschaft, die nicht froh machte? Was wäre das für eine Einladung, die nichts verspricht?

2. Das große Versprechen Folgerichtig verbindet der Prophet mit seiner Einladung ein großes Versprechen: »Ich will einen ewigen Bund mit euch schließen im Sinne der verlässlichen Gnadenerweise für David«. Mit anderen Worten: Gott sagt der Zionsgemeinde und allen, die sich zu ihr aufmachen, seine unverbrüchliche Treue zu (vgl. zum Ausdruck »ewiger Bund« Gen 9,16 u. a.). Noch schöner sagt es Jes 54,10: »Denn die Berge mögen weichen und die Hügel wanken, aber meine Treue wird nicht von dir weichen, und mein Friedensbund soll nicht wanken, spricht dein Erbarmer, JHWH«. Die uralte Verheißung an Noah, auf die dort angespielt wird, gilt immer noch, und ebenso die Gnadenerweise an David, das Versprechen der ewigen Treue Gottes zum davidischen Königshaus (2Sam 7).

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Aber was bedeutet das in einer Zeit, in der das Königshaus Davids längst untergegangen ist? Ist die Beschwörung der glorreichen Vergangenheit angesichts der aktuellen Tristesse nicht bestenfalls Vertröstung und schlimmstenfalls Betrug? Keineswegs! Denn der Prophet wiederholt die alte Verheißung nicht einfach, er gestaltet sie auf höchst kreative Weise um. Gottes Bund mit David wird nicht etwa annulliert, wie manche glauben, wohl aber wird er ausgeweitet und auf überraschende Weise neu interpretiert. Während andere prophetische Verheißungen einen neuen David erwarten, überträgt unser Text die Rolle Davids auf die erneuerte Zionsgemeinde. Sie soll eintreten in die Rolle Davids als Zeuge, Fürst und Gebieter von Völkern. Was das für die Gemeinde bedeutet, werden wir gleich sehen. Zuvor aber will ich kurz darauf aufmerksam machen, was das für den Umgang mit der Tradition in Zeiten der Krise bedeutet. In dürftiger Zeit ist es gut, sich der großen Taten Gottes in der Generation der Mütter und Väter des Glaubens zu erinnern. Der Prophet bietet dafür das ganze Arsenal der geschichtlichen Erinnerungen Israels auf: Abraham und Sara, Noah und nun David. Die Rückbesinnung auf die Anfänge tut not und sie tut gut in Zeiten, in denen Traditionen abbrechen und Identitäten bröckeln. Wo der Glaube matt und die Liebe lau geworden ist, da kann die Erinnerung an die »Zeit der ersten Liebe« (Jer 2) das Feuer neu entfachen. Aber gelingen kann das nur, wenn die Erinnerung zugleich nach vorn gerichtet ist. Lebendige Erinnerung stellt die Tradition nicht auf einen Sockel oder ins Museum, sondern trägt sie hinein in die aktuellen Herausforderungen. Das, was wir bewahren wollen, muss sich neu bewähren. Andernfalls erstarrt es. Klebt nicht an den großen Verheißungen für David, sagt der Prophet, versinkt nicht in Nostalgie (»früher war alles besser«), sondern werdet selber David. Ihr seid David in kollektiver Gestalt. Also: Statt mit Pomp und staatlichen Weihen Reformationsjubiläen zu feiern, überlegt lieber, wie eine Reformation der Kirche heute aussehen könnte. Bewahrt das Erbe der Väter und Mütter, aber schreibt es fort mit eurer eigenen Handschrift.

3. Die neue Mission Aber worin besteht dieses Eintreten in den Bund mit David? Davon spricht der Schluss unseres Textes. David war »Zeuge«, »Fürst« und »Gebieter« von Völkern in der Weise politischer Herrschaft – mindestens der Idee nach (vgl. Ps 2; 72 u. a.). Die neue Gemeinde übernimmt die messianische Rolle Davids gegenüber den Völkern, aber sie erfüllt sie auf neue Weise. Nicht zum Herrschen ist sie gerufen, sondern zum Rufen. Mit anderen Worten: Aus der po-

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litischen Herrschaft ist eine missionarische Sendung geworden. Der Text enthält nicht weniger als eine alttestamentliche Theologie der Mission. Dabei steht selbstverständlich der Auftrag Israels an den anderen Völker vor Augen, der für Israels Erwählung von Beginn an bestimmend war (vgl. Gen 12,1–3). Und doch lässt sich daran ablesen, was Mission überhaupt ist. Darum am Schluss drei Überlegungen dazu: (1) Aus Gerufenen werden Rufer. Diejenigen, die selbst die Einladung zum Leben in Fülle gehört haben, sollen nun andere rufen und einladen. »Kommt, nehmt teil an der neuen Realität des Reiches Gottes, teilt mit uns Wort und Weisung, Wasser und Brot.« Dieser Ruf ist nichts anders als ein Echo des Rufes, den sie selbst gehört haben. Das ist der »Echocharakter« missionarischer Existenz. Es gilt allerdings auch umgekehrt: Nur wer selbst von der Fülle des Lebens genossen hat, kann anderen austeilen, nur wer selbst seinen Durst und seinen Hunger gestillt hat, kann andere einladen, ihren Hunger und Durst nach Leben zu stillen. (2) Und wenn der Ruf tatsächlich Gehör findet? Dann kommt es unweigerlich zu Überraschungen: »Volk, das du nicht kennst, wirst du rufen, und Volk, das dich nicht kennt – zu dir werden sie laufen«. Da kommen sie, die Unbekannten, die Fremden, die »Heiden«, um die Weisung des Gottes Israels zu hören, um sich zu laben an den Schätzen seines Hauses. Sie begehren Teilhabe am Gottesdienst Israels, auch gegen den erbitterten Widerstand der Insider und Etablierten (vgl. Jes 56,1–8). Damals wie heute gab und gibt es Leute, die sich dagegen wehren mit Händen und Füßen, obwohl sie gleichzeitig den Niedergang der Gemeinde beklagen. Im Zweifel gilt: Wir wollen lieber unter uns bleiben. Das ist psychologisch verständlich, aber es ist ein Wegwerfen der Verheißungen. Mission schließt »radikale Gastfreundschaft« ein: die Bereitschaft, sich Unbekannten und Fremden zu öffnen und ihnen Heimat zu geben. Das ist mit Schmerzen verbunden: Manche Lieder werden umgeschrieben werden müssen, manche lieb gewordenen Gewohnheiten aufgegeben, damit die Fremden heimisch werden können. Wir verzichten auf Insidersprache, auf das berühmte »wir wissen ja«, damit andere uns verstehen. Zur Gastfreundschaft gehört auch, dass wir Gäste nicht fortgesetzt auf ihren Gaststatus festlegen, sondern sie einladen, heimisch zu werden. Es ist gut gemeint und kann doch zugleich ein Zeichen von Exklusivität sein, wenn in unseren Gottesdiensten die Gemeinde und die Gäste jeweils besonders begrüßt werden. So macht man Gästen klar, dass sie nicht zum inneren Zirkel gehören. Und wenn aus Gästen »Einheimische« werden? (3) Eine letzte Frage: Warum kommen die Völker eigentlich gelaufen? Zunächst einmal ganz einfach: weil man sie gerufen hat. Wo der Ruf der Einladung nicht laut wird, da kann niemand ihm folgen. Das ist sozusagen die 98

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Außenseite der Sache. Aber das Prophetenwort gibt noch eine andere, tiefgründigere Antwort: Sie kommen gelaufen »um JHWHs, deines Gottes willen, des Heiligen Israels, weil er dich herrlich gemacht hat«. Also nicht: »um deinetwillen«. Ziel der Einladung ist nicht, dass die Menschen »zu uns« kommen, damit wir groß werden und wachsen (so schön das ist!), sondern dass sie zu Gott kommen. Nicht zu uns laden wir ein, sondern zu Gott, zu dem, der reichlich gibt und in Fülle. Wir sind nur Rufer, Wasserträger sozusagen, aber lebendiges Wasser und Brot, das sättigt, kann nur Er geben. Und doch spielt die Gemeinde dabei eine unverzichtbare Rolle: Die Völker kommen um Gottes willen und »weil er dich herrlich gemacht hat«. Mit anderen Worten: Wenn Zion im Glanz der göttlichen Herrlichkeit erstrahlt, dann kommen die Völker, magisch angezogen von dem Licht, das hier aufstrahlt (vgl. Jes 60). Mission ist eine Frage des Rufens, aber noch mehr der Ausstrahlung, der Strahlkraft. Woher gewinnt die Gemeinde diese Ausstrahlung? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir noch einmal auf den Anfang unseres Textes zurückkommen. Ausstrahlung hat die Zionsgemeinde und jede andere Gemeinde, wenn sie die Einladung zu kommen, zu kaufen und zu essen selbst lebt. Wenn sie den Mut findet, auf den Markt der Weltanschauungen zu treten und zu sagen: Wir haben etwas anzubieten, das so teuer und kostbar ist, dass man es nicht kaufen kann und nicht kaufen muss – Wasser für die Durstigen und Brot für die Hungrigen, Ruhe für die Müden und Kraft für die Erschöpften, Weisung, die Leben spendet, und ein Wort. das besteht, auch wenn Könige stürzen und Städte zerfallen. Zu schön, um wahr zu sein? Nein! Sondern es ist so wahr, wie Gottes Verheißungen wahr sind. Er verspricht uns viel, damit wir viel versprechende Menschen werden. Ob wir uns neu beschenken lassen, damit wir anderen schenken können? Dann ist alles umsonst, aber nichts ist vergeblich!

