Tatian und seine Theologie
 9783666551116, 9783525551110

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MARTIN

ELZE

Tatian und seine Theologie

GÖTTINGEN · YANDENHOECK & RUPRECHT · 1960

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Band 9

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenrats in München. — © Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1960. — Printed in Germany. — Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. — Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen 7586

VORBEMERKUNG

Diese Untersuchung hat im Wintersemester 1957/58 der evangelischtheologischen Fakultät Tübingen zur Promotion vorgelegen und ist f ü r den Druck nur in Einzelheiten überarbeitet worden. In erster Linie danke ich dem Referenten, meinem verehrten Lehrer Herrn Professor D. Dr. Hanns Rückert f ü r die Richtung, die er meinen theologischen Studien gegeben hat, und f ü r seine Anteilnahme auch an dieser Arbeit. Der Korreferent, Herr Professor D. Walther Eltester, hat mich durch wertvolle Hinweise gefördert, f ü r die ich ihm aufrichtig verbunden bin. Dankbar gedenke ich bei dieser Gelegenheit auch der Anregungen, die ich in den Seminaren von Herrn Professor D. Dr. Hans Freiherr von Campenhausen empfangen habe. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Evangelisch-Lutherische Landeskirchenrat in München haben den Druck ermöglicht. Ich danke beiden Gremien sehr f ü r ihre Hilfe. Bei meiner Beschäftigung mit Tatian ist eine berichtigte Fassung des Textes und eine deutsche Übersetzung seiner Schrift an die Griechen entstanden. Sie werden im Rahmen einer zweisprachigen Ausgabe der Apologeten erscheinen. Tübingen, im September 1959 Martin Elze

INHALT

Einleitung 1. Die Überlieferung von Tatians Schriften 2. Kritik der motivgeschichtlichen Forschung (Zur Einordnung Tatians in das „syrische Christentum" bzw. in die „semitische Theologie") 3. Kritik der psychologischen Deutung 4. Die Grundkonzeption im Denken Tatians als Prinzip der Interpretation 5. Zum Gang der Untersuchung 6. Zum Problem des Textes

Kapitel 1: Tatians Äußerungen über sich selbst 1. Die Fragestellung (Schwierigkeiten f ü r eine Biographie Tatians. Fruchtbarkeit der Frage nach Tatians Darstellungsweise: Sein Grundsatz möglichster Obj ekti vität) 2. Tatians Verhältnis zur Philosophie (Der Widerspruch zwischen seiner Darstellung u n d dem wirklichen Sachverhalt. Das Christentum als „barbarische Philosophie") 3. Die Grundlagen von Tatians Denken (Das Streben nach Wahrheit als Leitmotiv seines Denkens. Die H e r k u n f t dieses Denkens aus der platonischen Schulphilosophie. Das Christentum als die Botschaft der Wahrheit)

Kapitel 2: Tatians Auffassung von der Wahrheit 1. Die Göttlichkeit der Wahrheit 2. Das Alter der Wahrheit 3. Die Einheit der Wahrheit

Kapitel 3: Tatians Schrift an die Griechen

7 7 8 11 11 13 14

16 16

19

27

34 34 36 36

41

1. Literargeschichtliche Fragen (Arüaß, Zweck u n d literarisches Genos. Ort u n d Zeit der Abfassung) 2. Die Disposition

46

Kapitel 4: Tatians Bild vom Christentum und seine Polemik gegen die Griechen

54

1. Tatian als Sprecher des ganzen Christentums 2. Göttlichkeit des Christentums. — Ungöttlichkeit der griechischen Philosophie 3. Alter des Christentums. — Epigonentum der griechischen Philosophie

41

54 57 58

6

Inhalt 4. Einheitlichkeit des Christentums. — Vielfalt u n d Widersprüchlichkeit der griechischen Philosophie 5. Prinzipielle Unvergleichbarkeit von Christentum u n d griechischer Philosophie

Kapitel 5: Tatians System der christlichen Lehre

58 60

65

1. 2. 3. 4. 5.

Die transzendente Einheit Gottes 65 Die Logoslehre. — a) Das Wesen des Logos 70 b) Das Verhältnis des Logos zum Vater 76 c) Das Verhältnis des Logos zur Welt 79 Die Kosmologie 83 (Die Geschöpflichkeit der Materie. Der Ursprung des Bösen. Das zukünftige Geschick der Materie. Die Lehre von dem zur Materie gehörenden Pneuma) 6. Die Anthropologie 88 (Die Sterblichkeit der Seele. Die paradoxe Situation des Menschen n a c h dem Fall. Der F u n k e n des göttlichen Geistes. Die Erkenntnis der Wahrheit als Wiederherstellung der ursprünglichen Unsterblichkeit) 7. Die Dämonologie 100 8. Die Lehre von der Zeit 103

Kapitel 6: Tatian in der Überlieferung: Das Urteil der Kirchenväter und das Problem des Diatessaron 106 1. 2. 3. 4. 5.

Irenäus. Hippolyt. Epiphanius. Hieronymus Rhodon. Das „Kleine L a b y r i n t h " Tertullian. Klemens. Origenes Die syrischen Quellen Zum Diatessaron

Schluß: Tatian und seine Theologie Bibliographie Register

106 113 116 120 124

127 130 135

EINLEITUNG

Herold der Wahrheit zu sein — das ist, was Tatian in seiner Auseinandersetzung mit den Griechen f ü r sich in Anspruch nimmt 1 . Dabei handelt es sich nicht um eine beiläufige Anleihe an den Sprachgebrauch seiner Zeit, sei es der christliche oder der der griechischen Popularphilosophie; sondern von einem bestimmten Verständnis der Wahrheit ist Tatians ganzes Denken geleitet, und dieses Wahrheitsverständnis ist darum auch der Schlüssel zur Interpretation seiner Theologie.

1.

Die Kenntnis der Theologie Tatians ist f ü r uns allerdings durch die mangelhafte Überlieferung seines Werkes beschränkt, und man muß sich dieser Sachlage von vornherein bewußt sein. Die Verhältnisse sind hier die gleichen wie bei Tatians Lehrer Justin: Richtig kennen wir nur den Ausschnitt, der durch die apologetische Seite seines Wirkens bestimmt ist. Die Schrift an die Griechen ist jedenfalls die einzige, die uns ganz erhalten ist. Von dem bekannteren und um seiner Auswirkungen willen wichtigeren Werk, der Evangelienharmonie, haben wir nur verschiedenste Bearbeitungen und Reflexe, die im Einzelnen so sehr voneinander abweichen, daß wir auf eine Rekonstruktion der f ü r Tatian allein maßgeblichen Urgestalt wohl ganz verzichten müssen 2 . Ebenso sind die wenigen Zeugnisse der Kirchenväter über Tatian in ihrem Wert beeinträchtigt, jedenfalls soweit sie von dem tendenziösen Urteil des Irenaus abhängig sind 3 . Damit ist aber das Quellenmaterial f ü r Tatian schon erschöpft; denn die Zuweisung von drei umfangreicheren armenischen Bruchstücken an Tatian stützt sich auf so schwache Argumente, daß diese Texte f ü r eine kritische Bearbeitung seiner Theologie 1

17, 1 p. 18, 22. Vgl. S. 33. Einen Überblick über die Texte und deren Auswertung hat zuletzt C. Peters gegeben: Das Diatessaron Tatians, 1939. Vgl. ferner A. F. J. Klijn, A survey of the researches into the Western Text, 1949, 87/110. — Seither ist das Quellenmaterial vermehrt um ein persisches Diatessaron aus dem 13. Jh. (G. Messina, Diatessaron persiano, 1951 = Biblica et orientalia 14) und um die kritische Edition von Ephrems Kommentar zum Diatessaron durch L. Leloir (CSCO 137 Text, 145 Übers., 1953/4). Vgl. dazu Leloir, Le diatessaron de T., L'orient Syrien 1, 1956, 208/31; 313/34. 3 Dazu unten S. 106 ff. 2

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Einleitung

nicht berücksichtigt werden dürfen 1 . Und die syrische Literatur gibt f ü r unsere Kenntnis Tatians bezeichnenderweise gar nichts her: Sein Name taucht nur selten und erst spät auf, die Nachrichten sind kurz und gehen auf griechische Quellen zurück. Es bleibt also dabei, daß wir uns in erster Linie an die Schrift an die Griechen halten müssen. Das ist nun trotz aller Einwendungen weniger nachteilig, als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Tatians „Apologie" fällt ja so sehr aus dem Rahmen der frühchristlichen Apologetik heraus, daß man schon deshalb die Frage nach dem besonderen Charakter von Tatians Theologie, und damit nach Tatians Theologie überhaupt, an sie zu richten hat. 2.

Um diese Frage zu beantworten, ist es nicht damit getan, lediglich einzelnen Begriffen und Vorstellungen bei Tatian und deren Traditionszusammenhängen nachzugehen — womöglich ohne Rücksicht auf den jeweiligen Kontext. Denn gewiß berührt sich Tatian, obwohl er Verwandtschaft mit Justin und der Apologetik zeigt, an manchen Stellen auch mit gnostischen Ausdrucksformen. Gewiß läßt sich beispielsweise seine Lehre von der Sterblichkeit der Seele noch sonst im orientalischen Christentum belegen. Ebenso gewiß aber verdankt er f ü r seine Terminologie wie f ü r die Form der Behandlung bestimmter Probleme vieles seiner eigenen früheren Beschäftigung mit der hellenistischen Philosophie seiner Zeit. Gerade f ü r die eben erwähnte Auffassung, daß die Seele sterblich sei, kann die griechische Herkunft mindestens mit dem gleichen Recht behauptet werden wie die orientalische. Untersuchungen, die nur mit der Zusammenstellung von Einzelparallelen operieren, scheitern also oft genug schon an der Mehrdeutigkeit der Belege. Welcher Deutung man den Vorzug gibt, hängt dann von einem anderwärts herstammenden Vorurteil ab, und das gilt erst recht, wenn man kurzerhand eine von ihnen f ü r das Gesamtverständnis Tatians verabsolutiert, anstatt sich zu fragen, von welcher Voraussetzung aus er denn eigentlich die v e r s c h i e d e n e n Elemente zu einem Ganzen hat vereinigen können. Deshalb ist es unsachlich, Tatian allein aufgrund der Feststellung motivischer Verwandtschaft etwa als Vertreter des „syrischen Christentums" oder — vorsichtiger formuliert — als Repräsentanten „semitischer Theologie" in Anspruch zu nehmen. 1 Es handelt sich um die Schriftengruppe der sog. „antimarkionitischen Erklärung von Parabeln des Herrn", die zusammen mit Ephrems Kommentar zum Diatessaron überliefert ist, in deutscher Übersetzung herausgegeben von J. Schäfers 1917 ( = Neutest. Abh. VI, 1/2). Die Zuweisung an T. erfolgte durch J. Rendel Harris, Tatian: Perfection according to the Saviour; Bull, of the John Rylands Library 8,1924,15/51. Vgl.v.Soden,ZKG 43,1924,265f.— Dazu untenS. 97 Airm. 1.

Einleitung

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Solche hypothetischen Größen und die Zuweisungen zu ihnen müßten sich außerdem an den historischen Gegebenheiten bewähren. Wenn nämlich Schlier 1 f ü r ein „syrisches Christentum", das er als dritte religionsgeschichtliche Ausprägung neben dem palästinensischen und dem hellenistischen Christentum postuliert, unterschiedslos Quellen aus Antiochia wie aus Edessa heranzieht, so ist zu fragen, ob es dem geographischen Raum Syrien entsprechend eine solche geistesgeschichtliche Einheit überhaupt gegeben haben kann. Der sprachliche Unterschied zwischen den hellenisierten Städten Cölesyriens und ihrem syrisch sprechenden Hinterland steht dem entgegen, und man sollte darum die theologischen Anschauungen im östlichen Syrien erst einmal f ü r sich betrachten. Sie beruhen auf einem eigenen Erbe palästinensischer Herkunft, das sich dort wegen des starken jüdischen Bevölkerungsanteils, aber auch aufgrund historisch nachweisbarer Beziehungen zu Jerusalem lebendig erhalten hatte 2 . Insofern wäre es eher berechtigt, von „semitischer Theologie" zu sprechen 3 . Nimmt man aber Tatian f ü r sie in Anspruch, so muß man sich wiederum fragen, wie er überhaupt mit ihr bekannt geworden sein soll. Seinen eigenen Äußerungen zufolge hat er sich erst nach längerer, eingehender Beschäftigung mit der zeitgenössischen Philosophie zum Christentum bekehrt, und zwar in Rom 4 . Entweder müßte er also Kenntnisse aus seiner Jugend bis in die Zeit nach der Bekehrung hindurchgerettet haben; denn daß es um 120 in der osttigritanischen Heimat Tatians bereits christliche Gemeinden gegeben hat, ist sicher. Oder er müßte sich in Rom an syrische Landsleute innerhalb der Gemeinde angeschlossen haben, die ihrerseits Überlieferungen aus ihrer Heimat mitgebracht und weiter gepflegt hätten. Beides sind doch nur sehr vage Möglichkeiten! Wäre man doch statt dessen einmal dem Fingerzeig gefolgt, den Tatian selbst gibt, und hätte sich gefragt, wie es denn mit seinem Verhältnis zur hellenistischen Philosophie in Wirklichkeit steht! Die Schlüsse, die man ohne Rücksicht hierauf f ü r die Stellung Tatians innerhalb der Theologie- und Geistesgeschichte gewonnen hat, indem man einzelne Motivzusammenhänge verabsolutierte, haben also 1

Religionsgeschichtliche Untersuchungen zu den Ignatiusbriefen, 1929, passim. Zur Frühgeschichte des Christentums in Ostsyrien zuletzt A. Adam, ZKG 68, 1957, 1 /47 passim. — I n weiterem R a h m e n behandelt G. Dix, J e w a n d Greek, 1953, im 1. Kapitel den Gegensatz zwischen griechischer und syrischer K u l t u r (vgl. besonders S. 17). 3 G. Kretschmar, Origenes und die Araber, ZThK 50, 1953, 258/79, bes. 272 Anm. 2. — Die Problematik dieser Terminologie zeigt sich in einem Urteil wie dem folgenden: „Eine eigene semitische Theologie haben wir also bei den Arabern auf dem Gebiet der Anthropologie u n d der Trinitätslehre nicht gefunden. Teilweise war offensichtlich semitisches Lokalkolorit vorhanden, vor allem bei ihrer Anschauung vom Schicksal der Seele nach dem Tode" (277). 4 35, 1 p . 36, 25ff. und cap. 29. 2

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Einleitung

keine ausreichende Stütze an den historischen Gegebenheiten. Das ist allen denen zu sagen, die von syrischen Elementen in Tatians Theologie sprechen, das heißt, es gilt f ü r die landläufige Beurteilung dieses Autors schlechthin 1 . Auch die Einordnung Tatians in den Zusammenhang der Gnosis ist von dieser methodischen Überlegung aus anzufechten. Sie beruht ja in gleicher Weise auf einer einseitigen Hervorhebung einzelner Motive seiner Theologie, und zwar solcher, f ü r die sich aus gnostischen Texten Parallelen anführen lassen. Demgegenüber zeugt es von einer richtigeren Einsicht, wenn Tatians Verhältnis zur gnostischen Häresie gelegentlich als ein „halbes Engagement" aufgefaßt worden ist 2 . Allerdings bedürfte dieses Urteil, das doch genau genommen eine contradictio in adiecto darstellt, nun erst einer eigenen Interpretation! Der neuerdings mit entschiedener Konsequenz im Einzelnen durchgeführte Versuch, Tatian ganz als Gnostiker zu verstehen 3 , bringt sich, von der Anfechtbarkeit seiner Begründungen abgesehen, schließlich selbst um seine Überzeugungskraft, wenn er zwar zunächst alles auf den Nachweis der Abhängigkeit Tatians von Valentinus abstellte, jetzt aber ausgerechnet das Kernstück seiner Theologie, die Logoslehre, aus der Analogie zu griechischen Grammatikern erklärt 4 . Hier wie in allen vorher genannten Fällen ist der schon angedeutete grundsätzliche Einwand gegenüber aller motivgeschichtlichen Forschung geltend zu machen: Sie hält sich bei den begrifflichen und vorstellungsmäßigen Ausdrucksmitteln der betreffenden Texte auf und kann so, gleichsam in einem Außenbezirk verbleibend, nicht zu einem inneren Gesamtverständnis der Texte gelangen. Über der Beschäftigung mit jeweils vereinzelten Komponenten bleibt ihr das einheitliche Ganze verborgen. Das zeigt sich etwa daran, daß man auf diesem Wege weder den Grund f ü r die Übernahme eines Motivs in den vorliegenden Text angeben noch erst recht die Frage beantworten kann, warum denn ein anderes gerade nicht übernommen wurde. Erst wenn das möglich ist, 1 Harnack, Mission und Ausbreitung. . . 4 1924, 700f. hat die Lehre von der Sterblichkeit der Seele als „semitisch" bezeichnet im Blick auf die arabischen Bischöfe. — Für Tatian vgl. zuletzt wieder A. Adam, ZKG 68, 1957, 22. Während es hier und allgemein die Psychologie Tatians ist, die als syrisch-orientalisch gilt, hat A. Puech, Les apologistes grecs, 1912, 148ff. die Auffassung vertreten, daß Tatians Logoslehre vom Gesichtspunkt des „Lebens" bestimmt sei, der in der syrischen Theologie eine maßgebende Rolle spielt (vgl. jetzt A. F. J. Klijn, The term 'life' in Syrian Theology, Scott. Journ. of Theol. 5, 1953, 390/7). Es ist aber theologisch ein wesentlicher Unterschied, ob man von Unsterblichkeit oder von Leben spricht. Nur das erste tut Tatian, den Begriff ζωή verwendet er überhaupt nicht. 2 J. Lebreton, Histoire du dogme de la trinite II 487: ä demi engage dans l'heresie. 3 R. M. Grant in seinen Aufsätzen zu Tatian (siehe die Bibliographie, unten S. 132). 4 Harvard Theol. Rev. 51, 1958, 128.

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darf der innere Zusammenhang des Denkens, das sich in diesem Text ausspricht, als bekannt gelten. Und nur auf dieser Grundlage ist dessen Verständnis wirklich gewährleistet. I m Umgang mit Tatian drängen sich diese Fragen nun besonders auf, etwa angesichts der Tatsache, daß er den Grundgedanken seines Lehrers Justin nicht geteilt hat, der dessen apologetische Haltung bestimmt, nämlich die Lehre von den Samenkörnern des Logos in der vorchristlichen Philosophie. 3.

Mußte man hier die Anwort schuldig bleiben, so ist es ebenso unbefriedigend, wenn man sich, um nun doch den Gesamtcharakter von Tatians theologischem Denken irgendwie zu erklären, mit dem Mittel psychologischer Interpretation behilft. Da soll es sich um den Nationalstolz des Syrers handeln, der die Kränkung, sich als Barbar herabgesetzt zu wissen, mit um so heftigerer Verachtung des Griechentums vergilt \ und f ü r die satirische Form, in der das geschieht, wird auf Tatians Landsmann und Zeitgenossen Lukian von Samosata verwiesen. Also — das ist dann der Schluß — liegt auch bei Tatian ein allgemein konstatierbarer Zug des syrischen Volkscharakters vor 2 . Andere Erklärer greifen auf persönliche Motive zurück, etwa auf das Ressentiment des Konvertiten gegenüber den Gefährten seiner eigenen Vergangenheit 3 , oder einfach auf die Feststellung einer „so kraftvoll persönlichen und unruhigen Mentalität" Tatians 4 . Wiederum geht man dabei von einem Ausdrucksmittel aus, diesmal von dem polemischen Stil Tatians, und wiederum bleibt seine eigentliche denkerische Leistung im Grunde unerklärt und unverstanden. 4.

Darum soll hier ein anderer Weg der Interpretation eingeschlagen werden: Über die Frage nach stofflichen Abhängigkeiten und psychologisierenden Motivationen hinaus wird nach einem bestimmenden Prinzip in Tatians Theologie gefragt. Statt sich mit motivgeschichtlicher Ableitung und vorurteilsgebundener Erklärung von Einzelheiten zu begnügen, wird angestrebt, aus dem Text selbst die Grundkonzeption zu 1

Vom Griechenhaß des Orientalen her wird Tatian interpretiert bei J. Geffeken, Zwei griech. Apologeten, 1907, 105/13. Ähnlich L. Alfonsi, Appunti sul Λόγος di Taziano. Convivium 14, 1942, 280. 2 K. Mras in: Die Hauptwerke des Lukian (Tusculum-Bücherei), 1954, 510f. 3 Das ist der Grundton bei G. Botti, II fattore personale nel Λόγος προς "Ελληνας di Taziano. Studi dedicati alia memoria di P. Ubaldi, 1937, 87/97. 4 „una mentalitä cosi energicamente personale e inquieta": M. Pellegrino, Studi su l'antica apologetica, 1947, 43. Vgl. auch vom gleichen Autor Gli apologeti greci del II secolo, 1947, 95/145.

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erschließen, die ihn im Ganzen wie im Einzelnen geformt hat. Von ihr her ist dann das geforderte einheitliche Verständnis von Tatians Werk und dessen richtige geistesgeschichtliche Einordnung möglich. Denn nicht wo es sich um bloße Motivverwandtschaft zwischen verschiedenen Texten handelt, darf man schon über innere Zusammengehörigkeit oder NichtZusammengehörigkeit entscheiden und daraus auf die Existenz bestimmter geistesgeschichtlicher Bewegungen schließen. Echte Zusammenhänge liegen vor, wenn die Grundverfassung des Denkens bei einem Autor ihre Entsprechung in anderen Texten findet, und erst auf dieser Ebene beantwortet sich die Frage nach der geistigen Herkunft, nach den Quellen im eigentlichen Sinn. So soll, kurz gesagt, der Versuch unternommen werden, f ü r die Deutung Tatians den Weg nachzugehen, den Hans Jonas in der Gnosisforschung eingeschlagen hat. Und in solcher Anwendung auf eine Einzelgestalt wird diese Methode dem Historiker weniger problematisch erscheinen, als wenn sie zur Interpretation einer ausgedehnten Bewegung dienen soll, deren geschichtlichen Wandlungen sie — bei Jonas jedenfalls — nicht gerecht zu werden vermag. Insofern könnte als Vorbild auch Karl Reinhardts Werk über Poseidonios gelten: Maßstab der Deutung ist ihm die „innere Form", die im Denken des antiken Philosophen Gestalt gewonnen hat 1 . Diese Methode erscheint desto angemessener dort, wo ihr Gegenstand eine ursprüngliche Geschlossenheit besitzt. Für Tatian ist das geleugnet worden 2 , aber in Wirklichkeit ist innere Einheit und systematische Geschlossenheit in Tatians Denken durchaus zu erkennen, so daß die Frage nach der einheitgebenden Grundkonzeption um so größeres Recht hat. Und wo das der Fall ist, folgt notwendig, daß sich diese Grundkonzeption in allen Werken des betreffenden Autors äußert. Auch Tatians Schrift an die Griechen mit ihrer einseitigen und so stark ausgeprägten Abzweckung kann deshalb Gegenstand dieser Methode sein. Ihre apologetische Tendenz bedeutet auf dieser Ebene des Fragens keine Einschränkung mehr, sondern umgekehrt muß sich auch in dem besonderen Charakter ihrer Apologetik jenes Grundprinzip auswirken, von dem die Interpretation sich leiten läßt. Unberührt davon bleibt natürlich das Bedauern darüber, daß neben der Oratio ad Graecos weder ein Stück der philosophischen Produktion Tatians aus seiner vorchristlichen Zeit erhalten ist — er erwähnt ein 1 K. Reinhardt, Poseidonios, 1921, l f . Vgl. Pauly-Wissowa, X X I I , 1. Halbbd., 612f. 2 Am krassesten formuliert das negative Urteil J. Geffcken (vgl. oben S. 11 Anm. 1) zu einer Zeit, als überhebliche Urteile über die Vergangenheit noch zum alltäglichen Ausdruck des Stolzes auf die eigene Gegenwart gehörten. Und doch ist die Forschung oft genug noch immer durch solche Urteile aus einer verflossenen Epoche der Geschichtsbetrachtung bestimmt!.

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Werk „Über die Lebewesen" 1 — noch auch eines seiner f ü r die Christen bestimmten Werke. Daß er sich in diesen Schriften von einer anderen Seite gezeigt hat als in der Oratio, versteht sich von selbst. Es geht überdies aus einer Stelle innerhalb der Oratio hervor, die als Probe solcher „esoterischen" Rede kenntlich gemacht ist 2 . 5. Die Grundkonzeption, die Tatians Denken prägt, hängt nun, wie sich f ü r s erste sagen läßt, mit seinem Wahrheitsverständnis zusammen, auf dessen Bedeutung eingangs schon hingewiesen worden ist 3 . Er motiviert seinen eigenen Lebensweg mit dem Streben nach Wahrheit und will sich als deren Herold verstanden wissen (Kapitel 1 dieser Arbeit). Dabei ist zu fragen, wodurch Wahrheit f ü r Tatian bestimmt ist. Als ihre Wesensmerkmale ergeben sich Göttlichkeit, Alter und Einheit, und vor allem diesen letzten Punkt faßt Tatian in charakteristischer Abweichung von Justin auf (Kapitel 2). Wie stark sein Denken formal von seinem Wahrheitsverständnis geprägt ist, zeigt eine Untersuchung über das literarische Genos und den Aufbau der Schrift an die Griechen (Kapitel 3). Auch die Eigenart seiner Polemik gegen die Griechen wie das Gegenbild, das er vom Christentum erstehen läßt, erklärt sich aus diesen Voraussetzungen (Kapitel 4). Vor allem aber kann man die Darstellung, die er von der christlichen Lehre gibt, erst dann richtig verstehen, wenn man von dem Grundansatz seines Wahrheitsverständnisses ausgeht. Zugleich erhält hier die Erkenntnis der Wahrheit als Ausdruck f ü r das Heil auch inhaltlich zentrale Bedeutung (Kapitel 5). Dabei und vor allem bei den Konsequenzen die Tatian daraus f ü r die Ethik zieht, mag man sich zwar an die Gnosis erinnert fühlen. Aber der Entwurf in seiner Gesamtheit läßt sich nicht aus gnostischen Systemen ableiten. Allerdings haben Irenäus und nach ihm andere Kirchenväter eine Charakteristik Tatians gegeben, die ihn ganz als Gnostiker erscheinen läßt, und vor allem darauf gründet sich natürlich das verbreitete Vorurteil, das Tatian mit der Gnosis in Verbindung bringt. Der Bericht des Irenäus ist aber von einer entschiedenen Voreingenommenheit gegen Tatian geprägt. Sein Urteil und das der Späteren ist also mit kritischer Vorsicht zu werten (Kapitel 6). Wenn schließlich von dem angegebenen Leitgedanken aus erkärt werden kann, wie Tatian dazu kam, eine Evangelienharmonie zu ver1

2 15, 2 p. 16, 16. 30, 1 p. 30, 2Iff. Nur J. Lortz hat bisher die „eminente Bedeutung" des Wahrheitsstrebens für Tatian betont: Tertullian als Apologet II 90. Im übrigen ist seine Charakteristik Tatians, die über verschiedene Stellen dieses Werkes verstreut ist, weitgehend von Kukula abhängig und vor allem in der Vorstellung von Tatians Gnostizismus befangen (vgl. besonders I 124. 278. 305 Anm. 88. 377ff. 392 Anm. 104. — II 4. 27. 36. 106/9. 158f.). 3

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fassen, so rundet sich das Bild, das sich auf diesem Wege von seiner Gestalt gewinnen läßt, und es rechtfertigt sich darin die eingeschlagene Methode. Dieses Bild Tatians zeigt dann aber nicht, wie bisher allgemein angenommen, den Vertreter „syrischer Theologie" oder Anhänger einer gnostischen Richtung, sondern es zeigt den Mann, der seiner philosophischen Vergangenheit trotz seiner Bekehrung zum Christentum im Grunde, nämlich in seinem Wahrheitsverständnis, ganz und gar verhaftet geblieben ist, obwohl er selber das gerade nicht wahrhaben will. Und es bestätigt sich am Beispiel Tatians, das bisher in allen einschlägigen Untersuchungen außer acht gelassen worden ist, wie stark der mittlere Piatonismus auf die Ausgestaltung der christlichen Theologie im 2. Jahrhundert eingewirkt hat 1 . Es ist der monotheistische Gottesgedanke, den Tatian in solcher Form vertritt. Er ist die fundamentale Voraussetzung seines Denkens, und selbstverständlich ist er auch f ü r ihn in der biblischen Verkündigung verwurzelt. Dessen ist Tatian sich durchaus bewußt 2 . So gesehen steht er in einer Reihe mit der ganzen christlichen und weiterhin der jüdischen Mission und Apologetik. Aber es kommt f ü r die vorliegende Untersuchung darauf an, Tatians charakteristische Stellung innerhalb dieses Zusammenhangs zu erfassen, das Besondere seiner Theologie gerade auch gegenüber Gleichgerichteten festzustellen. Und da legt es die Beobachtung, daß er den allen gemeinsamen monotheistischen Ansatz unter dem besonderen Gesichtspunkt des Problems der Wahrheit expliziert, nahe, ihn in seiner Verwandtschaft mit der platonischen Philosophie zu sehen und darzustellen, und eben dieser Gesichtspunkt des Problems der Wahrheit muß alles Interesse auf sieh konzentrieren. 6.

Die Schrift an die Griechen wurde in kritischer Edition von Ed. Schwartz herausgegeben 3 , der bei der Gestaltung des Textes ziemlich frei gegenüber der handschriftlichen Überlieferung verfuhr. E. J . Goodspeed hat f ü r seine Ausgabe 4 mit größerer Treue an den Lesarten der Handschriften festgehalten. Dieses Bestreben war richtig, und es muß 1

Neben den eingehenden Untersuchungen von Hai Koch, Pronoia und Paideusis, 1932, und C. Andresen, Justin und der mittlere Piatonismus, ZNW 44, 1952/53, 157/95 (wo er schon auf E. R. Goodenough, The theology of Justin Martyr, 1923 hätte verweisen können) sowie: Logos und Nomos, 1955, ist jetzt die zusammenfassende Betrachtung von J. H. Waszink, Der Piatonismus und die altchristliche Gedankenwelt. Entretiens sur l'antiquite classique 3 (1957) 139/79 zu nennen. Vgl. auch unten 8. 77 Anm. 2. — Zum Verhältnis von Piatonismus und Gnosis vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I 44f. 251/4. 2 3 Vgl. unten S. 23. TU IV, 1, 1888. 4 E. J. Goodspeed, Die ältesten Apologeten, 1914, 266/305.

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sogar noch entschiedener zur Geltung gebracht werden. Denn zahlreiche Konjekturen von Schwartz erweisen sich als überflüssig oder sogar als verfehlt, sobald man den Text aus seinem inneren Zusammenhang zu verstehen sucht. Nur ungefähr ein Drittel der Schwartzschen Verbesserungen ist beizubehalten. Ebenso kann m a n im Gegensatz zu den beiden modernen Herausgebern, von einer einzigen Stelle abgesehen 1 , ganz auf die Annahme verzichten, daß in der handschriftlichen Überlieferung der Oratio Textausfälle eingetreten sein sollen. Die von ihnen an so vielen Stellen vorgenommene Markierung von Lücken ist also hinfällig. Weil nun die vorhandenen Übersetzungen von Tatians Schrift auf einer unbefriedigenden Fassung des Textes beruhen, werden alle Zitate in neuer Übersetzung gegeben. Abweichungen vom Text der Ausgaben werden dabei jeweils angemerkt, u n d zwar unter Verwendung folgender Zeichen: MPV

f ü r die drei Handschriften, über die die Ausgaben informieren, Sch(wartz) und Go(odspeed) f ü r die beiden modernen Editionen, Wi(lamowitz) f ü r dessen Konjekturen in Sch, ed. f ü r die älteren Ausgaben, und zwar mit Einschluß von Sch u n d Go, sofern diese nicht eigens genannt sind.

Die Stellen werden nach Kapitel und Worthundert bei Go, außerdem nach Seite und Zeile bei Sch angeführt, so daß beide Ausgaben herangezogen werden können. 1 16, 2 p. 17, 24. — 32, 3 p. 33, 27 wird die Annahme einer Textlücke überflüssig, wenn m a n s t a t t des überlieferten ψΛοσοφεϊν liest: φιλοαοφοϋσι; denn πάντες oi βουλόμενοι k a n n absolut stehen, was später wohl als ungewöhnlich aufgefaßt und d a r u m geändert wurde.