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Ist eine Theologie des Kreuzes denk-bar? Predigt über 1. Korinther 1,18-251 Walter Klaiber Es ist für mich eine Herausforderung, mit Ihnen in diesem Gottesdienst auf die Botschaft der Bibel zu hören, nachdem gestern und heute entscheidende Weichen für die Zukunft der Theologischen Hochschule gestellt wurden. Einerseits scheint ja die Anpassung der Leitungsstrukturen der Hochschule an die Vorgaben des baden-württembergischen Hochschulgesetzes theologisch wertneutral zu sein. Andererseits kann solch ein Schritt doch auch prägend für die geistliche und theologische Ausrichtung der Institution werden. Welchen Text aber wählt man zu einem solchen Anlass? Diese Frage war schnell entschieden, als sich zeigte, dass die Epistel für den morgigen Sonntag 1Kor 1,18-25 ist, ein Text, in dem Paulus von der Bedeutung der Botschaft vom Kreuz spricht. Der Rektor und ich waren der Meinung, dass wir uns dem, was Paulus hier sagt, stellen sollten, auch wenn es auf den ersten Blick fast wie eine Gegenrede gegen eine Entwicklung klingen mag, in der manche eine weitere Akademisierung des Studiums an unserer Hochschule sehen mögen. Sie dürfen von mir also jetzt weder eine Würdigung der Arbeit des bisherigen Verwaltungsrates noch eine Arbeitsanweisung für die neuen Hochschulorgane erwarten. Von unserem Text her wird es um die Frage gehen, ob eine Theologie im Zeichen des Kreuzes Jesu überhaupt denk-bar ist. Dass das schwierig sein könnte, macht die Themenangabe am Anfang des ersten Korintherbriefes deutlich. Paulus spricht von seinem Auftrag das Evangelium zu verkünden, und (zwar) nicht in Weisheit des Wortes, damit das Kreuz Christi nicht entwertet wird. Dass Gott die Welt dadurch gerettet habe, dass sein Sohn am Kreuz hingerichtet wurde – einer Strafe, zu der nur Nichtrömer und vor allem Sklaven und Terroristen verurteilt wurden – , diese Behauptung war schon in der Antike schwer zu vermitteln. Paulus weiß das: Denn das Wort vom Kreuz ist zwar für die, die ins Verderben gehen, Dummheit, für die aber, die gerettet werden, also für uns, ist es Kraft Gottes. Denn es steht geschrieben: »Ich werde die Weisheit der Weisen zugrunde richten, und den Verstand der Verständigen werde ich zunichtemachen« (Jes 29,14). Wo ist da noch ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo einer, der 1

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Gehalten an der Theologische Hochschule Reutlingen am 4. Juli 2015 im Rahmen der Sitzung des Verwaltungsrats der Hochschule.

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dieses Weltsystem erforscht? Hat Gott nicht die Weisheit dieser Welt als Dummheit entlarvt? Denn weil die Welt inmitten der Weisheit Gottes Gott nicht durch ihre Weisheit erkannt hat, hat Gott beschlossen, durch die »Dummheit« der Verkündigung die zu retten, die glauben. Juden fragen ja nach Zeichen und Griechen suchen Weisheit, wir aber verkündigen Christus als Gekreuzigten, für Juden ein Fallstrick und für Heiden Dummheit, für die Berufenen selbst aber, und zwar für Juden wie Griechen, verkünden wir Christus als Gottes Kraft und als Gottes Weisheit. Denn was an Gott dumm erscheint, ist weiser als die Menschen, und was an Gott schwach scheint, ist stärker als die Menschen.

Ist das nicht das Ende aller Schriftgelehrsamkeit? Gibt es nicht denen Recht, die schon immer misstrauisch gegen eine akademische Ausbildung der Prediger und Pastoren waren? Die Geschichte der Theologischen Seminare im Methodismus legt davon beredtes Zeugnis ab. Ging es dort aber meist um die Befürchtung, dass das Eintauchen in die theologische Wissenschaft das Feuer missionarischer Begeisterung löschen könne, so hier um eine grundsätzliche Frage: Wie kann man lehren und lernen, was menschlichem Verstand als Dummheit erscheint? Dass die Botschaft, dass Gott die Menschen durch den Tod seines Sohnes am Kreuz rettet, Unsinn ist, das kann man in Tübingen alle vierzehn Tagen in einem Leserbrief im Schwäbischen Tagblatt lesen. Gibt Paulus diesen Menschen nicht Recht? Und unterschätzt er nicht die Bedeutung und den Ernst der Fragen, die Juden und Griechen je auf ihre Art stellen? Ich möchte deshalb 1. ein Plädoyer für die Fragen von Juden und Griechen halten. Juden und Griechen stehen hier ja beispielhaft für die unterschiedlichen Erwartungen, die Menschen an die Verkündigung und Vergegenwärtigung göttlichen Heils haben. Juden fragen nach Zeichen, sagt Paulus. Dass Gott am Wirken ist, dafür möchte man eindeutige Zeichen seiner Macht sehen. Das erinnert an Szenen in den Evangelien, wo Gegner Jesu von ihm Zeichen fordern, die seinen Anspruch, im Auftrag Gottes zu handeln, beweisen sollen. Jesus lehnt es ab, sich so zu legitimieren. Aufgrund leidvoller Erfahrungen in den beiden jüdischen Aufständen waren auch die Rabbinen später sehr vorsichtig im Blick auf die Beweiskraft solcher Zeichen. Die Griechen stehen stellvertretend für die Welt der Heiden, charakterisieren aber auch eine Kultur, die auf Wissen und Erkennen gründet. Dass die Griechen Weisheit suchen, also alles mit dem Verstand durchdringen und verstehen wollen, war sprichwörtlich. Für sie bestand eine heilvolle Begegnung mit Gott darin, Wesen und Wirken des Göttlichen in dieser Welt verstehend zu durchdringen und sich so seiner zu bemächtigen. Paulus behauptet nicht,

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dass dies für alle Juden und Griechen gilt. Beide Gruppen sind Typen, an denen Paulus die religiösen Grundbedürfnisse der Menschheit aufzeigt. Das ist es, was Menschen von Gott erwarten. Zeichen werden gefordert, weil Menschen erwarten, dass Gott in schwierigen Situationen eingreift und hilft. Sie suchen nach handgreiflichen Beweisen seiner Macht. Die Botschaft ist nur dann etwas wert, wenn sie etwas verändert. Es gibt dazu eine eindrückliche rabbinische Geschichte: Zwei Schüler kommen zum Rabbi und berichten aufgeregt: »Rabbi, der Messias ist gekommen! Alle sagen es!« Der Rabbi sagt zu ihnen: »Schaut hinaus auf den Hof. Was seht ihr?« »Einer der Knechte schlägt den andern«, sagen die Schüler. »Dann ist auch der Messias noch nicht gekommen!« Die Realität der Gegenwart Gottes muss sich daran zeigen, dass sich wirklich etwas ändert. Nach Weisheit wird gefragt, um zu verstehen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Die Sehnsucht, uns und die Welt (und damit auch Gott) zu verstehen, gehört zu den Grundbedürfnissen der Menschheit, wenn auch nicht aller Menschen. Ein Reden von Gott scheint vielen nur sinnvoll, wenn es uns hilft zu erkennen, warum die Welt so ist, wie sie ist, und was unser Platz in dem Ganzen ist. Man kann diese Herausforderung philosophisch oder naturwissenschaftlich angehen. Ist das Ergebnis unbefriedigend, wird oft auch Hilfe bei esoterischer religiöser Weisheit gesucht. Beide Sehnsüchte berühren tiefe Schichten menschlichen Lebens und sind nicht einfach verwerflich. So gibt es bis heute nicht wenige religiöse Bewegungen innerhalb und außerhalb des Christentums, die Menschen dadurch anziehen, dass sie versprechen, ihnen zu zeigen, wie Gott machtvoll in ein Leben eingreift, oder dass sie behaupten, sie zu einer tieferen Erkenntnis Gottes und des Seins zu führen. Für Paulus aber liegt der Fehler beider Haltungen darin, dass ein Beweis für die Wahrheit und Wirklichkeit des Handelns Gottes gefordert wird, und sich der fragende und suchende Mensch so zum Richter über Gott aufschwingt. Doch der Gott, der sich aufgrund solcher Fragen offenbaren würde, wäre nichts anderes als die Projektion unserer Wünsche, also ein Götze. Darum kann Paulus hier nicht den Juden ein Jude werden und ihnen mit Zeichen und Wundern die Vollmacht der Botschaft von Gottes Messias beweisen (vgl. 9,19f.), oder den Griechen ein Grieche und ihnen durch philosophische Überlegungen die Weisheit der Botschaft von Christus demonstrieren. Deshalb möchte ich 2. den Versuch wagen, Paulus zu verstehen. Mit einem Wir aber stellt er diesen Wünschen und Bedürfnissen das Zentrum der christlichen Verkündigung gegenüber. Ihr Inhalt ist Christus als der Gekreu-

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zigte. Das freilich ist für die Menschen nicht nur unverständlich, sondern zutiefst anstößig und unsinnig. Stellvertretend für die ganze Menschheit nennt Paulus auch hier die Reaktion von Juden und Heiden. Für die Juden ist die Verkündigung eines gekreuzigten Messias ein Skandal, bzw. genauer übersetzt: ein Fallstrick. Die herkömmliche Übersetzung Ärgernis oder Anstoß ist zu schwach. Indem die Juden sich über den Skandal der Kreuzesbotschaft empören, straucheln sie auf ihrem Weg mit Gott und kommen gerade an seiner unbegreiflichen Liebe und Erniedrigung zu Fall. Für die nichtjüdischen Menschen (die Völker oder Heiden) ist die Verkündigung eines gekreuzigten Retters dagegen schlicht Dummheit, ja Unsinn. Dass Gott seinen Sohn ans Kreuz schlagen lässt, um die Welt zu retten, das ist für sie einfach absurd. Wie können dann die Christen behaupten, dass Gott gerade dadurch zum Heil der Welt gehandelt hat? Das hat seinen Grund in der Erfahrung, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat. Erst im Licht der Auferstehungsbotschaft war es möglich, vom Sinn des Todes Jesu am Kreuz zu sprechen. Durch seine Auferweckung hat sich Gott zu dem gekreuzigten Christus bekannt und die Bedeutung seines Leidens und Sterbens erschlossen. Paulus selbst wurde durch die Begegnung mit dem Auferstandenen zum Verkündiger des Gekreuzigten. Aber der Auferstandenen bleibt der Gekreuzigte. Seine grausame Hinrichtung wird nicht ausgeblendet oder ungeschehen gemacht, sondern in ihrer wahren Bedeutung erkannt: Hier ist Gott mit seiner Liebe den Menschen in der tiefsten Tiefe ihrer Not nahegekommen. Darum ist das Wort vom Kreuz das Kraftzentrum des Evangeliums, mit dem Gott das Verderbensgeschick der Menschen durchbricht. Für uns ist diese Botschaft Kraft Gottes sagt Paulus. Aber er beginnt diesen Satz im griechischen Original nicht wie die Lutherübersetzung mit einem triumphalistisch klingenden uns aber, sondern stellt das für uns nach, als wolle er vergewissernd fragen: Zu denen, die auf dem Weg zur Rettung sind, gehören doch auch wir – oder nicht? Warum geht Gott diesen Weg? Für Paulus ist menschliches Fragen nach Wahrheit und Streben nach Weisheit ja nicht grundsätzlich falsch. Aber wenn es sich von den Vor-Urteilen einer Weltsicht bestimmen lässt, die Gott in das eigene Denksystem zwängt und Gott die Bedingungen stellt, unter denen er in Erfahrung treten soll, verfehlt es Gott und sein Handeln. Und darum hat Gott beschlossen, einen Weg zum Heil der Menschen zu gehen, der weder von menschlichem Erkennen noch menschlichem Tun abhängig ist. Er beschloss – so sagt Paulus –, durch die Torheit der Verkündigung die zu retten, die glauben. Das ist keine Notlösung, die Gott wählt, weil der andere Weg versagt hat. Es ist der Weg, auf dem Gott zu den Menschen in ihrer tiefsten Gottferne kommt und sich ihnen am Kreuz als der Gott offenbart, der auch in der letzten Not bei ihnen ist und für sie eintritt. Das zu verkünden, scheint unsinnig. Aber in Walter Klaiber, Predigt über 1. Korinther 1,18–25

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der Rede von der Dummheit der Verkündigung steckt eine tiefe Ironie: Was als Dummheit oder Torheit erscheint, ist in Wirklichkeit Ausdruck der alle umfassenden Weisheit Gottes. Und so geschieht das Wunder, dass Menschen in dieser Botschaft Gottes rettende Weisheit erfahren. Sie können glauben: Sie können sich der Zusage anvertrauen, dass Gott im Kreuzestod Jesu ganz zu ihnen heruntergekommen ist. So werden sie gerettet, geborgen in der Gemeinschaft mit Gott. Glaube ist keine menschliche Leistung. Glaube entsteht, wo das Wort vom Kreuz ihre Abwehrreaktionen durchbricht und ihr Herz für die Kraft und Weisheit der Liebe Gottes öffnet. Er ist nicht an eine bestimmte religiöse oder kulturelle Sozialisation gebunden. Juden und Griechen, Menschen mit ganz unterschiedlichem Vorverständnis werden von der Botschaft erreicht und erleben: Gerade hier, wo wir es nicht erwartet hätten, erhalten wir Antwort auf unsere Fragen. Deshalb möchte ich 3. dazu ermutigen, die Theologie des Kreuzes zu denken und zu lehren. Denn Paulus ist ja überzeugt, dass gerade das Wort vom Kreuz eine nachdenkende Theologie begründet. Wem Gott in der Verkündigung vom gekreuzigten Christus begegnet, dem erschließt sich eine letzte Wahrheit: Gott zeigt die Kraft und die Weisheit seiner rettenden Liebe gerade im schändlichen Tod seines Sohnes, weil er dadurch den Menschen in der äußersten Tiefe ihrer Not nahe kommt. Gott lässt sich im Tod Jesu Christi auf die ganze Absurdität der menschlichen Situation ein. Das aber erweist sich als weiser als die Menschen und das, was sie sich an Heilswegen ausdenken. Und das Schwache an Gott, d.h. die Erniedrigung und Schwäche, in der er sich um der Liebe willen verwundbar macht, ist stärker als die Menschen und all das, was sie als Erweis göttlicher Kraft fordern oder wünschen. Gottes Handeln in Christus befriedigt nicht die gefühlten religiösen Bedürfnisse der Menschen nach machtvoller Gegenwart Gottes oder spekulativer Durchdringung der letzten Fragen des Seins, aber es zeigt die Tiefe und die Kraft seiner Liebe. Deshalb bietet Paulus keine rationale Erklärung für die Notwendigkeit des Kreuzestodes Jesu, etwa durch den Hinweis, dass ein umfassendes Sühnopfer nötig gewesen sei. Er verkündet das Kreuz als Gottes Weg zum Heil. Aber er tut dies so, dass die Glaubenden verstehen: Wir erkennen Gott gerade dort und können die Kraft seines Heilshandelns gerade dort erfahren, wo Gott ganz schwach wird und sich »verrückt« benimmt. Denn im Tod Jesu am Galgen sucht Gott uns dort auf, wo wir tatsächlich sind, nämlich

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DOI 10.2364.3846998243

in der tödlichen Ferne von Gott. Auf die Frage: Wo ist Gott? – etwa angesichts menschlichen Leidens – lautet die Antwort: Im Kreuz Christi ist er mittendrin! Vielleicht erscheint das zunächst wie eine Engführung theologischen Denkens. Aber ich bin überzeugt: Aus dieser grundsätzlichen Einsicht lässt sich eine umfassende Theologie entfalten, zum Beispiel in einer Schöpfungstheologie, in der nicht nur das »sehr gut« von Genesis 1, sondern auch das Mitseufzen mit einer gequälten Kreatur aus Römer 8 Platz hat. Diese Einsicht kann Grundlage einer Anthropologie sein, die den Wert der Menschen nicht an ihrer Intelligenz oder ihrer Leistung oder ihrer Schönheit misst, sondern sie alle als von Gott geliebte erkennt und schätzt. Sie ist die Begründung einer Ethik, die sich am Liebesgebot orientiert, das ja vielen ebenso wie das Wort vom Kreuz als Dummheit erscheint und in dem doch all das zusammengefasst ist, was menschliches Leben wirklich sinnvoll und lebenswert macht. Und wo sie im Licht der Auferstehung gesehen wird, ist eine Theologie des Kreuzes eben nicht nur paradoxe Verklärung des Leidens, sondern trägt die Hoffnung auf seine Überwindung in sich. Nicht alles wird in dieser Theologie sagbar und erklärbar sein. Karl Barth hat im Blick auf unsere Unfähigkeit, von Gott zu reden, das Bild von der Nabe eines Rads gebraucht und gesagt: Die Mitte muss frei bleiben, damit Gott selbst reden und handeln kann. Dass das in der Theologie dieses Hauses geschieht, das schenke Gott. Amen.