KAPITEL 1

TATIANS Ä U S S E R U N G E N ÜBER SICH

SELBST

1. Es kann sich hier nicht darum handeln, eine biographische Skizze von Tatian zu entwerfen. Diese Aufgabe ließe sich nur in großen Zügen erfüllen, weil uns über Tatians Leben und äußere Verhältnisse nur Weniges sicher überliefert ist. Wir wissen lediglich von seiner Herkunft aus dem syrischen Osten (42 p. 43, 10), von seiner hellenistischen Bildung, gipfelnd in einem Aufenthalt in Rom (35, 1 p. 36, 25ff.), von seiner Hinwendung zu Justin (vgl. 18, 2 p. 20, 16; 19, 1 p. 21, 4. Iren. I 28, 1 = I 220 H.) und damit zum Christentum. Wir wissen ferner, daß er sich später von der römischen Gemeinde getrennt hat, und zwar im J a h r 172 — dieses einzige Datum ist aus Eusebs Chronikon (ann. 2188; p. 206 Helm) bekannt und wird durch Epiphanius (haer. 46, 1; I I 202ff. Holl) indirekt bestätigt 1 . Und wir wissen schließlich, daß er in den Osten zurückgekehrt ist (Epiph. 46, l) 2 und dort, vor allem durch die Abfassung des Diatessaron, zum Werden der syrischen Kirche einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Alle näheren Einzelheiten dagegen sind ungewiß. Wie ist beispielsweise Tatians eigene Angabe über seine Herkunft zu verstehen? Wenn er sagt, daß er „aus dem Land der Assyrer" stammt, so ist nicht ohne weiteres eindeutig, daß er Assyrien im strengen Sinn als das Gebiet östlich des Tigris meint. Es könnte eine Umschreibung f ü r Syrien im allgemeinen sein; denn auch Lukian, der aus Samosata am Oberlauf des Euphrat, also aus der Kommagene stammt, nennt sich selbst einen Assyrer und das westlich des Euphrat gelegene Hierapolis eine assyrische Stadt (De Dea Syra l) 3 . Und war Tatian seiner Nationalität nach Syrer oder Grieche? Sein Name, zu dessen Form als Parallele wiederum Lukian verglichen werden 1 Epiphanius schreibt, es sei im 12. J a h r des Antonius Pius gewesen: 172 ist das 12. J a h r des Marcus Aurelius! 2 Schon Euseb scheint über die spätere Tätigkeit Tatians in Mesopotamien informiert zu sein, wenn er im Anschluß an ihn Bardesanes behandelt und das betreffende Kapitel (h. e. IV 30) mit der Bemerkung einleitet, daß zu dieser Zeit die Häresien in Mesopotamien überhand genommen hätten. 3 Die Frage behandelt ausführlicher Th. Zahn, Tatians Diatessaron, 1881, 268ff.

Biographisches

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kann, spricht zwar nicht gegen syrische Abstammung und die Tatsache seiner Rückkehr nach Mesopotamien sogar f ü r sie. Trotzdem kann die Möglichkeit, daß seine Eltern Griechen waren, nicht völlig ausgeschlossen werden 1 . Diese Beispiele machen deutlich, mit wie geringem Ergebnis die Frage nach den historisch-biographischen Fakten in Tatians Leben zu rechnen hat. Wie es wirklich gewesen ist, werden wir angesichts der Quellenlage nicht mehr erfahren. Ganz anders verhält es sich aber, wenn man statt dessen die Frage stellt, in welches Licht Tatian selbst diese Fakten rückt. Folgende Beobachtung mag das verdeutlichen. Es zeigt sich in bestimmten Fällen, daß wir Tatians eigene biographische Angaben gar nicht ohne weiteres f ü r zuverlässig halten dürfen. So behauptet er etwa, noch zu seiner Zeit in und bei Rom den Vollzug von Menschenopfern angetroffen zu haben (29, 1 p. 29, 28ff.) 2 , und das ist aller sonstigen Überlieferung nach schlechthin ein Anachronismus. Oder er betont, nachdem er eine lange Reihe von griechischen Plastiken zum Erweis von deren Unsittlichkeit aufgezählt hat, daß er diese Kunstwerke alle selbst gesehen habe (35, 1 p. 37, 1). Es ist aber nachgewiesen, daß er in Wirklichkeit literarische Quellen dafür ausgeschrieben hat 3 . Nun darf man sich mit dieser bloßen Feststellung noch nicht begnügen. Was hat denn Tatian veranlaßt, wider besseres Wissen in beiden Fällen Autopsie f ü r sich in Anspruch zu nehmen ? Diese Frage lenkt das äußerlich-biographische Interesse hinüber auf die schriftstellerische Absicht Tatians und ihre Voraussetzungen. Die Fruchtbarkeit solcher Fragestellung läßt sich gerade an diesem Beispiel gut zeigen. Darum soll es vorerst weiter verfolgt werden. Tatian selbst gibt zu der zweiten Stelle folgende Erläuterung: Ich versuche nämlich nicht, wie es bei der Mehrzahl Sitte ist, meine Sache mit andrer Leute Meinung zu bekräftigen; über all das aber, -wovon ich mir selbst meine Wahrnehmung verschaffe, will ich auch meine Aufzeichnungen machen (35, 1 p. 37, 2).

Es ist die gleiche Absicht, die er bei der Abfassung des Altersbeweises äußert: Als Zeugen werde ich aber nicht unsere eigenen Leute heranziehen, sondern vielmehr Griechen als Helfer benutzen. Das erste wäre ja unverständig, weil es 1

Diese Annahme vertritt z.B. Harnack, T U I 1/2, 199ff. gegen Zahn. F. Schwenn, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern, 1915, 180f. ( = Rel.gesch. Versuche und Vorarbeiten 15, 3). Zur Diana Nemorensis PaulyWissowa V, 330. 3 A. Kalkmann, Tatians Nachrichten über Kunstwerke, Rhein. Museum f. klass. Philol., N. F. 42, 1887, 489/524. — Für wahrheitsgemäß hält Tatians Angabe A. Puech, Recherches 47ff. 2

2

7586 Elze, TatiaD

Das Prinzip

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der

Objektivität

nicht einmal von uns anerkannt werden dürfte 1 , das letzte aber erwiese sich als erstaunlich: wenn ich mit euren eigenen Waffen gegen euch streite und meine Beweise unvermutet bei euch hole! (31, 1 p. 31, 11).

Hier wie dort liegt Tatian daran, seiner Darstellung einen möglichst unanfechtbaren, objektiven Charakter zu geben 2 . Das eine Mal erreicht er es dadurch, daß er gegnerische, also f ü r seine Adressaten einwandfreie Quellen verwendet. Ein andres Mal versucht er es dadurch, daß er einfach behauptet: Ich habe es selbst gesehen! Dieses Verfahren ist nun durchaus nicht originell. Schon Josephus will als Zeugen gegen Apion nur solche Schriftsteller ins Feld führen, von denen die G r i e c h e n urteilen, daß sie in aller Altertumskunde die vertrauenswürdigsten sind (c. Αρ. I 1, 4).

Tatian steht also mit dieser Methode an sich in der Tradition der Apologetik. Aber bei ihrer Anwendung unterscheidet er sich von seinen Vorgängern, und zwar darin, daß er dieses Prinzip größtmöglicher Objektivität in der Argumentation nun auch wirklich konsequent durchführt. Er t u t es nämlich nicht nur insofern, als er ihm zuliebe faktisch unhaltbare Behauptungen über angebliche eigene Erfahrungen aufstellt. Sondern hierher gehört doch beispielsweise auch die auffallende Tatsache, daß er grundsätzlich auf den Weissagungsbeweis verzichtet, der gerade f ü r die Apologie Justins als der „größte und wahrste Beweis" (I 30 fin.) eine so wesentliche Rolle spielt. Dabei hebt Tatian am Christentum unter anderem auch ausdrücklich „die Vorkenntnis in bezug auf das Zukünftige" hervor (29, 2 p. 30, 9). Trotzdem läßt er den Weissagungsbeweis fallen. Er t u t es, weil dieser Beweis von einer Voraussetzung ausgeht, die die Griechen nicht mit ihm teilen: Ihnen gilt ja das Alte Testament nicht als göttliche Offenbarungsurkunde. Dementsprechend korrigiert sich Tatian auch, wo ihn sein Gedankengang gelegentlich zur Auslegung eines Jesuswortes f ü h r t : Dies soll freilich zu unsern eigenen Leuten gesprochen sein; zu euch aber, ihr Griechen, was sonst als dies, daß ihr die, die besser sind, nicht beschimpfen sollt? (30, 1 p. 30, 25).

Er verlangt also von seinen heidnischen Lesern nicht, dem vorausgehenden biblischen Exkurs zuzustimmen! Umgekehrt macht er gleich am Anfang seiner Schrift den Griechen den Vorwurf: Also legt euren Dünkel ab und bringt keine gezierten Worte vor, die ihr, von euch selbst gepriesen, nur eure eigenen Leute als Fürsprecher gewinnt! Wer Verstand hat, muß dagegen das Zeugnis von Anderen abwarten (1,2 p. 1, 17). 1

1 παραδεκτέον Ρ (MV): παραδεχτον Euseb. Sch. Go. In diesem Sinn auch Kukula in der Einleitung zu seiner Übersetzung, BKV 12, 14ff. 2

Das Prinzip der Objektivität

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Hier gibt Tatian die klarste Formulierung seines methodischen Prinzips. Terminologisch zeigt sich die Verwandtschaft mit den schon genannten Beispielen seiner Anwendung darin, daß Tatian hier wie 31, 1 p. 31, 12 den Ausdruck τους οίκοι gebraucht, während er 30, 1 p. 30, 26 nur leicht abgewandelt τους ημών οικείους schreibt.

Und schon in diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß Tatian als einziger unter allen Apologen niemals von Christus spricht und auch die Bezeichnung „Christen" nicht verwendet. Er schließt sich zwar den Apologeten an in der Kritik des heidnischen Verfahrens, daß die Christen schon auf ihren bloßen Namen hin verfolgt werden (27, 1 p. 28, 22). Aber sogar an dieser Stelle nennt Tatian den Namen selber nicht. Darin wirkt sich seine methodische Konsequenz besonders deutlich aus. Würde er sich nämlich in irgendeiner Form mit dem von seinen Adressaten abgelehnten Christentum ausdrücklich identifizieren, so verlöre er seiner Meinung nach in deren Augen von vornherein die Chance, angehört und ernst genommen zu werden: Sie könnten ihm entgegenhalten, daß er von einseitigen und darum für sie gar nicht verbindlichen Voraussetzungen ausginge. Wiederum also ist es das Prinzip größtmöglicher Unanfechtbarkeit und Objektivität, das seine Verfahrensweise bestimmt und ihn auf die Verwendung des Christennamens ebenso verzichten läßt wie auf den Weissagungsbeweis. Möglich ist ihm das allerdings nur im Rahmen seiner ganzen Theologie, in der die Person und das Werk Christi so sehr am Rande stehen, daß sie, bis auf zwei flüchtige Andeutungen (13, 3 p. 15, 5; 21, 1 p. 23, 6), ohne Schaden unerwähnt bleiben können. Andererseits muß nun Tatian, da er seine Leser nicht mit umstrittenen göttlichen Autoritäten überzeugen will und kann, um so mehr Sorgfalt auf die innere Evidenz seiner Aussagen verwenden. So geht sein methodisches Prinzip Hand in Hand mit seiner Bemühung um eine streng systematische Darstellung seiner Lehre. An diesem Beispiel zeigt sich, wie aufschlußreich eine zunächst belanglos erscheinende Einzelheit in Tatians Selbstzeugnis sein kann, von dem diese Überlegungen ja ausgegangen sind; aufschlußreich gerade dann, wenn man nicht allein nach den Fakten fragt, sondern nach der Art und Weise, wie Tatian sie darstellt. Darin muß sich ja nun zugleich die Grundkonzeption seines Denkens aussprechen. 2.

Es gehört zur Eigenart von Tatians Äußerungen über sich selbst, daß sie sich im wesentlichen mit seinem Verhältnis zur Philosophie der Griechen beschäftigen. Darum wird dieses Kapitel auch seinen geistesgeschichtlichen Ort zu klären haben. Die Sachlage ist nämlich nicht so eindeutig, wie Tatian sie hinstellt: 2»

20

Das Verhältnis zur

Philosophie

Als wir erkannten, daß ihr so geartet seid, haben wir euch verlassen und haben keine Berührung mehr mit euren Lehren (26, 3 p. 28, 13).

Das geht aus seiner Schrift selbst hervor, in der fast jede Seite entgegen dieser Behauptung von Berührungen mit griechischem Denken zeugt. Von diesem inneren Widerspruch ist das ganze Selbstzeugnis Tatians geprägt. I h m müssen wir jetzt nachgehen. I m Blick auf die Ausbildung seines Denkens unterscheidet Tatian zwei Abschnitte: Geboren zwar im Land der Assyrer, ausgebildet aber zuerst in euren Lehren, doch zum andern in denen, die jetzt zu verkünden ich mich anheischig mache" (42 p. 43, 10).

Es ist eine Stelle, die zugleich typisch ist f ü r die verhüllende Redeweise Tatians bezüglich des Christentums. Was den ersten Abschnitt betrifft, die Zeit hellenistischer Bildung, so erfährt man etwa im Gegensatz zu Justins Ausführlichkeit (dial. 2) nur allgemein noch von ausgedehnten Reisen u n d Studien u n d von der Beschäftigung mit K ü n s t e n und Wissenschaften (35, 1 p. 36, 25ff.), aber auch von der Teilnahme an Mysterien (29, 1 p. 29, 26). I m übrigen zieht Tatian einen scharfen Strich unter diese Periode seines Lebens: Deswegen habe ich der Großtuerei der Römer und der Kaltschnäuzigkeit der Athener — unzusammenhängenden Lehren — den Abschied gegeben" (35, 1 p. 37, 5).

Wie Torheiten kleiner Kinder will er ablegen, was ihn früher beschäftigt h a t (30, 1 p. 30, 16), oder er sagt einfach: Deswegen haben wir uns von eurer Weisheit abgekehrt (1, 3 p. 2, 9),

wobei das „ W i r " hier wie auch sonst gelegentlich f ü r die erste Person des Singular steht 1 . Wenn Tatian an dieser Stelle f o r t f ä h r t : καν ε'ι πάνυ σεμνός τις ην εν amfj, so darf das nicht als eine Aussage über seine eigenen Leistungen in der Philosophie verstanden werden, als ob er sagen wollte: „auch wenn ich ein ganz ehrenwerter Vertreter dieser eurer Weisheit gewesen b i n " 2 . E r will ja von seiner Vergangenheit gerade nichts mehr wissen. Außerdem verwendet er, dem Sprachgebrauch seiner Zeit folgend 3 , ήμψ s t a t t ήν f ü r die 1. Person (6, 2 p. 6, 26). Es muß also heißen: „auch wenn da mancher durchaus Ehrwürdige auf ihrem Gebiet wäre". Denn τις bezieht sich auch nicht auf eine bestimmte Persönlichkeit. Ein Grieche, etwa Piaton 4 , könnte es nicht sein, weil er sonst ja wiederum 1

Die Stellen sind unten S. 55 Anm. 1 aufgeführt. So Harnack, Tatians Bede an die Griechen, übers, u. eingel. 1884, z. St.; Puech, Recherches, Übers, z. St.; Q. Cataudella, Didaskaleion, N. S. 7, fasc. 3, 1929, 197£f. (unter Berufung auf P. Ubaldi). 3 L. Radermacher, Neutest. Grammatik 2 1925, 99. 4 Pueeh, Les apologistes grecs, 319f., seine frühere Auffassung korrigierend. 2

Das

Verhältnis

zur

Philosophie

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eine stillschweigende A n e r k e n n u n g der Philosophie vollzöge, die er gerade v e r w o r f e n h a t . U n d selbst P i a t o n e n t g e h t der ausdrücklichen Verurteilung n i c h t (2, 1 p . 2, 10; 3, 2/3 p. 4, 7f.). Andererseits k a n n T a t i a n a u c h n i c h t a n J u s t i n g e d a c h t h a b e n 1 ; er m ü ß t e ja sonst gewisserm a ß e n eine zweite B e k e h r u n g d u r c h g e m a c h t h a b e n , erst v o n der heidnischen Philosophie zu der Philosophie J u s t i n s , d a n a c h v o n d e m philosophischen C h r i s t e n t u m J u s t i n s zu einem unphilosophischen. U n d d a v o n k a n n nicht die R e d e sein. Die Aussage trifft vielmehr die griechische Philosophie i m allgemeinen u n d ist ironisch zu verstehen, wie übrigens alle Stellen, a n d e n e n T a t i a n das W o r t σεμνός g e b r a u c h t 2 . E s ist eine E i g e n t ü m l i c h k e i t v o n ihm, die in gleicher Weise e t w a in d e m durchweg a b w e r t e n d e n G e b r a u c h des W o r t e s αξιοπιστία bzw. αξιόπιστος z u m Ausd r u c k k o m m t 3 . Ü b e r h a u p t ist ja seine ganze Polemik eine F u n d g r u b e f ü r solche W e n d u n g e n h ö h n e n d e r Ironie. W ä h r e n d T a t i a n a n d e n g e n a n n t e n Stellen in geradezu p r o g r a m m a tischer Weise seine Absage a n die Philosophie z u m A u s d r u c k bringt, v e r r a t e n schon die F o r m u l i e r u n g e n , die er dabei g e b r a u c h t , d a ß er diese Absage in Wirklichkeit gar n i c h t so r a d i k a l vollzogen h a t . „ V o n e u r e r Weisheit h a b e ich mich a b g e k e h r t " , hieß es 1, 3 p. 2, 9 — n i c h t also v o n der „ W e i s h e i t " ü b e r h a u p t ; sondern auch das N e u e ist Weisheit! E b e n s o wie die griechische Philosophie b e s t e h t diese n e u e Weisheit a u s δόγματα4. J a , ganz ausdrücklich f a ß t T a t i a n beides u n t e r einem gemeinsamen Oberbegriff z u s a m m e n , n ä m l i c h u n t e r d e m des παιδενϋήναι (42 p . 43, 11). U n d er k a n n d u r c h a u s das C h r i s t e n t u m als παιδεία bezeichnen (12, 5 p . 14, 8; 35, 2 p. 37, 12)! D a m i t a b e r s t e h t er u n t e r den f r ü h e n Apologeten völlig allein 5 . D a r ü b e r h i n a u s n e n n t er sich selbst einfach einen φιλοσοφων (42, p. 43, 9), beschreibt m i t d e m gleichen W o r t a u c h d e n I n h a l t christlichen L e b e n s (32, 1.3 p. 33, 5.27; 33, 2 p. 34, 20) u n d bezeichnet schließlich die christliche L e h r e k u r z als „unsere Philosophie" (31, 1 p. 31, 5 vgl. 35, 1 p. 37, 7 6 ). D a z u m u ß m a n sich k l a r m a c h e n , d a ß d a s weder bei Aristides n o c h a u c h bei A t h e n a g o r a s geschieht 7 , u n d selbst bei J u s t i n n u r ein einziges 1

2 Kukula, Übersetzung z. St. 2, 1 p. 2, 17. 33, 3 p. 34, 26. 34, 1 p. 35, 19. 2, 1 p. 2, 22. 11, 2 p. 12, 6. 25, 1 p. 26, 26. 4 Von den 20 Belegstellen, die der Index apologeticus (hg. v. E. J. Goodspeed, 1912) vermerkt, beziehen sich 9 auf die christliche (barbarische) Lehre: 1, 1 p. 1, 3. 12, 5 p. 14, 4. 19, 2 p. 21, 9. 24 p. 26, 16 (1 ημών V Ρ corr, Kukula, Puech statt υμών MP* ed.). 27, 1 p. 28, 20 (1 δογμάτων MPV Go: διδαγμάτων Sch.). 35, 2 p. 37,11 u. 15. 40, 1 p. 41,4. 42 p. 43, 14. — Die restlichen Stellen beziehen sich auf einzelne griechische Philosophen oder die griechische Philosophie insgesamt. 5 Die im Index apologeticus verzeichneten Belege bei Justin und Athenagoras stammen entweder aus Zitaten der L X X , oder sie haben die griechische Philosophie zum Gegenstand. 6 1 της καϋ·' υμάς βαρβάρου φιλοσοφίας MPV: ημάς ed. 7 Die im Index apologeticus verzeichneten Belege beziehen sich ausschließlich auf die griechische Philosophie. 3

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Das Verhältnis zur

Philosophie

Mal, u n d zwar nicht in einer der beiden Apologien, sondern im Dialog mit Tryphon, a m Schluß des philosophischen Gesprächs mit dem alten Mann a m Strand bei Ephesus, das von seiner eigenen Bekehrung handelt (dial. 8, If.). Tatian n i m m t also in dieser Hinsicht durchaus eine Sonderstellung ein. N u n gilt zwar, d a ß in der damaligen Zeit als Gesamtbezeichnung auch einer religiösen Lehre eben kein anderer Ausdruck zur Verfügung s t a n d als φιλοσοφία. Darauf h a t W . K a m i a h mit R e c h t hingewiesen 1 , u n d T a t i a n selbst gibt einen Beleg f ü r die zu seiner Zeit noch enger gefaßte Bedeutung des Wortes θεολογία, das m a n anstelle dessen erwarten m ö c h t e : E r m a c h t sich lustig über die Geschichte, d a ß Numerius Atticus, von Livia bestochen, b e h a u p t e t h a t t e , er habe Augustus z u m H i m m e l auffahren sehen 2 , u n d meint, Ähnliches habe sich wohl auch einer beim Tod von H a d r i a n s Liebling Antinous geleistet— κξχα τον δμοιον ϋεολογήσας „indem er seinesgleichen z u m Gott e r k l ä r t e " (10, 2 p . 11, 12). Obwohl sich also ganz allgemein das W o r t φιλοσοφία als Gesamtbezeichnung f ü r das Christentum anbot, ist es doch auffällig, wenn Tatian es gleich sechsmal in diesem Sinn gebraucht; auffällig einerseits, weil es sonst in der zeitgenössischen Apologetik noch so g u t wie überh a u p t nicht auf das Christentum angewendet wird, u n d andererseits, weil gerade T a t i a n es ist, der m i t so starken W o r t e n den Gegensatz zur Philosophie betont. Das h e i ß t : Seinem Gebaren n a c h h a t T a t i a n der Philosophie feindlicher gegenübergestanden als die übrigen Apologeten seiner Zeit, aber terminologisch verrät er eine größere N ä h e zu ihr als sie alle! S i e wirken im Vergleich mit ihm irenisch — u n d halten auf Distanz. E r polemisiert heftig — u n d hebt die Unterschiede auf. Dieser B e f u n d wird noch deutlicher, insofern f ü r T a t i a n nicht n u r der Terminologie nach, sondern a u c h thematisch kein Unterschied zwischen seiner Lehre u n d der der hellenistischen Philosophen besteht. Das geht aus einer Analyse seines Bekehrungsberichts (cap. 29) hervor. Wiederum bleibt in dieser Schilderung der faktische Verlauf des E r eignisses im Unklaren. T a t i a n schreibt zwar, daß der U m g a n g mit den biblischen Schriften ihm den Anstoß zur Bekehrung gab. Aber das wird auch sonst vielfach b e h a u p t e t 3 , u n d wir sind nicht sicher, ob T a t i a n d a m i t nicht einfach einen festen Topos ü b e r n o m m e n h a t . I n irgendeiner Weise wird J u s t i n auf dieses Ereignis eingewirkt haben, den T a t i a n 1 Christentum und Geschichtlichkeit, 1951, 93f. — Vgl. noch Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I, 5 1931, 525. Zur Wortgeschichte von θεολογία neuerdings A. J. Festugiere, La revelation d'Hermes Trismegiste. II. Le Dieu cosmique, 1949, 598/605; W. Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, 1953, 12 ff. 2 Sie ist bei Dio Cassius 36, 46, 20 überliefert. (Diesen Quellenhinweis gibt W. Eiert, Der christl. Glaube, 3 1956, 160.) Vgl. auch Justin I 21, 3. 3 Z.B. Aristides 16, 5. Theophilos ad Autol. I 14. Vgl. dazu A. D. Nock, Conversion, 1933, bes. S. 237ff.

Das Verhältnis zur

Philosophie

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zweimal nennt (18, 2 p. 20, 16; 19, 1 p. 21, 4) und den auch Irenaus als Lehrer Tatians bezeichnet (I 28, 1 = I 220 H.). Bleibt Tatian also in dem Bekehrungsbericht der Frage nach äußerlichbiographischen Fakten so gut wie alles schuldig, so gibt er doch durch seine Darstellung zu erkennen, was ihn zu seinem Übertritt bewogen hat. Dabei lassen wir vorläufig noch die innere Motivation Tatians f ü r die Hinwendung zum Christentum beiseite. Denn eines ist die Kenntnisnahme vom Christentum, ein andres die Überzeugung durch das Christentum. Von dem zweiten und seiner Begründung soll jetzt gehandelt werden, um näher zu erfahren, wie Tatian sein Christentum im Verhältnis zur Philosophie versteht. Während Justin (dial. 7f.) seine Bekehrung auf das Wahrheitszeugnis der Propheten und ihre Christusweissagung zurückführt und damit zum Ausdruck bringt, was er f ü r die Mitte des Christentums hält, verfährt Tatian so, daß er der Schilderung von dem Eindruck, den ihm die „barbarischen" Schriften gemacht haben, zunächst die einfache Behauptung voran stellt, sie seien älter als die griechischen Lehren und göttlicher als deren Verirrung. Er nennt dann ihre auch von anderen hervorgehobene Schlichtheit und geht schließlich auf die Inhalte ein, die ihn zur Überzeugung gebracht haben. Vier Punkte sind es, die er heraushebt, und darunter interessieren neben dem an zweiter und dritter Stelle stehenden Hinweis auf die „Vorkenntnis in bezug auf das Zukünftige" und „die Außergewöhnlichkeit 1 der Anweisungen", die die Schriften enthalten, besonders der erste und der letzte P u n k t : „die leicht faßliche Darstellung der Erschaffung des Alls" und „die monarchische Auffassung des Weltalls" (29, 2 p. 30. 9). Beide Themen kehren nämlich in dem zusammenfassenden Schlußsatz der Schrift wieder: D a ich im übrigen weiß, wer Gott ist und welches seine Schöpfung, stelle ich mich bereitwillig euch zur Verfügung zur genauen Untersuchung meiner Lehren (42 p. 43, 12).

Das bedeutet doch nicht weniger, als daß Kosmologie und monotheistische Gotteslehre f ü r Tatian die Hauptstücke der christlichen Theologie bilden. Und zusammen mit der Anthropologie sind sie ja tatsächlich der ausschließliche Gegenstand seiner Lehre in der Oratio (vgl. unten S. 50f.). Gott, Welt und Mensch sind aber auch die Themen, auf die sich die griechische Schulphilosophie, zumal der Piatonismus, in der Kaiserzeit vorwiegend beschränkt hat 2 . Albinos (did. 3 p. 153 Herrn.) gliedert die „theoretische Philosophie" in drei Teile, den theologischen, den physischen und den mathematischen. Für den ersten gibt er (did. 8 1 2

1 εξαίσιον MPV Go: εξαοτίζον prop. Sch. Waszink (oben S. 14 Anm. 1) 147f.

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Das Verhältnis

zur

Philosophie

p. 162 H.) die weitere inhaltliche Unterteilung in Erste Ursachen, Entstehung der Welt und Entstehung und Natur des Menschen an. Diese Übereinstimmung kann kein Zufall sein. Zudem wird in der Art der Behandlung dieser Themen durch Tatian das spezifisch Christliche allenfalls am Rande des Blickfelds sichtbar. Daß Tatian überhaupt nicht von Christus spricht, hängt ganz offenbar auch mit dieser besonderen, philosophisch bestimmten Sicht des Christentums zusammen. So verrät Tatians Selbstzeugnis, daß sein Christentum, im Widerspruch zu seinen eigenen Aussagen, sogar thematisch in großer Nähe zur hellenistischen Philosophie steht, ja nichts anderes f ü r ihn zu sein scheint als auch eine Art Philosophie. Man wird nun — gerade aufgrund der Einsicht in Tatians auf größtmögliche Objektivität und Unanfechtbarkeit bedachte Verfahrensweise — vermuten wollen, daß dieser Befund lediglich auf einem Entgegenkommen seinen heidnisch gebildeten Lesern gegenüber beruht, keineswegs aber auf seiner grundsätzlichen Auffassung vom christlichen Glauben; daß Tatian also zwar in dieser an die Griechen gerichteten Schrift eine derart philosophische Darstellung vom Christentum gibt, daß dagegen seine esoterischen Schriften, die wir nur leider nicht mehr lesen können, ein ganz anderes Verständnis darbieten würden. Dieser Einwand kann jetzt noch nicht endgültig widerlegt werden (vgl. unten Kap. 6). Das Problem stellt sich von Tatian her gesehen aber gerade in umgekehrtem Sinn. Die Frage ist nicht, wie er bei vorgegebener Feindlichkeit gegenüber der Philosophie solche Zugeständnisse an sie machen kann. Sondern die Frage ist, wie er zu so feindseligen Äußerungen gegenüber der Philosophie kommen kann, wo er doch im Grunde ganz beharrlich auf ihren Voraussetzungen stehen geblieben ist. Die weitere Beschäftigung mit Tatians Selbstzeugnis wird das erweisen. H a t sich nämlich gezeigt, daß das Christentum f ü r Tatian nur auch eine Art Philosophie zu sein scheint, so ist nun zu fragen, wie denn er selbst den so laut proklamierten Gegensatz zwischen Philosophie und Christentum zum Ausdruck bringt. Die Antwort ist: Dieser Gegensatz reduziert sich, begrifflich gefaßt, auf den zwischen Griechentum und Barbarentum. Tatian leitet die Oratio gleich mit den Worten ein: Nicht gänzlich feindselig verfügt gegen die Barbaren, ihr Griechen, noch seid mißgünstig deren Lehrsätzen!

Und so ist es auch in seinem Urteil über sich selbst: Er stellt sich vor als „der nach Barbarenweise Philosophierende" (42 p. 43, 9). „Barbarisch" nennt er dementsprechend die von ihm vertretene Lehre (35, 1 p. 37, 7; 35, 2 p. 37, 15), ebenso die Schriften, auf die er seine Bekehrung zurück-

Das Christentum

als „barbarische

Philosophie"

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f ü h r t (29, 1 p. 30, 5), die Gemeinschaft, der er sich zurechnet (30, 1 p. 30, 28), und deren Lebensform (12, 5 p. 14, 3), schließlich auch die Weisheit des Mose, die dem allem zugrunde liegt (31, 1 p. 31, 8). So kann man durchaus sagen, daß diese Bezeichnung bei Tatian an der Stelle auftritt, wo man das Attribut „christlich" erwarten sollte, das er ja vermeidet. Aber gerade darin zeigt sich wieder eine besondere Eigenart Tatians. Denn mit „Barbaren" meint er keineswegs, wie behauptet worden ist, die „Bekenner des Judenchristentums" 1 . Diese Auffassung muß schon am ersten Kapitel der Oratio scheitern. Dort belegt Tatian die kulturelle Priorität der „Barbaren" gegenüber den Griechen mit vielen Beispielen, die mit den Judenchristen schlechterdings nichts zu tun haben. Ebenso sind die „Hellenen" f ü r ihn auch nicht die „Bekenner des Griechentums", sondern die Gebildeten. 25, 2/3 p. 27, 12 nimmt er die Anrede ώ άνδρες Έλληνες ohne nähere Veranlassung durch den Kontext wieder auf mit den Worten oi πεπαιδευμένοι. Das heißt aber, der Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren ist f ü r ihn überhaupt kein religiöser Gegensatz. Vom Gesichtspunkt der Religion her müßten sie ja gerade in gemeinsamer Front dem christlichen Glauben gegenüber stehen. Statt dessen stellt sich Tatian ohne Rücksicht darauf, daß alle die im ersten Kapitel genannten Barbaren genau wie die Griechen Heiden sind, mit ihnen auf die gleiche Ebene. Das Selbstverständnis Tatians weiß also nichts von einer Eigenständigkeit der Christen gegenüber Griechen u n d Barbaren, wie sie in der bekannten Auffassung vom „dritten Geschlecht" zum Ausdruck kommt 2 . Es ist überhaupt nicht am Standpunkt des Glaubens orientiert! Statt dessen handelt es sich f ü r Tatian bei dem Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren einfach um den Gegensatz von Bildung und Unverbildetheit, innerhalb dessen er sich auf die Seite der Unverbildetheit stellt. Dem entspricht es, wenn er die schlichte Ausdrucksweise der biblischen Schriften als ein Motiv f ü r deren Überzeugungskraft nennt (29, 1/2, p. 30, 7). Unter diesen Umständen wird man nicht erwarten, daß Tatian f ü r seine Auffassung andere als hellenistische Quellen gehabt hat. Tatsächlich teilt er die höhere Einschätzung des unverbildeten Wesens der Barbarenvölker mit der zeitgenössischen Popularphilosophie 3 . Eine Schrift wie die Germania des Tacitus verdankt ja diesem Moment das ihr eigene Pathos. 1 R . C. Kukula, Was bedeuten die Namen "Ελληνες und Βάρβαροι in der altchristl. Apologetik? Festschrift Th. Gomperz, 1902, 359/63 (aufgrund einer sehr willkürlichen Auswahl von Belegstellen!). 2 Harnack, Mission und Ausbreitung I 4 , 259/89. 3 P . Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur, 2 1912, 40f. 152. Windisch, ThWb. I 546f. Das dort erwähnte Beispiel des Skythen Anacharsis bei Tatian 12, 5 p. 14, 2.