Walter Klaiber, Predigt über 1. Korinther 1,18–25

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Rezensionen Lukas Bormann, Theologie des Neuen Testaments. Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung, UTB 4838, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, 424 Seiten, ISBN 9783825248383, € 24,99. Lukas Bormann, Professor in Marburg, hat 2017 die jüngste Theologie des Neuen Testaments in deutscher Sprache veröffentlicht. Schon auf den ersten Blick zeigt sich, dass hier ein begnadeter Didaktiker am Werk ist: Mit gut 400 Seiten ist diese Theologie um einiges schmaler geraten als die Werke der letzten zwanzig Jahre, durch deren 700 bis 1400 Seiten man sich jeweils durchzukämpfen hatte. Bormann versteht es, sich auf das Wichtigste zu konzentrieren, auch wenn dies bedeutet, dass z.B. bei Paulus die Ekklesiologie und die Pneumatologie praktisch unberücksichtigt bleiben. Man kann dies als Versäumnis des Autors lesen, aber diese Fokussierung trägt wesentlich zur Übersichtlichkeit und Lesbarkeit bei. Dieses Buch ist kein Kompendium und auch kein Lexikon, es ist ein Lehrbuch und ein Lernbuch. Für die Gelehrten unter den Lesern bringt es sprachlich versiert und unterhaltsam auf den Punkt, was und wie heute theologisch verhandelt wird, und den Lernenden bietet es eine Übersicht über die zentralen Punkte des neutestamentlichen Stoffes, den sie für das Examen zu lernen haben. Der großzügige Leerrand für Notizen, der durch Stichworte strukturiert ist, die grau unterlegten Kurzzusammenfassungen am Ende jedes Kapitels und die Forschungsgeschichte, die nicht bloß quasi als Vorspiel dem Thema vorangesetzt ist, sondern als Teil der thematischen Erörterung besprochen wird, all dies trägt dazu bei, dass diese Theologie gut und gern und leicht zu lesen ist. Man braucht sich an ihr nicht die Zähne auszubeißen, und trotzdem bietet sie reichhaltige Nahrung. Kurz und gut, Aufbau und Gliederung, Sprache und Verständlichkeit, Vollständigkeit und Konzentration machen die Theologie Bormanns formal zur besten und modernsten innerhalb der deutschen Literatur. Nun zum Inhalt. Bormann hat einen narratologischen Zugang zum Neuen Testament gewählt, indem er die große Narrative des Volkes Israel in den Fokus nimmt und untersucht, wie sie in den verschiedenen Schriften des Neuen Testaments ihre Fortsetzung und Verarbeitung findet. Dieses der Literatur- und Kulturwissenschaften entliehene Konzept ist auch in theologischen Gefilden, besonders im angelsächsischen Raum, nicht unbekannt. Bormann überzeugt denn auch nicht primär durch Innovation, sondern durch Konsequenz. Der Ansatz funktioniert bei den Synoptikern nicht schlecht, denn als Narrationen lassen sie sich durchaus narratologisch analysieren, bei 106

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der Darstellung zu Jesus gelingt es weniger gut, vielleicht auch darum, weil Bormann diesem Teilstück zwar viel Raum zugesteht, letztlich aber vor derselben Problematik steht wie fast alle seine Vorgänger: Was soll man über Jesus erzählen, was man im Grunde genommen nicht doch besser beim Teil über Markus oder Matthäus sagen würde? Wie kann man eine Jesusdarstellung trennen von der Tatsache, dass Jesus in den Evangelien nie historisch beschrieben, sondern immer theologisch und spirituell interpretiert wird? Was sich nicht als echte Narration erzählen lässt, ergibt auch keine überzeugenden narratologischen Resultate. Auch bei Paulus schließlich zeitigt der Ansatz kaum Früchte, aber das wird niemanden verwundern, der intensiver über den Völkerapostel gearbeitet hat: Paulus denkt und schreibt eben doch sehr eigenständig und widerständig, er wehrt sich quasi auf jeder Zeile gegen eine konzeptuelle Vereinnahmung, seine Korrespondenztheologie ist und bleibt ein opus sui generis. Aber bei Johannes kommt der Ansatz Bormanns ganz zum Tragen, es ist richtiggehend ein Genuss, wie der Autor die Tiefenstrukturen der johanneischen Erzählung ans Licht bringt und sie sichtbar macht. Man fragt sich bei neueren Ansätzen in der Regel gerne, was sie wirklich taugen, und ob sie nicht einfach das Ewiggleiche mit anderen Worten reformulieren. Im Abschnitt über Johannes wird man eines Besseren belehrt; hier liegt für mich einer der Höhepunkte dieser Theologie. Inhaltlich betrachtet ist Bormanns Theologie kein Kontroversbuch, an dem sich die Geister scheiden sollen, vielmehr stellt der Autor pointiert und klar dar, was Sache und zumeist auch unbestritten ist. Das heißt nicht, dass er keine eigene Meinung hätte, aber er scheint sich nicht primär darum zu kümmern, in jedem Kapitel die Eigenständigkeit seiner Meinung provokant zur Schau zu stellen. Der Fachmann findet gute Zusammenfassungen der verschiedenen Ansichten, Studierende erarbeiten sich mit angemessenem Aufwand einen Überblick über die Bandbreite theologischer Diskurse. Als inhaltlicher roter Faden durch die Theologie lassen sich zwei Punkte herausfiltern: Die Narratologie und der freie Umgang mit dem Erbe der Väter. Die Narratologie als methodischer Zugang zu den Texten setzt diese in einen Erzählraum, der mit der Schöpfung beginnt und beim Ende der Zeit aufhört. Bormann versteht es zu zeigen, wie das Neue an das Alte Testament anschließt und sich in großer sachlicher und theologischer Kontinuität in die Narrative des Volkes Israel einreiht. Es gibt kaum ein Thema, ein Problem oder eine Vorstellung, die nach Bormann nicht der jüdischen Tradition entspringt, und dies zeigt er an vielen Beispielen: Die Verkündigung Jesu schöpft aus den Psalmen, den Propheten und der Diskussion des zeitgenössischen Judentums, Paulus leitet unter anderem auch seine Gnadenlehre und seine Ethik

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aus dem jüdischen Schrifttum ab, das Gesetzesverständnis des Matthäus versteht sich einerseits im Einklang mit dem Toraverständnis der Schriftgelehrten, ist aber dort, wo es dieses kritisiert, ein Selbstmissverständnis, und auch die Vorstellung der Herrlichkeit Gottes resp. Jesu bei Johannes ist alttestamentlicher Tradition entliehen. Hier jedoch tritt die Problematik des Ansatzes zutage: So sehr es Bormann versteht, neutestamentliche Theologie nicht von ihrem Umfeld abzukoppeln, sondern im Gegenteil darauf zu beharren, dass vieles, wenn nicht sogar alles bereits einmal gesagt worden ist, so sehr muss man fragen, ob hier nicht doch zu viel über den immer gleichen, etwas gar engen Leisten geschlagen wird. Können sämtliche Texte aus den Höhlen von Qumran kollektiv zur jüdischen Tradition gerechnet werden, auch wenn sie nur dort vorkommen – und selbst dort nur sporadisch? Und ist es wirklich so, dass alles im Neuen Testament, was auch nur ansatzweise ähnlich tönt wie in Qumran oder in einer anderen Gruppierung des zeitgenössischen Judentums, tatsächlich auch von dort beeinflusst worden ist? Bormann scheint zumindest zu suggerieren, dass dies der Fall ist. Wäre es nicht möglich, dass das frühe Christentum in seinen Schriften sich nicht nur an die jüdische Tradition angelehnt hat, sondern auch über sie hinaus kreativ war, Neues wagte und Gewagtes neu formulieren musste, weil das Christusereignis das Vorhandene sprachlich, spirituell, theologisch und auch emotional gesprengt hatte? Die Rückbindung an die Tradition und der konsequente Hinweis auf die inhaltliche Verbundenheit sind Bormanns Stärke, die Würdigung der Innovation und die Entdeckung des wirklich Neuen scheinen es jedoch nicht zu sein. Hier schließt sich der zweite Punkt an: Obwohl sich Bormann ganz auf den narratologischen Zugang konzentriert, bleibt er theologisch schwer zu fassen. Zum einen unterstützt er Vorstellungen, die schon fast ein Jahrhundert alt sind, wie etwa das unmessianische Selbstverständnis Jesu oder die Erfindung des Zwölferkreises durch die urchristliche Gemeinde – beides gilt heute als widerlegt. Die Hochschätzung der Logienquelle, der Bormann ein ganzes Kapitel widmet, gehört in dieselbe Kategorie. Die Betonung der Traditionsabhängigkeit des Neuen vom Alten Testament hingegen bringt Bormann in die Nähe historisch-soziologischer Forschungsrichtungen wie etwa dem Third Quest (Jesus) und der New Perspektive (Paulus). Bezüglich letzterer spricht er sich zwar recht kritisch aus, bleibt am Ende aber doch etwas blass, indem er es der kommenden Forschung überlässt, ein Urteil zu sprechen. Man kann es Bormann sicherlich zugutehalten, dass er sich inhaltlich nicht einfach auf die eine Seite schlägt, sondern seine Entscheidungen sorgfältig abwägt. Zugleich fragt man sich bis zum Schluss, ob neben der methodischen Konsequenz der narratologischen Analyse auch eine klare inhaltliche Position zum Vorschein kommt. Trotz der großartigen didaktischen Anlage des Buches und der beeindruckenden methodischen Konsequenz dürfte hier 108

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der Schwachpunkt des Werkes liegen, der den Gesamteindruck leider etwas weniger hell erscheinen lässt. Christoph Schluep-Meier Christian Zwingmann/Constantin Klein/Florian Jeserich (Hg.), Religiosität. Die dunkle Seite, Beiträge zur empirischen Religionsforschung), Münster: Waxmann, 2007, ISBN 978-3-8309-3623-7, 294 Seiten, € 49,90. Thema Die »dunkle«, die »ambivalente« Seite der Religionen ist das Thema dieses von Christian Zwingmann, Constantin Klein und Florian Jeserich herausgegebenen Buches. Aus psychologischer, theologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive haben sie das Ziel, mit diesem (3.) Sammelband die beiden ebenfalls bei Waxmann erschienenen Vorläuferbände »Religiosität: Messverfahren und Studien zu Gesundheit und Lebensbewältigung« (2004) und »Religiosität, Persönlichkeit und Verhalten« (1996) um den Aspekt des »insgesamt zutiefst ambivalenten« (Zwingmann, Klein und Jeserich: Vorwort, ohne Seitenzahl) Charakters von Religion zu ergänzen. Empirische Forschung umfasst bei diesem interdisziplinären Blick auf Religion/Religiosität/Spiritualität aus Sicht der Herausgeber sowohl quantitative Analysen als auch verschiedenartige qualitative Ansätze, Originalarbeiten und Übersichtsartikel. De facto stehen die abrahamitischen Religionen, insbesondere das Christentum westlicher Prägung im Fokus (Zwingmann, Klein und Jeserich, 13). Religion ist ein zutiefst ambivalentes Phänomen, das zugleich Chancen und Risiken birgt. Der vorliegende Band nimmt – auf empirischer Grundlage – explizit die Schattenseiten von Religiosität in den Blick. Dabei wird in drei Abschnitten Religiosität als individuelle Belastung, Religiosität als zwischenmenschliche Belastung und belastende Religiosität in spezifischen Kontexten untersucht. Im Einzelnen behandeln die insgesamt zehn Beiträge in diesem Band die folgenden Themen: negative Gottesbilder, »ekklesiogene Neurose«, religiöse/spirituelle Konflikte, rigides Kohärenzgefühl, Religiosität und Vorurteile bzw. »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«, religiöser Fundamentalismus, Religiosität im Kontext sexuellen Missbrauchs, »pathologische Religiosität im psychiatrischen Kontext sowie Konflikte zwischen Religion und Schulmedizin« (aus dem Klappentext).

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Die neben den Herausgebern weiteren beteiligten Autor*innen, Anton Bucher, Julie J. Exline, Barbara Haslbeck, Peter Kaiser, Beate Küpper, Eric D. Rose, Ina Wunn und Andreas Zick, kommen aus den Forschungsbereichen Religionspädagogik, Religionswissenschaft, Soziale Arbeit, Psychologie und der interdisziplinären Konflikt- und Gewaltforschung, außerdem ist die katholische Fort- und Weiterbildung vertreten. Die gewählte Thematik ist gerade für den deutschsprachigen Bereich besonders interessant, weil hier bis in die 1980er Jahre hinein vor allem die negativen Auswirkungen von Religion auf die psychische Gesundheit diskutiert wurden. Ein Umschwung erfolgte in der Zwischenzeit durch US-amerikanische Untersuchungen, in denen positive gesundheitsbezogene Effekte von Religion stark in den Vordergrund gerückt wurden. Inzwischen hat sich die Forschung in Nordamerika und Europa differenziert. Den Herausgebern geht es darum, aufgrund der Situation einer zunehmend interkulturellen Gesellschaft in Deutschland mit unterschiedlichen Religionen und religiösen Einstellungen eine Forschungslücke zu schließen, indem insbesondere negative Aspekte von Religion fokussiert in den Blick genommen werden (Zwingmann, Klein und Jeserich, 11f.). Herausgeber Prof. Dr. phil. Dr. rer. medic. Christian Zwingmann, geb. 1963, studierte Katholische Theologie, Philosophie und Psychologie in Frankfurt am Main und ist seit 2010 Professor für Empirische Sozialforschung am Fachbereich »Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie« der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen empirische Ansätze der Religionspsychologie, insbesondere das Verhältnis von Religiosität/Spiritualität und Gesundheit sowie Messung von Religiosität/Spiritualität, darüber hinaus Evaluation und Praxisforschung, Assessmentinstrumente und Outcome-Messung sowie Versorgungsund Rehabilitationsforschung (Zwingmann, Klein und Jeserich, 275). Prof. Dr. phil. Constantin Klein, geb. 1977, studierte Evangelische Theologie und Psychologie in Wuppertal und Leipzig und ist seit 2017 Professor für Spiritual Care am Universitätsklinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen die Entwicklung und Verbesserung von Methoden der empirischen Religionsforschung, die empirische Erforschung der Rolle der Religiosität bei der Einstellungsbildung, des Verhältnisses von Religiosität und Geschlecht und des Verhältnisses von Religiosität zu psychischer und körperlicher Gesundheit sowie die multiprofessionelle Berücksichtigung von Religiosität und Spiritualität im Krankheitsumgang (Spiritual Care) (ebd.). 110

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Florian Jeserich, geb. 1980, studierte Religionswissenschaft, Ethnologie und Philosophie in Heidelberg und diverse kulturwissenschaftliche Fächer an der University of Hawai’i at Mā noa (Abschluss M. A.) und ist seit 2014 Referent für Entwicklung und Ethik im Gesundheitswesen im Rahmen des Projekts »Christliches Profil katholischer Krankenhäuser« an der Katholischen Akademie Die Wolfsburg im Bistum Essen. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen die Verbindung zwischen Medizin und Religion/Spiritualität, Salutogenese, Medizinethik, alternative Heilmethoden, psychoanalytische Religionspsychologie, Ritualforschung sowie Religion und Film (ebd. 275f.). Inhaltsübersicht Die Herausgeber haben das Buch themenbezogen angelegt und die 10 Beiträge in drei thematische Teile gegliedert: Religiosität als individuelle Belastung, Religiosität als zwischenmenschliche Belastung, Belastende Religiosität in spezifischen Kontexten. Im Einzelnen geht es in den Beiträgen um negative Gottesbilder (Anton A. Bucher), die Entwicklung des Konzepts »Ekklesiogene Neurose«, Befunde und Bewertung (Christian Zwingmann, Constantin Klein und Florian Jeserich), religiöse und spirituelle Konflikte (Julie J. Exline und Eric D. Rose), Religiosität/Spiritualität und rigides Kohärenzgefühl, (Florian Jeserich, Christian Zwingmann und Constantin Klein), Religion und Menschenfeindlichkeit (Beate Küpper und Andreas Zick), Merkmale, Konzepte, Messinstrumente und Korrelate des religiösen Fundamentalismus (Constantin Klein, Christian Zwingmann und Florian Jeserich) bzw. um Befunde zur Verbreitung und zu Zusammenhängen mit Vorurteilen und Werthaltungen des religiösen Fundamentalismus in Europa und Nordamerika (dies.). Der Beitrag von Barbara Haslbeck beschäftigt sich mit Religiosität im Kontext sexuellen Missbrauchs, Peter Kaiser bietet einen Überblick mit Fallbeispielen zur pathologischen Religiosität im psychiatrischen Kontext, und Ina Wunn analysiert in ihrer Arbeit Konflikte zwischen Religion und Schulmedizin. Die Beiträge werden u. a. ergänzt durch umfangreiche Literaturangaben und ein differenziertes Sachwortverzeichnis. Diskussion und Fazit Die negativen Seiten der Religion werden im Alltag z. B. christlicher Kirchengemeinden, im Schul-und Konfirmandenunterricht, im Kontakt mit Eltern, in der Erwachsenenbildung oder in der Senior*innenarbeit in der Regel nicht offen thematisiert. Wir wissen aber, dass der Schatten, »das Unbewusste« stets mitgeht, negative Erfahrungen und Verletzungen gerade auch Rezensionen