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Das Christentum

als „barbarische

Philosophie"

Daß Tatians Argumentation dort ihre Quelle hat, zeigt sich darin, daß er auch das Material f ü r seine Polemik literarischen Vorlagen entnommen hat. Das gilt f ü r die Aufzählung der kulturellen Errungenschaften der Barbaren (cap. I) 1 ebenso wie f ü r die Schauergeschichten über einzelne griechische Philosophen (cap. 2f.) 2 . Es ist wichtig, sich diese Traditionslinie klar zu machen. Man wird dann nicht so leicht darauf verfallen, die Vorliebe Tatians f ü r das Barbarentum einfach auf seine syrische Nationalität zurückzuführen! So erübrigt sich auch der Nachweis, daß Tatian in diesem P u n k t nicht von Justin her erklärt werden kann. Bei Justin ist der Name „Barbaren" tatsächlich meist die Bezeichnung f ü r das jüdische Volk (I 5, 4. 7, 3. 46, 3). Seine Anwendung auf das Christentum weist er ausdrücklich zurück (dial. 119, 4). An der einzigen Stelle, wo er von den Christen als Barbaren spricht, macht er deutlich, daß ihr Barbarentum doch nur von sekundärer Bedeutung ist, insofern sie zwar der Sprache nach Barbaren sind, nicht aber der Gesinnung nach (I 60, 11). Darin drückt sich gerade anders als bei Tatian ein abwertendes Urteil über die Barbaren aus. Wenn Tatian also seine Lehre als „barbarische Philosophie" gegen die Philosophie der Griechen ausspielt, zeigt er durch die Art, in der er es tut, wieder nur, wie sehr er nach wie vor seiner hellenistischen Vergangenheit verhaftet ist und von ihrem eigenen Standpunkt aus argumentiert. Noch ein anderes Moment spricht dabei mit, nämlich das des höheren Alters der Barbaren 3 . Gerade das ist der Aspekt, unter dem dieser Gedankenkomplex in die zeitgenössische Philosophie eingeführt worden war, und zwar von Poseidonios. Bei ihm gibt es so etwas wie eine Urstandslehre, die Auffassung nämlich, daß anfangs der Mensch in enger Verbundenheit mit Gott, im Zustand der Vollkommenheit gelebt und sich erst mit der Zeit immer weiter von ihr entfernt habe. Darum muß man zu den älteren Völkern und Generationen zurückgehen, um das Göttliche und Wahre zu finden4. 1 Ein derartiges Werk des Peripatetikers Straton von Lampsakos erwähnt Clem. Alex, ström. I 16, 77 p. 50, 13 St. Vgl. Harnack, T U I 1 /2, 223f. (Anm. 281); M. Kremmer, De catalogis heurematum. Dias. Leipzig 1890. 2 Vgl. z.B. die Schrift des Oinomaos von Gadara Γοήτων ψώρα (so zu lesen gegen Harnack T U I 1/2, 220f. Anm. 277 und Gesch. d. altchr. Lit. I, 486f.). Daß es sich bei diesen trüben Legenden um Karikaturen charakteristischer Lehren der betreifenden Philosophen handelt, zeigt am Beispiel Heraklits scharfsinnig und lehrreich H. Frankel, Wege und Formen frühgriechischen Denkens, 253ff. 3 Wendland S.40. Zu Poseidonios: K. Reinhardt, Pauly-Wissowa X X I I 1, 805ff. 4 Seneca ep. ad Lucil. 90. Vgl. K. Reinhardt, Pauly-Wissowa X X I I 1, 806f. Eine ausführliche Begründung und Charakteristik dieses vermeintlichen „Klassizismus" in der Philosophie dieser Zeit bietet O. Gigon, Die Erneuerung der Philosophie in der Zeit Ciceros. Entretiens sur l'antiquite classique 3 (1957) 25/61.

Das Streben

nach Wahrheit

als

Leitmotiv

27

Schon im ersten Kapitel begründet Tatian dementsprechend den Vorrang der Barbaren mit der zeitlichen Priorität ihrer Kultur, und es ist sicher kein Zufall, daß er gerade in der Einleitung zum Altersbeweis Mose als den Anfänger aller „barbarischen" Philosophie bezeichnet (31, 1 p. 31, 8). Darin kommt nur zum Ausdruck, daß er seine eigene Auffassung eben auch dort zur Geltung bringt, wo er sich, wie es beim Altersbeweis ja der Fall ist, in den Bahnen der traditionellen Apologetik bewegt. 3. Bei der Beschäftigung mit den Äußerungen Tatians über sich selbst gingen wir von dem widersprüchlichen Befund aus, daß Tatian zwar immer wieder behauptet, im Gegensatz zur hellenistischen Philosophie zu stehen, daß er aber gerade in den Formulierungen, die er dafür gebraucht, seine innere Übereinstimmung mit der Philosophie verrät. Mit jedem Schritt der Untersuchung verstärkte sich dieser Eindruck. Nicht nur in der Terminologie, sondern auch in der Thematik Tatians ist die Ubereinstimmung zu entdecken. Selbst in der Art, wie er seinen Gegensatz als den Gegensatz zwischen Barbaren und Griechen beschreibt, läßt sich ihre Auswirkung nachweisen, so daß es scheinen könnte, als sei das Christentum f ü r Tatian nichts anderes als „barbarische Philosophie". Auch bezüglich seiner eigenen Vergangenheit ist er ja tatsächlich nicht so radikal ablehnend eingestellt, wie er vorgibt. Denn immerhin kann er eigene Schriften aus seiner vorchristlichen Periode zitieren (15, 2 p. 16, 16; 16, 1 p. 17, 17). J e schärfer sich also der Selbstwiderspruch Tatians darstellt, um so drängender wird die Frage, woher es eigentlich kommt, daß er so heftige Abneigung gegen die Philosophie äußert. Nun ist aber noch ein letzter P u n k t seines Selbstzeugnisses zu behandeln, nämlich die innere Motivation f ü r seine Hinwendung zum Christentum (vgl. S. 23). Von hier aus werden wir auf den richtigen Weg zur Beantwortung dieser Frage kommen. Denn an dieser Stelle stoßen wir zu dem Grundmotiv von Tatians Denken vor, das den Maßstab f ü r die Gesamtinterpretation seiner Theologie abgeben wird. Und hier wird sich darum auch sein Verständnis des Christentums wie seine geistige Herkunft klären. Für Tatian steht das Verhältnis zwischen Christentum und Philosophie, zwischen Barbaren und Griechen, ganz im Licht der Frage nach der Wahrheit. Sowohl in dem Bericht über seine Bekehrung wie in der Würdebezeichnung, die er f ü r sich in Anspruch nimmt, kommt das zum Ausdruck. Dazu ist zunächst festzustellen, daß Tatian die Bekehrung als einen Erkenntnisvorgang beschreibt. Seine Absage an die Griechen begründet er:

28

Das Streben nach Wahrheit als

Leitmotiv

Als wir erkannten, daß ihr so geartet seid, haben wir euch verlassen (26, 3 p. 28, 13).

Und er spricht von göttlicher Belehrung der Seele und einer neuen Einsicht, zu der er durch die biblischen Schriften geführt worden ist (29, 2 p. 30, 11). I n Beziehung darauf heißt es dann: Da ich mir die E r k e n n t n i s dieser Dinge erworben habe, will ich mich ihrer entledigen wie der Torheiten kleiner Kinder (30, 1 p. 30, 16).

Es scheint hier also ein ganz und gar intellektualistisches Verständnis der Bekehrung vorzuliegen. Das bestätigt der nach Art einer Diatribe stilisierte Schluß des schon öfter herangezogenen cap. 35 (p. 37, 12ff.): Habt doch ja keinen Widerwillen gegen unsere Bildung und stellt keine Widerrede gegen uns auf, voll von Geschwätz und dummer Rederei, indem ihr sagt: 'T. bringt über die Griechen, über die unendliche Menge derer hinaus, die philosophiert haben, als Neuerung die Lehren von Barbaren auf!' Was ist denn Schlimmes daran, wenn Menschen, die sich als kenntnislos erwiesen haben, von einem Menschen überführt werden, der eben erst Ähnliches durchgemacht hat ? Und was ist es Unsinniges, nach dem Ausspruch eures eigenen Lehrers 'alt zu werden, indem alles man immer noch lernt' ?

Einmal verwahrt sich Tatian hier dagegen, mit seiner Lehre etwas Neues einzuführen. Das entspricht der Betonung des höheren Alters der Barbaren. Zum andern rechtfertigt er seinen Weg mit einem Wort des Solon (fr. 22 Diehl), also getreu seinem Prinzip möglichster Objektivität in der Argumentation mit einer auch von seinen Adressaten anerkannten Autorität: Er nennt den Dichter ausdrücklich νμϊν οίκεϊος (vgl. S. 19). Dabei ist es durchaus denkbar, daß Tatian selbst es war, der das solonische πολλά διδασκόμενος vielsagend in πάντα διδασκόμενος abgeändert h a t 1 . Daß er aber überhaupt dieses Zitat hier anwenden und auch im vorausgehenden Satz die Bekehrung als einen Vorgang beschreiben kann, der den Menschen seiner bisherigen Kenntnislosigkeit überführt, das beweist, daß er selber seine Bekehrung im Wesentlichen als einen intellektuellen Akt verstanden hat. Für ihn ist es der Übergang von Unwissenheit zu Erkenntnis. Damit hängt es nun zusammen, daß er als Motiv f ü r seine Hinwendung zum Christentum die Suche nach Wahrheit angibt: Da ging ich in mich und suchte, auf welche Weise ich das Wahre ausfindig machen könnte,

lautet der entscheidende Satz in dem Bekehrungsbericht (29, 1 p. 30, 3). 1 E. Diehl in der Anthologia lyrica I, 1922, 33 verzeichnet diese Lesart nur für die Scholien zur Antigone des Sophokles, die aus nachchristlicher Zeit stammen (Schmid/Stählin, Geschichte der griech. Lit. I 2, 1934, 508). Und ebenso verfährt Tatian ja mit den Bibelzitaten (S. 82f.).

Das Streben nach Wahrheit als

Leitmotiv

29

An zwei hervorgehobenen Stellen seiner Schrift bringt Tatian diesen Beweggrund noch einmal zum Ausdruck. Zum Abschluß der Verunglimpfung der griechischen Philosophen schreibt er: Wer wird wohl der öffentlichen Hochzeit 1 des Krates seinen Beifall geben und nicht vielmehr die dünkelhafte Schwatzsucht seiner Anhänger verwerfen und sich zur Suche nach dem wahrhaft Erstrebenswerten wenden? (3, 3 p. 4, 9).

Und die gleichen Worte ζητείν τό κατ' άλήϋειαν σπονδαϊον beschließen auch den Künstlerkatalog: Es wäre aber nötig, das ganze derartige Zeug zu verwerfen und das wahrhaft Erstrebenswerte zu suchen (34, 3 p. 36, 21).

Das zeigt, daß das Argument der Wahrheit im Bekehrungsbericht nicht einfach ein übernommener Topos ist, sondern daß es nach dem Urteil Tatians tatsächlich eine wesentliche Bedeutung hat. Auch durch den Begriff τό σπονδαϊον sind alle drei genannten Stellen untereinander verbunden: Im Anschluß an den aus cap. 29 wiedergegebenen Satz heißt es: Wie ich nun über das Erstrebenswerte nachsann, geschah es mir, daß ich auf gewisse barbarische Schriften stieß . . . (p. 30, 4).

Woher stammt diese Terminologie, woher überhaupt diese Ausrichtung auf die Wahrheitsfrage ? σπουδαίος ist zunächst ein stehender Begriff in der stoischen Philosophie, verwendet als Prädikat f ü r den „Weisen", wobei es das Wort φανλος zum Gegensatz hat. Diesen Sprachgebrauch hat Justin übernommen 2 , und man hat ihn auch f ü r Tatian vorausgesetzt. Kukula gibt das Wort in seiner Übersetzung beispielsweise wieder als ,,das Problem des Guten" (zu 29, 1 p. 30, 4). Nun ist es aber auffällig, daß die Stoa das Wort fast nur in Beziehung auf Personen gebraucht 3 , während bei Tatian durchgängig das Neutrum steht — mit einer einzigen Ausnahme, die, wie es bei σεμνός der Fall ist (vgl. S. 21), ironisch gemeint ist (2, 1 p. 2, 18). Zeigt sich darin schon eine nicht unerhebliche Abweichung von der stoischen Terminologie, so f ü h r t die Verbindung, die das Wort bei Tatian mit dem Begriff der Wahrheit eingegangen ist, ganz deutlich in eine andere Richtung; denn das Wahrheitsproblem spielt in der stoischen Philosophie keine Rolle 4 . 1 1 κοινογαμία M(PV): κυνογαμία ed. (cf. Clem. Alex, ström. IV 19, 121 p. 302, 11 St.). 2 I 20, 4. 43, 6. II 7, 2. 3. 3 Vgl. Arnim, SVF IV, Index s. ν . σπουδαίος. 4 άλήϋεια fehlt z.B. im Stichwort-Register bei M. Pohlenz, Die Stoa I, 1948. Zum Verständnis der Stoa leistet jetzt die Interpretation ihres philosophischen Systems durch U. Wilckens, Weisheit und Torheit, 225/70, einen ganz wesentlichen Beitrag.

30

Tatians

Verhältnis zum

Piatoniemus

Es ist Piaton, der im Phaidros (248b) die berühmten Worte von der „ernsten Anstrengung, das Gefilde der Wahrheit zu schauen" schreibt: . . . ή πολλή σπουδή τό της άληϋείας

Ιδεϊν

πεδίον.

Daß Tatian den Zusammenhang kennt, dem diese Worte entnommen sind, zeigt 20, 1 p. 22, 11, wo er von der Beflügelung (πτέρωσις) der Seele spricht: Es ist die sokratische Rede vom Höhenflug der Seele zur Schau der Ideen. Tatian muß sie gar nicht selber gelesen haben. Das wäre bei der rein doxographischen Belesenheit, die er sonst an den Tag legt, auch nicht wahrscheinlich. Wohl aber ist man mit dieser Stelle im mittleren Piatonismus vertraut gewesen. Statt vieler anderer Belege d a f ü r 1 mag hier, etwas ausführlicher zitiert, ein Stück aus Attikos stehen, das Euseb (praep. ev. XV 1 3 , 1 = 1 1 376,14ff. Mras) aufbewahrt hat und das gerade in seiner lockeren Bezugnahme beweist, wie stark das gedankliche Material aus dem Phaidros nachgewirkt hat. Attikos setzt sich hier zugunsten eines strengen, uneingeschränkten Piatonismus mit Aristoteles auseinander und schreibt: Er konnte nämlich nicht zur Einsicht gelangen, weil alles Große und Göttliche und Überschwengliche einer verwandten Kraft zur Erkenntnis bedarf. Er jedoch vertraute auf seine eigene schwächliche und niedrige Geistesschärfe, die zwar in die irdischen Tatbestände eindringen und die in ihnen liegende Wahrheit zu sehen vermochte, die aber nicht in der Lage war, d a s G e f i l d e der w i r k l i c h e n W a h r h e i t z u e r s c h a u e n . Und indem er sich selbst zum Maßstab und Richter dessen machte, was über ihm ist, verkannte er, daß es gewisse eigenständige Wesen gibt, welche Piaton erkannt hat . . .

Nicht nur in der gemeinsamen Bezugnahme auf den Phaidros besteht Tatians Verwandtschaft mit diesen Worten des Attikos: Bis in Einzelheiten hinein äußert sich hier ein Denken, das auch f ü r Tatian bestimmend ist. Da wir uns im Zusammenhang dieses Kapitels mit dem Problem der geistigen Herkunft Tatians beschäftigen müssen, ist es notwendig, etwas näher darauf einzugehen, obwohl wir damit über das Selbstzeugnis Tatians im engeren Sinn hinausgreifen. Zunächst teilt Tatian die Antipathie gegen Aristoteles, wofür die relativ eingehende Stellungnahme zeugt, die nach jeweils kurzen Anwürfen gegen Diogenes, Aristippos und Piaton den Inhalt des 2. Kapitels der Oratio bildet. Auch das Material zu dieser antiaristotelischen Polemik Tatians ist keineswegs originell. Die zwei Lehrsätze, an denen er Anstoß nimmt — Beschränkung der göttlichen Vorsehung auf die Sphären oberhalb des Mondes und Begründung der Eudaimonie auch auf äußere Güter — sind zusammen mit dem von der Sterblichkeit der Seele, der bei Tatian selbstverständlich wegfällt, einerseits die stereo1 Z.B. Albinos, did. 27 p. 180, 18 Η.; Maximos Tyr. 10, 3 p. 114, 2ff. und 11, 10 p. 141, 12ff. Hob.

Tatians

Verhältnis

zum

Piatonismus

31

typen Argumente in der patristischen Polemik gegen die peripatetische Philosophie geworden 1 . Man kann sie etwa bei Origenes ad Rom. I I I 2 (VI 169f. Lommatzsch) lesen. Vor allem die Lehre, daß es neben den Tugenden als den seelischen Gütern noch zwei weitere Arten von Gütern gebe, nämlich die leiblichen und die äußeren, und daß infolgedessen auch diese eine Voraussetzung f ü r die Eudaimonie sein müßten, hat heftigen Widerspruch bei den Kirchenvätern gefunden 2 . Andererseits aber gibt es noch eine Gruppe von Belegen dafür aus dem mittleren Piatonismus. Hier ist vor allem wieder Attikos zu nennen, außerdem jedoch Albinos 3 . Demgegenüber geht aus Sextus Empiricus hervor, daß die peripatetische Lehre in geringer Abwandlung mindestens von einem Teil der stoischen Schule vertreten worden ist 4 . Tatian befindet sich also hier mit dem Piatonismus in Übereinstimmung gegen Peripatos und Stoa. Diese Übereinstimmung reicht noch weiter: Auch die Argumente, die Attikos in dem angeführten Zitat gegen die Methode des Aristoteles vorbringt, finden ihre Parallele bei Tatian. So vertritt er den Satz von der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches, wenn er behauptet, daß die Leiber der Dämonen, die als eine Mischung wie von Feuer und Luft pneumatischer Natur sind, nur f ü r Pneumatiker sichtbar seien (15, 3 p. 16, 27). Er gerät allerdings kurz darauf mit dieser Behauptung in Schwierigkeiten und muß sie wieder zurücknehmen; denn die Dämonen erscheinen manchmal auch den Psychikern und werden von ihnen gesehen (16, 2 p. 17, 25). So wird an diesem Beispiel besonders deutlich, wie sehr Tatian im Bann seiner Tradition steht. Wie bei Attikos findet sich auch bei Tatian eine entschiedene Stellungnahme gegen das Autodidaktentum (3, 1 p. 3, 11) und die Autonomie des menschlichen Denkens (27, 3 p. 29, 15). Wie Attikos unterscheidet er zwei Stufen der Erkenntnis, den λόγος επίγειος und den λόγος ϋεοϋ (32, l p . 33, 2 vgl. 26,3 p. 28, 14 und dazu Albinos did. 4 p. 154, 18ff. H.); wiederum Zeugnis einer Denkform, die der Stoa fremd ist. Dazu kommt, daß Tatian sich außer mit den Peripatetikern auch mit der Stoa ausführlicher auseinandersetzt 5 , daß er dagegen die Platoniker 1 Das Material im wesentlichen bei A. J. Festugiere, L'ideal religieux des Grecs et l'evangile, 1932, 221/63: Aristote dans la litterature grecque chretienne jusqu'ä Theodoret (zu Tatian: 224/31). 2 Neben Clem. str. I I 21, 128 p. 182, 20 St., Orig. Selecta in Ps., ad Ps. 4, 6 = X I p. 441 f. Lomm., Hippol. ref. I 20, 3ff. p. 24, 19 W. und anderen von Festugiere angeführten Belegen ist auch Pseudo-Justin, Or. ad Gent. 5 zu nennen, eine Schrift, die im Ganzen eine auffällige Verwandtschaft mit Tatian zeigt. 3 Attikos bei Euseb. praep. ev. X V 4 = II p. 350ff. Mras zur Güterlehre, ib. 5 = p. 355ff. zur Lehre von der Vorsehung. — Albinos did. 5 p . 156, 35 H . 27 p. 179f. 1 Sext. Emp. hypotyp. I I I 180f. = SVF I I I 96 und ausführlicher zu diesem Thema adv. math. X I 45ff. 5 3, 1/2 p. 3, 22ff. 6, 1 p. 6, 16ff. Aber auch 4, 1/2 p. 5, 2ff. vgl. unten S. 68.

32

Tatians

Verhältnis zum

Piatonismus

ungeschoren läßt, obwohl deren Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele ihm einen erwünschten Anlaß zur Polemik h ä t t e geben können. Das t r i t t u m so klarer zutage, als er gelegentlich bemerkt: Ich verlache auch das Altweibergeschwätz des Pherekydes und das Erbe, das Pythagoras bezüglich seiner Lehre angetreten hat, und — wenn es auch einige nicht gelten lassen wollen — dessen 1 Nachahmung durch Piaton (3, 2/3 p. 4, 6).

Wir wissen nämlich von Cicero 2 , daß man die Beziehung Piatons zur pythagoreischen Schule gerade aufgrund der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele h a t feststellen wollen. Wie leicht h ä t t e also Tatian daran eine Polemik knüpfen können! S t a t t dessen schweigt er hier einfach. Nimmt man alle diese Befunde im Positiven wie im Negativen zusammen, so legt sich der Schluß nahe, daß Tatian in die Tradition platonischen Philosophierens hineingehört. Nicht nur verdankt er ihr eine große Anzahl einzelner Begriffe u n d Argumente, wofür der weitere Verlauf der Untersuchung ständig neue Beispiele liefern wird. Damit wäre noch nichts Definitives gesagt, denn ebenso läßt sich ja nicht leugnen, daß er in wichtigen Einzelheiten anders denkt als die Platoniker. Entscheidend ist aber, daß er von ihnen die Ausrichtung seines ganzen Denkens auf das Problem der Wahrheit empfangen hat. Diese Ausrichtung h a t er festgehalten, auch nachdem er gerade durch sie über die platonische Philosophie hinaus zum Christentum geführt worden war. Das Christentum erscheint ihm in erster Linie als die Botschaft der Wahrheit. E r bestätigt zunächst ausdrücklich, dort die Wahrheit gefunden zu haben, wenn er sagt: Ich bin in Nachahmung des Logos von neuem gezeugt (wiedergeboren) und habe mir die Erkenntnis des Wahren erworben (5, 2 p. 6, 9).

E s ist das einzige Mal, wo Tatian das intellektualistische Verständnis seiner Bekehrung zu durchbrechen scheint. Aber hier ist es besonders wichtig, auf den Zusammenhang zu achten: Tatian möchte die Wirkungsweise des Logos durch einen Vergleich mit seinem eigenen augenblicklichen Sprechen veranschaulichen, u n d im R a h m e n dieses Vergleichs bezeichnet er sich gegenüber dem Logos, von dem es heißt: εν αρχη γεννηθείς, als κατά την τ ου λόγου μίμησιν αναγεννηθείς. So handelt es sich nur scheinbar u m Aufnahme einer Taufterminologie. Denn am richtigsten m ü ß t e man vielleicht übersetzen: „Ich bin analog gezeugt". U n d nicht zufällig h a t Tatian zur Erläuterung dieses Ausdrucks im Sinne seines Verständnisses hinzugefügt: καΐ την τοϋ αληθούς κατάληψιν πεποιημένος, Worte, die im R a h m e n des intendierten Vergleichs kein Äquivalent haben und darum ein um so größeres Gewicht tragen. 1 2

1 τούτον MPV: τούτους Sch. Go. Tusc. I 16, 38f. Resp. I 10, 15.

Tatian

— Herold der

Wahrheit

33

Wenn aber das der innere Grund f ü r Tatians Bekehrung war, daß er im Christentum die Wahrheit fand, die er gesucht hatte, so ist es verständlich, daß er sich nun den Griechen gegenüber als κήρυξ της άληϋείας bezeichnet: Deswegen, ihr Griechen, hört auf mich, der ich schreie wie aus der Höhe herab, und übertragt nicht in eurem Spott eure eigene Unverständigkeit auf den Herold der Wahrheit (17, 1 p. 18, 20).

Damit nimmt Tatian ein Wirken f ü r sich in Anspruch, das er ebenso auch seinem Lehrer Justin zuspricht: Justin wurde von dem kynischen Philosophen Crescens verfolgt, weil er die Wahrheit verkündete und die Philosophen als lüstern und betrügerisch überführte (19, 1 p. 21, 5)

Wie wichtig es Tatian erscheint, in dieser Weise als Herold der Wahrheit verstanden zu werden, geht daraus hervor, daß er im Schlußkapitel seiner Schrift an die Griechen noch einmal den Terminus κηρνττειν verwendet: . . . was jetzt zu verkünden ich mich anheischig mache (42 p. 43, 12).

Es soll hier nicht darüber entschieden werden, ob Tatian sich mit dieser Ausdrucksweise unmittelbar an den christlichen Sprachgebrauch anschließt. Immerhin nennt sich auch der hellenistische Wanderprediger κήρυξ, wie vor allem aus Epiktet I I I 21, 13ff. hervorgeht 1 . Und der Passus aus cap. 17 klingt ganz und gar an den Stil der Diatribe an 2 , während er gewiß nicht aus der Mysteriensprache s t a m m t 3 : Mit ekstatischen Äußerungen des Geistes hat Tatians Rede wenig zu t u n ! Die Selbstbezeichnung Tatians als Herold der Wahrheit ist also im Rahmen seiner Äußerungen über sich selbst die Bestätigung dafür, daß sein Denken im Grunde durch die Frage nach der Wahrheit und damit — genetisch betrachtet — durch die Voraussetzungen der platonischen Schulphilosophie bestimmt ist. Es wird nun unsere Aufgabe sein zu untersuchen, wie sich diese Bestimmung durch die Wahrheitsfrage in der äußeren Gestalt von Tatians Schrift, in dem Bild, das er vom Christentum entwirft, und in der Form der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, vor allem aber in der Darstellung der christlichen Lehre ausgeprägt hat. Vorher aber ist noch genauer festzustellen, wie und unter welchen Merkmalen er die Wahrheit als solche auffaßt. Denn seine besondere Auffassung von der Wahrheit ist es, die jenen eigenartigen Widerspruch erklärt, der sich im Blick auf sein Verhältnis zur griechischen Philosophie zwischen seinem eigenen Urteil und dem wahren Sachverhalt ergeben hatte. 1

Vgl. G. Friedrich, ThWb. III, 691 f. Puech, Recherches 41 f. Wendland, Hell.-röm. Kultur 93. Vgl. Justin II 12, 7 und z.B. Maximos Tyr. 35, 7 p. 410, 9 Hob. 3 Gegen Schlier, Rel.gesch. Unters, z. d. Ignatiusbriefen, 144. Vgl. R. Bultmann, Das Evang. d. Joh., 2. Aufl. 1950, 50 Anm. 3. 2

3

7586 Elze, Tatian

KAPITEL 2

T A T I A N S A U F F A S S U N G VON D E R

WAHRHEIT

Natürlich nimmt auch die griechische Philosophie f ü r sich in Anspruch, die Wahrheit erkannt zu haben und sie zu lehren. Mit welchen Argumenten grenzt Tatian seinen eigenen Wahrheitsanspruch dagegen ab? Es handelt sich im Wesentlichen um drei Kennzeichen, die f ü r Tatian zur Wahrheit gehören und die darum gewährleistet sein müssen, wo von Wahrheit gesprochen wird: Wahrheit ist göttlich, ist alt und ist unteilbar Eine. 1. Von den biblischen Schriften, auf deren Lektüre Tatian seine Bekehrung zurückführt, sagt er, sie seien göttlicher, als daß sie mit der Verirrung der Griechen verglichen werden könnten (29, 1 p. 30, 6). Sie bewirken darum auch, daß die Seele göttlich belehrt wird (29, 2 p. 30, 11). Dem entspricht der Vorwurf gegen Heraklit: Den Heraklit würde ich nicht anerkennen, der sagt: „Ich habe mich selbst gelehrt", weil er Autodidakt und hochmütig ist (3, 1 p. 3, II) 1 .

Tatian leugnet mit diesem Urteil die Möglichkeit, daß ein Mensch von sich aus zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen kann. Nur diejenigen Menschen besitzen die Wahrheit, in denen der göttliche Geist spricht (13, 3 p. 14, 31). I n diesem Sinn sind auch zwei Stellen aus cap. 12 zu erwähnen. Dort erläutert Tatian seine Lehre vom Pneuma, die er durch einen zweifachen Hinweis auf ihren göttlichen Ursprung zu bekräftigen sucht. Er schreibt: Das ist aber alles im Einzelnen einzusehen möglich für jeden, der nicht in eitlem Geltungsdrang die göttlichen Erklärungen verdammt, die zu ihrer Zeit schriftlich an's Licht gebracht sind und alle, die sich nach ihnen richteten, zu ganz lind gar von Gott geliebten Menschen gemacht haben (12, 3 p. 13, 11). 1 Tatian hält sich dabei an eine verbreitete Variante des ursprünglichen heraklitischen Ausspruchs. Er schreibt έμαντόν εδιδαξάμην statt έδιζησάμην, was allerdings von Diogenes Laertios in gleichem Sinn interpretiert wird als μαϋ·εϊν πάντα παρ' έαντοϋ (Diels-Kranz, Fragm. d. Vorsokr. 22 Β 101).

Göttlichkeit der

Wahrheit

35

Und ähnlich dann noch einmal: Dies sagen wir aber nicht, wie es uns gerade auf die Zunge kommt, noch auch aufgrund von Erwägungen des Wahrscheinlichen 1 oder sophistischer Darstellung, sondern wir machen Gebrauch von einer göttlicheren Aussage. U n d ihr, wenn ihr es erfahren wollt, gebt euch Mühe! (12, 5 p. 13, 31).

Es ist f ü r unseren Zusammenhang gleichgültig, ob Tatian hier überhaupt eine bestimmte biblische Stelle im Auge hat und welche es sein könnte. Am ehesten käme die Gegenüberstellung des πνενμα von Gen. 1, 2 mit der πνοή von Gen. 2, 7 in Betracht 2 ; denn daß er sich in dieser Form auf Paulus beziehen sollte (vgl. 1. Kor 2, lOff.), ist unwahrscheinlich. Mit dem Hinweis auf die Göttlichkeit der Quelle wird jedenfalls die Wahrheit der Aussage belegt. Demgegenüber handelt es sich bei aller davon abweichenden Aussage lediglich um „Wahrscheinlichkeiten", was hier in durchaus abwertendem Sinn zu verstehen ist. Dieser Gegensatz von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, von Göttlichkeit und Sophisterei, ist zugleich ein Gegensatz von schriftlicher Überlieferung und bloß mündlicher Konzeption. Tatian wirft den Griechen vor, daß sie κατά το επελϋόν philosophieren, „so wie es ihnen gerade einfällt" (3, 3 p. 4, 14). Und diesen Gegensatz verdeutlichen noch folgende Sätze: Bei uns gibt es keine Sucht nach eitler Meinung; von Vielfältigkeiten der Lehren machen wir keinen Gebrauch. Denn geschieden von der gewöhnlichen und irdischen Vernunft, den Anweisungen Gottes gehorchend und dem Gesetz des Vaters der Unvergänglichkeit folgend, verwerfen wir alles, was auf menschlicher Meinung beruht (32, 1 p. 33, 1).

Philosophie und Christentum stehen einander als menschliche Meinung und göttliche Wahrheit in ausschließendem Gegensatz gegenüber. Das alles zeigt, wie streng sich Tatian an die göttliche Autorität in der Wahrheit gebunden weiß. Bewegt er sich dabei auch im Bereich biblischen Denkens, so muß man sich doch klarmachen, daß er hierin zugleich mit dem Piatonismus und seiner religiösen Komponente übereinstimmt. Man vergegenwärtige sich etwa das Wahr hei tsverständnis des Plutarch: Nichts ist f ü r den Menschen zu empfangen größer, nichts gnädig zu verleihen für Gott würdiger als die Wahrheit . . . Deshalb ist ein Trachten nach Göttlichkeit das Streben nach der Wahrheit, vor allem nach der Wahrheit über die Götter; denn mit sich bringt es ja gleichsam als ein neues Empfangen heiliger Güter das Wissen und das forschende Suchen (De Iside lf.). 1 1 άπό των εικότων εννοιών MPV: άπό των εικότων (ονόέ άτι') ενν. Wi. Go. 2 Philon leg. all. I 42; Iren. V 12, 2 = I I 350 Η . ; Tert. de an. 11, 2; adv. Marc. I I 99 werten diese begriffliche Unterscheidung der L X X für die Anthropologie aus. Cf. Aug. de civ. dei X I I I 24. 3*

36

Alter der

Wahrheit 2.