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im Zusammenhang mit Religion/Religiosität/Spiritualität lebenslang und über Generationen hinweg weiterwirken können, wenn die Betroffenen keine Möglichkeit finden, das Erlebte mit sachkundigen Personen aus Seelsorge/Psychologie/Medizin/Sozialer Arbeit zu bearbeiten. In der Tat kommt diesbezüglich auch heute noch eine mangelnde Unterstützung seitens »kirchlicher Akteure« (Zwingmann, Klein und Jeserich: 16) vor. Insbesondere für alle, die haupt- oder ehrenamtlich z. B. in Kirchengemeinden, Schulen oder der Erwachsenenbildung mit der Thematik in Berührung kommen, ist es daher ausgesprochen wichtig, um die negativen Seiten der Religion, denen Kinder und Erwachsene in der Familiengeschichte oder im persönlichen Erleben begegnet sein könnten, zu wissen und diesbezüglich in Unterricht, Gottesdienst, Seelsorge und insgesamt gesellschaftlich sprachfähig zu werden, wie das Zitat einer Interviewten deutlich macht: »Ich habe das Gefühl gehabt, er [der Pfarrer im Religionsunterricht] hat das so immer weggelassen, die Schwierigkeiten in der Familie. Ich hatte manchmal so das Gefühl, wir hatten Religionsunterricht, wir haben alles besprochen, aber ja nicht darüber reden, warum man zu Hause misshandelt wird. Und darauf vielleicht eine Antwort geben.« (Haslbeck, 207). Insbesondere für das Seelsorgegespräch sind z. B. die Hinweise zur pathologischen Religiosität im psychiatrischen Kontext sehr wichtig, da immer auch damit zu rechnen ist, dass sich sowohl Erkrankte, etwa mit einer (erkannten oder unbehandelten) schizoaffektiven Psychose oder deren Zugehörige an ihre/n Gemeindepfarrer*in wenden. Eine sachkundige Begleitung im Wissen um die eigenen Grenzen kann sich bei allen von der Erkrankung Betroffenen deutlich leidensmindernd auswirken. Dies gilt insbesondere für die Unterstützung der Angehörigen, die aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht oft gar nicht wissen, dass sie es mit den Auswirkungen einer psychischen Erkrankung zu tun haben. Sie haben oft einen hohen Leidensdruck, weil ihnen in ihrem sozialen Umfeld (auch in der Kirchengemeinde) aus Unkenntnis nicht selten suggeriert wird, sie müssten sich nur mehr bemühen, damit es dem Betroffenen wieder gut geht. Gut verständliche Erklärungen können hier bereits zu deutlicher Entlastung beitragen, z. B.: »Pathologisch ist die Art und Weise des Denkens der Betroffenen – also nicht das, ›was‹ er denkt (und ausdrückt), sondern ›wie‹ gedacht und daraus Schlüsse gezogen werden. Der Betroffene wird also wegen seiner unumstößlichen Gewissheit, Gott zu sein und entsprechend handeln zu müssen, und den sich daraus für ihn und seine soziale Umgebung ergebenden Problemen in psychiatrische Behandlung kommen. […] Wenn Menschen Vorstellungen haben, welche in der kulturellen Umgebung als nicht möglich betrachtet werden, und diese Vorstellungen für diese Menschen Absolutheitscharakter haben, dann wird dies in der Psychiatrie als Wahn bezeichnet« (Kaiser: 236f.). 112

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Das Anliegen der Autor*innen, die belastenden Seiten von Religion/Religiosität/Spiritualität auf neuestem Stand fokussiert zu thematisieren, ist in seinen positiven Auswirkungen nicht zu unterschätzen. Es ist ihr Verdienst, hier mit großer Sachkunde in ihre jeweiligen Arbeitsfelder einzuführen und dabei gerade auch tabuisierte Aspekte wie Religiosität und Vorurteile, Religiosität im Kontext sexualisierten Missbrauchs, Religion und Wahn facettenreich vorzustellen. Leider konnten, wie die Herausgeber selbst schreiben, »die wichtigen Themen ›religiöse Intergruppenkonflikte‹ und ›Religion und Terror‹« in diesem Band noch nicht bearbeitet werden (Zwingmann, Klein und Jeserich, 13). Die hier bereits vorliegenden Arbeiten könnten eine gute Grundlage für eine mögliche zukünftige diesbezügliche Textsammlung zu diesen Fragen ergeben. Das Buch eignet sich hervorragend zur interdisziplinären Horizonterweiterung. Es ist bereits für Studierende insbesondere der (Religions)-pädagogik, Religionswissenschaft, Theologie, Medizin, Sozialen Arbeit und Psychologie geeignet und bietet auch erfahrenen Praktiker*innen aus diesen Bereichen, die mit Jugendlichen und Erwachsenen arbeiten, sowie allen am Thema Interessierten, neue Erkenntnisse und vielfältige Anregungen. Den Autor*innen ist es gelungen, die komplexe und vielschichtige Thematik sowohl differenziert als auch anhand von Tabellen, Abbildungen und zahlreichen Fallbeispielen und Interviewauszügen anschaulich darzustellen. In jeweils unterschiedlicher Gewichtung und Schwerpunktsetzung verbinden die Beiträge Schilderung und Reflexion sehr persönlicher Erfahrungen mit fachlicher Reflexion aus dem Blickwinkel der jeweiligen Expertise der Autor*innen. Besonders angenehm ist die auch für Leser*innen aus anderen Fachbereichen fast durchgehend sehr gut verständliche Schreibweise der Beiträge. Dass es aufgrund des interdisziplinären Charakters religionsbezogener Forschung und der verschiedenartigen Ansätze zu thematischen Überschneidungen der drei gewählten Schwerpunkte kommt, liegt in der Natur der Fragestellung. Gerade die Unterschiedlichkeit der hier gesammelten Zugänge zum Thema lädt dazu ein, die gesammelten Arbeiten zu den im jeweiligen beruflichen Kontext gerade aktuell interessierenden Aspekten zu Rate zu ziehen. Die hohe Qualität der Aufmachung des Buches und die angenehme Schriftgröße tun ein Übriges, um den/die Leser*in dieses Werk gerne zur Hand nehmen zu lassen. Corinna Schmohl

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Wolfgang Thielmann (Hg.), Alternative für Christen? Die AfD und ihr gespaltenes Verhältnis zur Religion, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2017, 192 Seiten, ISBN 978-3-7615-64394, € 17,00. Die »Alternative für Deutschland« (AfD) hat eine enorme Medienpräsenz. In Theologie für die Praxis erscheint die Rezension eines Buches zur AfD mit dem Titel »Alternative für Christen?«, weil die AfD sich als Verteidigerin des christlichen Abendlandes versteht, aber zugleich von den christlichen Kirchen kritisiert wird; weil sie um Christen wirbt, aber das Christsein wohl nach ihren politischen Absichten bestimmen will; weil es in manchen christlichen Gruppierungen offenbar Anfälligkeiten für konservative Positionen der AfD gibt. Die Aktualität des Buches ist schon dadurch gegeben, dass im Frühsommer 2018 der bayerische Ministerpräsident Markus Söder mit dem christlichen (?) Kreuz einen Zug durch die staatlichen Institutionen veranstaltet. Wolfgang Thielmann, freier Publizist und Pastor der Evangelischen Kirche im Rheinland, bringt das Buch »Alternative für Christen?« zum Höhepunkt des Wahlkampfes der Bundestagswahl im Juli 2017 heraus, um Kirchen und Gemeinden zu »helfen, sich mit der AfD auseinanderzusetzen, aber das Gespräch nicht aufzugeben«. In seinem Vorwort berichtet Thielmann, dass die AfD nicht nur im Gemeindesaal einer evangelischen Kirche gegründet worden ist, sondern auch dem Milieu eines konservativen Protestantismus entstammt (wobei die ersten Führungsfiguren inzwischen ausgetreten sind oder keine Rolle mehr spielen: Bernd Lucke, Frauke Petry und Konrad Adam). Da liegt die Auffassung nahe, konservative Christen ließen sich von dem Parteiprogramm in besonderer Weise ansprechen. Auf der anderen Seite aber äußert sich die AfD zunehmend kirchenkritisch (beim Bundesparteitag vor der Wahl wird zum Austritt aus der Kirche aufgerufen), während sie das Christentum in einem diffusen Verständnis wiederum zur Quelle der »deutschen Leitkultur« erklärt und letztlich zur Abwehr des Islam in Deutschland in Gebrauch nehmen will. Thielmann betont, dass die Kirchen das Gespräch mit der AfD suchen müssten, dass aber Vertreter der AfD (Anette Schultner) und Vertreter der evangelikalen Bewegungen nicht für einen Buchbeitrag zu gewinnen gewesen seien. Er beschreibt die AfD als eine »Partei der heilen Welt. Ihr Deutschland besteht aus Reinräumen und Klartexten. Es ist die Welt der kulturellen, ethnischen, wirtschaftlichen und politischen Eindeutigkeiten.« – und damit wohl als eine Partei von gestern. Das Buch enthält elf Beiträge verschiedener Autoren und Autorinnen, die allgemeine Überlegungen zum Thema anstellen oder sich mit einzelnen Ereignissen in Begegnungen von AfD und Kirche befassen. 114

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Liane Bednarz, eine konservative Publizistin, spricht von einer drohenden Spaltung der Gesellschaft und sieht »ein bestimmtes christliches Milieu«, darunter Freikirchen, »als besonders anfällig für die Parolen der rechten Seite«. Sie meint, dieses Milieu habe schon immer enge Verbindungen mit den Vorläufern der Neuen Rechten gepflegt. Der Beitrag von Bednarz hat das Verdienst, historische Vorläufer (etwa Carl Schmitt), die internationale Dimension der ›Neuen Rechten‹ (etwa Alain de Benoist) und entscheidende Schlagworte der rechten Debatte anzuführen (Ethnopluralismus, Islamisierung des Abendlandes, Gender, etc.). Vermutlich ist es aber dem Umfang ihres Textes geschuldet, dass diese Darlegungen eher holzschnittartig bleiben. Schade, dass sie immer wieder ein politisch gefährdetes, konservativ christliches Milieu nennt, ohne dies näher kenntlich zu machen: Zwar werden einige eher skurrile Einzelfiguren erwähnt, der Leser wüsste aber doch gern, wie das genannte christliche Milieu zu fassen wäre. Benjamin Lassiwe charakterisiert die Arbeit der AfD-Fraktion im Landtag von Brandenburg. Er greift die Stichworte Fremdenfeindlichkeit, Flüchtlingspolitik, Medien und Gender auf. Einen politischen Gestaltungswillen vermag er bei den AfD-Parlamentariern nicht zu erkennen, deren Versuch, medialen Wirbel – etwa über Facebook-Auftritte – zu erzeugen, gelinge allerdings immer wieder. Das Buchthema Religion, Christentum und Kirche spielt in Lassiwes Beitrag keine Rolle. Der evangelische Pfarrer Ulrich Kasparick hat in politischen Ämtern Erfahrungen gesammelt. In seinem Text beschreibt er eine ländliche Situation im Nordosten Brandenburgs, die von demografischem Wandel und einem verbreiteten Atheismus gekennzeichnet ist. Er beklagt, dass das nachbarliche Gespräch zunehmend durch Kommunikation im Internet ersetzt worden sei, also anonym und in geschlossenen Systemen verlaufe. Dem will er eine offene und klare Sprache vonseiten der Kirche (er nennt die einflussreiche Streuung von Gemeindebriefen) und der Pastoren entgegensetzen und ruft dementsprechend die Kirche zur Teilnahme am öffentlichen Gespräch auf. Pfarrer Sven Petry, bis 2016 Ehemann der ehemaligen Sprecherin der AfD, Frauke Petry, will mit seinem Beitrag verständlich machen, warum Menschen die AfD wählen: Er identifiziert reale Enttäuschungen, aber auch Irritationen über eine angeblich zu liberale und linke EKD. Dabei lege das Parochialprinzip nahe, dass das Kirchenvolk im Großen und Ganzen nicht anders ticke als der Rest der Gesellschaft. Den Wunsch nach mehr direkter Demokratie bzw. Basisdemokratie sieht er begründet im Unverständnis der Wirkungsweise der repräsentativen Demokratie (in Kirche wie Staat). Reale oder nur befürchtete Verlust- und Vergeblichkeitserfahrungen solle die Kir-

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che auch da anhören, wo sie sie nicht teilt, und zu ihrer Überwindung Vertrauen vorleben – Vertrauen auf die christliche Botschaft und den Sinn des Dialogs. Der Beauftragte der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) am Sitz der Bundesregierung, der Baptistenpastor Peter Jörgensen, bestreitet, was FAZ und andere Medien in die Welt gesetzt haben: Dass freikirchliche Protestanten der AfD näher stünden als Mitglieder der großen Kirchen. Es gebe dazu nur eine Studie und die sei methodisch zweifelhaft. Zunächst ist der Titel »Freikirche« viel zu unscharf für ein so weitgehendes Urteil. Denn neben den Kirchen innerhalb der VEF gibt es sich selbst »freikirchlich« nennende Gemeinden, zu denen sich insgesamt zwei- oder dreimal so viele Menschen halten, wie die VEF-Kirchen Mitglieder haben. Die methodische Schwäche liege in statistischen Ungenauigkeiten. Vor allem aber habe die Nachrichtenagentur »idea«, die bei der Politisierung der Evangelikalen eine Schlüsselrolle spiele (Hansjörg Hemminger), ein Institut mit der genannten Studie betraut, das so eng mit der AfD verbunden ist, dass es deswegen und vor allem wegen seiner mangelnden Expertise für unseriös gehalten wird. »idea« könne im Übrigen gar nicht für die Freikirchen sprechen, da die sich zum Teil ausdrücklich als nicht evangelikal verstehen. Wie strittig die Haltung der Evangelikalen im Blick auf eine neue politische Rechte ist, zeigen die Ereignisse um den früheren Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz, Michael Diener (Akzeptanz der Homosexualität, Dialog mit dem Islam), und seinen Nachfolger Ekkehart Vetter (der die Aussage, evangelikal zu sein und politisch rechts zu agieren, passe nicht zueinander, unter Druck habe abschwächen müssen). Die übrigen Beiträge des Bandes kreisen um zwei vieldiskutierte Vorgänge: Den Rücktritt des gesamten Presbyteriums nach der Landtagskandidatur eines Presbyters für die AfD und die Einladung einer AfD-Vertreterin zum Kirchentag 2017 in Berlin. Der Auftritt einer AfD-Vertreterin beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin 2017 hat für einige Diskussionen und sogar eine Gegenbewegung aus der Evangelischen Kirche gesorgt. Beim Katholikentag 2016 in Leipzig waren AfD-Vertreter unerwünscht gewesen (beim Katholikentag 2018 in Münster ist ein Podium mit einem AfD-Vertreter geplant). Die Präsidentin des Kirchentages 2017, Christine Aus der Au, begründet in ihrem Beitrag die Einladung einer AfD-Vertreterin mit der Überschrift: Wir müssen reden! Das Gespräch mit Anette Schultner, der Vorsitzenden der Gruppe »Christen in der AfD« mit der Publizistin Liane Bednarz und Bischof Markus Dröge ist am Ende des Buches (mit teils leicht entstellenden Kürzungen) dokumentiert. Markus Dröge ist zuvor mit einem eigenen Beitrag – dem Vortrag vor einer Berliner Kreissynode im März 2017 – vertreten. Ebenso wie Dröge spricht sich auch Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche 116