Da nun das Göttliche zugleich das Ursprüngliche ist, folgt aus dieser Bestimmung der Wahrheit als zweites Merkmal ihr Alter. „Antiquior omnibus Veritas" schreibt Tertullian (apol. 47, 1 vgl. Justin I 23, 1), und dieser Grundsatz hat ja auch in der innerchristlichen Auseinandersetzung mit den Häretikern eine große Rolle gespielt. So sagt Tatian von den biblischen Schriften nicht nur, daß sie göttlicher seien als die griechische Yerirrung, sondern auch, daß sie älter seien als die Lehrsätze der Griechen (29, 1 p. 30, 5). Das gleiche hätte etwa Josephus sagen können (c. Αρ. I I 157). Dem Nachweis dieses zunächst einfach thetisch vorgebrachten Satzes dient dann der nach dem Vorbild der jüdischen Apologetik ausgeführte Altersbeweis (cap. 31ff.), aus dem Tatian das Facit mit folgenden Worten zieht: Also hat sich ergeben, daß Mose älter ist als die erwähnten alten Heroen, Kriege 1 und Dämonen. U n d dem an Alter Überlegenen muß man vertrauen. . . (40, 1 p. 41, 1).

Die Griechen haben ihre Kenntnisse zudem aus Mose geschöpft und durch ihre verfälschenden Zutaten „die Wahrheit ins Hintertreffen gebracht 2 , als handelte es sich um Mythenerzählung" (ib. p. 41, 9). Unter dieser Voraussetzung erklärt es sich, warum Tatian seinerseits f ü r die Barbaren Partei nimmt und warum er dabei den Gesichtspunkt des Glaubens ganz außer acht läßt (vgl. S. 25). Die Identifizierung des Christlichen mit dem Barbarischen dient ihm dazu, dessen Alter, und dies, seine Wahrheit zu erweisen. Nicht der Gesichtspunkt des Glaubens, sondern die bestimmte Auffassung von der Wahrheit ist es, die Tatians Haltung bedingt. I m Zusammenhang damit verwahrt sich Tatian im Unterschied zum sonstigen christlichen Selbstverständnis dagegen, etwas Neues zu lehren (35, 2 p. 37, 15 vgl. S. 28). Müßte er das zugeben, so wäre eben damit erwiesen, daß seine Lehre nicht die Wahrheit sein könnte. Und wiederum erklärt es sich, warum dieser Vorwurf gegen ihn erhoben wurde. Denn auch die Griechen gehen von dem Grundsatz aus, daß die Wahrheit göttlich und damit älter ist als alles andere; nur nehmen sie ihn natürlich für ihre eigene Lehre in Anspruch! 3. So fällt das Schwergewicht auf das dritte und letzte Kennzeichen der Wahrheit, ihre Einheit und Unteilbarkeit. Grundlegend f ü r Tatians Wahrheitsverständnis ist der Satz: 1

1 παλαιών πολέμων P(MV): πόλεων Euseb., ed. 1 παραβραβενσωσι(ν) Euseb., ed. (of. 9 , 2 p. 1 0 , 5 ) : παραπρεσβενσωσι(ν) („mit Mißaehtung behandeln"). 2

MPV

Unteilbarkeit

der

Wahrheit

37

Ihr, die ihr die Weisheit zergliedert, seid von der wahren Weisheit abgeschnitten (26, 2 p. 28, 4).

Es heißt dann weiter: Die Namen der Einzelglieder habt ihr Menschen zugeteilt, und Gott kennt ihr nicht.

Auch das Argument der Einheit entspringt also aus dem der Göttlichkeit, und es bringt nun den ausschließenden Gegensatz von göttlicher Wahrheit und menschlicher Meinung in einer neuen und folgenreichen Weise zum Ausdruck. Ein Vergleich mit Justin kann das deutlich machen. Auch Justin sagt, daß es im Grunde nur e i n e Philosophie gebe (dial. 2, 1). Aber er f ü h r t diesen Gesichtspunkt keineswegs streng durch. Seine ganze Lehre von den Samenkörnern des Logos basiert darauf, daß es einen Teilbesitz der Wahrheit gibt (I 44, 10). Entscheidend ist das 13. Kapitel seiner sogenannten Zweiten Apologie: Es kommt ihm darauf an, nicht das Trennende (τά αλλότρια) zwischen Christentum und Philosophie hervorzuheben, sondern das Verbindende (τά όμοια), und dies besteht in dem Anteil an der Saat des göttlichen Logos, der jedem eingeboren ist (II 13, 3.5). Zu diesen eingeborenen wahren Vorstellungen rechnet Justin ausdrücklich den Gottesbegriff (II 6, 3) und bei den Stoikern die Ethik (II 8, 1). Aber nur eine getrübte Seinserkenntnis wird dadurch vermittelt (II 13, 5f.), und das ist der Grund f ü r die offenkundige Widersprüchlichkeit der philosophischen Lehren (II 10, 3. 13, 3). Für Justin ist also durchaus denkbar, daß Wahres und Falsches miteinander bestehen können. Der Anteil des Wahren verliert durch die Beimischung des Irrtums nichts von seiner Wahrheit. Es ist nicht nötig, auf die Interpretation dieser justinischen Lehre und auf die Frage ihrer Herkunft einzugehen 1 . Der Unterschied zu Tatian liegt auf der H a n d : Die Vielfalt der philosophischen Schulen ist f ü r Tatian keine sekundäre Angelegenheit, die deren Anteil an der ursprünglichen Wahrheit nicht beeinträchtigt. Sondern f ü r ihn kommt darin die prinzipielle Unwissenheit der Menschen zum Ausdruck, die Gott nicht kennen, und so handelt es sich um ein klares und kompromißloses Entweder — Oder. Wahrheit drückt sich in Einheit aus. Wo diese nicht zu finden ist, herrscht Irrtum. Einen Teilbesitz der Wahrheit gibt es nicht. Darum sagt Tatian, daß sich ihm die griechischen Philosophen als kenntnislos erwiesen haben, nicht etwa nur als arm an rechter Erkenntnis — άμαϋεις schreibt er (35, 2 p. 37, 16), nicht etwa όλιγομαϋεϊς-, darum besteht f ü r ihn die Alternative allein zwischen geordneter Auffassung der Wahrheit und einem bloßen Streit mit Worten (27, 2 p. 29, 9); darum ist der Gegensatz zwischen Christentum und Philosophie 1

Dazu jetzt C. Andresen, Logos und Nomos, 1955, 336ff.

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Unteilbarkeit der Wahrheit

ein grundsätzlicher wie zwischen συμφωνία und ασυμφωνία (25, 2 p. 27, 4). Und ganz konsequent wirkt sich dieser Gesichtspunkt bis in Methodenfragen hinein aus. So liest man in der Diskussion des Altersbeweises den Satz: Bei wem die Chronologie unstimmig ist, bei dem kann auch die Tatsachenforschung nicht wahrheitsgemäß sein (31, 4 p. 32, 20).

Unteilbare Einheit, die in strenger Ausschließlichkeit festgehalten wird und sich zugleich als innere Übereinstimmung darstellt, ist also f ü r Tatian der entscheidende Grundzug der Wahrheit. Nur in einer einzigen, eindeutigen Gestalt kann Wahrheit sich ausdrücken. Darum spielt bei Tatian das alte apologetische Argument, den Griechen die Widersprüche in ihren Lehren vorzuhalten, eine besonders große Rolle. Es ist nun zu fragen, wo diese Auffassung verwurzelt ist. Der Gedanke von der Entsprechung von Wesen und Erscheinung, der ihr zugrunde liegt, ist platonisch. Auf den besonderen Fall angewandt, gibt ihm beispielsweise der neuplatonisch gebildete Kaiser Julian Ausdruck an einer Stelle, die schon v. Otto zu Justin, dial. 2, 1 zitiert 1 : Niemand . . . soll uns die Philosophie in viele (Teile) zerlegen noch in viele (Teile) schneiden, ja vielmehr viele (Philosophien) aus einer machen! Denn wie die Wahrheit eine ist, so auch die Philosophie (or. VI 184c p. 239 H).

Eine wichtige theologische Folgerung ergibt sich aus diesem radikalen Wahrheitsverständnis. Während Justin in der Unterscheidung zwischen den vorchristlichen Teiloffenbarungen des Logossamens und der vollständigen Offenbarung des Logos in Jesus Christus zugleich ein heilsgeschichtliches Schema gewann, ist Tatians Auffassung wesensmäßig ungeschichtlich, wie der Piatonismus, dessen Tradition er hier wiederum folgt. Von seiner Voraussetzung aus muß er zu einer relativ gleichgültigen Einstellung gegenüber der geschichtlichen Offenbarung der Wahrheit in Christus kommen, und auch aus diesem Grund kann er von ihr absehen, wenn er sein System der christlichen Lehre entwirft. Ebenso verliert f ü r ihn der Weissagungsbeweis die Bedeutung, die er im geschichtstheologischen Rahmen bei Justin hat. Man sieht deshalb auch keinen inneren Zusammenhang mit dem Grundgedanken der Lehre Tatians, wenn er im Zuge des Altersbeweises f ü r das Christentum die Behauptung vom Diebstahl der Hellenen vorbringt. Um dieses aus der jüdischen Apologetik übernommene Argument mit seiner kompromißlosen Auffassung von dem negativen Verhältnis der hellenistischen Philosophie zur Wahrheit in Übereinstimmung zu bringen, muß er von vornherein eine Verfälschung der mosaischen wahren Lehre bei der Übernahme durch die Griechen annehmen (40, 1 1 Vgl. W. Schmid, Frühe Apologetik und Piatonismus. ΕΡΜΗΝΕΙΑ, schrift f. O. Regenbogen, 1952, 167.

Fest-

Allgemeinheit

der

Wahrheit

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p. 41, 4). Tatian hat also an dieser Stelle Mühe, einen überlieferten apologetischen Topos mit seinem eigenen ganz anderen Ansatz in Einklang zu bringen: Vertritt er den Gedanken, daß die Griechen überhaupt nicht im Besitz der Wahrheit sind, so erscheint ja der Nachweis abwegig, daß sie trotzdem mit der mosaischen Wahrheit in Verbindung stehen. Interessanterweise ergibt sich an dieser Stelle auch f ü r Justin eine Aporie, nur steht bei ihm die Übernahme des Satzes vom Diebstahl der Hellenen aus einem anderen Grund im Widerspruch zu seiner sonstigen Auffassung: Vertritt er den Gedanken, daß die richtigen Vorstellungen aus eingeborenen Logoskeimen hervorgehen, so erscheint ja der Nachweis abwegig, daß sie obendrein von Mose übernommen worden sind (I 59, 1. 44, 8f. im Gegensatz zu 44, 10) \ Aus der Einheit der Wahrheit folgt f ü r Tatian auch ihre Allgemeinheit. Davon handelt das ganze cap. 32, besonders deutlich am Ende: Alle Menschen, die den Wunsch danach haben, philosophieren bei uns 2 . Wir beurteilen nicht das Sichtbare, und wir richten über die, die zu uns kommen, nicht nach ihrem äußeren Gehaben. Wir sind nämlich der Meinung, daß die Stärke der Gesinnung bei allen sein kann, mögen sie auch körperlich schwach sein (32, 3 p. 33, 27).

Dieser Satz ist vor allem zu verstehen im Zusammenhang mit der Polemik gegen Aristoteles. Wie dieser setzt Tatian mit der ganzen hellenistischen Philosophie voraus, daß die Philosophie zur Eudaimonie f ü h r t . Auch Justin sagt: Die Philosophie ist Wissenschaft vom Seienden und Erkenntnis des Wahren, und Eudaimonie ist der Ehrensold dieser Wissenschaft und Weisheit (dial. 3, 4).

Nun macht aber Aristoteles in seiner Lehre von der dreifachen Art der Güter die Eudaimonie mit abhängig von den äußeren und den leiblichen Gütern: Bei wem es aber keine Schönheit gibt, keinen Reichtum, keine Körperkraft und keinen Adel, bei dem gibt es für Aristoteles keine Glückseligkeit (2, 2 p. 3, 8 vgl. S. 31).

Tatian stellt dieser Auffassung klipp und klar seine Meinung entgegen: Gerade solche Leute sollen philosophieren! (2, 2 p. 3, 10).

Es gibt f ü r ihn keine einschränkende Bedingung. Die eine Wahrheit ist f ü r alle Menschen da. Sie ist unabhängig von allen äußeren Voraussetzungen und muß unabhängig bleiben von allen falschen Beweggründen (vgl. 3, 3/4 p. 4, 17. 19, 1 p. 20, 27; unten S. 57 f.). Allein der eine Gott ist Maß und Richte der Wahrheit. 1 Harnack, Lehrbuch d. Dogmengesch. I 5 , 511 Anm. 1 weist auf diese Unausgeglichenheit bei Justin hin. Die Erörterung bei Andresen, Logos und Nomos, 341/3 behandelt das Problem in anderer Weise, als es hier gestellt ist. 2 1 φιλοσοψοΰσι cj: φιλοσοφείν MPV ed. (vgl. oben S. 15 Anm. 1); 1 αν&ρωποι MPV: ol Sch. Go.

40

Einheit der

Wahrheit

Ist damit das Wahrheitsverständnis Tatians geklärt, so kann auch die Grundkonzeption von Tatians Denken, das ja durch das Streben nach Wahrheit geleitet ist (vgl. S. 28f.), ganz erfaßt werden. Wesentlich ist dafür vor allem, in welcher Weise Tatian die Einheit als Wesenszug der Wahrheit versteht. Die Einheit ist einheitgebend nicht nur nach außen, so daß es ausschließlich eine einzige Lehrform der Wahrheit und nicht mehrfachen, unter sich verschiedenen Teilbesitz der Wahrheit geben kann; sie ist einheitgebend auch nach innen, so daß sie sich innerhalb dieser einzig möglichen Lehrform als innere Übereinstimmung und Geschlossenheit zeigen muß. Dieser radikale Zug zur Einheit ist es nun, der Tatians Denken durchgängig bestimmt. So bemüht er sich einerseits darum, die christliche Lehre in ein klar aufgebautes und in sich streng geschlossenes System zu bringen, das sich konsequent aus der Voraussetzung des monotheistischen Gottesbegriffs heraus entfaltet. Das wird im 5. Kapitel dieser Arbeit deutlich werden. Andererseits ist nach außen hin seine Polemik gegen die Griechen und sein Bild vom Christentum dadurch geprägt. Schließlich erklärt sich von dieser Grundlage her auch die kompromißlose Haltung, die Tatian gegenüber der Philosophie im Widerspruch zu seiner tatsächlichen Abhängigkeit von ihr so betont zur Schau trägt. Tatian kann und darf den Griechen auch nicht einen Schritt entgegenkommen, denn jeder noch so kleine Schritt würde ihn selber vom Ort der Wahrheit weg unweigerlich in die Verirrung führen. So klärt die Untersuchung seines Wahrheitsverständnisses zugleich den Widerspruch in seinem Selbstzeugnis auf, das uns überhaupt erst auf die Schlüsselstellung des Wahrheitsbegriffs in Tatians Denken aufmerksam gemacht hatte.

KAPITEL 3

T A T I A N S S C H R I F T AN D I E

GRIECHEN

Die mit der Schrift an die Griechen verknüpften literarischen Probleme haben in der bisherigen Tatian-Forschung den meistverhandelten Gegenstand gebildet, und sie dürfen deshalb auch hier nicht übergangen werden. Die vielfach widersprüchlichen Lösungen, die sie erfahren haben, können nun aufgrund der Einsicht in Tatians Grundkonzeption gegeneinander abgewogen werden. Es handelt sich dabei einmal um die Fragen, die Anlaß und Zweck, das literarische Genos und Ort und Zeit der Abfassung betreifen, und zum andern um das Problem der Disposition des Werkes. 1. Es wird jetzt allgemein zugestanden, daß Tatians Schrift an die Griechen nicht eine Apologie im gewöhnlichen Sinn ist. Das geht schon aus der Tatsache hervor, daß sie sich nicht an den Kaiser wendet, wie es bei Justin und dessen Vorgängern Quadratus und Aristides ebenso wie später noch bei Athenagoras oder Meliton von Sardes der Fall ist. Ihre Schriften, und zumal die beiden Apologien des Justin, haben deutlich die Form einer offiziellen Eingabe 1 . Natürlich sind sie gleichzeitig zur Veröffentlichung f ü r einen weiteren Leserkreis bestimmt, aber auf die literarische Formgebung wirkt sich diese Absicht nicht aus. Anders bei Tatian: Er richtet sich von vornherein an ein allgemeineres Publikum, nämlich an die „Griechen", und daß er damit die Gebildeten meint, ist schon nachgewiesen worden (vgl. S. 25). Dementsprechend übernimmt er f ü r die äußere Form der Schrift auch nicht die Regeln, die zu seiner Zeit f ü r die Abfassung eines juristischen Dokuments galten. Will man bestimmen, welchem literarischen Genos die Oratio statt dessen angehört, so muß man also zugleich nach ihrem Anlaß und Zweck fragen. Die verschiedenen bisher vorgetragenen Lösungen lassen sich auf zwei Hypothesen zurückführen. Die eine geht dahin, daß die Oratio von Tatian als Eröffnungsrede f ü r sein Didaskaleion im Orient verfaßt und 1

A. Ehrhardt, Justin Martyr's two apologies. Journ. of Eccl. Hist. 4, 1953, 1/12.

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Genos der Oratio

auch so gehalten worden ist 1 . Sie würde demnach in die Zeit nach Tatians Übersiedlung aus Rom in den Osten fallen, und ihr Genos ist dann als das eines λόγος εισιτήριος zu charakterisieren. Manche Anzeichen sprechen in der Tat dafür, daß es sich um eine wirklich vorgetragene Rede handelt. Hierher gehört eine Stelle wie der — allerdings schon von Justin (dial. 61, 2) vorgebildete — Vergleich zwischen dem Wirken des Logos und dem von Tatians augenblicklichem Sprechen, in dem es heißt: Ich selbst rede ja auch, und ihr hört zu, und durch den Übergang des Logos werde ich, der Sprechende, doch wohl nicht leer vom Logos! (4, 2 p. 6, 4)

Mehr noch weisen in diese Richtung die Schlußbemerkungen des 30. und 42. Kapitels: Da ich nämlich unsere Lehren zur Prüfung darbieten will 2 , werde ich meinen Bericht einfach und ausführlich gestalten (p. 31, 1)

und So stelle ich mich bereitwillig euch zur Verfügung zur genauen Untersuchimg meiner Lehren (p. 43, 13).

Auch die vorangehende Formulierung „was jetzt zu verkünden ich mich anheischig mache" ließe sich in diesem Sinn verstehen, weil επαγγέλλομαι unter anderem als Terminus technicus f ü r die Ankündigung sophistischer Lehrvorträge im Gebrauch war 3 . Tatian verwendet aber das Wort auch in einer weiter gefaßten Bedeutung (23, 2 p. 25, 28. 36, 1 p. 38, 2). Und man sah sich gezwungen, Stellen, an denen von einem „Aufschreiben" die Rede ist (z.B. 35, 1 p. 37, 5. 41, 3 p. 42, 16. p. 43, 5), im Rahmen dieser Hypothese aus dem Gebrauch einer Wandtafel während des Vortrages zu erklären 4 ! Bei all dem ist zu bedenken, daß es keineswegs so unumstößlich fest steht, ob Tatian überhaupt im Orient eine eigene Schule eröffnet und unterhalten hat (vgl. S. 112ff.). Eine letzte Schwierigkeit liegt in der mit dieser Auffassung verbundenen Datierung. Die Oratio soll mindestens in das J a h r 172 verlegt werden, in dem Tatian Rom verlassen hat. Damit aber rückt sie weit ab von dem Zeitpunkt der Bekehrung Tatians, und es gibt n u n eine Äußerung von ihm, nach der dieses Ereignis noch nicht lange zurück liegen kann: 1 R. C. Kukula, Tatians sogenannte Apologie, 1900, 16f. und in der Einleitung zu seiner Übersetzung, BKV 12, 16ff. Ähnlich schon vor ihm B. Ponschab, Tatians Rede an die Griechen, Gymn. Progr. Metten, 1894/5, 8f. — Vgl. B. Altaner, Patrologie, 6 1957, 101 f. 2 1 βονλόμενος MPV: (τοις) ... βονλομένοις Sch. Go. 3 Kukula, Tatians sog. Apologie, 14. 1 Kukula, BKV 12, 17.

Genos der Oratio

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Was ist denn Schlimmes daran, wenn Menschen, die sich als kenntnislos erwiesen haben, von einem Menschen überführt werden, der eben erst Ahnliches durchgemacht hat (35, 2 p. 37, 15) l .

Diese Stelle scheint f ü r die zweite Hypothese von Zweck und Genos der Schrift Tatians zu sprechen: Liegt die Bekehrung erst kurze Zeit zurück, so könnte es sich um eine Art Propagandaschrift 2 f ü r das Christentum handeln, die zugleich eine Rechtfertigung f ü r Tatians Übertritt zu geben hatte 3 . Dementsprechend sieht man den protreptischen Charakter der Schrift als konstitutiv f ü r ihr literarisches Genos an 4 . Diese Auffassung hat sich im allgemeinen durchgesetzt. Nur gelegentlich ist versucht worden, die Oratio dem von Aristoteles (Rhet. I 3 p. 1358b 6ff.) beschriebenen γένος επιδεικτικόν zuzurechnen, und zwar darin wieder der negativen Form des Psogos, der Tadelschrift, im Gegensatz zum Enkomion 5 . Aber auch hierbei wird die Verwandtschaft mit dem Protreptikos ausdrücklich hervorgehoben. Andererseits lassen sich ausgedehnte Abschnitte der Schrift eben nicht aus der Gattung des Protreptikos erklären, auch wenn man sie sehr weit faßt. Darum ist eine endgültige Entscheidung zwischen diesen beiden Hypothesen — Eröffnungsvortrag oder Protreptikos — nicht leicht zu treffen. Das gilt ebenso f ü r das schon vorhin aufgegriffene Problem der Datierung. Die Diskussion darüber hat letztlich nur ergeben, daß die von der einen oder anderen Seite aus der Oratio selbst entnommenen sachlichen Angaben keine eindeutige Lösung ermöglichen 6 . Auch der Ort, an dem Tatian seine Schrift geschrieben hat — eine Frage, deren Beantwortung in diesem Zusammenhang wichtig wäre —, läßt sich nicht eindeutig nachweisen. Jedenfalls spricht etwa die Tatsache, daß Tatian das Johannesevangelium kennt und zitiert, nicht gegen die Annahme, die Oratio sei in Rom entstanden. 1 Das Wort νϋν ist entsprechend seiner Satzstellung mit όμοιοπα&ονς, nicht aber mit dem Verbum σννελέγχεσΰαι zu verbinden. So Harnack, Kukula gegen Otto, Schwartz (im Index zu seiner Ausgabe s. ν. δμοιοπα&ής), Puech z. St. 2 Diese Formulierung bei Lortz, Tert. als Apologet II, 106 Anm. 32. 3 Harnack, T U I, 1/2, 199. 212 und Gesch. d. altchr. Lit. II, 287. Danach O. Bardenhewer, Gesch. d. altkirchl. Lit. I, 2 1913, 264. 4 So besonders seit Puech, Recherches 80. Auch Kukula, BKV 12, 13 muß ein protreptisches Moment zugestehen. — Den protreptischen Charakter der frühchristlichen Apologetik hat dann vor allem P. Ubaldi herausgestellt, dessen offenbar ausgezeichnet eingeleitete und kommentierte italienische Ubersetzung der Oratio (Turin 1921) an keiner der deutschen Bibliotheken greifbar ist. Vgl. dazu M. Pellegrino, Studi su l'antica apologetica 1947 (über T. 35/45) mit abschwächenden Bemerkungen. 5 L. Alfonsi, Appunti sul Λόγος di Taziano. Convivium 14, 1942, 273/81. 6 Nur einige Standpunkte seien genannt: Harnack, Chronol. 284ff. (nach einer Kontroverse mit Zahn): ca. 155. — Bardenhewer 1 2 264 u. 271 (nach Funk): 165. — Puech, Recherches 97ff.: 171. — Altaner, Patrologie, 5 lOlf. vorsichtig: „sehr wahrscheinlich nach dem Tode Justins, wohl nicht mehr in Rom, jedoch nach seinem Abfall von der Kirche".

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Oenos der Oratio

Abzulehnen ist schließlich die neuerdings vorgeschlagene Spätdatierung auf die Zeit nach dem J a h r 176; nicht nur, weil es sich offensichtlich u m den Versuch handelt, der These, daß sich Tatian in der Oratio weitgehend von der valentinianischen Gnosis abhängig zeige, größere Wahrscheinlichkeit zu verleihen 1 , sondern weil auch hierbei die Beweisführung nicht wirklich stichhaltig ist. Andererseits k a n n freilich die hier vorgetragene Einordnung Tatians in die platonische Tradition nichts zum Problem der Datierung beitragen, weil sich keine bestimmten, genauer datierbaren Vorlagen nachweisen lassen. Sollte Tatian bei Albinos in die Schule gegangen sein, so gewinnt m a n nicht viel aus der Angabe Galens, daß Albinos etwa im J a h r 152 den Höhepunkt seines Wirkens in Smyrna gehabt h a t 2 . Eigenartigerweise ist in der bisherigen Behandlung dieser literarischen Fragen ganz unberücksichtigt geblieben, daß nach dem Zeugnis des Euseb auch Justin einen λόγος προς Έλληνας geschrieben hat, in welchem er sich im Rahmen einer ausführliehen Besprechung der meisten Gegenstände, die bei uns und bei den griechischen Philosophen behandelt werden, mit dem Wesen der Dämonen auseinandersetzt (h. e. IV, 18, 3).

Näheres wissen wir nicht, aber nach dieser Charakteristik, die Euseb von der Schrift gibt, k a n n man vermuten, daß es sich u m eine Ausarbeitung der Lehrvorträge Justins in seiner philosophischen Schule handelt 3 . Wenn dabei die Behandlung der Dämonologie im Vordergrund gestanden hat, so ist anzunehmen, daß der leitende Gesichtspunkt f ü r Justins Beschäftigung mit den Themen, die Griechentum u n d Christent u m gemeinsam waren, der Gegensatz zwischen dem griechischen Polytheismus u n d dem christlichen Monotheismus gewesen ist. D a r u m ist es nicht ausgeschlossen, daß Tatian sich das Werk seines Lehrers mit zum Vorbild genommen hat, da sich ja die Oratio in ganz ähnlicher Weise charakterisieren ließe. F ü r die Abfassungszeit käme man dann auf einen frühen Ansatz, vielleicht sogar noch zu Lebzeiten Justins (f um 165). Als.· Ort würde R o m das Nächstliegende sein, denn die Anrede „Hellenen" ist ja nicht im völkischen Sinn gemeint (S. 25). Dem Genos nach wäre die Oratio allerdings nicht einfach unter die Lehrvorträge zu rechnen. D a f ü r bietet sie im Vergleich zu Justins „ausführlichem" Werk ihren Stoff in allzu abgekürzter Form. Aber als einleitendes Programm f ü r eine ganze Reihe derartiger Vorträge wäre sie doch denkbar (vgl. etwa cap. 30 Ende u n d 31 Anfang; ferner 35, 1/2 p. 37, 8ff. u n d cap. 42 Ende). U n d in R o m hat Tatian ja Schüler gehabt, wie einer von ihnen, Rhodon, selbst 1 R. M. Grant. Vgl. dazu oben S. 10. Dagegen werden mit Recht Vorbehalte geäußert von A. Adam, ZKG 68, 1957, 21. 2 J. Freudenthal, Der Platoniker Albinos, 1879 (in: Hellenist.Studien, H. 3), 242. 3 Vgl. W. Bousset, Jüdisch-christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom, 1915, 282ff.

Genos der Oratio

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berichtet (Eus. h. e. V 13, 8). Das Wenige, was wir dabei von dessen Theologie erfahren, paßt inhaltlich sehr gut zu Tatians Äußerungen in der Oratio (vgl. S. 113f.). Allerdings wird man der Sache im Ganzen erst dann gerecht, wenn man berücksichtigt, daß Tatian als „Herold der Wahrheit" spricht, daß er seine Tätigkeit als ein „Verkünden" der Lehre bezeichnet (42 p. 43, 12). Unter dieser Voraussetzung wird nämlich die Bedeutung der literargeschichtlichen Fragestellung ähnlich relativiert wie die der rein biographischen. Was zunächst als unentscheidbares Dilemma erschien — ob die Schrift an die Griechen eine wirklich gehaltene Rede zur Eröffnung einer Schule oder eine auch der Rechtfertigung der eigenen Bekehrung dienende allgemeine Propagandaschrift sei —, das erfährt seine Auflösung von diesem Grundansatz Tatians aus. Wohl hat sich die Wagschale durch die Heranziehung des justinischen Vorbildes zugunsten der ersten Ansicht geneigt, aber nun erst wird deutlich, warum Tatians Werk zugleich so starke protreptische Züge trägt: Was Tatian lehrt, ist die Wahrheit, und Wahrheit ist göttlich. Deshalb ist f ü r ihn Lehre immer zugleich Verkündigung, und Verkündigung wird von selber protreptische Formen annehmen. So wird von Tatians Grundkonzeption aus der literarische Charakter seiner Schrift verständlich, auch unabhängig davon, ob man f ü r die rein literargeschichtliche Frage die hier vorgetragene Entscheidung billigen will. Und noch etwas anderes ergibt sich dabei deutlich: Eine Apologie im gewöhnlichen Sinn zu verfassen, hat Tatian von seinem Standpunkt aus nicht nötig. Bedarf allenfalls sein eigener Weg, von der gängigen Philosophie hinüber zum Christentum, der Rechtfertigung vor seinen früheren Gesinnungsgenossen, so spricht doch die Wahrheit immer f ü r sich selbst und braucht nicht erst verteidigt zu werden. Vielmehr liegt es im Wesen der Sache, daß der „Herold der Wahrheit" als Angreifer gegenüber der Verirrung auftritt. Deshalb ist es schließlich überflüssig, psychologische Erklärungen f ü r die Schärfe der Polemik zu finden, die Tatian gegen die Griechen führt. Es ist das Pathos der Wahrheit selbst, das in diesen Formen sich ausspricht. Allerdings scheint Tatians Schrift in der Situation persönlicher Anfeindung entstanden zu sein, da sie so betont mit den Worten schließt: Nur bleibe mir die gottgemäße Lebensform unverleugnet!

Dazu kommt, daß Tatian gelegentlich seine Bereitschaft zum Martyrium äußert (4, 1 p. 4, 28. 27, 2 p. 29, 4£f.). Und hierher gehört auch ein umstrittener Satz aus cap. 19, in dem Tatian — nach dem Wortlaut der Handschriften — sich selbst mit den Verfolgungen in Verbindung bringt, die Justin durch den kynischen Philosophen Crescens zu erleiden hatte:

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Disposition

der Oratio

θάνατον δε ό καταψρονών (sc. Crescens) όντως αυτόν έδεδίει τον θάνατον, ώς και Ίονστϊνον κα&άπερ και εμέ ώς (ν. 1. ους, οϊον) κακφ τω &ανάτφ περιβαλεΐν πραγματενσασΰαι: Er, der den Tod (angeblich) verachtete, fürchtete denselben Tod (in Wirklichkeit) so sehr, daß er sogar den Justin ebenso wie auch mich in den Tod als in ein Übel zu verstricken suchte (19, 1 p. 21, 3).

Euseb, der diese Stelle in seine Kirchengeschichte aufgenommen hat (IV 16, 8f.), bietet den Text, von einigen weniger wichtigen Varianten abgesehen, in der Form: ώς και Ίονστϊνον κα&άπερ μεγάλφ

κακφ τω ΰανάτω περιβαλεϊν πραγματεύσαη&αι.

Schwartz schreibt im Apparat seiner Ausgabe: Locus vel Eusebii tempore mutilus nec jam sanandus. Harnack hat eine Zeitlang an eine bewußte Fälschung Eusebs geglaubt, der auf diese Weise ein Zeugnis f ü r ein Vorwissen Justins um seinen Tod hätte bekommen wollen. Diese Auffassung hat er aber selbst wieder zurückgezogen 1 . Die Frage ist nun, ob Euseb nicht vielleicht einen anderen, plausibleren Grund gehabt hat, um tatsächlich eine eigenwillige Änderung des Textes vorzunehmen. Da ihm Tatian als Ketzer galt — er wiederholt ja wörtlich das Urteil des Irenäus 2 —, wird er ein Interesse daran gehabt haben, ihn der Würde eines Confessors zu entkleiden, die ihm aufgrund jener Aussage hätte zuerkannt werden können. Unter diesen Umständen ist die Lesart der Handschriften zu bevorzugen. Wie sollte sie auch zustande gekommen sein, wenn Eusebs Fassung die ursprüngliche wäre? Aber selbst wenn es demnach so ist, daß Tatian sich zur Zeit der Abfassung seiner Schrift gegen Verfolgung zu wehren hatte, so darf doch nicht allein daraus die Polemik erklärt werden, die er führt. Hinter ihr verbirgt sich, unabhängig von persönlichem Geschick, ein Zug der Wahrheit selbst, die Tatian zu verkünden, nicht zu verteidigen hat. 2.