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im Rheinland, für einen Dialog aus (wenn dadurch keine Instrumentalisierung der Kirche stattfinde). Auf die Vorgänge rund um ein Presbyteriumsmitglied, das für die AfD in den nordrhein-westfälischen Landtag einziehen wollte, beziehen sich die Artikel des betroffenen Presbyters, der zuständigen Superintendentin und eines Juristen. Hartmut Beucker, Rechtsanwalt, AfD-Landtagskandidat und Presbyter seiner Kirchengemeinde beschreibt zunächst seinen Weg in die Partei und den Grund für seine Kandidatur. Mit seiner konservativen Sicht auf die Bildungspolitik, den Umgang mit der Schuldenkrise in Griechenland, die »unkontrollierte Grenzöffnung« im Herbst 2015 und mit seinem Verständnis von Nation und Staat will er seinen Weg zur AfD begründen. Der Umgang der Evangelischen Kirche im Rheinland mit seiner Kandidatur bleibt für ihn unverständlich. Den Rücktritt aller anderen Mitglieder des Presbyteriums habe die zuständige Superintendentin mit einer Interviewäußerung nahegelegt. Einen rechtlichen Grund für die Unvereinbarkeit von AfD-Mitgliedschaft und Mitarbeit im Presbyterium gebe es nicht. Mit dem AfD-Parteiprogramm bezeichnet er die »religiöse Überlieferung des Christentums« als eine der »Wurzeln der deutschen Leitkultur« – Beucker nennt dies eine nicht zu leugnende Tatsache. Es ist zu vermuten, dass zu genau dieser Deutung vonseiten der Kirche Gesprächsbedarf gesehen wird. Und tatsächlich betrachtet die Superintendentin Ilka Federschmidt die Gleichsetzung von Leitkultur und Christentum als eine gefährliche Vereinnahmung des Christentums durch politische Interessen. Es gehe nicht an, dass das Christentum dem Deutschtum, sofern es ihm widerspricht, unterworfen werde. Sie begründet dies im Interview (mit dem Herausgeber Wolfgang Thielmann) mit dem Verweis auf die Barmer Theologische Erklärung. Der Rechtsprofessor und Presbyter Jacob Joussen sieht keine rechtliche Unvereinbarkeit von AfD-Mitgliedschaft und Tätigkeit in der Kirche. Er spricht sich in solchen Fällen für eine politische Auseinandersetzung und den Gang in die Öffentlichkeit aus und kommt zu dem Schluss: »Es geht zwar beides: Christ sein und AfD-Ziele propagieren. Aber es passt nicht zusammen.« Bischof Dröge setzt sich zunächst allgemein mit dem um sich greifenden Phänomen des Rechtspopulismus auseinander. Mit der Behauptung, das abendländische Christentum zu verteidigen, funktionalisiere die AfD den christlichen Glauben zur Abwehr des Islam. Wo die AfD gesellschaftliche Probleme aufgreife, trage sie nichts zu deren Lösung bei, sondern verschärfe sie nur. Von nationalsozialistischem Gedankengut distanziere sie sich nicht, weil dies bei ihren Anhängern weit verbreitet sei. Bei allem benutze die AfD unseriöse, verzerrende Methoden der öffentlichen Kommunikation (so folgt auf bewusste Provokationen oft eine unglaubwürdige Relativierung der provozierenden Aussagen). All dem habe die Kirche die Kernaussagen der Charta Rezensionen

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Oecumenica von 2001 (Versöhnung, Menschenwürde und -rechte, interreligiöser Dialog, Migration, Umwelt) und die Erinnerung an die Barmer Theologische Erklärung entgegenzusetzen. Wie alle anderen Autoren und Autorinnen des Buches spricht sich auch Präses Manfred Rekowski für Dialog, Debatte und offene und kontroverse Diskussion aus. So hat er sich im Dezember 2016 zu einem Gespräch mit Frauke Petry bereitgefunden. Eine Grenze des Dialogs sieht er dort, wo es dem Gegenüber allein um eine Bühne für Provokationen geht. Die Kirche dürfe sich nicht instrumentalisieren lassen. Auch Rekowski bezieht sich auf die Barmer Theologische Erklärung und argumentiert eher grundsätzlich theologisch. So möchte er daran festhalten, dass aus dem universalen Evangelium nicht eine national zentrierte Religion werden kann, und folgt damit einer aktuellen Erklärung der Kirche der Böhmischen Brüder, der daran gelegen ist, dass die Bezeichnung ›christlich‹ nicht sinnentleert wird (etwa durch einen Zusammenhang mit der Verbreitung von Vorurteilen und Fremdenhass). Die das Buch abschließende Dokumentation des Gesprächs beim Kirchentag 2017 in Berlin zeigt die AfD-Vertreterin Anette Schultner als eine eher harmlose Diskutantin. Mehrfach wird sie bei ausweichenden Antworten ein zweites Mal gefragt, der Undifferenziertheit oder mangelnder Sachkenntnis geziehen. Erkennbar wird aus diesem Gespräch jedoch, dass es nicht so sehr eine umsichtige politische Argumentation als vielmehr ein Unbehagen an allerlei gesellschaftlichen Veränderungen ist, was die AfD aufgreift, in ihrem Sinne deutet bzw. verzerrt und ihrer Klientel zur Bestätigung zurückgibt. Anette Schultner war zur Zeit des Gesprächs Vorsitzende der Gruppe »Christen in der AfD«, inzwischen ist sie aus der AfD ausgetreten. In schnelllebigen Zeiten merkt man dem Buch an, dass es vor der Bundestagswahl geschrieben worden ist, mit deren bekannten Resultaten nun umzugehen ist. Ich halte es für denkbar, dass die in dem Buch vielfach hochgehaltene Bereitschaft zum Dialog mit der AfD, also mit ihren Vertretern, durch deren erkennbare Offenheit zur politisch ganzen rechten Seite nachlässt. Mit den Wählern und Wählerinnen sollte das Gespräch jederzeit gesucht werden. Auch wenn das Buch ein Beitrag zur Bundestagswahl im Herbst 2017 sein sollte, hätte eine vertiefte historische Perspektive (An was knüpft die Neue Rechte an?) und ein weiterer Blick auf die internationale Vernetzung (Mit wem will die Neue Rechte international Kontakt haben?) dem Buch gut getan. Nicht alle Beiträge sind für dieses Buch verfasst. Eine Liste mit den Nachweisen wäre hilfreich gewesen (Von wann ist das Interview mit Ilka Federschmidt?).

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Wolfgang Thielmann hat das von ihm herausgegebene Buch in der Theologischen Hochschule Reutlingen im Rahmen des Interdisziplinären Seminars im Herbst 2017 vorgestellt. »Freikirchen« (im traditionellen Sinn des Wortes, das seine Berechtigung eingebüßt zu haben scheint) sollten durch ihre Internationalität, ihre Multikulturalität, ihre Erfahrungen als Minderheitenkirchen und ihren Einsatz für Religionsfreiheit (seit ihrer frühesten Geschichte) vor einer Verführbarkeit durch jeglichen Rechtspopulismus gefeit und auf Grund ihrer globalen Vernetztheit und Offenheit ganz besonders befähigt sein, das konstruktive Gespräch für die Achtung der Menschenrechte und der Würde aller Menschen und für die Verteidigung einer liberalen Demokratie zu führen. Christof Voigt

Rezensionen

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Autorinnen und Autoren Dr. Jörg Barthel, Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Friedrich-Ebert-Straße 31, 72762 Reutlingen [email protected] Dr. Holger Eschmann, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Friedrich-Ebert-Straße 31, 72762 Reutlingen [email protected] Dr. Roland Gebauer, Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Friedrich-Ebert-Straße 31, 72762 Reutlingen [email protected] Matthias Kapp, Pastor, Lehrbeauftragter für Pastoraltheologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Friedrich-Ebert-Straße 31, 72762 Reutlingen [email protected] Christoph Klaiber, Pastor, Eisenbahnstraße 5, 72770 Reutlingen [email protected] Dr. Walter Klaiber, Bischof i.R. der Evangelisch-methodistischen Kirche, Albrechtstraße 23, 72072 Tübingen [email protected] Dr. Ralph Kunz, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, Kirchgasse 9, 8001 CH-Zürich [email protected] Dr. Christoph Schluep-Meier, Pfarrer, Dennlerstrasse 25d, CH-8047 Zürich [email protected] Dr. Corinna Schmohl, Pfarrerin in der Evangelischen Krankenhausseelsorge Stuttgart, Kriegsbergstraße 60, 70174 Stuttgart [email protected]

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Christof Voigt, Professor für Biblische Sprachen und Philosophie an der Theologischen Hochschule Reutlingen, Friedrich-Ebert-Straße 31, 72762 Reutlingen [email protected] Dr. Peter Zimmerling, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, Institut für Praktische Theologie, Martin-Luther-Ring 3, 04109 Leipzig [email protected]

Autorinnen und Autoren

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