Daß Tatians Schrift keine eigentliche Apologie ist, erkennt man auch abgesehen von den Erwägungen über ihr literarisches Genos, wenn man ihren Aufbau im einzelnen betrachtet. Damit der Sachverhalt möglichst klar hervortritt, soll zunächst eine andere frühchristliche Schrift, deren apologetischer Charakter außer Zweifel steht, auf ihre Gliederung hin geprüft werden. Da Justin wegen seiner literarischen Unbeholfenheit als Vergleichsobjekt nicht geeignet erscheint, mag Athenagoras mit seiner Supplicatio pro Christianis als Beispiel dienen. Athenagoras richtet sein Werk an die Kaiser als oberste Gerichtsherren. Es ist seinem Genos nach eine Apologie im Sinn eines offiziellen 1 2

T U I 1/2, 142. Chronol. I 284. Eus. h. e. IV 29, 2f. = Iren. I 28, 1 (I p. 220 H.).

Disposition

der Oratio

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Dokuments zur Verteidigung des christlichen Glaubens gegenüber den verschiedenen Punkten der Anklage, die gegen ihn erhoben wird. Diesem Zweck entspricht der Aufbau der Schrift: Nach einer kurzen Einleitung (cap. If.), in der Athenagoras auch auf die Widersinnigkeit eines gerichtlichen Verfahrens aufgrund der Anklage des bloßen Christennamens zu sprechen kommt, stellt er (cap. 3) die drei Hauptpunkte der heidnischen Angriffe zusammen, deren Widerlegung sein Werk gilt. Dem ersten und wichtigsten, der angeblichen Gottlosigkeit, sind cap. 4—30 gewidmet. Mit dem zweiten und dritten — es sind die auch im Brief der gallischen Gemeinden (beiEus. h. e. V 1, 14) erwähnten „thyestei'schen Mahlzeiten" und „ödipodei'schen Verbindungen" — setzen sich cap. 31 f. zunächst allgemein auseinander. Danach gehen cap. 33f. im besonderen auf den dritten, cap. 35f. auf den zweiten Vorwurf ein. Das Schlußkapitel hebt dann noch einmal die Loyalität der Christen hervor. Athenagoras hat es also verstanden, die literarische Form und die Disposition seiner Schrift ganz mit ihrer Abzweckung in Einklang zu bringen. Die klassischen Loci der Apologetik bestimmen den Aufbau seines Werkes, und auch durch ihn erweist es sich demnach als eine regelrechte Apologie. Damit ist ein Maßstab f ü r die Beurteilung der Gliederung von Tatians Schrift gewonnen. Bei ihm fehlen nämlich die Kontroverspunkte zwischen Heidentum und Christentum nicht: Von der vermeintlichen Gottlosigkeit geht er bei der Entfaltung seines Gottesbegriffs aus (4, 1 p. 4, 20); er nennt diesen Vorwurf ausdrücklich (27, 1 p. 28, 30) und spricht dabei auch von der Anklage auf den bloßen Namen hin (p. 28, 21). Mit dem Thema der thyestei'schen Mahlzeiten beschäftigt er sich der Sache nach (25, 3 p. 27, 12) ebenso wie — ausführlicher — mit dem der ödipode'ischen Verbindungen (cap. 32f.). Auch auf den von Anfang an umstrittenen Glaubenssatz von der Totenauferstehung kommt er zu sprechen (cap. 6). Aber diese Punkte bestimmen nun keineswegs wie bei Athenagoras die Gliederung der ganzen Schrift. I m Gegenteil: Wo sie auftreten, geschieht das oft genug ohne rechte Verbindung mit dem eigentlichen Gedankengang der Kapitel, in den sie sich teilweise geradezu störend einschieben. Das muß doch aber als ein Hinweis darauf verstanden werden, daß Tatian an dem juristischen Aspekt der Situation kein wesentliches Interesse gehabt hat. Man hat den Eindruck, daß er diese Argumente mehr nur um ihrer Geläufigkeit willen in seine Abhandlung eingebaut hat, deren Disposition sich ihm von anderen Gesichtspunkten her ergab. Welche Gesichtspunkte können es gewesen sein? Wie die Frage nach dem Genos, so ist auch die nach der Disposition von Tatians Schrift bisher umstritten. Wieder lassen sich die vorliegenden Lösungsversuche in zwei Gruppen zusammenstellen.

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Disposition

der Oratio

Einerseits hat man die Oratio nach formalen Kriterien gegliedert 1 . Ohne auf die Einzelheiten der verschiedenen Vorschläge einzugehen, kann man folgendes gemeinsame Grundschema feststellen: Nach der — als protreptisch charakterisierten — Einleitung wird zunächst ein dogmatischer Hauptteil angenommen, der als apologetisch-didaktisch bezeichnet wird. Er soll mit cap. 4 bzw. 5 beginnen; sein Ende wird verschieden angegeben, die Meinungen schwanken zwischen cap. 19, 20 und 21. I h m folgt dann ein zweiter Hauptteil, der im wesentlichen als polemisch angesehen wird, die restlichen Kapitel bis einschließlich cap. 30 umfassend. Übereinstimmung herrscht bezüglich des angehängten Altersbeweises in cap. 31 bis 41, dem ein abschließendes Kapitel folgt. Die Schwierigkeit dieser Gliederung nach formalen Prinzipien liegt darin, daß sich die Stilgattungen keineswegs so klar auf die zwei Hauptabschnitte aufteilen lassen. Man muß zugeben, daß auch der erste bereits polemische Züge enthält, während der zweite wiederum apologetische und protreptische Elemente in die Polemik mischt 2 . Unter diesen Umständen ist es begreiflich, wenn gelegentlich im Blick auf eine klare Lösung Resignation geäußert worden ist 3 . Man rechtfertigt das dann mit einem Hinweis darauf, daß Tatian als Assyrer eben nicht geordnet denken könne, sondern planlosen Ideenassoziationen nachgebe 4 ! Versagen also die formalen Kriterien, so hat man es andererseits unternommen, Tatians Schrift nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu gliedern. Hier sind die Ergebnisse sehr viel unterschiedlicher ausgefallen. Da ist zunächst der Versuch, einen vorwiegend (!) theoretisch-dogmatischen Teil (cap. 5—21) und einen praktisch-ethischen Teil (cap. 22—41, also einschließlich des Altersbeweises!) zu unterscheiden, von denen der erste dann nach „objektiven Dogmen" und „subjektiven Dogmen" weiter unterteilt wird 5 . Hier werden neuzeitliche Gesichtspunkte an Tatian herangetragen, die seiner Thematik nicht gerecht werden können, ganz abgesehen davon, daß dabei die angedeuteten Unstimmigkeiten auftreten. Ein zweiter Versuch, die Oratio nach inhaltlichen Kriterien zu gliedern 6 , sieht offenbar das Hauptanliegen Tatians darin, eine „christliche Dämonologie" zu geben. Jedenfalls ordnet er diesem Thema — nach einem 1 H. Dembowski, Die Quellen der christl. Apologetik . . ., Diss. Leipzig 1893. — A. Pueeh, Recherches 34. — W. Bornstein, Beiträge zu Tatians Rede an die Griechen, Diss.-Auszug, Rostock 1923. 2 Bornstein. 3 Puech, Recherches 34: Der Nachweis einer Disposition sei „une entreprise quelque peu chimerique". 4 Puech ib. (nach Ponschab). 5 P. Fiebig, Zur Frage nach der Disposition des Λόγος προς "Ελληνας des Tatian. ZKG 21, 1901, 149/59. 6 Kukula in seiner Übersetzung, B K Y 12, 7ff. Wiederholt von J. Quasten, Initiation aux peres de l'eglise I, 1955, 249ff.

Disposition

der Oratio

49

kurzen Abriß einer „christlichen Kosmologie" (cap. 4—7) —• den gewichtigsten Teil der Oratio (cap. 8—20) unter. Die beiden restlichen Teile (cap. 21—30 und 31—41) entsprechen dann mehr dem vorausgesetzten Hauptthema, einer von Tatian angeblich beabsichtigten Vergleichung zwischen Christentum und Griechentum. Dagegen ist zu sagen, daß Tatian selber einen solchen Vergleich gerade ablehnt (21, 4 p. 24, 15). Und nur insofern hat dieser Gliederungsvorschlag ein ernsthaftes, wenn auch bisher nicht erkanntes Argument f ü r sich, als nach der vorhin (S. 44) besprochenen Angabe des Euseb über Justins „Schrift an die Griechen" auch dort die Dämonologie eine wesentliche Rolle gespielt hat. Trotzdem wird er dem Inhalt der betreffenden Kapitel nicht gerecht. Denn Tatian handelt ja in ihnen durchaus nicht nur über die Dämonen, sondern er greift dieses Thema, das ihm f ü r die Auseinandersetzung mit dem Polytheismus wichtig ist, jeweils im Zusammenhang mit entsprechenden Sätzen der Anthropologie auf. Ein einziger unter allen bisherigen Versuchen, eine Gliederung für Tatians Schrift zu geben, ist insofern vorbildlich, als er sich von Tatian selbst das Prinzip dafür an die Hand geben läßt 1 . Tatian schreibt in seinem Bekehrungsbericht, daß die „barbarischen" Schriften, die ihn von der Wahrheit des Christentums überzeugt haben, älter und göttlicher sind als alle griechischen Lehren (29, 1 p. 30, 5). Dementsprechend soll seine Schrift zuerst (cap. 4—30) von der „erhabenen Lehre" des Christentums und dann (cap. 31—41) von seinem hohen Alter handeln. Damit ist — formal gesehen — das Richtige getroffen. Aber so, wie die Disposition hier gegeben wird, ließe sie sich noch immer im Sinne einer rein apologetischen Zielsetzung deuten: Der erste Teil würde sich mit dem Vorwurf der Gottlosigkeit, der zweite mit dem der Neuheit beschäftigen, aus dem ohnehin die Ausgestaltung des Altersbeweises in der apologetischen Literatur abgeleitet worden ist 2 . Tatian hätte dann nur f ü r seinen zweiten Teil ein anderes Moment berücksichtigt als Athenagoras, ein Moment, das schon bei Justin wenigstens andeutungsweise zur Geltung gekommen war (I 44, 8f. 59, 1). Demgegenüber darf man die Tatsache nicht gering achten, daß Tatian seine Schrift eben nicht an die Rechtsbehörde gerichtet hat. Denn das gilt für alle sogenannten Apologien aus seiner Zeit, bis hin zu Tertullians Apologeticum. Und in der Tat läßt sich die Thematik der zwei Teile noch von einem anderen Standpunkt als von dem bloßer Apologetik aus verstehen: Göttlichkeit und Alter sind neben der Einheit die Kennzeichen der Wahrheit. Sollte Tatian, wenn er seine Schrift als ein „Herold der AVahr 1

Bardenhewer 266. A. Casamassa, L'accusa di 'hesterni' e gli scrittori cristiani del II secolo. Angelicum 20, 1943, 184/94. 2

4 7586 Elze, Tatian

50

Disposition

der Oratio

heit" verfaßt hat, nicht gerade nach ihnen seine Disposition ausrichten, um aus der Göttlichkeit der christlichen Lehre und aus ihrem Alter den Wahrheitsanspruch des Christentums zu rechtfertigen? Die Göttlichkeit müßte dann vor allem auch darin zur Erscheinung kommen, daß die christliche Lehre dem Gesichtspunkt der Einheit und Einheitlichkeit entspricht; also darin, daß sie von einer streng monotheistischen Grundlage ausgeht und sich in geschlossener systematischer Form entfaltet. Und tatsächlich kommt unter .dieser Voraussetzung Klarheit in die Disposition von Tatians Oratio, die sich nun in folgender Weise zusammenfassen läßt: cap. 1—4

Einleitung: Beweise gegen den Wahrheitsanspruch der griechischen Philosophie.

cap. 4—41 Hauptteil: Erweis der Wahrheit des Christentums I. aus seiner Lehre (4—30) A. Darstellung: Lehre von Gott, Welt und Mensch. (4—20) Überleitung: Zusammenfassende Gegenüberstellung von christlichem Glauben und griechischer Mythologie (21) B. Gegenbild: Die griechischen Lehrformen (22—28) C. Abschluß: Tatians Bekehrung (29—30) II. aus seinem Alter (31-—41) cap. 42

Schluß: Persönliche Stellungnahme Tatians.

Es ist wichtig, sich über dieses Schema hinaus den Gedankengang Tatians im einzelnen zu vergegenwärtigen. Erst dann nämlich zeigt sich, entgegen allen Behauptungen von Unlogik und Planlosigkeit, die Strenge und Einheitlichkeit in seinem Denken, vor allem bei der Darstellung der christlichen Lehre. Gewiß veranlaßt ihn ein bestimmter Gedanke oft zu unmittelbarer Anrede an seine Leser, sei es in polemischer oder in protreptischer Form. Aber er verliert darüber nie den Gedankengang aus dem Kopf und kehrt immer wieder zu seinem Thema zurück. Nur geschieht es dabei öfter, daß die Abschnitte fließend in einander übergehen. Im Folgenden wird auch in diesen Fällen durch eine Stellenangabe jeweils auf den Eintritt des neuen Themas hingewiesen. Einleitung:

Beweise gegen den Wahrheitsanspruch der griechischen Philosophie.

1. Beweis:

Die kulturelle Priorität der Barbaren (c. 1)

2. Beweis:

Der Mißbrauch von Sprache, Rhetorik und Poesie bei den Griechen (1, 2 p. 2, 2)

Disposition

der Oratio

51

3. Beweis:

Die Verkehrtheit in Leben und Lehre der griechischen Philosophen (c. 2, p. 2, 17)

Folgerung:

Aufforderung zur Wahrheitssuche und zur Abkehr von falschen Autoritäten (3, 3 p. 4, 12)

Überleitung: Das christliche Verhalten gegenüber den Kaisern (c. 4) Hauptteil: Erweis der Wahrheit des Christentums I. aus seiner Lehre A. Darstellung Grundlegung der christlichen Lehre: (1) Die Lehre von dem einen Gott (4, 1 p. 4, 29) Entfaltung der christlichen Lehre: (2) Die Lehre vom Logos und von der Schöpfung a) Das Verhältnis des Logos zum Vater (c. 5) b) Das Verhältnis des Logos zur Welt (5, 2 p. 6, 6) c) Die Endlichkeit der Welt: Weltbrand oder Totenauferstehung? (c. 6, p. 6, 15) (3) Die Lehre von den Engeln und vom Menschen a) Die ursprüngliche Freiheit und Unsterblichkeit von Engeln und Menschen (c. 7, p. 7, 6) b) Der Fall: Verkehrung der Engel in Dämonen, Verlust der Unsterblichkeit für die Menschen (7, 2 p. 7, 24) c) Der Zustand nach dem Fall: Dämonenwesen und Schicksalsglauben (c. 8) α) Widersprüchlichkeit der Göttermythen (8, 2 p. 8, 20) ß) Widersinnigkeit des Gestirnkultes (c. 9, p. 9, 23) γ) Vergänglichkeit der Götter (c. 10) d) Die Unabhängigkeit der Christen von den Schicksalsmächten (c. 11) e) Die Wiederherstellung der ursprünglichen Unsterblichkeit a) Voraussetzung: Die Lehre vom kosmischen Pneuma (c. 12) — Ihre Bedeutung für die Dämonologie (12, 3 p. 13, 15) — Ihre Bedeutung für die Anthropologie: Die Sterblichkeit der Seele und der göttliche Funken des oberen Pneuma (c. 13) ß) Hinderung: Das Einwirken der Dämonen auf die Seele und seine Folgen: Bedeutung des Todes für Dämonen und Menschen (c. 14, p. 15, 7) 4*

52

Disposition

der

Oratio

γ) Vollzug: Erneuerung der Syzygie zwischen Geist und Seele als Erneuerung der Gottebenbildlichkeit des Menschen und als Sieg über die Dämonen und den Tod (c. 15) ö) Folgerung: Einsichten in den „Zustand der Todeswelt" 1 : Natur und Wirken der Dämonen (c. 16, p. 17, 11). — Falsche Wege der Abwehr: Magie und Heilkunde(c. 17, p. 18,12).—Vorgebliche Todesverachtung und Autarkie der Griechen: Crescens und Anaxarchos als Beispiel (c. 19) — Trug der Mantik (19, 2 p. 21, 14). ε) Abschluß: Das Geschick der Seele und die kosmologischen Voraussetzungen dafür (c. 20 p. 22, 9) — Die Propheten als Quelle dieser Lehren (20, 2 p. 22, 29) Überleitung: Zusammenfassende Gegenüberstellung von christlichem Glauben und griechischer Mythologie (c. 21 p. 23, 5) B. Gegenbild: Verwerflichkeit der griechischen Lehrformen (διδάγματα)

(1) (2) (3) (4)

Festspiele (c. 22) Kampfspiele (c. 23) Theater und Musik (c. 24) Philosophie a) Das Auftreten der Philosophen (c. 25) b) Die Uneinheitlichkeit der Philosophie (25, 1 p. 26, 28) c) Die Gottlosigkeit und falsche Sucht nach Autonomie (c. 27 p. 28, 20) (5) Gesetzgebung (c. 28 p. 29, 17) C. Abschluß: Tatians Bekehrung (c. 29/30) I I . Erweis der Wahrheit des Christentums aus seinem Alter (1) Methodische Einleitung (c. 31) (2) Der Streit um das Alter Homers (31, 2 p. 31, 16) Excurs: Einheitlichkeit und Allgemeinheit der christlichen Lehre (c. 32) — Höhere Sittlichkeit des Christentums, nachgewiesen durch den Künstlerkatalog (c. 33 p. 34, 1) — Abschließende Bemerkungen dazu (c. 35) (3) Das Alter des Mose (c. 36) (4) Ergebnis: Mose älter als Homer (c. 40) Mose älter als die vorhomerischen Denker (c. 41, p. 41, 14) Schluß: Persönliche Stellungnahme Tatians (c. 42) 1

Vgl. 15,4 p. 17,9f.

Disposition der Oratio

53

Dieses Schema vom Gedankengang Tatians in seiner Schrift an die Griechen zeigt im Vergleich mit der Disposition vom Werk des Athenagoras, daß es sich hier tatsächlich nicht um eine Apologie im engeren Sinn handelt, so sehr sie inhaltlich mit den apologetischen Schriften in wesentlichen Punkten doch auch übereinstimmt. Es zeigt sich andererseits, mit welcher systematischen Konsequenz Tatian seine Lehre zu entfalten versteht. Bis in die literarische Gestalt der Oratio hinein wirkt sich also seine Grundkonzeption aus. Es ist nun weiter zu fragen, wie sie auch inhaltlich seine Gedanken prägt. Zuerst sollen noch einmal die Gesichtspunkte zusammengestellt werden, unter denen er zum einen seine Polemik gegen die Griechen vornimmt und zum andern den Vorrang des Christentums behauptet.

KAPITEL 4

T A T I A N S B I L D VOM C H R I S T E N T U M UND S E I N E POLEMIK GEGEN DIE GRIECHEN Göttlichkeit, Alter und Einheit sind f ü r Tatian die Kennzeichen der Wahrheit. Die Verkehrtheit der griechischen Philosophie muß sich ihm also darin erweisen, daß ihr diese Kennzeichen fehlen. Und umgekehrt wird darin, daß im Christentum diese Kennzeichen gegeben sind, dessen Wahrheitsanspruch sich rechtfertigen. Beides gilt es nun in einer Gegenüberstellung der entsprechenden Aussagen Tatians über die Philosophie und über das Christentum noch deutlicher zu machen. Da aber Tatian niemals ausdrücklich vom Christentum unter dieser Bezeichnung spricht und allgemein die Vorstellung verbreitet ist, daß er bereits zur Zeit der Abfassung seiner Schrift häretischem Einfluß unterlegen sei, ist vorher zu fragen, im Namen welcher Gemeinschaft er denn eigentlich schreibt, f ü r welche Gemeinschaft also das Bild gilt, das er dem der griechischen Philosophie entgegenhält. Es könnte — und müßte, wenn die extreme Auffassung richtig wäre — ja das eines gnostischen Konventikels, nicht aber das des „rechtgläubigen" Christentums seiner Zeit sein. Und zum Abschluß des Kapitels, das in dieser Form dem Problem dienen soll, in welcher Weise Tatian das Griechentum und die von ihm vertretene Glaubensgemeinschaft einander gegenüberstellt, ist dann noch zu besprechen, wie er selber das Unternehmen eines solchen Vergleichs beurteilt — eine f ü r seine Position besonders aufschlußreiche Frage. 1. Um zu ermitteln, welches die von Tatian vertretene Gemeinschaft gewesen ist, gibt es keinen andern Weg, als daß man sich einen Uberblick über den Gebrauch der 1. Person Pluralis in seiner Schrift verschafft. Festzustellen, in welchem Zusammenhang er sich jeweils auf ein ,,Wir" beruft — oder es gerade nicht t u t —·, kann und muß dazu helfen, dieses „Wir" konkret zu erfassen. Zunächst sind zwei Beleggruppen auszuscheiden: Einmal gibt es eine Reihe von Stellen, an denen Tatian die Form der Mehrzahl umschreibend

Das

„Wir"

in der

Oratio

55

f ü r die Erwähnung seiner selbst verwendet (vgl. S. 2 0 ) Z u m andern bezieht sich diese Form oft auch auf die Menschen im allgemeinen 2 . Die restlichen Stellen, an denen das „Wir" oft durch den Gegensatz zu einem „ I h r " in der Anrede an die Griechen bedingt ist, müssen nun genauer auf ihren Zusammenhang hin geprüft werden. Sie betreffen zunächst ganz allgemeine Angaben, aus denen noch keine Rückschlüsse auf den konkreten Hintergrund gezogen werden können. So verwendet Tatian gern als Gesamtbezeichnung f ü r die von ihm vorgetragene Lehre den Ausdruck τά ημέτερα (4, 3 p. 5, 15. 24 p. 26, 17 corr. P. 30, 2 p. 31, 2. 32, 2 p. 33, 13. 33, 1 p. 34, 2), oder τα παρ' ήμΐν (31, 1 p. 31, 10). Er bezeichnet sie als „unsere Lehrsätze" (12, 5 p. 14, 4. 19, 2 p. 21, 9. 24 p. 26, 16 V, corr. P), als „unsere Philosophie" (31, 1 p. 31, 5), „unsere Bildung" (12, 5 p. 14, 8. 35, 2 p. 37, 12), „unsere Erkenntnis" (21, 4 p. 24, 15). Er nennt die von ihm verfochtene Lebensform „unsere Politeia" (34, 3 p. 36, 23. cf. 40, 1 p. 41, 11). Er spricht von „unseren" Gesetzen (40, 1 p. 41, 12) und von „unseren" Berichten (21, 1 p. 23, 8), die sich auf das Kommen Gottes in Menschengestalt beziehen. Demgemäß beruft er sich auch auf das Alte Testament mit der Wendung „unsere Propheten" (36, 2 p. 38, 9). Hier bekommt man zum erstenmal einen gegenständlichen Hinweis. Weiter in dieser Richtung führen die Formulierungen „wir haben gelernt" (9, 2 p. 10, 9. 20, 2 p. 22, 29), „wir haben überliefert bekommen" (5, 1 p. 5, 16) und „wir wissen" (5, 1 p. 5, 25. 12, 1 p. 12, 18. 30, 1 p. 30, 19. 36, 2 p. 38, 10 cf. 19, 1 p. 20, 25f.). An diesen Stellen handelt es sich um die Lehre von dem einen, unwandelbaren Gott, von der Gestalt der Erde und vom Logos als Weltprinzip, ferner um die Anschauung von den beiden Pneumata und vom Wesen des Bösen als einer Macht, die aus kleinen Anfängen heraus sich gewaltig entwickelt, und schließlich um eine rein historische Angabe aus dem Alten Testament. Das alles ist aber sehr allgemein gehalten, ebenso wie die wenigen Stellen, an denen Tatian sonst noch bestimmte Glaubenssätze oder 1

Zu dieser ersten Gruppe gehören mit Sicherheit folgende Stellen: 1,3 p. 2,9 άπεταξάμε&α 26,3 p. 28,13ff. καταλ,ελοίπαμεν 1 2 , 5 p . 1 3 , 3 1 ημών λεγόντων 1 5 . 2 p . 1 6 , 1 7 ήμΐν σνντέτακται 1 6 , 1 ρ . 1 7 , 1 6 άπεδείξαμεν 17.1 ρ. 18,13 λέγειν εχομεν 2 1 . 3 ρ . 2 4 , 1 4 ημείς προετείναμεν 2

κτλ. οροί δε ήμΐν κείαονται ήμΐν . . . είρήβ&ω κα&' ημών 42,16—43,5 άνεγράψαμεν κτλ.

31,1 p. 31,6 31,4 ρ. 32,18 35,2 ρ. 37,13

41,3 ρ.

Es handelt sich mindestens um folgende Stellen:

4.2 p. 5,8 4.3 ρ. 5,14

γέγονεν ή/αος ... δι' ημάς ού διαβλ.ητέος νφ' ημών 5,2 ρ. 6,8 την και?' ημάς ποίησιν 6 , 1 ρ . 6 , 1 9 τών και}' ημάς αιώνων 6 , 1 ρ . 6 , 2 1 δικάζοναι ήμΐν 11.2 ρ. 12,13ff. ανκ εγενόμε&α ...

1 4 , 2 p . 1 5 , 2 1 ημείς, οϊς το ·&νηοκειν ράδιον αποβαίνει ... 15,1 ρ. 16,4 χρή λ.οιπόν ήμάζ ... άναζητεΐν 1 6 , 2 ρ . 1 8 , 7 της εν ήμΐν νλ.ης 1 9 , 4 ρ . 2 2 , 7 το ένάμαρτον ήμών 20,1 ρ. 22,11 κόσμος γάρ ήμάς ετι καϋ-έλκει 29,2 ρ. 30,14 ήμάς αποσπά κτλ.

56

Das „Wir"

in der Oratio

Lehrgegenstände als gemeinsame kenntlich macht, nämlich noch einmal den einen, transzendenten Gott (4, 1 p. 4, 29), die Gotteserkenntnis aus den Werken der Schöpfung (4, 2 p. 5, 5), die Menschwerdung (21, 1 p. 23, 5 cf. 21, 2 p. 23, 19) und die leibliche Auferstehung (6, 1 p. 6, 15 und 25). E r spricht im Sinne gemeinsamer Geltung auch über die Unabhängigkeit von den Schicksalsmächten (9, 2 p. 10, 7), über die Kenntnis der weltlichen Dinge (16, 1 p. 17, 22), über die Verwerfung des Planetenkults (9, 2 p. 10, 10) und des Gebrauchs von tödlichen Giften (18, 1 p. 19, 30f.) 1 , und er redet — „zu unseren eigenen L e u t e n " — von der Überwindung des Bösen durch den Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes (30, 1 p. 30, 20ff.)· Schließlich gebraucht Tatian die 1. Person Pluralis dort, wo er die bekannten apologetischen Themen behandelt oder von Verfolgung, H a ß u n d Spott der Griechen spricht 2 . Aus all diesen Aussagen läßt sich weder formal noch inhaltlich gesehen ein Anhalt d a f ü r gewinnen, daß die Grenzen der Gemeinschaft, f ü r die Tatian spricht, enger wären als die des ganzen Christentums. Auch bei der Schilderung des Gemeindelebens in cap. 32, in der häufig die Wendung παρ' ήμϊν wiederkehrt, t r i t t er in keiner Weise aus dem R a h m e n des „rechtgläubigen" Christentums heraus. U n d ein Gnostiker h ä t t e wohl k a u m die Lehre von der leiblichen Auferstehung oder von der Gotteserkenntnis aus der Schöpfung als „unserenGlauben" ausgegeben! Andererseits ist festzustellen, daß Tatian dort, wo er die gerade f ü r ihn charakteristischen theologischen Auffassungen vorträgt, mit Ausnahme der Lehre von den zwei Pneumata, f ü r die er sehr betont auf die „göttlichen Schriften" als Quelle verweist (c. 12 vgl. S. 34f.), nirgends auf ein „ W i r " Bezug nimmt. Das scheint darauf hinzuweisen, daß Tatian sie jedenfalls nicht als Unterscheidungslehren einer durch ihn repräsentierten besonderen Gemeinschaft verstanden hat. Wiederum ist also 1 Der Ausdruck ή φαυλότερα ϋλη ist kein Urteil über die Materie im allgemeinen, sondern er bezieht sich auf die vorausgehende Unterscheidung von τά δηλητήρια u n d τά Ιώμενα. Das ist nicht immer beachtet worden u n d f ü h r t dann leicht zu einer falschen Auffassung von Tatians Einstellung zum Bereich der Materie ü b e r h a u p t (so z.B. bei Puech, Les apologistes 148ff.). 2

E s handelt sich u m folgende Stellen: 4,1 p . 4,20 σνγκρούειν ... τάς πολιτείας καϋ' ημών 6,1 p. 6,24 καν ... σπερμολόγους ημάς νομίσητε 9,4 p. 10,26 δια τό μισεϊν ημάς 19,4 ρ. 22,3 ημάς ...μη άποστνγήσητε 21.1 ρ. 23,7 λοιδορούντες ημάς 21.2 ρ. 23,19 ημείς ... ονκ άφραίνομεν 24 ρ. 26,17 των ημετέρων ήμϊν εκχωρήσατε 25,2/3 ρ. 27, lOff. τί βλάπτομεν υμάς; ... παρ' ήμϊν ουκ εστίν 27,1 ρ. 28,24—30 ήμας ... άνεξετάστως μεμισηκέναι κτλ. 33,1 ρ. 34,4 φλυαρεϊν ημάς λέγοντες

ανθρωποφαγία

Göttlichkeit

des

Christentums

57

kein Anhaltspunkt dafür gegeben, ihn f ü r den Sprecher einer häretischen Gruppe zu halten. Damit ist nicht nur den Theorien der Boden entzogen, die Tatians Schrift in mehr oder weniger engen Zusammenhang mit einer häretischen Bewegung bringen wollen, sei es Gnosis oder Enkratismus; sondern es darf nun als sicher vorausgesetzt werden, daß Tatian hier innerhalb der „rechtgläubigen" Christenheit und in ihrem Namen spricht. 2.

Mehrfach betont Tatian den göttlichen Charakter des Christentums. Christ sein heißt f ü r ihn, dem Logos Gottes folgen (26, 3 p. 28, 14 cf. 19, 4 p. 22, 4f.) und seine Lebensführung am göttlichen Maßstab ausrichten (42 p. 43, 15). Er unterstellt es dem Urteilsspruch Gottes zur Bestätigung (32, 2 p. 33, 13f.) und gibt ausdrücklich zu verstehen, daß Gehorsam und Nachfolge die Scheidung von ,,der gewöhnlichen und irdischen Vernunft" bedingen (32, 1 p. 33, 2f.). Dem entspricht es, wenn die Erkenntnisse, auf denen der Glaube beruht, auf unmittelbares Einwirken des göttlichen Geistes zurückgeführt werden (13, 3 p. 14, 3Iff. cf. 29, 2 p. 30, II) 1 . Im Gegensatz zu Justin (I 44, 12 cf. 20, 1) erkennt dabei Tatian die Inspiration der Sibyllen, die in seiner Zeit eine so große Bedeutung f ü r den Volksglauben hatten, nicht an. Er erwähnt sie nicht und würde sie gewiß in seine Verurteilung der Mantik einschließen wie die Pythia (19, 3 p. 21, 19). Für die Griechen gibt es seiner Meinung nach überhaupt keine autoritative Quelle ihres Wissens. Sie reden „von der Zunge weg" (12, 5 p. 13, 31), „wie es ihnen gerade einfällt" (3, 3 p. 4, 14) und werden von ihm wegen ihres Autodidaktentums verworfen (3, 1 p. 3, 11). Sie halten sich in völliger Unkenntnis Gottes (25, 1 p. 26, 25) an menschliche Lehrmeinungen (26, 2/3 p. 28, 5 cf. 32, 1 p. 33, 4f.) und reden wie der Blinde mit dem Tauben (26, 3 p. 28, 8). Zwar forschen sie, wer Gott ist, aber sie wissen nicht, was in ihnen ist. Sie gaffen in den Himmel und fallen unterdessen in die Grube (26, 1 p. 27, 19f.). Ihr Schicksal ist der Tod, das Ende aller menschlichen Ruhmsucht, während nur die Erkenntnis Gottes zur Überwindung des Todes f ü h r t (19, 2 p. 21, 9). Für ihre Wissenschaft gilt: Sich m i t derartiger F o r s c h u n g zu beschäftigen, ist j a Sache dessen, der sich selbst d a s Gesetz gibt f ü r seine Lehren (27, 3 p. 29, 15).

Solches Autonomiestreben f ü h r t nur dazu, daß die Philosophen sich von falschen Autoritäten abhängig machen. Sie scheuen sich nicht, von 1 Nicht in diesen Z u s a m m e n h a n g gehört der Schluß von cap. 20 (p. 22, 29ff.). N u r Wilamowitz h a t hier eine Aussage ü b e r prophetische Inspiration v e r r a u t e t u n d d a r u m eine Ä n d e r u n g des überlieferten T e x t e s vorgeschlagen, die a b e r a u c h Schwartz n u r i m A p p a r a t seiner Ausgabe e r w ä h n t . Vgl. P u e c h z. St.

58

Alter des

Christentums

den Kaisern Geld anzunehmen (19, 1 p. 20, 27) und ihnen in der Hoffnung auf eine gute Stellung zu schmeicheln: Nötig wäre es vielmehr, nicht aufgrund eines Vorurteils für das Herrschertum die Führenden zu umschmeicheln, sondern abzuwarten, bis die großen Herren zu ihnen kämen! (3, 3/4 p. 4,17)

I n all dem erweist sich f ü r Tatian die Widergöttlichkeit und damit die Verkehrtheit der griechischen Philosophie. 3. Das gleiche gilt im Hinblick auf das Alter der Lehre. Das Christentum, das Tatian, den apologetischen Altersbeweis bearbeitend, auf Mose als den „Begründer aller barbarischen Weisheit" (31, 1 p. 31, 8) zurückführt, hat auch das höhere Alter als Beweis seiner Wahrheit f ü r sich. Das bedarf keiner näheren Ausführung mehr, nachdem über das Prinzip „antiquior omnibus Veritas" und über den Grund von Tatians Vorliebe f ü r das Barbarentum schon die Rede gewesen ist (S. 24ff., 36). Für die Griechen behauptet Tatian die kulturelle Abhängigkeit von den Barbaren (cap. 1) und im Zusammenhang mit dem Altersbeweis den Diebstahl ihrer Lehren von Mose her (40, 1 p. 41, 3 vgl. S. 38f.). Sie schmücken sich mit fremden Federn, und wenn sie hergeben müßten, was sie von anderen geliehen haben, wäre es mit ihren Lehren aus (26, 1 p. 27, 16). Dabei haben ihre Lehrer das Übernommene umgefälscht, teils um sich den Anschein der Originalität zu geben, teils um die Tatsache zu vertuschen, daß sie nicht alles verstanden haben. Denn sie übernahmen es „nicht nach Maßgabe des Verständnisses" (ov κατ' επίγνωσιν). Zugleich unterstellt Tatian ihnen die Absicht, daß sie die Wahrheit ins Hintertreffen bringen wollten, als handelte es sich u m Mythenerzählung (40, 1 p. 41, 8) 1 .

Dahinter steht wohl der Gedanke, daß die Mythologie als Rede von den Göttern Dämonenwerk, das heißt nicht ursprünglich, widergöttlich und darum zugleich unwahr ist. 4. Den breitesten Raum in der Charakteristik des Christentums wie der griechischen Philosophie nimmt das Argument der Einheitlichkeit ein. Die Christen sind bezüglich ihrer Lehre in Übereinstimmung mit einander (σύμφωνοι έαντοϊς 25, 2 p. 27, 4). So erwähnt Tatian mit keinem Wort — im Gegensatz zu Justin (I 7. 26. 56. 58) —, daß es innerhalb des Christentums verschiedene Richtungen gibt. Häresien existieren nach dem Bild, das er vom Christen 1

Vgl. S. 36 Anm. 2.

Einheit des

Christentums

59

tum entwirft, nicht. Sonst geriete ja sein Wahrheitsanspruch ins Wanken, f ü r den die Einheit konstitutiv ist. Aus diesem Verschweigen zu folgern, daß er selbst auf Seiten einer Minderheit steht, die er nur gern als das ein und alles erscheinen lassen möchte, geht nicht an. Das Ergebnis der Untersuchung am Anfang dieses Kapitels ließe sich damit nicht vereinbaren. Die Einheit nach außen tritt auch in der Allgemeinheit christlichen Lebens und Glaubens in Erscheinung, wie Tatian sie vor allem in cap. 32 betont. Alte und Junge, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke — sie alle sind gleichgestellt. Es gibt keine Vorzüge und Vorurteile. Aber auch nach innen wirkt sich diese Einheit in der christlichen Lehre aus, als Einheitlichkeit und Harmonie der einzelnen Lehrpunkte. Und wohl in diesem Sinn ist die oben erwähnte Stelle aus cap. 25 gemeint: Widerstreitende Lehrtraditionen habt ihr und kämpft, selber nicht übereinstimmend, gegen die, die unter einander übereinstimmen! (p. 27, 3)

Es folgen nämlich nun einzelne Gegenüberstellungen griechischer und christlicher Sätze, von denen die griechischen, nimmt man sie der Reihe nach f ü r sich, sich unvereinbar miteinander zeigen, während die christlichen in sich folgerichtig und schlüssig sind: Einer meint, der vollkommene Gott sei ein Körper, ich aber, er ist unkörperlich; der Kosmos sei unauflöslich, ich aber, er ist auflösbar; ein Weltbrand ereigne sich von Zeit zu Zeit, ich aber, nur einmal; Richter seien Minos und Rhadamanthys, ich aber, Gott selbst; unsterblich gemacht werde allein die Seele, ich aber, auch das Fleisch mit ihr.

Um dieser inneren Schlüssigkeit willen kann Tatian vom Christentum sagen: Von Vielfältigkeiten der Lehren machen wir keinen Gebrauch (32, 1 p. 33, 2).

Sie beruht f ü r ihn auf der monotheistischen Grundlage seiner Lehre, die er als einen der ausschlaggebenden Gründe f ü r seine Bekehrung angibt (29, 2 p. 30, 11 vgl. S. 23) und die er ausdrücklich der ,,Vielherrschaft" der Götter bei den Griechen gegenüberstellt (14, 1 p. 15, 9 cf. 19, 4 P- 22, 4). Während so in der Einheit nach innen und außen das Bild vom Christentum sich rundet und zugleich die Wahrheit seiner Lehre sich deutlich bestätigt, ist nach Tatians Auffassung bei der griechischen Philosophie in diesem Punkt das Gegenteil der Fall. Hier finden sich Uneinheitlichkeit, Widerspruch, Zank und Streit. Die Lehren der Philosophen sind unzusammenhängend (35, 1 p. 37, 7) und einander entgegengesetzt (3, 3 p. 4, 13. 25, 1/2 p. 26, 28ff.). Dieses Argument, dessen Ursprung in der nacharistotelischen Philosophie kürzlich nachgewiesen wurde 1 und das schon die jüdische Apolo1

O. Gigon (vgl. S. 26 Anm. 4) 35f.

60

Christentum, und

Griechentum

getik aufgegriffen hatte, bekommt bei Tatian folgerichtig im Zusammenhang mit seiner Grundkonzeption besonderes Gewicht. Nicht nur allgemein, sondern im Einzelnen deckt er die Widersprüche auf, etwa in den Göttermythen (8, 2 p. 8, 21f.), in der Astrologie (9, 2 p. 10, lOff.), in den Lebensordnungen (cap. 28) und sogar in der Homerforschung (31, 4 p. 32, 15). Dabei wären auch den Griechen deutliche Hinweise auf die Einheitlichkeit des Denkens vorgegeben, darin etwa, daß es für alle Menschen nur eine Sonne und einen Tod gibt (11, 1 p. 12, 2. 26, 2 p. 28, 1). Statt dessen zerlegen sie die Weisheit in einzelne Glieder, wobei sie nur die wahre Weisheit verlieren (26, 2 p. 28, 4). Und den gleichen Fehler, daß sie teilen, wo in Wahrheit nicht geteilt werden darf, begehen sie hinsichtlich der Lehre von der Zeit (26, 1 p. 27, 22 vgl. S. 103). Die innere Widersprüchlichkeit der griechischen Philosophie spiegelt sich darum in der Vielzahl der Schulen (25, 2 p. 26, 28ff. 26, 2 p. 28, 3), in Neid und Streit (3, 3 p. 4, 14. 26, 2/3 p. 28, 6. 32, 3 p. 33, 31), in Zuchtlosigkeit (19, 1 p. 20, 28 cf. cap. 33f.) und Aufgeblasenheit (1, 2 p. 1, 17. 3, 3 p. 4, 15. 26, 3 p. 28, lOff. 35, 1 p. 37, 6). Diese beiden letzten Vorwürfe bilden auch den stets wiederkehrenden Grundton in den Klatschgeschichten, die Tatian zur Charakteristik einzelner Philosophen beibringt (cap. 2f.). Vor allem aber kommt die Widersprüchlichkeit in der Sprachverwirrung der Griechen zum Ausdruck (1, 2 p. 2, 1. 30, 2 p. 30, 29), eine Bemerkung, mit der Tatian gegen die attizistische Bewegung seiner Zeit zu Felde zieht, wobei die übliche, etwa von Plutarch (de auditu 9 p. 42 d) geführte Polemik noch einen besonderen theologischen Hintergrund erhält (vgl. S. 93). Zusammenfassend sagt er: Labyrinthen gleichen die Aufstellungen eurer Bücher, und die Leser dem F a ß der Danaiden (26, 1 p. 27, 20).

So ist es für Tatian ganz klar, daß die Griechen dem Irrtum anheimfallen und von der Wahrheit abgesondert sind. 5. Aus dem besonderen Wahrheitsverständnis Tatians folgt es, daß er dort, wo Mangel an echter Autorität, wo Epigonentum und Uneinheitlichkeit walten, die Wahrheit grundsätzlich und restlos ausgeschlossen sieht. Der Gegensatz zwischen dem Christentum und der griechischen Philosophie, den die oben zusammengestellten Einzelbemerkungen näher beleuchten, ist deshalb ein radikaler und ausschließender Gegensatz. Tatian erkennt lediglich Sokrates, Herakles „und einigen anderen solchen" zu, daß sie „Gerechte" waren (3, 2 p. 3, 27) und stellt sie dadurch auf eine

Christentum

und,

Griechentum

61

S t u f e mit den Propheten (13, 3 p. 15, 1). W a r das f ü r J u s t i n (z.B. I I 10, 8. I I 11) ohne Schwierigkeiten möglich, so bedeutet es f ü r T a t i a n eine Inkonsequenz. E r gibt auch keinerlei nähere Erklärung d a f ü r . Grundsätzlich stehen nämlich Christentum u n d griechische Philosophie bei ihm völlig unvergleichbar einander gegenüber. Am E n d e des cap. 21, in d e m er abschließend noch einmal die christliche Lehre als ganze mit der heidnischen Mythologie konfrontiert, schreibt er: Das aber haben wir gleichsam aufgrund bloßer Annahme (ωσπερ επι νποΰέσεως) vorgetragen, denn nicht f r o m m ist es, unsere Erkenntnis von Gott auch nur zu vergleichen mit dem, was sich in Materie und K o t wälzt (p. 24, 14).

Die letzte W e n d u n g dieses Satzes wird durch Parallelen wie Clemens Alex, protr. 10, 92, 4 u n d Plotin I 6, 6, wo P i a t o n Phaidon 69 c zitiert ist (vgl. auch 82e u n d Politikos 309a), als platonische Redensart ausgewiesen 1 , während das richtige Verständnis des Begriffs επί νποϋέσεως durch J u s t i n ermöglicht wird, u n d zwar an einer Stelle, wo er versucht, ähnlich wie Tatian in cap. 6, einen rational einsichtigen Beweis f ü r die Möglichkeit der Totenauferstehung zu geben (I 19, Iff.). J u s t i n geht davon aus, daß keiner f ü r möglich hielte, ein menschlicher Körper mit Knochen, Sehnen u n d Fleisch könne aus einem kleinen Samentropfen entstehen, wenn er es nicht als vollendete Tatsache vor Augen h ä t t e . Deshalb dürfe auch die Möglichkeit der Auferstehung nicht einfach geleugnet werden, nur weil noch keiner gesehen habe, wie ein Toter auferstanden ist. Diese Beweisführung ist rein hypothetisch, denn in Wirklichkeit ist es ja n u n einmal so, daß jeder das Werden u n d Wachsen eines Kindes immer wieder miterleben k a n n u n d miterlebt h a t . D a r u m sagt J u s t i n : Es soll denn n u n aufgrund bloßer Annahme gesagt werden —

I m gleichen Sinn schränkt T a t i a n den Vergleich zwischen Christentum u n d Mythologie ein, und er verstärkt das sogar noch durch das vorangestellte ώσπερ: I n Wirklichkeit gibt es keinerlei Bezugspunkte, lediglich gedanklich-abstrahierend darf einmal diese Gegenüberstellung vollzogen werden. Ganz folgerichtig schreibt er deshalb an den wenigen anderen Stellen, wo er die Griechen ihrerseits zu einer vergleichenden Anerkennung des Christentums auffordert, die W o r t e καν ώς dazu, u m die Gegensätze ja nicht zu verwischen, sondern ständig offen zu halten: Macht Gebrauch von unseren Lehren, und sei es auch nur wie von der Wahrsagekunst der Babylonier! H ö r t auf uns, wenn wir reden, und sei es auch nur wie auf einen Baum, der weissagt! (12, 5 p. 14, 4). Deswegen blickt auf eure eigenen Aufzeichnungen und erkennt uns an, u n d sei es auch nur als solche, die in gleicher Weise Mythen erzählen! (21, 2 p. 23, 17). 1

H . Frankel, Wege und Formen . . . 267.

62

Christentum

und

Griechentum

Damit ist nicht etwa eine Mindestforderung aufgestellt, mit deren Erfüllung von seiten seiner Adressaten Tatian sich schon zufrieden geben will. Sondern es ist die ihnen freilich noch verborgene unendliche Überlegenheit des Christentums, die Tatian in dieser Formulierung des Als-ob zum Ausdruck bringt. So aber argumentiert kein Apologet, der ja gerade um Anknüpfung bemüht ist, wie Justin I I 13, 2 deutlich zeigt, der das Fremde zwischen Christentum und Philosophie zurückstellt hinter dem Gemeinsamen. Wir treffen Tatian also noch einmal über der Leugnung jeglicher Gemeinsamkeit, so wie es zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Einheit und Vielheit keine Gemeinsamkeit f ü r ihn gibt. E s ist wieder seine Grundkonzeption, die sich hier auswirkt. Wie löst er nun in seiner Darstellung der christlichen Lehre das Problem, das in dieser Kompromißlosigkeit liegt? Wie vermag er die Vielheit abzuleiten, wenn er die Einheit durchhalten will? Mit dieser Frage gehen wir zu der Untersuchung seines christlichen Lehrsystems über.

KAPITEL 5

TATIANS SYSTEM DER CHRISTLICHEN

LEHRE

Schon das Dispositionsschema von Tatians Schrift ließ den systematisch folgerichtigen Aufbau seiner Theologie erkennen (S. 50f.). Es kommt nun darauf an zu zeigen, daß diesem äußeren Befund eine innere Geschlossenheit des Systems entspricht, wie Tatian sie ja auch selbst f ü r die christliche Lehre in Anspruch genommen hat (S. 58f.). Diese innere Geschlossenheit ist gewährleistet durch den Zug zu strenger Einheit, der die Theologie Tatians durchwaltet. Wenn wir ihn nun zu verfolgen suchen, werden sich auch inhaltlich alle wichtigen Lehrsätze Tatians abzeichnen. 1. Grundlage zu allem ist der strikte Monotheismus Tatians. Darum stellt er eine kurze Erörterung seiner Lehre von Gott an den Anfang, nachdem er zum Abschluß der Einleitung die Frage nach der wahren Autorität gestellt und in Verbindung damit seine Haltung gegenüber den Kaisern erläutert hatte. Daß er die Lehre von Gott selber f ü r den Kern seiner Theologie hält, zeigen die Worte am Ende dieses Abschnittes: Aber ich werde unsere Lehren deutlicher auseinandersetzen (4, 3 p. 5,14).

Alles Folgende ist f ü r Tatian also nur eine nähere Auslegung des monotheistischen Gottesbegriffs. Aus ihm ergibt sich mit innerer Folgerichtigkeit die gesamte christliche Lehre. Dabei umschreibt Tatian zunächst nichts als die Transzendenz Gottes mit den auch in der zeitgenössischen Philosophie gebräuchlichen negativen Prädikaten 1 , von denen gleich das cap. 4 eine ganze Reihe bietet: für menschliche Augen nicht sichtbar, durch Kunst nicht begreifbar, unsichtbar, untastbar, unnennbar, nicht mit Geschenken zu begaben, aller Dinge unbedürftig.

Im weiteren Verlauf der Schrift treten noch einige hinzu: Aus 7, 1 p. 7, 8 ergibt sich als selbstverständliche Eigenschaft UnVergänglichkeit 1 Die Vorbilder für dieses Verfahren (wie die hellenistischen Vorlagen im Gedankengut der Apologeten überhaupt und deren Nachwirken in der späteren christlichen Literatur) sind reichlich belegt durch J. Geffcken, Zwei griech. Apologeten. Ferner besonders W. Pannenberg, ZKG70, 1959, 1/45.

64

Die Lehre von Gott

bzw. Unsterblichkeit — vgl. die Formel „Vater der UnVergänglichkeit" 32, 1 p. 33, 4, f ü r die ich keinen früheren Beleg gefunden habe; in der Auseinandersetzung mit den Planetengöttern nennt Tatian Gott unwandelbar (απλανής 9, 2 p. 10, 8) u n d später auch „ohne Fleisch" (άσαρκος 15, 2 p. 16, 10); wieder in cap. 4 steht schließlich die Formulierung „er h a t keinen Bestand in der Zeit" (p. 5, 1) — wichtig im Blick auf Tatians Lehre von der Zeit, in deren Rahmen Gott als der Herr der Zeit erscheint (vgl. S. 103). Ähnlich steht dem negativen Prädikat άναρχος der positive Satz gegenüber: αυτός ύπαρχων των δλων αρχή (ρ. δ, 1). Diese Gleichsetzung des einen Gottes mit dem Ursprung aller Dinge erinnert an Philon, der gelegentlich von Gott als dem einen Prinzip sprechen k a n n 1 . Wie bei Josephus (z.B. c. Αρ. I I 190) macht sich hier der biblische Monotheismus geltend, und es mag Zufall sein, daß eine entsprechende Aussage bei Justin fehlt. Aber auch zeitgenössische Platoniker können von Gott als αρχή sprechen. Sie begnügen sich nicht mit der stoischen Annahme zweier Prinzipien, der (ewigen) Materie u n d des göttlichen Logos in ihr (z.B. Diogenes Laertios V I I 134; SVF I p. 24), die wie bei Aristoteles als das Leidende und das Wirkende beschrieben werden. U m die Transzendenz u n d absolute Einheit eines allerersten Prinzips behaupten zu können (vgl. Justin dial. 5, 6), gehen sie auf eine dritte αρχή zurück, a n s t a t t die Ideen als das zweite Prinzip neben der Materie als dem ersten einfach mit dem Göttlichen in eins zu setzen. Bei Albinos (did. 10, p. 164f. Η.) erfolgt die Ableitung des dritten Prinzips im R a h m e n seiner Auffassung einer in sich gestuften Seinsordnung von der Voraussetzung aus, daß es eine Weltseele gibt. Dies erfordert die Annahme eines „JMOUS des gesamten Himmels", der in sich eine niedere Stufe (έν δυνάμει) u n d eine höhere Stufe (κατ' ένέργειαν) bildet, aber auch so noch nicht das denkbar „Beste" ist. Albinos f ä h r t f o r t : έπε! . . . τούτου δε καλλίων ό αίτιος τούτον καϊ δπερ αν ετι ανωτέρω τούτων νφέστηκε, ούτος αν εϊη ο πρώτος ΰεός αίτιος υπάρχων τον αεί ένεργεϊν τφ ν ω τον σύμπαντος ονρανον (ρ. 164, 16ff.).

So erscheint dem Platoniker der „erste G o t t " als das eigentliche, uranfängliche Prinzip. Es ist dabei zu beachten, daß das Verbum υπάρχειν hier nicht einfach als Ersatz f ü r die Copula gebraucht ist. Es bezeichnet vielmehr das aktuelle Sein gegenüber einem vorausgesetzten grundlegenden Sein, wie es im Vordersatz ja zum Ausdruck gebracht ist (ύφέστηκεν ). Diesem Sprachgebrauch schließt sich Tatian an, wenn er sagt: αυτός υπάρχων των δλων 1 z.B. Gott als άρχή γενέσεως quis rer. div. her. 172, αρχή άριστη πάντων των όντων de decal. 52; vgl. de plant. 77, 93, leg. all. I 5.

65

Die Lehre von Gott αρχή o d e r a u c h υπάρχων

τον παντός ή ύπόστασις

(5, 1 ρ . 5, 17). E s i s t d a r u m

nicht überflüssig, auf diese Begriffe noch etwas näher einzugehen. Ein bei Areios Didymos (fr. 26) und ähnlich bei Plutarch (comm. not. 41 p. 1081 f.) erhaltenes Wort des Stoikers Chrysippos über die unterschiedliche Seinsform der Zeit bringt den Gegensatz von νπάρχειν und ύφεστάναι deutlich zur Geltung: μόνον δ' νπάρχειν φησι τον έβτώτα, τον δε παρωχημένον και τον μέλλοντα ύφεστάναι μεν, νπάρχειν δέ ουδαμώς φησιν, ώς — und nun erläutert Areios — και κατηγορήματα νπάρχειν λέγεται μόνα τα συμβεβηκότα, οίον τό περιπατειν υπάρχει μοι οτε περιπατώ, δτε δέ κατακέκλιμαι ή κά9ημαι ονχ υπάρχει (SVF I I ρ. 165).

Hier ist ein Gegensatz von aktueller Realität (νπάρχειν) und grundlegender, dauernder Realität (ύφεστάναι) zum Ausdruck gebracht 1 . Dabei bezeichnet ύφεστάναι ein in der Aktualität nur potentiell gegenwärtiges Sein, wie der Doxograph in seiner Erläuterung unterstreicht. Umgekehrt bezeichnet νπάρχειν ein im Verhältnis zum Seinsgrund nur zufälliges Sein. I n diesem Sinn sind nun auch die Formulierungen Tatians zu verstehen. Überall wo er das Wort νπάρχειν gebraucht 2 , liegt der Ton darauf, daß es sich aktuell, konkret so verhält oder verhielt. Und wenn er von Gott sagen kann υπάρχων τον παντός ή ύπόστασις, so bringt er damit zum Ausdruck, daß in Gott, und allein in ihm, Seinsgrund und Aktualität zusammenfallen, ebenso wie beim „ersten Gott" des Albinos. Albinos fährt dann übrigens in seiner Erläuterung jenes dritten bzw. eigentlich allerersten Prinzips, das er den „ersten Gott" nennt, fort, indem er ihm nun auch eine ganze Reihe von Prädikaten beilegt (did. 10, p. 164, 24ff.): άίδιος, άρρητος, αυτοτελής τουτέστιν παντελής τοντέστι πάντη τέλειος.

άπροσδεής, άειτελής

τουτέστιν

άει

τέλειος,

Die Verwandtschaft mit Tatian ist auffallend, zumal auch er von Gott oft den Ausdruck τέλειος gebraucht (4, 2 p. 5, 12. 12, 4 p. 13, 26. 15, 2 p. 16, 20. 17, 4 p. 19, 18. 25, 2 p. 27, 5). Ferner bezeichnet Albinos diesen „ersten Gott" als &ειότης, ονσιότης, αλήθεια, συμμετρία,

άγαϋόν.

Vor allem die dritte und vierte Bezeichnung ist f ü r das Verständnis Tatians von großem Interesse. Gott ist Wahrheit und — man ist versucht, nach Tatians Wahrheitsverständnis hinzuzusetzen: deshalb — Ebenmaß. Der letzten Bezeichnung bei Albinos entspricht Tatians Aussage, daß 1 Maßgeblich jetzt Heinr. Dörrie, ΥΠΟΣΤΑΣΙΣ, Wort- und Bedeutungsgeschichte 1955, 51ff. (Chrysippos), 64 (Übereinstimmung des Wortgebrauchs in der Stoa und im mittleren Piatonismus „in den meisten Punkten"), 67 (Albinos). Das Urteil über Tatian (75) hält sich an den Text von cap. 5, wie Sch. ihn bietet, und ist deshalb unzutreffend. 2 4, 2 p. 5, 10. 6, 2 p. 6, 27. 11, 1 p. 12, 1. 12, 1 p. 12, 20. 12, 4/5 p. 13, 30. 16, 2 p. 17, 26. 19, 3 p. 21, 24. 21, 3 p. 24, 13.

5

7586 Elze, Tatian

66

Die

Lehre

von

Gott

d a s G u t e „vielmehr allein bei G o t t i s t " (7, 1 p . 7, 13). D e r u n v e r ä n d e r t n a c h d e m W o r t l a u t der H a n d s c h r i f t e n zu lesende P a s s u s δ πλην μόνον παρά τω

ϋεφ

s t e h t i m Gegensatz z u d e r v o r a u s g e h e n d e n Aussage ü b e r die U n v e r gänglichkeit: A u c h sie ist bei G o t t , a b e r a n ihr h a b e n die Menschen u r sprünglich Anteil b e k o m m e n . F ü r d a s G u t e dagegen t r i f f t d a s n i c h t zu. So b e r ü h r t sich T a t i a n s Gotteslehre in ihren begrifflichen Ausdrucksm i t t e l n wieder m i t d e r m i t t e l p l a t o n i s c h e n Schule; a b e r n i c h t n u r das, sondern a u c h i m Ansatz, n ä m l i c h in der A u f f a s s u n g v o n der a b s o l u t e n T r a n s z e n d e n z Gottes, ist T a t i a n m i t ihr einig. F ü r i h n ist G o t t jener „ e r s t e G o t t " der Philosophen. D a s b e s t ä t i g t sich in einem bisher m i ß v e r s t a n d e n e n Satz des cap. 15, in d e m T a t i a n G o t t g u t platonisch m i t d e m Seienden (τό δν) identifiziert. E s h a n d e l t sich d o r t (15, 2 p. 16, 17ff.) u m eine k u r z g e f a ß t e E r k l ä r u n g der Gottebenbildlichkeit des Menschen. A n d e m Begriffspaar εΐκών και όμοίωσις, d a s T a t i a n aus Gen. 1, 26f. zitiert (15, 1 p . 16, 13), interessiert i h n auffallenderweise n u r der a b s t r a k t e T e r m i n u s όμοίωσις. A n i h n k n ü p f t er seine E r l ä u t e r u n g a n u n d l ä ß t a u c h bei der W i e d e r h o l u n g des A u s d r u c k s n a c h h e r εΐκών einfach weg (15, 3 p . 16, 26). E i n e n t e r m i n o logischen U n t e r s c h i e d beider W ö r t e r , wie s p ä t e r I r e n ä u s ihn v o r t r ä g t , k e n n t T a t i a n also n o c h n i c h t . U n d m a n m u ß sich d a r a n erinnern, d a ß όμοίωσις ϋεώ in der platonischen Philosophie eine der F o r m e l n f ü r das τέλος des Menschen ist (Albinos, did. 28 p. 181 Η . a u f g r u n d v o n P i a t o n T h e a i t . 176 a). Ganz u n v e r b u n d e n u n d so, d a ß m a n deutlich s p ü r t , es h a n d e l t sich u m eine schulmäßige Definition, beginnt T a t i a n die E r k l ä r u n g n u n folgendermaßen: τό μεν άσνγκριτον τό παρόμοιον.

ούδέν εστίν ετερον ή αυτό το δν, τό δέ συγκρινόμενον

ουτι ετερον ή

D e r Sinn dieses Satzes ist vorerst n o c h nicht r e c h t verständlich, u n d n u r so viel ist deutlich, d a ß lediglich d a s letzte W o r t T a t i a n d a z u v e r a n l a ß t h a b e n k a n n , das Ganze hier zu zitieren: V o m παρόμοιον a u s will er z u m V e r s t ä n d n i s der όμοίωσις gelangen. U n d so f ä h r t er in A n w e n d u n g dieser Definition auf das gegebene P r o b l e m der Gottebenbildlichkeit f o r t : άσαρκος μεν ovv 6 τέλειος &εός, ανϋ·ραιπος δέ αάρξ

κτλ.

N u n allerdings wird klar, wie der erste Satz v e r s t a n d e n w e r d e n m u ß : D a s zu erklärende παρόμοιον ist j a der Mensch; parallel d a z u bezieht sich τό ov auf G o t t . U n d d e m Gegensatz v o n τό άσνγκριτον u n d τό συγκρινόμενον e n t s p r i c h t der Gegensatz v o n άσαρκος u n d αάρξ. D a r u m h a t σνγκρίνεσϋαι hier n i c h t s m i t „verglichen w e r d e n " zu t u n , wie es bisher ü b e r s e t z t worden ist, sondern es m u ß heißen „ z u s a m m e n g e s e t z t sein", eine B e d e u t u n g , die in der hellenistischen Philosophie vielfach g e b r ä u c h -

Die Lehre

von Gott

67

lieh ist: σνγκριμα bezeichnet die Mischung der Elemente, etwa bei Sextus Empiricus adv. phys. I 180: Wenn es ein Körper ist, so ist es entweder ein σνγκριμα aus den einfachen Elementen oder es ist ein einfacher und elementartiger Körper. Und wenn es ein σνγκριμα ist, ist es vergänglich.

Entsprechend schreibt Philon leg. all. I § 2: Gott allein ist auch Eines, nicht ein σνγκριμα, (sondern) eine einfache Natur . . . Gott aber ist nicht ein σνγκριμα und nicht aus Vielen zusammengesetzt.

Und de mut. nom. 3: Das Wahrnehmbare ist zusammengesetzt (σύγκριτα), voller Vergänglichkeit, das Göttliche ist unzusammengesetzt (άσνγκριτον), unvergänglich.

(Vgl. ib. 184; de fuga 141; de somn. I I 227; quod deus sit imm. 56). Danach kann Tatians Satz nur so übersetzt werden: Das Unzusammengesetzte ist nichts anderes als das Seiende selbst, und das Zusammengesetzte nichts anderes als das Angeglichene. Ohne Fleisch nun ist der vollkommene Gott, der Mensch dagegen Fleisch.

Die Richtigkeit dieses Verständnisses bestätigt Tertullian, der de anima 9, 2 über Piatons Lehre von der Unsterblichkeit der Seele sagt: quid nunc, quod et effigiem animae damus, Piatone nolente, quasi periclitetur de animae immortalitate? O m n e e n i m e f f i g i a t u m c o m p o s i t u m e t s t r u c t i l e affirmat; dissolubile autem omne compositicium et struetile; sed animam immortalem; igitur indissolubilem, qua immortalem, et ineffigiatam, qua indissolubilem; ceterum compositiciam et structilem, si effigiatam, tarn quam alio earn modo effigians intellectualibus formis . . .

Die hervorgehobenen Worte entsprechen genau dem zweiten Teil der von Tatian gegebenen Definition. Waszink meint im Kommentar zu dieser Stelle 1 , es handle sich bei dem Syllogismus um eine Kombination aus Phaidon 78bc und Phaidros 247c, und läßt die Frage offen, ob er von Tertullian selbst gebildet oder aus der platonischen Schultradition übernommen sei. Auf jeden Fall bekommen wir für Tatian die Gewißheit, daß er auch hier platonisches Material verarbeitet. Die vorhin aufgestellte Behauptung, daß sein Gott der Gott der Philosophen ist, hat damit eine weitere Stütze bekommen. Wenn nun Tatian Gott als αρχή bezeichnet, so scheint er, wie der Anfang von cap. 5 zeigt, formal in einem Widerspruch zu der christlichen Tradition zu stehen, nach der die Funktion der αρχή dem Logos zukommt. Dadurch sieht sich Tatian dann zu einer ausführlichen Erörterung seiner Auffassung vom Logos veranlaßt. Vorläufig legt er dagegen den Begriff αρχή in Hinsicht auf sein substantielles Medium aus, wenn er, in der Formulierung diesmal der christ1 5*

J . H. Waszink, Tertulliani De anima, 1947, 165.

68

Die Lehre von Gott

liehen T r a d i t i o n folgend, f o r t f ä h r t : πνεύμα δ ϋεός (4, 2 p. 5, 2). G o t t ist der U r s p r u n g des Weltalls, insofern er, seiner S u b s t a n z n a c h , reines P n e u m a ist. Diese B e h a u p t u n g v o n der P r i o r i t ä t des P n e u m a , d a s d a b e i d u r c h a u s stofflich v e r s t a n d e n wird, teilt T a t i a n m i t der hellenistischen Philosophie, z u m a l m i t d e n S t o i k e r n 1 . D a r u m m u ß er sich n u n in der I n t e r p r e t a t i o n des johanneischen Satzes gegen das stoische V e r s t ä n d n i s abgrenzen, d a s er m i t k u r z e n W o r t e n so c h a r a k t e r i s i e r t : ϋεός . . . διήκων δια της νλης. E s ist die G r u n d f o r m e l des stoischen Monismus, der das Göttliche als P n e u m a , bzw. f u n k t i o n e l l gesehen als Logos, h i n e i n n i m m t in die F ü l l e d e r kosmischen Erscheinungen. Die S t o a k e n n t keine T r a n s z e n d e n z ; G o t t u n d W e l t fallen i m I n n e r s t e n f ü r sie z u s a m m e n . D a m i t aber k a n n T a t i a n sich n i c h t e i n v e r s t a n d e n erklären. W o h l bleibt die Voraussetzung a u f r e c h t e r h a l t e n : G o t t ist Geist. U n d ebenso a n e r k e n n t er die stoische L e h r e v o n d e m P n e u m a , das in der Materie w a l t e t u n d ihr die F o r m e n gibt, in d e n e n sie sich k o n k r e t i s i e r t . A b e r T a t i a n ü b e r h ö h t n u n diese stoische Voraussetzung, i n d e m er einen U n t e r s c h i e d e i n f ü h r t zwischen Geist u n d Geist, weil i h m n u r so die W a h r u n g der T r a n s z e n d e n z G o t t e s u n d ein s t r e n g monarchischer Gottesbegriff zugleich möglich erscheint. So f o r m u l i e r t er seinen S t a n d p u n k t : Gott ist Geist — nicht die Materie durchwaltend (T. schreibt sicher nicht zufällig διήκων in der masculinen Form, u m Gott selbst eindeutig als das Subjekt zu bezeichnen, statt der in der Stoa üblichen, auf πνεύμα bezogenen Form διήκον), sondern Bildner der zur Materie gehörenden Pneumata und der Formen in ihr (4, 2 p. 5, 2).

Die E r k l ä r u n g zu diesem S a t z gibt ein Z i t a t des Chrysippos: τάς de ποίοτητας, πνεύματα οΰσας και τόνους άερώδεις, οϊς αν εγγένωνται μέρεσι της νλης ειδοποιεϊν έκαστα και αχηματίζειν (fr. 449 S V F I I ρ. 147). Die Eigenschaften, die Pneumata sind und luftartige Spannungskräfte, gestalten und formen alle die einzelnen Teile der Materie, denen sie innewohnen.

T a t i a n teilt diese Meinung, soweit sie die A u f f a s s u n g v o m W e s e n der Dinge in der W e l t betrifft. Aber er h e b t G o t t als denjenigen, der diese P n e u m a t a bzw. „ S c h e m a t a " geschaffen h a t , k l a r v o n ihnen ab, so d a ß eine monistische I d e n t i f i k a t i o n ausgeschlossen ist. U m diese L ö s u n g T a t i a n s deutlicher in ihrer E i g e n a r t zu erfassen, m a g m a n vergleichen, in welcher Weise Origenes a r g u m e n t i e r t , wo er sich m i t d e r B e m e r k u n g des Kelsos auseinandersetzt, d a ß die Christen sich ja m i t ihrer L e h r e „ G o t t ist G e i s t " gar n i c h t v o n d e n Stoikern unterschieden (c. C. V I 71 p . 141 Koe.). Origenes gibt zu, d a ß es etwas gibt, was das All d u r c hw a l t e t u n d d a m i t — w a s j a n u r die K e h r f o r m dieses Satzes ist — das All in sich 1 Für alle Einzelheiten bezüglich der Quellen und der Literatur kann jetzt auf den hellenistischen Teil des Artikels πνεύμα, ThWb. VI 330ff. (Kleinknecht), verwiesen werden. Für die stoische Auffassung vgl. dort 352 f.

Die Lehre von Gott

69

umschließt 1 . Aber auch f ü r Origenes handelt es sich dabei nicht um Gott selbst, sondern um die Vorsehung, die dieses Durchwalten des Weltalls als eine göttliche Kraft besorgt. Darüber hinaus geht Origenes keinen Schritt mit den Stoikern zusammen, denen er ihren Materialismus zum Vorwurf macht. Der Dualismus von Geist und Materie beherrscht seine weitere Argumentation. Er verwendet darum auch bei der Kennzeichnung seines eigenen Standpunktes in diesem Zusammenhang den Begriff Pneuma nicht mehr, weil er die Gefahr in sich trägt, im stoischen Sinn sofort materialistisch als etwas Körperliches interpretiert zu werden. Statt dessen spricht er lieber von Logos oder Dynamis. Dies t u t Tatian auch, insofern er den Logos als eine K r a f t versteht (5, 1 p. 5, 16). Trotzdem scheint er nichts dagegen zu haben, wenn das Pneuma substantiell verstanden wird: Anders ist es nicht zu erklären, wenn er sowohl Gott wie seinen Logos als πνενμα, diesen sogar als πνενμα από τον πνεύματος bezeichnet (7, 1 p. 7, 6) 2 . Das hängt damit zusammen, daß ihm überhaupt der Dualismus in der Form, wie er bei Origenes vorliegt, fremd ist. Damit aber ist er in einer schwierigen Position: Voraussetzung ist ihm die transzendente Einheit Gottes. Wie kann er die Einheit wahren, wenn er um der Transzendenz willen den Monismus ablehnt? Und wie die Transzendenz, wenn er um der Einheit willen den Dualismus verwirft ? Die einzige gedankliche Möglichkeit scheint, da er die stoische Auffassung als „Unterbau" f ü r den kosmologischen Bereich beibehalten will, die Annahme und Begründung eines Unterschieds zwischen Pneuma und Pneuma zu sein. Tatsächlich bringt er sie noch einmal ganz deutlich in einem der folgenden Sätze zum Ausdruck: Das Pneuma, das die Materie durchwaltet, ist ein geringeres als das göttlichere Pneuma, wie es denn vielmehr der Seele gleich gestellt ist 3 , und man darf es nicht in gleicher Weise wie den vollkommenen Gott ehren (4, 2 p. 5, 10).

Diese Lösung erweist sich als sehr folgenreich. Die ganze Anthropologie Tatians muß von dieser Unterscheidung eines höheren und eines niederen Pneuma aus verstanden werden. Und darin liegt tatsächlich ein Beweis dafür, wie sehr Tatians Theologie sich aus ihrem Ansatz in der Lehre von Gott entwickelt, dem Ansatz, der dem Bemühen entspringt, die transzendente Einheit Gottes im Rahmen der christlichen Tradition über Gott und Logos durchzuhalten. 1 Der Terminus περιέχειν, wie διήκειν, διοικεϊν, όιε/.&εΐν in der Stoa in diesem Sinn verwendet, steht auch bei Tatian, allerdings nur in anthropologischem Bezug (16, 3 p. 18, 5; vgl. unten S. 96). 2 So hat Sch. treffend konjiziert an Stelle des überlieferten άπό τον πατρός. Umgekehrt hat V in 32, 1 p. 33, 4 πνεύματος statt πατρόςΐ 3 1 ΨυΧϋ MPV Go: ψυχή Sch, ψυχή τfj v).r) Wi, ϋλχ) Kukula.

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Die Lehre vom Logos 2.

Ganz von selber hat uns die Behandlung der Lehre von Gott schon hinübergeführt in den Bereich der Kosmologie. Beides ist f ü r Tatian, und nicht nur f ü r ihn, eng miteinander verknüpft. Bezeichnet er Gott als αρχή, so ist ja damit der Bezug zur Kosmologie von selbst schon mit gesetzt. Tatian kommt auf sie zu sprechen, indem er nun auf die christliche Tradition — παρειλήφαμεν, sagt er — eingeht, die von Gott aussagt, er sei έν αρχή, dagegen die αρχή selbst mit dem Logos identifiziert (5, 1 p. 5, 16). Die Stelle, auf die Tatian hier anspielt, ist nicht in erster Linie Joh. 1,1, sondern das im hellenistischen Judentum viel verwendete Wort über die Weisheit Prov. 8, 2Iff. Das geht aus der Parallele bei Justin (dial. 61 und 128f.) hervor, von der Tatian sich im weiteren Verlauf von cap. 5 abhängig zeigt (vgl. S. 76). Von solcher Tradition her ist f ü r Tatian die Aufgabe gestellt, unter Wahrung der transzendenten Einheit Gottes die Selbständigkeit des Logos als αρχή neben ihm zu erklären. Diese Aufgabe löst er auf sehr eigene Weise in den folgenden Sätzen, die unter dieser Voraussetzung im wesentlichen keiner Änderung der überlieferten Textgestalt bedürfen. Dies nicht erkannt zu haben, ist ein Mangel aller neueren Äußerungen über Tatians Theologie, die sich an dieser Stelle nur durch erhebliche Eingriffe in den Text zu helfen wußten. Auch auf Schwartz trifft das zu. Dieser Fehler läßt sich aufgrund der Einsicht in die Gesamtkonzeption Tatians vermeiden. Zunächst darf man nicht darüber hinweggehen, in welcher Form Tatian die traditionelle Auffassung vom Logos zitiert. Er spricht nämlich nicht einfach vom λόγος, sondern von λόγου δνναμις. Dieser Begriff der „ K r a f t " — das Wort ist nahezu unübersetzbar — spielt in der folgenden Ausführung Tatians eine wichtige Rolle. Woher hat er ihn übernommen ? Es liegt nahe zu vermuten, er entstamme eben der Tradition, die Tatian erwähnt. Aber an der Proverbienstelle steht er nicht. Auch im Neuen Testament kommt er in Verbindung mit dem Logos nicht vor; im johanneischen Schrifttum, von der Apokalypse abgesehen, fehlt er überhaupt. Die Apostolischen Väter kennen ihn in dieser Anwendung ebensowenig. So sind wir wieder auf Justin gewiesen, der den Logos öfter als eine „ K r a f t " bezeichnet, u . a . gerade in den genannten Kapiteln des Dialogs 1 . Justin verwendet sogar die Formulierung δνναμις τον λόγου, dort nämlich, wo er, πνεϋμα und λόγος wechselweise gebrauchend, die Empfängnis Jesu aus dem Geist nach Luk. 1,35 erwähnt (146, 5 cf. 33, 6). Die Ableitung dieses Sprachgebrauchs ist dadurch erschwert, daß es eine umfassende begriffsgeschichtliche Untersuchung über δνναμις weder 1

Ferner I 14, 5. 23, 2. 32, 10. II 10, 8. dial. 105, 1.

Die Lehre vom Logos

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f ü r die hellenistischen noch f ü r die frühchristlichen Texte außerhalb des Neuen Testaments gibt 1 . Darum ist auch die Deutung Justins an dieser Stelle in Ansätzen verblieben 2 . Wohl mag er unter dem Einfluß mittelplatonischer Vorstellungen von der Weltseele den Begriff im Sinn einer kosmologischen K r a f t verstehen. Aber demgegenüber ist die unmittelbare Berührung mit hellenistisch-jüdischen Spekulationen nicht zu übersehen, die ausdrücklich in dial. 128 zur Sprache kommen — παρειλήφειν, sagt auch J u s t i n hier am Schluß — u n d die demnach auch in den ganz verwandten Ausführungen von dial. 61 vorliegen. Grundgedanken dieser Kapitel finden sich bei Philon, etwa de gig. 24f.; de somn. I 72ff. Gewiß sind nun bei Philon auch sonst platonische Elemente nicht zu verkennen, u n d so wird man Justin wie auch Tatian in ihrem Gebrauch des Begriffs δνναμις auf jeden Fall unter der Einwirkung der platonischen Schulphilosophie sehen. Immerhin könnte es aber sein, daß Tatian, wenn er den Begriff δνναμις als traditionell bezeichnet, auch unmittelbar an eine neutestamentliche Stelle wie Rom. 1, 20 denkt, die er sinngemäß kurz vorher zitiert h a t (4, 2 p. 5, 6). Bei Paulus heißt es ja dann weiter: ή τε άίδιος αύτοϋ δνναμις και &ειότης,

u n d ϋειότης ist ein Wort, das sich bei Albinos f a n d (S. 65), so daß Tatian hier durchaus Anknüpfungsmöglichkeiten geboten waren. Es handelt sich f ü r ihn also darum, die traditionell behauptete Funktion dieser δνναμις λόγου als αρχή nun in Einklang zu bringen mit seiner eigenen These, daß Gott selbst die e i n e αρχή ist. E r geht dabei streng logisch vor u n d formuliert zuerst noch einmal seinen monotheistischen Ansatz, indem er ihn zugleich präzisiert: d γαρ δεσπότης των δλων αύτός υπάρχων τον παντός ή νπόστααις, κατά την μηδέπω γεγενημένην ποίησιν μόνος ην. Der Herr des Weltalls, der selber die Grundlage des Ganzen ist, war nämlich, insofern die Schöpfung noch nicht geschehen war, allein (5, 1 p. 5, 17).

Hier wird der Satz aus cap. 4: αυτός υπάρχων των δλων αρχή in der Umwandlung von αρχή zu ύπόστασις aufgenommen. Dieser Begriff erklärt sich, unter Berücksichtigung dessen, was oben über den Bedeutungsunterschied von ύπάρχειν und ύφεστάναι gesagt wurde (S. 64f.), aus dem Zusatz, daß es sich bei dieser Ableitung zunächst um den Zustand ab1 Der Artikel im ThWb. I I s. ν . δνναμαι etc. (W. Grundmann) bietet in dieser Hinsicht nur eine vorläufige Materialübersicht. Der gleichen Beschränkung ist sich G. auch für seine Arbeit „Der Begriff der Kraft in der neutest. Gedankenwelt" 1932 bewußt (vgl. dort S. 3 und 5). Deshalb sind besonders zu nennen: J. Lebreton, Histoire du dogme de la trinite I. Les origines 1910, 134 ff. (jüdische Grundlagen), 172ff. (Philon), 437ff. (Hellenismus). Zu Philon weiter Η . A. Wolfson, Philo, 1947, I 217ff., II 126ff. Zur hermetischen Literatur: A. J. Festugiere, La revelation d'Hermes Trismegiste III. Les doctrines de l'äme 1953, 153ff. 2 C. Andresen, Z N W 44, 1952/3, 191f.; Logos und Nomos 319.

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Logos

gesehen von der Schöpfung handelt. Tatian argumentiert nicht vom aktuellen Sein her, sondern von der dauernden Grundlage aller vorfindlichen Realität, darum νπόστασις. Übrigens verwendet er f ü r „Schöpfung" immer nur den blassen philosophischen Begriff ποίησις, nie den biblischen, κτίσις. Für diesen vorauszusetzenden Zustand nun gilt vorläufig auch die Aussage von der Einzigkeit Gottes: Es gab schlechthin nichts außer ihm allein, keine ewige Materie, wie Tatian am Schluß des Kapitels ausdrücklich betont (p. 6, 12), dabei terminologisch noch einmal άρχή und δνναμις eng verknüpfend; und es gab auch keinen ewig präexistenten Logos. Aber diese Einzigkeit Gottes ist, anders gesehen, als eine strukturierte Einheit aufzufassen: καϋ·ό δε πάσα δνναμις ορατών τε καί αοράτων αυτός νπόατασις, fjv σνν αντω τα πάντα· (Die Interpunktion wird in dieser Form durch die Parallelität zum vorhergehenden Satz gefordert.) Insofern er aber selber alle Kraft und die Grundlage des Sichtbaren und Unsichtbaren ist, waren mit ihm alle Dinge.

Noch immer ist die Schöpfung nicht geschehen. Trotzdem kann nun von einer Vielheit gesprochen werden, und zwar in Gestalt einer Mannigfaltigkeit in Gott selbst. Er ist als die eine „Grundlage des Ganzen" zugleich Grundlage f ü r jedes einzelne Wesen des sichtbaren und unsichtbaren Bereichs; die Genitive gehören nicht zu δνναμις, sondern das τε και weist sie dem folgenden Substantiv νπόστασις zu 1 . So gesehen, kann Tatian nun den Terminus νπόστασις interpretieren als δνναμις, was hier vielleicht am besten mit „Potenz" wiederzugeben wäre. Da Gott den Bereich des Sichtbaren wie des Unsichtbaren in sich einschließt, ist er πάσα δνναμις, alle Potenz. Und so, der Potenz nach, ist alles, τά πάντα,

bei ihm.

Von diesem Satz aus, der im Blick auf das gestellte Problem lediglich einen Zwischengedanken bringt, kommt Tatian nun auf den Logos zu sprechen. Für ihn gilt unter Voraussetzung des Bisherigen: σνν αντω διά λογικής δυνάμεως αντός και ό λόγος, ος ήν έν αντω, νπέατη[σεν]. Mit ihm bestand vermöge der logoshaften Kraft eben auch der Logos, der in ihm war.

Tatian schließt von der Aussage über das Ganze im vorhergehenden Satz jetzt auf ein Einzelnes, nämlich den Logos, der ja sein Thema ist: Gott ist alle K r a f t — und insofern verfügt er auch über eine logoshafte Kraft. Vermöge jener Aussage von Gott war zu sagen, daß trotz 1 Zur Konstruktion des τε καί vgl. 12, 2 p. 13, 6: εντοσθίων οικονομία μυελών τε και όστέων και νεύρων σνμπηξις „die Anordnung der inneren Organe und die Zusammenfügung von Muskeln, Knochen und Sehnen". — 17, 2 p. 19, 2: των ριζών ai ποικιλίαι νεύρων τε και όστέων παραλήψεις ,,die vielfachen Arten der Wurzeln und die Anwendungen von Sehnen und Knochen".

Die Lehre vom Logos

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seiner Einheit und Einzigkeit alles schon bei ihm ist — wir befinden uns immer noch auf der Stufe v o r der Schöpfung! —, und insofern ist nun zu sagen, daß auch der Logos bei ihm ist, noch potentiell wie das All. Die einzige Schwierigkeit f ü r dieses Verständnis bietet die überlieferte Verbalform ύπέστησεν, die man nach den Regeln der Grammatik nur transitiv auffassen darf. Sie verlangt also ein zugehöriges Objekt, und das könnte nur, unter Änderung der oben vorgenommenen Interpunktion, τά πάντα sein. Damit aber würden die nach der Logik des Beweisganges parallel gesetzten Begriffe 6 λόγος und τά πάντα als Subjekt und Objekt syntaktisch und dem Sinn nach auseinandergerissen. Außerdem würde auf diese Weise dem Logos bereits eine bestimmte Funktion zuerkannt, von der vorläufig noch nicht die Rede sein kann. Noch ist Gott das einzige Subjekt, von dem eine Funktion dieser Art ausgesagt werden könnte; die Seinsweise des Logos entspricht in ihrer Potentialität noch ganz derjenigen aller anderen unsichtbaren und sichtbaren Wesen. Darum muß man f ü r den ursprünglichen Wortlaut die intransitive Verbalform voraussetzen und υπέστη lesen statt ύπέστησεν. Mit dieser geringfügigen Abhilfe ist das Gleichgewicht zwischen τά πάντα und ό λόγος hergestellt, dem Logos noch keine selbständige Funktion zuerteilt und vorläufig noch immer nur Gott allein wirklich existent (υπάρχων), während vom Logos ein potentielles Sein (ύφεστάναι) ausgesagt wird. Nun hat Tatian nur noch einen Schritt zu vollziehen: ΰελήματι δέ της άπλότητος αντον προπηδφ. λόγος. Durch einen Willensakt aber springt er aus seiner Einfaltigkeit als Logos hervor.

Bis hierher bleibt die Einheit Gottes unbeeinträchtigt gewahrt. Nichts als sein eigener Wille kann ihn dazu veranlassen, an diesem Zustand etwas zu ändern. Das ist wieder eine ganz platonisch formulierte Auffassung, f ü r die hier statt vieler Belege lediglich Albinos' Aussagen über den „ersten Gott" zeugen sollen: Denn nach seinem AVillen erfüllte er alles mit sich

schreibt er (did. 10 p. 165, 1 Η.) und weiter auch, daß Gott einfaltig (άπλ,ονς) sei. Dies sagt ebenso Maximos v. Tyros (27, 8 p. 330 Hob.), und gleichzeitig ist es die Terminologie Justins in den erwähnten cap. 61 und 128 des Dialogs: Justin spricht von dem Willen Gottes nicht nur z.B. I 23, 3. 46, 5, sondern auch dial. 61, 1 und 128, 3f. als tätigem Prinzip. Tatian selbst t u t es noch 12, 3 p. 13, 101. 1 C. M. Edsman, Schöpferwille und Geburt Jac. 1,18. ZNW 38, 1939, 11/44 führt das Willensmotiv auf biblische Anschauungen zurück. Für den Jakobusbrief wird das zutreffen. Aber bezüglich der patristischen Literatur unterschätzt er wohl das platonische Element, das freilich nicht ohne Sinnverwandlung in die christliche Theologie eingegangen ist. Vgl. Wolfson, Philosophy of the Church Fathers I, 1956, 223ff.

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So geschieht es also nach Gottes Willen, daß der Logos n u n aus dem potentiellen Sein in ein aktuelles Sein übergeht — der Ausdruck προπηδαν steht wiederum auch bei Justin, dial. 128, 3. Die Formulierung dieses Satzes bestätigt die vorangegangene Interpretation in allen ihren Einzelheiten: Erst jetzt wird die Einheit Gottes scheinbar gesprengt. Daß Gott bis dahin das einzige wirkliche Subjekt ist, macht sich grammatikalisch darin bemerkbar, daß der Genitiv amov sich über den inzwischen erwähnten Logos hinweg auf ihn zurückbezieht. J e t z t erst wird der Logos selbst zu einem eigenen Subjekt. Andererseits verlangt der Wortlaut, daß er schon einmal erwähnt wurde; denn das artikellos stehende Wort λόγος ist lediglich Apposition. Der Logos als solcher muß also schon eingeführt sein. Das ist ein letzter Beweis dafür, daß m a n auf die Worte και δ λόγος, δς ήν εν αντω, die Schwartz eingeklammert hat, nicht verzichten kann. So ist unter Wahrung des Grundsatzes, daß Gott das eine u n d einzige Prinzip ist — Tatian betont die άπλότης hier nicht zufällig! —, die Selbständigkeit des Logos neben Gott abgeleitet. Der Rest ergibt sich von selbst: Der Logos aber, der nicht umsonst entwich, wird das erstgeborene Werk des Vaters. Wir wissen, daß er der Ursprung der Welt ist.

Die Aufgabe ist gelöst: Tatians eigener Ansatz u n d die traditionelle Auffassung sind miteinander vereinbart. Aus der hypostatischen δνναμις λογική des Vaters ist die selbständige δνναμις λόγου geworden — den Begriff des Sohnes verwendet Tatian nicht —, u n d diesen feinen terminologischen Unterschied gilt es zu beachten, weil Tatian selbst ihn streng befolgt, im Gegensatz zu Justin, der dial. 61, 1 schreibt: δ ·&εός γεγέννηκε δύναμίν τινα έξ έαντοϋ λογικήν.

Noch ein andres Mal sagt Tatian ganz präzis: λόγος (γεγονώς) εκ λογικής δυνάμεως (7, 1 ρ. 7, 7). Sonst aber, wo er von einem selbständigen Wirken des Logos spricht, heißt es λόγου δνναμις (7, 2 p. 7, 19 u n d 27; cf. 18, 2 p. 20, 14). So unterscheidet er deutlich zwischen K r a f t u n d K r a f t , wie er, u m den Satz „Gott ist Geist" gegen die Stoiker festhalten zu können, zwischen Geist und Geist unterschied. Mit diesen begrifflichen Differenzierungen bekommt Tatian den Schlüssel in die Hand, mit dessen Hilfe er die schwierige Aufgabe der Vereinbarung von Einheit und Vielheit lösen konnte. Es gibt f ü r diese Methode eine interessante Parallele in der Darstellung der Ideenlehre durch Albinos. E r beschreibt die Ιδέαι als die ewigen, in sich vollkommenen Gedanken Gottes, die als die „Maße" des Seienden eine rein immaterielle Realität haben (did. 9 p. 163, 10ff.), u n d unterscheidet sie als πρώτα νοητά von den ε'ίδη als δεύτερα νοητά; diese formen die Materie u n d besitzen nur in der Verbindung mit ihr Realität (did. 8 p. 162; 4

Die Lehre vom

Logos

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p. 155, 34fF.). Um die platonische Ideenlehre mit der Eidoslehre des Aristoteles in Ausgleich zu bringen, nimmt Albinos diese Unterscheidung vor. Entsprechendes geschieht bei Tatian zunächst in seiner Abgrenzung gegenüber der Stoa auf dem Gebiet der Pneumatologie, die ja im Rahmen des stoischen Systems die Funktion der Ideenlehre übernommen hat. Durch die Differenzierung des Begriffs Pneuma gewinnt Tatian im Gegensatz zur Stoa die Dimension der Transzendenz. Und der entscheidende Schritt zur Lösung des Problems vom Einen und Vielen erfolgt nun, indem Tatian die Unterscheidung bis in diesen Bereich hinein zurückträgt und unmittelbar neben die Aussage von der absoluten Einheit Gottes die andere stellt, daß in diesem einen und selben Gott schon alles, und insofern auch der Logos mit gesetzt war, daß also Gott als der Einfaltige die Mannigfaltigkeit in sich birgt. Die Differenzierung des Begriffs Dynamis bietet dazu die Möglichkeit. Diese dialektische Betrachtungsweise ist f ü r die christliche Theologie etwas Neues, und das Besondere ist vor allem darin zu sehen, daß Tatian das Sein Gottes als Erster in so reflektierter Form und mit Hilfe einer solchen Diärese zu erfassen sucht. Freilich hat ihm dabei sein Lehrer Justin Vorarbeit geleistet, von dem er dann ja auch die Vergleiche zur Verdeutlichung seiner Auffassung übernimmt. Aber gerade die Art, wie er sie, den Vergleichen in cap. 6 p. 6, 25ff. und 17 p. 18, 27ff. entsprechend, durchreflektiert und wie er sie weiterbildet (vgl. S. 76, 79), zeigt den wesentlichen Fortschritt, der ihm in Richtung auf die gedankliche Durchdringung der Probleme gelingt. Daran knüpft dann, mit zum Teil wörtlichen Anklängen, die theologische Weiterbildung der christlichen Lehre von Gott bei Tertullian (adv. Prax. 5 und 8) an. Auch ein Text wie Hippolyt c. Noet. lOf. (p. 251 Nautin) ist beispielsweise zu vergleichen. Schon die hellenistische Schultradition weiß, daß diese Methode, das Problem des Einen und Vielen zu bewältigen, platonisch ist. Der Peripatetiker Eudemos von Rhodos mag das bezeugen: Piaton nämlich, der die Doppelsinnigkeit (το διττόν) einführte, löste viele Aporien über diejenigen Angelegenheiten, die heute die Sophisten fliehen . . . Und gegen die Aporie v o m Einen erschien die Diärese des Seienden als Heilmittel. Sie war aber den Philosophierenden hinderlich, und sie machten nur wenig Gebrauch davon. Doch ist es weise, den richtigen Gebrauch von jedem zu machen. Denn diejenigen, die mit den Prinzipien arbeiten, bringen nichts vorwärts, weil das Prinzip etwas Mannigfaltiges ist . . . (fr. 37 p. 26, 6ff. Wehrli).

Grundlegend dafür ist Piatons Dialog Parmenides, der gerade das eleatische Problem der Einheit und Vielheit zum Thema hat und dem (129d) auch der Begriff „Diärese" zur Bezeichnung dieses Verfahrens entstammt.

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Die Lehre vom

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Eudemos macht im weiteren Verlauf des herangezogenen Fragments die platonische Methode am Beispiel des peripatetischen Begriffspaars δυνάμει — ενεργεία anschaulich, das auch Albinos zur Ableitung des obersten Prinzips verwendet (S. 64). Tatian vermeidet es dagegen und vermeidet ebenso die stoische Unterscheidung des λόγος ένδιά&ετος und προφορικός, so nahe er dieser Terminologie auch zu kommen scheint, wenn er den Logos in Gott abhebt von dem Logos, der von Gott ausgeht. Vielleicht hat Tatian gesehen, daß der Gedanke der Identität beider, den die stoische Formel impliziert, so nicht mit seiner Methode der Diärese vereinbar ist. 3. Wie präzisiert nun Tatian das aufgrund der gegebenen Ableitung bestehende Verhältnis des Logos zum Vater einerseits und zur Welt andererseits und wie sichert er es gegen Miß Verständnisse ? Dem ersten Zweck dienen folgende Sätze: γέγονεν de κατά μερισμόν, ού κατά άποκοπήν · το γάρ άποτμη&έν τον πρώτου κεχώρισται, τό όέ μερισ&έν οικονομίας την αΐρεσιν (MPV: διαίρεσιν Sch. Go.) προσλαβόν οΰκ ενδεά τον δϋ·εν εϊληπται πεποίηκεν. Er entstand aber nach der Weise der Gliederung, nicht der Abtrennung; denn das Abgeschnittene ist v o m Ersten geschieden, das Ausgegliederte aber, welches das Vorhaben der Haushalterschaft übernahm, hat den, von dem es genommen worden ist, nicht bedürftig gemacht.

Es folgt der Vergleich mit Lichtern, die, an einer ersten Fackel angezündet, deren eigenes Licht doch nicht verringern. Diese Sätze einschließlich des Fackelvergleichs beruhen teilweise wörtlich auf Justin dial. 61, If. bzw. 128 und stimmen ebenso mit Philon de gig. 24f. überein. Während Tatian also zunächst eigene Gedanken vorgetragen hat, wenn auch mit ihm vertrauten Hilfsmitteln der platonischen Schule, schließt er sich jetzt an seinen christlichen Lehrer an, dessen Verhältnis zu Philon hier nicht im Einzelnen geklärt werden kann. Daß Tatian auf Justin beruht und nicht auf Philon unmittelbar, geht daraus hervor, daß er an den Vergleich mit den Fackeln noch einen zweiten anschließt, nämlich den mit der eigenen Hervorbringung des Logos beim Sprechen. Und ihn verwendet auch Justin (dial. 61,2), nicht aber Philon. An den genannten Stellen des Dialogs mit Tryphon handelt es sich um Erklärungen der alttestamentlichen Theophanien, wobei Justin sich an der zweiten mit einer anderen Deutung auseinandersetzt, die die Behauptung einschließt, Gott nehme die als Engel oder wie immer auftretende K r a f t jeweils wieder in sich zurück. Demgegenüber vertritt Justin den Standpunkt, daß es sich um verschiedene Epiphanien des einen Logos handle, der nicht nur dem Namen, sondern auch der Zahl nach ein Anderes sei und bleibe neben Gott selbst, der ihn gezeugt hat.

Die

Lehre

vom

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Logos

Dem entspricht seine Argumentation in dial. 62, 2, wo er seine Gegner ausdrücklich als διδάσκαλοι υμών bezeichnet. Es sind also jüdische Lehrer, und das gleiche wird f ü r die in cap. 128 bekämpften ungenannten Leute gelten 1 . Sie arbeiten mit dem Vergleich vom Sonnenlicht, das im Aufund Untergang der Sonne ungetrennt mit ihr verbunden bleibt, und haben dafür eine Quelle in Philon de somn. I 72ff. Ihnen legt Justin auch den Terminus προπηδαν in den Mund. Seinerseits hält er sich dagegen ebenfalls an Philon bezüglich des Fackel Vergleichs. Die betreffende Stelle sei hier angeführt. Sie beschäftigt sich im Anschluß an Num. 11, 17 mit dem Geist des Mose, von dem Jahwe etwas nehmen und den siebzig Ältesten geben will: μη νομίσης όντως άφαίρεσιν κατά άποκοπήν και διάζευξιν γίνεα&αι, α/Χ αν από πυρός, δ καν μυρίας δάδας έξάψτ], μένει μήδ' ότιονν έλαττωύεν

οία εν

γένοιτ' δμοΐφ.

(de gig. 25).

Justin schreibt nun zwar an beiden Stellen κατά άποτομήν, aber der Passus bei Tatian, der das philonische κατά άποκοπήν verwendet und es dann durch rö άποτμηϋέν aufnimmt, zeigt, daß hierin kein Unterschied gesehen werden darf. Vor allem stimmt Justin mit Philon darin überein, daß er das Verhältnis der beiden Größen zueinander nur negativ beschreibt und positiv von dem ursprünglichen Licht nur sagt, daß es bleibt, wie es war. Hier geht Tatian einen Schritt über beide hinaus. Er sagt: γέγονεν

δέ κατά μερισμόν,

ού κατά

άποκοπήν,

womit er sich geradezu in Gegensatz zu Justin (dial. 128, 4) stellt, der keinen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen macht. Einen Hinweis darauf, was Tatian mit seiner Formulierung aussagen will, gibt wieder Albinos, und zwar von seiner Definition des Begriffs „Diärese" her: διαίρεσις

μεν τοίννν

εστίν

ή μεν γένονς

εις είδη τομή,

ή δέ δλον εις μέρη (did. 5

p. 156, 29 Η.).

Er kann nun in diesem Sinn διαίρεσις und μερισμός parallel gebrauchen, wenn er bezüglich der Einteilung der Philosophie schreibt: της δέ διαιρέσεως

τοιαύτης

οϋσης και τον μερισμού

των της φιλοσοφίας

ειδών . . .

(did. 3 p. 154, 4 Η.).

Beide Begriffe bezeichnen im Zusammenhang der platonischen Philosophie das Verhältnis des Einen zum Vielen. Sie können im Sinn von „realen Selbstentfaltungen" 2 der Idee verstanden werden. Und während 1 Hamack, Judentum und Judenchristentum in Justins Dialog mit Tryphon, 1913, 77, entscheidet sich ebenfalls in diesem Sinn. 2 So Harnack, Lehrb. d. Dogmengesch. I 738 (Anm.). Er bezieht sich auf das Werk von H. Hagemann, Die Römische Kirche und ihr Einfluß auf Disciplin und Dogma in den ersten drei Jahrhunderten, 1864, das S. 182ff. eine ausführliche

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Die Lehre vom Logos

διαίρεσις als allgemeiner Ausdruck dafür gebraucht wird, daneben aber in einem engeren Sinn f ü r dieses Verhältnis nach seiner logischen Seite zu stehen scheint, ist μερισμός ontologisch aufzufassen. Ganz klar tritt das in Plotins Gebrauch dieses Wortes hervor, f ü r den hier ein Beispiel gegeben werden soll. Plotin stellt zunächst die Frage: Wie ist n u n Eine Wesenheit in vielen ? Entweder nämlich ist die Eine in allen als Ganze oder es sind von ihr als Ganzer u n d Einer her die Vielen, während jene bestehen bleibt. Jene ist also Έίηβ, aber die Vielen sind in bezug auf sie als die Eine, die sich selbst in eine Vielheit gibt u n d nicht gibt. Denn sie ist fähig, sich selbst allen darzureichen u n d Eine zu bleiben. Sie t a u c h t nämlich zugleich in alle ein u n d ist von jedem Einzelnen in keinerlei Hinsicht abgetrennt (άπο· τέτμηται). Also ist sie als dasselbe in vielen (Enn. IV, 9, 5).

Zur Veranschaulichung benutzt nun Plotin das Verhältnis der einen Wissenschaft zu den vielen Wissenschaften und das des Samenkorns zur ausgebildeten Pflanze. Da heißt es dann: Der Same ist ein Ganzes, u n d von ihm her sind die Teile, in die er die Anlage h a t sich zu gliedern (μερίζεσϋαι), u n d jedes ist ein Ganzes u n d bleibt ein Ganzes, das das Ganze nicht vermindert h a t . Die Materie ist es, die die Gliederung herbeigeführt h a t (εμέριαε), u n d Alles ist Eines, (ib.)

Oder noch an einer anderen Stelle: Daß nämlich alles in bezug auf Eines ist, ist die Ursache (άρχή), in welcher alles zugleich u n d alles ein Ganzes ist. E s gehen aber n u n aus dieser die Einzeldinge hervor, während sie in sich bestehen bleibt, wie aus einer Wurzel, die Eine ist u n d in sich selbst besteht. Die Einzeldinge aber sind zu einer gegliederten Vielheit hervorgetrieben (έξήν&ησε εις πλή&ος μεμερισμένον) (Enn. I I I , 3, 7).

Wenn Plotin hier den μερισμός als Vorgang beschreibt, so verwendet er dafür das Verbum έξανΰεϊν, das auch zu Tatians Wortschatz gehört (14, 2 p. 16, 1), und zwar wie bei Plutarch (sympos. V I I I 9, 2 p. 731c) sicher nicht zufällig in Verbindung mit dem Wort είδος. Aufs Ganze gesehen kann kein Zweifel sein, daß Tatians Bezeichnung des Verhältnisses vom Logos zum Vater als μερισμός nach dieser Begriffsbestimmung der platonischen Schule zu interpretieren ist. Das heißt, er denkt an eine reale Selbstentfaltung des Einen Gottes. Und von hier aus bekommt die Aussage, daß es sich dabei um einen Willensakt Gottes handelt (S. 73), noch einmal besondere Bedeutung. Sie muß dazu dienen, das Mißverständnis abzuwehren, als vollziehe sich diese Selbstentfaltung Gottes aus einer ihm innewohnenden Notwendigkeit. Dem entspricht es, daß Tatian den Logos als Gottes „Werk" bezeichnen kann, wobei er freilich gleich wieder einschränkend hinzufügt „das e r s t g e b o r e n e Werk" und so in der paradoxen Kombination dieser Untersuchung zum Begriff μερισμός enthält u n d dabei besonders auf Plotin Bezug n i m m t . Dem darauf begründeten Urteil über Tatians Abhängigkeit vom Platonismus (vgl. H a g e m a n n S. 194f., 361ff.), das in der Literatur sonst unbeachtet geblieben ist, h a t Harnack sich f ü r diesen P u n k t angeschlossen.

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Logos

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Worte das besondere Verhältnis zwischen Gott und dem Logos in der ihm möglichen Angemessenheit zum Ausdruck bringt. Andererseits wird man nach dieser Klärung des Begriffs μερισμός nicht mehr die Konjektur von Schwartz übernehmen, der das im Text bald darauf folgende Wort α'ίρεσιν in διαίρεσιν geändert hat, wenn auch zum Vergleich auf Athenagoras 10, 3 p. 11, 21 Sch. und 12, 2 p. 13, 22 hingewiesen werden kann: Es käme ja eine Tautologie zustande! Daß die überlieferte Lesart die richtige ist, auch an dieser Stelle wie an so vielen anderen, das geht nicht zuletzt daraus hervor, daß ihr in dem weiter unten bei Tatian folgenden Vergleich ein προήρημαι entspricht. αΐρεσις ist hier „das Vorhaben", man könnte vielleicht sagen: die Funktion. Im profanen Sprachgebrauch kann es geradezu die Bedeutung von 1 προαίρεσις bekommen . Welche Funktion nimmt der selbständig gewordene Logos an? οικονομίας την αΐρεσιν, schreibt Tatian und meint dabei die ordnende Verwaltung der Materie. 4. Damit sind wir bereits bei der Erörterung des zweiten Punktes, den Tatian noch zu klären hat, nämlich des Verhältnisses vom Logos zur Welt, als deren αρχή er ihn ja bezeichnet hat. Hatte er f ü r die Erörterung des ersten, nämlich des Verhältnisses vom Logos zu Gott, sich noch auf die bei Justin aus hellenistisch-jüdischer Tradition übernommenen Formulierungen stützen können, so muß er jetzt wieder selbständig vorgehen. Er t u t es eigenartigerweise so, daß er den justinischen Vergleich mit dem eigenen Sprechen nun in kunstvoller Weise noch weiter ausbaut. Nicht nur f ü r den ungeschmälerten Verbleib des Logos in dem, der ihn ausgehen läßt, muß der Vergleich zeugen, sondern auch f ü r den Zweck dieses Ausgehenlassens. Tatian beschreibt ihn folgendermaßen: . . . i n d e m ich aber meine Stimme hervorbringe, ist es m e i n V o r h a b e n (προήρημαι), die u n g e o r d n e t e Materie in euch zu o r d n e n ; u n d wie der im A n f a n g gezeugte Logos unsere Schöpfung gegenzeugte (γεννη&εις άντεγέννησε) — in E n t s p r e c h u n g zu sich selbst —, indem er die Materie g e s t a l t e t e : so bringe auch ich, der ich in N a c h a h m u n g des Logos von n e u e m gezeugt bin (αναγεννηθείς) u n d mir die E r k e n n t n i s des W a h r e n erworben habe, die Verwirrung der v e r w a n d t e n (συγγενούς) Materie in Ordnung.

Soweit dieser Vergleich als Selbstzeugnis Tatians verstanden werden kann, ist er schon früher besprochen worden (S. 32). Hier interessiert uns der sachliche Gehalt in Hinsicht auf die Tätigkeit des Logos. Wichtig 1

Vgl. die Lexika s. ν . αΐρεσις.

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Die Lehre vom

Logos

ist zunächst, daß Tatian diese Tätigkeit als eine Entsprechung zu der schöpferischen Tat des Vaters am Logos selbst auffaßt. So ist der Ausdruck άντεγέννησε την καΦ' ημάς ηοίηαιν αυτός έαυτφ

zu verstehen, zumal wenn man von 7, 1 p. 7, 7 her die Aussage heranzieht, daß der Logos den Menschen schuf κατά την τον γεννήσαντος αυτόν πατρός μίμησιν.

Einmal mehr zeigt sich hier die platonische Voraussetzung in Tatians Denken, denn das Wort μίμηαις ist schon in der Kosmologie des Timaios (41 a, c) gebraucht 1 . Aus späterer Zeit findet sich neben Philon, de conf. ling. 63, ein wichtiger Beleg f ü r diesen Gebrauch bei Numenios von Apameia (fr. 25 Leemans = Euseb. praep. ev. X I 22, 3, I I p. 49, 14 Mras): Das Verhältnis des Demiurgen zum Guten ist analog dem des Werdens zum Sein. Er ist „Nachahmer" des Guten, das Werden „Abbild und Nachahmung" des Seins. Nur der „erste Gott" ist αυτοάγαϋος. Weiterhin ist wichtig, daß Tatian die Materie nicht f ü r ewig hält, wie er am Ende von cap. 5 eigens betont. Sie ist vielmehr hervorgebracht vom „Demiurgen aller Dinge". So sagt es Tatian ausdrücklich 12, 1 p. 12, 24 im Gegensatz zu Justin, der die Materie einfach voraussetzt (z.B. I 10, 2 und 59, 1). Und vielleicht darf, was Tatian innerhalb des Vergleichs nur in bezug auf seine eigene Tätigkeit ausdrücklich sagt, auch vom Logos ausgesagt werden, daß nämlich die Materie mit ihm verwandt oder richtiger „mitgeboren" sei, insofern ja auch ihr Sein seine Voraussetzung in der strukturierten Einheit der Transzendenz Gottes hat. Die Aufgabe des Logos besteht darin, die Materie zu ordnen, und zwar, wie man im Rückblick auf 4, 2 p. 5, 3 sagen muß, nach den ebenfalls von Gott selbst geschaffenen, ihm also wie die Materie bereits vorgegebenen „Schemata", διακοσμεϊν, δημιονργεϊν, μεταρρυϋμίζειν werden im Rahmen des Vergleichs f ü r diese Tätigkeit gleichbedeutend gebraucht. Hier kehrt also die philosophische Auffassung vom Wirken des DemiTirgen wieder (vgl. z.B. Albinos did. 12 p. 167, 15ff. Η.). Nur ist zu beachten, was ähnlich schon bezüglich der stoischen Pneumalehre zu bemerken war, daß dieses Wirken hier mit aller Eindeutigkeit auf einer unteren Stufe angesetzt ist, jenseits deren sich in absoluter Transzendenz Gott selbst befindet. Es wurde schon darauf hingewiesen, wie dieser von Tatian durchgeführte Vergleich die zunächst unverständlich scheinende und t a t sächlich oft mißverstandene Formel erklärt: το δέ μερισ&έν οίκονομίας την αϊρεαιν προσλαβόν. 1

W. Michaelis, ThWb. I V s. ν . μψέομαι etc.

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Wie das W o r t α ΐρεσις i n n e r h a l b des Vergleichs a u f g e n o m m e n wird m i t d e m V e r b u m προήρημαι, so wird a u c h der Begriff οικονομία n u n i m Sinne der o r d n e n d e n T ä t i g k e i t des D e m i u r g e n e r l ä u t e r t . οικονομία1 h a t bei T a t i a n niemals die spezifisch theologische, heilsgeschichtliche B e d e u t u n g , in der das W o r t v o r i h m v o n d e n Deuteropaulinen ü b e r I g n a t i u s bis hin zu J u s t i n 2 bereits v e r w e n d e t wird. F ü r eine Stelle (21, 3 p. 24, 13) setzt Schwartz d e n G e b r a u c h v o n οικονομία als einer hermeneutischen K a t e g o r i e voraus u n d b e r u f t sich d a f ü r auf J u s t i n , dial. 107, 3.134, 2. 141, 4; Theophilos a d Autol. I I 12. 15 u n d einige weitere Stellen, a n d e n e n der Begriff f ü r die typologische I n t e r p r e t a t i o n des Alten T e s t a m e n t s s t e h t . E s ist mir fraglich, o b m a n d a r a u s i m Zus a m m e n h a n g m i t der Tatianstelle, die v o n den griechischen M y t h o logien h a n d e l t , eine eigene B e d e u t u n g s s p h ä r e des Begriffs in dieser Weise bilden darf. Soweit es bei den übrigen A u t o r e n das Alte Testam e n t betrifft, h ä n g t doch die Typologie sehr eng m i t der A u f f a s s u n g eines heilsgeschichtlichen P l a n e s z u s a m m e n , der in ihr zur G e l t u n g k o m m t . Als Beispiel w ä r e die Eva-Maria-Typologie zu n e n n e n , die J u s t i n dial. 100, 4f. a u s f ü h r t . U n d f ü r T a t i a n k a n n m a n o h n e Schwierigkeit a u c h a n dieser Stelle die B e d e u t u n g „ O r d n u n g " z u g r u n d e legen: Die O r d n u n g , die Disposition, ja, wir sagen m i t d e m gleichen W o r t a u c h in diesem literarischen Bezug „die Ö k o n o m i e " der D i c h t u n g e n erforderte die E i n f ü h r u n g der verschiedenen Personen, v o n denen T a t i a n spricht. A n d e n übrigen Stellen bei T a t i a n ist das W o r t jedenfalls wie in cap. 5 gleichbedeutend m i t κατασκευή bzw. διακόσμησις: 12, 2/3 p. 13, 3. 6. 8; 18, 2 p . 20, 8 3 . I s t es Zufall, d a ß Schwartz, der zu seiner Zeit ganz v o n der besonderen Rolle des stoischen Einflusses auf die f r ü h c h r i s t liche L i t e r a t u r überzeugt war, f ü r diese B e d e u t u n g v o n οικονομία vorwiegend platonisierende A u t o r e n z i t i e r t ? 4 I h r e m S p r a c h g e b r a u c h folgt T a t i a n also a u c h bezüglich dieses Begriffs. D a ß er ihn v e r w e n d e t , m a c h t ihn d a r u m noch nicht z u m heilsgeschichtlich d e n k e n d e n Theologen! Ü b e r h a u p t bleibt der Logos, v o n d e m die F u n k t i o n der οικονομία ausgesagt ist, bei T a t i a n eigentümlich wesenlos. E r darf noch bei der S c h ö p f u n g u n d d e m F a l l der E n g e l u n d Menschen wirken (cap. 7), 1 Vgl. dazu die Zusammenstellung von Schwartz im Index zu seiner Ausgabe, p. 86/91. Femer O. Michel, ThWb. V 154f. (nach Schlier, Rel.gesch. Unters, z. d. Ign.-briefen, 32). 2 Die Belege bei Justin: dial. 30, 3. 31,1. 45,4. 67,6. 87,5. 103,3. 120.1 beziehen sich auf das Heilswerk Christi, sein Leiden und Sterben usw. Anders nur die drei weiterhin im Text genannten Stellen. 3 19, 4 p. 22, 8 übernimmt Go wie Sch ohne innere Notwendigkeit die alte Konjektur οίκονομίαν, wo man mit MPV εικόνα μίαν lesen sollte. 4 Neben Polybios VI 9, 10 nennt er Plutarch de amore prolis p. 495d, 496a. Pseudo-Plut. consol. ad Apollon. p. 103 d. Kelsos b. Orig. VIII 53 p. 268, 8 Koe. Clem. ström. II 18, 92 p. 162 St. Mart. Polyc. 2, 2. Dazu kann man Cie. ad Att. VI 1, 1 erwähnen: nec οίκονομίαν meam instituam, sed ordinem conservabo tuam (cf. ib. 11).

β

7586 Elze, Tatian

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Die Lehre vom, Logos

d a n a c h t r i t t er praktisch nicht mehr in Erscheinung. Einmal taucht er flüchtig als Wechselbegriff f ü r πνεύμα auf (13, 2 p. 14, 20), wie er ja seiner Substanz nach P n e u m a ist (7, 1 p. 7, 6). D a n n aber bezieht sich der Begriff λόγος nur noch auf das Wort Gottes in der Schrift, als ein besonderes (15, 4 p. 17, 7 = Psalm 8, 6) oder ganz allgemein (25, 3 p. 27, 10. 26, 3 p. 28, 14. 30, 1 p. 30, 20), u n d im Exorzismus (16, 3 p. 18, 10). Ein einziges Mal spricht Tatian im Unterschied zum λόγος επουράνιος (7, 1 p. 7, 6) vom λόγος δημόσιος και επίγειος (32, 1 ρ. 33, 2) im Sinn der „menschlichen Meinung". Aber als selbständige „ K r a f t " oder gar Person bleibt der Logos unerwähnt. Gott ist da wieder selbst der Handelnde: E r ist es, der die Welt schafft (cap. 12; cf. 17, 3 p. 19,13). U n d auch wo Tatian den Logos meint, spricht er doch von Gott, der in Menschengestalt erscheint (21, 1 p. 23, 6) u n d leidet (13, 3 p. 15, 6). Gott ist es, der im Menschen Wohnung nimmt durch den Geist (15, 2 p. 16, 23), dem die Menschen folgen (19, 4 p. 22, 4) u n d dem sie leben sollen (11, 2 p. 12, 11 cf. 42 p. 43, 15). E r ist es schließlich, der die Menschen auferweckt u n d richtet (6, 1.2 p. 6, 23 u. 7, 4f.; cf. 12, 4 p. 13,25. 18, 2 p. 20, 7. 25, 2 p. 27, 8), während bei J u s t i n (dial. 124, 1. 132, 1) wie in der Mehrzahl der neutestamentlichen u n d frühchristlichen Schriften Christus als der Richter gilt. Das alles bedeutet aber, daß f ü r Tatian der Logos lediglich eine kosmologische Funktion hat, daß er ihn ohne jegliche geschichtliche oder heilsgeschichtliche Beziehung sieht. I m Fall Tatians trifft also die Meinung nicht zu, daß die Apologeten die Logostheologie zur Rechtfertigung des Christusglaubens und nicht aus kosmologischem Interesse aufgenommen h ä t t e n 1 . Auch in seiner Logoslehre ist u n d bleibt Tatian der Philosoph platonischer Provenienz, selbst dort also, wo er bewußt an eine christliche Tradition a n k n ü p f t . Das h a t seine Entsprechung in Tatians Schriftgebrauch. Tatian geht hier wiederum seine eigenen Wege abseits aller exegetischen Tradition 2 . Die Worte aus Joh. 1, 3: Alles ist von ihm, u n d ohne ihn ist auch nicht eines geworden

bezieht er auf Gott selbst, nicht auf den Logos (19, 4 p. 22, 5), u n d schreibt deshalb υπ' αντοϋ s t a t t des johanneischen δι αντον. Daß es sich dabei nicht um eine Belanglosigkeit handelt, zeigt eine Erörterung Philons, der de cherub. 125ff. ausführlich über die terminologischen Unterschiede im Gebrauch dieser Präpositionen spricht. 1

W . Bousset, Kyrios Christos 2 1921, 316ff. R . M. Grant behauptet allerdings auch in dieser Hinsicht Tatians Verwandtschaft mit der valentinianischen Gnosis, vgl. zuletzt: Tatian a n d t h e Bible, T U 63, 297ff., wo er seine früher vorgetragene Auffassung (vgl. oben S. 10) aufgrund richtiger Einzelbeobachtungen a m Text doch nur unwesentlich modifiziert. 2

Tatians

Schriftgebrauch

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Demgegenüber deutet Tatian den Satz: Die Finsternis begreift das Licht nicht

aus Joh. 1, 5 anthropologisch (13, 1 p. 14, 18). In Verbindung damit wandelt er die Zeitform des Satzes um, aus der Vergangenheit in die Gegenwart. So wird der Bezug auf ein einmaliges heilsgeschichtliches Datum getilgt, und die Aussage gewinnt, ganz folgerichtig nach Tatians Gesamtauffassung, zeitlose Gültigkeit 1 . Anthropologisch verstanden wird auch Psalm 8, 6: Sie waren kurze Zeit unter die Engel erniedrigt worden (15, 4 p. 17, 7)

entgegen der christologischen Verwendung dieses Verses in Hebr. 2, 7.9 und des folgenden Verses in 1. Kor. 15,27 und Eph. 1,22. Diesmal geht damit die Umsetzung aus dem Singular in den Plural Hand in Hand, das heißt die Umwandlung aus der Einmaligkeit des Bezugs in die Allgemeinheit. Dieselbe anthropologische Deutung erfährt auch das Gleichnis vom Schatz im Acker aus Matth. 13, 44 (30, 1 p. 30, 21; dazu unten S. 98f.). Sogar in der Auslegung biblischer Worte ist Tatian also selbständig und unbefangen genug, um übliche Interpretationen zugunsten seines eigenen, philosophisch bestimmten Ansatzes aufzugeben. Gerade dies muß f ü r die Beurteilung seines theologischen Denkens ins Gewicht fallen. Schließlich nimmt es nicht wunder, daß Tatian im Gegensatz zu Justin (I 6) keine Trinitätsaussagen macht. Der Geist ist gewissermaßen die Substanz Gottes so gut wie des Logos (7, 1 p. 7, 6), er ist das Substrat f ü r die Einheit Gottes. Und von dem Prinzip der Einheit ist, wie sich gezeigt hat, auch Tatians Logoslehre geprägt. 5. Welche Möglichkeiten für Tatian im Begriff des Pneuma 2 liegen, wird in seiner Kosmologie deutlich, deren Grundlage zunächst in folgender Aussage gegeben ist: Die Materie ist weder anfangslos wie Gott, noch aufgrund der Anfangslosigkeit ihrerseits von gleicher Kraft wie Gott, sondern sie ist geworden, und zwar nicht 1

Hierzu W. v. Loewenich, Das Johannesverständnis im 2. Jh., 1932, 52f. — v. L. ist zu vorsichtig, wenn er meint, Tatian beziehe Joh. 1,3 „offenbar" auf Gott selbst, und bestätigt damit nur den Ausnahmecharakter dieser Interpretation! Auch ist die anthropologische Deutung von Joh. 1, 5 eben nicht „wohl zufällig". Die dazu angeführten Parallelen Clem. paed. I 28, 3; II 79, 3 sind keine wirklichen Parallelen, und die Bemerkungen zu Tatians Pneumatologie sind im ganzen korrekturbedürftig. 2 Zum Verständnis des Begriffs πνεύμα bei den Apologeten ist noch immer grundlegend A.Puech, Les apologistes grecs 1912, Append. 5, 321/39. — G.Verbeke, L'evolution de la doctrine du Pneuma . . . 1945, gibt für die Apologeten lediglich einen synthetischen Überblick (410/29). 6*

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Die

Kosmologie

durch einen anderen entstanden, sondern allein vom Schöpfer aller Dinge hervorgebracht (5, 3 p. 6, 12 cf. 12, 1 p. 12, 23).

Mit dieser Behauptung von der Geschöpflichkeit der Materie hält Tatian auch in der Kosmologie die Mitte zwischen einem streng platonischen Dualismus und dem stoischen Monismus. Vor allem zeigt sich dabei, daß es ein Mißverständnis wäre, Tatian in diesem Punkt f ü r einen Gnostiker zu halten. Gerade seine Kosmologie ist ganz ungnostisch, und dagegen kann nicht geltend gemacht werden, daß er an dieser Stelle mit dem Begriff προβάλλεσΰαι den Terminus der Gnostiker f ü r die Emanationen aufgenommen habe. Tatian gebraucht dieses Wort wie Justin auch vom Sprechen (1, 2 p. 1, 17. 5, 2 p. 6, 6) und beweist damit, daß es auch unabhängig von der gnostischen Prägung verwendet werden konnte. Es ist genauso wie mit dem Weltbild Tatians, das man f ü r gnostisch erklärt, weil er von „besseren Äonen" jenseits der Grenzen des Kosmos spricht (20, 1/2 p. 22, 21). Diese Anschauung entspricht aber der allgemeinen Meinung seiner Zeit. Der „bessere O r t " findet sich auch bei Justin (dial. 5, 3) in den Worten des alten Mannes. Es ist also nichts spezifisch Gnostisches. Tatian läßt ja in diesem Zusammenhang erkennen, daß er mit den Erdbeschreibungen der zeitgenössischen Geographen vertraut ist (20, 2 p. 22, 24) Wie fern Tatian dem gnostischen Denken steht, bestätigt sich in der Art, wie er einmal die Frage nach dem Ursprung des Bösen und zum andern die Frage nach dem zukünftigen Geschick der Materie beantwortet. Es genügt in beiden Fällen, die betreffenden Äußerungen Tatians zusammenzustellen, denn er bietet hier nichts spezifisch Neues, das über Justin und die zeitgenössischen philosophischen Lösungen dieser Probleme hinausginge. Von Gott geschaffen, ist die Materie keineswegs an sich böse. Sondern es gibt Abstufungen innerhalb der Materie, es gibt eine reinere und eine niedrigere (12, 3 p. 13, 17ff.), untere (16, 2 p. 18, 3f.), schlechtere (18, 1 p. 19, 30) 2 . Diese Eigenschaft, schlechter zu sein, ist ihr aber nicht ursprünglich gegeben, sondern erst durch die Sünde ist sie in die Materie hineingebracht worden (19, 4 p. 22, 6). Der falsche Gebrauch (vgl. 17, 3 p. 19, 13ff.) ist es, der sie verwerflich macht. Es gilt die Regel: 1

Ich nenne, weil sie bisher nicht gesammelt sind, weitere Belege für seine Angaben: Untiefen im nördlichen Ozean kennt Anon. geogr. compend. 33 (Geographi Graeci minores ed. Müller II 502), Arrian Indica 21, 3. — Der östliche Ozean ist „lauchfarben" wegen vieler Algen im Wasser: Marcian. Heracieens. I 12 (GGM I 523, 19) und 44 (ib. 537). — Der Schlamm im westlichen Ozean wird auf das untergegangene Atlantis zurückgeführt: Piaton Crit. 108d, Tim. 25d. Aristot. meteor. I I 1, 14 p. 354a 22. Skylax 1 (GGM I 16, 4). — Das nördliche Gebiet ist vereist: Dionys, perieg. 32 (GGM II 106). Plin. nat. hist. IV 13,27. Strabon I p. 63 C. — Das südliche Gebiet ist ausgebrannt: Strabon X V p. 697 C. 2 Vgl. zu dieser Stelle oben S. 56 Anm. 1.

Die

Kosmologie

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Die Einrichtung des Kosmos ist gut, aber die Lebensführung (πολίτευμα) in ihm ist sehlecht (19, 2 p. 21, 11).

Gott kann ja nicht Schöpfer des Bösen sein (17, 3 p. 19, 13ff. cf. 3, 2 P- 4, 2). Nichts Schlechtes ist von Gott geschaffen; wir sind es, die die Bosheit aufgebracht haben (11, 2 p. 12, 15).

Dieser Weg zur Lösung des Problems stimmt wesentlich überein etwa mit der Abhandlung des Platonikers Maximos von Tyros über das gleiche Thema (or. 41 p. 472ff. Hob.), und er bietet sich von selbst an, wenn man Tatians Gottesbegriff zugrunde legt: Gott ist identisch mit dem Guten (vgl. S. 65f.); infolgedessen haben weder Engel noch Menschen, die als Geschöpfe ja unter Gott stehen, die Natur des Guten; sie sind ihm gegenüber indifferent aufgrund der Freiheit (αντεξονσιον), die ihnen gegeben ist, und zwar in Form der Wahlfreiheit (έλενϋερία της προαιρέσεως 7, 1 p. 7, 14). Dieser Gedanke hat seinen Platz in der platonischen Polemik gegen den stoischen Determinismus (vgl. Albinos did. 26 p. 179H.) und findet sich auch bei Justin (I 43). Der von Gott vorausgesehene Mißbrauch der Freiheit f ü h r t dann zur Entstehung des Bösen, insofern er aus Engeln Dämonen macht und die Menschen, denen er die Unsterblichkeit nimmt, ihrem Einfluß unterwirft (cap. 7 vgl. S. lOOf.). Übrigens ereignet sich nach Tatians Schilderung dieser Fall der Engel und Menschen, der mit deutlichem Anklang an Gen. 3 geschildert wird — das Wort φρονιμότερος (7, 2 p. 7, 24) wird doch wohl Gen. 3, 1 entnommen sein —, erst n a c h der Schöpfung. Die Weltschöpfung ist also bei Tatian nicht wie in den gnostischen Systemen eine Folge des Falls, sondern seine Voraussetzung. Und ebensowenig ist es im Sinn des gnostischen Dualismus, wenn Tatian im Blick auf das zukünftige Geschick der Materie ausdrücklich die Auferstehung des Fleisches lehrt. Wie die Schöpfung einen Anfang in der Zeit hat, so hat sie auch ein einmaliges, definitives Ende. Das betont Tatian mit Worten des Hebräerbriefes (9, 26) gegenüber der stoischen Lehre von den zyklischen Weltperioden (6, 1 p. 6, 16). Und so wie die Schöpfung um der Menschen willen geschah (4, 2 p. 5, 8 vgl. z.B. Justin I 10, 2. I I 4, 2. 5, 2), ereignet sich auch das Weltende um der Menschen, und zwar um ihres Gerichts willen (6, 1 p. 6, 19ff.). Berechtigung und Notwendigkeit dieses Gerichts erklärt sich aus der Gabe der Freiheit (7, 1/2 p. 7, 15); daß dazu auch die Leiber auferweckt werden, aus der einzig den Menschen eigenen Konstitution (6, 1 p. 6, 20), womit Tatian freilich nicht einfach meinen kann, daß die Menschen Leib und Seele haben. Denn das gilt gemäß der Lehre von dem zur Materie gehörenden Pneuma (cap. 12) im Grunde genommen von allen

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Die Lehre vom

Pneuma

Wesen in der Welt. Aber nach 15, 2 p. 16, 22 soll der Mensch ja gerade in seiner leib-seelischen Konstitution eine Wohnung des göttlichen Geistes sein. Die Lehre über das Pneuma, in der Tatians kosmologische Anschauungen kulminieren, stellt zugleich die Voraussetzung f ü r seine Anthropologie dar. Deshalb kommt Tatian auch erst im Zusammenhang mit ihr darauf zu sprechen. Er entfaltet dabei aber nur, was er in der Grundlegung seiner Theologie, in der Lehre von Gott, bereits in aller Kürze über den Unterschied zwischen dem göttlichen Pneuma und dem Pneuma in der Materie gesagt hatte (S. 68f.). Und zwar gibt er cap. 12 nach einer Einleitung, in der er noch einmal auf diesen Unterschied zwischen den beiden Pneumata hinweist, lediglich eine Ausführung über das πνενμα νλικόν. Erst cap. 13 und dann cap. 15 ist wieder von dem höheren, göttlichen Pneuma die Rede. Tatian wiederholt zunächst, daß die ganze Welt aus Materie entstanden und diese von Gott hervorgebracht worden ist (12, 1 p. 12, 22). Diese Behauptung geschöpflicher Herkunft hindert nicht, zwei Zustände der Materie zu unterscheiden, einen, in dem sie noch ungestaltet ist, noch keine Formen (σχήματα) aufgenommen hat (vgl. Albinos did. 8 p. 162 Η.), und einen, in dem sie geordnet und wohlgefügt ist, die Unterteilung (διαίρεσις) in sich erfahren hat. Daß es die Aufgabe des Logos als des Demiurgen war, diesen geordneten Zustand herzustellen, hat Tatian bereits ausgeführt (5, 2 p. 6, 8). War dabei die Tätigkeit des Logos in Analogie zu derjenigen Gottes bei der Hervorbringung des Logos beschrieben worden (vgl. S. 80), so wird nun also hier über den Zustand der Materie eine ähnliche dialektische Aussage gemacht wie dort über die Transzendenz. Nur wird jetzt in richtiger Konsequenz eine zeitliche Bestimmung in diese Dialektik aufgenommen (προ — μετά). Die Schöpfung ist im Gegensatz zur Zeugung des Logos, die vor aller Zeit geschah, ein innerzeitlicher Vorgang. Unter der Voraussetzung dieser Diärese im Bereich der Materie 1 gibt es den Himmel mit seinen Sternen wie die Erde mit allem, was „von ihr wahrgenommen werden k a n n " (12, 2 p. 12, 28) 2 . Alles hat die gleiche Beschaffenheit, weil es gleicher Herkunft ist. So bringt Tatian auch in seiner Weltbetrachtung zunächst den Einheitsgedanken zur Geltung. Gerade dabei erhebt sich nun aber eine Schwierigkeit, denn es sind bei aller Gleichheit doch Wertunterschiede innerhalb des materiellen Bereichs festzustellen. Wie können sie erklärt werden, ohne daß dabei die vorausgesetzte Gleichheit und Übereinstimmung preisgegeben wird? Von der verbreiteten Auffassung geleitet, daß der Mensch ein Kosmos im Kleinen sei (vgl. z.B. Philon de opif. mundi 146; de plant. 28; Aristides 1 2

iv αντ-fj (sc. τι; διαιρέσει) M P V ist gegen Sch. Go beizubehalten. 1 το απ' αυτής νοούμενον M P V : rö επ (υπ) αυτής ζωογονονμενον Sch. Go.

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7, 1), verdeutlicht Tatian die Verhältnisse durch einen Hinweis auf den Menschen (12, 2 p. 13, 2ff.). Der Aufbau des Körpers entspricht einem einheitlichen Plan (μιας έστιν οίκονομίας), und obwohl das so ist, bestehen Unterschiede zwischen den einzelnen Körperteilen. Doch wird dadurch die Harmonie nicht gestört. In dieser Hälfte des Vergleichs, die an sich klar ist, bleibt nur vorläufig noch ein unverständlicher Satz übrig: περί